Lebenswelten Und Geschichte: Zur Theorie Und Praxis Der Forschung 3412209341, 9783412209346

Der Band versammelt Aufsatze des Autors, darunter auch bisher unveroffentlichte Texte. Sie kreisen alle um den theoretis

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German Pages 533 [536] Year 2012

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Table of contents :
Vorwort
Geschichte und politische Praxis
Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht*
Geschichte als Waffe
Über die Bedeutung einer Aufarbeitung der Vergangenheit Südosteuropas*
Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte?
Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte*
Chancen und Probleme der Alltags- und Regionalgeschichte
Das Beispiel der Grenzregion Oberrhein*
Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien
Das Basler Beispiel*
Geschichte, Lebenswelt, Sinn
Über die Interpretation von Selbstzeugnissen*
Erinnern und erzählen
Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews*
Blick von innen auf den Stalinismus
Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen*
Fotografie als Quelle zur Erforschung von Lebenswelten*
Revolutionen
Zum Zusammenhang von Lebenswelt und Geschichte*
Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land
Ein Vergleich von vier Regionen im östlichen Europa (1850 bis 1917)*
»Das kleine Bäuerlein elektrifizieren ...«
Agrarfrage und Agrarpolitik in Russland von der Bauernbefreiung bis zur Kollektivierung*
Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung Russlands an der Jahreswende 1916/17*
Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse
Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrußlands (1917–1921)*
Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang*
Das jüdische Prag (1850–1914)*
Zionismus und die Krise jüdischen Selbstverständnisses
Tradition und Veränderung im Judentum*
Jüdische Nation – Polnische Nation?
Zur gesellschaftlichen Orientierung von Juden in Polen während des 19. Jahrhunderts*
Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen
Ostjuden im 19. Jahrhundert*
Kommunikation im Schtetl
Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930 *
Juden in der ländlichen Gesellschaft Galiziens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts*
Schtetl und Judendorf
Grenzüberschreitende Kulturen und das Bewusstsein der Autonomie*
Juden in Gailingen
Selbstbewusstsein und Nachbarschaft*
Juden in Freiburg i. Br. von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
Assimilation, Antisemitismus, Suche nach Identität*
Von der Gründung einer neuen Gemeinde bis zur Stabilisierung jüdischen Lebens
Juden in Basel während des 19. Jahrhunderts*
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Lebenswelten Und Geschichte: Zur Theorie Und Praxis Der Forschung
 3412209341, 9783412209346

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Lebenswelten und Geschichte Zur Theorie und Praxis der Forschung

von Heiko Haumann

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über   http://dnb.d-nb.de  abrufbar.

Umschlagabbildung: El Lissitzky, Suprematistische Geschichte von zwei Quadraten in 6 Konstruktionen, entnommen aus: Heft mit 8, meist farbigen Lithographien. Berlin, Leipzig 1922.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20934-6

Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................... 7 Geschichte und politische Praxis. Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht............................................................................ 9 Geschichte als Waffe. Über die Bedeutung einer Aufarbeitung der Vergangenheit Südosteuropas .............................................................. 22 Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte? Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte ......................................... 35 Chancen und Probleme der Alltags- und Regionalgeschichte. Das Beispiel der Grenzregion Oberrhein ............................................. 49 Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien. Das Basler Beispiel ................................................................ 70 Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen................................................................................... 85 Erinnern und erzählen. Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews (zusammen mit Ueli Mäder)........ 96 Blick von innen auf den Stalinismus. Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen................................................................................... 106 Fotografie als Quelle zur Erforschung von Lebenswelten .......................... 133 Revolutionen. Zum Zusammenhang von Lebenswelt und Geschichte ...... 159 Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land. Ein Vergleich von vier Regionen im östlichen Europa (1850 bis 1917) ..................... 181 »Das kleine Bäuerlein elektrifizieren ...« Agrarfrage und Agrarpolitik in Russland von der Bauernbefreiung bis zur Kollektivierung .............. 202 Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung Russlands an der Jahreswende 1916/17 .......................................................................... 228 Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse. Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrußlands (1917–1921) .............................................................. 245 Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang ......................... 267 Das jüdische Prag (1850–1914) ............................................................... 305 Zionismus und die Krise jüdischen Selbstverständnisses. Tradition und Veränderung im Judentum .................................................................. 325 Jüdische Nation – Polnische Nation? Zur gesellschaftlichen Orientierung von Juden in Polen während des 19. Jahrhunderts ............................... 373 Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen. Ostjuden im 19. Jahrhundert ................................................................................... 393

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Inhaltsverzeichnis

Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930 ............................................... 419 Juden in der ländlichen Gesellschaft Galiziens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ........................................................... 443 Schtetl und Judendorf. Grenzüberschreitende Kulturen und das Bewusstsein der Autonomie ................................................................ 465 Juden in Gailingen. Selbstbewusstsein und Nachbarschaft......................... 488 Juden in Freiburg i. Br. von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart: Assimilation, Antisemitismus, Suche nach Identität.......... 506 Von der Gründung einer neuen Gemeinde bis zur Stabilisierung jüdischen Lebens. Juden in Basel während des 19. Jahrhunderts........... 516

Vorwort Fragen nach der Lebenswelt und den Schicksalen von Menschen, die die Geschichte machen und sie erleiden, haben mich seit meiner Schulzeit begleitet und standen im Mittelpunkt meiner Lehr- und Forschungstätigkeit. So lag es nahe, nach meiner Pensionierung einige Aufsätze zusammenzustellen, die verstreut erschienen und nicht immer leicht zugänglich sind. Ergänzt habe ich sie mit unveröffentlichten Beiträgen. Im Band »Lebenswelten und Geschichte – Zur Theorie und Praxis der Forschung« steht der theoretische Ansatz im Mittelpunkt, die Geschichte von einzelnen Menschen und ihrer Lebenswelt aus zu erschließen. Es geht mir darum, den Begriff der Lebenswelt neu zu fassen und daraus Überlegungen zu methodischen Verfahren abzuleiten, die Alltags- und Sozialgeschichte miteinander verbinden und einen mehrperspektivischen Weg, eine »integrierte Geschichte« (Saul Friedländer), ermöglichen. Thematisiert wird dabei nicht zuletzt der Umgang mit Erinnerungen in Selbstzeugnissen – Autobiographien und Interviews – sowie mit Fotografien als Quellen. Hier sind auch Erfahrungen aus dem »Projekt Erinnerung« eingeflossen, das ich über viele Jahre hinweg zusammen mit Studierenden sowie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Universität Basel durchgeführt habe. An Arbeiten zur Regionalgeschichte, zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion, zur Geschichte und Kultur der Juden sowie zur Bedeutung der Geschichte in der öffentlichen Auseinandersetzung entwickle und erprobe ich den lebensweltlichen Zugang. Der Band »Schicksale – Menschen in der Geschichte« ist als ein Lesebuch entworfen worden. Ich berichte von Menschen in verschiedenen Regionen Deutschlands, in Russland und in der Sowjetunion, in Polen und in der Schweiz. In ihren Schicksalen werden erstaunliche Zusammenhänge sichtbar. Auf diese Weise kann Geschichte nicht nur spannend erzählt werden, sondern Autor wie Leserinnen und Leser unternehmen anregende Entdeckungsreisen in unterschiedliche Lebenswelten, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Sie ermöglichen es, sich im Nachvollzug des Lebens bekannter Persönlichkeiten und »ganz normaler Menschen« besonders eindringlich mit Geschichte auseinanderzusetzen. Wie eng die beiden Bücher zusammengehören, zeigt sich auch daran, dass die Umschlagabbildungen des Bandes »Schicksale« im Band »Lebenswelten« behandelt werden. Die Aufsätze sind – manchmal zu thematischen Blöcken zusammengefasst – in der Regel chronologisch nach ihrem ursprünglichen Erscheinungsdatum geordnet. Sie werden unverändert abgedruckt, so dass in einigen Fällen auch die Entwicklung der Argumentation verfolgt werden kann. Ebenso ist die Schreib-

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Vorwort

und Zitierweise beibehalten worden, wie sie für die jeweiligen Publikationsorte gefordert war. Einige wenige zusätzliche Erläuterungen habe ich durch Sternchen (*) oder eckige Klammern kenntlich gemacht. Eindeutige Tipp- oder Satzfehler sind stillschweigend korrigiert. Peter Rauch vom Böhlau Verlag hat mich bei meinem Publikationsvorhaben ermutigt. Dorothee Rheker-Wunsch und Julia Beenken haben die Drucklegung – wie immer – sorgfältig betreut. Ihnen sei herzlich gedankt. Zu danken habe ich des Weiteren der Berta Hess-Cohn Stiftung in Basel, die mit einem großzügigen Beitrag die Publikation des Bandes »Lebenswelten« gefördert hat. Ferner bin ich all denjenigen dankbar, die mir Abbildungen zur Verfügung gestellt und den Wiederabdruck bereits veröffentlichter Aufsätze gestattet haben. Meine Studien wären ohne die vielfältigen Diskussionen und Projekte sowie ohne die Unterstützung von Studenten, Mitarbeiterinnen, Kollegen, Archivarinnen und vielen anderen, die beteiligt waren, nicht denkbar gewesen. Ihrer erinnere ich mich in Dankbarkeit. Bei der jetzigen Druckvorbereitung war mir Anna K. Liesch sehr behilflich. Letztlich ist eine solche Arbeit, wie sie in den beiden Bänden sichtbar wird, nicht möglich, ohne von anderen Menschen Ermunterung und Kritik, Halt und Stütze zu erfahren. Ich habe das Glück, dass mir dies zuteil geworden ist. Elzach-Yach / Basel, im Mai 2012

Heiko Haumann

Geschichte und politische Praxis Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht*

Die Thematik »Demokratische Traditionen in Baden« wirft zwei Fragen auf: Was sind »demokratische« Traditionen, und wie wird die Beschränkung auf Baden begründet? Auf den ersten Blick mag es scheinen, als sei mit der geographischen Einschränkung eine Rückkehr zur Heimatkunde beabsichtigt. Damit befänden wir uns im Gleichschritt mit Bayern, das 1974 den Sachunterricht in der Grundschule in »Heimat- und Sachkunde« umformulierte.1 Nun ist ja an sich gegen eine eingehende Beschäftigung mit Geschichte und Gegenwartsproblemen der engeren Umgebung, in der man lebt, nichts einzuwenden. Der Zugang fällt leichter, weil man unmittelbarer damit konfrontiert wird. Geschichte kann sinnfällig erfahren, der Übergang zu überregionalen Fragen mit geringeren Schwierigkeiten vollzogen werden, als wenn man sie ohne Bezug zur eigenen Situation behandelt. Bei einer Rückkehr zur traditionell verstandenen Heimatkunde ständen wir aber in einer nicht unbedingt demokratischen Tradition. Sie kommt in den einschlägigen Richtlinien für das Deutsche Reich von 1939 einprägsam heraus: »Im Heimatkundeunterricht sollen die Kinder die Heimat erleben und lieben lernen und sich als in ihr verwurzelte Glieder des deutschen Volkes erkennen. Der gesamte Unterricht der Volksschule dient der Heimatkunde im weiteren Sinne. Um so wichtiger ist es, daß der Heimatkundeunterricht in den vier unteren Jahrgängen nicht nur Kenntnisse vermittelt, sondern auch den festen Grund legt für den Stolz auf Heimat, Stamm, Volk und Führer.«2 Die Nazis haben die Heimatkunde nicht erfunden,3 die Ziele, die sie damit verbanden, waren jedoch die – sicher extreme – Konsequenz dessen, was die Befürworter des Faches vor allem in der Weimarer Republik darunter verstanden. Die irrationale, rein gefühlsmäßige Bindung an die Heimat, die dem Kind Harmonie und Geborgenheit vorgaukeln sollte, wird von Eduard Spranger, dem Vater der Heimatkunde, deutlich ausgedrückt: »Der Mensch bedarf solchen Wurzelns in der Erde. Das ist das Elend des Großstädters ..., daß er nicht mehr tief einwurzeln kann in den Boden und die umfangenden, seelisch schützenden Kräfte des Bodens; daß er nicht mehr im belebenden Kraftaustausch mit der * Erstpublikation in: Vom Hotzenwald bis Wyhl. Demokratische Traditionen in Baden. Hg. von Heiko Haumann. Köln 1977, S. 25–38. 1 K. Lampe: Geschichte in der Grundschule. Kronberg 1976, S. 8. 2 Zit. bei Lampe, S. 22. 3 Vgl. den historischen Überblick bei Lampe, S. 18 ff.

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Geschichte und politische Praxis

Heimaterde und ihrer Individualität lebt, so daß seine letzte und geistige Eigenschaft nur wie eine Blüte am Zweige des Stammes aus diesen mütterlichen Tiefen herauswüchse.«4 Es kam dann nur noch darauf an, was gesät wurde. Diese Tradition wurde in den fünfziger Jahren wieder aufgegriffen. Die Nähe zu Spranger fällt ins Auge, wenn es in den Richtlinien für die Volksschule in Nordrhein-Westfalen für 1955 heißt: »Als Stätte der volkstümlichen Bildung und als Muttersprachschule ist die Volksschule Heimatschule. Sie hilft dem Kinde, sich vom Wurzelboden der Heimat aus die Welt zu erschließen, sich dem Fernen zu nähern und mit dem Fremden vertraut zu werden.«5 Und wieder sollte der »moralische Nihilismus« durch das Ansprechen von »Herz und Gemüt« überwunden und die Verbundenheit mit dem »Volk« erreicht werden. Statt rationaler Auseinandersetzung mit Konflikten und Reflexion über Werte und Gefühle wurde erneut das Kind in eine scheinbar harmonische Welt eingebettet.6 Die ähnliche Begründung für den heimatkundlichen Ansatz in den zwanziger wie in den fünfziger Jahren muß auffallen. Beide Male war der Krieg verloren gegangen und die nationale Identität in eine Krise geraten, die vorher gesellschaftlich herrschenden Werte waren zerstört, das soziale Gefüge wurde erschüttert. Und beide Male zog man nicht die Lehren aus der Vergangenheit. Nicht die kritische Aufarbeitung der Geschichte, die zu einer anderen Form der Sicherheit bei der Bewältigung von Gegenwartsaufgaben beigetragen hätte, wurde angestrebt, sondern das Überdecken der entstandenen Leere und Orientierungslosigkeit durch unreflektierte, rein gefühlsmäßig erfaßte Werte. Die These liegt nahe: Dadurch sollte bewußt oder unbewußt verhindert werden, daß die Menschen ihre Geschichte in die eigenen Hände nehmen würden. Denn dann hätte die Gefahr bestanden, daß weiterreichende gesellschaftliche Veränderungen durchgeführt worden wären, die gerade erst – nach 1918 wie nach 1945 – von den herrschenden Gruppen mit Mühe hatten abgewehrt werden können. 4 E. Spranger: Vom Bildungswert der Heimatkunde. 7Stuttgart 1967 (11923), S. 21 (zit. bei Lampe, S. 24). Zum Hintergrund vgl. J. Huhn: Politische Geschichtsdidaktik. Untersuchungen über der Geschichtsdidaktik in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik. Kronberg 1975, S. 118–297. 5 Zit. bei G. Beck/C. Claussen: Einführung in Probleme des Sachunterrichts. Kronberg 1976, S. 23. Die baden-württembergischen Richtlinien sind nicht ganz so deutlich von dieser Tradition bestimmt, unterliegen aber ebenso den Beschränkungen des Heimatkundeunterrichtes im alten Sinn (vgl. zur Kritik Beck/Claussen, S. 23–65): Kultus und Unterricht. Amtsblatt des Kultusministeriums Baden-Württemberg. Jhg. 7, 1958, Nr. 1, S. 70. 6 Überblick mit Nachweisen bei Lampe, S. 25–28.

Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht 

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Heimatkunde war natürlich nur eine Spielart von zahlreichen Konzeptionen, denen es mehr auf das Gemüt als auf den Verstand ankam, vorgeblich im Interesse der Psyche des Kindes und im Interesse einer notwendigen neuen Wertorientierung. Ich kann diese Entwicklung hier lediglich andeuten: Am engsten hängt der neue Nationalismus in der Didaktik von Geschichte und Politischer Bildung mit dem Heimatkunde-Ansatz zusammen.7 Neben dieser angestrebten Identifizierung mit Volk und Nation steht die Forderung: »Alle Geschichte ist in Handlungen zurückzuverwandeln. Kinder und Jugendliche müssen sich mit handelnden Personen identifizieren können.«8 »Der Kämpfer, der Führer haftet in der Erinnerung des Volkes, des Menschen und des Kindes ...«9 Geschichte wurde auf das Handeln großer Persönlichkeiten oder anonymer Kollektive reduziert. Von den Bösewichtern sollten sich die Schüler abgestoßen fühlen, mit den Helden identifizieren. Die Ursachen historischer Prozesse mußten dabei im dunkeln bleiben. Wie sehr die Schulbücher von dieser Konzeption bestimmt wurden, ist inzwischen aus zahlreichen Untersuchungen bekannt.10 Ende der fünfziger Jahre erkannten bereits einige Weitsichtige, daß der Geschichtsunterricht in eine Krise geraten war. Von Historikern wurde der »Verlust der Geschichte« beklagt11 – und man kann nur hinzufügen: In der Tat, die bürgerliche Geschichte Deutschlands war verloren, spätestens als man aus dem deutschen Faschismus keine andere Folgerung zog als die Restauration des Kapitalismus, die Zurückdrängung der demokratischen Neuansätze nach 1945 und – die Vermittlung von Identifikationen mit Volk, Nation und großen Männern in der Schule. Gerade diesen Ersatz für bewußtes Denken und Handeln erklärte Adorno als Symptom einer »gesellschaftlichen Schwächung des Ichs«,12 somit 7 R. Schmiederer/U. Schmiederer: Der neue Nationalismus in der politischen Bildung. Frankfurt a. M. 1970; vgl. Huhn, S. 71–77. 8 H. Roth: Kind und Geschichte. Psychologische Voraussetzungen des Geschichtsunterrichts in der Volksschule. München 1955, S. 112. 9 W. Küppers: Zur Psychologie des Geschichtsunterrichts. Eine Untersuchung über Geschichtswissen und Geschichtsverständnis bei Schülern. Bern, Stuttgart 1961, S. 78. 10 Vgl. Geschichte und Ideologie. Kritische Analyse bundesdeutscher Geschichtsbücher. Hrsg. von R. Kühnl. Reinbek 1973. Ich nenne außerdem eine eigene Untersuchung, weil darin meine Aussagen zu diesem Komplex ausführlicher begründet werden: Die Darstellung der Geschichte Sowjetrußlands 1917–1941 in Schulbüchern der BRD. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1973, H. 12, S. 1318–1335. 11 A. Heuß: Verlust der Geschichte. Göttingen 1959. Vgl. H. Heimpel: Kapitulation vor der Geschichte? Göttingen 1956 u. a. 12 Th. W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959). In: Ders.: Eingriffe. 5Frankfurt a. M. 1968, S. 125–146, hier S. 128. Daß dies im Jugendalter eine besondere Rolle spielt, erwähne ich hier nur am Rande, vgl. schon A. Mitscherlich: Pubertät und Tradition (1957). In: Jugend in der modernen Gesellschaft. Hrsg. von L. v. Friedeburg. Köln, Berlin 1965, S. 288–307.

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Geschichte und politische Praxis

als Teil des erwähnten Identitätsverlustes. In den sechziger Jahren setzte dann eine umfassende Bestandsaufnahme der bisherigen Ergebnisse von Geschichtsunterricht und Politischer Bildung ein. Sie fiel vernichtend aus. Empirische Untersuchungen zeigten: Vorherrschende Elemente des jugendlichen Geschichtsbildes waren »Übermächtige Subjekte, personalisierte Kollektiva, stereotype soziale Ordnungsschemata, anthropomorphe Bezugskategorien«.13 Lehrer wie Schüler neigten zu autoritären Einstellungen, der eine formal-demokratische, aber »unpolitische«, nicht für die Demokratie engagierte Haltung entsprach. Ein kritisches Verständnis gesellschaftlicher und politischer Sachverhalte war kaum verbreitet. Vielfach erwies sich das Denken von Schemata, Werten und Tugenden der Mittelschicht geprägt; die möglichst konfliktlose »Gemeinschaft« wurde als Ideal gesehen.14 Im Grunde ist es dann auch verständlich, warum viele Schüler kein großes Interesse an Geschichte haben.15 Folgen dieser Bestandsaufnahme waren Reformversuche. Am weitesten gingen die 1972 in Hessen vorgelegten Entwürfe von Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre. Sie verzichteten auf einen chronologischen oder an thematische Längsschnitte gebundenen Geschichtsunterricht. Statt dessen sollte innerhalb der Gesellschaftslehre, als dessen oberstes Lernziel die Befähigung der Schüler zur Selbst- und Mitbestimmung genannt wurde, ein »reflektiertes Geschichtsbewußtsein« aufgebaut werden, das »zur rationalen Beurteilung gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse«, einschließlich des eigenen Standortes der Schüler, beitrage. Gegenwartsbezogenheit war also der Ausgangspunkt, aber nicht in dem Sinne, daß lediglich die historischen Vorläufer heutiger Verhältnisse untersucht werden sollten. Innerhalb der Lernfelder Sozialisation, Wirtschaft, öffentliche Aufgaben und internationale Beziehungen, so war es gedacht, wurde »nach der Andersartigkeit bestimmter Situationen in verschiedenem historischem Kontext« gefragt oder versucht, »am Beispiel historischer Strukturen überhaupt erst Fragestellungen zu erarbeiten«. Die Richtlinien nannten dabei als zentrale 13 L. v. Friedeburg/P. Hübner: Das Geschichtsbild der Jugend. München 1964, S. 11. Vgl. K. Bergmann: Personalisierung im Geschichtsunterricht. Erziehung zur Demokratie? Stuttgart 1972. 14 Vgl. den Forschungsbericht des Frankfurter Instituts für Sozialforschung: Zur Wirksamkeit politischer Bildung. Teil 1: Eine soziologische Analyse des Sozialkundeunterrichts an Volks-, Mittel- und Berufsschulen. H. 3 der Forschungsberichte der Max-Traeger-Stiftung. Frankfurt a. M. 1966. Überarbeitet: E. Becker/S. Herkommer/J. Bergmann: Erziehung zur Anpassung? Eine soziologische Untersuchung der politischen Bildung in den Schulen. Schwalbach 1967. Ergänzend: M. Teschner: Politik und Gesellschaft im Unterricht. Eine soziologische Analyse der politischen Bildung an hessischen Gymnasien. Frankfurt a. M. 1968. 15 Vgl. z. B. H. Müller: Zur Effektivität des Geschichtsunterrichts. Schülerverhalten und allgemeiner Lernerfolg durch Gruppenunterricht. Stuttgart 1972, S. 58 ff.

Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht 

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Probleme, die inhaltlich gefüllt werden müßten, neben dem Zusammenhang zwischen gegenwärtigen Verhältnissen und ihren historischen Voraussetzungen die Beziehungen zwischen den einzelnen Bereichen sozialer Realität, die Fähigkeit, Gegenwartsfragen mit vergleichbaren oder andersartigen historischen Strukturen in Beziehung zu setzen, sowie die Reflexion über die Standort- und Interessengebundenheit der Interpretationen von Geschichte.16 Nicht vorgegebene Identifikationen, das Bewußtsein verformende Prägungen standen im Mittelpunkt dieses Ansatzes, sondern der Schüler, seine Selbstund Mitbestimmung. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Zu viele Tabus waren verletzt worden. Ein »Versuch, die Jugend zu vergesellschaften«, schrieb der Historiker Walter Görlitz in der »Welt«,17 ein »Curriculum für blaue Ameisen« ein Autor im »Rheinischen Merkur«.18 Ein Leserbriefschreiber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung drohte: »Ich wünsche niemand das Schicksal des chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende. Aber wenn die Saat, die von Schul- und Studienräten in Wiesbaden gesät wird, allgemein aufgehen sollte, dann könnte man nur hoffen, daß sich auch bei uns einige Generäle finden, die solchem Fortschritt mit Hilfe der noch unverdorbenen Jugend ein sanftes Ende bereiten.«19 Und in einer CDU-Veranstaltung rief eine Zuhörerin aus: »Schlagt die Kommunisten tot, ich könnte es tun.«20 Die Aggressivität zeugt davon, wie sehr hier Gefühle und Interessen verletzt wurden, wie sehr der Sicherheitspanzer um die eigene gesellschaftliche Position, die bei größerer Selbst- und Mitbestimmung gefährdet würde, oder um die eigene Unsicherheit, die eines ideologischen Schutzes bedarf, durchstoßen zu werden drohte. Bei der Durchsicht der Stellungnahmen zu dem Rahmenrichtlinien-Entwurf fällt auf, daß immer wieder die fehlende Identifikation mit »unserem« Staat, »unserem« Volk, »unserer« Demokratie kritisiert wird. Besonders prägnant drückte sich der damalige Vorsitzende des Verbandes der Historiker Deutschlands, Prof. Dr. Werner Conze, aus: Die angegebenen Lernziele liefen nicht auf Identifikation mit der parlamentarischen Demokratie, sondern auf Mißtrauen gegenüber unserer Staatsform, mindestens aber auf Relativierung im Vergleich 16 Rahmenrichtlinien Sekundarstufe I. Gesellschaftslehre. Hrsg. vom Hessischen Kultusminister. O. O. u. J. (1972), S. 18–30 (1973 ist eine überarbeitete Fassung erschienen). Auch in: K. Bergmann/H.-J. Pandel: Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein. Frankfurt a. M. 1975, S. 171–182. 17 22.3.1973, zit. in Bergmann/Pandel, S. 270–272, hier S. 270. – Ich will hier keine Analyse der Auseinandersetzung um die hessischen Rahmenrichtlinien anfertigen; vgl. dazu Bergmann/Pandel, bes. den Dokumentenanhang S. 171–314. 18 Nr. 8, 1973, zit. in Bergmann/Pandel, S. 268–269. 19 3.11.1973, zit. in Bergmann/Pandel, S. 260. 20 Darmstädter Echo 25.5.1973, zit. in Bergmann/Pandel, S. 250–251, hier S. 250.

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Geschichte und politische Praxis

zu anderen politischen Systemen hinaus. Es gehe »offenbar nicht darum, Zehnbis Sechzehnjährige zu kritisch pflichtbewußten Staatsbürgern, sondern zu individuellen und kollektiven Nutznießern der reichlichen Chancen, die das freie System der Bundesrepublik bietet, heranzubilden«. »Ein Staatsbewußtsein im Sinne unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung wird durch sie [die Rahmenrichtlinien, H. H.] nicht zu bilden beabsichtigt.«21 Auf diesem Gebiet trat dann auch die konservative Seite zum Gegenangriff an. Bis heute häufen sich die didaktischen Entwürfe, Unterrichtseinheiten und Materialien, die die deutsche Nation, das deutsche Volk, die deutsche Demokratie zum Thema haben.22 Selbstverständlich sind nicht alle Arbeiten als »reaktionär« einzustufen, viele Autoren bemühen sich durchaus um ein kritisches Verständnis dieser »Grundwerte«. Aber die Tendenz liegt doch ziemlich offen auf der Hand: Der Schüler soll sich mit unserer augenblicklichen Gesellschaftsund Regierungsform identifizieren, was zwar Kritik an Einzelheiten nicht ausschließt, wohl aber eine grundsätzliche Veränderung unserer Ordnung. Die Untersuchung geschichtlicher Prozesse und Strukturen dient dann vor allem zur Legitimierung dieser Ordnung, nicht zur Stärkung des Bewußtseins der Schüler und nicht zur Verbesserung der Voraussetzungen, auf denen sie in Denken und Handeln aufbauen könnten. Es versteht sich von selbst, daß Baden-Württemberg bei dieser Tendenz an der Spitze steht. In seinem Bericht zur Vorlage des Haushaltsplanes 1977/78 bekennt sich das Kultusministerium »zur Weckung und Schärfung des Freiheitssinnes«. »Freiheitsbewußtsein« sei eine »entscheidende Voraussetzung demokratischer Lebensweise«. Aber was heißt Freiheit? »Freiheit kann nicht bedeuten, die eigene Wirklichkeit ständig an der Utopie zu messen und die Geschichte als nichts anderes zu begreifen als Befreiung von jeweils unterdrückender Macht und Herrschaft, als zu erklärende Entwicklung hin zu einem besseren Leben. Dies muß zur Verdrossenheit führen, zu ewiger Unzufriedenheit – denn diese Art von Emanzipation verneint das Bestehende und damit auch die bestehenden Freiheitsräume und Freiheitsrechte. Die verantwortliche Freiheit kann nicht durch einen auch noch zum offiziellen Lehr- und Lerngegenstand gemachten utopischen oder emanzipatorischen Freiheitsbegriff ersetzt werden. Aus dieser Grundeinstellung heraus lehnt das Kultusministerium Baden-Württemberg eine auf emanzipatorische Lernziele fi-

21 Frankfurter Rundschau 10.5.1973, zit. in Bergmann/Pandel, S. 285–289, hier S. 287–288. Vgl. die Dokumente passim, bes. 1.7, 2.7, 2.9, 5.4, 6.1, auch S. 146–147. 22 Das ist leicht an den letzten Jahrgängen der Zeitschrift »aus politik und zeitgeschichte« zu verfolgen.

Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht 

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xierte Erstellung von Bildungskonzepten ab und befürwortet Lehrpläne, deren Grundintentionen an der anthropologischen Wirklichkeit orientiert sind.« Daß mit der anthropologischen Wirklichkeit die unterschiedlichen angeborenen Begabungen und Fähigkeiten der Kinder gemeint sind – sozusagen die natürliche Veranlagung zum Arbeiter oder zum Unternehmer –, auf die Umwelt und Bildung verhältnismäßig wenig Einfluß haben, sondern die von der Erziehung so behandelt werden sollen, daß »unverwechselbare Persönlichkeit(en) heran(zu)reifen«, geht aus dem weiteren Text des Berichtes hervor.23 Dies sind keine folgenlose Worte. Die Quoten für den Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen sollen erheblich gesenkt werden, weil sonst eine »Überqualifikation« der Schüler ohne die Möglichkeit, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, entstünde. Die Auswirkungen in den Schulen sind aus vielen Berichten von Lehrern bekannt: Wer eine gute Klasse hat, wird von manchen Kollegen häufig angegriffen, er falle aus der Norm heraus, er habe zu viele gute Arbeiten, sie seien keine echten Leistungsbeweise mehr, das ganze sei Gleichmacherei. Und weiter: Die CDU-Fraktion hat Ende Januar 1977 eine Große Anfrage im baden-württembergischen Landtag eingebracht, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer verschärften Überwachung an den Schulen führen wird. Es lohnt sich, daraus wörtlich zu zitieren. Die CDU fragt die Landesregierung unter anderem: »IV. 1. Wie wird gewährleistet, daß auch bei der Beurteilung von Lehrbüchern die für die Lehrpläne verbindlichen Erziehungsziele zugrunde gelegt werden? 2. Wie wird die Verwendung nicht zugelassener Lehrbücher verhindert? (...) 4. Wie wird sichergestellt, daß keine Materialien (außerhalb der genehmigten Lehrbücher) im Unterricht verwandt werden, die den Erziehungszielen widersprechen?« Der Grund für diese Fragen liegt in der Furcht vor einer »einseitige(n) pädagogische(n) Sichtweise«, die »zur Indoktrination der Schüler führt.24 Ein ausführlicher Kommentar erübrigt sich, denn wer hier »einseitig« ist und die Schüler indoktriniert, ist offenkundig. Ebenso klar ist der Zusammenhang der baden-württembergischen Praxis mit der dargestellten ge23 Zit. nach: H. H. Deißler: Tendenzwende und die Folgen. Bemerkungen zum Bericht des Kultusministeriums zur Vorlage des Haushaltsplanes für 1977 und 1978. In: GEW Lehrerzeitung Baden-Württemberg Nr. 1–2, 15.1.1977, S. 8–9. 24 Zit. nach GEW Lehrerzeitung Baden Württemberg Nr. 5, 26.2.1977. – Vgl. in diesem Zusammenhang den von der BdWi-Sektion Marburg hrsg. Dokumentationsband: Sozialwissenschaft und Arbeitnehmerinteresse. Die Auseinandersetzung um den Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Marburg. Köln 1977.

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schichtsdidaktischen Konzeption. Die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung zur jetzigen Form der gesellschaftlichen Verhältnisse in einer Zeit sich zuspitzender wirtschaftlicher Schwierigkeiten mit zu erwartender hoher Dauerarbeitslosigkeit sowie zunehmender Entfremdung zwischen den Regierungen und den großen Parteien auf der einen und den Bürgern auf der anderen Seite – Stichwort: Umweltschutz und Kernkraftwerke – soll ideologisch durch eine Erziehung zu einer unkritischen Identifikation mit der bestehenden Ordnung erreicht werden. Unterstützt wird dieser Versuch durch administrative Maßnahmen wie Berufsverbote und erweiterte Überwachung der Lehrer an den Schulen, deren Drohung bereits ausreichen soll, kritische Ansätze zu unterdrücken und brave Untertanen zu erhalten. Das ist auch ein Zeichen von Schwäche der gegenwärtig Herrschenden, sonst hätten sie dies nicht nötig. Welche Gefahr jedoch darin für die Weiterentwicklung unserer Demokratie liegt, braucht nicht betont zu werden. Deshalb kann man darauf nur offensiv reagieren. Anpassung an die konservativ-autoritäre »Tendenzwende« in der Hoffnung, sie dadurch unterlaufen zu können, ist illusorisch. Gewiß wird es für Lehrer, die im Kollegium mehr oder weniger isoliert sind – und das ist wohl an vielen Schulen der Fall –, schwierig sein, dem Druck »von oben«, aber eben auch mancher Kollegen und Eltern, die in der herrschenden Ideologie gefangen sind, standzuhalten. Aber eine individuelle Bewältigung dieses Problems in der Form, daß man versucht, nach außen hin sich anzupassen und in der eigenen Klasse doch noch etwas von seinen ursprünglichen Vorstellungen zu verwirklichen, kann niemand lange durchhalten, ohne an diesem Konflikt seelisch kaputt zu gehen oder sich schließlich doch ganz aufzugeben. Notwendig ist die Zusammenarbeit, die gemeinsame Vorbereitung, Beratung und Diskussion mit den Gleichgesinnten, in kleinen Gruppen, die sich ganz konkret auf die jeweilige Schulsituation beziehen, darüber hinaus aber auch in der Gewerkschaft, im Arbeitskreis Schule-Gewerkschaft (durch den die Zusammenarbeit und mögliche Unterstützung in Konfliktfällen auf die Gewerkschaften außerhalb der GEW ausgedehnt wird) und in anderen geeigneten Bildungsorganisationen wie dem Arbeitskreis Demokratische Erziehung oder dem Bund demokratischer Wissenschaftler (der auch Lehrern offensteht). Allgemein hat sich gezeigt: Die Verwässerung der hessischen Rahmenrichtlinien nutzte gar nichts, sie mußten ganz vom Tisch und führen jetzt nur noch ein Schattendasein an einigen Schulen als Experiment. Der einmal in Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik so radikal klingende und erregten Widerstand hervorrufende Ansatz der »Aufklärung der Gegenwart durch Vergangenheit« ist weitgehend verkümmert zu einer Vorgeschichte heutiger Verhältnisse, die als nur noch in Einzelheiten verbesserungsbedürftiger, prinzi-

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piell alternativeloser Endpunkt verstanden werden.25 Fortschrittlich klingende Lernziele, didaktische Konzeptionen und geschichtswissenschaftliche Theorieversuche haben sich mit traditionellen Lerninhalten und konservativer Praxis verbunden – ein »öffentlicher Friedensschluß« ist dieses Ergebnis der Reformdiskussion zu recht genannt worden.26 Die Erziehung zu unkritischer Identifikation mit Heimat, Volk, Staat und kapitalistischer Gesellschaftsordnung führt, wenn sie wirkungsvoll ist, zu Bewußtlosigkeit gegenüber gesellschaftlichen Prozessen, zur Ich-Schwäche – um diese Terminologie noch einmal aufzugreifen. Sie kann zwar durch jene Identifikationen zunächst überdeckt werden und äußert sich dann »lediglich« darin, daß die Gegenwart nicht in Frage gestellt wird und kritische Ansätze rein emotionale Reaktionen hervorrufen. Beispiele aus der Zeit der Studentenbewegung sind allgemein bekannt; auch der vorhin zitierte Ausruf einer Teilnehmerin an einer CDU-Veranstaltung über die hessischen Rahmenrichtlinien zeugt davon. In Krisen- und Umbruchzeiten besteht darüber hinaus die Gefahr, daß die dann entstehende Unsicherheit, weil die Identifikationen ganz offensichtlich fragwürdig geworden sind, eine Verstärkung der autoritären Denk- und Verhaltensweisen zur Folge hat, ein Anklammern an übermächtige Persönlichkeiten, eine Flucht in anonyme Großgruppen, die scheinbare Geborgenheit und Sicherheiten verleihen. Unsere Geschichte zwischen 1918 und 1945 ist ein warnendes Beispiel dafür. Dem muß eine Konzeption gegenübergestellt werden, die die Erziehung zum bewußten Denken und Handeln zum Ziel hat, damit nicht wie bisher »stets etwas andres als das Gewollte« herauskommt.27 In der nun schon mehrmals verwendeten Terminologie: Hilfe bei der Stärkung des Ichs, bei der Gewinnung eigener Identität innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse soll im Mittelpunkt stehen.28 Keinesfalls darf das Identifikationslernen, das sich um die Begriffe Heimat, Volk, Nation, Staat, parlamentarische Demokratie in der jetzigen Form oder soziale Marktwirtschaft dreht, durch ein alternatives, aber prinzipiell gleichartiges Lernen ersetzt werden, das auf eine rein emotionale, unkritische Identifizierung mit den Unterdrückten, mit der Arbeiterklasse oder mit den bisherigen Versuchen, den Sozialismus aufzubauen, hinausliefe. 25 Vgl. Bergmann/Pandel, S. 38–39, 64–90, 111–113. 26 Bergmann/Pandel, S. 62–63. Auf die Geschichtswissenschaft, in der prinzipiell ähnliche Probleme auftauchen, gehe ich hier nicht näher ein. 27 F. Engels: Materialien zum »Anti-Dühring«. ln: MEW 20, S. 582. 28 Am prononciertesten vertreten diesen Ansatz Bergmann/Pandel. Vgl. zusammengefaßt: K. Bergmann: Geschichtsunterricht und Identität. ln: aus politik und zeitgeschichte B 39, 27.9.1975, S. 19–25. Hier finden sich weitere Nachweise. ln weiten Teilen folge ich diesen Autoren.

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Herauskommen würden wieder nur Stereotypen und Klischees, überdeckte Unsicherheit und Suche nach Autorität. »Parteilichkeit« im Sinne bewußten politischen Handelns ist das Ergebnis praktischer Erfahrungen und intensiver, kritischer Beschäftigung mit den zur Debatte stehenden Themen. Das unterscheidet sie von der häufig vom Lehrer wie vom Wissenschaftler geforderten »unpolitischen« Haltung, die – gewollt oder ungewollt – für die herrschenden Verhältnisse Partei nimmt. Auch macht man es sich zu einfach, wenn man als »Identifikationsbasis die Klassenzugehörigkeit« auswählt und folgert: »Da man annehmen kann, daß die meisten Schüler nicht der gegenwärtig herrschenden Klasse angehören, bilden die unterdrückten Klassen (u. U. auch Völker) früherer Zeiten oder der Gegenwart die geeigneten Identifikationsobjekte.«29 Dieser Ansatz birgt die Gefahr in sich, daß die geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen immer nur von einer Seite aus gesehen werden, so daß dann wiederum Alternativen, Ursachen für bestimmte Prozesse und Strukturen, Motive der Handelnden nicht verständlich würden. Hingegen kommt es gerade darauf an, durch eine Beleuchtung aus verschiedenen Sichtweisen zu erhellen, wie und warum Veränderungen geschehen sind, welche Kräfte die Veränderungen bestimmt haben und wie diese aus den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen abzuleiten sind.30 Der Schüler – oder wer sich sonst mit Geschichte beschäftigt – soll sich mit dem Denken und Handeln verschiedener Personen oder sozialer Gruppen und ihrer gesellschaftlichen Hintergründe auseinandersetzen. Im allgemeinen wird er sich dann mit einer Position identifizieren – jetzt aber nicht nur gefühlsmäßig, sondern auch kritisch-reflektiert. Zu dieser Auseinandersetzung gehört unbedingt dazu, daß dem Schüler die Identifikationen, Wertungen, Vorurteile sowie deren Ursachen beim Lehrer, beim Geschichtsbuchautor und – bei sich selbst bewußt werden, sonst bleibt das Lernen an der Oberfläche. Hilfe bei der Identitätsfindung des Schülers steht im Mittelpunkt. Das kann nicht heißen, daß der Lehrer wertfrei und neutral mehrere Angebote im Unterricht macht, je nach den Interessen und sozialen Bezugspunkten der Schüler. Der Lehrer sollte seine Identifikationen und Wertvorstellungen deutlich machen, aber auch in Frage stellen lassen. Es wäre ein Widerspruch, wenn der Lehrer bei diesem Ansatz seine Identität verleugnen müßte.31 29 F. Streiffeler: Zur lerntheoretischen Grundlegung der Geschichtsdidaktik. ln: Geschichtsunterricht ohne Zukunft? Zum Diskussionsstand der Geschichtsdidaktik in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von H. Süssmuth. 1. Bd. Stuttgart 1972, S. 102–132, hier S. 119. 30 Zum »multiperspektivischen« Geschichtsunterricht vgl. Bergmann: Personalisierung, S. 64 ff. 31 Vgl. anders: Bergmann: Geschichtsunterricht, S. 25, und dazu Huhn, S. 357–359 (auch ff. zur Kritik an weiteren didaktischen Entwürfen und zu eigenen Vorstellungen).

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Der hier vorgestellte Ansatz darf sich auch nicht darauf beschränken, die Lebensgeschichte der Schüler mit ihrer Klassengeschichte in Beziehung zu setzen.32 Sicher ist das ein sinnvoller Ausgangspunkt, damit den Schülern Geschichte nahegeht, sie betrifft und zum Engagement bewegt. Aber zum bewußten politischen Handeln gehört mehr. Wer z. B. als Arbeiterkind seine Lebensgeschichte mit der seiner Klasse in Beziehung setzt, auch ansatzweise seine Identität in dieser Klasse, also Klassenbewußtsein, gewinnt, benötigt Kenntnisse des Kapitalismus, aber auch Vorstellungen über Alternativen zum Kapitalismus, die die Auswertung der Erfahrungen in der Sowjetunion, in China oder in der DDR einschließt. Wichtig wäre eine Auseinandersetzung mit der Auffassung, daß der Kapitalismus sozusagen naturnotwendig sei. Dabei könnte eine vergleichende Betrachtung von »Urvölkern«, der Entstehung von Klassen in verschiedenen Kulturräumen, der Entwicklung vorkapitalistischer Produktionsweisen in verschiedenen Gesellschaften helfen. Ich will damit lediglich andeuten, daß im Rahmen des Identitätsansatzes, wie ich ihn verkürzt einmal nennen will, ältere Geschichte und vor allem nichtdeutsche Geschichte durchaus ihren Wert haben und keine Beschränkung auf rein individual- oder auch sozialpsychologische Aspekte beabsichtigt ist. Nur am Rande weise ich darauf hin, welche Bedeutung die Beschäftigung mit zunächst »fremden« Strukturen, Prozessen, Denk­und Verhaltensweisen für die Phantasie, die Vorstellungskraft, die Denkfähigkeit, das Durchspielen von Alternativen, also letztlich auch für das bewußte politische Handeln hat.33 Geschichte wird so, in diesem weiten Sinn, für den, der sich mit ihr beschäftigt, zur »eigenen« Geschichte.34 Ihre Untersuchung liefert wichtige Voraussetzungen für bewußtes politisches Handeln, für die eigene Identität innerhalb seiner Klasse, aber natürlich jetzt auch – reflektiert – in seiner Heimat, seiner Nation, seiner gegenwärtigen Gesellschaft. Er hat die Bedingungen und sozialen Kräfte von Veränderungen in Vergangenheit und Gegenwart kennengelernt; er kann die Fähigkeit erwerben, sich eigenständig ein Urteil zu bilden, Alter32 Bergmann/Pandel, S. 166. 33 Vgl. Wozu noch Geschichte? Hrsg. von W. Oelmüller. München 1977; P. Schulz-Hageleit: Wie lehrt man Geschichte heute? Vorschläge und Materialien für ein umstrittenes Fach. Heidelberg 1973 (21977). 34 Hier liegen Berührungspunkte zu W. Klafkis Kategorie des »Repräsentativen«, des WiederGegenwärtig-Seins historischer Ereignisse und Entwicklungen wegen ihrer Gegenwartsund Zukunftsbedeutung (Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. ¾ Weinheim 1964, S. 350–351, 368, bes. 449–451; zur Kategorie der Zukunft vgl. auch Bergmann/Pandel, S. 104 ff.). M. E. ist dies der entscheidende, wenngleich recht allgemeine Ausgangspunkt für die Auswahl historischer Themen im Unterricht.

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nativen abzuwägen, Möglichkeiten für die Zukunft zu denken; ist mit dem methodischen Instrumentarium der Analyse von Strukturen und Entwicklungen, zur Ideologiekritik und zur Einschätzung der Motive des Handelns anderer Personen umgegangen; er hat erfahren, eigenes Denken und Handeln selbstkritisch zu überprüfen. Das soll hier gar nicht idealisiert, sondern mehr als Lernziel verstanden werden. Es bietet die Möglichkeit, Geschichte und politische Praxis zu verbinden. Was jetzt geleistet werden muß, ist die Konkretisierung dieses Ansatzes.35 Lehrbücher und Unterrichtsmaterialien sind dafür nicht vorhanden. Es müssen Unterrichtseinheiten erarbeitet und die Erfahrungen damit ausgewertet werden. Alle sind aufgerufen, daran mitzuwirken. Hier gewinnt die Heimat, die engere Umgebung, eine neue Bedeutung: Soziale Verhältnisse und Konflikte können an lokalem Material konkret erfahrbar gemacht werden. Man kann anknüpfen an teilweise noch lebendige Überlieferungen zur jüngsten Vergangenheit. Gespräche von Schülern, Studenten oder Teilnehmern an der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit mit Leuten über die Ereignisse von 1848/49, in denen ihre Großeltern aktiv waren, über den Umbruch 1918/19, über die Inflationszeit und die Weltwirtschaftskrise, über die Zeit des »Dritten Reiches«, über große Streiks werden Vorstellungen vermitteln, die so eindringlich in anderer Form nicht zu gewinnen sind. Örtliche Dokumente über die Abgaben der Bauern und ihre Abhängigkeiten im Mittelalter, über die Auseinandersetzungen zwischen Klöstern, Rittern und Stadtbürgern machen deutlich, wie das Leben früher aussah, erklären bestimmte Besonderheiten in der Umgebung, zeigen, wie Abhängigkeiten entstanden sind und sich gewandelt haben, wie die Menschen sich dagegen gewehrt haben, welche gesellschaftlichen Kräfte hier aufeinandertrafen, welchen Einfluß das noch heute hat. Anschaulich werden können der Industrialisierungsprozeß, die Entwicklung der Unternehmer, ihre nicht nur ökonomische, sondern auch politische Macht am Beispiel des Ortes, in dem die Fabrik steht, die Lebensverhältnisse der Arbeiter, ihre Organisationsversuche und Kämpfe. Dem, der sich mit der lokalen und regionalen Geschichte befaßt, leuchtet ihre Beziehung zu sich selbst eher ein, als wenn er zu Beginn ein Buch über die allgemeine Geschichte liest – ja, er wird vielfach dadurch geradezu angeregt werden, weiter zu forschen über den örtlichen Rahmen hinaus, es wird ihm viel verständlicher, was die allgemeine Geschichte, auch bestimmte Fragen zunächst ganz »fremder« Bereiche, mit ihm zu tun haben.

35 Vgl. K. Bergmann/U. Mayer/H.-J. Pandel: Lernzielsuche und Lernzielfindung für den Geschichtsunterricht. Vorstellung eines Rasters. In: Geschichtsdidaktik Jhg. 1, 1976, H. 2, S. 63–73.

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Die Beschäftigung mit Themen aus der demokratischen Tradition Badens, die das Ziel hat, sie in die Öffentlichkeit, in die Schulen und ins Studium zu tragen, kann so dabei helfen, den theoretischen Ansatz in die Tat umzusetzen. Die in diesem Sammelband vorgelegten Beiträge setzen bei Ereignissen an, die bislang in Wissenschaft und Unterricht weitgehend vernachlässigt oder einseitig behandelt wurden. Nicht zufällig ist als – vorläufiger – Endpunkt Wyhl gewählt worden. Damit soll beileibe keine geradlinige Kontinuität vom Bauernkrieg zum Kampf gegen Kernkraftwerke hergestellt werden. Aber es sind alles Ereignisse, die eines gemeinsam haben: Mehr als die Geschichte der Herrscherhäuser und der »großen Politik« sind sie die »eigene« der meisten hier lebenden Menschen, ja sogar – wegen ihrer weit über die badische Region hinausweisenden Bedeutung – der Mehrheit der Bevölkerung überhaupt. Doch in der Auseinandersetzung mit diesem Teil der »eigenen« Geschichte wird auch die andere Seite deutlich: die Gegenkräfte, die die demokratischen Bewegungen und Traditionen unterdrückt oder zumindest behindert haben. Sie werden nun nicht einfach mit moralischer Empörung beschrieben, sondern auf ihre Ursachen, ihre Rationalität und gesellschaftlichen Hintergründe, auf die Bedingungen ihrer Wirksamkeit hin untersucht. Die Beschäftigung mit den demokratischen Traditionen in Baden versteht sich also nicht als Heimatkunde im traditionellen Sinn, sondern als Beitrag zur Stärkung des geschichtlichen und politischen Selbstbewußtseins der Badener und all derer über Baden hinaus, für die die Sache »Dem gemeinen Mann soll die Gewalt gegeben werden« Teil ihrer Identität ist oder werden kann.

Geschichte als Waffe Über die Bedeutung einer Aufarbeitung der Vergangenheit Südosteuropas* Vorbemerkung

Als ich angefragt wurde, ob ich als Rahmen für dieses Buch einen Beitrag zur Geschichte Südosteuropas liefern könne, war ich lange unschlüssig. Aufgrund anderer Verpflichtungen konnte ich lediglich einen Aufsatz anbieten, den ich in einer etwas veränderten Form bereits früher einmal verwendet hatte.1 Ich war zeitlich nicht in der Lage, mich in die besonderen Verhältnisse der Orte und Regionen einzuarbeiten, aus denen die Menschen stammen, die für dieses Buch ihre Erinnerungen verfasst haben. Dies wäre ein Hintergrund für ihre Lebensgeschichten, für die Gründe ihrer Migration und für ihre heutige Verbindung zu ihrer Heimat gewesen. Auch wenn der Bezug zu den einzelnen Erinnerungen nicht immer unmittelbar herzustellen ist, macht mein Beitrag aber vielleicht doch Sinn. Mehrfach ist das Erbe der Vergangenheit spürbar: der Alltag in Jugoslawien vor dem Zweiten Weltkrieg, die UstaŠa-Bewegung und die Partisanen, das kommunistische Jugoslawien, die Konflikte und Kriege der letzten Jahre. Der Einfluss der Geschichte ist darüber hinaus möglicherweise grösser, als es auf den ersten Blick nach der Lektüre scheinen mag. Die Erinnerung steuert unser Handeln, selbst wenn dies nicht unbedingt bewusst ist.2 Deshalb dürften das Bild von den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, das sich den Menschen eingeprägt hat, ihre Erfahrungen in der Schweiz und nicht zuletzt die Einstellungen, die ihnen gegenüber hier gerade während der jüngsten Konflikte geäussert wurden, ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Wegen ihrer Stellung zwischen ihren * Erstpublikation in: Dejan Mikić, Erika Sommer: »Als Serbe warst du plötzlich nichts mehr wert.« Serben und Serbinnen in der Schweiz. Zürich 2003, S. 183–196. 1 Heiko Haumann: History as a Weapon. Coming to Terms with the Past of Southeast Europe as a Contribution to Peace. In: Peace Perspectives for Southeast Europe. Proceedings of the Symposium 2000, Basel, Switzerland, 29–30 June 2000. Ed. by DuŠan Šimko and Heiko Haumann. Praha 2001, S. 225–237. 2 Die komplizierten Wechselbeziehungen zwischen kulturellen Normen, Wissensvorgaben und überlieferten Deutungsmustern im kollektiven Bezugsrahmen sowie jeweiliger Lebensgeschichte, aktueller Situation, kommunikativen Erfahrungen und spezifischen Assoziationen, die in der individuellen Erinnerung zusammenfliessen, sind Gegenstand eines »Projekts Erinnerung« am Historischen Seminar der Universität Basel.

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Heimatländern und der Schweiz sind sie in besonderer Weise berufen, hier wie dort kulturelle Traditionen aufzunehmen, wechselseitig in Beziehung zu setzen und dadurch Missverständnisse, Klischees und Vorurteile abzubauen. Insofern können die Beiträge dieses Bandes insgesamt, gerade in ihrer Verschiedenartigkeit, den Leserinnen und Lesern Anstösse geben, ihre eigenen Meinungen zu durchdenken und die hier zutage tretende Problematik zum Bestandteil ihrer eigenen Erinnerung werden zu lassen. * Die Ereignisse vom 5. Oktober 2000, die zum Sturz MiloŠevićs führten, haben bestätigt, dass das gängige und anlässlich des Kosovo-Krieges mobilisierte Bild nicht stimmt. So hiess es etwa, die Serben fühlten sich den »Prinzipien kollektiver Zugehörigkeit« und dem »Primat der ethnisch-religiös grundierten Nation« verpflichtet, den »westlichen« Prinzipien »universeller Menschen- und Bürgerrechte« und »einer demokratisch legitimierten Volkssouveränität« stünden sie fremd gegenüber.3 Die Gesellschaften in Südosteuropa waren und sind sehr viel heterogener, als mit derartigen Stereotypen unterstellt wird. Historisch haben sich unterschiedliche Kulturen in »zivilisatorischen Mischregionen«4 und selbst innerhalb der einzelnen Ethnien ausgebildet. Die Wende in Serbien lässt hoffen, dass Perspektiven für einen dauerhaften Frieden in Südosteuropa in Sicht sind. Zuvor war zu erkennen gewesen, dass die internationalen Mächte durch ihr – von ihnen durch moralische Kategorien gerechtfertigtes – militärisches Eingreifen gegen Serbien oder ihr diplomatisches Handeln zwar ihre handfesten Interessen verfolgten, doch zu wenig taten, um den vom Krieg und Elend betroffenen Menschen entscheidend zu helfen. Die Stabilisierung der Region kam nur schleppend voran, der Schutz von Minderheiten – namentlich der »Zigeuner«, der Roma,5 aber auch der nun von den Albanern im Kosovo bedrohten Serben – blieb unzureichend, und die 3 Dan Diner: Europa, das ist der Rand. Völkerschicksale im Weltbürgerkrieg: Ein Blick in die Vorgeschichte der Balkankonflikte und ihre ideologische Überdeckung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 104, 6.5.1999, S. 52. – In den Fussnoten gebe ich nur die unmittelbaren Nachweise. Am Schluss des Beitrages finden sich einige allgemeine Literaturhinweise. 4 Marie-Janine Calic: Zehn Thesen über den Zusammenhang von Kultur und Konflikt im ehemaligen Jugoslawien. In: Der Konflikt der Kulturen und der Friede in der Welt – oder: Wie können wir in einer pluralistischen Welt zusammenleben? Hg. von Jörg Calließ. Loccum 1995 (Loccumer Protokolle 65/94), S. 59–72, hier S. 60. 5 Zur allgemeinen Situation: The Roma in Serbia. Ed. by the Centre for Anti-War Action and the Institute for Criminological and Sociological Research. Belgrade 1998.

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Befürchtung, dass viel zu geringe finanzielle Mittel zur intensiven Soforthilfe für die Leidenden, zur Beseitigung der durch das Militär angerichteten Schäden einschliesslich der Folgen des Einsatzes von Munition mit angereichertem Uran sowie zum wirtschaftlichen Neuaufbau bereit gestellt würden, bewahrheitete sich.6 Im Rahmen der Versuche, Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu schaffen, muss es auch darum gehen, die Grundlagen nationalistischen Denkens aufzubrechen. In den zahlreichen Konflikten in Südosteuropa während der letzten Jahre ist Geschichte als Waffe eingesetzt worden, sie wurde zur »kulturellen Gewalt«.7 Selten ist so deutlich geworden, welche Bedeutung der Umgang mit der Geschichte, die Art der Erinnerung für die Gegenwart, für die Politik hat. Das gilt für die Berichterstattung in den Medien, für belletristische Werke und für Stellungnahmen von Wissenschaftlern ebenso wie für Äusserungen von Politikern oder für die Darstellung in Schulbüchern.8 Mit der Indienstnahme der Geschichte wurden die Menschen von den jeweiligen Interessengruppen auf Gewaltausübung vorbereitet, für den Krieg mobilisiert.9 Nicht die Schlacht von 1389 auf dem Kosovo polje, dem Amselfeld, hat den Grund für die Auseinandersetzung zwischen den heute im Kosovo lebenden 6 Vgl. meinen Beitrag: Schritte in Richtung Frieden nach einem ruinösen Krieg. In: Basler Zeitung Nr. 175, 30.7.1999, S. 4; Willi Herzig: Krieg gewonnen, Frieden verspielt. Ebd. Nr. 71, 24.3.2000, S. 3. 7 Johan Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln. Friede und Konflikt, Entwicklung und Kultur. Opladen 1998, S. 341–366. 8 Wolfgang Höpken: Geschichte und Gewalt. Geschichtsbewußtsein im jugoslawischen Konflikt. In: Internationale Schulbuchforschung 15 (1993) S. 55–73; Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hg. von Wolfgang Höpken. Hannover 1996. Vgl. BoŽidar JakŠić: Kosovo – Anathema of Ethnonational Goals. In: Interkulturalnost i toleranćija / Interculturality and Tolerance. Ed. by BoŽidar JakŠić. Beograd 1999, S. 265–272. 9 Zu strukturellen und kulturellen Grundlagen für Gewalt, auf die ich hier nicht im einzelnen eingehe, vgl. differenziert Wolfgang Höpken: Gewalt auf dem Balkan – Erklärungsversuche zwischen »Struktur« und »Kultur«. In: Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika. Hg. von Wolfgang Höpken und Michael Riekenberg. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 53–95. Er macht auch deutlich, dass die »nationalistische Funktionalisierung« der Erinnerung nicht spezifisch ›balkanisch‹ sei, sondern in der »(gesamt-) europäischen Tradition des neuzeitlichen Nationalstaates« stehe (S. 90). Zu biographischen Voraussetzungen von Gewalt s. Natalija BaŠić: »Krieg ist nun mal Krieg.« In: ebd., S. 195– 225. Vgl. auch Wolfgang Höpken: Das Dickicht der Kriege: Ethnischer Konflikt und militärische Gewalt im früheren Jugoslawien 1991–1995. In: Wie Kriege entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonfliken. Hg. von Bernd Wegner. Paderborn etc. 2000, S. 319–367.

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Albanern, den Shkiptaren, und den Serben gelegt, sondern die Instrumentalisierung eines Mythos, die jene Auseinandersetzung geradezu inszenierte. Wie die von kommunistischer Partei und orthodoxer Kirche 1989 organisierte 600-Jahr-Feier der Schlacht verdeutlichte, diente die Konstruktion, Kosovo sei die Wiege nationaler serbischer Identität und Serbien der Verteidiger der christlich-europäischen Zivilisation, der Begründung eines Herrschaftsanspruches und einer politischen Vormachtstellung. Eine noch höhere Wirkung im Alltag erzielte hier – wie insgesamt bei der Vermittlung eines einseitig geformten Geschichtsbewusstseins – die gezielt eingesetzte populäre Volksmusik, namentlich über traditionelle und neukomponierte Lieder.10 Vergleichbare Mythenbildungen finden wir auch in den anderen Ländern Südosteuropas.11 Die mittelalterlichen Reiche deckten sich überhaupt nicht mit den heutigen Ländern auf dem Balkan, weder ethnisch noch politisch ist eine Kontinuität sichtbar. Ein erstes serbisches Reich hatte sich von Zeta aus – dem heutigen Montenegro und Nordalbanien – bis hin zu Bosnien und Makedonien ausgedehnt. 1077 war Michael vom Papst zum König gekrönt worden. Nach dessen Tod 1100 zerfiel das Reich wieder. Ein neuer Mittelpunkt bildete sich in Raszien, im Südwesten des heutigen Serbien. 1217 nahm Stefan Prvovenčani wiederum aus der Hand des Papstes die Königskrone entgegen. Dessen kirchenpolitischen Wünschen kam er allerdings nicht entgegen, sondern wandte sich der Ostkirche zu. 1346 krönte der serbisch-orthodoxe Patriarch Stefan DuŠan UroŠ IV. zum Kaiser der Serben und Griechen. Das Reich umfasste inzwischen ein riesiges Gebiet zwischen Bosnien, das sich seine Selbständigkeit erhalten konnte, und Griechenland. Ethnisch war es keineswegs homogen zusammengesetzt, die Feudalherrschaft hatte sich nach byzantinischem Muster organisiert. Jedenfalls lässt sich überhaupt noch nicht von einer serbischen Nation im modernen Sinn sprechen – als einer sich zusammengehörig fühlenden Einheit mit 10 Dazu speziell Tanja Popović: Die »Mythologisierung des Alltags« – Serbien und Montenegro seit Mitte der 1980er Jahre. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Universität Basel 2000 [publiziert Zürich 2003]. 11 Vgl. z. B. Katrin Boeckh: Fremden-Mythos auf dem Balkan. Zur Wirkung von Verschwörungstheorien im orthodoxen Serbien. In: Mythen, Symbole und Rituale. Die Geschichtsmächtigkeit der Zeichen in Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Dittmar Dahlmann und Wilfried Potthoff. Frankfurt a. M. etc. 2000, S. 89–108; Peter Bartl: Der Geschichtsmythos der Albaner. In: ebd., S. 118–139. – Nicht näher gehe ich hier darauf ein, dass dieser Einsatz der Geschichte als Waffe nicht auf die Länder Südosteuropas beschränkt ist: Die Instrumentalisierung von »Auschwitz« zur Legitimierung des NatoKrieges ist ein Beispiel dafür: Günther Jacob: Die Metaphern des Holocaust während des Kosovokrieges. In: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 15 (2000) S. 160–183; vgl. meinen in Anm. 6 zitierten Artikel.

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einem politischen Ziel. Nach Stefan DuŠans Tod 1355 löste sich das Grossreich im übrigen rasch wieder in kleinere Einheiten auf. Die Niederlage des serbischen und bosnischen Heeres unter Fürst Lazar, das von kroatischen, albanischen, bulgarischen und walachischen Truppen unterstützt wurde, am St.-Veits-Tag 1389 brachte in der Folgezeit einen weiten Teil Südosteuropas unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Albanien leistete noch lange Widerstand, mit dem Höhepunkt um die Mitte des 15. Jahrhunderts unter Führung Gjergj Kastriotas, genannt Skanderbeg. Das »Dreieinige Königreich Dalmatien, Kroatien und Slawonien«, das sich kirchenpolitisch dem päpstlichen Bereich zurechnete, war mit einer gewissen Autonomie seit 1097 mit Ungarn verbunden, nachdem das erste, von Tomislav 924 begründete kroatische Königreich zerfallen war. Die Reste dieses Territoriums, die nicht von den Osmanen erobert wurden, schlossen sich nun enger an die Habsburgermonarchie an, die dort in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die »Militärgrenze« (Krajina) gegenüber dem Osmanischen Reich anlegte und ethnisch wiederum völlig heterogen besiedelte. Trotz der religiös-kirchlich unterschiedlichen Entwicklung und trotz aller dynastischen Streitigkeiten lebte die Bevölkerung in vielfältiger Mischung miteinander. Allerdings bereiteten sich auch spätere Konflikte vor: Aus Furcht vor negativen Auswirkungen militärischer Erfolge der Osmanen gegen die Habsburger verliessen 1690 und noch einmal 1737 zahlreiche Serben das KosovoGebiet. An ihrer Stelle siedelten sich zunehmend Shkiptaren dort an, die später mehrheitlich zum Islam übertraten. Über die vielen Heldenlieder und Mythen, mit denen die Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld wachgehalten und zugleich zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam umstilisiert wurde, in der die Serben durch Verrat ein Martyrium erlitten, entwickelte sich ein Gegensatz zu den Albanern.12 Insgesamt lässt sich aber sagen, dass die Teilung des Balkanraumes zwischen der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich zwar neue Barrieren errichtete, wir dennoch viele Gemeinsamkeiten über die Grenzen hinweg und bis in unser Jahrhundert hinein ein überwiegend friedliches Auskommen der Menschen finden. Selbst die im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalbewegungen änderten daran zunächst wenig: Sie blieben anfangs auf kleine Kreise beschränkt, die aufgrund von politischen Zielen historische Traditionen und eigene Sprachen der einzelnen Völker konstruierten, um sie voneinander abzugrenzen. In Serbien, das sich seit 1815 mit wachsender Autonomie allmählich aus dem Osmanischen Reich löste, 1878 unabhängig und 1882 wieder ein Königreich wurde, 12 Jens Reuter: Die Entstehung des Kosovo-Problems. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34, 20.8.1999, S. 3–10. Vgl. Popović: Mythologisierung.

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formulierte 1844 Aussenminister Ilija GaraŠanin das Ziel, alle »Stammesgenossen« zu befreien und das serbische Reich des 14. Jahrhunderts wiederherzustellen. Die Resonanz in der Bevölkerung blieb gering. Erst die zunehmenden aussenpolitischen Konflikte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie eine Orientierungslosigkeit im Widerspruch zwischen traditionellen Lebensformen und »Modernisierung« mit Industrialisierung und Bürokratisierung brachten dem Nationalismus allmählich eine grössere Anhängerschaft.13 In Kroatien hatte sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine kulturelle Erneuerungsbewegung formiert, die unter dem Stichwort des »Illyrismus« eine historische südslawische Gemeinsamkeit zu begründen versuchte. Ein Teil propagierte auf dieser Grundlage die einheitliche südslawische Nation, das Jugoslawentum. Ein Argument war die gemeinsame Sprache: Ljudevit Gaj hatte 1830 den Anstoss zur Schaffung einer kroatischen Schriftsprache aus einem der drei Hauptdialekte – dem Štokavischen – gegeben, den auch der Sprachreformer Vuk KaradŽić 1814/15 für das Serbische ausgewählt hatte. Doch die Mehrheit der serbischen Nationalbewegung lehnte die kroatische Initiative ab, da sie der Idee eines umfassenden serbischen Reiches widersprach. Folgerichtig zählten die serbischen Nationalisten die Kroaten in Bosnien als »Serbokatholiken« zur serbischen Nation, während die kroatische Nationalbewegung ebenfalls auf sie Anspruch erhob. Einen ähnlichen Zankapfel bildeten die Muslime in Bosnien oder die Serben innerhalb der Krajina.14 Dennoch gab es immer wieder Querverbindungen zwischen den beiden »Lagern«, zumal diese in sich nicht geschlossen, sondern oft zerstritten waren.15 So 13 Klaus Roth: Bürgertum und bürgerliche Kultur in Südosteuropa. Ein Beitrag zur Modernisierungsdiskussion. In: Soll und Haben. Alltag und Lebensformen bürgerlicher Kultur. Hg. von Ueli Gyr. Zürich 1995, S. 245–260; Marie-Janine Calic: Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941. Der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung. München 1994; H.-Michael Miedlig: Patriarchalische Mentalität als Hindernis für die staatliche und gesellschaftliche Modernisierung in Serbien im 19. Jahrhundert. In: Südost-Forschungen 50 (1991) S. 163–190. 14 Wolf Dietrich Behschnitt: Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830–1914. Analyse und Typologie der nationalen Ideologie. München 1980. 15 Vgl. z. B. die Ergebnisse des Basler Forschungsprojektes »Städtische Elite, bäuerliches Volk: Vergleichende Untersuchung der Regionen Dubrovnik/Zadar und Belgrad zwischen 1850 und 1914« (1997–2000): Martin TranČik: Abgrund – Brückenschlag. Oberschicht und Bauernvolk in der Region Dubrovnik im 19. Jahrhundert. Zürich 2002; NataŠa MiŠković: Basare und Boulevards. Belgrader Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Unveröffentl. Dissertation, Universität Basel 2002 [publiziert Wien etc. 2008]. Ausserdem Aleksandar Jakir: Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Integration. München 1999 (er arbeitet überzeugend heraus, dass die Bauern stärker durch soziale als durch nationale Momente politisiert wurden – etwa S. 28 – und formuliert S. 263 die These, »daß es nicht zuletzt das Bewußtsein der eigenen

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schwankte die kroatische Bewegung in ihren Zielvorstellungen zwischen einer Föderation mit dem Habsburgerreich, einer staatsrechtlichen Selbstständigkeit und einer Föderation oder Konföderation mit Serbien. Als verhängnisvoll sollte sich erweisen, dass sich innerhalb der Nationalbewegung die – aus in West- und Mitteleuropa entstandenen Theorien entnommene – Idee durchsetzte, jede Nation müsse ein staatliches Territorium haben, das mit »heiligen Rechten« historisch begründet sei. Die verschiedenen Ethnien sollten sich der herrschenden Nation anschliessen.16 Angesichts der ethnischen Gemengelage waren damit die Konflikte vorprogrammiert. Die sich verschärfenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die politischen Probleme, die mit der Neuordnung Südosteuropas wegen des zerfallenden Osmanischen Reiches verbunden waren, konnten dann dazu genutzt werden, die Vertreter der jeweils anderen Nation als Sündenböcke zu verdächtigen und damit zunehmend Anklang in der Bevölkerung zu finden. Die nationalen Ideologien wurden aggressiver, die Vorstellung eines ethnisch »reinen« Nationalstaates stiess auf immer radikalere Resonanz, und im Zusammenhang mit den Balkankriegen 1912/13 praktizierte man auch bereits »ethnische Säuberungen«.17 Vollends kamen die Gegensätze zum Ausbruch, als am Ende des Ersten Weltkrieges die bislang herrschenden Mächte als gemeinsame Gegner weggefallen waren und es darum ging, einen eigenen jugoslawischen Staat zu bilden, das 1918 gegründete »Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen« unter dem serbischen Königshaus.18 Serbisches Hegemonialstreben und kroatischer Extremismus stiessen unter den politischen Eliten aufeinander, zumal die Verfassung von 1921 die serbische Dominanz festschrieb. Erneut waren es Krisenerfahrungen, die auch Teile der Bevölkerung gegeneinander aufbrachten.

Unterentwicklung war, welches die nationale Emanzipation als Überwindungsstrategie, zuerst unter den Gebildeten, hervorbrachte»); Günter Schödl: Kroatische Nationalpolitik und »Jugoslavenstvo«. Studien zu nationaler Integration und regionaler Politik in Kroatien – Dalmatien am Beginn des 20. Jahrhunderts. München 1990. 16 Nicht zuletzt die Vorstellungen des Schweizers Johann Kaspar Bluntschli spielten eine wichtige Rolle, z. B.: Allgemeine Staatslehre. 5. Aufl. Band 1. Stuttgart 1875, S. 107. 17 Wolfgang Höpken: »Blockierte Zivilisierung»? Staatsbildung, Modernisierung und ethnische Gewalt auf dem Balkan (19./20. Jahrhundert). In: Leviathan 25 (1997) S. 518–538. Vgl. die für eine Vertreibung der Albaner plädierende Denkschrift des jugoslawischen Historikers Vaso Čubrilović von 1937, dokumentiert in der Frankfurter Rundschau vom 28.4.1999. 18 Holm Sundhaussen: Geschichte Jugoslawiens 1918–1980. Stuttgart etc. 1982. Vgl. als kurzen Überblick ders.: Experiment Jugoslawien. Von der Staatsgründung bis zum Staatszerfall. Mannheim etc. 1993.

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Der Nationalismus diente, wie so oft, als »Ablenkungs- und Krisenstrategie«.19 Doch wiederum sollten Versuche, zu einer Annäherung und Aussöhnung zu kommen, nicht übersehen werden.20 Einer dieser Ansätze kam aus der Kroatischen Bauernpartei unter Führung Stjepan Radić’. Diese strebte an, eine demokratisch verfasste, »neutrale Bauernrepublik Kroatien« in eine Konföderation gleichberechtigter Nationen auf dem Territorium Jugoslawiens einzubringen. Nach anfänglichen Chancen provozierten die Extremisten beider Seiten immer wieder den Konflikt. 1928 erlag Radić einem Attentat. Die Situation verschärfte sich. 1929 machte sich der König durch einen Staatsstreich zum Diktator im neuen Königreich Jugoslawien. Schon 1934 fiel er einem Mordanschlag einer kroatisch-makedonischen Gruppe zum Opfer. Zwar erhielt dann 1939 Kroatien-Slawonien-Dalmatien Autonomierechte, aber diese Massnahme kam zu spät – den einen war das zu wenig, den anderen zu viel. Diese Entwicklung begünstigte die radikalen Gruppen.21 1929 war in Kroatien die Bewegung der UstaŠa, der »Aufständischen« gegründet worden, eine Minderheit mit völkischer Ideologie, die, unterstützt vom katholischen Klerus und unter Berufung auf ihre »historische Mission« gegen die Ostkirche und gegen den Islam, einen grosskroatischen Staat verlangte. Unter der Nazi-Herrschaft ab 1941 stellten die UstaŠa die Regierung. Grauenvolle »ethnische Säuberungen« und Exzesse gegen Serben, Juden und Kommunisten waren die Folge. Entsprechend brutal reagierten dann die Četniks, die nach den im 19.  Jahrhundert gebildeten Guerillaeinheiten zur Befreiung Makedoniens vom Osmanischen Reich so genannten »Freischärler«. Diese hatten als Ziel ein ethnisch homogenes Grossserbien vor Augen. »Multiethnisch« war hingegen die sozialistisch-kommunistische Partisanenbewegung unter Tito, die deshalb nicht nur gegen die deutschen Truppen und die UstaŠa, sondern auch gegen die Četniks kämpfte. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches wurde sie zum entscheidenden Machtfaktor. 19 Holm Sundhaussen: Nationsbildung und Nationalismus im Donau-Balkan-Raum. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993) S. 233–258, hier S. 253. 20 Vgl. auch Wolfgang Höpken: Strukturkrise oder verpaßte Chance? Zum Demokratiepotential der südosteuropäischen Zwischenkriegsstaaten Bulgarien, Jugoslawien und Rumänien. In: Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918–1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten. Hg. von Hans Lemberg. Marburg 1997, S. 73–127. 21 Vgl. im Zusammenhang Stefan Troebst: Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich. In: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 1 (1996) S. 273–314. Es liegt mir daran zu betonen, dass das Konzept der »ethnischen Säuberung« weder von serbischer Seite erfunden noch allein von ihr praktiziert wurde.

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An sich wies das kommunistische Jugoslawien mit der Tradition der Partisanenarmee, seiner föderalistischen Struktur und Selbstverwaltungsidee günstige Rahmenbedingungen für einen Ausgleich auf.22 Dass die nationalen Gegensätze und die Gewaltakte während des Zweiten Weltkrieges zum Tabu erklärt und nicht aufgearbeitet wurden, war ein wichtiger Grund für das Scheitern des zweiten Experiments eines einheitlichen Staates.23 Obwohl gerade in den ethnischen Mischgebieten die Menschen überwiegend gut miteinander auskamen, schwelten die Konflikte weiter, zugedeckt unter der Oberfläche. In Serbien nutzten interessierte Kreise eine verbreitete Enttäuschung über die Entwicklung aus: Serbien sei territorial-national der Verlierer der politischen Ordnung Jugoslawiens. Dadurch wiesen sie unterschwellig auf den traditionellen serbischen Opfer-Mythos hin: Serbien müsse – wie Christus – einen langen Opferweg gehen, bis die Erlösung komme, die dann zugleich die Befreiung der anderen Völker Südosteuropas bedeuten werde. Dieser Mythos wurde im übrigen noch einmal während des Nato-Krieges gegen Serbien mobilisiert: Es sei – wie schon mehrfach zuvor – der Völkermord an den Serben geplant, der apokalyptische Dimensionen annehmen werde.24 Die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der mangelnden Wirkung der Selbstverwaltung in den Betrieben, in der ihre Interessen von den »Managern und Technokraten«25 häufig abgeblockt wurden, hatte schwerwiegende Folgen für die »nationale Frage«.26 Die Selbstverwaltung sollte nicht nur eine Autonomie des Betriebes, sondern auch der jeweiligen Nation bedeuten. Dies hatte zu be22 Holm Sundhaussen: Experiment Jugoslawien, S. 116 (er spricht sogar von einer zeitweisen »multikulturellen jugoslawischen Identität«). 23 Wolfgang Höpken: Vergangenheitspolitik im sozialistischen Vielvölkerstaat: Jugoslawien 1944 bis 1991. In: Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Hg. von Petra Bock und Edgar Wolfrum. Göttingen 1999, S. 210–243; ders.: Kriegserinnerung und nationale Identität(en). Vergangenheitspolitik in Jugoslawien und den jugoslawischen Nachfolgestaaten. In: Transit 15 (1998) S. 83–99; ders: Zwischen »Klasse« und »Nation»: Historiographie und ihre »Meistererzählungen« in Südosteuropa in der Zeit des Sozialismus (1944–1990). In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 2 (2002) S. 15–60. 24 Höpken: Geschichte und Gewalt, S. 65–70 (S. 70–72 zu vergleichbaren Stereotypen in Kroatien); Popović: Mythologisierung. Dieser Mythos weist enge Parallelen zum polnischen Messianismus auf (vgl. Heiko Haumann: »Das Erhabenste der Menschlichkeit.« Adam Mickiewicz und der jüdisch-polnische Messianismus. In: Fenster zur Geschichte. 20 Quellen – 20 Interpretationen. Festschrift für Markus Mattmüller. Hg. von Bernard Degen u. a. Basel, Frankfurt a. M. 1992, S. 247–259). 25 Sundhaussen: Experiment Jugoslawien, S. 114. 26 Vgl. Stefan Plaggenborg: Die Entstehung des Nationalismus im kommunistischen Jugoslawien. In: Südost-Forschungen 56 (1997) S. 399–421. Aleksandar Jakir bereitet eine grössere Untersuchung zu dieser Thematik vor.

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denklichen partikularistischen Erscheinungen geführt, so zur Entlassung von Arbeitern, die einer anderen Nationalität angehörten als der im betreffenden Gebiet vorherrschenden. Nach 1963 vertiefte sich die Wirtschaftskrise. Die Arbeiter mussten »abgelenkt« werden, zumal eine echte dezentrale Partizipation nicht mehr gegeben war. Hier interpretierten verschiedene Politiker nun, aus Machtstreben und um eigene Fehler zu verdecken, die Krise als Folge nationalen Verhaltens und spielten die Nationalitäten gegeneinander aus. Das scharfe Wohlstandsgefälle von Norden nach Süden wurde als Folge nationaler Gegensätze gedeutet. Dies verstärkte den Opfer-Mythos in Serbien, veranlasste aber auch die »reicheren« Republiken Slowenien und Kroatien, sich aus dem »Wohlstandsausgleich«27 zurückzuziehen. Serbiens Politiker versuchten, eine Vermittler-Rolle zu spielen, um von der Situation zu profitieren. Dies führte zu einer Koalition der »reichen« und »armen« Republiken gegen Serbien, was dort wiederum Aggressionen weckte. Auf diese Weise verdoppelten sich ökonomisch-soziale Konflikte in nationalen Gegensätzen.28 Nationalismus diente einmal mehr als manipulativ eingesetzte Orientierungshilfe in Umbruchzeiten, um im Interesse der Herrschaftstechnik Massen zu mobilisieren.29 Mörderische Gewalt, Kriege, Plünderungen, Verwüstungen, Leid und Elend waren die Folge. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, wären wichtige Schritte, jenen Menschen Gehör zu schenken oder ihr Handeln ins Bewusstsein zu rufen, die der Gewaltmobilisierung widerstanden,30 sowie – in langfristiger Perspektive – eine sachliche Aufarbeitung der Vergangenheit zu ermöglichen. Dazu zählt, das Denken in territorialen Kategorien in Frage zu stellen. Es gibt kaum ein Gebiet mit einer ethnisch homogenen Bevölkerung, und wer heute noch die Nation an ein bestimmtes Territorium bindet, fördert bewusst oder unbewusst eine Konzeption der »ethnischen Säuberung«. Ein strenger Minderheitenschutz und eine Begünstigung von Konföderationen wären erste politische Forderungen, 27 Plaggenborg, S. 408. 28 Dario Venutti: Serbien und das Phänomen MiloŠević. In: Transformation und historisches Erbe in den Staaten des europäischen Ostens. Hg. von Carsten Goehrke und Seraina Gilly. Bern etc. 2000, S. 599–650 (S. 641 zitiert er Slobodan Reljić mit einem Kommentar zu den Folgen einer Rede MiloŠevićs zu demonstrierenden Arbeitern 1988: »Sie kamen vor das Parlament als Arbeiter, und sie gingen als Serben […]«). 29 Zu den Mitteln vgl. Popović: Mythologisierung. 30 In Basel hat sich etwa die studentische Initiative »conTACT« grosse Verdienste darum erworben, immer wieder für die verschiedenen Kulturen, Probleme und Konflikte Südosteuropas zu sensibilisieren und z. B. »das andere Serbien« vorzustellen. Dies hat sich auch auf Lehrveranstaltungen an der Universität ausgewirkt. Vgl. Isabelle Bopp: Macht, Kultur und Widerstand am Beispiel Serbiens in den 90er Jahren. Unveröffentl. Seminararbeit, Historisches Seminar der Universität Basel 2001.

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ein Nachdenken über die Weiterentwicklung von Konzepten einer nicht-territorialen Autonomie dringend erforderlich.31 Darüber hinaus ist insgesamt die Erforschung und öffentliche Diskussion der Geschichte eine erstrangige Aufgabe – und zwar beleuchtet aus der Sicht der Bevölkerung, vom Leben der Menschen her, nicht nur aus dem Blickwinkel der politischen Akteure und ihrer Ideologien. Dies muss selbstverständlich in der dortigen Region selbst geschehen. Auf diese Weise kann ein Beitrag dazu geleistet werden, dass sich die Menschen allmählich von den langwirkenden Mythen, von der Last der Vergangenheit befreien, dass sie ihre Identität kritisch reflektieren und in sich gefestigt an die Lösung der Zukunftsaufgaben gehen können. Der Umgang mit der Geschichte wäre dann eine Möglichkeit – im positiven Sinn eine »kulturelle Gewalt« –, eine dauerhafte Friedensordnung mitzugestalten. Die internationale Geschichtswissenschaft kann dabei vielleicht – abgesehen von ihrer Funktion, vorherrschende Stereotypen über den »Balkan« aufzubrechen32 – Anstösse geben und moderierende Elemente vermitteln. Wenn die internationalen Organisationen ihre Anstrengungen darauf richten, für solche Aufgaben die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, werden sie den Menschen dort den besten Dienst leisten, ihren eigenen Weg in die Zukunft zu finden. Sollten sie diesen jedoch Wertvorstellungen oder politische und ökonomische Strukturen von aussen aufzwingen, sie kolonialisieren wollen, werden sie die Spirale der Gewalt nicht durchbrechen, sondern nur neue Gewalt heraufbeschwören. Benutzte Literatur (ausser den zitierten Werken)  Adanir, Fikret: Die Makedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis 1908. Wiesbaden 1979  Babuna, Aydin: Die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit besonderer Berücksichtigung der österreichisch-ungarischen Periode. Frankfurt a. M. etc. 1996  Der Balkan. Friedenszone oder Pulverfaß? Hg. von Valeria Heuberger, Arnold Suppan und Elisabeth Vyslonzil. Frankfurt a. M. etc. 1998  Bartl, Peter: Albanien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg, München 1995

31 Hier könnte an Überlegungen der Austromarxisten, verschiedener Strömungen im osteuropäischen Judentum – etwa Simon Dubnows oder des jüdischen Arbeiter-Bundes – und an den Erfahrungen in den baltischen Ländern während der Zwischenkriegszeit angeknüpft werden. Vgl. auch Galtung: Frieden mit friedlichen Mitteln, S. 472–473 («Eine Therapie für die Zukunft: nicht-territorialer Föderalismus»). 32 Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt 1999.

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 Between the Archives and the Field: A Dialoque on Historical Anthropology of the Balkans. Ed. by Miroslav Jovanović, Karl Kaser and Slobodan Naumović. Belgrade, Graz 1997  Beyond Yugoslavia: Politics, Economics, and Culture in a Shattered Community. Ed. by Sabrina Petra Ramet and LjubiŠa S. Adamovich. Boulder, Col. 1995  Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München 1986  Boestfleisch, Hans-Michael: Modernisierungsprobleme und Entwicklungskrisen: Die Auseinandersetzung um die Bürokratie in Serbien 1839–1858. Frankfurt a. M. 1987  Bosnien und Europa. Die Ethnisierung der Gesellschaft. Hg. von Nenad Stefanov und Michael Werz. Frankfurt a. M. 1994  Calic, Marie-Janine: Ehtnische Konflikte in Bosnien-Hercegovina. Eine strukturelle Analyse. In: Minderheiten als Konfliktpotential in Ostmittel- und Südosteuropa. Hg. von Gerhard Seewann. München 1995, S. 154–173  Calic, Marie-Janine: Friedensstrategien in komplexen Konfliktfeldern. Lehren aus dem zerfallenden Jugoslawien. In: Frieden machen. Hg. von Dieter Senghaas. Frankfurt a. M. 1997, S. 166–186  Calic, Marie-Janine: Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche. Frankfurt a. M. 1995  Calic, Marie-Janine: Probleme nachholender Entwicklung in Serbien (1830–1941). In: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994) S. 63–83  Calic, Marie-Janine: Religion und Nationalismus im jugoslawischen Krieg. In: Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus. Hg. von Heiner Bielefeldt und Wilhelm Heitmeyer. Frankfurt a. M. 1998, S. 337–359  Chossudovsky, Michel: Die Demontage des früheren Jugoslawien. In: Das Argument 231 (1999) S. 561–567  DŽaja, Srećko M.: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878– 1918). Die Intelligentsia zwischen Tradition und Ideologie. München 1994  Eliten in Südosteuropa. Rolle, Kontinuitäten, Brüche in Geschichte und Gegenwart. Hg. von Wolfgang Höpken und Holm Sundhaussen. München 1998  Gender Politics in the Western Balkans. Women and Society in Yugoslavia and the Yugoslav Successor States. Ed. by Sabrina P. Ramet. University Park, PA 1998  Gross, Mirjana: Die Anfänge des modernen Kroatien. Gesellschaft, Politik und Kultur in Zivil-Kroatien und -Slawonien in den dreißig Jahren nach 1848. Wien, Köln, Weimar 1993  Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 1993  Ignatieff, Michael: Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien. Hamburg 2000  Kaser, Karl: Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur. Wien, Köln, Weimar 1995  Kaser, Karl: Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft in der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535–1881). 2. Aufl. Köln, Weimar, Wien 1997  Kaser, Karl: Hirten, Kämpfer, Stammeshelden. Ursprünge und Gegenwart des balkanischen Patriarchats. Wien, Köln, Weimar 1992  Kosovo: Lessons Learned for International Security. Ed. by Kurt R. Spillmann and Joachim Krause with the Assistance of Claude Nicolet. Bern etc. 2000

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 Kux, Stephan: Ursachen und Lösungsansätze des Balkankonflikts: Folgerungen für das Abkommen von Dayton. Basler Schriften zur europäischen Integration Nr. 16, Basel 1996  Maissen, Anna Pia: Wie ein Blitz schlägt es aus meinem Mund. Der Illyrismus: Die Hauptschriften der kroatischen Nationalbewegung 1830–1844. Bern 1998  Makedonien. Geographie – Ethnische Struktur – Geschichte – Sprache und Kultur – Politik – Wirtschaft – Recht. Hg. von Walter Lukan und Peter Jordan. Wien etc. 1998  Malcom, Noel: Kosovo: A Short History. London, New York 1998  Peace Perspectives for Southeast Europe. Proceedings of the Symposium 2000, Basel, Switzerland, 29–30 June 2000. Ed. by DuŠan Šimko and Heiko Haumann. Praha 2001  Prunk, Janko: Die Gründung des jugoslawischen Staates 1918. In: Als Mitteleuropa zerbrach. Hg. von Stefan Karner und Gerald Schöpfer. Graz 1990, S. 27–42  Prunk, Janko: Slowenien. Ein Abriß seiner Geschichte. Ljubljana 1996  Ramet, Sabrina P.: Balkan Babel: The Disintegration of Yugoslavia from the Death of Tito to Ethnic War. Boulder, Col. 1996  Romanenko, S. A.: Jugoslavija: Istorija vozniknovenija, krizis, raspad, obrazovanie nezavisimych gosudarstv. Nacional'noe samoopredelenie narodov Central'noj i Jugo-VostoČnoj Evropy v XIX-XX vv. Moskva 2000  Riedel, Sabine; Kalman, Michael: Soziale Frage und Gewaltprävention in Südosteuropa. In: Österreichische Osthefte 42 (2000) S. 143–171  Roth, Klaus: Wie »europäisch« ist Südosteuropa? Zum Problem des kulturellen Wandels auf der Balkanhalbinsel. In: Wandel der Volkskultur in Europa. Band 1. Hg. von NilsArvid Bringéus u. a. Münster 1988, S. 219–231  Der ruhelose Balkan. Die Konfliktregionen Südosteuropas. Hg. von Michael W. Weithmann. 2. Aufl. München 1994  Rumiz, Paolo: Masken für ein Massaker. Der manipulierte Krieg: Spurensuche auf dem Balkan. München 2000  Studienhandbuch Östliches Europa. Band 1: Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas. Hg. von Harald Roth. Köln, Weimar, Wien 1999  Südosteuropa. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Ein Handbuch. Hg. von Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst. München 1999  Sundhaussen, Holm: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999) S. 626–653  Troebst, Stefan: Chronologie einer gescheiterten Prävention. Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989–1999. In: Osteuropa 49 (1999) S. 777–795  Vasić, Mark: Zivilgesellschaftliche Demokratisierungsprozesse in der Bundesrepublik Jugoslawien. Perspektiven nach dem Kosovo-Konflikt. Frankfurt a. M. etc. 2000  Wachtel, Andrew Baruch: Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford, Cal. 1998  Zwangsmigrationen in Mittel- und Südosteuropa. Hg. von Wolfgang Höpken. Leipzig 1996 (Comparativ Jhg. 6, H. 1)

Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte? Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte*

Die Buchläden sind voll mit alltags- und regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen – schönen Bildbänden, Büchern über das Leben der Bauern und Arbeiter, Frauengeschichten, Ausstellungskatalogen, Gesprächsprotokollen mit Zeitzeugen in der unterschiedlichsten Form usw. Überall entstehen auch »Geschichtswerkstätten« oder Arbeitskreise zur Regionalgeschichte, die beanspruchen, neue Wege der Geschichtsforschung zu begehen. »Grabe, wo Du stehst«, dieser Buchtitel des Schweden Lindquist1 wurde für viele zum Leitfaden: Jede Kleinigkeit ist wichtig, nicht nur die »große« Geschichte. Die Historikerzunft hat auf diese neue Bewegung wenig begeistert reagiert. Dabei geht es nicht nur um Bedenken, weil viele »Laien« nun Geschichtsforschung betreiben (»können die das überhaupt?«), auch nicht nur darum, daß erstaunlich viele erwerbslose Lehrer und Privatdozenten unter den Aktiven sind, sondern darüber hinaus um grundsätzliche Probleme. Bekannt geworden ist vor allem die Kritik, die verschiedene Sozialhistoriker, namentlich Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler, vorgebracht haben.2 Wehler betrachtet Alltagsgeschichte und neue Regionalgeschichte als »Rückzug« in die romantische Idylle der Heimat, des wackeren Bauern und des edlen Proletariers.3 Bei der Klärung der entscheidenden historischen Probleme könne die »Idealisierung von gefühlsstarken ›Barfußhistorikern‹ in ihren alternativ kulturellen, ›linkspluralistischen‹ Werkstätten keinen Millimeter weiterhelfen«. Der »biedere * Erstpublikation in: Alemannisches Jahrbuch 1984/86 (1988) S. 7–21. 1 Sven Lindquist, Grabe, wo du stehst. Die »Barfußhistoriker« in Schweden. In: Demokratie- und Arbeitergeschichte. Hrsg. von der Franz Mehring Gesellschaft Stuttgart. Jahrbuch 3 (1983) S. 9–13 (ein Bericht über Entstehung und Wirkung des 1978 erschienenen Buches). Mein Beitrag ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 7.6.1986 auf einem vom Alemannischen Institut in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Schulamt Freiburg und dem Verein zur Förderung der Landeskunde in den Schulen veranstalteten Studientag für Lehrer anläßlich der Zähringer-Ausstellung gehalten habe. Zu danken habe ich für viele wichtige Diskussionen den aktiven Mitgliedern des Arbeitskreises Regionalgeschichte Freiburg e.V. (Postfach 5127, 7800 Freiburg). 2 Vgl. als Beispiel außer den im folgenden zitierten Aufsätzen Jürgen Kocka, Klassen oder Kultur? Durchbrüche und Sackgassen in der Arbeitergeschichte. In: Merkur 36 (1982) S. 955–965; dazu die Antwort von Martin Broszat, Plädoyer für Alltagsgeschichte. Eine Replik auf Jürgen Kocka. In: ebd., S. 1244–1248. 3 Hans-Ulrich Wehler, Der Bauernbandit als neuer Heros. Ohne Einbettung in ein umfassenderes Geschichtsbild droht eine Sackgasse. In: Die Zeit, Nr. 39/18.9.1981, S. 44.

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Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte?

Hirsebrei der Alltagsgeschichte ›von unten‹ und ›von innen‹« falle weit hinter die erreichten Ergebnisse der Geschichtswissenschaft zurück. Lediglich ein paar Ausnahmen von ernstzunehmenden Historikern zeigten, daß hin und wieder der alltagsgeschichtliche »Aspekt« etwas zur Aufhellung der allgemeinen Geschichte beitragen könne. Natürlich vermag Wehler viele Beispiele anzuführen, die tatsächlich höchst problematisch sind. Stutzig macht mich allerdings, wenn er sagt: »Nicht die ›kleinen Leute‹ haben jedoch die moderne Dynamik in Gang gesetzt, sondern die neuzeitliche Staatsbildung, der Aufstieg des Kapitalismus, der Übergang zu ›marktbedingten‹ Klassen, die Rationalisierungsschübe im kulturellen Leben usw. «.4 Gibt es denn eine abstrakte Staatsbildung, einen abstrakt aufsteigenden Kapitalismus usw. ohne Menschen, ohne kleine und große Leute, die dies ausführen oder erleiden? Mit »Rationalisierungsschüben im kulturellen Leben« meint Wehler vermutlich dasselbe, was Jürgen Habermas die »Kolonialisierung von Lebenswelten« nennt, das Vordringen von strukturell-systemischen Zwängen der staatlichen Bürokratie, der Geldwirtschaft u. a. in das traditionelle Lebensverständnis von Menschen.5 Hier kann man doch nicht nur Strukturen untersuchen – so wichtig das ist –, sondern muß auch fragen, wie sich die Menschen verhalten, welche Erfahrungen sie machen und wie sie diese verarbeiten, weil sonst der Gesamtprozeß gar nicht verständlich wird. Indirekt deutet demnach Wehler an, daß mit der neuen Regional- und Alltagsgeschichte nicht nur einige romantisierende Idealisten oder Alternativ-Historiker der Grünen am Werk sind, sondern ein grundsätzlich neuer Zugang zur Geschichte gesucht wird. Als erstes muß danach gefragt werden, inwiefern hier Unterschiede zur Landesgeschichte vorliegen.6 Die Landesgeschichte entstand als wissenschaftliche Teildisziplin im 19. Jahrhundert. Sie hatte die historische Individualität einzelner Länder innerhalb des Nationalstaates zum Gegenstand und sollte nicht 4 Hans-Ulrich Wehler, Geschichte – von unten gesehen. Wie bei der Suche nach dem Authentischen Engagement mit Methodik verwechselt wird. In: Die Zeit, Nr. 19/3.5.1985, S. 64. 5 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt/Main 1981, hier Bd. 2, 522 u. ö.; vgl. Detlev Peukert: Arbeiteralltag – Mode oder Methode? In: Arbeiteralltag in Stadt und Land. Neue Wege der Geschichtsschreibung. Hrsg. von Heiko Haumann. Berlin 1982, S. 8–39, hier S. 26 ff. 6 Vgl. zum folgenden (mit weiterer Literatur) Peter Steinbach, Zur Diskussion über den Begriff der »Region« – eine Grundsatzfrage der modernen Landesgeschichte. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31 (1981) S. 185–210; Otto Dann, Die Region als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983) S. 652–661. Auch: Probleme und Methoden der Landesgeschichte. Hrsg. von Pankraz Fried. Darmstadt 1978.

Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte 

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zuletzt auch eine dynastische Loyalität vermitteln. Von Anfang an brachte sie aber auch hervorragende Werke zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte hervor. Trotzdem war die Landesgeschichte zunächst im wesentlichen territorial-politisch definiert. Diese Linie ist heute noch lebendig, die Landesgeschichte orientiert sich teilweise sogar an den neuen Bundesländern und soll wohl auch eine gewisse Identifikation herstellen. Daneben hat sie immer schon Teilräume einzelner Länder untersucht und tut dies heute verstärkt. Insofern kann sich die Regionalgeschichte durchaus hier einordnen. Dennoch ergeben sich bereits bei der Definition des Begriffes »Region« Unterschiede zur bisherigen Landesgeschichte, die dann auch zu einem theoretisch-methodischen Neuansatz überleiten. Es ist erstaunlich, wie wenig bislang der Regionsbegriff definiert wurde. Dies zeigt, daß er schwammiger ist als »Land« oder »Staat« und daß es verschiedene Möglichkeiten gibt, ihn zu bestimmen. Ganz unverbindlich – als Ausdruck der Schwammigkeit – bezieht sich der Regionsbegriff auf eine räumliche Untersuchungseinheit, die durch die Fragestellung und die Quellengrundlage gekennzeichnet wird. In den meisten Arbeiten stehen dabei zwei Differenzierungen im Vordergrund: a) die Region ist ein geographisch bestimmter Raum, der als zusammengehörig angesehen wird (Begriff der Raumordnung); b) die Region ist eine wirtschaftliche Einheit (Begriff der Regionalökonomie). Diese Zuordnung ist gerade bei Sozial- und Wirtschaftshistorikern beliebt. Dadurch hat sich z.  B. herausgestellt, daß es die deutsche Industrialisierung zunächst einmal gar nicht gegeben hat, sondern daß etwa die Industrialisierung des Ruhrgebiets wesentlich anders verlaufen ist als diejenige Badens. Die Industrialisierung war ein »regionales Phänomen»7, das erst über viele Zwischen-­und Vermittlungsglieder zu einer übergreifenden Vereinheitlichung oder Zusammenfassung führte. Andererseits sind auch übernationale Wirtschaftsregionen möglich und denkbar. Einige Forscher haben bei solchen Arbeiten erkannt, daß der Begriff über das rein Geographische oder Ökonomische hinaus erweitert werden müsse, denn die unverwechselbare Individualität einer Region ergebe sich nicht nur aus Landschaft und Wirtschaft. Hier spielt die Diskussion um den Begriff der

7 Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Hrsg. von Sidney Pollard. Göttingen 1980, S. 12 (Einleitung des Herausgebers).

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Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte?

Heimat hinein,8 aber auch die Frage, wie es zu der Homogenisierung eines Gebietes kommt, das man dann als Region bezeichnet. Damit ist zugleich die zeitliche Veränderung einer Region und auch die Typologisierung von Regionen angesprochen. Es hat verschiedenste Versuche gegeben, dies irgendwie begrifflich zu fassen. Weiterführend scheint mir zu sein, wenn man Region als sich in der Zeit wandelnde komplexe Einheit von Strukturen (Raum, Wirtschaft, Verwaltung, Kirchensystem usw.) und Lebenswelten versteht, zu denen auch Mentalität, Bewußtsein, Sprache, Religion, Brauchtum der Bewohner gehören. Die Eigenart der Region wird damit mehr als früher auf die dort Lebenden bezogen, auf ihre Lebensweise, ihr Denken und Verhalten, ihre Prägungen. Natürlich wirkt hier das heutige Regionalbewußtsein auf die historische Fragestellung ein, so wie auch die Regionalgeschichte häufig als Orientierung für heutige regionale Aktivitäten verstanden wird. Damit sind wir bei dem entscheidenden Ansatzpunkt, der neu in die geschichtswissenschaftliche Diskussion eingebracht worden und auch am stärksten auf den Widerspruch etablierter Kollegen gestoßen ist. Die Regionalgeschichte verbindet sich mit der Alltagsgeschichte, um nicht nur Strukturen zu analysieren und die »große Politik« darzustellen, sondern um den alten geschichtswissenschaftlichen Anspruch einzulösen, die Stellung des Menschen – und zwar: nicht des abstrakten Menschen, sondern des singulären, konkreten Menschen – in der Geschichte zu untersuchen.9 Es geht also nicht allein darum, am Ort, innerhalb eines überschaubaren Gebietes, »Ansätze und Verlaufsformen strukturwandelnder Prozesse aufzuspüren«, Differenzierungen innerhalb der allgemeinen Entwicklungen, Verstärkun8 Hierzu nur: Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. Hrsg. von Konrad Köstlin und Hermann Bausinger. Neumünster 1980; Manfred Bosch, Heimat und Identität. Ein Literaturbericht. In: Vorgänge (1980) H. 47–48, S. 116 ff.; Bürger im Staat 33 (1983) H. 4; Heiko Haumann, »Hier war doch gar nichts los!« Eine Regionalgeschichte der Arbeiterbewegung in der Provinz. In: »Die Freiheit ist noch nicht verloren ...«. Zur Geschichte der Arbeiterbewegung am Oberrhein 1850–1933. Hrsg. vom Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg. Freiburg 1983, S. 8–13; vgl. auch meinen in Anm. 26 zitierten Aufsatz. 9 Arbeitsgruppe des Projekts »Regionale Sozialgeschichte« (Alfred G. Frei u.a.), Neue Regionalgeschichte: Linke Heimattümelei oder kritische Gesellschaftsanalyse? Tendenzen einer neuen Regionalgeschichte. In: Das Argument 23 (1981) Nr. 126, S. 239–252; Dies., Regionalgeschichte: Neue Chancen für Gesellschaftsanalyse. In: ebd. 24, (1982) Nr. 131, S.  55–67; Alfred Georg Frei, Alltag – Region – Politik. Anmerkungen zur »neuen Geschichtsbewegung«. In: Geschichtsdidaktik 9 (1984) S. 107–120; Jürgen Kinter, Manfred Kock, Dieter Thiele, Spuren suchen. Leitfaden zur Erkundung der eigenen Geschichte. Hamburg 1985; Die andere Geschichte. Geschichte von unten – Spurensicherung – ökologische Geschichte – Geschichtswerkstätten. Hrsg. von Gerhard Paul und Bernhard Schoßig. Köln 1986.

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gen, Abweichungen, Behinderungen festzustellen.10 Dahinter steht ein sehr viel grundsätzlicherer Bezug. Allerdings fehlt ein einheitliches Konzept oder eine einheitliche Theorie – was für die Forschung vielleicht gar nicht so schlecht ist. Verschiedenste Ansätze und Abstufungen wurden vorgelegt, von denen hier einige erörtert werden sollen.11 Zunächst einmal wird die Möglichkeit gesehen, innerhalb eines überschaubaren Raumes so dicht analysieren zu können, daß eine Verbindung verschiedener Ebenen historischer Wirklichkeit gelingt. Um dies an einem Beispiel deutlich zu machen: Bei einer »normalen« sozial-strukturellen Untersuchung haben wir Daten über Wohnverhältnisse in Industriezentren, Statistiken über Streiks, Zahlen über Gewerkschaftsmitglieder u. ä. Wir können vermuten, daß es hier irgendwelche Zusammenhänge gibt. Eine ganz genaue Erforschung der Verhältnisse in einer Stadt oder sogar einem Viertel bringt aber mehr, vorausgesetzt, die Quellenlage ist gut: Hier werden die Wohnbedingungen plastisch beschrieben, zugleich erfahren wir, was dies für die Bewohner bedeutete, wir können verfolgen, wie diese auf die Verhältnisse reagierten, inwieweit dadurch ihre politische Orientierung und ihr soziales Verhalten beeinflußt wurden. Führten etwa schlechte Verhältnisse zu verstärkter Organisierung in der SPD und Gewerkschaften oder eher zu einem spontan-aufrührerischen Verhalten in Konfliktfällen? Förderte das Schlafgängerwesen – das Anmieten eines Bettes in einer ohnehin beengten Arbeiterwohnung – die sogenannte halb-offene Familienstruktur und die Solidarität der Arbeiter untereinander oder wirkte es zerstörerisch auf die Familie und den Zusammenhalt? Die Regionalgeschichte bietet also die Möglichkeit, die verschiedenen Untersuchungsebenen, Lebensverhältnisse, soziales Verhalten und politische Orientierung zu verbinden.12 10 Wolfgang Köllmann, Zur Bedeutung der Regionalgeschichte im Rahmen struktur- und sozialgeschichtlicher Konzeptionen. In: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975) S. 43–50, Zitat S. 45. 11 Vgl. meinen Überblick: Alltagsgeschichte, Regionalgeschichte, Gesellschaftsgeschichte. Zu einigen Neuerscheinungen. In: Das Argument 27 (1985) Nr. 151, S. 405–418, so daß ich hier auf die Aufzählung zahlreicher Titel verzichten kann. Auch: Peter Steinbach, Alltagsleben und Landesgeschichte. Zur Kritik an einem neuen Forschungsinteresse. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 29 (1979) S. 225–305; Ders., Neue Wege der regionalhistorisch orientierten Alltagsgeschichte. In: ebd. 30 (1980) S. 312–336; Volker Ullrich, Alltagsgeschichte. Über einen neuen Geschichtstrend in der Bundesrepublik. In: Neue Politische Literatur 29 (1984) S. 50–71; Detlev Peukert, Arbeiteralltag (s. Anm.5). 12 Lutz Niethammer, Franz J. Brüggemeier, Wie wohnten Arbeiter im Kaiserreich? In: Archiv für Sozialgeschichte 16 (1976) S. 61–134; Franz J. Brüggemeier, Lutz Niethammer, Schlafgänger, Schnapskasinos und schwerindustrielle Kolonie. Aspekte der Arbeiterwohnungsfrage im Ruhrgebiet vor dem Ersten Weltkrieg. In: Fabrik, Familie, Feierabend. Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter. Hrsg. von Jürgen Reulecke und Wolf-

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Ein zweiter Vorteil wird darin gesehen, daß die ja nur innerhalb kleiner Räume durchführbare Untersuchung von Lebenswelten überhaupt erst Denk-­ und Verhaltensweisen der »kleinen Leute« ans Tageslicht bringen kann, die lediglich sehr sporadisch ihren Niederschlag in schriftlichen Quellen gefunden haben. Hier kann man die wenigen Hinweise aus den Archiven in einen Zusammenhang bringen, kann sie kombinieren mit anderen Quellen (Bodenfunden, Baugeschichte, Trachten, Sitten und Gebräuchen, die irgendwie überliefert sind), so daß doch ein deutlicheres Bild entsteht. Dadurch sind in letzter Zeit viele Erkenntnisse über Bauern- und Arbeiterkulturen, überhaupt über Volkskultur möglich gewesen. Natürlich erfordert dies einen erweiterten Kulturbegriff, der auch Formen der Kommunikation, der Körpersprache, der Rituale und Symbole, der Festgestaltung, des Essens und Trinkens als Kultur versteht.13 Bahnbrechend wirkten hier die Forschungen E. P. Thompsons über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse und über »plebeische Kultur« im 18. Jahrhundert. Er konnte zeigen, daß Denken und Verhalten von Dorfbewohnern wie städtischen Handwerkern von Vorstellungen einer »sittlichen Ökonomie« (moral economy) bestimmt waren: Man richtete sich danach, was traditionell hard Weber. Wuppertal 1978, S. 135–175; Dieter Langewiesche, Politische Orientierung und soziales Verhalten. Familienleben und Wohnverhältnisse von Arbeitern im »roten« Wien der Ersten Republik. In: Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Gesellschaft. Hrsg. von Lutz Niethammer. Wuppertal 1979, S. 171–187. 13 Z. B. Kultur und Lebensweise des Proletariats. Kulturhistorisch-volkskundliche Studien und Materialien. Hrsg. von Wolfgang Jacobeit und Ute Mohrmann. 2. Aufl. Berlin 1974; Arbeiterkultur. Hrsg. von Gerhard Albert Ritter. Meisenheim 1979; Dieter Langewiesche, Zur Freizeit des Arbeiters. Bildungsbestrebungen und Freizeitgestaltung österreichischer Arbeiter im Kaiserreich und in der Ersten Republik. Stuttgart 1979; verschiedene Beiträge in den in Anm. 12 und 5 genannten Sammelbänden sowie in: Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland. Hrsg. von Gerhard Huck. Wuppertal 1980; Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution. München 1981; Klaus Tenfelde, Anmerkungen zur Arbeiterkultur. In: Erinnerungsarbeit. Geschichte und demokratische Identität in Deutschland. Hrsg. von Wolfgang Ruppert. Opladen 1982, S. 107–134; Robert M. Berdahl u. a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung. Frankfurt/M. 1982; Franz Josef Brüggemeier, Leben vor Ort. Ruhrbergleute und Ruhrbergbau 1889–1910. München 1983; Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. Hrsg. von Richard van Dülmen. München 1983; Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert). Hrsg. von Richard van Dülmen und Norbert Schindler. Frankfurt/M. 1984; Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik. Frankfurt /M. 1984; vgl. auch einige Aufsätze in: Zentrale Städte und ihr Umland. Wechselwirkungen während der Industrialisierungsperiode in Mitteleuropa. Hrsg. von Monika Glettler, Heiko Haumann und Gottfried Schramm. St. Katharinen 1985.

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als gerecht, ehrbar, richtig galt – auch bei Preisen für die Produkte oder bei der Herstellung von Gütern. Deshalb gab es Widerstand gegen »ungerechte« Preise oder eine schlechtere Qualität der Ware. Nicht die Profitorientierung stand im Vordergrund, sondern man wollte nur so viel erwirtschaften, wie man zum Leben benötigte.14 Hier lag ein entscheidender Ausgangspunkt für Bauernunruhen, Handwerkerstreiks und »Brotcrawalle«.15 Wer diese Vorstellungen innerhalb der Gemeinschaft verletzte – auch im familiären Leben und Sexualverhalten –, mußte mit ritualisierter Strafe rechnen (Rüge-Bräuche, Charivari, Bengelreiten).16 Zahlreiche hochinteressante Arbeiten haben diesen Ansatz bestätigt und ergänzt. Aus beiden Varianten – der Verbindung mehrerer Ebenen und der Volkskultur, wie ich sie abgekürzt nennen will – erwächst eigentlich schon ganz folgerichtig eine weitere, in verschiedenen Schattierungen vertretene Auffassung. Sie will in der Region – ausgehend vom Alltag, von der Lebenswelt – die »Gesamtheit von Elementen und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen« in diesem Raum,17 ja manche sagen sogar: die »Totalität«, erfassen.18 Gerade dies 14 Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class. Harmondsworth 1968; Ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980. 15 Außer Thompson etwa Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit. Hrsg. von Winfried Schulze. Frankfurt/M. 1982; Andreas Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981; Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Hrsg. von Ulrich Engelhardt. Stuttgart 1984; Wahrnehmungsformen und Protestverhalten. Studien zur Lage der Unterschichten im 18. und im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Detlev Puls. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981; Rainer Wirtz, »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale«. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden 1815–1848. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981. 16 Edward P. Thompson, »Rough Music« oder englische Katzenmusik. In: Ders., Plebeische Kultur (s. Anm. 14), S. 131–168; Le charivari. Actes de Ia table ronde . . . Hrsg. von Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt. Paris, La Haye, New York 1981; Martin Scharfe, Rügebräuche. Dörfliche Fasnacht zwischen Neckar und Bodensee. Beiträge des Tübinger Arbeitskreises für Fasnachtsforschung. Tübingen 1966, S. 196–266. 17 Hartmut Zwahr, Konstituierung (s. Anm. 13), S. 319, vgl. S. 17 (bezogen auf die Strukturanalyse der Arbeiterklasse). Vgl. auch Karl Marx, Gesellschaft ist die »Summe der Beziehungen, Verhältnisse (...), worin die Individuen zueinander stehen« (aus: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 176), in denen sie sich aktiv verhalten (so in: Marx, Engels, Werke Bd. 19, S. 362–363); sie ist somit »das Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen« (ebd. Bd. 4, S. 548). 18 Provinzialisierung einer Region. Regionale Unterentwicklung und liberale Politik in der Stadt und im Kreis Konstanz im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in der Provinz. Hrsg. von Gert Zang. Frankfurt/M. 1978,

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wird von vielen Historikern als vermessen eingeschätzt, weil man nie »alles« erkennen könne. Das stimmt natürlich, und kein ernstzunehmender Regional- oder Alltagshistoriker wird behaupten, man könne tatsächlich die Totalität der historischen Wirklichkeit darstellen. Daß man überhaupt davon spricht, soll die Zielrichtung angeben, aber doch auch den Anspruch deutlich machen, nicht nur einen Teilaspekt erforschen zu wollen, sondern den Menschen als das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«19 sowie seine »Lebensweise«, verstanden als Gesamtheit von Arbeit, Nicht-Arbeit, Freizeit, Kultur und Strukturen, die auf diese Bereiche einwirken.20 Insofern wird auch der Alltagsbegriff in einem sehr weiten Sinne verwendet.21 Die Sozialhistoriker um Wehler und Kocka lassen im Rahmen der von ihnen geforderten Gesellschaftsgeschichte die Alltagsgeschichte als einen Aspekt neben vielen – neben Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Demographie, Geistesgeschichte, politischer Geschichte, Verfassungsgeschichte usw. – gerade eben noch zu.22 Dagegen erheben einige Vertreter der neuen Regionalgeschichte den Anspruch, diese Gesellschaftsgeschichte insgesamt, nicht aufgespalten in Einzelaspekte, innerhalb des überschaubaren Raumes erforschen und darstellen zu können. Ob dies einlösbar ist, wird die Zukunft zeigen. Bisher liegen erst wenige Ergebnisse vor.23 An sich finde ich den Gedanken schlüssig, daß auf höherer Ebene – des ganzen Landes oder des Staates – die historische Komple-

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S.  490  ff. (Zang); Arbeitsalltag und Betriebsleben. Zur Geschichte industrieller Arbeits-­ und Lebensverhältnisse in der Schweiz. Hrsg. vom Schweizerischen Sozialarchiv zum Jubiläum seines 75jährigen Bestehens. Dießenhofen 1981, S. 11 (»Histoire totale«, zu diesem Begriff auch Dann, Region [s. Anm. 6], S. 653). Vgl. Marx, Grundrisse (s. Anm. 17), S. 187, 189; Marx, Engels, Werke Bd. 3, S. 37–38; Bd. 13, S. 631–633. Karl Marx in der 6. These über Feuerbach (Marx, Engels: Werke Bd. 3, S. 6). Alf Lüdtke, Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 11. Frankfurt/M. 1978, S. 311–350. Zur Problematisierung nenne ich hier nur: Agnes Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Hrsg. von Hans Joas. Frankfurt/M. 1978; Norbert Elias, Zum Begriff des Alltags. In: Materialien zur Soziologie des Alltags. Hrsg. von Kurt Hammerich und Michael Klein. Opladen 1978, S. 22–29. Wehler, in: Die Zeit, Nr. 19/3.5.1985, S. 64 (s. Anm. 4); Kocka, Klassen (s. Anm. 2), S. 956. Darüber hinaus geht Peter Steinbach, Neue Wege (s. Anm. 11), S. 336. Vgl. etwa Wolfgang Kaschuba, Carola Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1982; ansatzweise: Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg. Hrsg. vom Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg. Freiburg 1986; außerdem die in Anmerkung 18 und 24 zitierten Arbeiten des Konstanzer Arbeitskreises für Regionalgeschichte sowie Bernhard Zillings noch unveröffentlichte Freiburger Dissertation über Haisterbach (1986). Weitere Hinweise in meinem in Anm. 11 genannten Artikel.

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xität jedenfalls bei unserem derzeitigen Kenntnisstand nicht zusammenfassend wiedergegeben werden kann, während die Beschränkung auf die Region diese Möglichkeit eher bietet und dabei zugleich auch der Eigenart des Gebietes besser gerecht wird, die bei gesamtstaatlicher Betrachtung leicht verlorengeht. Hier kommt man auch leichter weg von einer einseitigen Untersuchung von Arbeitern oder Bauern oder Unternehmern, hier können die verschiedensten Wirklichkeitsbereiche, aber auch wissenschaftlichen Methoden zu ihrer Erforschung integriert werden. Von einigen Historikern, insbesondere des Konstanzer Arbeitskreises für Regionalgeschichte, der sich für die Entwicklung der neueren Regional- und Alltagsgeschichte besondere Verdienste erworben hat, wird nun zusätzlich versucht, eine Beziehung von diesem umfassenden thematischen Anspruch zu dem eingangs erwähnten Regionsbegriff herzustellen, der von den dort Lebenden ganz unmittelbar ausgehen will.24 Gert Zang hat jüngst dazu einen theoretischen Entwurf vorgelegt.25 Da man es mit vielen Individuen und damit vielen verschiedenen Sichtweisen zu tun habe, könne man nicht von einer Wirklichkeit, von einem Geschichtsbild sprechen, die es zu erforschen gelte. Man müsse ernst nehmen, daß sich der historische Prozeß sehr ungleichzeitig vollzogen habe, nicht nur zwischen verschiedenen Regionen, sondern auch innerhalb einer Region. Von Dorf zu Dorf, von Individuum zu Individuum gebe es unterschiedliche Mikrowelten. Dieses Eigengewicht der Mikrowelten dürfe man nicht dadurch zerstören – in Forschung und Darstellung –, daß man sie mit Gewalt zusammenfasse zu einer Vereinheitlichung, sondern man müsse endlich damit beginnen, vom einzelnen Menschen auszugehen. Der einzelne Mensch stelle den »entscheidenden Schnittpunkt« dar: Er werde von den Strukturen »gemacht« und »mache« zugleich die Strukturen. Damit wird eine auf solche Art verstandene Regionalgeschichte zu einem »Kernstück« neuer »struktureller Geschichtsschreibung. Nur mit ihrer Hilfe kann ich erfahren, wie sich die ›Strukturen‹ bewegen. Erst wenn ich die Teile bis hin zu den einzelnen Menschen sehr genau und in Bewegung studiere, finde ich den Zugang zu den inneren Gesetzlichkeiten und zur Genese historischer Strukturen (...)«. Die historische Person werde so zum Subjekt, während sie in der bisherigen Historie in 24 Vgl. Provinzialisierung einer Region (s. Anm. 18); Seegründe. Beiträge zur Geschichte des Bodenseeraumes. Hrsg. von Dieter Schott und Werner Trapp. Weingarten 1984. Heranzuziehen sind weiterhin die Veröffentlichungen des Projekts »Regionale Sozialgeschichte« und die Schriftenreihe des Arbeitskreises für Regionalgeschichte e.V. (Information und Bezug: Marktstätte 22, 7750 Konstanz). 25 Gert Zang, Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen und praktischen Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte. Konstanz 1985, die folgenden Zitate in ihrer Reihenfolge: S. 62, 64–65, 56 (ff.), 19 (u. ö.), 107.

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der Regel Objekt der Erforschung gewesen sei. Der Historiker solle methodisch bei »strukturellen Biographien« ansetzen, um einmal die Achtung vor der Person mit der Analyse der Strukturen zu verbinden, zum anderen aber auch die »Herkunftsgeschichte« der heute Lebenden zu schreiben, möglichst in enger kommunikativer Zusammenarbeit, auch unter Einschluß der »mündlichen Geschichte«. Diese »kritische Dienstleistung« des Historikers trage dazu bei, daß den Menschen ihre historische Identität bewußt werde, daß sie sich ihrer eigenen Geschichte sicher seien, gefestigt und selbstbewußt würden. Bewußtsein von der Geschichte der Region und ihrer Menschen, die als Teil der eigenen Geschichte empfunden werde, trage zum Selbstbewußtsein und auch zu einem neuen Heimat-Verständnis bei: Heimat werde dann nicht zur Flucht in die Idylle, ohne ihre Bedrohung zu erkennen, sondern zum Ort für zukunftsorientiertes, aktives Handeln. Das Bewußtwerden der eigenen Geschichte ist nach diesem Verständnis folglich eine wesentliche Voraussetzung bewußten, auch politischen Handelns in der Gegenwart.26 Zang zeigt einerseits sehr plastisch, welche unmittelbaren Wirkungsmöglichkeiten die Regionalgeschichte eröffnet, andererseits aber auch besonders deutlich, welche Probleme auftauchen. 1. Die Regionalgeschichte bietet zunächst einmal neue und umfangreiche Materialien. Sie stellen jedoch teilweise neuartige quellenkritische Probleme: So haben etwa die »kleinen Leute« selbst wenig geschrieben, in den Polizeiberichten oder ähnlichen Behördenakten finden wir aber eine Sichtweise, die dem Denken und Handeln der Betroffenen nicht unbedingt gerecht wird. Hier muß also ebenso indirekt erschlossen werden wie bei der Benutzung anderer Überlieferungen wie Baugeschichte, Volkslieder usw. Darüber hinaus gibt es ein ganz banales Quellenproblem. Da sich die Regionalgeschichte nicht unbedingt an die politisch-territoriale Einheit hält, treffen die Gliederungsprinzipien der Archive nicht mehr zu, und man muß häufig alles viel mühsamer suchen. 2. Es ist vom einzelnen Menschen auszugehen, jedem soll man gerecht werden. Aber: bei welchem kann und soll man anfangen? Ganz pragmatisch bei dem, der sich uns quellenmäßig am besten erschließt? Es wird mir bei meiner 26 Dieser Ansatz steht in engem Bezug zu Auffassungen in der Geschichtsdidaktik, vgl. z. B. Klaus Bergmann, Hans-Jürgen Pandel, Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein. Frankfurt/M. 1975 (und weitere Schriften dieser Autoren); verschiedene Beiträge in: Didaktik der Geschichte. Aus der Arbeit der Pädagogischen Hochschulen Baden-Württembergs. Hrsg. von Uwe Uffelmann unter Mitarbeit von Andreas Cser. Villingen-Schwenningen 1986; Heiko Haumann, Geschichte und politische Praxis. Demokratische Traditionen im Geschichtsunterricht. In: Vom Hotzenwald bis Wyhl. Demokratische Traditionen in Baden. Hrsg. von Heiko Haumann. Köln 1977, S. 25–38.

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Arbeit oft nichts anderes übrig bleiben, aber dann bin ich weder sicher, daß dieser Einzelne einigermaßen repräsentativ ist, noch nähere ich mich dem Ziel, die »Gesamtheit der Beziehungen« in den Blick zu bekommen. Oder soll ich mich an den heutigen Interessen der Regio-Bewohner orientieren und danach die Themen für eine Beschäftigung mit der Vergangenheit auswählen? Dies ist gewiß sehr interessant und führt zu wichtigen Fragestellungen, aber bringt mich natürlich auch nur einem Teil der Wirklichkeit näher. Noch am ehesten sind die Probleme vielleicht bei der »mündlichen Geschichte« (oral history) lösbar, die sich über das individuelle dem »kollektiven Gedächtnis« zu nähern sucht. Der Zeitzeuge ist dabei nicht einfach Befragungsobjekt des Forschers, sondern beide stehen in einem kommunikativen Prozeß.27 Auf diese Weise können Gegenwart und Vergangenheit unmittelbar in Beziehung gesetzt werden. Es geht nicht nur um Details, die den Historiker interessieren, um Lücken in seiner Arbeit zu schließen. Durch die Konzentration auf die Lebensgeschichte – und sei es nur für einen bestimmten Zeitabschnitt  – kommen oft Aspekte zur Sprache, die dem Fragenden den Blick für neue Einsichten und Zusammenhänge öffnen. Aber auch dem Befragten können sich im Laufe des Gesprächs Zugänge zu seiner Vergangenheit erschließen, die sein Geschichtsbild verändern. Aus der Spannung zwischen den Vorstellungen der Gesprächspartner kann ein neues Verständnis der historischen Entwicklung erwachsen. Die »mündliche Geschichte« läßt auch Menschen zu Wort kommen, die sich nur selten schriftlich äußern und deren Leben sich kaum oder höchstens indirekt in den herkömmlichen Quellen niedergeschlagen hat. Sie vermittelt nicht nur subjektive Erfahrungen, Sichtweisen, Urteile und Bewußtseinsformen sowie sonst vernachlässigte Wirklichkeitsbereiche, sondern nimmt auch den Menschen als Subjekt der Geschichte ernst, beläßt es nicht dabei, durch ihn eine bestimmte Theorie oder Hypothese des Historikers verifizieren oder falsifizieren zu lassen.28 Unser Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein wan27 Detlev Peukert, Arbeiteralltag (s. Anm. 5), S. 24–26; vgl. Lutz Niethammer, Anmerkungen zur Alltagsgeschichte. In: Geschichtsdidaktik 5 (1980) S. 231–242 (insbesondere zum Ansatz einer kommunikativen Geschichtswissenschaft). 28 Dieser methodische Ausgangspunkt der oral history – wie überhaupt der Alltagsgeschichte im Sinne einer kommunikativen Geschichtswissenschaft – kann damit auch zu der Diskussion beitragen, inwieweit der Historiker Theorien und Modelle bei seinen Forschungen anwendet und überprüft oder »von innen« her, von den Menschen und ihren Lebenswelten, von den Verhältnissen her, vorgeht. Um dabei nicht an der Oberfläche stehenzubleiben oder sich im Detail zu verlieren, muß er selbstverständlich bisherige Theorien und Interpretationen wie sein eigenes Erkenntnisinteresse und Vorverständnis ständig mitreflektieren. Vgl. hier nur Hans-Ulrich Wehler, Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft. ln: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka und

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deln sich dadurch, weil die Rolle des Einzelnen wie die der Strukturen in ihrer wechselseitigen Beeinflussung bei der Gestaltung der Geschichte – und damit auch von Gegenwart und Zukunft – deutlicher als bisher hervortreten. Dies bedeutet nicht, daß der Historiker die Äußerungen des Zeitzeugen unkritisch als die Wirklichkeit übernehmen sollte. Selbstverständlich hat er sie wie jede andere Quelle zu prüfen, mit anderen Sichtweisen zu konfrontieren, möglichst auch mit anderen Quellenarten, um eine isolierte Betrachtung zu verhindern. Die methodischen Probleme unterscheiden sich dabei nicht grundsätzlich von der sonst üblichen Quellenkritik. Besonders zu achten ist natürlich auf die Art der Wahrnehmung des Zeitzeugen (aber auch selbstkritisch: der eigenen!) und auf Faktoren, die auf den Gesprächsverlauf eingewirkt haben könnten. Bei der Auswertung, Interpretation und Veröffentlichung trägt der Historiker ein hohes Maß an Verantwortung, weil in der Regel nicht sämtliche Gesprächsprotokolle mit herausgegeben werden können, meist noch nicht zugänglich archiviert sind und sich somit der Nachprüfung durch den Leser entziehen.29 Für frühere Zeiten stehen uns jedoch keine solchen Gesprächspartner zur Verfügung, mit denen wir uns unterhalten können. Versuche müssen zeigen,

Thomas Nipperdey. München 1979, S. 17–39; Jürgen Kocka, Theorien in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte. Vorschläge zur historischen Schichtungsanalyse. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975) S. 9–42; Ders., Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme. Göttingen 1977, S. 9–40, 82–107. 29 Gert Zang u. a., Mündliche Geschichte – ein neues Instrument zur Annäherung an die historische Wirklichkeit? Lebensgeschichten aus der Bodenseeregion. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 103 (1985) S. 165–209; Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »Oral History«. Hrsg. von Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Werner Trapp. Frankfurt/M. 1980; Werner Fuchs, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984; Albrecht Lehmann, Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M., New York 1983; Geschichte von unten. Fragestellungen, Methoden und Projekte einer Geschichte des Alltags. Hrsg. von Hubert Ch. Ehalt. Wien, Köln, Graz 1984; Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte »geschichtsloser« Sozialgruppen. Hrsg. von Gerhard Botz und Josef Weidenholzer. Wien, Köln, Graz 1984; Paul Thompson, The Voice of the Past. Oral History. Oxford, London, New York 1978. Als Vorgehensweise hat sich nach meiner Erfahrung bewährt, zwar einen Frageraster zu Themen vorzubereiten, die man ansprechen will (Beispiele für solche Leitfäden etwa bei Zang u.a., Mündliche Geschichte [s.  o], S. 198–199; Thompson: Voice [s. o.], S. 243–252), dann aber ein »offenes« Gespräch zu führen. In der Regel wird, nachdem man die Tonbandaufzeichnung oder die Notizen ausgewertet hat, ein zweites Gespräch notwendig, um gezielt nachzufragen, u. U. auch über einzelne Sachverhalte und Einschätzungen diskutieren zu können. Die Erinnerung sollte so wenig wie möglich eingeengt werden.

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wie man hier praktisch sinnvoll weiterkommen kann.30 Denkbar sind fiktive Gespräche mit Personen der Vergangenheit auf der Grundlage vorliegenden schriftlichen Materials, eine Einbettung biographischer Angaben in die regionalen Strukturen, um jenen die Beliebigkeit zu nehmen, oder die hypothetische Schließung von Lücken in persönlichen Zeugnissen. Weiterführen dürfte aber auch eine sozialgeschichtliche Analyse mit dem Versuch, die Perspektive der Handelnden und Betroffenen mitzubedenken, selbst wenn kein Bezug zu einzelnen Personen hergestellt werden kann. 3. Mit welchen Methoden, Begriffen, Kategorien untersuche ich die Lebenswelten der Menschen in der Geschichte? Wenn es stimmt, daß die Systeme und die Rationalisierung die traditionalen Lebenswelten seit dem 18. Jahrhundert überdecken, so stellt sich für die frühere Zeit, aber auch für den Übergang bis wohl ins 20. Jahrhundert hinein die Frage, wie ich diese traditionalen Lebenswelten adäquat darstellen soll, wo doch meine Begriffe eben diesem Rationalisierungsprozeß entnommen sind.31 Das erfordert, glaube ich, vom Historiker eine große Anstrengung. 4. Nehmen wir an, daß es in günstigen Fällen wirklich gelingt, mit dem neuen Ansatz eine umfassende Geschichte eines Ortes, eines Stadtviertels, eines Betriebes, eines Dorfes zu schreiben, so bringt das für die dortigen Bewohner gewiß sehr viel, sagt aber noch wenig für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung aus, die wir ja auch verstehen wollen und nicht vernachlässigen dürfen. Natürlich wird in der Regionalgeschichte schon viel von der allgemeinen Geschichte deutlich, sie spiegelt sich hier wider – dadurch wird die Aneignung auch der »großen Geschichte« als Teil meiner eigenen Geschichte erleichtert –, aber wenn ich herausbringe, daß sich der Bauer X aufgrund konkreter Bedingung im Dorf U so und so verhält, so erklärt das noch gar nicht das Verhalten anderer Bauern zur gleichen Zeit in einer ganzen Region oder läßt sich schon gar nicht ohne weiteres verallgemeinern. Wie es so schön heißt: wie kann ich 30 Als Beispiele: Emmanuel Leroy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor. 1294– 1324. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980; Ders., Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579–1580. Stuttgart 1982; Arno Borst, Ein Totengespräch. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1982, S. 71–78; Arthur E. Imhof, Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun ... München 1984; einige Beiträge in: »Eigentlich habe ich nichts gesehen ...«. Beiträge zu Geschichte und Alltag in Südbaden im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Heiko Haumann und Thomas Schnabel. Freiburg 1987; Heiko Haumann, Arbeiter und technischer Fortschritt in der Anfangsphase der Industrialisierung. Ein regionaler Vergleich. In: Neue Technologien – neue Gesellschaft? Hrsg. von Josef Fuckerieder u. a. Freiburg 1988, S. 54–72. 31 Vgl. Detlev Peukert, Arbeiteralltag (s. Anm. 5), S. 26 ff.

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zwischen Mikro- und Makro-Geschichte vermitteln?32 Es fehlen viel zu viele Zwischenglieder. Radikale Alltags- und Regionalhistoriker fordern deshalb vorerst auch eine Beschränkung auf gute Lokalstudien. Das halte ich nicht für richtig. Wir brauchen beides, Regional- wie Allgemeingeschichte, um uns in der Gegenwart orientieren zu können. Und wir können auch nicht warten, bis alle Orte, Regionen, Betriebe, Dörfer usw. erforscht sind. Was also ist zu tun? Die lebensweltlich orientierte Regionalgeschichte eröffnet so wichtige neue Zugänge, daß wir auf sie nicht verzichten können. Ich meine, man sollte den Mut haben, unter Berücksichtigung und Reflexion der theoretischen und methodischen Probleme zu versuchen, so weit wie möglich dem Anspruch gerecht zu werden. Dazu gehört auch der Mut, Teilergebnisse zu veröffentlichen, weil sie den Diskussionsprozeß vorantreiben. Beginnen kann man mit einer »dichten Beschreibung»33 eines Untersuchungsfeldes aus der Sicht der damals Leidenden und Handelnden, verbunden mit einer sozialgeschichtlichen Analyse. Man kann von einer Person ausgehen, sie sehr früh in ihren Interaktionen mit anderen Personen untersuchen und insofern aus dem Problem, bei welchen Personen anzufangen sei, bald herauskommen, und sie in die Strukturen der Region einbetten. So schnell wie möglich muß jedoch der Vergleich einsetzen, um zumindest Thesen wagen zu können, was in der jeweiligen Region besonders und was für übergreifende Prozesse verallgemeinbar ist.34 Dann besteht eine wirkliche Chance, die Geschichte der Menschen in den Strukturen zu erkennen und die geschichtliche Entwicklung so zu begreifen, daß sie den heutigen Menschen nicht fremd und äußerlich bleibt, sondern gegenwärtig wird.

32 Alf Lüdtke, Rekonstruktion von Alltagswirklichkeit – Entpolitisierung der Sozialgeschichte? In: Berdahl u. a., Klassen und Kultur (s. Anm. 13), S. 321–353. Vgl. auch die Diskussion zwischen Lüdtke und Peukert in: Das Argument 25 (1983) Nr. 140, S. 536– 549. 33 Z. B. Alf Lüdtke, Erfahrung von Industriearbeitern – Thesen zu einer vernachlässigten Dimension der Arbeitergeschichte. In: Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Hrsg. von Werner Conze und Ulrich Engelhardt. Stuttgart 1979, S. 494–512, hier S. 499 (nach G. Ryle und Clifford Geertz). 34 Peter Steinbach, Diskussion (s. Anm. 6), S. 208; vgl. meinen Problemaufriß: Stadt und Land. Bemerkungen zu einem Projekt vergleichender Regionalgeschichte. In: Arbeiteralltag (s. Anm. 5), S. 147–156.

Chancen und Probleme der Alltags- und Regionalgeschichte Das Beispiel der Grenzregion Oberrhein* Grenzen

Vor einiger Zeit las ich in einem Basler Tram eine Werbung des Verkehrsverbundes »Triregio« für den öffentlichen Nahverkehr in Lörrach, in der Nordwestschweiz und in elsässischen Gemeinden: »Setzen Sie sich. Über Grenzen hinweg.« Mit diesem Spruch sind im Grunde wichtige Elemente genannt, über die es sich lohnt nachzudenken: der Grenz-Begriff, die politisch-staatlichen Grenzen, die Möglichkeit und Notwendigkeit, diese Grenzen zu überschreiten, die Auswirkungen im Alltag, die Aussicht, überregional sesshaft werden zu können. »Grenzen« zu thematisieren, ist Mode geworden: die 2. Schweizerischen Geschichtstage von 2010 hatten das Rahmenthema »Grenzen«, beim Deutschen Historikertag ging es im selben Jahr »Über Grenzen«, und jetzt hat der Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg für seine Tagung zum 25jährigen Jubiläum seines Bestehens und den darauf beruhenden Sammelband das Thema gewählt: »Region und Grenze: Die Bedeutung der Grenzlage für die Geschichte Südbadens im 20. Jahrhundert«. Die Fachliteratur zu diesem Thema und damit zusammenhängenden Fragen ist kaum noch zu überblicken. »Grenze« ist ein schillernder, vielschichtiger Begriff. Er hat etwas mit Herrschaft zu tun, differenziert, strukturiert und ordnet. Damit will ich mich nicht im Einzelnen befassen.1 Ebenso wenig gehe ich auf die Herkunft des Begriffs ein, obwohl es mich als Osteuropa-Historiker reizt, eines der wenigen slawischen Lehnwörter im Deutschen – nämlich »Grenze« von »granica« – zu behandeln.2 Ich möchte lediglich stichwortartig darauf hinweisen, dass sich ein räumliches Verständnis auf natürliche, geografisch bestimmte Grenzen und ebenso auf die linearen politischen Staats- oder Ländergrenzen wie auf ein größeres * Bislang unpubliziert. Erscheint voraussichtlich 2013 in einem vom Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg hg. Sammelband: Region und Grenze. Auf diesen Band beziehen sich auch entsprechende Bemerkungen im Text oder in den Fußnoten. 1 Vgl. insbesondere den Beitrag von Jörg Stadelbauer in diesem Band, aber auch die übrigen Aufsätze. Ebenso: Grenzüberschreitungen. Der alemannische Raum – Einheit trotz der Grenzen? Hg. Wolfgang Homburger, Wolfgang Kramer, R. Johanna Regnath und Jörg Stadelbauer. Ostfildern 2012; André Salvisberg u. a.: Historischer Atlas der Region Basel. Geschichte der Grenzen. Hg. Christoph Merian Stiftung. Basel 2010. 2 Vgl. Stefan Böckler: Grenze: Allerweltswort oder Grundbegriff der Moderne? In: Archiv für Begriffsgeschichte 45 (2003), S.167–220, hier S. 168–179.

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Grenzgebiet beziehen kann, in dem ein Austausch stattfindet, oder auf das Niemandsland zwischen den Grenzen. Zwischen manchen Staaten besteht ein »kleiner Grenzverkehr« auf einem Streifen von zehn bis fünfzehn Kilometern beiderseits der Grenze, in dem geringere oder gar keine Zölle erhoben werden. Weiterhin können kulturelle und soziale Grenzen gemeint sein, die Menschen voneinander unterscheiden. Und schließlich wird der Begriff im übertragenen Sinn gebraucht, um Grenzen der Toleranz, der Integration, des Wachstums, des Verstandes, der Erkenntnis, des Sagbaren oder Ähnliches zu bezeichnen. Man kann Personen oder Sachen Grenzen setzen. Die Begeisterung über ein Konzert mag sich in Grenzen halten, kann hingegen auch grenzenlos sein. Oft sind die Grenzen fließend. Auch kann man Grenzen bewusst markieren, um das – angebliche oder tatsächlich – Eigene zu bestimmen.3 Ebenso vielschichtig wie der Begriff selbst sind seine Symbole, gewiss in unterschiedlicher Weise: der Grenzstein oder der Schlagbaum, die Kleidung, die Sprache, die Bräuche, die Tabus, der Habitus – die Gesamtheit des Denkens und Verhaltens, des Lebensstiles, eines Menschen oder einer Gruppe –,4 um nur einige zu nennen. Jedenfalls ist deutlich: Zur Grenze gehört deren Überschreitung, zur Begrenzung die Entgrenzung, zur Differenz, die durch eine Grenze gekennzeichnet wird, die Vermischung, zur Absonderung der Austausch, zur Separation der kulturelle – oder besser: interkulturelle – Transfer, zur Isolierung die Verflechtung, zur Exklusion die Inklusion – und umgekehrt. Grenzen können sich 3 Ein Beispiel ist die Tracht, die kultiviert wird, um einem scheinbar seit Jahrhunderten bestehenden »Volkscharakter« Ausdruck zu verleihen. Dies kann zugleich eine Kommerzialisierung beinhalten, etwa der Werbung dienen – man denke an den »Bollenhut« – oder Fördermittel einbringen. Auf der anderen Seite kann die Kultivierung auch dazu führen, dass ihre Trägerinnen und Träger sie wirklich als ihr Eigenes empfinden. Vgl. Ulrike Höflein: Vom Umgang mit ländlicher Tracht. Aspekte bürgerlich motivierter Trachtenbegeisterung in Baden vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. usw. 1988; Heinz Schmitt: Volkstracht in Baden. Ihre Rolle in Kunst, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seit zwei Jahrhunderten. Karlsruhe 1988; Christine Burckhardt-Seebass: Tracht im Spiegel. Schweizerische Materialien zur Geschichte einer Idee. Unveröffentl. Habil.-Schrift. Universität Basel 1987. 4 Pierre Bourdieu hat den Habitus als Unterscheidungsmerkmal immer wieder thematisiert, z. B.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1976, vor allem der 2. Teil; ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987, bes. S. 174–177, 187–189, 277–286, 686–687, 727–729. Zum Lebensstil-Konzept in der Geschichtswissenschaft vgl. Martin Dinges: »Historische Anthropologie« und »Gesellschaftsgeschichte«. Mit dem Lebensstilkonzept zu einer »Alltagskulturgeschichte« der frühen Neuzeit? In: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), 179–214. Vgl. auch Irene Dölling: Habitus. In: HistorischKritisches Wörterbuch des Marxismus. Hg. Wolfgang Fritz Haug. Bd. 5. Hamburg 2001, Sp. 1105–1114.

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verschieben, sichtbare verschwinden, unsichtbare umso stärker werden.5 All das ist nicht denkbar ohne den zentralen Bezugspunkt: den Menschen. Räume, und damit auch Grenzen, existieren nicht einfach so, sondern relational:6 Menschen konstruieren sie, sie handeln in ihnen und überschreiten sie. Wir alle kennen den Begriff des Grenzgängers: im ökonomisch-bürokratisch-fiskalischen Sinn als Pendler mit einem besonderen Steuersatz, im politisch-sozialen Sinn als Schmuggler und Fluchthelfer oder im kulturwissenschaftlichen Sinn als jemand, der sich zwischen verschiedenen Welten bewegt und dabei nach einer neuen Identität sucht oder diese schon entwickelt hat. Lebenswelten

Dieser Zugang, eine vom einzelnen Menschen ausgehende, lebensweltlich orientierte Regionalgeschichte, hat den Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg 5 Als Beispiele aus einer Vielzahl: Böckler: Grenze; Rolf Parr: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Schriftkultur und Schwellenkunde. Hg. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein. Bielefeld 2008; S. 11–63; verschiedene Arbeiten in: Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Hg. Helga Mitterbauer und Katharina Scherke. Wien 2005; Reinhold Görling: Emplacements. In: Kulturelle Topografien. Hg. Vittoria Borsò und Reinhold Görling. Stuttgart, Weimar 2004, S. 43–65; Biographie und Interkulturalität. Diskurs und Lebenspraxis. Hg. Rita Franceschini. Tübingen 2001; Susan Stanford Friedman: Das Sprechen über Grenzen, Hybridität und Performativität. Kulturtheorie und Identität in den Zwischenräumen der Differenz. In: Mittelweg 36/5 (2003), S. 34–52; Thomas Faist: Grenzen überschreiten – zum Konzept Transnationaler Sozialer Räume. In: Migration und soziale Arbeit 26/2 (2004), S. 83–96; Johannes Paulmann: Grenzüberschreitungen und Grenzräume. Überlegungen zur Geschichte transnationaler Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeitgeschichte. In: Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin. Hg. Eckart Conze u. a. Köln usw. 2004, S. 169–196; Markus Schroer: Grenzverschiebungen. Zur Neukonfiguration sozialer Räume im Globalisierungsprozess. In: Welt.Raum.Körper. Transformationen und Entgrenzungen von Körper und Raum. Hg. von Carsten Würmann u. a. Bielefeld 2007, S. 15–36; Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Hg. Wolfgang Schmale und Martina Steer. Frankfurt a. M., New York 2006; Kulturelle Grenzräume im jüdischen Kontext. Hg. Klaus Hödl. Innsbruck usw. 2008; Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten. Hg. Gertraud Marinelli-König und Alexander Preisinger. Bielefeld 2011. Für wichtige Hinweise danke ich Julia Richers. 6 Zum relationalen Raumbegriff etwa Martina Löw: Raumsoziologie. Frankfurt a. M. 2001; Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a. M. 2006. Vgl. auch: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. Jörg Dünne u. a. Frankfurt a. M. 2006.

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schon bei seinem informellen Zusammenschluss 1980 und dann bei der formellen Vereinsgründung 1986 geleitet.7 Damals war die Hinwendung zur Alltagsgeschichte, zu einer Geschichte auch der »kleinen Leute« noch umstritten. Die Sozial- und Strukturhistoriker, deren Ansatz gerade nach heftigen Kämpfen zur vorherrschenden Richtung in der westdeutschen Geschichtswissenschaft geworden war, wollten sich diese Stellung nicht streitig machen lassen. Für sie waren Strukturen – der Kapitalismus, die Bürokratie, die Rationalisierung, der Staat – die vorantreibenden Kräfte der Geschichte. Hans-Ulrich Wehler, der damalige Historikerpapst, hielt den »biederen Hirsebrei der Alltagsgeschichte ›von unten‹ und ›von innen‹«, den idealisierende »gefühlsstarke ›Barfußhistoriker‹ in ihren alternativ kulturellen, ›linkspluralistischen‹ Werkstätten« zusammenrührten, für einen »Rückzug« in eine romantische Idylle, für einen Rückfall hinter den erreichten Stand der Geschichtswissenschaft.8 Inzwischen sind jene Auseinandersetzungen überwunden, die Ansätze der Alltagsgeschichte sind in den mainstream der Geschichtswissenschaft eingeflossen. Stichworte wie Historische Anthropologie oder Geschichte als Kulturwissenschaft deuten dies an. Kultur verstehe ich dabei als »Medium historischer Lebenspraxis und Auseinandersetzung insgesamt«.9 Obwohl selbstverständlich auch andere Zugänge zur Regionalgeschichte sinnvoll sein können und ihren Platz haben müssen, haben doch zahlreiche Untersuchungen gezeigt, dass sich die akteurszentrierte, lebensweltliche Orientierung bewährt. Deshalb möchte ich mich mit ihr im Folgenden beschäftigen.10 Anfänglich war nicht deutlich, was unter Lebenswelt verstanden wurde. In der phänomenologischen Philosophie namentlich Edmund Husserls, der den Begriff nachdrücklich in die wissenschaftliche Diskussion hineingebracht hat, bezieht er sich auf die sinnliche und praktische Wahrnehmung und Erfahrung des Menschen im Unterschied zur Welt der Wissenschaft und der Theorie, die 7 Vgl. Heiko Haumann: Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte? Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte. In: Alemannisches Jahrbuch 1984/86, S. 7–21; Rundbrief Nr. 46/Oktober 2011 des Arbeitskreises Regionalgeschichte, unpaginiert (S. 4, »Entstehung»). 8 So in zwei Artikeln in: Die Zeit, Nr. 39/18.9.1981, Nr. 19/3.5.1985 (zit. in Haumann: Rückzug, S. 7–8). 9 Editorial. In: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 1–3, hier S. 1–2. 10 Zu meinen bisherigen Überlegungen vgl. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. Klaus Hödl. Innsbruck 2003, S. 105–122; Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Hg. Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche. Weilerswist 2006, S. 42–54.

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die Welt »objektiv« erfassen wolle.11 Hans Blumenberg geht gar so weit, die Lebenswelt als einen »Grenzbegriff« zu verstehen, der ausschließlich die vortheoretischen und vorwissenschaftlichen Bereiche des vorgegebenen Selbstverständlichen, des Unhinterfragbaren und Nichtzubegründenden, der Vor-Urteile und des Nicht-Geschichtlichen kennzeichnet. Aus dieser Welt seien wir längst herausgetreten. »Die Lebenswelt ist (…) nie die Welt, in der wir leben.»12 Jürgen Habermas hat den Begriff weiterentwickelt, ihn jedoch nach wie vor auf den vortheoretischen Bereich bezogen. Der Lebenswelt gegenüber stellte er die Systeme – wie Markt, Bürokratie oder Rechtsordnung –, die die Lebenswelt im Prozess der Moderne immer stärker »kolonialisieren« würden.13 Diese Überlegungen hatten großen Einfluss auf die eben erwähnten Strukturhistoriker, die deshalb Untersuchungen zu den Lebenswelten zumindest für die Neuzeit als weniger wichtig oder gar vernachlässigbar ansahen. Gegen einen derartigen Zugang und die Trennung in Lebenswelt und System wandte sich Niklas Luhmann. Für ihn ist die Welt »in polykontexturaler Komplexität gegeben«. Auch heute noch sei es möglich, »in einer vertrauten Welt zu leben«, obwohl deren Komplexität zugenommen habe. Die Lebenswelt könne nicht verschwinden. »Es ist unmöglich, einen Lebensweltbegriff zu fin11 Die Kategorien Wahrnehmung und Erfahrung im Rahmen von Verweisungszusammenhängen, die Husserl »Horizonte« nennt, sind seitdem auch aus der Forschung nicht mehr wegzudenken und zentral etwa in die »verstehende Soziologie« eingegangen. Siehe László Tengelyi: Husserls Begriff des Horizontes. In: Horizonte des Horizontbegriffs. Hermeneutische, phänomenologische und interkulturelle Studien. Hg. von Ralf Elm. Sankt Augustin 2004, S. 137–161. Zum Verständnis in der Geschichtswissenschaft Reinhart Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349–375. 12 Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt. Hg. Manfred Sommer. Berlin 2010, S. 165, vgl. S. 213; zum »Grenzbegriff« S. 33, 65, 84 u. ö. Vgl. auch: Rüdiger Welter: Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt. München 1986; Frank Welz: Kritik der Lebenswelt. Eine soziologische Auseinandersetzung mit Edmund Husserl und Alfred Schütz. Opladen 1996; Manfred Gabriel: Lebenswelt und Handeln. Zur Verständigung über den »state of the art«. In: Salzburg. Städtische Lebenswelt(en) seit 1945. Hg. Hanns Haas u. a. Wien usw. 2000, S. 37–56; Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003; Lebenswelt und Politik. Perspektiven der Phänomenologie nach Husserl. Hg. Giovanni Leghissa und Michael Staudigl. Würzburg 2007. 13 Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1981, hier vor allem Bd. 2. Deshalb sieht z. B. Reinhart Koselleck methodische Schwierigkeiten darin, dass es eine Differenz gebe zwischen den »alltäglichen, lebensweltlichen Wahrnehmungsweisen, die ständig in die Konstitution der wirklichen Geschichten eingehen,« und der »wissenschaftlichen Geschichte« (Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. In: ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Hg. Carsten Dutt. Berlin 2010, S. 9–31, hier S. 20).

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den, der Mathematik, neuzeitliche Wissenschaft oder Systeme wie Wirtschaft oder Politik ausschließt (...).« Nach seiner Argumentation ist der Lebensweltbegriff »für eine Analyse der modernen Gesellschaft« durchaus geeignet. Durch unser Leben würden wir unsere Lebenswelt schaffen. Es komme darauf an, zwischen Vertrautem und Unvertrautem in den jeweiligen Kontexten zu unterscheiden.14 In der Tat hat sich die Trennung in System und Lebenswelt zumindest für die Geschichtswissenschaft als wenig fruchtbar erwiesen. Im Gegenteil hat sich gezeigt, dass Systeme und Strukturen immer Bestandteile der Lebenswelt eines Menschen sind. Die Lebenswelt ist die Welt, in der das Leben stattfindet. Die Rechtsordnung, der Markt, die Arbeitsverhältnisse, bürokratische Ordnungen beeinflussen den Menschen, selbst wenn er sie nicht wahrnimmt. Gleichzeitig gestaltet er, wiederum oft unbewusst und in unterschiedlichem Maße, diese mit. Wer also das Leben eines Menschen erforscht, bekommt damit auch Teile von Systemen und Strukturen in den Blick. Deshalb ist es produktiv, vom einzelnen Menschen auszugehen, seine Lebensgeschichte und Lebensverhältnisse zu erforschen, sein Denken, Fühlen und Handeln, seine symbolischen Ordnungen und Deutungsmuster, und dann weiterzugehen zu den systemischen Mechanismen und gesellschaftlichen Strukturen, mit denen der Mensch in Wechselbeziehung steht. Da der Mensch nicht isoliert lebt, werden seine Verbindungen mit anderen Menschen und deren Lebenswelten einbezogen. Die Analyse bleibt deshalb nicht punktuell-beliebig oder verengt, sondern ist Individualgeschichte und Gesellschaftsgeschichte zugleich, bei allem notwendig fragmentarischen Charakter.15 Das bedeutet, dass der vielbeschworene und seinerzeit auch von Alltagshistorikern befürchtete Gegensatz zwischen Mikro- und Makrogeschichte bei diesem Ansatz nicht besteht.16 Gewiss lässt sich die Geschichte eines Men14 Niklas Luhmann: Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 72 (1986), S. 176–194, hier 180, 184, 188, vgl. 182, 193 (im Anschluss an Humberto R. Maturana). Ähnlich Bernhard Waldenfels: In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. 32005, S. 15–55, zur Kritik an Habermas: 94– 119, zum Verhältnis von Lebenswelt und Alltag: 153–178. Zum Denken Luhmanns im Blick auf das Verhältnis von Mensch, System, Umwelt, Kommunikation und Gesellschaft vgl. ders.: Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Hg. von Dirk Baecker. Heidelberg 2005, S. 37–61. Zur Auseinandersetzung mit Husserl, Schütz, Habermas, Luhmann u. a. Richard Grathoff: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung. Frankfurt a. M. 1989. 15 Vgl. zur ausführlicheren Begründung meine beiden in Anm. 10 zitierten Aufsätze. Zur Diskussion dieses Ansatzes auch Ekaterina Emeliantseva: Osteuropa und die Historische Anthropologie. Impulse, Dimensionen, Perspektiven. In: Osteuropa 58 (2008) H. 3, S. 125–140. 16 Zu dieser Befürchtung Haumann: Rückzug, S. 20.

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schen nicht verallgemeinern. Aber sie zeigt exemplarisch doch schon viel Allgemeines, gerade wenn sie im skizzierten Sinn erforscht wird.17 Schicksale in der Grenzregion

Max Bloch war ein Lederhändler. 1894 in Eichstetten am Kaiserstuhl geboren, hatte er in Freiburg im Breisgau ein Geschäft mit Sattler- und Polsterartikeln geführt. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, erkannte er rasch, dass es für Juden gefährlich werden würde. Es gelang ihm, trotz scharfen Verbotes einen Teil seines Vermögens in die Schweiz zu transferieren. Dabei half ihm ein NSDAP-Mitglied, Erwin Spengler, mit dem er sich während der zwanziger Jahre in Freiburg angefreundet hatte. Spengler war Sparkassenleiter in Elzach im Schwarzwald geworden und sorgte dafür, dass Max Bloch dort unter falschem Namen Konten einrichten konnte, von denen aus dann die Devisen in die Schweiz überführt wurden. Spengler wurde deshalb später wegen Devisenvergehens angeklagt, kam jedoch durch eine geschickte Verteidigung glimpflich davon. Bevor der Devisenschmuggel aufflog, emigrierte Bloch 1936 nach Basel, ließ sich später in St. Louis nieder und wurde französischer Staatsangehöriger. Von St. Louis aus betrieb er als Mitinhaber eine Basler Schuhfirma. 1938 wurde ihm die Einreise nach Basel verweigert. Erst nachdem die Firma bestätigt hatte, dass er keine berufliche Tätigkeit ausübe, also nicht den Arbeitsmarkt belaste, sondern lediglich als Geldgeber die Bücher kontrolliere, erhielt er kurzfristige Einreisebewilligungen, musste aber immer wieder versichern, dass er nach Frankreich zurückkehren werde. 1940 verschärfte sich die Situation. Als die Firma in diesem Jahr wieder einmal ein Visum für Max Bloch beantragte, setzte der zuständige Beamte der Fremdenpolizei an deren Formulierung »Herr Bloch kann als französischer Staatsangehöriger jederzeit wieder ausreisen« mit roter Tinte ein Fragezeichen und fügte ein »J« (= »Jude«) hinzu; auch die gesamte Akte ist mit einem »J« gekennzeichnet. Offensichtlich war ihm bewusst, dass die Rückkehr Blochs nicht mehr reibungslos vonstatten gehen könnte, nachdem vor kurzem NaziDeutschland Frankreich militärisch besiegt hatte. Bis Ende 1940 erhielt Bloch noch kurzfristige Aufenthaltsbewilligungen, danach nur Ablehnungen. Im Januar 1944 stöberten ihn deutsche Einheiten in den Pyrenäen auf, nicht weit 17 Dies hatte seinerzeit schon Gert Zang gesehen: Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen und praktischen Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte. Konstanz 1985.

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vom Lager Gurs, wo er Verwandten und Bekannten zu helfen versucht hatte. Sie folterten ihn und erschossen ihn anschließend.18 Max Bloch konnte Nazi-Deutschland verlassen und sein Vermögen retten, weil er mit einem Menschen befreundet war, der zwar der NSDAP angehörte, dem aber die Freundschaft zu einem Juden wichtiger war als die Judenpolitik der Partei. Blochs Hoffnung, in Frankreich sicher zu sein und zugleich jederzeit bei Gefahr in die Schweiz einreisen zu können, erfüllte sich nicht. Die Eroberung Frankreichs durch Deutschland und die sich verschärfende Flüchtlingspolitik der Schweiz, also systemische Faktoren, ließen ihm keine Chance. An diesem Einzelschicksal können wir das geschäftliche und persönliche Netzwerk Blochs, sein Denken und Handeln und zugleich strukturelle sowie systemische Bedingungen rekonstruieren, etwa den Devisenhandel, die wirtschaftlichen Verhältnisse für Juden in Freiburg während der NS-Zeit oder die schweizerische Flüchtlingspolitik. Und wir erfahren etwas über Grenzen: Es gelang Max Bloch, die persönlichen Grenzen zwischen einem Juden und einem NSDAP-Mitglied durch »interkulturelle Kommunikation»19 und Interaktion zu überwinden, aber die politischen Grenzen erwiesen sich als zu hoch für ihn. Max Mayer, der 1873 geborene Freiburger Lederhändler, konnte am 1. September 1939 gerade noch rechtzeitig mit seiner Frau in die Schweiz ausreisen. Hier war die Grenze noch durchlässig, weil Verwandte in der Schweiz für ihn gebürgt hatten und weil er erklärte, rasch in die USA weiterreisen zu wollen. Obwohl er viele Freunde und Bekannte in Freiburg hatte, vor 1933 ein angesehener Bürger war, reichte sein Netzwerk nicht aus, um sein Vermögen zu retten. Er kam mit zehn Reichsmark und zwei Koffern voller Erinnerungsmaterialien in Basel an.20 Es hing somit von sehr individuellen lebensweltlichen Faktoren ab, ob und wie sich damals ein Jude oder eine Jüdin in Sicherheit 18 Nach Heiko Haumann: »Die Verhältnisse wurden schlechter und gefährdeter.« Der jüdische Flüchtling Max Bloch und seine Familie. In: Orte der Erinnerung. Menschen und Schauplätze in der Grenzregion Basel 1933–1945. Hg. Heiko Haumann, Erik Petry und Julia Richers. Basel 22008, S. 81–85 (dieses Buch ist insgesamt für unser Thema heranzuziehen; vgl. dazu auch: Alex Hagmann: Bilder und Erinnerung. Geschichte und Geschichten der Grenzregion Basel 1933–1945. DVD, Basel 2010); eine ausführliche Fassung: Heiko Haumann: »... dass er einem Juden auf diese Weise Vorschub leistete.« Erwin Stengler und Max Bloch – die Geschichte einer Dienstpflichtverletzung im »Dritten Reich«. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins »Schau-ins-Land« 122 (2003), S. 239–253. 19 Vgl. Klaus Hödl: Zum Wandel des Selbstverständnisses zentraleuropäischer Juden durch Kulturtransfer. In: Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte, S. 57–82, hier S. 58; auch Paulmann: Grenzüberschreitungen, S. 180. 20 Rolf Böhme, Heiko Haumann: Das Schicksal der Freiburger Juden am Beispiel des Kaufmanns Max Mayer und die Ereignisse des 9./10. November 1938. In der Vergangenheit liegt die Kraft für die Zukunft. Freiburg i. Br. 1989 (22000). Weitere Beispiele etwa bei

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bringen konnte. Max Mayers Geschichte macht eindrucksvoll sichtbar, in welcher Weise viele Juden in Freiburg in die dortige Gesellschaft integriert waren und wie diese Integration nach 1933 Stück für Stück zerbrach, als die Kategorie »Rasse« zur entscheidenden Grenze der Zugehörigkeit wurde. Schließlich blieb kaum noch jemand übrig, der zu ihm und seiner Familie hielt. »Unsichtbare Mauern« wurden errichtet, hat dies Ingeborg Hecht (1921–2011) genannt21 – unsichtbare Grenzen, aus denen zu fliehen die einzige Rettungsmöglichkeit war. Dass diese unsichtbaren Grenzen nicht »von selbst« wuchsen, sondern in einem Wechselverhältnis von NS-Maßnahmen und konkretem Handeln der Nachbarn hochgezogen wurden, kann exemplarisch am Schicksal der Familie Mayer nachvollzogen werden. Bleiben wir noch bei der Geschichte der Juden in der oberrheinischen Region. Juden personifizieren wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe den Typus des Grenzgängers.22 Gerade in Südbaden reichten ihre persönlichen Netzwerke ins Württembergische, in die Schweiz und ins Elsass, ebenso ihre Geschäftsverbindungen. Im interkulturellen Austausch überschritten sie religiöse und soziale Grenzen, mussten sich aber auch immer wieder – nicht erst während der nationalsozialistischen Herrschaft – mit judenfeindlichen Bestrebungen auseinandersetzen, die sie aus der Mehrheitsgesellschaft ausgrenzen wollten.23 In diesen dynamischen kulturellen Prozessen kam es oft zu Zweifeln am eigeUlrich Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940. Hamburg 2000. 21 Ingeborg Hecht: Als unsichtbare Mauern wuchsen. Eine deutsche Familie unter den Nürnberger Rassegesetzen. Hamburg 1984. 22 Vgl. allgemein: Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Mit spezifischen Untersuchungen: Christoph Daxelmüller verwendet den Begriff »Zwischenkultur»: Zwischen »minhag« und Bürostuhl. Konstitutiven des jüdischen Alltags im 19. und 20. Jahrhundert. In: Frömmigkeit. Formen, Geschichte, Verhalten, Zeugnisse – Lenz Kriss-Rettenbeck zum 70. Geburtstag. [Redaktion: Ingolf Bauer.] München 1993, S. 195–214, hier S. 204. Julia Richers fasst diesen »Zwischen-Zustand«, der Grenzüberschreitungen einschloss, mit dem Begriff der »Liminalität« (Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert. Köln usw. 2009). Peter Haber hat das Beispiel eines »marginal man« untersucht (Zwischen jüdischer Tradition und Wissenschaft. Der ungarische Orientalist Ignác Goldziher (1850–1921). Köln usw. 2006, hier bes. S. 230–235). Zur Konstruktion von »Grenzfiguren« in Westeuropa (das »Jüdische«, das »Zigeunerische«, das »Osteuropäische«) vgl. Iulia-Karin Patrut: Roma als Helfer des »Jüdisch»-Bösen. Bram Stoker und Franz Kafka. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 19 (2010), S. 76–101. 23 Zahlreiche Beispiele habe ich zusammengestellt in meinem Aufsatz: Schtetl und Judendorf. Grenzüberschreitende Kulturen und Autonomiebewusstsein. In: Osteuropa 58 (2008) H. 8–10, S. 147–164. Vgl. auch Heiko Haumann: »Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch.« Ein Versuch über historische Massstäbe zur Beurteilung von Judengegnerschaft an den Beispielen Karl von Rotteck und Jacob Burckhardt. In: Schweizerische Zeitschrift für

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nen Selbstverständnis, die zum Rückzug in die Isolation, zur selbst gewählten Abschließung, führen konnten, aber auch zur selbstbewussten Betonung des Judentums, verbunden mit einer offenen Haltung gegenüber Nichtjuden, oder zu einer neuen Identität, vielleicht sogar jenseits des Religiösen.24 Die grenzüberschreitenden Begegnungen fanden in »Kontaktzonen« statt, die immer auch Konfliktzonen sein konnten.25 Die Konflikte zwischen Juden und Christen unterschieden sich nicht grundsätzlich von den Konflikten, die innerhalb der beiden Gruppen auftraten.26 Die Juden waren unentbehrliche Mittler zwischen Stadt und Land, nicht zuletzt im Wirtschaftskreislauf. Abgesehen von der antijüdischen Haltung der christlichen Kirchen bildete ein wichtiger Grund für das trotz aller Nähe bestehende Misstrauen im Ort oder bei Geschäften diesseits und jenseits der Grenze das unterschiedliche Wirtschaftsverhalten. Die christlichen Bauern und Handwerker folgten meist noch bis in das 20. Jahrhundert hinein den – wenngleich vielfältig gebrochenen – Vorstellungen einer »moralischen Ökonomie«, bei denen die Existenzsicherung und die Produktion nach überlieferten Normen und Ehrbegriffen im Vordergrund standen.27 Hingegen waren die jüdischen Händler viel stärker in den kapitalis-

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Geschichte 55 (2005), S. 196–214; Acht Jahrhunderte Juden in Basel. 200 Jahre Israelitische Gemeinde Basel. Hg. von Heiko Haumann. Basel 2005. Das Selbstbewusstsein betonen etwa Günther Mohr: »Neben, mit undt bey Catholischen.« Jüdische Lebenswelten in der Markgrafschaft Baden-Baden 1648–1771. Köln usw. 2011; Claudia Ulbrich: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wien usw. 1999; Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999; Michaela Schmölz-Häberlein: Zwischen Integration und Ausgrenzung: Juden in der oberrheinischen Kleinstadt Emmendingen 1680–1800. In: Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Hg. Rolf Kießling und Sabine Ullmann. Berlin 1999, S. 363–397; Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Siehe auch Haumann: Schtetl. Bahnbrechend zu diesem Ansatz, der dann auch der historischen Untersuchung zugrunde liegt, Alexandra Binnenkade: KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau. Köln usw. 2009 (zum Begriff S. 23–26); dies., Ekaterina Emeliantseva, Svjatoslav Pacholkiv: Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg. Köln usw. 2009. Zur produktiven Verwendung des Begriffs (auch: Kontaktfelder) z. B. Parr: Übergänge, S. 12 u. ö.; Faist: Grenzen überschreiten, S. 86–88. Vgl. Baumann: Zerstörte Nachbarschaften, S. 83–95: Der Autor hat die Beleidigungsfälle vor kommunalen Schiedsgerichten in verschiedenen badischen Landgemeinden zwischen ca. 1890 und ca. 1940 untersucht und festgestellt, dass es keine überdurchschnittlich hohen Konfliktfälle zwischen Juden und Christen gegeben hat. Im Gegenteil ist von einem »normalen« Neben- und Miteinander auszugehen. Ähnlich schon für einen früheren Zeitraum: Schmölz-Häberlein: Zwischen Integration und Ausgrenzung, S. 384–385. Zum Begriff der »moralischen Ökonomie« Edward P. Thompson: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. Dieter Groh. Frankfurt a. M. usw. 1980.

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tischen Wirtschaftskreislauf einbezogen. Sie mussten Profit erzielen, wenn sie überleben wollten. Dieses Denken war den Bauern in der Regel fremd. Das Vertrauen, das sie den Händlern entgegenbrachten, ging deshalb oft einher mit dem – durch die religiöse Tradition vertieften – Argwohn, Juden seien von Natur aus »geldgierig« und »wucherisch»; man müsse aufpassen, ob sie nicht doch betrügen wollten. Auch dass die Juden Nachrichten aus den Großstädten, aus der Politik, von neuen technischen Errungenschaften oder von den Modetrends im Ort verkündeten, machte sie unheimlich. Insgesamt können wir das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden als »vertraut und fremd zugleich« bezeichnen.28 Neben den schon genannten Schranken wird hier noch eine Grenze deutlich, auf die ich nur hinweisen möchte, die sich aber ganz allgemein zu untersuchen lohnt: die Scheidung zwischen Stadt und Land.29 Die Geschichte der Juden in unserer Region macht noch auf einen weiteren Aspekt der Grenze aufmerksam. Anfang 2006 konnte ich in Lörrach im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zur Ukraine einen Vortrag über »Das Schtetl als Lebensform. Zur Geschichte der Juden in der Ukraine« halten. Zu meiner Überraschung kamen nach dem Vortrag mehrere ältere Menschen nach vorne, schüttelten mir die Hand, stellten sich neben das Rednerpult und begannen, jiddische Lieder zu singen und Anekdoten aus der Ukraine zu erzählen. Es waren, wie ich erfuhr, »Kontingentjuden« aus der ehemaligen Sowjetunion, die nach ihrer Emigration der jüdischen Gemeinde in Lörrach zugewiesen worden waren. Ähnliche Entwicklungen kennen wir aus anderen jüdischen Gemeinden Badens. Mit Hilfe von Mitgliedern der Lörracher Gemeinde und Basler Stu-

28 Heiko Haumann: »Lieber n’ alter Jud verrecke als e Tröpfle Schnaps verschütte.« Juden im bäuerlichen Milieu des Schwarzwaldes zu Beginn des Nationalsozialismus. In: Menora. Jhb. für deutsch-jüdische Geschichte 3 (1992), S. 143–152, hier S. 150–151; vgl. Martin Leuenberger: Frei und gleich… und fremd. Flüchtlinge im Baselbiet zwischen 1830 und 1880. Liestal 1996, S. 30 (er definiert das Verhältnis als »offen und verschlossen»). 29 Vgl. Heiko Haumann: Stadt und Land. Bemerkungen zu einem Projekt vergleichender Regionalgeschichte. In: Arbeiteralltag in Stadt und Land. Neue Wege der Geschichtsschreibung. Hg. Heiko Haumann. Berlin 1982, S. 147–156; ders.: Arbeiter und technischer Fortschritt in der Anfangsphase der Industrialisierung. Ein regionaler Vergleich. In: Neue Technologien – Neue Gesellschaft? Gewerkschaftliche Überlegungen und Antworten. Hg. Josef Fuckerieder u. a. Freiburg i. Br. 1988, S. 54–72; ders.: Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land. Ein Vergleich von vier Regionen im östlichen Europa (1850 bis 1914). In: Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933. Hg. Wolfgang Hardtwig und Klaus Tenfelde. München 1990, S. 17–35.

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dierenden, die Jiddisch oder Russisch sprachen, organisierte ich ein InterviewProjekt, das auf große Resonanz stieß.30 Eine Anzahl von Lebensgeschichten konnte zusammengetragen werden. Wir hörten von den Erfahrungen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, von Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, von den Morden während der Schoa, von den Diskriminierungen in der Nachkriegszeit, vom geheimen jüdischen Leben, von den Schwierigkeiten des eigenen Selbstverständnisses, vom Zusammenbruch der Sowjetunion und neuen judenfeindlichen Angriffen, von der Entscheidung auszuwandern. Deutlich wurde, wie sich diese Menschen ihren »Eigen-Sinn« zu bewahren sowie Wege zwischen der Diskriminierung im Alltag und einer Integration in die sowjetische Gesellschaft, zwischen Widerstand und Anpassung gesucht hatten. Mit der Verarbeitung der Erfahrungen wuchs allmählich die Besinnung auf das »Jüdische«, die schließlich zu dem Entschluss führte, die Sowjetunion bzw. deren Nachfolgestaat Ukraine zu verlassen. Bindungen an die alte Heimat blieben allerdings bestehen. Die Verbundenheit mit der russischen Kultur ist in den meisten Interviews spürbar. Lörrach war für die ukrainischen Juden erst einmal eine fremde Welt, auch die Integration in die jüdische Gemeinde verlief nicht immer reibungslos. Zu den vielen Auseinandersetzungen mit Grenzen in der Sowjetunion kamen die Grenzüberschreitungen nach Deutschland und nach Lörrach sowie der Aufbau einer neuen Identität in einer ungewohnten Umgebung. Diese Jüdinnen und Juden waren in vielfacher Hinsicht Grenzgänger. Die transregionale und transkulturelle Grenzüberschreitung gewinnt hier eine neue Dimension. Sie ist wesentlich stärker als zwischen Südbaden, Elsass und Schweiz eine transnationale, die Verflechtungen der Lebenswelten sind noch vielschichtiger, die Vernetzungen der kulturellen Deutungsmuster und Praktiken schwieriger. Über diese Gruppe der osteuropäischen »Kontingentjuden« hinaus lässt sich folgern, dass die Migration ein erstrangiges Untersuchungsfeld für Grenzerfahrungen darstellt. Die Pendlerströme, die sich im 19. Jahrhundert nach Südbaden bewegten und jetzt vorwiegend in die Schweiz fließen, sind bereits Gegenstand von Forschungen geworden und werden morgen Thema dieser Tagung sein. Ebenso haben sich Historikerinnen und Historiker auch Fragen der Migration von weiter her gewidmet. Dies könnte unter regionalgeschichtlichen Gesichtspunkten vertieft werden. Kehren wir noch einmal zu den unmittelbaren Wirkungen des Grenzlandes Südbaden zurück, die im Zentrum der Tagung stehen. Die Barrieren durch die politischen Grenzen waren im 20. Jahrhundert während des »Dritten Reiches« 30 Die Auswertung ist vor kurzem erschienen: Jan Arend: Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion. Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung. Köln usw. 2011.

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am höchsten, wie ich eingangs mit meinen Beispielen gezeigt habe und wie es in den Vorträgen heute Nachmittag sichtbar geworden ist. Allerdings: während für Juden wie Max Bloch die Grenzen zur Schweiz geschlossen waren, waren sie für ihre Verfolger weitgehend offen. Mit Erlaubnis der Behörden durften Mitte Juli 1942 unter Leitung ihres Landesjugendführers Heinrich Bieg (1912– 1987) 1275 Mitglieder der »Reichsdeutschen Jugend« – der HJ-Auslandsorganisation – aus der Schweiz zu einem »Wilhelm-Gustloff-Gedächtnislager« nach Freiburg i. Br. reisen. Gustloff war seit 1932 Landesgruppenleiter der NSDAP in der Schweiz gewesen und 1936 von dem jüdischen Medizinstudenten David Frankfurter (1909–1982) erschossen worden, der damit auf die Unterdrückung der Juden in Deutschland hatte aufmerksam machen wollen. Für die Nazis galt Gustloff als Märtyrer, und deshalb hatte das Freiburger »Gedächtnislager« eine propagandistische, gegen die Juden gerichtete Funktion. Bieg war seit 1941 in der Schweiz tätig – zuvor hatte er in Freiburg i. Br. den dortigen HJ-Bann geleitet – und entfaltete rührige Aktivitäten. In intensiven Verhandlungen hatte er die Aus- und Wiedereinreise der »reichsdeutschen« Jugendlichen erreicht. Als Gegenleistung ließ die deutsche Regierung eine – verhältnismäßig geringe  – Anzahl Schweizer Jugendlicher in ihre Heimat reisen. Das unter Mitwirkung hochrangiger NSDAP-Würdenträger durchgeführte »Gedächtnislager« rief internationales Aufsehen hervor – nicht zuletzt wegen der großzügigen Haltung der »neutralen Schweiz«. Ähnliche Beachtung fanden von Bieg organisierte Großveranstaltungen in der Schweiz, so ebenfalls 1942 ein gemeinsames Sportfest der »Reichsdeutschen Jugend« und der italienischen faschistischen Jugendorganisation sowie ein Erntedankfest der Deutschen Kolonie – mit 12000 Teilnehmern die größte Kundgebung des Auslandsdeutschtums in Europa –, 1943 ein weiteres Sommerlager in Tirol und Vorarlberg und 1944 ein Ferienlager wiederum in Freiburg i. Br. Erst am 1. Mai 1945 wurden alle nationalsozialistischen Organisationen in der Schweiz verboten. Heinrich Bieg musste am 10. Juli 1945 das Land verlassen, und die Grenze blieb ihm von nun an bis 1959 versperrt.31 An seiner Lebensgeschichte werden somit wiederum strukturelle Rahmenbedingungen und dabei auch verschiedene Dimensionen der Grenze sichtbar. Für andere, weniger belastete Personen hatten sich bei Kriegsende 1945 die Grenzen schnell wieder geöffnet, die Menschen waren erneut »Nachbarn an der Grenze« geworden. Unter diesem Titel haben mein Kollege Josef Mooser und 31 Heiko Haumann (unter Mitarbeit von Martin J. Bucher): Heinrich Bieg – ein deutscher Nazi in der Schweiz. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 (2009), S. 298–328. Zu Biegs Tätigkeit in Freiburg i. Br. vgl. Bernd Hainmüller: Erst die Fehde – dann der Krieg. Jugend unterm Hakenkreuz – Freiburgs Hitler-Jugend. Begleitbuch zum Film »Es zittern die morschen Knochen« von Südwest 3. Freiburg i. Br. 1998.

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ich 1994 an der Basler Universität ein Projektseminar veranstaltet, das die Perspektiven der Menschen in der Region in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Thema hatte. Die Ergebnisse flossen dann in eine Ausstellung samt Katalog »Nach dem Krieg. Grenzen in der Regio 1944–1948« ein, die gemeinsam von den Museen Liestal, Lörrach und Mulhouse organisiert wurde.32 Nachdem es während des Zweiten Weltkrieges aus der Schweiz, teilweise unter lebensgefährlichen Bedingungen, in Einzelaktionen Hilfen für Flüchtlinge und politische Widerstandsgruppen gegeben hatte,33 setzten nun in breitem Maßstab Bemühungen ein, die Lage der Menschen in den vom Krieg betroffenen Gebieten zu verbessern, insbesondere die Hungersnot zu lindern, aber auch kulturelle Initiativen in Gang zu bringen.34 Sie trafen allerdings auf Abgrenzungen, die von den Besatzungsmächten – in Südbaden die französische Militärregierung – ausgingen, die aber auch durch die Auseinandersetzungen um die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen bedingt waren. Ein grenzüberschreitendes Leben in der Regio stieß deshalb auf ernsthafte Hindernisse. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Anzeichen eines solidarischen, gemeinsamen Regionalbewusstsein zutage treten. Sie reichten von den konkreten Unterstützungsmaßnahmen zur Verbesserung der Ernährungssituation im Elsass und in Südbaden – als Dank stiftete die Stadt Freiburg Basel den »Vrenelibrunnen« und stellte selbst am Alten Wiehre-Bahnhof einen Dankstein auf35 – über Erleichterungen der Basler Universität für Studierende aus Baden oder den gemeinsamen Wiederaufbau der Rheinschifffahrt bis hin zu interessanten transnationalen politischen Konzeptionen.

32 Nach dem Krieg / Après la guerre. Grenzen in der Regio 1944–1948 – Frontières dans la régio 1944–1948. Hg. Simone Chiquet, Pascale Meyer und Irene Vonarb. Zürich 1995. 33 Über die Grenzen. Alltag und Widerstand im Schweizer Exil. Eine Ausstellung der »Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung« Zürich. Konzeption: Gisela Wenzel, Theo Pinkus u. a. Zürich 1988 (21989); ergänzend zu dieser Ausstellung anlässlich ihrer Darbietung in Basel: Hermann Wichers, Jean-Claude Wacker: Über die Grenzen. Alltag und Widerstand im Schweizer Exil. Basel 1990. Vgl. Hermann Wichers: Im Kampf gegen Hitler. Deutsche Sozialisten im Schweizer Exil 1933–1940. Zürich 1994; siehe auch einige Beiträge in: Orte der Erinnerung. 34 Alltagsnot und politischer Wiederaufbau. Zur Geschichte Freiburgs und Südbadens in den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg. Hg. Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg. Freiburg i. Br. 1986; Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau. Bd. 3. Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart. Hg. Heiko Haumann und Hans Schadek. Stuttgart 1992, hier bes. S. 371–386 (Heiko Haumann). 35 Ute Scherb: »Wir bekommen die Denkmäler, die wir verdienen.« Freiburger Monumente im 19. und 20. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 2005, S. 213–217.

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Regionalgeschichte und »integrierte Geschichte«

Diese weisen auf eine Problematik des Grenzlandes hin, die ich wenigstens kurz ansprechen möchte. Südbaden grenzt politisch nicht nur an Gebiete, die anderen Staaten zugehörig sind, sondern auch an andere Länder innerhalb Deutschlands.36 Für das Bewusstsein einer gemeinsamen oberrheinischen Region war dabei die Grenze zu Württemberg einschneidender als die Grenzen zu Frankreich und zur Schweiz. Auch das ist zu berücksichtigen, wenn wir nach den historischen Ursachen für das Regio-Bewusstsein fragen. Zu spüren ist die Abgrenzung zu Schwaben – lassen wir einmal länger zurückliegende Ansätze außer acht –37 gerade in der Nachkriegszeit. Mehrere Konzeptionen für eine staatliche Neuordnung zielten auf einen Zusammenschluss ehemals alemannischer Gebiete: Baden, Elsass, deutschsprachige Schweiz, Vorarlberg. Argumentiert wurde mit einer jahrhundertelangen gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache und einer ähnlichen Mentalität. Teilweise sind hier Kontinuitäten zu den »Volkstums»-Konzepten der 1920er und 1930er Jahre erkennbar.38 Nur wenige Vorschläge strebten auch eine Einbeziehung Schwabens oder anderer Regionen an. Vergleicht man jene Konzeptionen mit entsprechenden Entwürfen aus Württemberg, so fällt auf, dass die »alemannnischen« weniger zentralistische Elemente enthielten, hingegen mehr föderalistische und kantonale, sich also am Schweizer Vorbild orientierten. Ähnliches gilt für Vorstellungen für den Aufbau der neuen Parteien oder für gewerkschaftliche Forderungen.39 Insofern können wir durchaus von Grenzen auch im Denken und Handeln sprechen, die Baden und Württemberg trennten. Die heftigen Auseinandersetzungen um die Bildung des Bundeslandes Baden-Württemberg, die heute noch nachwirken, sind ein weiterer Beleg dafür. 36 Die »inneren Grenzen« und die regionale Vielfalt betont auch Hans Gebhardt: BadenWürttemberg: Raum, Grenzen, regionale Kontraste. In: Baden-Württemberg. Gesellschaft, Geschichte, Politik. Hg. Reinhold Weber und Hans-Georg Wehling. Stuttgart 2006, S. 33– 55. 37 Zu Vereinigungsbestrebungen mit der Schweiz – teilweise mit und teilweise ohne Schwaben – vgl. Erwin Dittler: Jakobiner am Oberrhein. Kehl 1976; Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau. Bd. 2. Vom Bauernkrieg bis zum Ende der habsburgischen Herrschaft. Hg. Heiko Haumann und Hans Schadek. Stuttgart 1994, S. 224–233 (Heiko Haumann); dazu meinen Artikel: Als die Freiburger unbedingt Schweizer werden wollten. In: BZ Nr. 54/6.3.1995. 38 Siehe dazu die entsprechenden Beiträge in diesem Band. 39 Vgl. Heiko Haumann. »Schwäbisch-alemannische Demokratie« gegen »Staufisch-schwäbischen Imperialismus»? Politische Konzeptionen in Baden und Württemberg 1945–1952. In: Allmende 20 (1988), S. 36–52.

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Die Vielschichtigkeit des Grenzbegriffes wird somit gerade bei regionalgeschichtlichen Untersuchungen besonders deutlich. Er weist auf transregionale und transnationale ebenso wie auf trans- und interkulturelle Beziehungen hin. Die »dichten Beschreibungen«,40 die in der Region möglich sind, machen diese Beziehungen mit ihren strukturellen Kontexten anschaulich und sind deshalb auch für die Vermittlung historischer Forschungen geeignet.41 Sie erleichtern es, das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen nachzuvollziehen, Handlungsspielräume und Alternativen zu erkennen, die Einflüsse von gesellschaftlichen Strukturen – dazu gehören etwa Deutungsmuster, Diskurse, gesetzliche Rahmenbedingungen oder Konstellationen der internationalen Beziehungen – und systemischen Mechanismen zu erfassen. Diese Auseinandersetzung führt zu einem »Probehandeln«, einem gedanklichen Abwägen, wie ich selbst unter den gegebenen Verhältnissen gehandelt hätte. Dadurch geht der historische Vorgang in meinen Erinnerungsspeicher ein und beeinflusst über ihn meine Entscheidungen bei gegenwärtigen Problemen. Alltags- und Regionalgeschichte, so wie ich sie verstehe, bedeutet auf diese Weise die Untersuchung geschichtlicher Lebenswelten, die zugleich eine Kommunikation zwischen den Historikern und den Menschen, über die sie arbeiten, sowie eine Kommunikation zwischen diesen und dem späteren Rezipienten beinhaltet. Die lebensweltliche Orientierung geschichtswissenschaftlicher Arbeit, um auf meinen Ausgangspunkt zurückzu-

40 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1987. 41 Bei der Erforschung von Dörfern mit ihrem meist immer noch relativ engen sozialen Zusammenhalt werden die Möglichkeiten, Grenzen und Probleme der Kommunikation zwischen Historikern, ihren Quellen – namentlich ihren Interview-Partnerinnen und -partnern – sowie den Dorfbewohnern besonders deutlich. Vgl. Ernst Langthaler: Das »Einzelne« und das »Ganze«. Oder: Vom Versuch, die Geschichte der »Heimat« zu rekonstruieren. In: Unsere Heimat. Zeitschrift des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich 63 (1992), 80–98; Über die Dörfer. Ländliche Lebenswelten in der Moderne. Hg. Ernst Langthaler, Reinhard Sieder. Wien 2000 (dabei vor allem Ernst Langthaler, Reinhard Sieder: Die Dorfgrenzen sind nicht die Grenzen des Dorfes. Positionen, Probleme und Perspektiven der Forschung, 7–30; Bernhard Ecker u. a.: Von Nestflüchtern und Heimkehrern. Eine Diskussion über das Forschen in den Dörfern, 252–269); Ernst Langthaler: Dorfgeschichte als reflexiver Begriff. In: Historische Anthropologie 10 (2002), 125–133. Diese Schriften zeigen einen Entwicklungsprozess von der Absicht, in einem aufklärerischen Bewusstmachungsvorgang Einfluss auf Denk- und Verhaltensweisen der Dorfbewohner zu nehmen, hin zu einer reflexiven Dorfgeschichte, die sich am Dialog zwischen allen Beteiligten im Sinne eines »Gedächtnisdiskurses« (Langthaler: Dorfgeschichte, 131) orientiert. Siehe auch Beatrice Schumacher: Sozialgeschichte für alle? Ein Blick auf die neuere Kantonsgeschichtsschreibung. In: traverse 18 (2011) H. 1, S. 270–299.

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kommen, zielt damit auf mehrere Ebenen der Kommunikation und erweist sich als beispielhaft für eine kommunikative Geschichtswissenschaft.42 Anfangs habe ich bereits darauf hingewiesen, dass sich das Lebenswelt-Konzept, das uns schon bei der Gründung des Arbeitskreises Regionalgeschichte leitete, bewährt hat.43 Seit damals, seit 1980, ist es verfeinert und methodisch präzisiert worden, und es zeigt sich, dass diejenigen Forschungsansätze, die derzeit gerade im Blick auf transnationale sowie trans- und interkulturelle Beziehungen erörtert werden, in einleuchtender Weise mit jenem Konzept verbunden werden können. Die Verflochtenheit der Ebenen bei der Histoire croisée und vergleichbaren theoretischen Entwürfen, die Kontaktzonen, Übergänge, Passagen und Zwischenräume, die bei Liminalitätstheorien in den Blick kommen, oder die Prozesse des Kulturtransfers lassen sich mit einer akteursbezogenen Analyse von Lebenswelten besonders dicht herausarbeiten. Wir haben gesehen, wie vielschichtig der Grenzbegriff ist. Selbst wenn wir »nur« die Bedeutung der geografisch-politischen Grenze untersuchen wollen, müssen wir immer andere Begriffsinhalte, etwa kulturelle Grenzüberschreitungen, mitbedenken. Diese Dialektik ist ebenso Teil der lebensweltlich orientierten Forschung wie das Wechselverhältnis zwischen Individuum, Kollektiv und Strukturen. Der Grenzgänger ist ein extremes Beispiel für einen Menschen, der sich neue Handlungsspielräume schafft und auf die Kollektive, denen er angehört, sowie auf die Strukturen, innerhalb derer er sich bewegt, Einfluss nimmt und der zugleich in seinem Handeln doch immer wieder durch die Kollektive und 42 Zur kommunikativen, dialogischen Geschichtswissenschaft vgl. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung; ders.: Einleitung. In: »Eigentlich habe ich nichts gesehen ...« Beiträge zu Geschichte und Alltag in Südbaden im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. Heiko Haumann und Thomas Schnabel. Freiburg i. Br. 1987, S. 7–9, hier S.  8; Martin Schaffner: »Missglückte Liebe« oder Mitteilungen aus Paranoia City. Eine Lektüre von Justiz- und Polizeiakten aus dem Staatsarchiv Basel, 1894 bis 1908. In: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen. Hg. Ingrid Bauer u. a. Wien usw. 2005, S. 243–254. Ähnlich auch Hans-Werner Goetz: »Vorstellungsgeschichte«: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung [1979/82]. In: ders.: Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter. Hg. von Anna Aurast u. a. Bochum 2007, 3–17, hier bes. 9: der Verfasser einer Quelle als »Gesprächspartner des Historikers« (vgl. auch weitere Beiträge in diesem Band). 43 Der lebensweltliche Zugang wird immer wieder aus Verlautbarungen des Arbeitskreises deutlich, etwa in den Rundbriefen (so wird im Rundbrief Nr. 46/Oktober 2011 auf dem Deckblatt ein Infoblatt von 1988 abgedruckt, das diesen Zugang betont) oder auf der Website (www.arbeitskreis-regionalgeschichte.de). Ebenso machen dies seine Veröffentlichungen deutlich. Vgl. das Editorial in: »Eigentlich habe ich nichts gesehen ...«, dem ersten Band seiner Publikationsreihe »Alltag & Provinz«.

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Strukturen begrenzt wird, ihnen möglicherweise sogar ausgeliefert ist. Verfolgen wir das Leben eines solchen Menschen – ich erinnere an die Beispiele von Max Bloch und Max Mayer oder der Lörracher »Kontingentjuden« –, können wir all diese vielfältigen Aspekte darstellen und eine »integrierte Geschichte« im Sinne Saul Friedländers schreiben.44 Diese bezieht mehrere Perspektiven in die Betrachtung ein: die der Betroffenen, der Forschenden und der Rezipienten, der Mikro- und Makro-Ebene, der Erfahrungs- und der Strukturgeschichte, der Ereignis- und der Sozialgeschichte. Der »Integrationspunkt« ist das »Zusammentreffen von Individuum und geschichtlicher Bewegung«.45 Ausgangs- und Mittelpunkt bleibt aber der einzelne Mensch, der die Geschichte macht und erleidet. Auf diese Weise nähern wir uns auch dem »außergewöhnlichen Normalen«, das uns die historischen Bedingungen des Alltags mit seinen Spannungen und Widersprüchen hinter der Oberfläche freilegt.46 Diesen Zugang halte ich insofern für fruchtbar. Aber sind wir dafür auch methodisch gerüstet? Als wir uns in den 1980er Jahren mit lebensweltlichen Forschungen zu beschäftigen begannen, war neben den Fragen, wie das Verhältnis zwischen Lebenswelt und System aussieht und wie wir zwischen Mikro- und Makro-Geschichte vermitteln können, noch ein offenes methodisches Problem, wie die »mündliche Geschichte« auszuwerten ist und wie wir mit Menschen kommunizieren können, die in früheren Zeiten gelebt haben. Auch hierbei sind wir seitdem ein gutes Stück weiter gekommen. So haben Untersuchungen gezeigt, dass wir auch mit Menschen, die nicht mehr leben, in ein fiktives Gespräch eintreten können: Ihre Antworten auf unsere Fragen 44 Saul Friedländer: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen 2007; ders.: Eine integrierte Geschichte des Holocaust. In: ders.: Nachdenken über den Holocaust. München 2007, S. 154–167. In seinem großen Werk »Das Dritte Reich und die Juden« (Gesamtausgabe. München 2008, S. 368) hat er diesen Anspruch umgesetzt. 45 Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. usw. 1999, S.  262. »Sonst getrennt erforschte und beschriebene historische Wirklichkeitsbereiche werden in einer Biographie zur konkreten Lebenswelt des Individuums zusammengefügt« (S. 256). »Die historische Biographie ist damit ein Gegengewicht zu funktionalistischen Darstellungsweisen, die die Geschichte auf einen hinter dem Rücken der Individuen ‚automatisch’ ablaufenden Prozess reduzieren« (S. 258). 46 Der Begriff des »außergewöhnlichen Normalen« wurde 1977 von Eduardo Grendi geprägt; Hans Medick spricht leicht abgewandelt vom »normalen Ausnahmefall«. Vgl. Eduardo Grendi: Micro-analisi e storia sociale. In: Quaderni Storici 35 (1977), S. 506–520, hier S.  512; Hans Medick: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blick der Kulturanthropologie. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 94–109, hier S. 101–102; Carlo Ginzburg, Carlo Poni: Was ist Mikrogeschichte? In: Geschichtswerkstatt Nr. 6 (1985), S. 48–52.

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sind, selbstverständlich mit allem Vorbehalt, aus ihren Selbstzeugnissen, aus Subtexten und Kontexten zu erschließen.47 Gleichzeitig sind die methodischen Verfahren, Selbstzeugnisse zu interpretieren, verbessert worden. Zu nennen ist etwa die Sequenzanalyse, mit der der Bericht im Oral History-Gespräch, aber auch die autobiografische Erzählung oder der Tagebucheintrag in einzelne Einheiten oder thematische Blöcke aufgeteilt wird. Diese werden dann gesondert gedeutet, ohne den Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren.48 Dabei sind die Ergebnisse der Erinnerungsforschung zu berücksichtigen. In der Regel treten auf diese Weise Wendepunkte und Brüche im Leben, Einflüsse von außen, Schlüsselerfahrungen, Tabus und Sinnkonstruktionen hervor. Durch den Blick des Akteurs, durch seine kulturelle Praxis, werden seine Lebensumstände ebenso wie übergreifende Zusammenhänge erfasst. Selbstverständlich können wir dabei, wie bei jeder historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, lediglich Bruchstücke des Lebens der Menschen erschließen – aber diese Bruchstücke sind uns lebendig geworden durch den Dialog mit denjenigen, die die Geschichte bewusst oder unbewusst mitgestaltet und erlitten haben.49 Auch Bilder, namentlich Fotografien, die in den letzten Jahren immer mehr als Quelle alltagsgeschichtlicher Untersuchungen genutzt worden sind, lassen sich mit einem derartigen Zugang interpretieren. Im Zentrum stehen die situative Einbindung der Fotografie und die Untersuchung des performativen Aktes aus der Sicht der Beteiligten. Wir fragen nach den Absichten, Wünschen, Vorstellungen, Denk- und Verhaltensweisen der dargestellten und der sonst beteiligten Personen und versuchen, uns in sie hineinzuversetzen. Aus diesem Blickwinkel gewinnen die Merkmale des Fotos, die Gegenstände, die visuellen Zeichen, die kunsthistorischen Perspektiven einen völlig anderen Stellenwert. 47 Vgl. Martin Schaffner: Fragemethodik und Antwortspiel. Die Enquête von Lord Devon in Skibbereen, 10. September 1844, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 55–75; ders.: »Missglückte Liebe»; Alain Corbin: Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben. Frankfurt a. M., New York 1999. 48 Zur Sequenzanalyse vgl. nur Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a. M., New York 1995, S. 208–226, 240–241. Meine eigenen Überlegungen dazu habe ich ausgeführt in: Heiko Haumann, Ueli Mäder: Erinnern und erzählen. Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews. In: Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Hg. Marco Leuenberger und Loretta Seglias. Zürich 2008 (42010), S. 279–287, 300–303. 49 Vgl. Haumann: Geschichte, S. 48–51; an einem Beispiel ders.: Hermann Diamanski (1910– 1976): Überleben in der Katastrophe. Eine deutsche Geschichte zwischen Auschwitz und Staatssicherheitsdienst. Köln usw. 2011. Einen ähnlichen Ansatz skizziert Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung. In: Sozial.Geschichte 22 (2007) H. 3, S. 43–65.

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Chancen und Probleme der Alltags- und Regionalgeschichte

Möglicherweise werden dann auch hier Handlungsspielräume sowie Mechanismen des Zusammenspiels von individuellen Denk- und Verhaltensweisen mit kollektiven, gesellschaftlichen Vorgängen sichtbar.50 Selbstverständlich müssen der hier skizzierte lebensweltliche Zugang und die daraus sich ergebenden methodischen Verfahren immer weiter erörtert, erprobt und verbessert werden.51 Nach wie vor betrachte ich dieses Konzept als Chance, in der Alltags- und Regionalgeschichte vertieft die Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, ihre Auseinandersetzungen mit den kulturell vorherrschenden Rollen, Normen und Symbolen, ebenso die sozialen Beziehungen, die Netzwerke, Strukturen und Ordnungsgefüge, aber auch die Handlungsspielräume und Strategien mit ihren Alternativen zu entdecken.52 Im Biographischen, das die Begegnung mit anderen einschließt, dokumentiert sich auch das Gesellschaftliche.53 25 Jahre Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg e. V.: Aus einem lockeren Zusammenschluss von Studierenden, Lehrern und Dozenten wurde ein Verein, der mehrfach mit Einbrüchen und Resignation zu kämpfen hatte, manchmal 50 Heiko Haumann: Fotografija kak istočnik izučenija »žiznennych mirov« (Fotografie als Quelle zur Erforschung von »Lebenswelten«). In: Traektorija v segodnja: rossyp’ istorikobiografičeskich artefaktov (k jubileju professora I. V. Narskogo) (Flugkurve in die Gegenwart: Ausgrabungen historisch-biografischer Artefakte (FS für Prof. Igor’ V. Narskij). Hg. Oksana S. Nagornaja, Ol’ga Ju. Nikonova und Julija Ju. Chmelevskaja. Čeljabinsk 2009, S. 90–99. Dieser Aufsatz wird in überarbeiteter Form demnächst auch in deutscher Sprache erscheinen [im vorliegenden Band ist die neue Fassung enthalten]. Zur Fotoanalyse nenne ich hier nur: Visual History. Ein Studienbuch. Hg. Gerhard Paul. Göttingen 2006; Jens Jäger: Fotografie und Geschichte. Frankfurt a. M., New York 2009. 51 Am Historischen Seminar der Universität Basel ist das Lebenswelt-Konzept in zahlreichen Examensarbeiten, Dissertationen und Habilitationsschriften erprobt und weiterentwickelt worden. 52 Den Alternativen als der »Kategorie Möglichkeit« kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, um Vergessenes oder absichtlich Verdrängtes wieder in das Bewusstsein zu rufen. Daran kann angeknüpft oder zumindest – auch durch das »Probehandeln« – geprüft werden, warum sich eine Variante durchsetzte und eine andere nicht. Vgl. zur »Kategorie Möglichkeit« Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1985, Bd. 1, 235–242, 256–288. Walter Benjamin plädierte dafür, in einer Form der »radikalen Erinnerung« die Geschichte »gegen den Strich (zu) bürsten« und nach dem Leiden der »kleinen Leute« zu suchen, nach dem, das keine Spuren in der Geschichtsschreibung hinterlassen habe. Es gehe darum, das Unterdrückte sichtbar zu machen, das Mögliche hinter dem Gewesenen. Eine solche Erinnerung an die Geschichte enthalte eine hoffnungsvolle Zukunftsdimension. Der Geschichtsschreiber könne »im Vergangenen den Funken der Hoffnung« anfachen (Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1972 ff., Bd. I.2, 691–704, hier 697 [Zitat], 703, 693–694, 695 [Zitat]). 53 Haumann, Mäder: Erinnern und erzählen, S. 281 (eine Formulierung von Ueli Mäder).

Das Beispiel der Grenzregion Oberrhein 

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vor der Auflösung stand, aber durch vielfältige Initiativen und Arbeitsgruppen immer wieder neue Anläufe unternommen hat, das Lehr- und Forschungsangebot am Freiburger Historischen Seminar zu bereichern und zugleich mit Veranstaltungen und Publikationen Geschichte in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Er ist damit eine der wenigen Geschichtswerkstätten, der es gelungen ist, nach der Aufbruchstimmung in den 1980er Jahren die Einbindung der Regional- und Alltagsgeschichte in den mainstream der Geschichtswissenschaft zu überdauern. Mit seinen Aktivitäten hat er bewiesen, dass es nach wie vor Sinn macht, gesondert alltagsgeschichtliche Fragen in der Region zu thematisieren, sozusagen die kulturellen Topographien im regionalen Raum zu erforschen. Er nutzt die Möglichkeiten, die gerade der spezifische Raum der oberrheinischen Grenzregion bietet. Der alltagsgeschichtliche oder lebensweltliche Zugang gewinnt dadurch einen Rahmen, der gar nicht hoch genug zu schätzen ist. Dieser Weg sollte in praktischer Arbeit und theoretischer Reflexion weiter verfolgt werden. Für die nächsten 25 Jahre wünsche ich den derzeitigen und künftigen Mitgliedern des Arbeitskreises Regionalgeschichte Freiburg spannende Themen, gute Bedingungen, interessante Initiativen und nicht zuletzt viel Freude an der Regionalgeschichte.

Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien Das Basler Beispiel*

Das neu gegründete Institut für Jüdische Studien an der Universität Basel nahm zum Wintersemester 1998/99 seine Tätigkeit auf. Damit rückte ein lang gehegter Wunsch, die wissenschaftliche Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur in der Schweiz und in der alemannischen Region zu verstärken, seiner Verwirklichung ein grosses Stück näher. Inzwischen wurde Prof. Dr. Jacques Picard zum Leiter des Instituts berufen. Der Stiftungsrat der Stiftung für Jüdische Studien, der die Gründung des Instituts in die Wege geleitet hat und seine Arbeit weiter begleitet, hat die Ziele deutlich formuliert: Die Lebenswelten der Jüdinnen und Juden, ihre Geschichte, Religion, Kultur und Literatur in ihren Wechselbeziehungen mit der nichtjüdischen Umwelt von der Antike bis zur Gegenwart sollen in Lehre und Forschung behandelt und entsprechende Aktivitäten koordiniert werden. Zu untersuchen seien insbesondere die Veränderungen von Lebensbedingungen, Normen, Erfahrungen und Einstellungen, Selbst- und Fremdwahrnehmungen, religiöse, geistige, soziale und politische Strömungen unter den Juden, ihre politische und rechtliche Stellung im Vergleich verschiedener Staaten, ihre Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie ihre Wanderungsbewegungen, Ursachen und Auswirkungen von Antisemitismus und Antijudaismus. In der Erforschung der kulturellen Beziehungen der Juden untereinander seien Sprache, Literatur und Kunst einzubeziehen. Besondere Aufmerksamkeit sei der Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz und in der Region zu schenken. Als Generalthema für ein Forschungsprogramm formulierte der Stiftungsrat: »Nachbarschaft – Ausgrenzung – Orientierungssuche. Jüdisches Leben in Ost- und Westeuropa sowie in Israel als multikulturelles Phänomen«.1 * Erstpublikation in: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck usw. 2003, S. 105–122. 1 Zur Geschichte und Vernetzung des Instituts vgl. Heiko Haumann, Institutionen zur Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur in der Region, in: Manfred Bosch, Hg., Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur, Eggingen 2001, 542–548. Konzeptionell bestehen Bezüge zu den Zielen des Simon-Dubnow-Institutes für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, vgl. Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte [und Kultur] e. V. (i. G.), Vorstellung des Forschungsprofils im Sächsischen Landtag am 9. November 1995, hg. vom Sächsischen Landtag, Dresden 1995. Das Profil wird jeweils auch skizziert im Editorial der von Dan Diner hg. Schriften des Instituts, siehe Bd. 1:

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Eine Besonderheit der Basler Beschäftigung mit Jüdischen Studien ist neben der regionalen sowie gesamtschweizerischen Vernetzung, insbesondere mit dem Luzerner Institut für Jüdisch-Christliche Forschung, die Zusammenarbeit mit dem von mir am Historischen Seminar der Universität Basel vertretenen Schwerpunkt zur Geschichte und Kultur der Juden in Osteuropa. Hier stand von Anfang an die lebensweltlich orientierte Forschung im Vordergrund. Bereits das erste Forschungsprojekt, das unter meiner Betreuung stand, zeigte diese Richtung an: »Der Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert«. Von 1993 bis 1996 arbeiteten Peter Bollag, Monica Rüthers und Desanka Schwara zu den Verhältnissen, in denen die »Luftmenschen« in Kongresspolen, Galizien sowie im russischen Ansiedlungsrayon lebten, zu den Veränderungen in der Situation und Rolle dortiger jüdischer Frauen sowie zur literarischen Verarbeitung dieser Themenfelder. Desanka Schwara setzte dann das Projekt noch ein Jahr fort, um Kindheit und Jugend in den genannten Regionen zwischen 1881 und 1939 zu untersuchen. Methodisch gingen die MitarbeiterInnen von den Wechselbeziehungen zwischen Strukturen sowie individuellem Denken und Handeln aus. Sie fragten, wie sich Einstellungen, Werte, Normen und Verhalten von Männern und Frauen wandelten, welche neuen Handlungsräume und Tätigkeitsfelder sie sich erschlossen, inwieweit die Religion einen neuen Stellenwert erhielt, wie Jüdinnen und Juden auf die nichtjüdische Umwelt sowie auf Zeitströmungen – Säkularisierung, Aufklärung, Assimilation, Antisemitismus und Nationalismus, Zionismus, Sozialismus – reagierten.2 Die Ergebnisse dieses Projektes führten zu einer Verfeinerung des Ansatzes. Mehrere Einzelstudien und weitere grössere Forschungsvorhaben waren die Folge. Eine Vermittlung wurde versucht durch die Ausstellung »1897 – Der Erste Zionistenkongress in Basel« samt Begleitpublikationen anlässlich des Jubiläums 1997.3 Derzeit werden in Basel am Historischen Seminar und am Institut Gertrud Pickhan, »Gegen den Strom.« Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918–1939, Stuttgart u. München 2001. – Für kritische Durchsicht des Textes und Hinweise danke ich Alexandra Binnenkade, Peter Haber, Patrick Kury, Barbara Lüthi, Erik Petry, Julia Richers, Carmen Scheide und Daniela Tschudi. 2 Neben verschiedenen Aufsätzen sind folgende Buchpublikationen aus diesem, vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekt hervorgegangen: Monica Rüthers, Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar u. Wien 1996; Desanka Schwara, »Ojfn weg schtejt a bojm«. Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongreßpolen, Litauen und Rußland 1881–1939, Köln, Weimar u. Wien 1999; Heiko Haumann, Hg., Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert, Köln, Weimar u. Wien 2003. 3 Kunsthalle Basel, 1897. Der Erste Zionistenkongress in Basel. Clegg & Guttmann, Basel 1997; Heiko Haumann, Hg., in Zusammenarbeit mit Peter Haber u. a., Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. »... in Basel habe ich den

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für Jüdische Studien drei Projekte bearbeitet, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind. In diesem Jahr gelangen die Arbeiten zum Thema »›Überfremdung‹ oder die Politik der Ausgrenzung: Ein Vergleich Schweiz – USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diskurs – Handeln – Erfahrung« zum Abschluss, die 1999 begonnen worden waren. Im Mittelpunkt stehen die Auswirkungen des »Überfremdungsdiskurses« auf die Immigrations- und Flüchtlingspolitik der beiden Staaten. Diskurse, gesellschaftliche Strukturen und subjektive Erfahrungen sollen aufeinander bezogen, die Perspektiven der betroffenen Migranten mit der politischen Ebene, dem gesetzgeberischen Handeln und der behördlichen Praxis, verbunden werden. Auf diese Weise wird die Konstruktion von »Eigen- und Fremdbildern« deutlich, ebenso die Tradition des Umgangs mit »Fremden«, insbesondere mit Juden. Gleichzeitig ist ein Beitrag zur gegenwärtigen Theorie- und Methodendiskussion in der Geschichtswissenschaft angestrebt. Patrick Kury untersucht den »Überfremdungsdiskurs« in der Schweiz, Simon Erlanger die Situation der Flüchtlinge in den schweizerischen Lagern während des 2. Weltkrieges und Barbara Lüthi stellt den Vergleich mit den Einwanderungsverhältnissen in den USA an. Neben der gemeinsamen Publikation sind drei Dissertationen zu erwarten.4 Seit Ende 2000 wird ein Forschungsvorhaben zu »Nation und jüdische Identität« bearbeitet. Das Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, inwieweit die Frage, was ein Jude sei, mit der Herausbildung moderner europäischer Nationalstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine neue Bedeutung bekam: War »jüdisch sein« noch vereinbar mit der Zugehörigkeit zu einer Nation, einem Staat? Aus der Perspektive der jüdischen Gesellschaft untersucht die Forschungsgruppe, wie sich Jüdinnen und Juden zum Konstrukt »Nation« verhielten und wie sie ihre Identität unter diesen Bedingungen bestimmten. Peter Haber wendet sich Assimilationsstrategien von Juden zwischen 1850 und 1910 in Ungarn zu – also in einem Land, das sich als Vielvölkerstaat definierte –5, Erik Petry geht der jüdischen Identitätssuche im Vielkulturenstaat Schweiz am Judenstaat gegründet«, Basel u.a. 1997; ders., Hg., Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, Weinheim 1998. 4 Die Finanzierung hat wiederum der Schweizerische Nationalfonds sichergestellt, Betreuer sind Jakob Tanner und ich. Während Patrick Kury und Simon Erlanger ihre Projektthemen zu Dissertationen entwickeln, hat sich Barbara Lüthi entschlossen, für ihre Dissertation einen speziellen Aspekt weiter zu bearbeiten, und wird dazu ein zusätzliches Jahr vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert werden: »›Invading Bodies‹: Körperbilder und Reinheitskonzepte in der Immigrationspolitik der USA, 1880–1920«. 5 Ergänzt wird diese Studie durch die geplante Dissertation von Julia Richers – Assistentin am Historischen Seminar – über den »Wandel jüdischer Lebenswelten im Budapest des 19. Jahrhunderts: Alltag, Erfahrung und (Selbst-) Bilder jüdischer Identität«.

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Beispiel einer Zürcher Gruppe zwischen 1915 und 1955 nach, Daniel Wildmann widmet sich der innerjüdischen Reformierung und Inszenierung des männlichen Körperideals im Kontext von Antisemitismus, Zionismus und der jüdischen Turn- und Sportbewegung zwischen 1890 und 1933 in Deutschland, das sich nicht als Vielvölkerstaat verstand. Am Ende der Bearbeitung sollen eine gemeinsame Publikation sowie drei Einzelstudien – zwei Dissertationen, eine Habilitation – und ein Film stehen.6 Schliesslich ist ein interdisziplinäres Projekt anzuführen, das Mitte 2001 begonnen hat: »Vertraut und fremd zugleich. Juden in interkulturellen Beziehungen«. Alexandra Binnenkade untersucht die Mechanismen von Nachbarschaft und Ausgrenzung im schweizerischen »Judendorf« Lengnau während des 19. Jahrhunderts, Ekaterina Emeliantseva vergleicht die jüdisch-messianistische Bewegung der Frankisten in Polen mit der mystisch-messianistischen Gruppe der Chlysty innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche von der zweiten Hälfte des 18. bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Svjatoslav Pacholkiv erforscht anhand von Fallstudien die Stellung der Juden in der multiethnischen Gesellschaft Galiziens zwischen 1860 und 1939.7 Gemeinsam ist allen Teilprojekten die Frage nach dem Verhältnis von Nähe und Distanz in den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten, das sie über ein Konzept von Kontakt-, Konflikt- und Ausgrenzungszonen näher bestimmen wollen. Langwährende christlich-antijüdische Stereotypen, unterschiedliche Wirtschaftsweisen, Bräuche und Verhaltensformen bewirkten eine »Fremdheit« der Juden, die durch gesellschaftliche Umbrüche verstärkt wurde. Nachbarschaftliche Nähe war aber auch immer wieder von Vertrautheit geprägt. Die Bedingungen jener Spannung und ihres Umschlagens in Aggressivität – mit erheblichen gesamtgesellschaftlichen Folgen – sollen von einem einheitlichen Ausgangspunkt aus untersucht werden: der Lebenswelt des Individuums. In ihr bündeln sich die Innenwelten der Akteure mit den Einflüssen von Strukturen und Systemen. Erneut werden neben einer gemeinsamen Publikation zwei Dissertationen und eine Habilitation entstehen.8 Gerade bei den beiden letzten Vorhaben wird deutlich, dass der gemeinsame theoretisch-methodische Zugang die höchst unterschiedlichen Einzelthemen, 6 Der Film wird Teil der Dissertation von Daniel Wildmann sein. Finanziert wird das Projekt vom Schweizerischen Nationalfonds, betreut von Ekkehard Stegemann und mir. 7 Lebensweltlich orientiert ist ebenfalls das Dissertationsprojekt von Frank Michael Schuster: »Die jüdische Zivilbevölkerung in Kongresspolen, Galizien und Litauen während des Ersten Weltkrieges«. 8 Finanziert wird dieses Projekt von der Universität Basel im Rahmen ihrer Forschungsförderung, betreut wird es von mir in Zusammenarbeit mit Ekkehard Stegemann und DuŠan Šimko.

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zwischen denen keine unmittelbaren Berührungspunkte bestehen, zusammenhält. Die entsprechenden Diskussionen der MitarbeiterInnen erweisen sich als ausserordentlich fruchtbar und geben den Einzelarbeiten entscheidende Anregungen. Schon jetzt kann dieses Experiment als gelungen bezeichnet werden. Durch die lebensweltliche Orientierung und deren Ausgestaltung haben wir die Folgerung daraus gezogen, dass sich nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in der historischen Sektion der Jüdischen Studien ein Paradigmenwechsel vollzogen hat. Nach der Schoa konzentrierten sich die Forschungen zunächst auf die Judenverfolgung und -vernichtung während des »Dritten Reiches«, auf die Geschichte des Antisemitismus und der deutsch-jüdischen Beziehungen, warfen also den Blick »von aussen« auf das Leben von Jüdinnen und Juden. Abgesehen von einigen Gelehrten, die sich mit der religiösen und geistesgeschichtlichen Entwicklung des Judentums beschäftigten, beginnt sich erst in jüngster Zeit eine Sichtweise »von innen« auf jüdische Themen auszubilden.9 Für die Beschäftigung mit dem Ostjudentum lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Nachdem die intensive wirtschafts-, sozial- und alltagsgeschichtliche sowie volkskundliche Forschung in Osteuropa selbst durch die NSZeit abgebrochen war, herrschte lange Zeit ebenfalls ein Zugang vor, der vom staatlichen Handeln, vom Antisemitismus, vom Konflikt her fragte. Gottfried Schramms Anstoss in den sechziger Jahren zur vergleichenden Untersuchung der »Ostjuden als soziales Problem« zeitigte anfangs nur wenig Wirkung.10 Erst seit den achtziger Jahren erscheinen zunehmend sozial- und kulturgeschichtliche Arbeiten, die das Leben der Juden zum Gegenstand hatten. Ausnahmen blieben allerdings nach wie vor Studien, die Vorstellungen und Handlungen aus der Sicht der Juden selbst zu rekonstruieren versuchen. Diese Beobachtung bestärkte uns in unseren Überlegungen, den lebensweltlichen Ansatz zu erproben. Was ist damit gemeint? Der Begriff »Lebenswelt« kommt ursprünglich aus der Philosophie. Nach ersten Überlegungen zum vorwissenschaftlichen, die unmittelbare Erfahrung verarbeitenden »natürlichen Weltbegriff« (Richard Avenarius, Ernst Mach) sprachen seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer mehr Philosophen von der »Lebenswelt« (Ernst Troeltsch, Rudolf Eucken, Georg Simmel, Wilhelm Dilthey). In Ame9 Vgl. etwa den Essay von Evyatar Friesel, Richtungen jüdischer Studien an deutschen Universitäten, in: Armin Kohnle u. Frank Engehausen, Hg., Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, 231–237. Ich verzichte hier auf detaillierte Hinweise zu Beispielen für die jeweiligen Sichtweisen. 10 Gottfried Schramm, Die Ostjuden als soziales Problem des 19. Jahrhunderts, in: Heinz Maus, Hg., Gesellschaft, Recht und Politik. Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag, Neuwied u. Berlin 1968, 353–380.

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rika machte W. James in seinem Aufsatz »The Experience of Activity« von 1904 auf »the world of life« aufmerksam und beschrieb Lebenswelt als ein Medium menschlicher Erfahrung. Wichtig war sein Hinweis, daß es keine geschlossene Welt-Vorstellung gebe, sondern eine Vielzahl menschlicher Lebenswelten, die sich wechselseitig bedingten.11 Entscheidend für die Wirkung des Lebenswelt-Begriffes wurde Edmund Husserls Phänomenologie. Husserl knüpfte an die erwähnten lebensphilosophischen Konzepte ebenso an wie an Martin Heideggers Vorstellungen von der »Alltäglichkeit des Daseins«, die dieser in seinem Hauptwerk »Sein und Zeit« 1927 entwickelt hatte. Gegen Auffassungen eines wissenschaftlichen Objektivismus setzte Husserl die Erkenntnis, daß jede menschliche Erkenntnis subjektbezogen und damit auch die Lebenswelt dieses Subjekts durch dessen Erfahrungen und Wahrnehmungen bestimmt sei. Deren Verarbeitung, die Bewußtwerdung, vollziehe sich nicht isoliert und autonom, sondern im Rahmen vielfältiger Verweisungszusammenhänge, die Husserl als »Horizont« bezeichnet. Ja, er spricht sogar von »Welthorizont« und identifiziert ihn mit der Lebenswelt des Individuums.12 Im Anschluß an diese Lehre hat der Lebenswelt-Begriff Einzug in die empirische Forschung gehalten, namentlich in die Soziologie und Pädagogik.13 Zentral ist er in der »verstehenden Soziologie«, vorab bei Alfred Schütz oder auch bei Thomas Luckmann, der auf Schütz’ Arbeiten aufbaut. Hier werden Wahrnehmung und Erfahrung des Subjekts durch empirische Analyse mit dem Alltag verbunden. Dabei sehen die Autoren die Lebenswelt nicht als abgeschlossenes, statisches System, sondern mit vielschichtigen intersubjektiven Beziehungen verflochten. Der Kommunikation kommt deshalb zentrale Bedeutung zu.14

11 Vgl. als erste Übersicht die einschlägigen Artikel in den philosophischen Wörterbüchern und Lexika. 12 Vgl. Rüdiger Welter, Der Begriff der Lebenswelt. Theorien vortheoretischer Erfahrungswelt, München 1986, hier besonders Teil 2 zu Husserl. 13 In der Pädagogik war besonders Eduard Spranger wirksam. Über Ludwig Wittgensteins Begriff der Lebensform ist auch die Sprachtheorie beeinflusst worden. Als wichtige philosophische und soziologische Werke sind u. a. zu nennen: Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974; Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1985 (und andere Veröffentlichungen); Richard Grathoff, Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1989; Gerd-Günter Voß, Lebensführung als Arbeit. Über die Autonomie der Person im Alltag der Gesellschaft, Stuttgart 1991. 14 Alfred Schütz, Theorie der Lebensformen (Frühe Manuskripte aus der Bergson-Periode). Hg. von Ilja Srubar, Frankfurt a. M. 1981; ders. u. Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1979.

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Diesen Ansatz greift Jürgen Habermas in seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« auf.15 Allerdings wirft er Schütz und der verstehenden Soziologie vor, letztlich beim »Erleben einsamer Aktoren« (II, S. 198) stehenzubleiben und die Bedeutung der Kommunikation trotz ausdrücklicher Betonung im Grunde nicht zu erkennen.16 In diesem Verständnis werde »die Lebenswelt mit dem kulturell überlieferten Hintergrundwissen« identifiziert (II, S. 204), mit den »kulturellen Deutungs-, Wert- und Ausdrucksmustern« (II, S. 203). Dabei könnten wir aber nicht stehenbleiben, »wenn wir die Lebensweltanalyse als einen Versuch verstehen, das, was Durkheim Kollektivbewußtsein genannt hat (oder Halbwachs das kollektive Gedächtnis), aus der Innenperspektive der Angehörigen rekonstruktiv zu beschreiben« (II, S. 203). Habermas macht darauf aufmerksam, daß der Aktor zugleich der »Initiator zurechenbarer Handlungen und das Produkt von Überlieferungen (ist), in denen er steht, von solidarischen Gruppen, denen er angehört, von Sozialisations- und Lernprozessen, denen er unterworfen ist« (II, S. 204/205). Er hat also Elemente des kollektiven, kulturellen und kommunikativen sowie des sozialen Gedächtnisses – um die Begrifflichkeit der derzeitigen Erinnerungsforschung zu verwenden17 – einbezogen und gleichzeitig als das aktive »Eigene«, das in den bisherigen Gedächtnismodellen nur indirekt angesprochen ist, deutlich benannt.18 Konsequent gilt Habermas Lebenswelt als »Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln« 15 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1981 (Taschenbuchausgabe 1988, nach der im folgenden zitiert wird). Um die Anmerkungen nicht unnötig aufzublähen, stehen die unmittelbaren Seitennachweise im Text. 16 Diese Beschränkung sieht er etwa in der von Schütz und Luckmann 1979 vorgestellten Definition: »Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene [wer ist das?, HH] in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes [!, HH] als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.« Schütz u. Luckmann, Strukturen, wie Anm. 14, 25, hier zitiert nach Habermas, Theorie II, wie Anm. 15, 198. 17 Vgl. Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1985; ders., Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1996; Aleida Assmann u. Dietrich Harth, Hg., Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a. M. 1991; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kultuellen Gedächtnisses, München 1999; Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999; Harald Welzer, Hg., Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001. 18 Deutlich wird damit ein wegweisender Ausgangspunkt für die Rekonstruktion von Erinnerung, der die Lücke zwischen den Vorgängen im Individuum und jenen Modellen vielleicht zu schliessen vermag – eine zentrale Aufgabe gerade für die Geschichte der Juden.

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(II, S. 182, 198). Kommunikativ bedeutet für ihn »verständigungsorientiert« (II, S. 184, vgl. I, S. 149 ff., 410 ff., 435 ff.). »Aus der Perspektive von Teilnehmern erscheint die Lebenswelt als horizontbildender Kontext von Verständigungsprozessen (...)« (II, S. 205).19 Entscheidend für die Weiterentwicklung des Lebenswelt-Begriffes ist hier der Perspektivenwechsel auf den Teilnehmer, auf den Aktor. Aus seiner oder ihrer Sicht im Alltag (II, S. 206) wird Kommunikation, Handeln und Lebenswelt als »kognitives Bezugssystem« (II, S. 207) rekonstruiert. Wenn wir als Historikerinnen und Historiker dies tun, analysieren wir zugleich anhand von Kommunikationsprozessen und Interaktionen des Akteurs dessen Vernetzungen (II, S. 207). Im Begriff der Lebenswelt treffen sich bei Habermas strukturelle Komponenten, nämlich die Kultur – der Wissens- und Deutungsvorrat für die »Kommunikationsteilnehmer« – und die Gesellschaft – die sozialen Ordnungen und Bezüge – sowie diejenigen der Persönlichkeit, die ihr Kompetenzen verleihen und sie damit handlungsfähig machen, mit situationsbedingten, individuellen Faktoren (II, S. 209). Stärker als die phänomenologischen Philosophen und verstehenden Soziologen sieht Habermas die Dialektik des Prozesses zwischen Akteur, Binnenperspektive und Einflüssen von außen (II, S. 223 ff.). Deutlicher könnten wir formulieren: Die Historikerin oder der Historiker rekonstruiert die Vorgänge aus der Sicht des Akteurs in seiner Lebenswelt, analysiert insofern auch das, was auf ihn oder sie von außen einwirkt, etwa die sozialen Strukturen. Das bedeutet unbedingt, dass sich die Historikerin oder der Historiker in diesem Prozeß selbst reflektieren muß, um die verschiedenen Ebenen auseinanderzuhalten. Auf diesem Weg kommt Habermas zu einem weiteren maßgeblichen Unterschied gegenüber bisherigen Ansätzen. Er stellt fest, daß ein ausschließlicher Blick auf die Binnenperspektive des Aktors einen wesentlichen Bereich außer acht läßt: Die Gesellschaft ist auch von Vorgängen und Zusammenhängen geprägt, die der Akteur überhaupt nicht wahrnimmt, die er auch nicht beabsichtigt hat. Habermas nennt dies »systemische Mechanismen« (II, S. 226). Im Kapitalismus und im modernen Staat seien solche Systeme etwa der Markt, die Bürokratie oder das Rechtssystem. Im Grunde greift er hier auf Marx zurück, der festgestellt hatte, daß der Proletarier von Gesetzmäßigkeiten bestimmt werde, die sich »hinter seinem Rücken« vollzögen, die er also nicht durchschaue; erst im Sozialismus werde er durch bewußte Teilnahme an der Steuerung der Gesellschaft Herr dieser Gesetzmäßigkeiten werden. Laut Habermas stellen somit Lebenswelt und System zwei voneinander zu unterscheidende Mechanismen dar, die auf verschiedenen Arten von Handlungen und Interpretationsformen 19 Hier sei an Husserl erinnert.

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Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung

beruhen. Das lebensweltliche, kommunikative Handeln ist verständigungsorientiert. Systeme hingegen sind nach seiner Meinung selbstgesteuert, nicht kommunikativ. Eine Gesellschaft differenziere sich als System wie als Lebenswelt aus, Gesellschaften stellen »systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen« dar (II, S. 228). Habermas trennt beide Bereiche voneinander, entkoppelt sie (II, S. 229 ff.), auch wenn sie eng verbunden sind. Je stärker die systemischen Elemente seiner Meinung nach werden – und das gilt für den Prozeß von der archaischen Gesellschaft bis zur Moderne –, um so mehr lösen sie sich von den sozialintegrativen ab und um so nachhaltiger bestimmen sie die »eigensinnigen Strukturen der Lebenswelt« mit dem »vortheoretischen Wissen« ihrer Angehörigen (II, S. 229). Diese Lebenswelt bleibe als »Subsystem« durchaus erhalten. Schließlich komme es zu einer »Kolonialisierung« der Lebenswelt, die die Moderne kennzeichne (II, S. 293). Der Mensch werde immer stärker fremdgeleitet (vgl. II, S. 593). Es ist hier nicht der Ort, die Habermassche Theorie im einzelnen darzustellen und zu kritisieren.20 Ihr großes Verdienst ist es, den Begriff Lebenswelt differenziert entfaltet und ausgeleuchtet zu haben und über die bisherigen Vorstellungen hinausgegangen zu sein. Nicht zuletzt über Habermas hat der Begriff dann endlich auch Einzug in die Geschichtswissenschaft gehalten. Bald standen sich Alltags- sowie Sozial- und Strukturhistoriker gegenüber. Während sich die einen seit den achtziger Jahren vermehrt den »eigensinnigen« Verhaltensformen der Menschen im Widerstand gegen oder in der Anpassung an Systeme zuwandten21, nahmen die anderen den Habermasschen Gedankengang auf, daß die modernen Systeme die Lebenswelten zurückdrängten. Nicht die »kleinen Leute«, so argumentierte etwa Hans-Ulrich Wehler, bestimmten den Gang der 20 Vgl. zur Kritik etwa Ulf Matthiesen, Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns, München o.J. [1983]. Ich plane eine ausführlichere Darlegung des lebensweltlich orientierten Zugangs in der Geschichtswissenschaft und in diesem Zusammenhang auch eine intensivere Auseinandersetzung mit der Habermasschen Theorie. 21 Dabei kam es durchaus zu Kontroversen. Vgl. etwa Detlev Peukert, Arbeiteralltag – Mode oder Methode?, in: Heiko Haumann, Hg., Arbeiteralltag in Stadt und Land. Neue Wege der Geschichtsschreibung, Berlin 1982, 8–39; Alf Lüdtke, »Kolonisierung der Lebenswelten« – oder: Geschichte als Einbahnstraße? Zu Detlev Peukerts »Arbeiter-Alltag – Mode oder Methode?«, in: Das Argument 25 (1983) H. 140, 536–541; Detlev Peukert, Glanz und Elend der »Bartwichserei«. Eine Replik auf Alf Lüdtke, in: ebd., 542–549. Alf Lüdtke hatte zuvor schon den Anstoß gegeben, sich mit einem neuen Untersuchungskonzept der »Lebensweise« von Arbeitern zu nähern: Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation. Ein Arbeitsprogramm zu den Bedingungen »proletarischen Bewußtseins« in der Entfaltung der Fabrikindustrie, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 11, Frankfurt a.M. 1978, 311–350.

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Geschichte, sondern die Systeme: der Staat, der Kapitalismus, die Bürokratie, der Markt, die Ideologien.22 Die Systeme wurden auf diese Weise zu Handlungsträgern der Geschichte. Die Hinwendung zu den »kleinen Leuten« könne die moderne Welt nicht mehr erklären, sei nur für die früheren, eher lebensweltlich organisierten Gesellschaften analytisch sinnvoll. Im Grunde setzt sich dieser Ansatz auch in neueren Theorien fort, so wenn Wissenschaftler, die mit einem enggefassten Diskursbegriff arbeiten, davon ausgehen, daß nicht Menschen, sondern Diskurse in den gesellschaftlichen Prozessen handelten.23 Rudolf Vierhaus sieht hingegen in der »Rekonstruktion historischer Lebenswelten« eine Möglichkeit, den »Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte« (S. 9) auf »die von den Menschen erfahrenen (…) Wirklichkeiten des gesellschaftlichen Prozesses« (S. 8) zu erweitern. Unter »Lebenswelt« versteht er »die – mehr oder weniger deutlich – wahrgenommene Wirklichkeit (…), in der soziale Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklichkeit produzieren« (S. 13). Der Mensch könne im Laufe seines Lebens »in verschiedenen Lebenswelten gleichzeitig leben« (S. 14). Wenn Lebenswelt »raum- und zeitbedingte (…) gesellschaftlich konstituierte, kulturell ausgeformte, symbolisch gedeutete Wirklichkeit« sei (S. 14), ließen sich »strukturanalytische Methoden der Sozialwissenschaft mit phänomenologischen Methoden der Kulturwissenschaften verbinden und die Dichotomien zwischen objektiven Strukturen sozialer Wirklichkeit und subjektiven Vorstellungen von dieser Wirklichkeit überwinden« (S. 14/15). Der Historiker, von der ethnologischen Methode der »teilnehmenden Beobachtung« lernend, trete in einen »Prozeß der sich gegenseitig kontrollierenden Interpretation und der dichten Beschreibung« ein (S. 15). Diese angestrebte »›histoire totale‹ von konkreten Lebenswelten« begreife sich als »historische Kulturwissenschaft« (S. 16).24 22 Hans-Ulrich Wehler, Geschichte – von unten gesehen, in: Die Zeit Nr. 19, 3.5.1985. 23 So hat Philipp Sarasin auf das Problem aufmerksam gemacht, dass Foucault Diskurse als »autonome Gebilde« konzipiert habe, »die das Subjekt zum bloßen Effekt macht« (Philipp Sarasin, Diskurstheorie und Geschichtswissenschaft, in: Reiner Keller u.a., Hg., Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden, Opladen 2001, 53–79, hier 70). Vgl. auch Ute Daniel, Erfahrung – (k)ein Thema der Geschichtstheorie?, in: L’Homme 11 (2000) H. 1, 120–123. 24 Rudolf Vierhaus, Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Hartmut Lehmann, Hg., Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995, 7–28 (auch hier nenne ich die unmittelbaren Seitennachweise im Text). Vgl. Otto Gerhard Oexle, Geschichte als historische Kulturwissenschaft, in: Wolfgang Hardtwig u. Hans-Ulrich Wehler, Hg., Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, 14–40. Stärker als Vierhaus, der auf dem erreichten Stand der modernen Sozialgeschichte aufbaut, geht es Oexle um eine Tradition von der Kulturgeschichte um 1900 her.

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Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung

Mit der Kategorie der Lebenswelt kann am Habermasschen Hinweis angeknüpft werden, Akteur, Binnenperspektive und Einflüsse von außen – eben die Systeme – stünden in einem dialektischen Zusammenhang. Warum soll das seit dem 19. Jahrhundert anders sein? Die Systeme handeln nicht selbst, sondern vermittelt über Menschen: Angehörige der Bürokratie, Teilnehmer der Marktprozesse, Ausführende der Rechtsordnung. Für diese Menschen sind jene Systeme unmittelbare Teile ihrer Lebenswelt. Und für diejenigen, die von den systemischen Elementen eher betroffen sind als dass sie sie aktiv tragen, sind sie es im Grunde auch: Sie müssen sich ständig mit der Arbeits- und Sozialordnung, mit dem Recht, mit dem Markt auseinandersetzen. Indirekt gestalten sie damit diese Systeme mit. Darauf hatte bereits Habermas hingewiesen: der Akteur sei nicht nur »Produkt«, sondern auch »Initiator«. Und warum soll im lebensweltlichen Bereich, ohne die Bedeutung von Wahrnehmung und Erfahrung schmälern zu wollen, nur das intuitive, vortheoretische Wissen eine Rolle spielen? Die Beschäftigung mit Wissenschaft und Theorie kann durchaus zum Alltag gehören. Insofern wäre es angemessen, auch für die Neuzeit nicht von einem Gegensatz von System und Lebenswelt, nicht von zwei voneinander weitgehend abgelösten Bereichen zu sprechen, sondern die systemischen Elemente partiell – und individuell unterschiedlich – in die jeweiligen Lebenswelten zu integrieren. Allerdings müsste dann ebenfalls die Habermassche Annahme aufgeben werden, Kommunikation sei immer verständigungsorientiert. Auch konflikt- oder gar gewaltorientierte Interaktion kann eine Form der Kommunikation sein. Der lebensweltlich orientierte Zugang zur Erforschung von Geschichte versteht sich als Teil einer Kulturwissenschaft, die »Kultur« in einem weiten Sinn als »Medium historischer Lebenspraxis« begreift.25 Im Mittelpunkt steht somit der Mensch in seinen Verhältnissen. Welche symbolischen Ordnungen einschließlich Verschlüsselungen, Codes, Einstellungen, Normen und Werte bestimmen das Verhalten von Menschen? Über welche Deutungsmuster kann er verfügen? Wie verarbeitet er Wahrnehmungen und Erfahrungen? Dieser kulturwissenschaftliche Blick auf Menschen und ihre Geschichte muß sich deshalb untrennbar von ihnen aus auf die Beziehungen zu anderen Menschen – zu Einzelnen und zu sozialen Gruppen –, zu den symbolischen Ordnungen und ihren Repräsentationen, zu den Strukturen in der Gesellschaft und deren Einflüssen auf das Leben einzelner Menschen richten, auf ihre Verknüpfung mit der jeweiligen Umwelt, auf Vernetzungen und Mechanismen. Bei einer solchen Perspektive besteht kein Gegensatz zwischen individueller Lebenswelt und gesellschaftlicher Struktur, zwischen Mikro- und Makro-Geschichte, sondern die 25 Editorial, in: Historische Anthropologie 1 (1993), 1.

Das Basler Beispiel 

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Lebenswelt bildet gleichsam die Schnittstelle, in der sich Individuum und System bündeln.26 Das Individuum findet in seiner Lebenswelt eine bestimmte Situation vor, etwa materielle Bedingungen, politisch-gesellschaftliche Verhältnisse, vorherrschende Ideologien. In einer Wechselwirkung mit Natur und Sozialwelt bilden sich in seiner Innenwelt Gefühle, Einstellungen, Wahrnehmungsweisen heraus. Der Mensch verarbeitet auf diese Weise die Außen- und Innenwelt. Er entwickelt bestimmte Denk- und Verhaltensweisen, Handlungen, die die Strukturen möglicherweise ebenso verändern wie seine eigene Innenwelt. Mit der Analyse der individuellen Lebenswelt werden somit zugleich exemplarisch Strukturen und Systeme – materielle, symbolische, mentale, emotionale – analysiert. Da das Individuum nicht isoliert lebt, sondern im Kontakt mit anderen Individuen und deren Lebenswelten steht, bleibt die Analyse nicht im PunktuellBeliebigen stecken, sondern kann das Netz interkultureller gesellschaftlicher Beziehungen sichtbar machen. Zusammenhänge und Mechanismen in ihren wechselseitigen Bedingungen geraten ins Blickfeld, die Geschichte zerfällt nicht in lauter Einzelteile. Zugleich wird es möglich, eine vorzeitige Blickverengung auf eine reine Strukturgeschichte, auf nur subjektive »Geschichten« oder auf symbolische Systeme zu vermeiden. Die Lebenswelt der Akteure steht jeweils in ihrem historischen Kontext. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, die gesellschaftlichen – kulturellen, geschlechtsbezogenen und sozialen – Unterschiede, die Herrschaftsorganisation und Machtverteilung werden mit untersucht. Individuelle, lokale, Regional- und Alltagsgeschichte in ihrem uneinheitlichen, vielschichtigen und fragmentarischen Nebeneinander sind zugleich Gesellschaftsgeschichte.27 26 Dieses Konzept wäre auch in Beziehung zu setzen zu Norbert Elias’ Begriff der »Figurationen«, dynamischer gesellschaftlicher Formationen von Verflechtungen der Menschen untereinander wie mit strukturellen Vorgängen: Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Darmstadt u. Neuwied 1969 (Neuauflage Frankfurt a.M. 1983 u.ö.), 312 f.; ders., Was ist Soziologie?, München 1970, 139 ff. Eine wichtige Rolle in seinen Analysen (auch im »Prozess der Zivilisation») spielt das Spannungsgleichgewicht innerhalb solcher Figurationen. In der Geschichtswissenschaft ist dieser Ansatz bisher kaum rezipiert worden; vgl. Roger Chartier, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, 37–57; Gerd Schwerhoff, Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift 266 (1998) 563–605, hier 572–573, 592–593, 600. 27 Dies sollte nicht als Anspruch missverstanden werden, jeweils eine »umfassende« Geschichte vorlegen zu wollen, sondern es geht mir in dieser Konzeptskizze um die Blickrichtung bei Untersuchungen. Vgl. in diesem Zusammenhang Karin Hausen, Die NichtEinheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz

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Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung

Indem Historikerinnen und Historiker den Kommunikationsprozess der untersuchten Individuen verfolgen, treten sie selbst in ihn ein: Sie versuchen, sich den Menschen und deren Lebenswelten, wie sie sie in den Quellen kennenlernen, so zu nähern, als säßen sie ihnen im Zeitzeugengespräch der »Oral History« gegenüber und müssten dies anschliessend auswerten – wenngleich im Bewusstsein, keineNachfragen stellen zu können. Für sie ist der Mensch in den Quellen ein ernstzunehmender Dialogpartner, nicht lediglich ein Untersuchungsobjekt, seine Äußerungen und Handlungen dienen nicht einfach als illustrierende Belegstelle. Das bedeutet, in die vielfältigen Wechselbeziehungen und -wirkungen die kritische Reflexion des eigenen Vorverständnisses, der ihm bekannten oder neu anzueignenden Theorien und Methoden sowie des laufenden Bewusstmachungsprozesses mit einzubringen. Durch diesen Dialog wird es auch möglich, sich »das Eigene« »fremd« zu machen und umgekehrt.28 und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick u. Anne-Charlott Trepp, Hg., Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, 15–55. 28 Ausser bereits zitierten Werken nenne ich hier noch einige Titel, auf die sich meine Überlegungen stützen: Historische Anthropologie im Widerstreit [mehrere Beiträge], in: Historische Anthropologie 10 (2002) H. 2 (ich danke Norbert Schindler, dass er mir seinen Aufsatz »Vom Unbehagen in der Kulturwissenschaft. Eine Polemik« als Manuskript zugänglich gemacht hat); Joachim Eibach u. Günther Lottes, Hg., Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002; Hans Medick, Quo vadis Historische Anthropologie? Geschichtsforschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Mikro-Historie, in: Historische Anthropologie 9 (2001), 78–92; Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a.M. 2001; Rainer Maria Kiesow u. Dieter Simon, Hg., Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. u. New York 2000; Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz, Hg., Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, 557–578; Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. Teil 1, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), 195–219, Teil 2, ebd. 259–278; Martin Dinges, »Historische Anthropologie« und »Gesellschaftsgeschichte«. Mit dem Lebensstilkonzept zu einer »Alltagskulturgeschichte« der frühen Neuzeit?, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), 179–214; Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen!, in: WerkstattGeschichte 6 (1997) H. 17, 83–91; Philipp Sarasin, Arbeit, Sprache – Alltag. Wozu noch »Alltagsgeschichte»?, in: ebd. 5 (1996), 72–85; Edwin Dillmann, Hg., Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert), St. Ingbert 1996; Wolfgang Kaschuba, Kulturalismus: Kultur statt Gesellschaft?, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 80–95; Heiko Haumann u. Martin Schaffner, Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften, in: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel 70 (1994), 18–21; Winfried Schulze, Hg., Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994; Berliner Geschichtswerkstatt, Hg., Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zu Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994; Olivia Hochstrasser, Ein Haus und seine Menschen 1549–1989.

Das Basler Beispiel 

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Als Beispiel eines solchen Vorgehens erwähne ich ein eigenes Projekt. Nach verschiedenen Vorstudien29 möchte ich jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930 unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation rekonstruieren. In einer ersten Annäherung habe ich die Sichtweisen von Jüdinnen und Juden anhand exemplarischer Selbstzeugnisse mit den Begegnungsorten im Schtetl in Beziehung gesetzt – so, als würde bei einem fiktiven Rundgang jemand aus seinem Leben erzählen. Ansatzweise wurden dabei die Umrisse des Kommunikationsgefüges im Schtetl deutlich. Die gewissermassen selbstverständliche Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden funktionierte so lange, wie der Gleichgewichtszustand, der sich herausgebildet hatte, nicht gestört wurde. Befürchtungen, dass unterschwellig vorhandene Spannungen aufbrechen, etwa judenfeindliche Klischees innerhalb der Dialektik von vertraut und fremd in gewalttätige Aktionen umschlagen könnten, waren vielfach gegenwärtig. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft kam ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck. Der Verlust des Gleichgewichtszustandes wirkte jedoch durchaus auf sie zurück. Um das Gleichgewicht zu erhalten, waren die verschiedenen Kommunikationsräume im Schtetl klar umrissen und sorgfältig voneinander getrennt, aber zugleich durch formell geregelte Beziehungen – so durch die Einbeziehung von Christen in rituell-religiöse Handlungen der Juden – wie auf informelle Weise durch gegenseitige Achtung und viele Kontakte verbunden. Störungen ergaben sich vor allem, wenn jemand von der einen in die andere Welt vorzustoßen suchte: Eine christlich-jüdische Liebesbeziehung brachte die Ordnung durcheinander, die Suche nach einer auskömmlichen Existenz ließ Juden und Christen zu ökonomischen Konkurrenten werden, ein selbstbewusster jüdischer Sozialist oder Zionist drang in nichtjüdische Bereiche vor und erregte damit Befremden, nicht zuletzt in seinem bisherigen jüdischen Umfeld. Die demographischen, wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Veränderungen Ein Versuch zum Verhältnis von Mikroforschung und Sozialgeschichte, Tübingen 1993; Alf Lüdtke, Hg., Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt u. New York 1989; Heiko Haumann, Rückzug in die Idylle oder ein neuer Zugang zur Geschichte? Probleme und Möglichkeiten der Regionalgeschichte, in: Alemannisches Jahrbuch 1984/86 (1988), 7–21; Alf Lüdtke, »Fahrt ins Dunkle?« Erfahrung des Fremden und historische Rekonstruktion, in: Ursula A. J. Becher u. Klaus Bergmann, Hg., Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben? Sammelband zum 10jährigen Bestehen der Zeitschrift »Geschichtsdidaktik«, Düsseldorf 1986, 69–78; Gert Zang, Die unaufhaltsame Annäherung an das Einzelne. Reflexionen über den theoretischen und praktischen Nutzen der Regional- und Alltagsgeschichte, Konstanz 1985. 29 Z. B. Heiko Haumann, Zionismus und die Krise jüdischen Selbstverständnisses. Tradition und Veränderung im Judentum, in: ders., Hg., Traum, wie Anm. 3, 9–64; ders.: Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert, in: ders., Hg., Luftmenschen, wie Anm. 2, 309–337.

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Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung

seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten andere Kommunikationsregeln notwendig. Das Ringen um einen neuen Gleichgewichtszustand war in manchen Selbstzeugnissen spürbar.30 In einem nächsten Schritt könnte aufgrund der vorläufigen Ergebnisse ein Fragenkatalog zusammengestellt werden, mit dessen Hilfe die Berichte der Gewährsleute noch einmal zu durchdenken wären. Abgesehen von Unterscheidungen nach Alter, Geschlecht, sozialem Rang, religiöser und politischer Einstellung ließen sich etwa die Konfliktregelungen im Schtetl oder in anderen Siedlungsformen genauer untersuchen, weiterhin die Wechselwirkungen zwischen Gefühlen, Einstellungen sowie Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensweisen mit den jeweiligen materiellen und symbolischen Strukturen, die Zusammenhänge der persönlichen Ebenen mit den übergreifend gesellschaftlichen thematisieren. Schließlich könnten im Dialog mit den Selbstzeugnissen Erinnerungsvorgänge verdeutlicht und gefragt werden, was sie für die Lebensgestaltung und für das Zusammenleben mit Juden wie mit Nichtjuden bedeuteten. Im Vergleich mit Selbstzeugnissen aus anderen kulturellen Zusammenhängen wäre der Stellenwert von Erinnerung für Verhalten und interkulturelle Beziehungen präziser zu fassen. Die lebensweltliche Orientierung hätte den Akteuren ihren Platz in der Geschichte gegeben, den sie eingenommen hatten, und aus ihrer Perspektive einen Ausschnitt gesellschaftlicher Vorgänge entschlüsselt. In der Auseinandersetzung mit den Quellen und in der Selbstreflexion können Historiker sowie – vielleicht – Leserinnen und Leser die Zusammenhänge von individuellem Denken und Handeln mit Strukturen nachvollziehen, gleichsam »probehandeln«, und Folgerungen für sich selbst ziehen. 30 Heiko Haumann, Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930, in: Nada BoŠkovska u. a., Hg., Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, Köln u.a. 2002, 323–348. Für einen besonderen Bereich ders., Juden in der ländlichen Gesellschaft Polens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Piotr Franaszek u. Josef Mooser, Hg., Ländliche Gesellschaften im 19./20. Jahrhundert. Methoden und Perspektiven der Agrargeschichte an Beispielen aus Polen und der Schweiz [in Vorb. (inzwischen anderweitig erschienen; beide Aufsätze sind im vorliegenden Band abgedruckt)]. Vgl. Norbert Elias’ Überlegungen zum Spannungsgleichgewicht innerhalb von Figurationen (Anm. 26). Den labilen Gleichgewichtszustand bestätigen, mit unterschiedlichen Ansätzen, für südwestdeutsche Landjudengemeinden Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien u.a. 1999; Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999; Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940, Hamburg 2000. Weitere Regionalstudien zu den jüdischen Gemeinden in Südbaden, im Elsass und in der Schweiz werden vom Institut für Jüdische Studien sowie vom Historischen Seminar in Basel angestrebt, teilweise in Kooperation mit anderen Institutionen.

Geschichte, Lebenswelt, Sinn Über die Interpretation von Selbstzeugnissen*

1. Selbstzeugnisse als historische Quelle. Selbstzeugnisse sind Sinnkonstruktionen.1 In ihnen tritt ein Mensch »selbst handelnd oder leidend in Erscheinung«.2 In Tagebüchern, Briefen, Autobiographien, Gesprächen oder durch Fotografien und Filmaufnahmen erinnert sich der Mensch an Stationen seines Lebens. Für den Historiker sind dies erstrangige Quellen, die allerdings auch eine besondere Herausforderung darstellen. Die Erinnerung eines Menschen spiegelt nicht das unmittelbar Erlebte. Bereits während des Speichervorgangs wird dieses verarbeitet und damit zu einer Erfahrung.3 In der Erinnerung wird deshalb aus dem Gedächtnis eine gespeicherte Erfahrung mobilisiert. Spätere Erfahrungen, neue Sichtweisen, Einflüsse von außen verändern das Gespeicherte ebenso wie jeder Erinnerungsvorgang selbst aufgrund des komplizierten Aufbaus und der Arbeitsweise des Gehirns mit seinen Milliarden Zellen und Verknüpfungen.4 * Erstpublikation in: Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Hg. von Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche. Weilerswist 2006, S. 42–54. 1 Mit Emil Angehrn verbindet mich eine langjährige Freundschaft. Wir wurden fast gleichzeitig an die Universität Basel berufen und haben bald zahlreiche gemeinsame Interessen entdeckt. Unsere fachliche Zusammenarbeit begann am 20.1.1993 mit einem Vortrag Emil Angehrns in dem von mir angebotenen Kolloquium zur osteuropäischen Geschichte über »Geschichte und Identität«. Später haben wir zusammen mit Martin Schaffner gemeinsame Lehrveranstaltungen durchgeführt, in denen ich viel gelernt habe: »Erinnern und Vergessen« (Sommersemester 2003); »Demokratie zwischen Vergangenheit und Zukunft« (Sommersemester 2005). Besonders wichtig für meine eigenen Arbeiten waren unsere Diskussionen über die lebensweltliche Orientierung in der Geschichtswissenschaft. 2 Benigna von Krusenstjern, »Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert«, in: Historische Anthropologie 2 (1994) S. 462–471, hier S. 463; Winfried Schulze, »Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?«, in: Bea Lundt, Helma Reimöller (Hg.), Von Aufbruch und Utopie, Köln usw. 1992, S. 417–450. 3 Vgl. Kaline Hoffmann, »Die Erfahrung der ›anderen Welt‹: Polinnen und Polen im GULag, 1939–1942«, in: Brigitte Studer, Heiko Haumann (Hg.) Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953, Zürich 2006, S. 455–466. 4 Vgl. Jürgen Bredenkamp, Lernen, Erinnern, Vergessen, München 1998, bes. S. 45–67, 82– 86; Alexander R. Lurija, Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie, Reinbeck 1992, bes. S. 284–306; Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2002; Hans-Joachim Markowitsch, Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen, Darmstadt 2002; Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2004.

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Geschichte, Lebenswelt, Sinn

Gegen die Auffassung, Erinnerungen wegen ihrer möglichen Unzuverlässigkeit zunächst einmal »prinzipiell als falsch« anzusehen, 5 ist einzuwenden, dass sich bei selbstverständlicher kritischer Prüfung dieser Quellen wesentliche Erkenntnisse ergeben. Bei meinen eigenen Arbeiten, soweit sie überwiegend auf Selbstzeugnissen beruhen,6 hat sich herausgestellt, dass uns die Selbstzeugnisse wichtige Informationen – »harte Fakten« – liefern, die uns sonst nicht ohne weiteres zugänglich wären. Selbstzeugnisse aus der Zeit des Stalinismus geben zum Beispiel Einblicke in die damaligen Lebensverhältnisse, Verfahren bei Verhaftungen und Verhören während des Terrors, Zustände in den Straflagern, Mechanismen von Denunziationen und Aktivitäten der Geheimpolizei. Darüber hinaus lernen wir in ihnen die Vorstellungen kennen, die »Täter« und »Opfer« geprägt haben, die Begründungen für ihr Handeln, ihr Selbstverständnis und dessen Verhältnis zum gesellschaftlichen Normensystem. Und schließlich erfahren wir viel über die Verarbeitung des Geschehenen und über die Zumessung von Sinn. 2. Selbstzeugnisse und Sinnbildung. In mehreren meiner Fallstudien werden Formen von Sinnkonstruktionen sichtbar. So benutzen manche der Akteure, die sich mit dem Stalinismus auseinandersetzen, Deutungsangebote in der Gesellschaft, sozusagen das »kulturelle Gedächtnis«,7 um sich die Vorgänge, in die sie hineingeraten waren, zu erklären: Ihre Sinnkonstruktionen reichen von dem Motiv einer Schuldzuschreibung an einzelne Personen über eine Einordnung des Stalinismus als verbrecherische »Entartung« des Sozialismus bis hin zu Erklärungsmustern, die den Stalinismus als Teil einer von Größe und Leid bestimmten Geschichte Russlands, als Variante des Totalitarismus oder als Begleiterscheinung der Zivilisationsgeschichte verstehen. Andere beschränken sich 5 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 48. 6 Vor allem beziehe ich mich auf zwei Arbeiten, ohne sie im Folgenden jeweils nachzuweisen: »›Eine sozialistische Lebensweise der Zukunft‹. Die Sowjetunion zwischen 1929 und 1939«, in: Eva Maeder, Christina Lohm (Hg.) Utopie und Terror. Josef Stalin und seine Zeit, Zürich 2003, S. 15–39; »Die Verarbeitung von Gewalt im Stalinismus am Beispiel ausgewählter Selbstzeugnisse. Methodische Bemerkungen und ein Werkstattbericht«, in: Studer, Haumann (Hg.) Stalinistische Subjekte, S. 379–396. 7 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, hier bes. S. 50–52. Ich verzichte auf eine Darlegung der Diskussion in den letzten Jahren über »Gedächtnis« und »Erinnerung«. Vgl. Harald Welzer, »Gedächtnis und Erinnerung«, in: Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen (Hg.) Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3. Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 155–174; Emil Angehrn, »Kultur und Geschichte – Historizität der Kultur und kulturelles Gedächtnis«, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hg.) Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar 2004, S. 385–400.

Über die Interpretation von Selbstzeugnissen 

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darauf, nur noch Zeugnis ablegen zu wollen, damit sich derartige Entwicklungen nicht wiederholen. Sie wollen stellvertretend für die Ermordeten und Überlebenden sprechen, auch im Interesse künftiger Generationen. Aus den verschiedenen Verarbeitungsweisen lässt sich folgern: Erinnerung prägt das Selbstverständnis des Menschen und steuert Handeln.8 Sie trägt wesentlich zur Praxis des Akteurs bei und verleiht ihr Sinn. Die Erinnerung bestimmt ganz entscheidend die Sinnkonstruktion des Menschen.9 »Sinn« ist dabei geradezu eine Existenzfrage. Im 19. Jahrhundert war nicht nur unter Geschichtsphilosophen die Hoffnung weit verbreitet, es zeichne sich durch die Entwicklung der Vernunft ein mehr oder weniger geradliniger Fortschritt ab.10 Die Erkenntnisse der Wissenschaft, die wirtschaftlichen Erfolge der Industrialisierung, neue Lebensformen durch die Urbanisierung und die Umwandlung vieler Monarchien in demokratische Verfassungsstaaten mit einer gesetzlichen Garantie der Menschenrechte schienen diese Erwartungen zu rechtfertigen. Das 20. Jahrhundert hat sie endgültig zunichte gemacht. Unvorstellbare Verbrechen an Menschen durch Menschen haben ebenso wie die Schattenseiten von Industrialisierung und Urbanisierung bewusst gemacht, dass es keinen linearen Aufstieg zu einer gerechten, humanen Gesellschaft gibt. Diese Hoffnung auf einen »Sinn« in der Geschichte der Menschheit hat sich zerschlagen.11 Was bleibt, ist der Versuch, sich selbst, seiner eigenen Geschichte, seinem eigenen Denken und Handeln einen Sinn zu geben.12 Wenn sich Menschen erinnern, wollen sie in der Regel ein Stück weit die Welt und zugleich sich selbst verstehen. Erinnern ist also auch Selbstvergewisse8 Vgl. als Beispiel Heiko Haumann, »Fußball, Veit Harlan und die Volkspolizei 1953. Ein Fall von Hooliganismus im Elztal?«, in: »s Eige zeige«. Jahrbuch des Landkreises Emmendingen für Kultur und Geschichte 16 (2002) S. 111–116. 9 Vgl. Jörn Rüsen, »Was heißt: Sinn der Geschichte? (Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn)«, in: Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Hg.) Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek 1997, S. 17–47, bes. S. 27. Siehe auch die übrigen Beiträge dieses Bandes. 10 Vgl. Emil Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart usw. 1991, Teil B (auch zu philosophischen Tendenzen, die dieses Fortschrittsdenken nicht teilten). 11 Siehe etwa Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947; Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992; Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, S. 141–145. Vgl. Angehrn, Geschichtsphilosophie, S. 180. 12 Hier geht es um den Sinn als Wert und Zweck, bezogen auf das eigene Leben. Vgl. Emil Angehrn, »Vom Sinn der Geschichte«, in: Volker Depkat u. a. (Hg.) Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit, Stuttgart 2004, S. 15–30, hier S. 21–23; ders., Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist 2003, S. 18–20.

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rung, das Streben danach, mit sich selbst im Reinen zu sein.13 »Erinnerung und Geschichtskultur (sind) unersetzbare und wesentliche Bestandteile menschlichen Existierens«.14 Wer über seine Erinnerung nach Sinn sucht, braucht unmittelbar einen Sinn für Geschichte.15 Eine solche Art der Erinnerung muss damit fertig werden, den Sinn nicht in einer in sich abgeschlossenen Erklärung zu suchen, sondern in der Vielheit und Differenz.16 Daraus folgt, dass anstelle eines einheitlichen Sinns mehrere Sinnbildungen nebeneinander stehen können. Die Menschen setzen sich in ihren Erinnerungen mit ihrer Vergangenheit, mit ihrer Welterklärung und mit sich selbst auseinander. Im Denken an Erlebtes und Erfahrenes vollziehen sie all dies nach, wiederholen es,17 führen auch ein gedankliches »Probehandeln« durch: Hätte ich anders handeln können? Was hat mich dazu gebracht, mich so zu verhalten? Wie würde ich mich heute entscheiden? Ein neuer »Sinn« entsteht. 3. Erinnerung und Selbstzeugnisse. Wie können wir uns über Erinnerungsvorgänge in Selbstzeugnissen klarer werden? Auszugehen haben wir von den Erkenntnissen der neurowissenschaftlichen Forschung.18 Dabei wird bestätigt, dass der »soziale Rahmen« des Gedächtnisses, die Interaktion und Kommunikation des Menschen mit seiner Umgebung beachtet werden müssen.19 Über lange Zeiträume hinweg kann sich ein Mythos, ein bestimmtes Bild aufbauen, das in den Erinnerungsbestand einer Gesellschaft eingeht, sich verfestigt und das die eigene Vorstellung prägt.20 Ebenso wird immer wieder von gesellschaftlichen Gruppen versucht, eine bestimmte kollektive Identität zu formen, »Geschichte als Waffe« zu benutzen, um über »Erinnerungsfiguren« (Assmann) oder über geschichtliche Ereignisse als Metaphern (z. B. »Auschwitz«)21 Werte 13 14 15 16 17

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Vgl. Angehrn, »Vom Sinn der Geschichte«, S. 24, 25, vgl. S. 26–28. Angehrn, Geschichtsphilosophie, S. 183. Angehrn, »Vom Sinn der Geschichte«, S. 17. Angehrn, »Dekonstruktion und Hermeneutik«, in: Andrea Kern, Christoph Menke (Hg.) Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt a. M. 2002, S. 177–199, hier S. 185–186. Vgl. Sigmund Freud, »Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten«, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u. a. Bd. 10, 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1973, S. 126–136; Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. 19. Aufl. München 1987, S. 24 u. ö. Vgl. Anm. 4. Dazu Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1985; ders., Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1996. Vgl. Emil Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt a. M. 1996. Spätestens seit dem Frankfurter »Auschwitz-Prozess« von 1963 bis 1965 wurde »Auschwitz« zur Metapher für die Judenvernichtung während des »Dritten Reiches«. Offizielle deutsche Stellen rechtfertigten den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Konflikt

Über die Interpretation von Selbstzeugnissen 

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zu prägen, die das Handeln der Menschen beeinflussen sollen. Darüber hinaus sind Wirkungen aus dem unmittelbaren Umfeld ebenso zu berücksichtigen wie unbewusste Reaktionen und Assoziationen.22 Weiter steht eine Erinnerung immer in einem Bezug zu Raum und Zeit. All dies bedeutet, dass wir über Erinnerungen sowie die damit verbundenen Lebenswelten unschätzbare Einblicke in die geschichtlich-gesellschaftliche Entwicklung, in Handlungsspielräume und Deutungsmuster, in Strategien, Netzwerke, Mechanismen und den »Eigen-Sinn« der Akteure erhalten. Zu diesem Zweck müssen wir die erwähnten Wechselwirkungen der individuellen Erinnerung mit kollektiven Erinnerungen untersuchen. Exemplarisch können wir die Einflüsse von Familie, Freundes- und Bekanntenkreisen, sonstigen sozialen Gruppen, von Medien oder von der Erinnerungspolitik der Regierung und sozialer Verbände erkennen, ebenso die Einwirkungen von Individuen oder kleiner Kollektive auf das »kulturelle Gedächtnis« größerer sozialer Einheiten. Wir sehen zugleich, wie sich Erinnerung in diesen dynamischen Prozessen stetig wandelt, ganz abgesehen von den Veränderungen, die durch Abläufe im Gehirn entstehen. 4. Methodische Folgerungen für die Interpretation. Welche methodischen Folgerungen ergeben sich durch meine bisherigen Überlegungen? Da der Mensch, der Akteur, im Mittelpunkt steht und von ihm aus der Blick auf die Gesellschaft geworfen wird, ist aus seinen Selbstzeugnissen sowie anderen verfügbaren Quellen seine Lebensgeschichte soweit wie möglich zu rekonstruieren und in den historischen Kontext zu stellen. Zugleich suchen wir nach Motiven und Sinnkonstruktionen, nach Grundeinstellungen, biographischen Wendepunkten und Schlüsselerlebnissen mit hoher emotionaler Besetzung. Wesentlich ist der Vergleich mit anderen Quellen, die sich unmittelbar darauf beziehen, mit dem Forschungsstand zur jeweiligen Zeit sowie mit sonstigen Selbstzeugnissen. Auf diese Weise können kollektive Erfahrungen, sozusagen tatsächliche »kollektive Gedächtnisse«, Einflüsse von gesellschaftlichen Diskursen, Deutungsmustern und Normen sowie die Unterschiede zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit 1998/99 damit, dass Deutschland die Lehren aus seiner Vergangenheit gezogen habe und ein »neues Auschwitz« verhindern müsse. Vgl. Heiko Haumann, »Geschichte als Waffe. Über die Bedeutung einer Aufarbeitung der Vergangenheit Südosteuropas«, in: Dejan Mikić, Erika Sommer, »Als Serbe warst du plötzlich nichts mehr wert.« Serben und Serbinnen in der Schweiz, Zürich 2003, S. 183–196. 22 Harald Welzer (Hg.) Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001; ders., Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. Vgl. Heidemarie Uhl, »Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: Die Transformationen des österreichischen Gedächtnisses«, in: Monika Flacke (Hg.) Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 2, Berlin 2004, S. 481–502.

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erfasst werden.23 Die Wechselbeziehungen zwischen der persönlichen Erfahrungswelt und den gesellschaftlichen Bedingungen werden sichtbar. Gerade an den Wende- und Schlüsselpunkten der Lebensgeschichte lohnt es sich, sehr detailliert zu analysieren, um die verschiedenen Schichten der Erinnerung freizulegen, die Kommunikationsvorgänge zu erhellen, die Formen kollektiver Erinnerung nachzuzeichnen und in einen Dialog mit dem Akteur zu treten. Ähnlich wichtige Ansatzpunkte für diesen Dialog sind »Fenster zur Erinnerung«, die in den Selbstzeugnissen deutlich werden, Widersprüche und »Stolpersteine« in der Erzählung, Nicht-Erzähltes, Tabus, Abwehr von Einsichten, besondere Ereignisse, die aus dem Gewohnten herausfallen. Sprachpragmatische Methoden können textinterne Kriterien für die »Wahrhaftigkeit«, für die Nähe zum Erlebten wie für spätere Einflüsse herausarbeiten. Stets ist es dabei erforderlich, die Interpretationen, die sich Menschen über ihr Leben geben, selbst zu interpretieren.24 5. Die Relevanz des Konzepts »Lebenswelt« in der Geschichtswissenschaft. In welchem Verhältnis stehen Erinnerung und Lebenswelt? Was bedeutet lebensweltliche Orientierung in der Geschichtswissenschaft?25 Anders als beim Milieu-Begriff, der sich auf das natürliche und soziale Umfeld eines Menschen oder einer Gruppe bezieht,26 steht der Mensch, das Individuum, der historische Akteur selbst im Mittelpunkt der lebensweltlichen Betrachtung. Von ihm aus fällt der Blick auf die Milieubedingungen sowie die symbolischen Ordnungen, Deutungsmuster, Ideologien, Normen und Werte, die das Denken und Handeln des Menschen, seine Praxis, seine Kultur bestimmen. Mit diesen überindividuellen Faktoren schließt eine Analyse der Lebenswelt die Analyse von strukturellen Bereichen – materiellen, mentalen, emotionalen, symbolischen – ein. Und da der Mensch nicht isoliert lebt und ein dynamisches Wesen ist, das nicht nur Einflüsse aufnimmt, sondern mit seiner Praxis auch auf die Umgebung und auf die Strukturen einwirkt, befinden sich gleichermaßen die Vernetzung mit anderen Menschen und deren Lebenswelten sowie die Wahrnehmung und Verarbeitung der strukturellen Bedingungen im 23 Vgl. z. B. Bernhard Giesen, Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt a. M. 1999; Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000. 24 Vgl. Angehrn, Interpretation; Pavel Kouba, »Was ist Interpretation?«, in: ders., Der Sinn der Endlichkeit, Würzburg 2005, S. 65–73. 25 Vgl. Heiko Haumann, »Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel«, in: Klaus Hödl (Hg.) Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck 2003, S. 105–122. 26 Die Einsicht in die Bedeutung des Milieus ist eng mit den Arbeiten von Émile Durkheim und M. Rainer Lepsius verbunden.

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Gesichtskreis. Dazu zählt im übrigen die Frage, warum bestimmte Faktoren den einen Menschen stark beeinflussen, einen anderen in einer ähnlichen Umgebung hingegen weniger oder überhaupt nicht. In der Lebenswelt sind Individuum und System untrennbar miteinander verknüpft.27 Für die lebensweltliche Orientierung der Geschichtswissenschaft folgt daraus, dass der immer wieder beschworene Gegensatz zwischen Mikround Makro-Geschichte bei einer derartigen Perspektive nicht besteht. Durch den Blick vom Akteur aus werden Mikro- und Makro-Bereich gleichzeitig erfasst. Lebenswelt ist keine holistische, in sich geschlossene Einheit, keine Glocke, unter der der Mensch lebt, sondern etwas Offenes, das gekennzeichnet ist durch ein Wechselverhältnis von Strukturen und kultureller Praxis des Akteurs, durch Interaktion und Kommunikation. Der Mensch nimmt die Wirklichkeit in all ihren Facetten wahr, verarbeitet sie und produziert mit seinem Denken und Handeln neue Wirklichkeiten. Insofern gehört der Bereich »Erinnerung« unmittelbar zur Lebensweltanalyse. Erinnerung setzt sich zusammen aus der Verarbeitung des eigenen Erlebten – der eigenen Erfahrung – sowie aus der Verarbeitung der Erfahrungen anderer. Verbunden damit ist das Vergessen.28 Wir könnten es nicht ertragen, wenn »alles« in unserem Gedächtnis gespeichert und präsent wäre.29 Darüber hinaus ist es notwendig, sich von der Macht der Erinnerung, die eine Last sein kann, zu befreien. Dies kann durch »Verdrängung« geschehen: Ein scheinbar schützender »Panzer« legt sich um den Körper und die Erinnerung, während ungelöste Probleme, Schuldgefühle, Ängste, Zwänge und einengende Prägungen weiterwirken.30 Hingegen vermag eine bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die auch ein bewusstes Vergessen bedeuten kann, einen befreiten Umgang mit ihr und auf diese Weise zugleich mit künftigem Verhalten zu ermöglichen.31 Häufig ist das mit Schmerzen und lan27 Vgl. schon Karl Marx, der in der 6. These über Feuerbach das »menschliche Wesen« als »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« bezeichnete (»Die deutsche Ideologie«, in: ders., Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1968, S. 339–485, hier S. 340). 28 Paul Ricœur, »Gedächtnis – Vergessen – Geschichte«, in: Müller, Rüsen (Hg.) Historische Sinnbildung, S. 433–454; ders., Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998; ders., Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Paderborn 2004. 29 Vgl. Friedrich Nietzsche, »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«, in: ders., Werke in zwei Bänden, hg. von Ivo Frenzel, Bd. 1, München 1967, S. 113–174, hier S. 116. 30 Vgl. Franziska Herold, »Der totalitäre Leib. Zur Körpermetaphorik sowjetischer Grenz-Erzählungen der 30er Jahre«, in: Claudia Benthien, Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hg.) Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart/Weimar 1999, S. 108–134, bes. S. 129. Zum Bild des »Panzers« vgl. Klaus Theweleit, Männerphantasien, Reinbek 1980, vor allem Bd. 1, S. 311–377, Bd. 2, S. 144–175, 206–246. 31 Vgl. Emil Angehrn, »Zeit und Geschichte«, in: ders. u. a. (Hg.) Der Sinn der Zeit, Weilerswist 2002, S. 67–84.

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gen inneren Kämpfen verbunden. Bewusste Erinnerung sowie Mut und Stärke zum Aushalten von Widersprüchen, Fehlern, Schwächen und Irrtümern, selbst zum Aushalten der Sinnlosigkeit des Erfahrenen bedingen deshalb einander.32 Eine Erforschung der Lebenswelt thematisiert das Besondere wie das Allgemeine. Der lebensweltliche Zugang ermöglicht es, die Geschichte nicht nur in getrennten »Sektoren« (Politik, Wirtschaft, Soziales, Kultur, Alltag) zu untersuchen, sondern den einzelnen Menschen wie die gesamte Gesellschaft als historische Einheit zu betrachten.33 Es verbinden sich sinn-verstehend das Nachvollziehen des Subjektiven mit der Erforschung der strukturellen Zusammenhänge.34 Aus der Perspektive der Menschen wird die Funktionsweise eines Systems rekonstruiert. In der Analyse der Vernetzungen und Mechanismen, in denen der Akteur steht, können Figurationen, eine bestimmte gesellschaftliche Konstellation zwischen Menschen und strukturellen Vorgängen,35 oder ein Habitus, ein Lebensstil, der einen Menschen in einer sozialen Gruppe von einer anderen sozialen Gruppe unterscheidet und seine Praxis kollektiv prägt, erkannt werden.36 Darüber hinaus eröffnet die lebensweltliche Orientierung den Blick auf Abweichungen und Besonderheiten, auf die Vernetzungen von Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen, kulturelle Übertragungen zwischen derartigen Räumen, auf Überschneidungen, Grenzbereiche, Veränderungen in den Einstellungen und Verhaltensweisen. Dadurch werden Einblicke in historische Vorgänge ermöglicht, die durch die Beschränkung auf allgemeine Strukturen eher versperrt würden. 32 Vgl. das Konzept der »Ich-Stärke»: Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung. 2. Aufl. Lüneburg 1987; Mitscherlich: Unfähigkeit, z. B. S. 99–100, 286, 319, 346; Theodor W. Adorno, »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit«, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1968, S.  125–146, bes. S. 133, 144; ders., »Erziehung nach Auschwitz«, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a. M. 1969, S. 85–101, z. B. S. 90. 33 Hier gibt es Querverbindungen zur Konzeption einer »Histoire totale«, die nicht auf Vollständigkeit, Ganzheit oder Einheitlichkeit abzielt, sondern auf Annäherung an Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität. Vgl. Peter Schöttler, »Histoire totale«, in: Stefan Jordan (Hg.) Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 142–144. 34 Vgl. Angehrn, »Vom Sinn der Geschichte«, S. 18–19. 35 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Darmstadt/ Neuwied 1969, S. 312 f.; ders., Was ist Soziologie? München 1970, S. 139 ff. 36 Aus zahlreichen Schriften nenne ich hier nur Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, vor allem der 2. Teil; ders., Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 165–209. Im Unterschied zum Lebenswelt-Konzept geht der Blick Elias’ und Bourdieus nicht vom Akteur, sondern von Strukturen aus. Berührungspunkte gibt es weiterhin mit der historischen und soziologischen Lebenslauf- und Alltagsforschung.

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6. Die Rolle der Historikerin und des Historikers bei der Sinnkonstruktion. »Interpretation ist ein Kommunikationsprozeß zwischen Subjekten«, ein Austausch von »Sinnstrukturen« unter bestimmten Voraussetzungen.37 Indem Historikerinnen und Historiker den Kommunikationsprozess der untersuchten Individuen verfolgen, treten sie selbst in ihn ein: Sie versuchen, sich den Menschen und deren Lebenswelten so zu nähern, als säßen sie ihnen im Zeitzeugengespräch der »Oral History« gegenüber und müssten dies anschließend auswerten – selbst wenn sie keine Nachfragen mehr stellen können. Für sie ist der Mensch in den Quellen ein ernstzunehmender Dialogpartner, nicht lediglich ein Untersuchungsobjekt, seine Äußerungen und Handlungen dienen nicht einfach als illustrierende Belegstellen. Das bedeutet, das eigene Vorverständnis, die eigenen Assoziationen, »Bilder« und Erinnerungen, die bekannten oder neu anzueignenden Theorien und Methoden sowie den laufenden Bewusstmachungsprozess kritisch zu reflektieren und in die Kommunikation mit den Gesprächspartnern einzubringen, anstatt den »Sinn«, der bewusst oder unbewusst damit verbunden ist, den Interpretationen aufzuzwingen.38 Durch diesen Dialog verändert sich schließlich die eigene Lebenswelt. Interpretationen sind ebenso wie Selbstzeugnisse Sinn-Konstruktionen. Im Prozess des kritisch-deutenden Sinn-Verstehens, im »Wechselspiel zwischen Rezeption und Konstruktion, Sinnvernehmen und Sinnbildung»39 schafft der Historiker neuen Sinn und gestaltet die Wirklichkeit mit. Auch für ihn gilt, dass mit dem Verlust der Einheit und Zielgerichtetheit der Geschichte die Erkenntnis von Fragmentarisierung, unterschiedlichen Sichtweisen auf die Wirklichkeiten, Vielfältigkeit, Heterogenität und Offenheit einhergeht.40 Und ebenso wie der historische Akteur, der sich im Selbstzeugnis erinnert, bringt der untersuchende Historiker, der auch Akteur ist, über seine Erinnerung sein Selbst in den Dialog ein.41 Gleichfalls spielt er gedanklich ein »Probehandeln« durch. 37 Friedrich Heckmann, »Interpretationsregeln zur Auswertung qualitativer Interviews und sozialwissenschaftlich relevanter ›Texte‹. Anwendungen der Hermeneutik für die empirische Sozialforschung«, in: Jürgen H. P. Hoffmeyer-Zlotnik (Hg.) Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen Daten, Opladen 1992, S. 142–167, hier S. 147. 38 Vgl. zum Zusammenhang Andreas Ackermann, »Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers«, in: Jaeger, Rüsen (Hg.) Handbuch der Kulturwissenschaften 3, S. 139–154, bes. S. 145–147; Shingo Shimada, »Politik zwischen Differenz und Anerkennung: Multikulturalismus und das Problem der Menschenrechte«, ebd., S. 474–488, bes. S. 485–487. 39 Angehrn, »Vom Sinn der Geschichte«, S. 20, vgl. S. 19–21. Zum Verhältnis von Hermeneutik und Dekonstruktion: ders., »Dekonstruktion«; ders., Interpretation. 40 Vgl. als Überblick auch Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005. 41 Vgl. Angehrn, »Vom Sinn der Geschichte«, S. 28.

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Gewiss können wir uns in andere Menschen nicht vollständig hineinversetzen. Aber indem wir ihren »Sinn« kritisch-deutend nachzuvollziehen, zu verstehen suchen, wiederholen wir deren Erinnerungen in uns, denken an Hintergründe und Ursachen, an Handlungsvarianten und mögliche Alternativen, fragen nach uns selbst, nach unseren Einstellungen, Gefühlen und Verhaltensweisen. Unser »Probehandeln« geht dabei in den eigenen Erinnerungsbestand ein. Und selbstverständlich gilt dann ebenfalls: Erinnerung steuert Handeln. Unsere Arbeit im Umgang mit Erinnerungen ist somit existentiell wichtig für uns selbst und unsere Praxis. 7. Sinn und Interpretation – ein Beispiel. Wie sieht das konkret aus bei der Interpretation von Selbstzeugnissen? Ich greife ein Beispiel aus meinen eigenen Forschungen heraus, das Schicksal Hermann Diamanskis.42 1909 in Danzig geboren, trat er 1929 als Seemann der KPD bei und war seit 1933, als die Nazis an die Macht gekommen waren, illegal tätig. 1937/38 kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg, 1940 fiel er der Gestapo in die Hände. Die folgenden Jahre verbrachte er in verschiedenen Gefängnissen und Lagern. In Auschwitz war er zeitweise Ältester des »Zigeunerlagers«. Nach seiner Befreiung ging er 1947 mit seiner Familie in die Sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR. Anfänglich konnte er dort Karriere machen, geriet aber dann in Konflikt mit den Behörden und flüchtete Anfang 1953 nach West-Berlin. Dort stellte er sich dem USamerikanischen Geheimdienst zur Verfügung, schied jedoch schon bald wieder aus. Im »Auschwitz-Prozess« war er ein wichtiger Zeuge. Beruflich konnte er nicht mehr recht Fuß fassen. 1976 starb er in Frankfurt a. M. In Hermann Diamanskis aufregendem Leben spiegeln sich Jahrzehnte deutscher Geschichte. Die Rekonstruktion seines Schicksals stößt allerdings auf erhebliche Schwierigkeiten. Mehrere Aussagen in seinen Selbstzeugnissen sind miteinander unvereinbar, hinzu kommen Widersprüche zu offiziellen Dokumenten. Bei genauer Analyse der jeweiligen Erinnerungsvorgänge lässt sich manches aufhellen, einige Lücken können hingegen nicht geschlossen werden. An vielen Stellen werden Einflüsse »kollektiver Gedächtnisse« auf seine Erinnerung sichtbar. Die Urteile über ihn schwanken. Seine Frau meint, er habe immer die Welt verbessern wollen. Überlebende »Zigeuner« heben seinen Mut und seine Hilfe hervor, die ihnen in Auschwitz das Leben gerettet hätten. Freunde und Kollegen in der DDR erinnern sich an seine »proletarische« Ein42 Heiko Haumann, »Hermann Diamanski: Ein deutsches Schicksal zwischen Auschwitz und Staatssicherheitsdienst. Perspektiven der Erinnerung«, in: Birgit E. Klein, Christiane E. Müller (Hg.) Memoria – Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag, Berlin 2005, S. 505–529 [inzwischen auf erweiterter Forschungsgrundlage ders.: Hermann Diamanski (1910–1976): Überleben in der Katastrophe. Eine deutsche Geschichte zwischen Auschwitz und Staatssicherheitsdienst. Köln usw. 2011].

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stellung; diese habe ihn in einen Gegensatz zu DDR-Politikern gebracht, für die die Interessen der Arbeiterklasse nicht mehr vorrangig gewesen seien. Der Staatssicherheitsdienst sieht in ihm einen Abenteurer ohne feste Gesinnung. Seine früheren Genossen betrachten ihn als »Verräter«. In seinen Selbstzeugnissen nach der Flucht aus der DDR fällt auf, dass kein Versuch sichtbar wird, sich einen neuen »Sinn« aufzubauen. Verzichtete er darauf, weil er nicht danach gefragt wurde oder es für unerheblich hielt? Oder wusste er nicht, welchen Sinn er jetzt seinem Leben geben sollte, nachdem er in der DDR nicht mit dem Widerspruch zwischen seinen eigenen Hoffnungen und den dortigen Verhältnissen, Intrigen und Flügelkämpfen fertig geworden war? Die Versuchung ist groß, aus der Interpretation der Quellen einen Sinn zu konstruieren, indem ich etwa seine Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber und seine guten Taten über alle ideologischen Grenzen hinweg als charakteristisch für sein Leben betrachte. Wenn ich mich aber auf das fiktive Gespräch, auf den Dialog mit Hermann Diamanski einlasse, muss ich feststellen, dass er bei meinen Fragen auf seinem Schweigen beharrt. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als anzuerkennen, dass ich lediglich Fragmente der Lebensgeschichte und ihrer lebensweltlichen Hintergründe aufklären kann, dass es verschiedene Sichtweisen auf Diamanskis Leben gibt, dass ein Teil der Interpretationen mit Vorbehalten zu versehen ist. Zu meinem »Probehandeln« im Nachvollzug jenes Schicksals gehört es, die Zerrissenheit und die Spannung, die spürbar werden, auszuhalten und kein voreiliges Urteil zu fällen. Für mich liegt der »Sinn« dieser Rekonstruktion und Interpretation eines Lebens in der Freude an der detektivischen Recherche, etwas Neues zu entdecken und Einsichten in die Geschichte zu gewinnen, die ich auf andere Weise und in derartiger Dichte nicht hätte erschließen können. Ich habe gesehen, wie ein Mensch Geschichte »macht« und von ihr bestimmt wird, wie sein Leben den allgemeinen Geschichtsprozess repräsentiert. Dieser ist mir gegenwärtig und damit nachvollziehbar geworden. Dadurch erweitert sich mein Erinnerungsbestand, der »Horizont« meiner Lebenswelt. In zukünftigen Begegnungen mit Menschen und ihren Geschichten wird diese Erfahrung mein Verständnis und mein Verhalten beeinflussen, ebenso mein methodisches Vorgehen. Derartige Erforschungen von Selbstzeugnissen dienen insofern auch dazu, den Respekt vor den Menschen und dem »Sinn«, den sie ihrem Leben – oft nicht bewusst formuliert – geben, zu erhöhen und einen neuen, vielschichtigen Blick auf die Geschichte zu eröffnen.

Erinnern und erzählen Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews* Endlich sprechen können

Edith Däbler1 (Jahrgang 1945) kam nach dem Freitod ihres Vaters und dem »Davonlaufen« ihrer Mutter in ein Heim, dann in eine Pflegefamilie, während ihre älteren Geschwister auf verschiedene Bauernhöfe verdingt wurden. Sie musste hart arbeiten, doch es ging ihr in der Pflegefamilie sehr gut. Außerhalb der Familie erlebte sie allerdings viele Demütigungen, die psychische Störungen zur Folge hatten. Trotzdem konnte sie schließlich eine gute Ausbildung machen und ein Leben führen, mit dem sie zufrieden ist. Rückblickend urteilt sie über ihr Leben: »Ich denke, man darf nicht etwas die Schuld geben und sagen: ›Ich bin halt dazumal so behandelt worden, (…) und wenn ich halt nicht so erzogen worden wäre, dann würde ich das auch nicht machen.‹ Sondern, ich glaube, wir haben alle eine Verantwortung gegenüber – unserem Leben (…).«2 Jean-Pierre Enz (Jahrgang 1937) antwortet auf die Frage, welchen Einfluss die Kindheit auf sein Leben gehabt habe: »Ja, aber da bin ich wahrscheinlich viel selber schuld.»3 Dies sind zwei Beispiele aus Interviews, wie in der Erinnerung das eigene Schicksal gedeutet wird. Jean-Pierre Enz war nach dem Tod des Vaters an mehreren Orten verdingt, hatte ein schweres Leben auf den Höfen, wurde sexuell missbraucht und häufig geprügelt, hatte beruflich zunächst wenig Glück und konnte erst sehr spät eine gesicherte Stellung erreichen. Im Gespräch mit ihm wird auch exemplarisch deutlich, wie sich der Erinnerungsvorgang vollzieht. Als er gefragt wird, ob er sich noch an die verschiedenen Plätze erinnern könne, denen er zugeteilt worden war, meint er: »Kaum mehr. Aber ich sehe an einem Ort (…) ein großes Haus und eine Treppe hinauf. Ich sehe einen Bauern, wel* Erstpublikation, zusammen mit Ueli Mäder (dem ich für die Zustimmung zu dieser Neuveröffentlichung herzlich danke), in: Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Hg. von Marco Leuenberger und Loretta Seglias. Zürich 2008, S. 279–287, 300–303 [ich verwende hier z.T. unsere ursprünglichen Formulierungen gegenüber der damals gedruckten Fassung]. 1 Sämtliche Namen von interviewten Personen sind verändert. 2 Transkription des Interviews, das Simone Meier am 28.6.2006 geführt hat, 23, Zeilen 1145–1151. 3 Transkription des Interviews, das Marco Leuenberger am 21.7. 2005 geführt hat, 34, Zeile 1720.

Lebensgeschichtliche Interviews 

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cher den Kühen Gras in den Trog wirft (…) Aber wie ich nachher wieder aus dem Bett gekommen bin, das ist weg. (…) oder die Zeit bis zu der Pflegemutter, das habe ich immer wieder versucht zu verdrängen. Und ich glaube, es ist mir wahrscheinlich eben doch so stark gelungen, dass ich mich gar nicht mehr an vieles erinnern kann. Weil das, das hat mir jedes Mal wehgetan, oder, wenn ich mich zurückerinnert habe.«4 Erinnerung formt sich im Gespräch. Das zeigen insgesamt die Aufzeichnungen der über 250 Interviews, die im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts »Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen der Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert« (1. April 2005 bis 31. März 2008) geführt wurden. Methodisch folgten die 85 Interviewerinnen und Interviewer der Vorgehensweise eines leitfadengestützten offenen Gesprächs.5 Bewährt hat es sich, im ersten Teil die Befragten über ihr Leben erzählen zu lassen. Hier wurde sichtbar, wie manche etwas, über das sie schon häufiger berichtet hatten, in fast eingeübter Weise wiedergaben, dann jedoch – im Blick auf die interviewende Person und den Zweck des Forschungsprojektes – neue Wendungen hineinbrachten. Andere fühlten sich befreit, endlich darüber sprechen zu können, was sie schon lange quälte, und die Worte sprudelten aus ihnen heraus. Wieder andere suchten nach einem roten Faden, nach den richtigen Ausdrücken, nach der Erinnerung. Nachfragen waren in diesem Teil in der Regel nicht sinnvoll: Die ehemaligen Verdingkinder wurden dadurch in ihrem Gedankengang oder in ihrem Suchprozess unterbrochen, und es war dann für sie oft schwierig, ihre Erzählung wieder aufzunehmen. Hingegen förderten im zweiten Teil des Interviews, nach Abschluss der Erzählung, die gezielten Nachfragen auf der Grundlage des Leitfadens wie des Gehörten eine Präzisierung der Aussagen und eine 4 Ebd., 15, Zeilen 724–726, 740–745. 5 Gabriele Rosenthal: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, 125–138; dies.: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a.  M., New York 1995; Wolfram Fischer-Rosenthal, Gabriele Rosenthal: Narrationsanalyse biographischer Selbstrepräsentation. In: Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Hg. von Ronald Hitzler und Anne Honer. Opladen 1997, 133–165; Gabriele Rosenthal, Wolfram Fischer-Rosenthal: Analyse narrativ-biographischer Interviews. In: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hg. von Uwe Flick u. a. 5. Aufl. Reinbek 2007, 456–468; Roswitha Breckner: Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. In: Alltagskultur, 199–222. Die Methode des narrativen Interviews geht auf Fritz Schütze zurück: Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 13 (1983) H. 3, 283–293.

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Erinnern und erzählen

Mobilisierung zusätzlicher Aspekte aus dem Erinnerungsbestand. Manchmal setzten sie sogar einen neuen Erzählfluss in Gang. Subjektive Deutungen

Die Interviews dokumentieren, wie Menschen in Selbstzeugnissen ihrem Leben einen Sinn zu geben versuchen.6 Subjektive Deutungen entsprechen nicht unbedingt den sozialen Wirklichkeiten.7 Sie vermitteln die Sicht von ehemaligen Verdingkindern, die ihre subjektive und einzigartige Wahrheit erzählen. Diese Deutungen sind aber ebenso Wirklichkeit wie etwa die sozialen Umstände, in denen die Verdingkinder lebten. Ihr Selbstverständnis formte sich im Laufe der Zeit, veränderte sich teilweise, nicht zuletzt durch Erfahrungen. Die Befragten versuchten zu vermitteln, wie sie das Erlebte in eine für sie verständliche Ordnung brachten, wie sie sich ihr Schicksal erklärten, welches das »Leitmotiv« ihres Lebens war,8 wie sie die Welt verstanden – und sei es, dass sie ihr Leben als sinnlos empfanden. Wenn wir diesem subjektiven Sinn auf die Spur kommen, öffnen sich Welten.9 Über das Verständnis für den Menschen, dem wir begegnen, erschließen wir seine Auseinandersetzung mit den kulturell vorherrschenden Rollen, Normen und Symbolen,10 öffnen den Blick für soziale Beziehungen,11 erkennen Netzwerke und Strukturen, entdecken Ordnungsgefüge.12 Im Biographischen dokumentiert sich immer auch das Gesellschaftliche.13 Deshalb ist die Analyse einzelner Lebensver6 Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Hg. von Brigitte Hilmer u. a. Weilerswist 2006, 41–54, hier 41. 7 Vgl. Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Hg. von Gerd Jüttemann und Hans Thomae. Weinheim, Basel 1999. 8 Vgl. Achim Hahn: Narrative Pragmatik und Beispielhermeneutik. Zur soziologischen Beschreibung biographischer Situationen. In: Biographische Methoden, 259–283, hier bes. 276–277. 9 Ein wichtiger Strang für die qualitative Forschung geht auf die Hermeneutik zurück. Friedrich Schleiermacher (1768–1834) betrachtete die Hermeneutik als »Kunstlehre des Verstehens«. Wilhelm Dilthey (1833–1911) stellte die Hermeneutik und beschreibende Psychologie als die Grundsäulen der Geisteswissenschaft dar. 10 Vgl. Philipp Mayring: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Weinheim 1999, 2. 11 Die Phänomenologische Soziologie versteht die sozialen Beziehungen als interpretative Prozesse. Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1994, 388. 12 Dies betont auch der Psychotherapeut Carl C. Rogers (1902–1987): Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart 1992, 133; vgl. ders.: Von Mensch zu Mensch. Paderborn 1986, 113. 13 Deshalb bedeutet unser Zugang keineswegs eine Privatisierung des Gesellschaftlichen, wie sie in individualistischen Tendenzen sichtbar wird. Im 19. Jahrhundert betonten bereits

Lebensgeschichtliche Interviews 

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läufe im Rahmen der Biographieforschung ein angemessener Zugang zur qualitativen Sozialforschung, die die Menschen in ihrer alltäglichen Umgebung sieht.14 Die lebensgeschichtlichen Ansätze legen Wert auf das kommunikative Verstehen zwischen allen Beteiligten.15 Sie sind eine spezifische Form sozialer Annäherung, in unserem Fall über das Gespräch. Es geht bei den Interviews um den »inneren Blick« als ein Mittel der Erkenntnis und immer auch um einen eigenen Lernprozess.16 Ein derartiger Zugang verzichtet darauf, vorweg umfassende soziologische Theorien zu formulieren, denn dies birgt die Gefahr in sich, soziale Gegebenheiten abstrakt und damit unangemessen zu interpretieren. Stattdessen soll über die einfache, sinnliche Wahrnehmung im persönlichen Gespräch und in der präzisen Beobachtung die Wirklichkeit, wie sie die Menschen wahrnehmen und verarbeiten, samt den Bedingungen, unter denen sie handeln, konkret vergegenwärtigt werden.17 Damit kann die Forschung, die nie wertfrei ist, auch demokratischen Zielen dienen.18

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Karl Marx und Friedrich Engels die Notwendigkeit, subjektive Verarbeitungsprozesse einzubeziehen; vgl. z. B. Engels an Conrad Schmidt, 5.8.1890. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd. 37, 436–437; Engels an Joseph Bloch, 21./22.9.1890. Ebd., Bd. 27, 463–464; Engels, Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Ebd., Bd. 2, 98; Marx, Engels: Deutsche Ideologie. Ebd., Bd. 3, 27, 37–38, 45. Hier hat auch die Tradition der amerikanischen Feldforschung namentlich der Chicagoer Schule einen wichtigen Einfluss ausgeübt. Der »Symbolische Interaktionismus« thematisiert diese Problematik. Neben diesem Zugang und der Hermeneutik ist die Ethnomethodologie eine wesentliche Grundlage der qualitativen Forschung. Vgl. Hector Schmasmann: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Unveröffentl. Paper. Basel 2001. Für die Entwicklung der lebensweltlich orientierten Forschung spielte Alfred Schütz (1899–1959) eine wichtige Rolle, der auf der Phänomenologie Alfred Husserls (1859–1938) aufbaute. Schütz migrierte später aus Österreich in die USA, um der faschistischen Verfolgung zu entgehen. Vgl. Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. 1979, Neuausgabe Konstanz 2003. Vgl. Rogers: Entwicklung, 221. Er plädiert für eine »Entwicklung zur Erfahrungsoffenheit« (ebd., 171). Hilfreich sind hier die Arbeiten Erving Goffmans (1922–1982), etwa: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M. 1973; ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung. Frankfurt a. M. 1974; Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M. 1967; ders.: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1980. Vgl. Martin Schaffner: Verrückter Alltag. Ein Historiker liest Goffman. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 32 (2007) H. 2, 72–89; Paranoia City. Der Fall Ernst B. Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900. Hg. von Stefan Nellen u. a. Basel 2007. Dass bei unseren Konzeptionen ebenso Methoden der Geschichtswissenschaft und der Ethnologie – etwa der Alltags- und Mikrogeschichte, der »dichten Beschreibung« oder der »teilnehmenden Beobachtung« – eine Rolle spielen, sei hier nur erwähnt. Peter F. Schmid: Personenzentrierte Gruppenpsychotherapie in der Praxis. Die Kunst der Begegnung. Paderborn 1996, 101.

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Erinnern und erzählen

Erinnerung formt sich im Gespräch

Der Quellenwert von Erinnerungen wird allerdings häufig bestritten.19 Gewiss können Erinnerungen – wie wir alle wissen – vielfach trügen. Wenn wir jedoch die Geschichte aus dem Blickwinkel der Menschen betrachten und rekonstruieren wollen,20 ist es angemessen, die Erinnerungen erst einmal »grundsätzlich als richtig« wahrzunehmen und dann – wie jede Quelle – kritisch zu prüfen. Die Erinnerungsforschung hat dazu Kriterien zur Verfügung gestellt, die zu berücksichtigen sind. Wir greifen einige Punkte heraus: Die Erinnerung an ein Geschehen verändert sich jedes Mal, wenn wir daran denken; Gefühle, die durch die Gesprächssituation und die ins Bewusstsein kommenden Vorgänge entstehen, wirken sich auf die Darstellung aus; Assoziationen, die während des Gesprächs aufblitzen, lassen die Wiedergabe der Erinnerung manchmal wie eine Montage erscheinen; Medien, öffentliche Diskussionen, Normen und Werte beeinflussen das Denken; das soziale Milieu, in dem sich die Befragten (und wir selbst uns) bewegen, prägt die Vorstellungswelten immer wieder neu.21 Vergleichen wir die im Forschungsprojekt gesammelten Interviews, stellen wir fest, dass bei allen individuellen Besonderheiten immer wieder dieselben Themen auftauchen. Als Beispiele nennen wir die fehlende Zuwendung durch Bezugspersonen; die häufige emotionale Beziehung zu Tieren, namentlich zu Hunden; Gefühle der Diskriminierung und Zurücksetzung, die teilweise dann abgelöst werden durch ein Gefühl des Stolzes, es im Leben schliesslich doch noch zu etwas gebracht zu haben; die hohe Bedeutung von Strafen und Gewalt, ebenso von sexuellem Missbrauch; Armut; der Stellenwert der Religion; die problematische Rolle der Vormünder und Behörden; Ähnlichkeiten der Überlebensstrategien. So unzuverlässig die Erinnerung im Detail sein kann, lässt sich doch aus diesen Übereinstimmungen folgern, dass die Erinnerungen der ehemaligen Verdingkinder grundsätzlich keineswegs »falsch« sind. Sie geben nicht nur Auskunft über ihr eigenes Denken und über ihre Vorstellungen, sondern 19 Vgl. z. B. Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, 48; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, 64. 20 Vgl. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck 2003, 105–122; ders.: Geschichte. Auch: Ronald Hitzler, Thomas S. Eberle: Phänomenologische Lebensweltanalyse. In: Qualitative Forschung, 109–118; Anne Honer: Lebensweltanalyse in der Ethnographie. Ebd., 194–204. 21 Zusammenfassungen bei Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002; Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. von Harald Welzer. Hamburg 2001.

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vermitteln auch dichte Informationen über ihre früheren Lebensverhältnisse – sie sind eine erstrangige Quelle. Einblicke in Lebenswelten

Doch noch mehr: Durch die Berücksichtigung der Aspekte, die die Erinnerungsvorgänge beeinflussen, können wir dem Verhältnis von Erinnerungen eines einzelnen Menschen und denjenigen einer Gruppe nachspüren, mit der er in Beziehung steht. Ebenso wird es möglich, die Lebenswelten der Akteure mit ihren Netzwerken, gesellschaftlichen Bedingungen, Handlungsspielräumen, Strategien und Deutungsmustern nachzuzeichnen.22 Dies ist allerdings nicht einfach und bedingt ein strenges und aufwendiges methodisches Vorgehen. Notwendig ist es, im Interview die Ebene der Erzählung in der Gegenwart von der Ebene des tatsächlich erlebten Geschehens, so wie es noch zum Vorschein kommt, und von der Ebene der Sinngebung zu trennen.23 Darüber hinaus sind Schlüsselerlebnisse und biographische Wendepunkte herauszufiltern, von denen aus die Erinnerungen interpretiert werden können.24 Selbstverständlich sind dann für die Würdigung des gesamten Interviews alle Ebenen wieder aufeinander zu beziehen. Für ein Schlüsselerlebnis geben wir ein Beispiel aus den Interviews. Clara Bärwart (Jahrgang 1938) wurde nach einem zehnjährigen Aufenthalt im Kinderheim im Alter von vierzehn Jahren dem Vater zurückgegeben, der sich inzwischen, nach dem Tod ihrer Mutter, neu verheiratet hatte. Der Vater missbrauchte seine Tochter zwei Jahre lang sexuell, bis sie sich schliesslich zur Wehr setzte. Als der Vater die Vorwürfe abstritt, wurde er seiner Tochter vor dem Staatsanwalt gegenübergestellt. Dabei kam es zu einem einschneidenden Wendepunkt, als der Staatsanwalt für kurze Zeit aufstand und aus dem Fenster blickte: »(…) ich schaue zum Vater in diesem Moment und er zu mir und dann sehe ich seine Augen und die Hände, mit denen er schnell ›Bittibätti‹ macht (C. B. faltet die Hände), und ich hatte das Gefühl, dieser Mensch leidet wie ›lätz‹ (wahnsinnig). Und dann war es bei mir natürlich vorbei.« Clara Bärwart nahm alles zurück, denn: »(…) das andere war für mich viel stärker, das Gefühl, er leide. Das, weil ich wusste, was das heisst, wenn man leidet, gell.« Seit diesem Zeitpunkt ist ihr bewusst, dass ihr Leben unter dem »Leitmotiv« des Leidens steht, und sie interpretiert es vollständig danach; 22 Vgl. Haumann: Geschichte, 46–47. 23 Vgl. Rosenthal: Erzählte Lebensgeschichte, 130–135; dies.: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, bes. 213–215; Fischer-Rosenthal/Rosenthal: Narrationsanalyse. 24 Vgl. Haumann: Geschichte, 47.

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selbst Gefühle der Liebe sind für sie stets mit Leid verbunden. Aus dem Leiden entsteht zunächst ein Gefühl der Ohnmacht und Wehrlosigkeit, dann aber auch eine Überlebensstrategie, die ihr wieder Kraft gibt.25 Die Erzählung auswerten

Eine sinnvolle Methode, dies alles genau zu betrachten, besteht darin, das Interview in einzelne Einheiten aufzuteilen, ohne seinen Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren.26 Streng genommen folgen die Einheiten dem Textprotokoll und werden zunächst jeweils für sich gesondert betrachtet, um offen zu sein für verschiedene Deutungsmöglichkeiten des Gesagten und um nicht vorschnell aus einem Gesamteindruck des Gesprächs zu interpretieren. Sinnvoll erscheint aber auch ein Vorgehen, die Gesprächseinheiten zu thematischen Blöcken zusammenzufassen. Innerhalb der Gesprächseinheiten oder dieser Blöcke ist dann danach zu fragen, ob etwas Erlebtes geschildert wird, ob die damaligen Vorgänge derart beschrieben werden, dass spätere Einflüsse spürbar sind, oder ob argumentiert wird, um irgendetwas zu begründen, dem Geschehen also einen Sinn zu geben. Festzuhalten sind dabei weiterhin emotionale Erschütterungen und Einschnitte, die als Wendepunkte zu verstehen sind. Insgesamt sollte 25 Transkription des Interviews, das Flavia Grossmann am 22.6.2006 geführt hat, Zeilen 76–80, 86–88, in: Flavia Grossmann, Martina Koch: Erzählte Lebensgeschichten in der soziologischen Biographieforschung und der Oral History. Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Ansätze und eine exemplarische Analyse eines narrativen Interviews mit einer ehemals fremdplatzierten Frau. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 2007, hier Anhang, 62, vgl. Flavia Grossmanns und Martina Kochs Analyse, 40–51. 26 Zur »Sequenzanalyse« vgl. nur Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, 208–226, 240–241; Breckner: Zeitzeugen, 214–216; Gabriele Lucius-Hoene, Arnulf Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Opladen 2002; Arnulf Deppermann: Gespräche analysieren. Eine Einführung in konversationsanalytische Methoden. Opladen 1999, 53–78. Die Methodik der Sequenzanalyse geht zurück auf ein Verfahren der Objektiven Hermeneutik: Ulrich Oevermann u.a.: Die Methodologie der ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Interpretative Verfahren in den Sozialwissenschaften. Hg. von Hans-Georg Soeffner. Stuttgart 1979, 352–433; ders.: Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung Nr. 1 (2001) 35–83; Andreas Wernet: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Opladen 2000. Beispiele einer Sequenzanalyse bei Ilse M. Südmersen: Hilfe, ich ersticke in Texten! – Eine Anleitung zur Aufarbeitung narrativer Interviews. In: Neue Praxis 13 (1983) H. 3, 294–306; Ronald Kurt: Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung. Konstanz 2004, 238–257; Rosenthal/ Fischer-Rosenthal: Analyse, 464–468.

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darauf geachtet werden, welche Bedeutung die jeweilige Gesprächseinheit für den Lebenslauf oder für die Selbstdarstellung hat. Im Einzelfall sind diese Ebenen oft schwer zu trennen. Vielfach hilft ein Rückbezug auf die gegenwärtige Situation der interviewten Person, um sich ihre Perspektive bewusst zu machen. Nützlich ist darüber hinaus eine Untersuchung der sprachlichen Formulierungen:27 Entspricht beispielsweise der Wortschatz dem Alter und dem Milieu, in dem sich die befragte Person zum Zeitpunkt der Erzählung befand, oder verwendet sie Begriffe und Sprachstrukturen, die einer späteren Zeit entnommen sind und eher der eigenen Erklärung des Sachverhaltes dienen? So antwortet Werner Bieri (Jahrgang 1942) auf die Eingangsfrage, welche Umstände dazu geführt hätten, dass er als Verdingkind aufgewachsen sei, unter anderem, seine Eltern hätten sich scheiden lassen. »Eh, mein Vater wurde natürlich dazu verdonnert, Alimente zu bezahlen, oder? Er hat natürlich nie bezahlt, das ist klar, und eh, wie gesagt, Kriegsjahre (…).« Der Begriff »Alimente« und der Hinweis auf die »Kriegsjahre« deuten darauf hin, dass Werner Bieri hier nicht berichtet, was er unmittelbar erlebt hat, sondern dass er spätere Erklärungen, warum es der Familie materiell so schlecht ging, heranzieht, um sich die Gründe verständlich zu machen. An anderen Stellen erzählt er hingegen mit dem Wortschatz eines Kindes, sehr direkt und sehr emotional.28 Die Einteilung der Aussagen in die einzelnen Ebenen kann außerdem dadurch erleichtert werden, wenn wir Anhaltspunkte wie Körperreaktionen, Tonfall – der zum Beispiel Ironie, Wut, Abwertung, Enttäuschung zum Ausdruck bringen kann –, Pausen, Stockungen oder immer wiederkehrende Redewendungen beachten. Dies bedingt natürlich eine Videoaufzeichnung des Interviews oder eine sehr genaue Transkription.29

27 Vgl. zur sprachpragmatischen Analyse Martin Schaffner: Fragemethodik und Antwortspiel. Die Enquête von Lord Devon in Skibbereen, 10. September 1844, in: Historische Anthropologie 6 (1998) 55–75, hier bes. 62, 64–65, 70–71; ders.: »Missglückte Liebe« oder Mitteilungen aus Paranoia City. Eine Lektüre von Justiz- und Polizeiakten aus dem Staatsarchiv Basel, 1894 bis 1908. In: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen. Hg. von Ingrid Bauer u. a. Wien usw. 2005, 243–254. 28 Sabina Mauron: Interviewforschung. Der Erinnerungsprozess und die Narrationsanalyse am Beispiel der Selbstdarstellung eines ehemaligen Verdingkindes. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 2007, 21; das Zitat aus dem am 13.6.2006 geführten Interview stammt aus der im Anhang abgedruckten Transkription, 32 Zeilen 23–24. 29 Auf die methodischen Probleme der Transkription gehen wir hier nicht näher ein. Eine phonetische Transkription, die zugleich noch sämtliche nicht-verbalen Reaktionen während des Interviews vermerkt, ist schon im Blick auf die Lesbarkeit in einer Publikation für einen größeren Leserkreis nicht möglich. Ohnehin folgt sie auch bereits den Wahrnehmungen des Interviewers oder der Interviewerin.

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Erinnern und erzählen

Das Geschehen interpretieren

Die Analyse der einzelnen thematischen Blöcke in den Interviews versucht, Schritt für Schritt die eigene Interpretation im Prozess dieser Folgen zu prüfen. Dabei ermöglicht sie es, die Sinngebung der interviewten Person, ihre Wahrnehmungen und Sichtweisen nachzuzeichnen. Weiterhin werden zumindest ansatzweise die äusseren Einflüsse deutlich, die Wirkungen gezeigt haben, sowie diejenigen Schlüsselerlebnisse und Wendepunkte, die als entscheidend für das Leben empfunden wurden. Ebenso können Vorgänge erkannt werden, über die es dem Gesprächspartner schwer fällt sich mitzuteilen, oder auch das Nicht-Erzählte, »Leerstellen« und Tabus in der Lebensgeschichte. Wenn wir die äußeren Einflüsse bestimmen wollen, ist über das Interview hinaus eine Kenntnis des Umfeldes, in dem sich die Person befand, sinnvoll. Wir müssen fragen, ob sie von Medienberichten, Publikationen und öffentlichen Diskussionen zum Thema gewusst hat. Etwas schwieriger wird die Interpretation, wenn es um die Verarbeitung konkreter Erlebnisse geht. Selbst wenn wir einigermaßen zuverlässig bestimmen können, dass die befragte Person sehr dicht am damaligen Geschehen berichtet, können wir nicht ausschließen, dass die Erinnerung trügt. Deshalb müssen wir unbedingt den Zusammenhang einbeziehen: Erzählungen weiterer Fremdplatzierter zum entsprechenden Thema sowie Aussagen anderer Quellen – von den Behördenakten im Archiv über Zeitungen bis zu Selbstzeugnissen von Menschen, die in irgendeiner Weise mit den Vorgängen zu tun hatten. Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Da die oft sehr persönlichen Aussagen in einem Interview diejenigen Personen, die fragen und später auswerten, emotional meistens stärker berühren als die nüchterne Notiz in einer Behördenakte, ist noch mehr als bei anderen Quellen das kritische Nachdenken der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers über ihr oder sein Selbstverständnis gefordert. Auch Interpretationen suchen nach dem Sinn. Und jede Transkription ist bereits eine Interpretation. Damit diese den interviewten Personen und ihren Erzählungen gerecht wird, müssen das eigene Vorverständnis, die eigenen Assoziationen, »Bilder« und Erinnerungen sowie die verwendeten Theorien und Methoden bewusst gemacht und kritisch geprüft werden.30 Zugleich muss uns bewusst sein, dass wir mit dem Blick für die »feinen Unterschiede« ein möglichst umfassendes Verständnis der anderen Menschen anstreben, uns in sie hineinversetzen und ihren Bezugsrahmen nachvollziehen, dies aber nur beschränkt 30 Darauf hat auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) eindringlich hingewiesen: Verstehen. In: ders.: Das Elend der Welt. Konstanz 1997, 779–803, hier 781, 802; ebenso in seiner letzten Vorlesung: Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt a. M. 2002.

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erreichen können.31 In einem solchen Prozess wiederholen wir die Erinnerungen der interviewten Person und setzen sie mit unseren Empfindungen und Überlegungen in Beziehung, führen sozusagen ein »Probehandeln« durch, das uns selbst verändert, in unseren Erinnerungsbestand eingeht und unser zukünftiges Handeln beeinflussen wird.32 Eine derartige Auswertung der Interviews erfüllt den Anspruch einer lebensweltlich und akteurszentriert orientierten Geschichtsschreibung: Die Wahrnehmungen und Sichtweisen einzelner Menschen, ihre Erfahrungen werden verbunden mit den Erfahrungen anderer Menschen und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Durch den Blick des Akteurs, durch seine kulturelle Praxis, werden seine Lebensumstände ebenso wie übergreifende Zusammenhänge erfasst. Auf dieser Grundlage stellt unser Band mit den Porträts und Auszügen aus den Erinnerungen der Interviewten eine Vergegenwärtigung von Lebenswelten dar, die die Geschichte der Schweiz wesentlich mitbestimmt haben. Selbstverständlich können wir dabei, wie bei jeder historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, lediglich Bruchstücke des Lebens der Verdingkinder erschließen. Aber diese Bruchstücke sind uns lebendig geworden durch den Dialog mit denjenigen, die die Geschichte bewusst oder unbewusst mitgestaltet und erlitten haben.33

31 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987; ders.: Verstehen, 786. 32 Vgl. Haumann: Geschichte, 51–52. 33 Vgl. Haumann: Geschichte, 48–51.

Blick von innen auf den Stalinismus Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen* Ein Tagebuch als Beispiel für die Binnenperspektive

Stepan Podlubnyjs Tagebuch seiner Zeit in Moskau zwischen 1931 und 1939 ist ein Klassiker geworden.1 Es gibt kaum ein historisches Werk über die 1930er Jahre oder den Stalinismus überhaupt, das nicht darauf eingeht. Sein Autor hatte es 1989 dem neugegründeten, privaten Moskauer »Narodnyj archiv«, dem »Volksarchiv«, übergeben. Ermutigt durch die »perestrojka« wollte er mit dazu beitragen, die dunkle Zeit des Stalinismus aufzuarbeiten und sie gerade auch * Erstpublikation in: Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse – Analysen – Methoden. Hg. von Heiko Haumann. Frankfurt a. M. usw. 2010, S. 51–76. 1 Tagebuch aus Moskau 1931–1939. Hg. von Jochen Hellbeck. München 1996. Eine Fortsetzung harrt noch der Veröffentlichung, allerdings meint Hellbeck, sie reiche weder in dramatischer Qualität noch in politischer Brisanz an die früheren Notizen heran (S. 280). Vgl. Jochen Hellbeck: Fashioning the Stalinist soul: the diary of Stepan Podlubnyi, 1931– 9. In: Stalinism. New Directions. Ed. by Sheila Fitzpatrick. London, New York 2000, S. 77–116 (auch in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 [1996] S. 344–373); ders.: Writing the Self in the Time of Terror: Alexander Afinogenov’s Diary of 1937. In: Self and Story in Russian History. Hg. von Laura Engelstein und Stephanie Sandler. Ithaca, London 2000, S. 69–93; ders.: Working, Struggling, Becoming: Stalin-Era Autobiographical Texts. In: Russian Review 60 (2001) S. 340–359; Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Hg. von Jochen Hellbeck und Klaus Heller. Göttingen 2004; Jochen Hellbeck: Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin. Cambridge, Mass. 2006 (darin bes. das 5. Kapitel). – Für intensive Diskussionen danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Fachbereiches Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel sowie den Studierenden in den Lehrveranstaltungen zum »Projekt Erinnerung«. Einige Elemente dieses Beitrages sind eingegangen in meinen Aufsatz: The significance of autobiographical narratives for historical accounts of Stalinism based on the analysis of ›life-worlds‹. In: Rossijskaja istoričeskaja mozaika. Russian Historical Mosaic. Sbornik naučnych statej. For John Keep from his colleagues and friends. Pod red. A. L. Litvina. Kazan’ 2003, S. 252–272. Weitere Überlegungen zu diesen Zusammenhängen auch in meinen Artikeln: Pereosmyslenie nasilija ėpochi stalinizma v ličnych svidetel’stvach (metodočeskie zamečanija). In: Vek pamjati, pamjat’ veka. Opyt obraščenija s prošlym v XX stoletii. Sbornik statej. Red. Koll. I. V. Narskij u. a. Čeljabinsk 2004, S. 199–214 (deutsch 2010); Die Verarbeitung von Gewalt im Stalinismus am Beispiel ausgewählter Selbstzeugnisse. Methodische Bemerkungen und ein Werkstattbericht. In: Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953. Hg. von Brigitte Studer und Heiko Haumann. Zürich 2006, S. 379–396 (daraus habe ich hier einige Formulierungen und Passagen übernommen).

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mit ihrem Alltag im Gedächtnis aufzubewahren. In der Tat ist es ein einzigartiges Dokument. Aus der Sicht eines Akteurs2, der zunächst das damalige politische System uneingeschränkt unterstützte, entfaltet sich eine Binnenperspektive des Lebens in den dreissiger Jahren. Podlubnyj wurde 1914 in einem Dorf nahe Kiev geboren. Nach der Oktoberrevolution galten seine Eltern als »Kulaken«. Mehrfach mussten sie Diskriminierung und Verfolgung erdulden. Im Winter 1929/30, während der zwangsweisen Kollektivierung, erfolgte ihre vollständige Enteignung. Der Vater wurde nach Archangel’sk verbannt. Mutter und Sohn gelangten über verschiedene Stationen 1930 nach Moskau. Mit gefälschten Papieren fanden sie eine Arbeitsstelle, Stepan, der eine proletarische Herkunft vorspiegelte, sogar in der Druckerei der Parteizeitung »Pravda«. Zu dieser Zeit war Stepan Podlubnyj von den gesellschaftlichen Zielen der Bolschewiki überzeugt und wollte ein »Neuer Mensch« werden. Er suchte seine Selbstverwirklichung im System. Dessen Werte hatte er verinnerlicht, und die stalinistische Politik traf auf seine Zustimmung.3 Die Behandlung seines Vaters fand 2 Zum Begriff des Akteurs Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie. In: Geschichte. Ein Grundkurs. Hg. von Hans-Jürgen Goertz. Reinbek 1998, S. 557–578, hier S. 565–567. Dass das Ich nicht als autonomes Subjekt entsteht, sondern sich in der Beziehung zu anderen konstituiert, zeigt auch Bettina Brockmeyer: Beziehungsweise Ich. Zur Frage nach Subjektivitäten im frühen 19. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 15 (2007) S. 422–431. 3 Monica Wellmann bestätigte im Rahmen des Forschungsprojektes »Jugend und Gewalt in Sowjetrussland 1917–1932« (Marburg/Basel), dass gerade junge Menschen, die das Gefühl hatten, durch ihre gesellschaftliche Herkunft mit einem Makel behaftet zu sein, dem Ideal des propagierten neuen Sowjetmenschen gerecht zu werden versuchten. Vgl. ihre Studie: Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung. Jugendliche Lebenswelten in Moskau 1920–1930. Zürich 2005. Als Beispiel auch: Lew Kopelew: Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten. München 1981, S. 273–274 (Hinweis von Monica Wellmann). Aber die Verinnerlichung der Werte des »Neuen Menschen« ging weit über jenen Personenkreis hinaus, vgl. Heiko Haumann: Jugend und Gewalt in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang. In: Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Hg. von Corinna Kuhr-Korolev u. a. Essen 2001, S. 25–61, hier S. 58 mit Anm. 117; Susanne Schattenberg: Die Frage nach den Tätern. Zur Neukonzeptionalisierung der Sowjetunionforschung am Beispiel von Ingenieuren der 20er und 30er Jahre. In: Osteuropa 50 (2000) S. 638–655, hier S. 651–653; dies: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. München 2002. Siehe übergreifend Manfred Hildermeier: Revolution und Kultur. Der »neue Mensch« in der frühen Sowjetunion. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996. München 1997, S. 52–67; Derek Müller: Der Topos des Neuen Menschen in der russischen und sowjetischen Geistesgeschichte. Bern 1998; Lynne Attwood, Catriona Kelly: Programmes for Identity: The »New Man« and the »New Woman«. In: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940.

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Blick von innen auf den Stalinismus

er richtig. Er trat dem Komsomol bei und erhielt Auszeichnungen als Bestarbeiter. Immer lebte er allerdings in der Furcht, dass seine tatsächliche Herkunft entdeckt werden könne. Und wirklich deckte die Geheimpolizei (NKVD) 1934 seine Lüge auf, nachdem sie ihn zwei Jahre zuvor bereits als Informanten angeworben hatte. Interessanterweise nutzte sie ihr Wissen nicht zur Bestrafung Podlubnyjs, sondern als Druckmittel, damit er noch intensiver für sie arbeitete. Dieser atmete auf. Alles sah nach einer Beruhigung der Lage aus, zumal auch sein Vater zur Familie zurückkehren durfte. Doch schon bald wendete sich das Blatt. 1936 erfuhr der Komsomol von der Fälschung und schloss ihn aus. Das hatte Folgen für sein ein Jahr zuvor begonnenes Medizinstudium. Als »Kulakensohn« musste er es 1938 abbrechen. Hinzu kam, dass seine Mutter 1937 als »Volksfeindin« verhaftet worden war. Während dieser Vorgänge begannen sich bei ihm Zweifel an der Politik der Partei- und Staatsführung zu regen. Die Repressionen, den sich verschärfenden Terror hielt er nicht für richtig, er befürwortete stattdessen erzieherische Massnahmen und eine moralische Einwirkung. Trotz tiefer Verunsicherung gab er seinen Glauben an das Ziel eines »Neuen Menschen« nicht auf und wandelte sich keineswegs zu einem fundamentalen Systemkritiker. 1939 wurde er verhaftet und als Mitwisser »spekulativer« Geschäfte zu anderthalb Jahren Arbeitslager verurteilt. Er erhielt eine Stelle in der Lagerleitung, so dass er einigermassen gut überleben konnte. Bei Kriegsbeginn 1941 wurde er eingezogen. 1998 ist er gestorben. Informationen

Das Tagebuch bietet die Sichtweise eines überzeugten Kommunisten auf die Kollektivierung und die mit ihr verbundene Gewalt. Ebenso tritt uns der Terror als Systemmerkmal des Stalinismus entgegen: die Präsenz des NKVD, die zunehmenden Verhaftungen, der Wandel der »Säuberungen« von einem auch bei anderen Parteien üblichen Überprüfungsverfahren zu einem Terrorinstrument. Doch noch eindrucksvoller und für das historische Verständnis wesentlicher sind weitere Einsichten, die wir dem Tagebuch entnehmen können. Im Übrigen sind dies durchaus »harte« Informationen, die gerne bei Selbstzeugnissen wegen deren subjektiver Sichtweise in Abrede gestellt werden. Die Allgegenwart von Kontrolle — nicht nur durch die Geheimpolizei —, von MobilisieHg. von Catriona Kelly und David Shepherd. Oxford, New York 1998, S. 258–290; Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hg. von Boris Groys und Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden. Frankfurt a. M. 2005.

Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen 

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rung und Strafandrohung, die wir aus anderen Quellen schon kennen, wird aus der Sicht eines Beteiligten präzise fassbar: Der Brigadenleiter überwacht die Disziplin und spricht Rügen aus, ein schwarzes und ein rotes Brett machen die schlechtesten und die besten Arbeiter allen bekannt, in der Betriebs- und Wandzeitung werden Fehlverhalten angeprangert und vorbildliche Einsätze gelobt, in den verschiedensten Versammlungen werden »Kritik und Selbstkritik« geübt, Prämien regen zu mehr Leistung an. Zugleich werden aber auch die Versuche sichtbar, sich diesen Einflüssen zu entziehen. Blaumachen, Verspätungen, Trödeln bei der Arbeit tauchen im Tagebuch ständig auf, und wer getadelt wird, wehrt sich manchmal durch Gegenbeschuldigungen. Eine junge Frau singt bei der Arbeit. Als sie zurechtgewiesen wird, beginnt sie zu tanzen. Das Streben nach vollständiger Beherrschung des Menschen führte somit keineswegs zu einer homogenen Unterordnung. Offensichtlich gab es ein breites Spektrum von Handlungsspielräumen — von überzeugter Akzeptanz bis hin zu widerwilliger Loyalität mit eigensinniger Aufmüpfigkeit und sogar bis hin zum Widerstand, der hier als eine Haltung zu verstehen ist, sich dem staatlichen Anspruch auf Gehorsam zu entziehen.4 Selbstverständnis

Noch tiefere Einblicke ermöglicht das Tagebuch, wenn wir nach dem Selbstverständnis Stepan Podlubnyjs fragen. Eine gängige Argumentation lautet, die meisten Menschen hätten im Stalinismus eine gespaltene Identität gehabt: Öffentlich seien sie absolut loyal zum System gewesen, um zu überleben, hätten jede Wendung der »Generallinie« mitgemacht, doch persönlich, im Innern, seien eigene Überzeugungen geblieben, die sie bestenfalls am Küchentisch im engsten Freundeskreis geäussert, mehr und mehr aber ganz bei sich behalten hätten.5 Mit verschiedenartigen Varianten lebten sie in »parallelen Welten«.6 4 Der Begriff des Eigensinns nach Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Hamburg 1993, der des Widerstandes nach Adolf Arndt: AGRAPHOI NOMOI (Widerstand und Aufstand). In: Neue Juristische Wochenschrift 15/1 (1962) S. 430–433. 5 Vgl. Brigitte Studer, Berthold Unfried: »Das Private ist öffentlich«. Mittel und Formen stalinistischer Identitätsbildung. In: Historische Anthropologie 7 (1999) S. 83–108; dies.: Der stalinistische Parteikader. Identitätsstiftende Praktiken und Diskurse in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Köln usw. 2001. 6 Eine eindrückliche Studie an anderen Beispielen zu derartigen »parallelen Welten« liefert Isabelle Bopp: »Wir sind weiße Raben und schwarze Schafe ...« Die Auswirkungen des Transformationsprozesses auf die Arbeit von Kulturschaffenden und das kulturelle Leben

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In vielen Fällen dürfte dies zugetroffen haben. Nach Lektüre dieses Tagebuches muss jedoch differenziert werden. Bei Stepan Podlubnyj gab es zunächst jene Spaltung zunächst nicht. Er hatte das vorgegebene Wertesystem verinnerlicht, wollte ein »Neuer Mensch« werden. So bemühte er sich, überall musterhaft zu wirken, Schwächen anderer – etwa im Arbeitsprozess – anzuprangern und erzieherisch zu beheben. Er wollte ein Pionier sein und orientierte sich an den als vorbildlich hingestellten, »starken, klugen und selbstbeherrschten Menschen« (27.12.1934). Im Stalinismus wurde der »Neue Mensch« in hohem Maße äußerlich definiert. Er sollte »kul’turnost’« zeigen, also »zivilisiert« und nicht »rückständig« sein.7 Dazu gehörten ein gepflegtes Äusseres, »richtiges« Benehmen, eine angemessene Ausbildung, Disziplin, ein bestimmter Lektürekanon (Gor’kij, Bürgerkriegsliteratur, Sozialistischer Realismus, dazu Marx, Lenin und Stalin in genau angegebenen Auswahlschriften) und eine »sowjetpatriotische« Einstellung, die den früheren weltrevolutionären Anspruch in den Hintergrund drängte.8 All diesen Vorgaben wollte Podlubnyj entsprechen. Gemäss der kommunistischen Propaganda beurteilte er seinen Vater als »Kulaken« und somit als »rückständig«. Hier stand wohl ein familiärer Konflikt dahinter,9 denn sein Verhältnis zur Mutter blieb ungetrübt. Und dann kam das Jahr 1937, der Höhepunkt des staatlichen Terrors. Auf Podlubnyjs Tagebuchnotiz vom 31. Dezember 1936 folgte die Eintragung am 6. Dezember 1937: »Niemand wird erfahren, wie ich dieses Jahr 1937 durchlebt habe. Niemand wird es erfahren, weil ich nicht einen einzigen Tag meines Lebens in diesem Jahr im sogenannten Tagebuch beschrieben habe. (…) Und wenn das Jahr endet (…) werde ich es durchstreichen wie eine unnütze Seite, (…) obwohl ein schwarzer Fleck, ein schwarzer, dicker, abscheulicher Fleck wahrscheinlich für mein ganzes Leben lang zurückbleiben wird, wie ein Flecken getrockneten Bluts auf der Kleidung. Er wird zurückbleiben, weil mein Leben im Verlauf dieser 341 Tage des Jahres 1937 so eklig und abscheulich war wie das gerinnende Blut, das rot und breiförmig unter dem Körper eines erstochenen in Bulgarien. Eine Innenansicht von drei kulturschaffenden Frauen. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 2002. 7 Vgl. Müller: Topos; Carmen Scheide: Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Zürich 2002; Vadim Volkov: The concept of kul’turnost’: notes on the Stalinist civilizing process. In: Stalinism, S. 210–230; Catriona Kelly, Vadim Volkov: Directed Desires: Kul’turnost’ and Consumption. In: Constructing Russian Culture, S. 291–313. 8 Vgl. Erwin Oberländer: Sowjetpatriotismus und Geschichte. Eine Dokumentation. Köln 1967. 9 Vgl. Tagebuch aus Moskau, S. 85–87 (13.8.1932), 149–150 (24.1.1934), 210–211 (19.11.1935).

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Menschen hervorquillt.« Drei Tage später wurde Podlubnyjs Mutter verhaftet, unter der absurden Beschuldigung, sie sei eine Trotzkistin. Jetzt verstärkten sich seine vorher nur leisen Zweifel, ob die Politik des Regimes angemessen sei. Eine Wende im Denken gegenüber dem Sowjetsystem setzte ein. Er stellte die Klasseneinteilung und die Zuordnung seiner Familie zu den »Kulaken« in Frage, ebenso änderte sich seine Wahrnehmung des Vaters, selbst wenn dieser für ihn keine Bezugsperson wurde. Nach diesem auch emotionalen Einbruch löste sich Podlubnyj allmählich von den »Führern«, die bislang gleichsam Vaterfiguren für ihn gewesen waren. Im Tagebuch schrieb er zunehmend kritische Bemerkungen nieder, und er las Bücher, die nicht im Kanon standen. Nach der Lektüre von Henryk Sienkiewiczs »Quo vadis?« etwa verglich er Nero mit Stalin (15.4.1938). Seine Identität geriet ins Wanken. Er rettete sich, indem er seinen Grossvater als Bezugsperson aufbaute, und zwar als ein Männlichkeitsideal. Auf diese Weise schlug er eine Brücke von einem vorrevolutionären Weltbild zu seinem eigenen und bewahrte sich seine männliche Identität, gab sich nicht selbst auf. Dies festigte ihn, um dem Druck zu widerstehen, der durch seine Zweifel an den »Führern« verursacht worden war, und er blieb vorerst noch loyal zum System, wenngleich kritisch.10 Das Tagebuch lässt insofern nachvollziehen, wie stark das herrschende Wertesystem gewirkt hat, gerade bei einem »Klassenfeind«, der seine Herkunft fälschen musste, um überhaupt Arbeit zu bekommen. Es zeigt auf, wie das Wechselverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Normensystem11 und einem Individuum, 10 Dazu ausführlich Marcella Gall: Männliche Identität und Erfahrungswelt im Moskau der 1930er Jahre. Eine Untersuchung anhand des Tagebuches von Stepan Podlubnyj. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 2001; auch Sabrina Dallafior: Gewalt und ihre Wahrnehmung im Stalinismus. Das Tagebuch von Stepan Podlubnyj. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 1997; Ingrid Stuker: Subjektive Wahrnehmungen und Lebensperspektiven im Stalinismus. Vergleich zweier Tagebücher. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 2007. 11 Mit gesellschaftlichem Normensystem bezeichne ich hier die vorherrschenden Normen und Werte, die die Menschen in der Schule und durch Schulbücher, in der Publizistik, in Filmen und anderen Medien sowie in ihren sozialen Bezugsgruppen (Eltern, Cliquen, »Pioniere«) kennenlernten. Interessant wäre es, einmal das Verhältnis dieses System zum »kulturellen Gedächtnis« zu fassen: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999; ders.: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Jan Assmann und Tonio Kröger. Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19, hier S. 9, 13, 15; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999; dies.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006; vgl. Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. von Harald Welzer. Hamburg 2001; Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002.

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einem historischen Akteur aussah, aber auch, welche Mechanismen abliefen, als sich dieser Akteur aus jenem Normensystem zu befreien begann. Zum Stellenwert des Selbstzeugnisses

Im strengen Sinn sprechen wir nur dann von einem Selbstzeugnis, wenn die Person »selbst handelnd oder leidend in Erscheinung« tritt oder ausdrücklich auf sich Bezug nimmt.12 Nehmen wir Dokumente hinzu, in denen ein Mensch möglicherweise auch unfreiwillig über sich Auskunft gibt, so können wir viel über Verhörprotokolle, Gerichts- und Verwaltungsakten erfahren.13 Falls wir Materialien auswerten, in denen bewusst ein Selbst zu seinem Leben und zu einem Text in Beziehung gesetzt wird, lässt sich auch präziser der Begriff »Autobiographik« verwenden.14 Bei der Interpretation eines Selbstzeugnisses, wie es Podlubnyjs Tagebuch darstellt, sind insbesondere zwei Fragen zu beantworten, die von Skeptikern gegenüber der Verwendung individueller Dokumente immer wieder hervorgehoben werden: Mit welcher Sicherheit können wir davon ausgehen, dass die mitgeteilten Informationen zutreffen? Und inwieweit sind die Überlegungen und Verhaltensweisen Podlubnyjs – die Gefühle, Meinungen und Handlungen eines Einzelnen – auf andere Menschen übertragbar? Allgemein lässt sich gegen jene Skepsis festhalten: Selbst wenn es nicht möglich sein sollte, die Reichweite eines individuellen Selbstzeugnisses genau zu bestimmen, ist dessen Berücksichtigung für den Historiker oder die Historikerin sinnvoll. Geschichte wird von Menschen gemacht und erlitten, und es kommt dabei auf jeden Einzelnen an. Über das Selbstzeugnis eines Akteurs kann dessen Lebenswelt rekonstruiert oder zumindest in Ansätzen skizziert werden. Es wird 12 Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994) S. 462–471, hier S. 463. 13 Diese verschiedenen Quellenarten werden in der Regel unter dem Obergriff der »EgoDokumente« zusammengefasst: Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? In: Von Aufbruch und Utopie. Hg. von Bea Lundt und Helma Reimöller, Köln usw. 1992, S. 417–450. Dazu zählen auch die von der Partei geforderten, nach einem bestimmten Schema zu verfassenden Autobiographien und die persönlichen Befragungen in öffentlichen Versammlungen. Darauf gehe ich aber nicht näher ein. Vgl. Lorenz Erren: »Selbstkritik« und Schuldbekenntnis. Kommunikation und Herrschaft unter Stalin (1917–1953). München 2008. Siehe auch Anm. 64. 14 Eva Kormann: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert. Köln 2004, S. 298; vgl. Julia Herzberg: Autobiographik als historische Quelle in ›Ost‹ und ›West‹. In: Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Hg. von Julia Herzberg und Christoph Schmidt. Köln usw. 2007, S. 15–62.

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deutlich, in welchen Zusammenhängen und Vernetzungen jener Mensch steht, in welchen Horizonten15 er denkt, in welchen gesellschaftlichen Strukturen er sich befindet, welche Einflüsse auf ihn einwirken. Seine Wahrnehmungen, sein Denken und Handeln entstehen nicht unabhängig von sozialen Beziehungen.16 Einen wichtigen Zugang zur Rekonstruktion von Lebenswelten bildet die Analyse von bestimmten Situationen, in denen die Akteure eine Rolle spielen, handeln und leiden.17 Da diese keine autonomen Subjekte sind, sondern sich ihr Ich in Beziehung zu anderen ausbildet, besteht kein Gegensatz zwischen Individuum und Struktur, sondern die Strukturen einschliesslich der Netzwerke sind Teil der Lebenswelt und damit Teil der Erfahrungen, Überlegungen, Assoziationen und emotionalen Reaktionen, die das Verhalten der Einzelnen bestimmen.18 Dieses situationsbezogene Verhalten19 kann durch 15 Zum Begriff des Horizontes Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hg. von Walter Biemel. Haag 1954, z. B. S. 459; Reinhart Koselleck: ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349–375, bes. S. 356. 16 Rudolf Vierhaus: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung. In: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen 1995, S. 7–28; Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck 2003, S. 105–122; ders.: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Hg. von Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche. Weilerswist 2006, S. 42–54. 17 Einen handlungstheoretisch fundierten Ansatz zur Analyse von Lebenswelten über Situationswahrnehmungen nutzt Andreas Frings: Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941. Eine handlungstheoretische Analyse. Stuttgart 2007; vgl. ders.: Der Schleier als Ausdruck lokaler Renitenz? Reaktionen auf die »Befreiung der Frau« in der frühen Sowjetunion. In: Neuordnung von Lebenswelten? Studien zur Gestaltung muslimischer Lebenswelten in der frühen Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten. Hg. von Andreas Frings. Berlin 2006, S. 63–98, hier bes. S. 78–83. Zu den Voraussetzungen einer Interpretation von Selbstzeugnissen in diesem Zusammenhang: Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Kolloquium am Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrum der Universität Erlangen-Nürnberg. Hg. von Joachim Matthes u. a. Nürnberg 1981 (darin insbesondere der Beitrag von Fritz Schütze: Prozessstrukturen des Lebensablaufs, S. 67–156). 18 Vgl. Anm. 2. Siehe auch Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2007. 19 Hier hilft auch die Analyse der »performance« weiter. Vgl. Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hg. von Jürgen Martschukat und Steffen Patzold. Köln usw. 2003; Erika Fischer-Lichte: Vom »Text« zur »Performance«. Der »performative turn« in den Kulturwissenschaften. In: Schnittstelle: Medien und Kulturwissenschaften. Hg. von Georg Stanitzek und Wilhelm

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»teilnehmende Beobachtung«20 oder »dichte Beschreibung»21 einer Erinnerung, wie sie in einem Selbstzeugnis zum Ausdruck kommt, nachvollzogen und interpretiert werden. Selbstverständlich kann dies auch durch die kritische Auswertung von Zeugnissen über eine Person durch andere oder über das Umfeld des Akteurs geschehen.22 Die lebensweltliche Orientierung ermöglicht es dabei, ein methodisches Problem der »teilnehmenden Beobachtung« und »dichten Beschreibung« zu mildern oder gar zu vermeiden: nämlich dass die Forschenden aufgrund eines theoretischen Modells darüber entscheiden, was sie beobachten, beschreiben und analysieren. Stattdessen nehmen sie die Perspektive des Akteurs ein, treten mit ihm in einen Dialog und entfalten so die Rekonstruktion der Situation oder eines grösseren Zusammenhanges.23 Auf diese Weise erhalten wir eine Innenansicht der Geschichte, die zugleich den »Rahmen«24 und den »Sinn«25 im Blick hat.

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Vosskamp. Köln 2001, S. 111–115. Siehe auch Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung. In: Sozial.Geschichte 22 (2007) H. 3, S. 43–65; Klaus Hödl: Looking Beyond Borders: Performative Approaches to Jewish Historiography. In: Journal of Jewish Identities 1 (2008) 51–66. Zum Zusammenhang – auch im Folgenden – Doris Bachmann-Medick; Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006, hier bes. S. 104–143. Hans Medick: »Missionare im Ruderboot»? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte. In: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Hg. von Alf Lüdtke. Frankfurt a. M., New York 1989, S. 48–84. Vgl. Anne Honer: Einige Probleme lebensweltlicher Ethnographie. Zur Methodologie und Methodik einer interpretativen Sozialforschung. In: Zeitschrift für Soziologie 18 (1989) S. 297–312; dies.: Lebensweltliche Ethnographie. Ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von Heimwerker-Wissen. Wiesbaden 1993, Teil I, sowie weitere Schriften der Autorin. Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 1987, S. 7–43. Vgl. Alain Corbin: Auf den Spuren eines Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben. Frankfurt a. M., New York 1999. Zu den Problemen der genannten Verfahren vgl. Andreas Ackermann: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Hg. von Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen. Stuttgart, Weimar 2004, S. 139–154, bes. S. 144–147. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1980; ders.: Rede-Weisen. Formen der Kommunikation in sozialen Situationen. Hg. von Hubert Knoblauch u. a. Konstanz 2005. Vgl. Martin Schaffner: Verrückter Alltag. Ein Historiker liest Goffman. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 32 (2007) H. 2, S. 72–89. Vgl. Haumann: Geschichte (der ganze Band ist heranzuziehen); Emil Angehrn: Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken. Würzburg 2008. Zur mehrschichtigen Lektüre von Selbstzeugnissen siehe Brigitte Studer: Arbeit am Selbst im Arbeiterstaat. Neue

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Versuchen wir, vor diesem Hintergrund den Stellenwert von Podlubnyjs Tagebuch zu beleuchten. Die Rahmenbedingungen für die von ihm mitgeteilten Informationen werden von neueren Forschungen bestätigt, die mit anderen Quellen gearbeitet haben. So zeigt sich etwa bei der Analyse des Moskauer MetroBaus – dem bedeutendsten stalinistischen Prestigeobjekt in den dreissiger Jahren –, dass trotz angeordneter drakonischer Massnahmen Blaumachen, langsames Arbeiten, Verlängerung von Pausen und ähnliche Verhaltensweisen am Arbeitsplatz durchaus üblich waren. Dies lässt sich als Versuch werten, eigene Interessen zum Ausdruck zu bringen, die nicht mehr kollektiv vertreten werden können. Ebenso waren die Kontroll-, Straf- und Mobilisierungsmittel üblich, die Podlubnyj erwähnt, um die Arbeiterinnen und Arbeiter zu immer neuen Leistungen anzutreiben und zugleich »Sündenböcke« für unbefriedigende Entwicklungen zu finden. Beim Metro-Bau herrschte – noch stärker als in Podlubnyjs Betrieb – gewissermassen ein Ausnahmezustand, ja ein innerer »Kriegszustand«, um das angestrebte Ziel zu erreichen und jeglichem Widerstand den Boden zu entziehen. Dennoch blieben selbst hier Handlungsspielräume für die Arbeiter erhalten, die über die genannten Verzögerungstaktiken hinausgingen und bis zu offenen Verweigerungen oder gar kleineren Streiks führten, andererseits aber auch eine opportunistische Anpassung oder gar – aus den verschiedensten Gründen – eine aktive Unterstützung des Systems beinhalteten.26 Podlubnyjs zunächst überzeugtes Eintreten für die stalinistische Politik war insofern kein Einzelfall, ebenso wenig seine bleibende Integration in das System trotz wachsender Kritik. Selbstzeugnisse wie Stepan Podlubnyjs Tagebuch ermöglichen somit vertiefte Aussagen über Verhaltensweisen, deren Voraussetzungen und Bedingungen, die letztlich das »Funktionieren« des stalinistischen Systems verständlicher machen, als wenn wir uns ausschliesslich mit dessen Strukturen beschäftigen. Offener Widerstand blieb – nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste und Aufstände gegen die Kollektivierung – die Ausnahme, zumal so gut Quellen des Stalinismus und ihre Deutung. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2008) S. 223–230. Übergreifend: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. von Andreas Bähr u. a. Köln usw. 2007. 26 Diese Ausführungen nach Dietmar Neutatz: Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus (1897–1935). Köln usw. 2001, hier bes. S. 291 ff., zum »Kriegszustand« vor allem S. 315 ff. Zu den Handlungsräumen und Verhaltensweisen vgl. Sarah Davies: Popular Opinion in Stalin’s Russia. Terror, Propaganda and Dissent, 1934–1941. Cambridge usw. 1997; dies.: »Us against Them«: Social Identity in Soviet Russia, 1934–41. In: The Russian Review 56 (1997) S. 70–89; Contending with Stalinism. Soviet Power and Popular Resistance in the 1930s. Ed. by Lynne Viola. Ithaca, London 2002.

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wie keine kollektiven Organisierungsmöglichkeiten bestanden. Hingegen gab es häufig vorsichtigen Widerstand, mit dem sich Menschen dem absoluten Gehorsamsanspruch des Staates entzogen, aber nicht das System grundsätzlich in Frage stellten.27 Bei manchen Menschen äusserte sich dies dergestalt, dass sie ihr Selbstverständnis überhaupt nicht auf die politisch-gesellschaftliche Ordnung bezogen, sondern ein eigenes Wertesystem ausbildeten, sozusagen eine »stille Identität«. Darüber hinaus ist eine Anpassung an die gegebenen Verhältnisse zu beobachten, die entweder zu einer politischen Apathie führte oder zu einer gespaltenen, einer zweifachen Identität zwischen Loyalität nach aussen und verborgener persönlicher Einstellung. Und schliesslich finden wir eine Haltung, die das offizielle Normen- und Wertesystem verinnerlicht hat, davon überzeugt ist. Entsprechend intensiv erfolgte die Unterstützung des Regimes.28 Drohte aufgrund zunehmender Zweifel und Kritik an dessen Massnahmen diese Identität zu zerfallen, gelang es hin und wieder Menschen wie Podlubnyj, sich über neue Leitbilder ein Selbstverständnis aufzubauen, das ein Zerbrechen der Persönlichkeit verhinderte.29 Deutlich werden auf diese Weise wiederum Handlungsspielräume und Alternativen. 27 Vgl. Thomas M. Bohn: »Resistenz« und »Eigensinn« in Minsk. Widerständiges Verhalten in der Sowjetunion. In: Osteuropa 57 (2007) H. 12, S. 79–96. Neben »Resistenz« und »Eigensinn« liesse sich diese Art des Widerstandes auch mit »Dissens« bezeichnen, abgesetzt von »Dissidenz« als offenem Protestverhalten; dazu Anke Stephan: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen. Zürich 2005, S. 22–27, bes. S. 24–25 Anm. 37. 28 Vgl. Dietmar Neutatz: Identifikation und Sinnstiftung. Integrative Elemente in der Sowjetunion. In: Osteuropa 57 (2007) H. 12, S. 49–63. 29 Vergleichbare Selbstzeugnisse zu den 1930er und 1940er Jahren etwa: Das Tagebuch der Nina Kosterina. Deutsch von Helen von Ssachno. München 1973 (ihr Vater wurde 1937 als »Trotzkist« verhaftet, sie sagt sich nicht von ihm los, entwickelt eigenständige Meinungen, bleibt aber überzeugte Kommunistin, kann sogar weiterhin Komsomolführerin sein; 1941 fällt sie als Angehörige einer Partisaneneinheit); Dmitri S. Lichatschow: Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika. Ostfildern 1997 (vgl. den Blick auf Russland aus der Perspektive der Soloveckij-Inseln von Mariusz Wilk: Schwarzes Eis. Mein Russland. Wien 2003); Das wahre Leben. Tagebücher aus der StalinZeit. Hg. von Véronique Garros u. a. Berlin 1998; A Revolution of Their Own. Voices of Women in Soviet History. Hg. von Barbara Alpern Engel und Anastasia PosadskayaVanderbeck. Boulder, Col. 1998; Na korme vremeni. Interv’ju s leningradcami 1930-ch godov. Pod obšč. red. M. Vituchnovskoj. Sankt-Peterburg 2000; Irina Scherbakowa: Nur ein Wunder konnte uns retten. Leben und Überleben unter Stalins Terror. Frankfurt a. M., New York 2000; Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten. Hg. von Irina Scherbakowa. 2. Aufl. Hamburg 2003; Nina Lugowskaja: Ich will leben. Ein russisches Tagebuch 1932–1937. München, Wien 2005; Julius Wolfenhaut: Nach Sibirien verbannt. Als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941–1994. Frankfurt a.  M. 2005; Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner

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In diesem Zusammenhang wären die zugänglichen Selbstzeugnisse einmal daraufhin durchzusehen, inwieweit die Identifikation mit dem Regime auch die Suche nach Schutz unter einem »Panzer« darstellen konnte. Anatolij Lunačarskij, der Volkskommissar für Aufklärung, meinte 1926 rückblickend auf die Epoche des Bürgerkrieges, jene »Zeit des Terrors und der verstärkten Auseinandersetzung« habe »uns den Stempel des Grausamen aufgedrückt, unsere Hand gegenüber Schlägen weniger empfindlich gemacht und uns weiter von jener Menschenliebe entfernt, die eigentlich der Kern unseres Aufbaus und Kampfes ist«. Diese »brutale Abhärtung« bezeichnete er als »schützendes Panzerhemd«, das man wieder ablegen müsse, um zur Menschenliebe fähig zu

Familie. München 2005; Swetlana Alexijewitsch: Die letzten Zeugen. Kinder im Zweiten Weltkrieg. Berlin 2005; Igal Halfin: Popov’s Apostasy: A Drama in Three Letters and Two Interrogations. In: Autobiographical Practices in Russia, S. 223–250; Hellbeck: Writing the Self; ders.: Revolution on My Mind. In Auszügen sind mehrere Selbstzeugnisse abgedruckt oder wiedergegeben von Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern. Bd. 3: Sowjetische Moderne und Umbruch. Zürich 2005, innerhalb des Siebenten Zeitbildes, S. 17–298. Einige weitere Beispiele werden im Folgenden zitiert. Vgl. Véronique Garros: L’ État en proie au singulier. Journaux personnels et discours autoritaire dans les années 1930. In: Pouvoirs et société en Union Soviétique. Hg. von Jean-Paul Depretto. Paris 2002, S. 137–154; Igal Halfin: From Darkness to Light: Student Communist Autobiography During NEP. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997) S. 210–236; ders.: Terror in my Soul. Communist Autobiographies on Trial. Cambridge, Mass. 2003; Sheila Fitzpatrick: Lives under Fire. Autobiographical Narratives and their Challenges in Stalin’s Russia. In: De Russie et d’ailleurs. Feux croisés sur l’histoire. Pour Marc Ferro. Hg. von Martine Godet. Paris 1995, S. 225–232. Zum Kontext dies.: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s. New York, Oxford 1999; Stalinism as a Way of Life: A Narrative in Documents. Hg. von Lewis Siegelbaum und Andrei Sokolov. New Haven 2000; Contending with Stalinism; Elena Osokina: Our Daily Bread: Socialist Distribution and the Art of Survival in Stalin’s Russia, 1927–1941. Ed. by Kate Transchel. Armonk 2001 (russ.: Za fasadam »Stalinskogo Isobilija«: Raspredelenie i rynok v znabženii naselenija v gody industrializacii, 1927–1941. Moskva 1998); Elena Zubkova: Russia After the War. Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945–1957. Armonk, London 1998; Late Stalinist Russia. Society between reconstruction and reinvention. Hg. von Juliane Fürst. London, New York 2006; Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Berlin 2008. In den letzten Jahren werden in Russland mehr und mehr Erinnerungen publiziert, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. Nur ein kleiner Teil davon wird in westliche Sprachen übersetzt, etwa zum Zweiten Weltkrieg in: The Journal of Slavic Military Studies, z. B. 14 (2001) und 15 (2002). Interessant ist auch die »Erinnerungsausgabe»: Staline, 50 ans après: ce qu’il fut, ce qu’il fit et ce qu’il en reste. In: Le Monde, 26.2.2003 (Hinweis von Eva Maeder). Weitere Hinweise auf Forschungsliteratur, namentlich zum Terror im Stalinismus, finden sich in: Haumann: Verarbeitung von Gewalt.

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sein.30 Aus Forschungen zur Jugendkultur in den 1920er Jahren lässt sich ableiten, dass aggressiv-gewalttätiges Verhalten in der Regel mit einem gestörten Selbstwertgefühl, mit einer geschwächten Identität zu tun hatte. Diese Jugendlichen schufen sich einen »Panzer«, um sich gegen alles abzuschotten, was sie in Frage stellte, und um eigenständigen Orientierungen auszuweichen. Anders fanden sie sich nicht in der Gesellschaft zurecht. Bedeutenden Einfluss übten dabei nicht zuletzt Männlichkeitsbilder aus (eben wie bei Podlubnyj).31 Es scheint so, dass viele von ihnen das stalinistische Angebot eines »Ganzheitspanzers« annahmen.32 Auf diese Weise wurden sie zu Trägern des Stalinismus oder zumindest zu »Mitläufern«.33 Die Dissidentin Raissa Orlova erinnerte sich, das Regime habe es verstanden, die »Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, das Verlangen der Mehrheit anzugehören, die Angst vor dem Alleinsein und die verzückte Bewunderung einer siegreichen Macht« auszunutzen und dadurch die Individuen unter seine Bedürfnisse zu unterwerfen.34 In den Selbstzeugnissen wird darauf zu achten sein, dass diejenigen, die sich aus dem »Panzer« befreit haben, ihre Vergangenheit anders aufarbeiten als jene, die sich noch unter dessen vorläufigem, problematischem Schutz befinden. 30 Anatoli Lunatscharski: Vorlesung über Korolenko und Tschechow an der Kommunistischen ›Swerdlow‹-Universität (1926). In: Wladimir Korolenko: Ohne Freiheit keine Gerechtigkeit. Die Briefe an den Volkskommissar Lunatscharski (1920). Hg. von Michael Harms. Berlin 1993, S. 103–133, hier S. 125–126 (Hinweis von Monica Wellmann). 31 Sie sind für Stepan Podlubnyj ein Schutz, um in seiner Identitätskrise nicht unterzugehen, vgl. Anm. 10. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Aglaja Popoff: »Ich sehe alles, ich höre alles, aber ich fühle nichts.« Gewalterfahrungen und Ursachen gewalthaften Verhaltens im Russischen Bürgerkrieg. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 2000. Wichtige Einsichten vermitteln auch Corinna Kuhr-Korolev: »Gezähmte Helden«. Die Formierung der Sowjetjugend 1917–1932. Essen 2005; Daniela Tschudi: Auf Biegen und Brechen. Sieben Fallstudien zur Gewalt im Leben junger Menschen im Gouvernement Smolensk 1917–1926. Zürich 2004; Wellmann: Militanz. 32 Franziska Herold: Der totalitäre Leib. Zur Körpermetaphorik sowjetischer Grenz-Erzählungen der 30er Jahre. In: Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Hg. von Claudia Benthien und Irmela Marei Krüger-Fürhoff. Stuttgart, Weimar 1999, S. 108–124, Zitat S. 129. Zum Bild des »Panzers« vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Reinbek 1980, vor allem Bd. 1, S. 311–377, Bd. 2, S. 144–175, 206–246. Sich einen »Panzer« zu schaffen, ist Teil eines Bemühens, das Denken und die Deutungsmuster mit der wahrgenommenen Realität in Übereinstimmung zu bringen. Vgl. dazu Leon Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz. Hg. von Martin Irle und Volker Möntmann. Bern usw. 1978; den Hinweis verdanke ich Ekaterina Emeliantseva. 33 Vgl. zusammenfassend Haumann: Jugend, S. 58–61. 34 Raissa Orlowa: Eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Rückblick aus fünf Jahrzehnten. München, Hamburg 1985, S. 79 (Hinweis von Anke Stephan). Vgl. Manès Sperber in: Friedrich Uttitz: Zeugen der Revolution. Mitkämpfer Lenins und Stalins berichten. Köln 1984, S. 161.

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Eine wichtige Rolle in diesen Vorgängen spielten Gewalt, Repression und Terror in jener Zeit.35 Zugleich lässt sich daran der Umgang mit Selbstzeugnissen noch einmal schärfer fassen. Die Gewalt, die ihre Wurzeln in der Frühgeschichte des Bolschewismus und der Sowjetordnung hat, wurde im Stalinismus zum Systemmerkmal. Im Zusammenhang mit der »Flucht nach vorn« in der schweren Krise gegen Ende der 1920er Jahre, die in der Wende von 1929/30 gipfelte, radikalisierte sich die Gewalt und weitete sich in den dreissiger Jahren drastisch aus. Immer wieder reagierte das Regime panikartig, griff dabei aber auch auf Grundvorstellungen, Denk- und Verhaltensmuster zurück, die sich festgesetzt hatten, und entwickelte auf diese Weise durchaus gezielte Aktivitäten. In anderen Bereichen konnte es durch wohldurchdachte Inszenierungen, manche Errungenschaften und soziale Aufstiegsmöglichkeiten ohnehin den Anschein erwecken, als folge die Politik einem langfristigen Konzept, das planmässig umgesetzt werde. Mit der Anwendung von Gewalt sollten nicht nur konkrete Massnahmen, die auf Widerstand stiessen, durchgesetzt, sondern auch »Sündenböcke« für die Missstände an den Pranger gestellt und von den Fehlern der Führung abgelenkt werden. Darüber hinaus ging es darum, jeder möglichen Opposition, die eine Rückkehr zu den sozialistischen Ansprüchen und Zielen einforderte oder eine andere Änderung des Systems anstrebte, den Boden unter den Füssen zu entziehen sowie über die Konstruktion von in- und ausländischen Verschwörungen den Ausnahmezustand zu rechtfertigen und die Mobilisierung für die Vorgaben der Führung voranzutreiben. Schliesslich diente der Terror dazu, den Anspruch der Allgegenwart staatlicher Macht zu kundzutun: Niemand konnte sich mehr sicher fühlen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung darüber soll hier nicht wiederholt und fortgesetzt werden.36 Jedenfalls entstand ein Mechanismus, der 35 Vgl. zur Begrifflichkeit Haumann: Jugend, S. 28–31 (mit Anm.). Auch: Elfriede Müller: Die Bolschewiki und die Gewalt. In: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 15 (1998) S. 155–204. 36 Meine Thesen dazu sind (abgesehen von den in Anm. 1 zitierten Schriften) nachzulesen in Heiko Haumann: Geschichte Russlands. Neuausgabe Zürich 2003, S. 402–424; als Überblick, der aus fünf Lebensschicksalen entwickelt wird, ders.: »Eine sozialistische Lebensweise der Zukunft.« Die Sowjetunion zwischen 1929 und 1939. In: Utopie und Terror: Josef Stalin und seine Zeit. Hg. von Eva Maeder und Christina Lohm. Zürich 2003, S. 15–39; zu den Wurzeln des Stalinismus ders.: Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse. Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrußlands (1917–1921). In: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994) S. 19–34; ders.: Nachholende Industrialisierung und Aufbau des Sozialismus. Langwirkende Faktoren der sozialökonomischen Entwicklung in der UdSSR. In: Beiträge zur Sozialismusanalyse.

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zu immer neuen Terrorwellen führte, letztlich alle Schichten der Gesellschaft erfasste, die Konkurrenz der Machtapparate anheizte, die sich gegenseitig beim Aufspüren von »Verrätern«, »Saboteuren« und »Schädlingen« übertreffen wollten. Dies entliess die politische Zentrale nicht aus der Verantwortung für die Verbrechen: Die Urteile über die Beschuldigten wurden dort abgesegnet, und schliesslich setzte sie sogar präzise Kontingente von Menschen fest, die »repressiert« werden sollten.37 Der GULag, das System der über das ganze Land verBd. 3. Hg. von Peter Brokmeier und Rainer Rilling. Köln 1981, S. 7–32. Vgl. als neuere Übersichten: Bernd Bonwetsch: Der Stalinismus in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Zur Deformation einer Gesellschaft. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1993) S. 11–36; ders.: Gulag. In: 200 Tage und 1 Jahrhundert. Gewalt und Destruktivität im Spiegel des Jahres 1945. Hamburg 1995, S. 217–231; ders.: Der »Große Terror« – 70 Jahre danach. In: Zeitschrift für Weltgeschichte 9 (2008) H. 1, S. 123–146; Stephan Merl: Das System der Zwangsarbeit und die Opferzahl im Stalinismus. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995) S. 277–301; John Keep: Recent Writing on Stalin’s Gulag: An Overview. In: Crime, Histoire & Sociétés / Crime, History & Societies 1 (1997) S. 91–112; Stefan Plaggenborg: Stalinismus als Gewaltgeschichte. In: Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte. Hg. von Stefan Plaggenborg. Berlin 1998, S. 71–112; Markus Wehner: Stalinismus und Terror. In: ebd., S. 365–390; J. Arch Getty, Oleg V. Naumov: The Road to Terror. Stalin and and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932–1939. New Haven 1999; Dietrich Beyrau: GULAG – die Lager und das Sowjetsystem. In: Sowi 29 (2000) S. 166–176; Manfred Hildermeier: Stalinismus und Terror. In: Osteuropa 50 (2000) S. 593–605; Jörg Baberowski: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. München 2003; Stalinismus. Hg. von Manfred Hildermeier = Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) H. 1; Alter Litvin, John Keep: Stalinism. Russian and Western views at the turn of the millenium. London, New York 2005; Wendy Z. Goldman: Terror and Democracy in the Age of Stalin. The Social Dynamics of Repression. New York 2007; Hiroaki Kuromiya: The Voices of the Dead. Stalin’s Great Terror in the 1930s. New Haven, London 2007; Mark Grosset, Nicolas Werth: Die Ära Stalin. Leben in einer totalitären Gesellschaft. Stuttgart 2008; Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008. 37 Vgl. z. B. Leningradskij Martirolog 1937–1938. Tom 2, oktjabr’ 1937 goda. Sankt-Peterburg 1996; Repressii protiv pol’jakov i pol’skich graždan. Moskva 1997 (= Istoričeskie sborniki »Memoriala«, vyp. 1); Kees N. Boterblom: Einige Aspekte der stalinistischen »Säuberungen« in der russischen Provinz. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (1993) S. 60–81; Sheila Fitzpatrick: How the Mice Buried the Cat: Scenes from the Great Purges of 1937 in the Russian Provinces. In: The Russian Review 52 (1993) S. 299–320; Aleksandr Vatlin: Die Erfindung des »Bundes polnischer Patrioten« (1937–1938). Aus den Archiven des NKVD. In: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 2 (1998) S. 117–139; Markus Wehner: Hauptstadt des Geistes, Hauptstadt der Macht. Leningrad/St. Petersburg und Moskau: Die Konfrontation im zwanzigsten Jahrhundert. In: St. Petersburg – Leningrad – St. Petersburg. Eine Stadt im Spiegel der Zeit. Hg. von Stefan Creuzberger u. a. Stuttgart 2000, S. 220–232, hier bes. S. 226–229; Barry McLoughlin: »Vernichtung des Fremden«: Der »Grosse Terror« in der UdSSR 1937/38. Neue russische Publikationen. In: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2000/2001) S. 50–88; Nikita Ochotin, Arseni Roginski: Zur Geschichte der »Deutschen Operation« des NKWD 1937–1938.

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breiteten Straflager, weitete sich zunehmend aus, Millionen Menschen litten dort unter unvorstellbaren Bedingungen.38 Ebenso traf das Leid die Angehörigen, Freunde und Bekannten der Lagerinsassen wie der Ermordeten und Gefolterten. Ebd., S. 89–125; Hans Schafranek: Kontingentierte »Volksfeinde« und »Agenturarbeit«. Verfolgungsmechanismen der stalinistischen Geheimpolizei NKWD am Beispiel der fiktiven »Hitler-Jugend« in Moskau (1938) und der »antisowjetischen Gruppe von Kindern repressierter Eltern« (1940). In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 37 (2001) S. 1–76; Reinhard Müller: Menschenfalle Moskau. Exil und stalinistische Verfolgung. Hamburg 2001; Stalinscher Terror 1934–41. Eine Forschungsbilanz. Hg. von Wladislaw Hedeler. Berlin 2002; mehrere Beiträge in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 8 (2004) H. 1; Stalin’s Terror Revisited. Hg. Von Melanie Ilič. Houndmills, Basingstoke 2006. Weitere Literaturhinweise in: Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 390 Anm. 4. 38 Jacques Rossi: The Gulag Handbook. An Encyclopedia Dictionary of Soviet Penitentiary Institutions and Terms Related to the Forced Labor Camps. New York 1989; Ralf Stettner: »Archipel GULag»: Stalins Zwangslager – Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen Lagersystems 1928–1956. Paderborn usw. 1996; Sistema ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR, 1923–1960. Spravočnik. Hg. von N. Ochotin und A. Roginskij. Moskva 1998; GULAG. Hg. von A. I. Kokurin und N. V. Petrov. Moskva 2000; Galina M. Ivanova: Der GULag im totalitären System der Sowjetunion. Berlin 2001; Viktor Funk u. a.: Zwangsarbeit im Gulag. In: Zeitschrift für Weltgeschichte 3 (2002) H. 2, S. 25–46; Anne Applebaum: Der Gulag. München 2005. Überblick zu neuen Publikationen: Oksana Klimkova: Ot mifotvorčestva k izučeniju. In: Ab imperio (2005) H. 3, S. 501–528; Kate Brown: Out of Solitary Confinement. The History of the Gulag. In: Kritika 8 (2007) H. 1, S. 67–103. Als Beispiel für die Analyse eines einzelnen Lagers: Oleg V. Afanasov: Documents on the History of the Lake Camp in the Irkutsk oblast’ (1948–63). In: The Journal of Slavic Military Studies 15 (2002) S. 145–164; Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. Hg. von Manfred Sapper u. a. Berlin 2007 (= Osteuropa 57 [2007] H. 6); Hans-Heinrich Nolte: Soloveckij. In: Insel. Reflexionen. Carl-Hans Hauptmeyer zum 60. Geburtstag. Hg. von Martin Stöber u. a. Hannover 2008, S. 65–70; Wladislaw Hedeler, Meinhard Stark: Das Grab in der Steppe. Leben im GULag: Die Geschichte eines sowjetischen »Besserungsarbeitslagers« 1930–1959. Paderborn usw. 2008; Karlag. Das Karagandinsker »Besserungsarbeitslager« 1930–1959. Dokumente zur Geschichte des Lagers, seiner Häftlinge und Bewacher. Hg. von Wladislaw Hedeler unter Mitarbeit von Meinhard Stark. Paderborn usw. 2008. Zur Analyse der Geheimpolizei und des GULag vgl. auch das gesamte Heft von: Cahiers du Monde russe 42 (2001). Eine Besonderheit stellten die Lager für Kriegsgefangene dar. Vgl.: Die Tragödie der Gefangenschaft in Deutschland und in der Sowjetunion 1941–1956. Hg. von K.-D. Müller u. a. Köln 1998; Richard Dähler: Die japanischen Kriegsgefangenen in Sibirien 1945–1956. Verarbeitung der Lagererlebnisse in Wort und Bild. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Zürich 2001; ders.: Die japanischen und die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion 1945–1956. Vergleich von Erlebnisberichten. Münster usw. 2007. Weitere Literaturhinweise zum GULag in: Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 391 Anm. 7.

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Was können Selbstzeugnisse zur Aufklärung und zum Verständnis dieser Vorgänge beitragen? Deutlich ist die Willkürlichkeit der staatlichen Massnahmen zu erkennen. Ebenso erfahren wir, welches Selbstverständnis sich bei den Betroffenen ausprägte und welches Verhalten daraus folgte. Wir können einzelne Ausschnitte und Fragmente zusammenfügen, um uns dem Verständnis darüber anzunähern, was das System zusammenhielt. Weiter zeigen die massenhaften Denunziationen, die sich in den Quellenbeständen gefunden haben, in welchem Ausmass einzelne Personen vom Terror profitiert haben — sie konnten oft sozial aufsteigen, alte Rechnungen begleichen oder sich materielle Vorteile verschaffen. Andere hatten Angst, selbst in das Visier der »Organe« zu kommen, wenn sie nicht »wachsam« genug waren. Viele handelten aber auch aus Überzeugung – oder aus Schwäche und mangelndem Selbstwertgefühl, aus der Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Auf diese Weise haben sie zugleich den Terrormechanismus weiter in Bewegung gehalten.39 Damit ist auch die Frage nach den »Tätern« gestellt, die allerdings dann selbst häufig zu »Opfern« wurden.40 In den Selbstzeugnissen erhalten wir

39 Vgl. dazu Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 381 mit S. 391 Anm. 7. 40 Schattenberg: Die Frage nach den Tätern, zur Denunziation S. 649–651, sowie dies.: Stalinismus in den Köpfen. Ingenieure konstruieren ihre Welt. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004) S. 94–117. — Ein Schlaglicht auf die Probleme, die sich dabei ergeben können, warf der Film »Aufbruch ins russische Eis. Teil 1: Sibiriens wilde Seele« von Anne Gellinel, der am 18.2.2003 im Zweiten Deutschen Fernsehen gesendet wurde (20.15–21.00 Uhr): Die Reporterin besichtigt das Lager »Perm 36«, das jetzt ein Museum ist, zusammen mit einem ehemaligen Häftling. Dabei treffen sie auf einen seiner früheren Wärter, der nun das Museum beaufsichtigt! Auf Befragen erklärt er, er habe gedacht, dass alles mit rechten Dingen zugehe, weil alle Häftlinge verurteilt gewesen seien. Zu klagen hat er nur, dass es ihm heute materiell schlechter geht als damals. Hin und wieder finden sich Verarbeitungen. So hat der ehemalige Major der Geheimpolizei, Dancik S. Baldajew, der als Kind eines »Volksfeindes« in einem Heim aufwuchs und später selbst Gefängnisaufseher wurde, seine Erlebnisse in »Gulag-Zeichnungen« niedergelegt: Dancik Sergejewitsch Baldajew: GULagZeichnungen. Hg. von Hans-Peter Böffgen, Thees Klahn und Andrzej Klamt. Frankfurt a. M. 1993. Die Interpretation wird dadurch erschwert, dass im Einzelnen nicht vermerkt wird, was Baldaev selbst erlebt und was Verarbeitungen von Gehörtem oder Gelesenem ist. Allgemein führt er aus, »etwa ein Fünftel der Sachen (...) selbst erlebt« zu haben (S. 11). Die Erläuterungen, die er den Herausgebern zu jedem Bild gab (S. 12), sind leider nicht in den Band aufgenommen worden. Die Bildsprache verdient eine genaue Analyse, sie enthält z. B. auch antisemitische Elemente (S. 47, 289). Vgl. Eugen Sorg: Aus dem Innern des Gulag. In: Das Magazin Nr. 35 (1999) S. 14–25. Zur »Täter»-Forschung sind vergleichend Ansätze heranzuziehen, die an anderen Gesellschaften, etwa dem »Dritten Reich« entwickelt wurden, etwa Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Unter Mitarbeit von Michaela Christ. Frankfurt a. M. 2005.

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oft erste Kenntnisse über diese Akteure.41 Ähnliche Hinweise finden wir in Berichten über die Zeit im GULag, dazu etwa Auskünfte über das »Regime« der mit einem informellen System von Begünstigungen und Beziehungen operierenden Kriminellen, der »blatnye« und der »vory v zakone«, das den Lageralltag bestimmte.42 Insofern bieten sich hier Ansatzpunkte für eine differenzierte Täterforschung. Weiterhin erfahren wir etwa, warum sich Menschen in einer bestimmten Situation zum Freitod entschlossen.43 In anderen Fällen gewinnen wir Aufschlüsse über die Umstände der Verhaftung, der Folterung und Ermordung von Opfern des stalinistischen Terrors. Ebenso geht aber auch aus Erinnerungen hervor, dass sich Menschen in einer Weise verhielten, die wir aufgrund des ungeheuren Drucks, der auf ihnen lastete, eigentlich nicht erwartet hätten: Es gab durchaus Nachbarn und Bekannte, die sich der Kinder verhafteter »Volksfeinde« annahmen und damit den »Organen« zuvorkamen, die diese üblicherweise in ein Heim einwiesen.44 Wiederum lassen sich also handfeste Informationen aus Selbstzeugnissen – im weitesten Sinne – gewinnen. Daneben vermitteln uns die autobiographischen Berichte von Betroffenen wenigstens eine Ahnung von dem Leid und Elend, das sie erdulden mussten und das in unserem Gedächtnis haften bleibt. Nachvollziehen können wir vielleicht, wie jene Erfahrungen verarbeitet wur41 Im Fall »Dmitrevskij« (Anm. 44) siehe die Nachweise in: Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 390 Anm. 5. 42 Siehe die Hinweise in: Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 390–391 Anm. 6. 43 Vgl. verschiedene Beiträge in: Sowjetjugend; E. Thomas Ewing: Personal Acts with Public Meanings: Suicides by Soviet Women Teachers in the Early Stalin Era. In: Gender and History 14 (2002) S. 117–137. 44 Ein Beispiel ist das Schicksal Michail S. Dmitrevskijs (1887–1937). Vgl. Heiko Haumann: Ein Besuch beim Genossen Kirow. Die Geschichte der Familie Dmitrewski – eine Fallstudie von den Anfängen der Slawistik in Freiburg i. Br. bis zum stalinistischen Terror und zur Aufarbeitung der Erinnerung. In: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins »Schauins-Land« 120 (2001) S. 121–144, hier bes. S. 130–137 (ausgewertet auch in: Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 379–382; ders.: Geschichte Russlands, S. 414–418). Offensichtlich hat es solche Fälle von Solidarität und Mitgefühl häufiger gegeben. Vgl. Stephan: Küche, S. 141 (S. 133–143 zu den Prägungen der späteren Dissidentinnen durch den Terror der dreissiger Jahre mit teilweise traumatischen Kindheitserfahrungen, S. 366–402 zur Verarbeitung des Aufenthalts in Gefängnissen und Lagern, den sie selbst oder ihre Partner erlebten); E. Thomas Ewing: The Teachers of Stalinism. Policy, Practice, and Power in Soviet Schools of the 1930s. New York usw. 2002, S. 227–228 (ein Lehrer leugnet die Anwesenheit eines Schülers, der als Sohn eines verhafteten »Volksfeindes« von der Geheimpolizei aus der Schule entfernt werden soll). Zur üblichen Praxis gegenüber Kindern Corinna Kuhr: Kinder von »Volksfeinden« als Opfer des stalinistischen Terrors 1936–1938. In: Stalinismus, S. 391–417.

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den, wie sich somit Erinnerung vollzieht.45 Dies stellt uns allerdings vor schwierige methodische Herausforderungen. Erinnerungen, das wissen wir aus der eigenen Erfahrung, verändern sich ständig. Jeder Erinnerungsvorgang weckt neue Assoziationen und gibt dem Erinnerten andere Akzente. Mit der Zeit kann sich darüber hinaus die Erinnerung an Einzelheiten abschwächen und mit anderen Ereignissen vermischen. Ebenso ist es möglich, dass sie durch Gehörtes oder Gelesenes überdeckt und verschiedenartig interpretiert wird.46 Deutungsmuster und Erinnerung

Insofern kann nicht erwartet werden, dass die Erinnerung das tatsächlich Erlebte unmittelbar widerspiegelt. Das Erlebte und Wahrgenommene wird nicht »einfach« wiedergegeben, sondern als Erfahrung verarbeitet.47 Diese Verarbei45 Ich gebe hier und im Folgenden erste, vorläufige Überlegungen aus dem »Projekt Erinnerung« wieder, das am Historischen Seminar der Universität Basel durchgeführt wurde und aus dem auch der vorliegende Band hervorgegangen ist. 46 Vgl. nur Detlef Linke: Das Gehirn. München 1999; Jürgen Bredenkamp: Lernen, Erinnern, Vergessen. München 1998; Michael O’Shea: Das Gehirn. Eine Einführung. Stuttgart 2008, hier bes. S. 120–144; Suitbert Cechura: Kognitive Hirnforschung. Mythos einer naturwissenschaftlichen Theorie menschlichen Verhaltens. Hamburg 2008. Selbstverständlich ist zu berücksichtigen, dass es sich um unterschiedliche Formen von Selbstzeugnissen handelt, mit teilweise völlig verschiedenartigen Kontexten und Selbstverständnissen. Zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit siehe auch: Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung. Hg. von Luise Greuel und Susanne Offe. Weinheim 1998. 47 Zur Definition vgl. Kaline Hoffmann: Die Erfahrung der »anderen Welt«. Polinnen und Polen im Gulag, 1939–1942. In: Stalinistische Subjekte, 455–466, hier 457. Zur Vielschichtigkeit auch Karin Hartewig: »Wer sich in Gefahr begibt, kommt [nicht] darin um«, sondern macht eine Erfahrung! Erfahrungsgeschichte als Beitrag zu einer historischen Sozialwissenschaft der Interpretation. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 110–124. Andreas Renner zitiert ein Wort von Osip Mandel’štam, das den Zusammenhang von Erinnerung und Konstruktion anspricht: »Erfindung und Erinnerung gehen in der Poesie Hand in Hand. Erinnern heisst auch erfinden, der Erinnernde ist noch einmal der Erfinder»: Erfindendes Erinnern. Das russische Ethnos im russländischen nationalen Gedächtnis. In: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000) S. 91–111, hier S. 91. Koselleck definiert Erfahrung als »gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können»; dabei sei in der eigenen auch »immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben« (›Erfahrungsraum‹, S. 354). Man könnte auch sagen, Erfahrung ist verarbeitete Vergangenheit. Als Beispiel für die Arbeit mit dem Unterschied von Erlebnis und Erfahrung Klaus Latzel: Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Un-

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tung folgt in der Regel vorhandenen Deutungsmustern und verändert sich je nach weiteren Erfahrungen im Zuge der Lebensgeschichte. Dabei sind meist kollektive Deutungsmuster nicht zu übersehen.48 Ich nenne als Beispiele die Einordnung des Stalinismus in die Geschichte Russlands, in der sich immer Leiden mit Grösse verbunden habe, ein Verständnis des Stalinismus als »Entartung« des Sozialismus oder als Erscheinungsform des Totalitarismus, eine Schuldzuschreibung an einzelne Personen wie Stalin oder Berija, eine Übernahme der vorherrschenden Geschichtsauffassung, ein Einfügen in das Wertesystem der Lagerhäftlinge oder eine »nationale« Sinngebung, wenn etwa polnische Opfer des stalinistischen Terrors ihr Schicksal vor dem Hintergrund der polnisch-russischen Geschichte interpretieren. Wenn allerdings die Ursachen des eigenen Schicksals in der Öffentlichkeit – im öffentlichen kollektiven Bezugsrahmen – tabuisiert werden, wie es etwa für die Beschuldigung sowjetischer Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft oder sowjetischer Zwangsarbeiter in Deutschland galt, ist die Erarbeitung einer Sinnkonstruktion zur Identitätsbewahrung wesentlich komplizierter.49 Oft gelingt sie überhaupt nicht. Sichtbar wird jedenfalls, dass die kollektiven Deutungsmuster keineswegs einheitlich sind und in ungleicher Weise wirken. Ebenso prägen sich eigenständige Sichtweisen, in Auseinandersetzung mit den vorgegebenen Mustern, verschiedenartig aus. Jeder Einzelne versucht innerhalb seines sozialen Rahmens, dem Kontext seines Lebens, seinen Erfahrungen einen Sinn zu geben. Er konstruiert seine Erinnerung, in unterschiedlich dichter Bindung an seine Bezugsgruppe und deren Ideologie.50 Beispielsweise lässt sich zeigen, wie bei befragten Frauen in der Sowjetunion individuelle biographische Erfahrungen sowie die Art und Weise ihrer Beschäftigung mit Politik die Nähe zur offiziellen Publizistik bestimmten.51 Persönliche Einsichten mischen sich somit mit den Einflüssen

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tersuchung von Feldpostbriefen. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997) S. 1–30, konzeptionell S. 13–17. Abgesehen von eigenen Auswertungen folge ich hier Catherine Merridale: Steinerne Nächte. Leiden und Sterben in Russland. München 2001, S. 446- 449, vgl. insgesamt S. 441–471 (auch zu Überlebenden der 2. Generation). Ausführlicher gehe ich darauf ein in: Verarbeitung von Gewalt, S. 383–387. Vgl. Sabine Gysin: Im Teufelskreis der »Vergangenheit«. Eine Untersuchung zur Biographie von Eva-Maria Stege. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 2002 (als Aufsatz hier in diesem Band). Vgl. Martin Schaffner: »Missglückte Liebe« oder Mitteilungen aus Paranoia City. Eine Lektüre von Justiz- und Polizeiakten aus dem Staatsarchiv Basel, 1894 bis 1908. In: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen. Hg. von Ingrid Bauer u. a. Wien usw. 2005, S. 243–254. Vgl. Goffman: Rahmen-Analyse. Andrea Zemskov-Züge: »Die Sowjetische Frau im Großen Vaterländischen Krieg.« Rollenbilder in Publizistik und autobiographischen Interviews am Beispiel Leningrads. Unveröf-

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aus mehreren Ebenen kollektiver Bezugspunkte – von der Familie und dem Freundeskreis bis hin zu gesamtgesellschaftlichen »kulturellen Gedächtnissen«.52 Methodische Annäherungen

Wie können wir die Schichten der Erinnerung freilegen und entschlüsseln? In einem ersten Schritt kann durch einen Vergleich mit anderen Quellen und wissenschaftlichen Forschungen der Kontext erschlossen werden. Dadurch wird zum Beispiel deutlich, dass Solženicyns Erzählung »Ein Tag im Leben des Ivan Denisovič« zahlreiche autobiographische Elemente und konkrete Bezüge zu tatsächlichen Lagersituationen aufweist. Bestimmte Vorgänge im Lager, Lebensbedingungen, Tauschbeziehungen und – auch symbolische – Werte, Überlebenstechniken, Erfahrungen, Sichtweisen und Verarbeitungen lassen sich auf diese Weise genauer bestimmen und gewichten.53 Besondere Wörter und Redewendungen zeigen, dass der Lageralltag authentisch wiedergegeben wird: Über eine subtile sprachpragmatische Analyse der Selbstzeugnisse können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit auf besonders dicht am Erlebten liegende Erinnerungen folgern.54 Nicht zuletzt gewinnt die Erzählung durch die Schlussszene, die absurde Situation eines Glücksgefühls nach einem »erfolgreich« verlaufenen Tag, ihre fentl. Magisterarbeit, Freie Universität Berlin 2000 (ich danke herzlich für die Möglichkeit, diese wichtige Studie zu lesen). 52 Vgl. dazu Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 385–387. 53 Christian Walt: »Wer’s warm hat, versteht den Frierenden nicht.« Alexander Solschenizyns Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch als historische Quelle zum Leben in sowjetischen Straflagern. Unveröffentl. Seminararbeit, Universität Basel 2002 (als Aufsatz hier in diesem Band). Vgl. David Burg, Georges Feiffer: Solshenizyn. Biographie. München 1973. Eine Gesamtinterpretation von Solženicyns Auseinandersetzung mit dem GULag und dem Sowjetsystem insgesamt ist nicht beabsichtigt. Neben den Romanen und Erzählungen müsste insbesondere berücksichtigt werden: Alexander Solschenizyn: Der Archipel GULAG. 1918–1956: Versuch einer künstlerischen Bewältigung. Bern 1974–1976. Lohnend wäre ein Vergleich mit den Erzählungen Varlam Šalamovs, der hier ebenfalls nicht geleistet werden kann. In deutscher Sprache liegen inzwischen zwei Bände vor: Warlam Schalamow: Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1. Hg. von Franziska ThunHohenstein. Berlin 2007; ders.: Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2. Berlin 2008. Dazu auch: Das Lager schreiben. 54 Dazu Martin Schaffner: Fragemethodik und Antwortspiel. Die Enquête von Lord Devon in Skibbereen, 10. September 1844, in: Historische Anthropologie 6 (1998) S. 55–75, hier bes. S. 62, 64–65, 70–71; ders.: Missglückte Liebe. In der russischen Originalausgabe kommt der Lagerjargon noch deutlicher heraus als in der deutschen Übersetzung. Vgl. zur Wirkung Jewgeni Jewtuschenko: Der Wolfspaß. Abenteuer eines Dichterlebens. München 2002, S. 320–330.

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innere Wahrhaftigkeit. In einem zweiten Schritt nach solchen Schlüsselszenen in den Texten zu suchen, die gleichsam »Fenster zur Erinnerung« sind, wird uns darüber hinaus durch die Erkenntnis der Hirnforschung nahegelegt, die besagt, dass das Erlebte dann sehr präsent im Gedächtnis geblieben sein kann, wenn es mit einer hohen Bedeutung belegt wurde.55 Sie können auch »Leitmotive« bilden, die uns Aufschluss über die jeweilige Sinnkonstruktion geben.56 Lidija K. Čukovskaja beansprucht mit ihrer autobiographisch geprägten Erzählung »Sof ’ja Petrovna« ebenfalls den Charakter einer »Zeugenaussage« und erreicht mit bestimmten Begriffen und Redewendungen eine dichte Nähe zu den tatsächlichen Verhältnissen. Als Schlüsselszene sehe ich hier das Erlebnis langer Warteschlangen von Angehörigen Verhafteter vor der Staatsanwaltschaft oder dem Gefängnis. Diese Interpretation liegt insofern nahe, als Lidija Čukovskaja in ihrem zweiten Roman »Untertauchen« die Erbarmungslosigkeit des Systems und seiner Vertreter erneut in einer derartigen Szene schildert, in der während des Wartens ein Kind in den Armen der Mutter stirbt.57 In Evgenija Ginzburgs »Marschroute eines Lebens« lesen wir, wie sie bei der Ankunft im Lager El’gen erschüttert beobachtet, dass die Häftlinge äusserlich alle gleich aussehen, nicht unterscheidbar, »geschlechtslos« sind. Die Barackenälteste wirkt mütterlich auf sie. Und als sie die Neuankömmlinge mit den Worten zum Schlafen auffordert: »Der Morgen ist weiser als der Abend. Es ist schon spät. Der Schlaf steht an den Betten, und der Traum zieht durch das Haus«, erinnert sich Ginzburg zitternd vor Freude an das Liedchen, mit dem ihr kleiner Sohn in den Schlaf gewiegt

55 Vgl. Bredenkamp: Lernen, S. 64–67, 82–86. Ebenso Welzer in: Das soziale Gedächtnis, S.  19–20. Siehe auch Aleida Assmann: Stabilisatoren der Erinnerung – Affekt, Symbol, Trauma. In: Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2. Hg. von Jörn Rüsen und Jürgen Straub. Frankfurt a. M. 1998, S. 131–152. 56 Vgl. Achim Hahn: Narrative Pragmatik und Beispielhermeneutik. Zur soziologischen Beschreibung biographischer Situationen. In: Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Hg. von Gerd Jüttemann und Hans Thomae. Weinheim, Basel 1999, S. 259– 283, hier bes. S. 276–277. 57 Lydia Tschukowskaja: Sofja Petrowna. Erzählung. Zürich 1990 (S. 5: »Ich betrachte meine Aufzeichnungen nicht so sehr als Erzählung denn als Zeugenaussage […]»; sie entstanden 1939/40 in Leningrad); dies.: Untertauchen. Zürich 1978, S. 130–145; Corinne Minder: Erinnerung an den stalinistischen Terror am Beispiel der Erzählung »Sofja Petrowna« von Lydia Tschukowskaja. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 2002 (als Aufsatz hier in diesem Band). Zu den Warteschlangen vgl. etwa John Scott: Jenseits des Ural. Die Kraftquellen der Sowjetunion. Stockholm 1944, hier zitiert nach: Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 2: Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Helmut Altrichter und Heiko Haumann. München 1987, S. 431.

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wurde.58 Diese in hohem Grade emotional besetzte Erinnerung an die Erinnerung, an die Ginzburg bei der Niederschrift denkt, deutet wiederum auf eine besondere Nähe zum Geschehen hin. Zugleich kommen hier drei Erlebnis- und Erfahrungsebenen zum Vorschein: die Erinnerung im Lager an die Kindheit ihres Sohnes, die Erinnerung an das Lager selbst und die Verarbeitung der Erinnerungen bei der Niederschrift. Evrosinija Kersnovskaja, die ihre Erinnerungen in Form einer Bildchronik festhielt, versuchte sich im Lager zu schützen, indem sie in Kleidung und Verhalten wie ein Mann auftrat. Als sie dennoch wieder einmal in eine scheinbar aussichtslose Situation geriet, hätte sie die Möglichkeit gehabt, sich während eines Verhörs mit der Pistole des Untersuchungsbeamten zu erschiessen. In letzter Sekunde entschied sie sich für das »Leben«. Aus dieser Szene entschlüsselt sich ihr Durchhaltewille, der die Bereitschaft einschliesst, sich für andere einzusetzen.59 Für Helene Golnipa, die als Ärztin im Lager zugleich »Opfer« und »Täterin« war, erwies sich als entscheidend, den Inhalt der Zettelchen, die ihr Häftlinge geschrieben und die sie aus Furcht vor Entdeckung vernichtet hatte, im Gedächtnis zu behalten, um über die Zustände berichten zu können. Die Angst verstärkte die Erinnerung.60 Der polnische Kommunist Jan Lis (Jan Simon Rosenbluth), der wegen Verstrickung in der »Noel-Field-Affäre« 1949 mehr als fünf Jahre in Haft verbringen musste, erfuhr seinen »biographischen Wendepunkt«61 erst, als er 1956/57 in einer antisemitisch aufgeheizten Atmosphäre als »Jude« angegriffen wurde. Jetzt verlor er endgültig sein Vertrauen

58 Jewgenija Semjonowa Ginsburg: Marschroute eines Lebens. 2. Aufl. München 1986, S. 358–361. Vgl. dazu: Franziska Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien. Autobiographisches Schreiben und Lagerzivilisation. Berlin 2007, S. 87–137. 59 Jefrosinija Kersnowskaja: »Ach Herr, wenn unsre Sünden uns verklagen.« Eine Bildchronik aus dem Gulag. Köln 1991, die Schlüsselszene S. 261. Vgl. Aglaia Wespe: Evfrosinija Kersnovskajas Bildchronik aus dem Gulag: Der Kampf gegen das verordnete Vergessen. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 2002 (als Aufsatz hier in diesem Band); Thun-Hohenstein: Gebrochene Linien, S. 181–223. Eine Verarbeitung der Erlebnisse durch Bilder ist mehrfach überliefert, vgl. auch Dähler: Die japanischen Kriegsgefangenen, S. 36–99. Derartige Zeichnungen und sonstige »Erinnerungsdokumente« werden insbesondere von der Gesellschaft »Memorial« gesammelt; vgl. Irina Scherbakowa: Zermahlen zu Lagerstaub. Das Gulag-Archiv in Moskau korrigiert das Bild der Akten durch Zeugnisse von Häftlingen. In: Süddeutsche Zeitung, 22.1.2002. Vgl. Anm. 40 zu den Zeichnungen Baldaevs. 60 Helene Golnipa [= Angelina Rohr]: Im Angesicht der Todesengel Stalins. Hg. von Isabella Ackerl. Mattersburg, Katzelsdorf 1989, S. 301. 61 Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a. M. 1995, S. 134–135.

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in die Partei, aus der er austrat, bildete sich eine neue jüdische Identität und wanderte nach Israel aus.62 Ein möglicher dritter Schritt, um die Schichten der Erinnerung mit den verschiedenen Ebenen der Wert- und Deutungsmuster, Assoziationen und Filter freizulegen, besteht darin, diejenigen Erinnerungsbestandteile herauszuarbeiten, die den Selbstzeugnissen ehemaliger Lagerhäftlinge und Verfolgter im Stalinismus gemeinsam sind. In einem vierten Schritt sind diese von individuellen Verhaltens- und Verarbeitungsmustern abzusetzen. Dadurch treten sie umso deutlicher hervor.63 Weiter sind Vorbilder für die Art, das Autobiographische zu gestalten, zu prüfen, um herauszufinden, warum vielleicht gerade eine bestimmte Darstellungsweise aufgegriffen wird und welche Besonderheiten Rückschlüsse zulassen.64 Ebenso können die Selbstzeugnisse nicht nur untereinander verglichen, sondern auch mit anderen medialen Formen – Zeitungen und Zeitschriften, Radio und Fernsehen, Filmen, Fotografien, belletristische Literatur, historischen Studien – in Beziehung gesetzt werden, um das Charakteristische der individuellen Erfahrung zu erfassen und zugleich die damit zusammenhängenden Diskurse,65 die überindividuellen, langwirkenden Nor-

62 Daniel Lis: Die Rekonstruktion eines biographischen Wendepunktes. Erinnerungen an eine polnisch-kommunistische Identität. Unveröffentl. Seminararbeit, Univ. Basel 2002 (als Aufsatz hier in diesem Band, dort auch genauer zur »Noel-Field-Affäre»). 63 Diesen Weg beschreitet etwa Ruth Weih (verh. Sindt) in ihrer Auswertung von Interviews: Läßt sich Alltag okkupieren? Die norwegische Grenzgemeinde Kirkenes während der deutschen Besetzung 1940–44, Unveröffentl. Magisterarbeit, Univ. Kiel 1999; dies.: Alltag für Soldaten? Kriegserinnerungen und soldatischer Alltag in der Varangerregion 1940–44. Diss. Univ. Kiel 2005, zugänglich im Internet: deposit.ddb.de/cgi-bin/ dokserv?idn=980898064&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=980898064.pdf. 64 Vgl. zu diesen und anderen Aspekten Ulrich Schmid: Ichentwürfe. Die russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen. Zürich 2000; Self and Story; Garros: L’Etat; Irina Paperno : Personal Accounts of the Soviet Experience. In: Kritika 3 (2002) S. 577–610; Herzberg: Autobiographik (und weitere Beiträge in: Vom Wir zum Ich). Mit den Problemen der ritualisierten Autobiographien während des Stalinismus und die Strategien, damit umzugehen, beschäftige ich mich hier nicht. Vgl. nur Claude Pennetier, Bernard Pudal: Écrire son autobiographie (les autobiographies communistes d’institution, 1931–1939). In : Genèses 23 (1996) S. 53–75 (s. auch 145–163); Studer, Unfried: Der stalinistische Parteikader; Erren: »Selbstkritik«. 65 Unter Diskursen verstehe ich gesellschaftliche Redeweisen, die bestimmte Wissensbereiche repräsentieren und auf den einzelnen Akteur einwirken; dieser reagiert darauf, versucht sich gegebenenfalls jenem Einfluss zu entziehen, beteiligt sich möglicherweise – bewusst oder unbewusst – an der Neuproduktion eines Diskurses. Diese Wechselbeziehungen bedürfen noch der Untersuchung, ebenso wie die Integration von Diskursen in das »kulturelle Gedächtnis« bzw. in die langwirkenden Deutungsmuster.

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men, Werte und Deutungsmuster genauer zu bestimmen.66 Gerade Fotografien machen die »Ordnung der Erinnerung« deutlich: Während der Aufnahme sind bereits Bilder in den Köpfen der Beteiligten vorhanden, die die Art des Fotos und das Zusammenstellen des Fotoalbums prägen sowie überhaupt beim Anschauen erneut Assoziationen wecken. Ähnliches gilt für Filme.67 Um die Erinnerungsvorgänge im Einzelnen sichtbar zu machen und dabei die Ebenen des Erlebten – des tatsächlichen Geschehens, so wie es noch zum Vorschein kommt –, des Erzählten – der gegenwärtigen Darstellung – und der Sinnkonstruktion voneinander, soweit möglich, zu trennen, hat sich bei der Auswertung von »mündlicher Geschichte« die Sequenzanalyse bewährt.68 Die66 Im Basler »Projekt Erinnerung« ist dies mehrfach erprobt worden. Ich nenne hier als Beispiele von unveröffentl. Seminararbeiten, die teilweise zu Aufsätzen für diesen Band umgearbeitet worden sind: Christoph Neidhart: Fünf Tage vor dem Mauerfall: Alexanderplatzdemonstration vom 4. November 1989. Ein Tag im Spiegel verschiedener Erinnerungsperspektiven. 2002; Mirjam Häsler: Von »Bruderhilfe« bis »gemeinsamer Akt der Aggression»: Reaktionen in ost- und westdeutschen Tageszeitungen auf die militärische Beendigung des Prager Frühlings 1968 (mit einem Exkurs zu individuellen Reaktionen und Erinnerungen aus der DDR an den Prager Frühling und die Invasion). 2003; Marlène Sandrin: »Prager Frühling«. Geschichtsbilder und deren Bedeutung im inneren Reformprozess und im Konflikt mit dem Warschauer Pakt. 2003; Thomas Bürgisser: »Živy. Vyderžim. Pobedim!« Blockadeerinnerungen. 2003; Rebekka Edlund: »Wir lebten in einem unsichtbaren Ghetto.« Transatlantischer Rückblick auf eine polnisch-jüdische Kindheit. 2003; ausserdem: Zemskov-Züge: Sowjetische Frau. 67 Maja Naef: Augen_Zeugen. Wie das Fotoalbum eines Wehrmachtssoldaten Erinnerung bewältigt und konstituiert; Madoc Skinner: Krieg, Moral und Ideologiekritik. Kriegsverarbeitung im Film »Boško Buha« (1978). Unveröffentl. Seminararbeiten, Univ. Basel 2003 (beide als Aufsätze hier in diesem Band). Vgl. die beiden Fotobände (mit Texten): Jurij Brodskij: Solovki. Dvadcat’ let Osobogo naznačenija. Moskva 2002; Kizny: Gulag. Dem Zusammenhang von Fotografie und Erinnerung ist ein besonderer Teil des Basler »Projekts Erinnerung« gewidmet, auf den ich hier nicht weiter eingehe. Vgl. Heiko Haumann: Die Fotografie als Quelle lebensweltlich orientierter Forschung. Ms. Basel 2008. 68 Wolfram Fischer-Rosenthal, Gabriele Rosenthal: Narrationsanalyse biographischer Selbstrepräsentation. In: Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Hg. von Ronald Hitzler und Anne Honer. Opladen 1997, S. 133–165; dies.: Analyse narrativ-biographischer Interviews. In: Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hg. von Uwe Flick u. a. Hamburg 2005, S. 456–468; Roswitha Breckner: Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 199–222, hier S. 214–216; Jürgen Straub: Historisch-psychologische Biographieforschung. Theoretische, methodologische und methodische Argumentation in systematischer Absicht. Heidelberg 1989; Brigitte Boothe u. a.: Psychisches Leben im Spiegel der Erzählung. Eine narrative Psychotherapiestudie. Heidelberg 1998 (zur Erzählanalyse JAKOB, vgl. Marc Luder: Jakob Report 2005: die Entwicklung der Erzählanalyse Jakob von 1989 bis 2005. Berichte aus der Abteilung Klinische Psychologie, Nr. 54, Zürich 2006);

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ses aufwendige, aber weiterführende Verfahren kann allgemein zur Interpretation von Selbstzeugnissen genutzt werden. Dabei werden die Erinnerungen in einzelne Einheiten aufgeteilt, ohne ihren Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren. In unserem Rahmen wäre eine Zusammenfassung nach thematischen Blöcken sinnvoll. Innerhalb dieser Blöcke ist dann danach zu fragen, ob etwas Erlebtes geschildert wird, ob die damaligen Vorgänge derart beschrieben werden, dass spätere Einflüsse spürbar sind, oder ob argumentiert wird, um irgendetwas zu begründen, dem Geschehen also einen Sinn zu geben. Im Einzelfall sind diese Ebenen oft schwer zu trennen. Vielfach hilft ein Rückbezug auf die Situation der jeweiligen Person während der Erinnerung, um sich ihre Perspektive bewusst zu machen. Bei umfangreichen Texten bietet sich eine exemplarische Analyse an, um konkrete Verhältnisse der erlebten und erzählten Zeit, Kontexte, Selbstverständnisse, Deutungsmuster, emotionale Erschütterungen, Schlüsselszenen, »Leitmotive« und biographische Wendepunkte, Einflüsse von aussen und individuelle Besonderheiten festzuhalten. Wenn wir derart sorgfältig der Bedeutung der Worte, der Wortwahl, dem Subtext und den Referenzsignalen, den »Bildern«, Assoziationen und Montagen nachspüren, lassen sich die Mechanismen der Erinnerung ebenso nachvollziehen wie seinerzeitige Gefühle, Denk- und Handlungsspielräume. Darüber hinaus fällt uns häufig auch das Ausgelassene, das Nicht-Erzählte auf. Solche »Leerstellen« betreffen vielfach Fragen der Sexualität, Prostitution oder Vergewaltigung im Lager,69 es kann aber auch – als Beispiel – die jüdische HerGabriele Lucius Hoene, Arnulf Deppermann: Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. Opladen 2002; Arnulf Deppermann: Gespräche analysieren. Eine Einführung in konversationsanalytische Methoden. Opladen 1999, 53–78; Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 7. Aufl. Opladen, Farmington Hills 2008; Heiko Haumann, Ueli Mäder: Erinnern und erzählen. Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews. In: Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Hg. von Marco Leuenberger und Loretta Seglias. 3. Aufl. Zürich 2009, S. 279–287, 300–303. 69 Vgl. Schilderungen der Zustände z. B. bei Nadeschda A. Joffe: Rückblende. Mein Leben. Mein Schicksal. Meine Epoche. Die Memoiren von Nadeschda A. Joffe. Essen 1997, S. 157–158, 178, 186–187; Gustaw Herling: Welt ohne Erbarmen. München, Wien 2000, S. 34–48 (Kapitel »Nächtliche Jagd»), 169–177 (Kapitel »Hunger»); Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag. 1918–1956. Versuche einer künstlerischen Bewältigung. Folgeband [Bd. 2]. Arbeit und Ausrottung. Seele und Stacheldraht. Bern, München 1974, S. 216–238 (Kapitel »Die Frau im Lager»). Till My Tale is Told. Women’s Memoirs of the Gulag. Ed. by Simeon Vilensky. Bloomington, Indianapolis 1999 (gekürzte Übersetzung von: Dodnes’ tjagoteet: Zapiski vašej sovremennicy. Hg. von Simeon Vilenskij. Moskva 1989); Meinhard Stark: Frauen im Gulag. Alltag und Überleben 1936 bis 1956. München, Wien 2003; Melanie Ilič: The Forgotten Five per cent: Women, Political Repression and the Purges. In: Stalin’s Terror Revisited, S. 116–139. Siehe auch Gysin: Im Teufelskreis,

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kunft tabuisiert werden.70 Selbst wenn nicht mehr genau rekonstruiert werden kann, wie sich die Vorgänge damals abgespielt haben, ermöglicht die Analyse von Selbstzeugnissen doch einen dichten Blick von innen auf den Stalinismus. Aus der Sicht von Akteuren können die damaligen geschichtlichen Vorgänge aufgeklärt werden. Damit wird der Anspruch einer lebensweltlich orientierten Geschichtsschreibung erfüllt: individuelles Verhalten mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auf den verschiedensten Ebenen zu verbinden, den Mikro- und Makrobereich als Einheit zu verstehen. Bei einer derartigen Analyse von Selbstzeugnissen tritt die Historikerin oder der Historiker auf besondere Weise in eine kommunikative Beziehung mit den Menschen in den Quellen.71 Zur Rekonstruktion der verschiedenen Wirklichkeiten – oder besser: der Fragmente verschiedener Wirklichkeiten – und ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen sind die eigenen Wertvorstellungen, Deutungsmuster, Assoziationen und sozialen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Die eigene Interpretation steht in einem unauflöslichen Zusammenhang mit heute: welche Sinnzusammenhänge wir konstruieren, mit welchem Verständnis wir auf die Geschichte blicken.72 Wir werden konfrontiert mit dem Verhalten von historischen Akteuren und unseren eigenen Reaktionen darauf, wir bewegen uns zwischen der Welt des Akteurs und unserer eigenen hin und her.

S. 24–26. Zu geschlechterspezifischen Fragestellungen auch Aila de la Rive; Geschlechtsspezifische Überlebensstrategien in stalinistischen Zwangsarbeitslagern. Warum Frauen im Gulag besser überlebten. In: Rosa: Die Zeitschrift für Geschlechtergeschichte 21 (Oktober 2000) S. 8–11. 70 So bei Herling: Welt. 71 Dazu ausführlicher Haumann: Verarbeitung von Gewalt, S. 387, 389. Martin Schaffner argumentiert ähnlich, wenn er schreibt, er lese Gerichtsprotokolle, als ob er selbst die Zeugen befragt hätte: Missglückte Liebe. Die Kommunikationssituation zwischen Historiker und Akteur in einer schriftlichen Quelle gleicht somit derjenigen der Oral History. 72 Vgl. Esther Stebler: Und wir werden mit Erstaunen gewahr, dass wir nichts vergessen haben. Annäherung an autobiographische Texte von Rudolf Höß und Primo Levi. Unveröffentl. Seminararbeit, Universität Basel 2002 (als Aufsatz hier in diesem Band).

Fotografie als Quelle zur Erforschung von Lebenswelten* Am 13. Juni 2007 präsentierte Igor’ Narskij während seines Vortrages in der Arbeitsgemeinschaft zur osteuropäischen und jüdischen Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel eine 1966 in Gor’kij aufgenommene Fotografie, die ein Kind in einer inszenierten Pose zeigt. Es ist festtäglich gekleidet und nimmt eine sorgfältig arrangierte Körperhaltung ein. Dieses Foto stellt Narskij selbst als Knaben dar. Narskij berichtete, dass seine jüdischen Großeltern das Bild kurz vor seinem ersten Schultag bei einem Berufsfotografen in Auftrag gegeben hatten und sein Großvater zusammen mit diesem »experimentiert« habe, bis die »richtige« Stellung für die Fotografie gefunden worden sei. In einer präzisen Interpretation konnte er belegen, dass der Fotograf nach einem »Linienplan« Perspektive, Licht-Schatten-Effekte und andere Aspekte sehr überlegt eingesetzt hatte. Die Bildsprache habe einer vorsowjetischen Kunstauffassung entsprochen und folge einer aristokratischen Körper-Ikonographie. Sie drücke damit eine ästhetische Vorstellung aus, die in der Sowjetunion verdrängt worden sei. Narskijs Analyse führte zu weit reichenden inhaltlichen Schlüssen und zu bedeutsamen methodischen Folgerungen: Aus einer Fotografie kann auf Denkmuster und auf Fragmente einer Gesellschaftsgeschichte geschlossen werden.1 (Abb. 1) Igor’ Narskij hat sein Porträtfoto von 1966 inzwischen in einem faszinierenden Buch ausführlich interpretiert und in einen Zusammenhang mit seinen eigenen Erinnerungen, mit Erinnerungen von Verwandten und Bekannten, mit dem Kontext der Verhältnisse in der Sowjetunion, mit der Geschichte seiner Erforschung dieses Fotos, mit der Geschichte der Fotografie, mit der Geschichte historischer Methoden und mit seinen Reflexionen gestellt.2 Deshalb gehe ich nicht näher darauf ein, nutze es aber als Einleitung, um einige Überlegungen zur Bedeutung von Fotografien als Quellen für eine lebensweltlich orientierte Forschung vorzulegen.3 * Bislang unveröffentlicht. Eine frühere Fassung erschien in: Traektorija v segodnja: rossyp’ istoriko – biografičeskich artefaktor (k jubileju professora I. V. Narskogo). Hg. von Oksana S. Nagornaja u.a. Čeljabinsk 2009, 90–99. 1 Dieses Kinderfoto ist auch Ausgangspunkt des Beitrages von Igor’ V. Narskij: Problemy i vozmožnosti istoričeskoj interpretacii semejnoj fotografii (na primere detskoj fotografii 1966 g. iz g. Gor’kogo). In: Očevidnaja istorija. Problemy vizual’noj istorii Rossii XX stoletija. Sbornik statej. Red. kol. I. V. Narskij i. dr. Čeljabinsk 2008, 55–74 (das Foto: 58). 2 Igor W. Narskij: Fotografie und Erinnerung. Eine sowjetische Kindheit. (Ein Roman.) Köln usw. 2012 (im Druck). 3 Auf die Theorie der Fotografie gehe ich nicht ein. Vgl. etwa: Texte zur Theorie der Fotografie. Hg. von Bernd Stiegler. Stuttgart 2010. Ebensowenig berücksichtige ich die Veränderungen, die durch die digitale Fotografie entstehen.

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Mich erinnert Narskijs Fotografie an ähnliche Abbildungen, wie ich sie aus der Geschichte meiner Familie kenne, aber auch an ein Porträtfoto, das der deutschen Ausgabe von Stepan Podlubnyjs Tagebuch, eines »Klassikers« der Selbstzeugnisse aus der Zeit des Stalinismus, beigegeben wurde.4 (Abb. 2) Das Foto wurde 1936 aufgenommen. Podlubnyj steht im Fotoatelier. Vor einer Wand, die mit einem Vorhang drapiert ist, stützt er sich mit der rechten Hand auf die hölzerne Lehne eines Sessels oder eines Sofas. Der linke Arm hängt herab, in der Hand hält er eine gefaltete Moskauer Zeitung. Podlubnyj ist sehr gut gekleidet: Er 1  Igor’ Narskij trägt schwarze Schuhe, einen dunklen zweireihigen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte. Seine Haare sind frisch geschnitten und sorgfältig mit einem Scheitel gelegt. Ernst, ohne eine Miene zu verziehen, blickt er an der Kamera vorbei in die Ferne. Die Bildsprache orientiert sich an traditionellen, nicht-sozialistischen Mustern. Über den Fotografen, das genaue Datum und die genauen Entstehungsbedingungen wird in der Publikation nichts gesagt. Stepan Podlubnyj hat das Foto aufgehoben, es war ihm offenbar wichtig. Vermutlich wurde es zu einem offiziellen Anlass hergestellt. Der Fotograf hat ihn in das Zentrum des Bildes gestellt. Dies verstärkt den Eindruck, dass hier eine wichtige Persönlichkeit vor uns steht und souverän in die Welt schaut. Durch die Kleidung, die Zeitung und die ruhige, gelassene Haltung inszeniert sich Podlubnyj mit Hilfe des Fotografen. Wie will er gesehen werden? Da eine genauere Bildlegende fehlt, sind wir auf Vermutungen angewiesen. 4 Tagebuch aus Moskau 1931–1939. Hg. von Jochen Hellbeck. München 1996, 293.

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Es liegt nahe, die Aufnahme mit einem anderen Foto zu konfrontieren, das am 29. November 1931 in der Betriebszeitung »Pravdist« anlässlich einer Prämierung Podlubnyjs als Bestarbeiter veröffentlicht wurde.5 (Abb.  3) Dieses Porträt zeigt nur den Kopf mit Schulteransatz. Podlubnyj trägt Arbeiterkleidung, eine dunkle Jacke und ein dunkles Hemd. Seine Haare sind auch gekämmt, aber nicht so glatt und sorgfältig wie 1936. Der Gesichtsausdruck ist offen, wenngleich Podlubnyj auch hier keine Miene verzieht (höchstens könnte man die Andeutung eines Lächelns entdecken). Er runzelt leicht die Stirn und blickt gerade in die Kamera. 2  Stepan Podlubnyj 1936 Auf mich wirkt er wie ein selbstbewusster, dynamischer, von der Sache überzeugter Arbeiter. 1936 erscheint er hingegen nicht mehr als »typischer« Arbeiter, sondern als etwas »Besseres«. Da mir die Abbildungen und die beigefügten Angaben nicht weiterhelfen, kann vielleicht der Kontext Hinweise geben, in diesem Fall das Tagebuch selbst. Die beiden Fotografien werden dort nicht erwähnt, die Schilderungen der Geschehnisse und der Gefühle lassen immerhin doch einige Rückschlüsse zu. 1931 arbeitete Stepan Podlubnyj seit einem Jahr in der Druckerei der Parteizeitung »Pravda«. 1914 in einem Dorf nahe Kiev geboren, waren seine Eltern im Winter 1929/30 als »Kulaken« zwangsweise enteignet worden. Während der Vater verbannt wurde, kamen er und seine Mutter mit gefälschten Papieren nach Moskau. Stepan Podlubnyj täuschte eine proletarische Herkunft vor, befürwortete aber auch – wie sein Tagebuch eindrucksvoll deutlich macht – nachdrücklich die gesellschaftlichen Werte und Ziele des Regimes. Er wollte 5 Ebd., 285.

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ein »Neuer Mensch« werden, lebte jedoch immer in der Furcht, dass seine tatsächliche Herkunft entdeckt würde. 1931 war seine Begeisterung noch ungebrochen. 1936 sah es anders aus. Die Geheimpolizei hatte 1934 seine Lüge aufgedeckt und nutzte dieses Wissen als Druckmittel, damit Podlubnyj, den sie zwei Jahre zuvor als Informanten angeworben hatte, noch intensiver für das Amt arbeitete. Doch dann erfuhr auch der Komsomol, der Kommunistische Jugendverband, Anfang 1936 von der Fälschung und schloss ihn 3  Stepan Podlubnyj 1931 aus. Daraufhin musste Podlubnyj sein ein Jahr zuvor begonnenes Medizinstudium abbrechen. Nach wie vor befürwortete er die Ziele des »Neuen Menschen«, wollte musterhaft wirken, wollte ein Pionier sein und orientierte sich an den als vorbildlich hingestellten, »starken, klugen und selbstbeherrschten Menschen« (Eintrag vom 27.12.1934). Immer wieder vertraute er seinem Tagebuch allerdings auch an, dass er seinen eigenen Ansprüchen nicht genüge und den Vorgaben nur unzulänglich entspreche. Zugleich begannen sich Zweifel zu regen, ob die Politik der Sowjetführung noch den sozialistischen Zielen entsprach. Wie ist unter diesen Umständen die Fotografie von 1936 zu interpretieren, die mit großer Wahrscheinlichkeit nach dem Komsomol-Ausschluss aufgenommen wurde? Offensichtlich will sich Podlubnyj als »Neuer Mensch« inszenieren. Er erscheint stark, klug, selbstbeherrscht und diszipliniert, und er entspricht dem zeitgenössischen Verständnis von »kul’turnost’»:6 Sein gepflegtes Äußeres ist »zivilisiert«, die Zeitung in der Hand weist auf sein Interesse an den gesell6 Vgl. Vadim Volkov: The concept of kul’turnost’: notes on the Stalinist civilizing process. In: Stalinism. New Directions. Ed. by Sheila Fitzpatrick. London, New York 2000, 210–230; Catriona Kelly, Vadim Volkov: Directed Desires: Kul’turnost’ and Consumption. In: Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881–1940. Ed. by Catriona Kelly and David Shepherd. Oxford, New York 1998, 291–313.

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schaftlich-politischen Vorgängen hin, sein Auftreten spiegelt die Gewissheit, für Führungsaufgaben geeignet zu sein. Eine Unsicherheit ist nicht zu bemerken. Allerdings könnte angesichts seiner damaligen Aussichten sein Gesichtsausdruck vielleicht so interpretiert werden, als blicke er verloren in die Zukunft, als seien seine Hoffnungen zerronnen, als fürchte er Einsamkeit und Isolierung. Wollte er mit jenem äußerlichen Verständnis von »kul’turnost’« einen schützenden »Panzer« um sich legen, seine Verunsicherung überdecken?7 Wenn er mit diesem Porträt das Abbild eines musterhaften »Neuen Menschen« mit »kul’turnost’« darstellen wollte, drücken sich darin zugleich vorherrschende gesellschaftliche Vorstellungen aus: Das Ideal orientiert sich nicht mehr am revolutionären Proletarier, der sich das Neue erkämpft, sondern eher am selbstbewussten, wohlsituierten Bürger, der alles erreicht hat und sich in einer Führungsposition befindet. Was kann die Interpretation von Fotografien zur lebensweltlich orientierten Forschung beitragen?8 Eine Fotografie ist ein Selbstzeugnis – der fotografierten Person, des Fotografen und gegebenenfalls noch weiterer beteiligter Menschen. Selbstzeugnisse sind Sinnkonstruktionen.9 In ihnen tritt ein Mensch »selbst handelnd oder leidend in Erscheinung«.10 Allerdings ist das unmittelbar Er7 Vgl. Franziska Herold: Der totalitäre Leib. Zur Körpermetaphorik sowjetischer GrenzErzählungen der 30er Jahre. In: Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Hg. von Claudia Benthien und Irmela Marei Krüger-Fürhoff. Stuttgart, Weimar 1999, 108–124, hier bes. 129. Zum Bild des »Panzers« siehe Klaus Theweleit: Männerphantasien. Reinbek 1980, vor allem Bd. 1, 311–377, Bd. 2, 144–175, 206–246. Sich einen »Panzer« zu schaffen, ist Teil eines Bemühens, das Denken und die Deutungsmuster mit der wahrgenommenen Realität in Übereinstimmung zu bringen. Vgl. dazu Leon Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz. Hg. von Martin Irle und Volker Möntmann. Bern usw. 1978. In Fedor Dostoevskijs Roman »Podrostok« will sich die Hauptperson in ihrem »Panzer« einkapseln, um »frei« zu sein und ihrer »Idee« folgen zu können (Fjodor Dostojewskij: Ein grüner Junge. Roman. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Frankfurt a. M. 2009, 25, 63). 8 Ich setze hier Überlegungen früherer Aufsätze fort, zuletzt: Erinnern und erzählen. Historisch-sozialwissenschaftliche Zugänge zu lebensgeschichtlichen Interviews. In: Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Hg. von Marco Leuenberger und Loretta Seglias. Zürich 2008, 279–287, 300–303 (zusammen mit Ueli Mäder); Blick von innen auf den Stalinismus. Zur Bedeutung von Selbstzeugnissen. In: Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse – Analysen – Methoden. Hg. von Heiko Haumann. Frankfurt a. M. usw. 2010, 51–76. [Beide Aufsätze sind in diesem Band enthalten.] 9 Vgl. Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Hg. von Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche. Weilerswist 2006, 42–54 [ebenfalls in diesem Band]. 10 Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994) 462–471, hier 463; Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung

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lebte, Gedachte und Gefühlte nicht ohne weiteres fassbar. Selbst die abgebildete Person wird beim Betrachten der Fotografie nicht mehr dasselbe empfinden wie während der Aufnahme, weil das Erlebte bereits während des Speichervorgangs verarbeitet wird.11 In der Erinnerung, beim Betrachten, wird aus dem Gedächtnis eine gespeicherte Erfahrung mobilisiert. Der Erinnerungsprozess verändert das Gespeicherte erneut aufgrund des komplizierten Aufbaus und der Arbeitsweise des Gehirns mit seinen Milliarden Zellen und Verknüpfungen, zumal spätere Erfahrungen, neue Sichtweisen oder Einflüsse von außen darauf einwirken.12 Bei der historischen Interpretation ist die Rekonstruktion der Lebenswelt zum Zeitpunkt der Fotografie noch schwieriger, weil der Historiker oder die Historikerin die Denkweisen Podlubnyjs nicht genau kennt und zugleich die eigenen Assoziationen und Empfindungen in die Überlegungen eingehen. Sind Methoden übertragbar, die für die Analyse von anderen Selbstzeugnissen – etwa autobiografischen Erinnerungen, Tagebüchern oder Oral HistoryGesprächen – entwickelt wurden? Auch hier entsprechen das Erinnerte und das Erzählte nicht unbedingt dem Erlebten. Zugleich werden Sichtweisen, Deutungen und Sinnkonstruktionen vorgetragen, die die Menschen als ihre subjektive und einzigartige Wahrheit verstehen. Ihr Selbstverständnis hat sich im Laufe der Zeit geformt und verändert. Sie versuchen nun zu vermitteln, wie sie das Erlebte in eine für sie verständliche Ordnung bringen, wie sie sich ihr Schicksal erklären, welches das »Leitmotiv« ihres Lebens ist,13 wie sie sich die Welt erkläan den Menschen in der Geschichte? In: Von Aufbruch und Utopie: Hg. von Bea Lundt und Helma Reimöller. Köln usw. 1992, 417–450. 11 Vgl. Kaline Hoffmann: Die Erfahrung der »anderen Welt»: Polinnen und Polen im Gulag, 1939–1942. In: Stalinistische Subjekte. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929–1953. Hg. von Brigitte Studer und Heiko Haumann. Zürich 2006, 455–466, bes. 457. 12 Vgl. Jürgen Bredenkamp: Lernen, Erinnern, Vergessen. München 1998, bes. 45–67, 82–86; Alexander R. Lurija: Das Gehirn in Aktion. Einführung in die Neuropsychologie. Reinbeck 1992, bes. 284–306; Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung. Frankfurt a. M. 2002; Hans-Joachim Markowitsch: Dem Gedächtnis auf der Spur. Vom Erinnern und Vergessen. Darmstadt 2002; Michael Pauen: Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung. Frankfurt a. M. 2004; Michael O’Shea: Das Gehirn. Eine Einführung. Stuttgart 2008, besonders S. 120–144. Zur Erinnerungsforschung Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002; Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hg. von Harald Welzer. Hamburg 2001; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen  – Ansätze – Perspektiven. Hg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart, Weimar 2008, 156–185. 13 Vgl. Achim Hahn: Narrative Pragmatik und Beispielhermeneutik. Zur soziologischen Beschreibung biographischer Situationen. In: Biographische Methoden in den Human-

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ren – und sei es, dass sie ihr Leben als sinnlos empfinden. Diese Deutungen sind ebenso Wirklichkeit wie die erzählten Geschehnisse und sozialen Umstände, von denen sie – wie verändert auch immer – berichten.14 Wenn wir dem subjektiven Sinn auf die Spur kommen, öffnen sich Welten. Über das Verständnis für den Menschen, dem wir begegnen, erschließen wir seine Auseinandersetzung mit den kulturell vorherrschenden Rollen, Normen und Symbolen, öffnen den Blick für soziale Beziehungen, erkennen Handlungsspielräume und Strategien, Netzwerke und Strukturen, entdecken Ordnungsgefüge. Im Biographischen dokumentiert sich auch das Gesellschaftliche.15 Allerdings bedarf es eines sorgfältigen methodischen Vorgehens, um die Ebene der Erzählung im Selbstzeugnis von der Ebene des tatsächlich Erlebten und von der Ebene der Sinngebung zu trennen. Eine Möglichkeit besteht darin, das Selbstzeugnis in einzelne Einheiten aufzuteilen, ohne seinen Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren.16 Ein weiterer Punkt kommt hinzu. Da die oft sehr persönlichen Aussagen in einem Selbstzeugnis den Historiker emotional meistens stärker berühren als die nüchterne Notiz in einer Behördenakte, ist noch mehr als bei anderen Quellen dessen kritisches Nachdenken über sein Selbstverständnis gefordert. Auch Inwissenschaften. Hg. von Gerd Jüttemann und Hans Thomae. Weinheim, Basel 1999, 259–283, hier bes. 276–277. 14 Vgl. Gabriele Rosenthal: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, 125–138; dies.: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a.  M., New York 1995. 15 Hilfreich sind hier die Ansätze der Rahmen-Analyse. Vgl. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. M. 1980; Martin Schaffner: Verrückter Alltag. Ein Historiker liest Goffman. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 32 (2007) H. 2, 72–89. Siehe auch Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt a. M. 1979, Neuausgabe Konstanz 2003. 16 Zur »Sequenzanalyse« vgl. nur Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, 208– 226, 240–241. Die Methodik der Sequenzanalyse geht zurück auf ein Verfahren der Objektiven Hermeneutik: Ulrich Oevermann u. a.: Die Methodologie der ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Interpretative Verfahren in den Sozialwissenschaften. Hg. von Hans-Georg Soeffner. Stuttgart 1979, 352–433; ders.: Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung Nr.  1 (2001) 35–83; Andreas Wernet: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Opladen 2000; Ronald Kurt: Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung. Konstanz 2004, 238–257. Ausführlicher zu meinen Überlegungen in diesem Zusammenhang: Haumann/Mäder: Erinnern und Erzählen.

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terpretationen suchen nach dem Sinn. Deshalb müssen das eigene Vorverständnis, die eigenen Assoziationen, »Bilder« und Erinnerungen sowie die verwendeten Theorien und Methoden kritisch geprüft werden.17 Zugleich muss bewusst sein, dass in diesem Prozess die Erinnerungen der jeweiligen Person wiederholt und mit den eigenen Empfindungen und Überlegungen in Beziehung gesetzt werden. Es wird sozusagen ein »Probehandeln« durchgeführt, das den Interpreten selbst verändert, in seinen Erinnerungsbestand eingeht und sein zukünftiges Denken und Handeln beeinflussen wird.18 Eine derartige Analyse erfüllt den Anspruch einer lebensweltlich und akteurszentriert orientierten Geschichtsschreibung: Die Wahrnehmungen und Sichtweisen einzelner Menschen, ihre Erfahrungen werden verbunden mit den Erfahrungen anderer Menschen und mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Durch den Blick des Akteurs, durch seine kulturelle Praxis, werden seine Lebensumstände ebenso wie übergreifende Zusammenhänge erfasst. Selbstverständlich können wir dabei, wie bei jeder historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, lediglich Bruchstücke des Lebens der Menschen erschließen – aber diese Bruchstücke werden uns lebendig durch den Dialog mit denjenigen, die die Geschichte bewusst oder unbewusst mitgestaltet und erlitten haben.19 Im Rahmen dieses Zugangs sind bei jeder Form von Selbstzeugnissen Besonderheiten nötig. Bei Oral History-Gesprächen empfiehlt es sich etwa, auf Körperreaktionen, Tonfall – der zum Beispiel Ironie, Wut, Abwertung, Enttäuschung zum Ausdruck bringen kann –, Pausen, Stockungen oder immer wiederkehrende Redewendungen zu achten. Wie kann die Fotografie in diesen Ansatz integriert werden? Die Fotografie ist an sich ein Idealfall einer Quelle für die akteurszentrierte, lebensweltlich orientierte Forschung. Die übliche Vorgehensweise, sozusagen das Handwerk des Historikers, mit Quellenkritik (Art, Entstehungszusammenhänge und Überlieferung des Fotos), präziser Bildbeschreibung sowie hermeneutischer Analyse und Interpretation kann sich ganz in diesen Ansatz einfügen.20 Gewiss ist auch eine ausschließliche Betrachtung 17 Darauf hat nicht zuletzt Pierre Bourdieu immer wieder hingewiesen. Vgl. nur ders.: Verstehen. In: ders.: Das Elend der Welt. Konstanz 1997, 779–803, hier bes. 781, 802. 18 Vgl. Haumann: Geschichte, 51–52. 19 Vgl. Haumann: Geschichte, 48–51. Einen ähnlichen Ansatz skizziert Sven Reichardt: Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung. In: Sozial.Geschichte 22 (2007) H. 3, 43–65. 20 Zur Fotoanalyse nenne ich hier nur neben zahlreichen Aufsätzen in der Zeitschrift »Fotogeschichte»: Timm Starl: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München 1985; Ronald Berg: Die Photographie als alltagshistorische Quelle. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hg. von der Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, 187–198; Heike Talkenberger: Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als his-

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»von außen« möglich, die nur bestimmte Merkmale des Fotos sieht, abgebildete Gegenstände registriert, Personen identifiziert, die visuellen Zeichen kunsthistorisch einordnet und den gesellschaftlichen Kontext der Zeit berücksichtigt. Aber die Interpretation wird tiefer gehen, wenn der Blick »von innen« die Wissenschaftlerin oder den Wissenschaftler leitet: Er oder sie geht davon aus, nach den Absichten, Wünschen, Vorstellungen, Denk- und Verhaltensweisen der dargestellten und der sonst beteiligten Personen zu fragen, sich in sie hineinzuversetzen. Aus diesem Blickwinkel gewinnen die Merkmale des Fotos, die Gegenstände, die visuellen Zeichen, die kunsthistorischen Perspektiven einen völlig anderen Stellenwert. Es ist ein Unterschied, ob Podlubnyj einfach, weil er ein Foto benötigte, in das Fotoatelier kam, eine bestimmte Kulisse vorfand und sich in ihr, ohne sich etwas dabei zu denken, fotografieren ließ, oder ob er sich bewusst in einer von ihm zumindest mitüberlegten Pose und unter Nutzung der Kulisse vor dem Fotoapparat inszenierte. Im ersten Fall sagt das Foto nicht sehr viel über Podlubnyjs Vorstellungswelten aus, höchstens etwas über seinen Gemütszustand im Augenblick der fotografischen Aufnahme und über seine Akzeptanz der Verhältnisse im Fotoatelier, die ihrerseits etwas über Denkweisen torische Quelle. Methodische Überlegungen zur Historischen Bildkunde. In: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994) 289–314; Alf Lüdtke: Industriebilder – Bilder der Industriearbeit? Industrie- und Arbeiterphotographie von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre. In: Historische Anthropologie 1 (1993) 394–430; ders.: Historische Fotos. Die Wirklichkeit der Bilder. In: Spurensucher. Ein Praxisbuch für historische Projektarbeit. Hg. von Lothar Dittmer und Detlef Siegfried. Weinheim, Basel 1997, 110–118 (erweiterte Neuauflage Hamburg 2005, 131–145); Marianne Hirsch: Family frames. Photography, narrative, and postmemory. Cambridge/Mass., London 1997; Photography: A Critical Introduction. Ed. by Liz Wells. 2. Aufl. London, New York 2000 (darin für den Zusammenhang dieses Aufsatzes besonders interessant: Patricia Holland: »Sweet it is to scan …«: personal photographs and popular photography, 117–164); Jens Jäger: Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung. Tübingen 2000; ders.: Fotografie und Geschichte. Frankfurt a. M., New York 2009; Karin Hartewig: Fotografien. In: Aufriss der Historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen. Hg. von Michael Maurer. Stuttgart 2002, 427–448; Michael Sauer: Fotografie als historische Quelle. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002) 570–593; Stefan Guschker: Bilderwelt und Lebenswirklichkeit. Eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. Frankfurt a. M. usw. 2002; Heiko Haumann (zusammen mit Andreas Guski): Revolution und Fotografie. Zwei Fotoalben aus dem Volkskommissariat für Aufklärung und die Utopie der zukünftigen Gesellschaft. In: 0,10 — Iwan Puni und Fotografien der Russischen Revolution. Hg. vom Museum Jean Tinguely Basel (Katalog zur Ausstellung 12.4.-28.9.2003). Bern 2003, S. 101–130. Nina Klingler: »24 Stunden aus dem Leben einer Moskauer Arbeiterfamilie.« Eine Fotoreportage als historische Quelle. In: Fotogeschichte 24 (2004) 31–42; Visual History. Ein Studienbuch. Hg. von Gerhard Paul. Göttingen 2006; Sandra Starke: Fenster und Spiegel. Private Fotografie zwischen Norm und Individualität. In: Historische Anthropologie 19/3 (2011) 447–474.

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des Fotografen und über gesellschaftliche Orientierungsmuster erkennen lassen. Im anderen Fall gliedert sich Podlubnyj bewusst in diese Verhältnisse ein, nutzt sie aus, um sich für einen Zweck in bestimmter Weise darzustellen. Die Analyse seiner Überlegungen, soweit sie rekonstruierbar sind, kann in umfassendere Interpretationsräume vorstoßen: Handlungsspielräume, Mechanismen des Zusammenspiels von individuellen Denk- und Verhaltensweisen mit kollektiven, gesellschaftlichen Vorgängen werden sichtbar (etwa mit den Veränderungen der Ideen vom »Neuen Menschen« oder mit den Möglichkeiten, sich im Alltag unter den Bedingungen des stalinistischen Terrors einzurichten). Im Zentrum stehen somit die situative Einbindung der Fotografie und die Untersuchung des performativen Aktes aus der Sicht der Beteiligten.21 Natürlich ist dies vor allem dann sehr schwierig, wenn nichts oder wenig über die Entstehung der Fotografie, über den Fotografen und über die fotografierten Personen bekannt ist. Podlubnyj, der 1998 gestorben ist, kann keine Auskunft mehr geben. Dieses Quellenproblem begegnet Historikern aber auch bei der Analyse von Selbstzeugnissen, die aus früheren Zeiten stammen. Dabei hat es sich als methodisch weiterführend erwiesen, mit dem Akteur der Quelle in ein fiktives Gespräch nach der Art der Oral History zu treten, ihn oder sie zu befragen und die Antworten aus den Texten, Subtexten und Kontexten zu erschließen.22 Dies ist grundsätzlich auch bei Fotografien möglich. Trotzdem muss häufig vieles nur Vermutung bleiben. Bei der Analyse von Fotografien ist es deshalb besonders wichtig, dass sich der Historiker Rechenschaft über die eigenen Assoziationen, Erinnerungen, Gefühle und Urteile gibt, die ihm beim Betrachten der Fotografie kommen, um vorschnelle Interpretationen zu vermeiden und Vermutungen als solche zu kennzeichnen. Schauen wir uns noch zwei weitere Porträtfotos an, die aus anderen Zusammenhängen stammen. Bei der ersten Fotografie handelt es sich offensichtlich um eine Atelieraufnahme. (Abb. 4) Vor einer Wand mit einer teilweisen Holztäfelung und einem vermutlich gemalten drapierten Vorhang, der den Blick andeutungsweise auf eine Landschaft freigibt, sind eine Frau und ein Mann abgebildet. Die Frau trägt eine gepflegte bäuerliche Tracht: über einer weißen Bluse mit Puffärmeln ein dunkles Kleid mit hellen Tupfen, im Oberteil geknöpft, 21 Vgl. Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hg. von Jürgen Martschukat und Steffen Patzold. Köln usw. 2003; Klaus Hödl: Looking Beyond Borders: Performative Approaches to Jewish Historiography. In: Journal of Jewish Identities 1 (2008) 51–66. 22 Vgl. Martin Schaffner: »Missglückte Liebe« oder Mitteilungen aus Paranoia City. Eine Lektüre von Justiz- und Polizeiakten aus dem Staatsarchiv Basel, 1894 bis 1908. In: Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen. Hg. von Ingrid Bauer u. a. Wien usw. 2005, 243–254.

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und dazu eine seidige dunkle Schürze mit Blümchenmuster. Seidenstrümpfe und geschnürte Halbschuhe ergänzen die Kleidung. Auch ihre Haare sind nach Art von Bauersfrauen hochgebunden und zu einem Kranz gelegt, in den ein schwarzes Band eingeflochten ist. Sie blickt starr, ohne Andeutung eines Lächelns, in die Kamera. Ihre Arme hat sie verschränkt und auf ein altmodisches Beistell-Tischchen gelegt. Am linken Arm ist eine Uhr befestigt. Auf dem Tisch liegen zwei Bücher übereinander. Der große, schlanke Mann steht hinter dem Tisch, die Beine lässig übereinander gekreuzt. Den linken Arm stützt er hinter dem Rücken der Frau auf die Stuhllehne – eine Geste der Zugehörigkeit, die aber nicht intim wirkt –, die rechte 4  Ein Paar Hand berührt den Buchstapel. Er trägt einen zugeknöpften dunklen Anzug, eine gestreifte Krawatte und ein hell gestreiftes Hemd. Auch er blickt aufmerksam und ernst in die Kamera, vielleicht mit der Andeutung eines Lächelns. In seiner rechten Jackentasche steckt etwas nicht Identifizierbares. Auf dem linken Arm der Frau und in das Bild hinein sind Flecken erkennbar – der Abzug ist »benutzt« worden, vielleicht wurde beim Herumzeigen irgendeine Flüssigkeit verschüttet.23 Ohne Genaueres über den Kontext des Fotos zu wissen, könnte man annehmen, es handele sich um die Aufnahme eines bäuerlichen Paares. Möglicherweise wäre die regionale Herkunft der Tracht zu ermitteln. Irritierend wirkt jedoch, dass die Haltung des Mannes nicht unbedingt auf einen Bauern hindeutet und 23 Vgl. den »Überblick über körperliche Darstellungsformen in Fotos und deren Bedeutung« in: Guschker: Bilderwelt, 446–447 (nach Erving Goffman: Geschlecht und Werbung. Frankfurt a. M. 1981). Diese Übersicht ist auch für die Betrachtung der übrigen Fotos heranzuziehen.

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die Frau keine Festtagstracht trägt, die man bei einem derartigen Anlass für ein Bauern-Atelierfoto – eine Hochzeit zum Beispiel – erwarten würde. Das Atelier hat keinen Stempel hinterlassen, so dass wir keine Rückschlüsse auf den Ort der Aufnahme ziehen können. Wir könnten einiges über die Art der Inszenierung sagen, die der Fotograf vorgenommen hat, über die Tradition und Mode, der er folgt, doch viel weiter würden wir in der Interpretation nicht kommen.24 Zum Glück lässt sich aber doch noch mehr über den Inhalt herausfinden. Auf der Rückseite des Abzuges, den ich erhalten habe, steht in russischer Sprache: »Mai 1944. Das bin ich Tatjana F. mit meinem Kavalier. Deutschland.« Darunter ist mit Bleistift eine kaum mehr entzifferbare Widmung an Tatjana geschrieben, in der es darum geht, dass sie dem Verfasser lieb und teuer ist und dass er sie nicht vergessen wird. Geschickt hat mir diesen Abzug Tatjana Fedoseevna Salogub. Ich war auf sie gestoßen, weil ich bei meinen Forschungen zur Geschichte des Schwarzwalddorfes Yach, in dem ich lebe, erfahren hatte, eine ukrainische Zwangsarbeiterin habe während des Zweiten Weltkrieges hier ein Kind geboren und sei von der Gestapo abgeholt worden. Ich konnte im Gemeindearchiv Frau und Kind identifizieren und in weiteren Recherchen herausfinden, dass Tatjana Salogub keine Repressalien seitens deutscher Behörden hatte erleiden müssen, sondern 1945 in die Ukraine zurückgekehrt war. Es gelang mir sogar, ihre heutige Anschrift zu ermitteln und mit ihr Kontakt aufzunehmen. Seitdem stehe ich mit ihr in Briefwechsel. Ihre Geschichte fand auch Niederschlag in einer Ausstellung über Yach während des Zweiten Weltkrieges und einer entsprechenden Publikation.25 Tatjana Salogub wurde 1923 in der Ukraine, rund 200 Kilometer nordöstlich von Kiev geboren. Im Sommer 1942 kam sie mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern zur Zwangsarbeit nach Yach und arbeitete dort nacheinander auf zwei verschiedenen Bauernhöfen. Im Juni 1943 brachte sie ihren Sohn Nikolaj zur Welt. Sein Vater war der ukrainische Zwangsarbeiter Pavel (Pavlo) Stepanovič Žigaljuk, der 1916 in Volhynien geboren worden war. Eine Heirat kam nicht zustande. Pavel Žigaljuk, dessen Schicksal im Einzelnen noch nicht aufgeklärt ist, blieb zunächst noch in Deutschland, als Tatjana Salogub nach Aufforderung von Vertretern der Sowjetarmee in ihre Heimat zurückkehrte. Sie wurde von der Geheimpolizei verhört, jedoch nicht – wie viele andere Sowjetbürger, die in Deutschland gewesen waren – in ein Straflager eingewiesen. Ihr weiteres Leben war schwer. Ihre Arbeit in einer Kollektivwirtschaft und dann 24 Ausführlich geht Narskij: Fotografie auf die Traditionen der Atelier-Inszenierungen, der Körperhaltungen und Moden ein. 25 Das Scharzwalddorf Yach im Zweiten Weltkrieg. »Jeder tat, was in seinen Kräften stand.« Hg. im Auftrag des Heimat- und Landschaftspflegevereins Yach von Heiko Haumann. Ubstadt-Weiher usw. 2010, hier bes. 96–101.

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in einer Fabrik wurde schlecht bezahlt. 1968 starb ihr Sohn. Heute lebt sie in einem Dorf südöstlich von Kiev. Das Bild, so schrieb mir Tatjana Salogub, wurde in einem Fotoatelier in Elzach – einem Städtchen, in das Yach inzwischen eingemeindet worden ist – aufgenommen. Wahrscheinlich wäre es nicht schwierig, den Namen des Ateliers und vielleicht sogar des Fotografen herauszufinden. Was hat sich der Fotograf bei dieser Aufnahme gedacht? Offenbar war es möglich, trotz Diskriminierung und strengen Vorschriften ein solches Erinnerungsfoto in einem Studio festhalten zu lassen. Das ist ebenso erstaunlich wie die Kleidung der beiden. Niemand trägt, wie es Pflicht war, die Kennzeichnung als »Ostarbeiter»: ein dunkelblaues »OST« in einem weißen, dunkelblau umrandeten Quadrat als aufgenähtes Abzeichen. Und wie kam Tatjana Salogub zu der Tracht, die sie trägt? In einem ihrer Briefe berichtete sie mir, dass die Bäuerin des Hofes, auf dem sie arbeitete, sie nicht nur anständig behandelt, sondern ihr und ihrem Sohn auch gute Kleidung gegeben habe. Insgesamt ist somit das Bild ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass in diesem Fall Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter entgegen den Vorschriften freundlich aufgenommen wurden und – wie aus den Berichten hervorgeht – wie Angehörige auf dem Hof leben konnten. Dass sie verschleppt worden waren und als »Untermenschen« unter behördlicher Kontrolle standen, soll damit nicht verharmlost werden. Umso stärker ist deshalb der Kontrast, den das Leben im Schwarzwalddorf dazu zeigt und den das Foto zum Ausdruck bringt – eine einzigartige Quelle, die wir allerdings nur in Kenntnis des Kontextes entschlüsseln können. Das letzte Porträtfoto, das ich besprechen möchte, hat einen anderen Charakter. (Abb. 5) Es ist nicht in einem Atelier aufgenommen, sondern in einem Garten oder Hof. Im Hintergrund ist ein Zaun erkennbar, der am linken Bildrand um die Ecke führt. Davor sind eine Palme und eine Gips-Figur positioniert worden, möglicherweise wollte man eine Atelier-Atmosphäre zumindest andeuten. Darauf weisen auch die beiden Stühle und das Sofa hin, auf denen die abgebildeten Personen sitzen. Links sehen wir auf einem Stuhl den Hausvater, mit strengem Blick. Er dürfte etwas älter als vierzig Jahre sein. Seine Hände hat er auf seine Oberschenkel gelegt, mit der rechten hält er vermutlich ein Bild, mit der Rückseite nach oben, die Vorderseite ist nicht einzusehen. Vielleicht hat er das Bild geschenkt bekommen, das dann aufgehängt werden sollte – vielleicht gehört das zum Anlass für die Fotografie, aber das wissen wir nicht. Der Mann trägt einen dunklen, wohl schwarzen Anzug, gute schwarze Schuhe, Krawatte, ein weißes Hemd mit Stehkragen, den »Vatermörder«. Seine Haare sind licht, aber er hat einen kräftigen Schnurrbart sowie einen Spitzbart. Neben ihm auf dem Sofa sitzt ein kleines Kind in einem weißen Spitzenkleid, etwa anderthalb bis zwei Jahre alt, das die Beine übereinander geschlagen hat, sich

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5  Familie Glücksmann

schutzsuchend an die Mutter schmiegt, und aufmerksam an der Kamera vorbeischaut – diese scheint es schon nicht mehr zu interessieren, möglicherweise ist ihm das Ganze unheimlich. Die Mutter – so ist jedenfalls anzunehmen – blickt ernst. Sie ist jünger als ihr Mann, etwa dreißig Jahre alt. Interessanterweise hat sie nicht ihren Arm um das kleine Kind gelegt, sondern sitzt gerade und eher angespannt: die Hände ruhen fest an den Seiten ihrer Oberschenkel. Von den Schuhen sieht man nur die Spitzen. Sie trägt ein langes, hochgeschlossenes, dunkles Taftkleid, das an der Halspartie vornehm plissiert sowie mit Spitzen abgesetzt ist und sonst lediglich durch große Knöpfe verschönt wird. Ihre Frisur ist streng, die Haare sind wie ein dicker Kranz hochgesteckt und um den Kopf gelegt. Zu ihrer linken Seite sitzt ein etwas älterer Bub, vier oder fünf Jahre alt. Er trägt einen Kinderanzug mit kurzen Hosen und einem großen weißen Spitzenkragen. Er hat kurze Strümpfe und feste Schuhe sowie kurzgeschnittene Haare und blickt skeptisch in die Kamera. Auch seine Haltung drückt aus, dass ihm die Situation unangenehm ist. Wieder auf einem Stuhl sitzt mit ernstem, abwartendem Gesichtsausdruck und entsprechender Körpersprache – die Arme sind vor der Brust verschränkt – seine Schwester: Sie trägt die gleichen Strümpfe und Schuhe. Bekleidet ist sie mit einem hellen Pullover und einem hellen Rock oder einem zweiteiligen Kleid. Sie dürfte ungefähr ein bis zwei Jahre älter als ihr Bruder sein. Insgesamt wirken die Personen distanziert, steif, ja starr.

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Nach der Mode ist die Aufnahme auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu datieren.26 Obwohl es sich nicht um ein Atelierfoto handelt, ist es inszeniert, wie die Gestaltung des Bildes nahe legt. Der Fotograf hat nicht einfach ein rasches »Knipser-Foto« gemacht, sondern vorweg wurden Gips-Figur, Palmen und elegante Möbel vor den Lattenzaun gestellt. Der Vater wirkt wie ein Patriarch, und doch sitzt die Mutter in der Mitte. Eine Erinnerung soll festgehalten werden. Sehr viel mehr lässt sich ohne Kontextwissen nicht sagen. Erhalten habe ich das Foto von Werner Rom aus Zürich, dem seine Besonderheit während meiner Vorlesung über das Zeitalter der Russischen Revolution, in der ich auch die Bedeutung fotografischer Quellen behandelt habe, eingefallen war. Das Original befindet sich im Besitz von Hans und Denise Taussky, die mir seine Verwendung gestattet haben. Schriftlich und mündlich27 haben sie mir ihr Wissen zu diesem Foto mitgeteilt. Danach handelt es sich von links nach rechts um folgende Personen: Aron Szmul Gli(c)ksman-Hellman (1872 Lodz – 1954 [?] Zürich), Rosa Hoffmann-Glücksmann (Lebensdaten unbekannt), Chaja Hella Gli(c)ksmanHellman (1883 Czenstochau – 1976 Zürich), Moritz Glücksmann-Rosenstein (1906 Zürich – 1986 Zürich), Dora Wagmann-Glücksmann (1905 Czenstochau – 1987 [?]). Das Foto kam über Dora Wagmann-Glücksmann an die Familie Taussky, die mit ihr verwandt ist. Diese und Rosa Hoffmann-Glücksmann haben auch berichtet, dass Vladimir Il’ič Lenin (1870–1924) der Fotograf gewesen sei. Aron Szmul Gliksman und Lenin hätten sich nach dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 als Flüchtlinge in der Schweiz kennengelernt (nach einer anderen Erinnerungsversion sogar schon während des Krieges in der Armee). Lenin habe sich mit Gliksman häufig getroffen, und dieser habe ihn mehrfach in seiner Wohnung in der Spiegelgasse aufgesucht. Ihrer Freundschaft sei aber schließlich abträglich gewesen, dass Gliksman Lenins Streik-Aufrufe an die Schweizer Arbeiter abgelehnt habe, um seine Familie nicht zu gefährden. Das Ehepaar Gliksman habe sich in Czenstochau (Częstochowa) kennengelernt, wo Aron Szmul Kunstschreiner bei seinem künftigen Schwiegervater gewesen sei. Die Ehe sei sehr glücklich gewesen. Aron Szmul Gliksman habe 26 Das vermute ich auf der Grundlage vergleichbarer Bilder. Siehe auch Ingrid Loschek: Reclams Mode- und Kostümlexikon. 2. Aufl. Stuttgart 1988, 72–76 (vgl. 81–87), 253, 467; Max von Boehn: Die Mode. Menschen und Moden im 19. Jahrhundert. 1878–1914. Nach Bildern und Blättern der Zeit ausgewählt und geschildert von Max von Boehn. München 1919. Nach Modeneuheiten kann man bei der Datierung nicht unbedingt gehen, da Frauen und Männer nicht jeden Modetrend aufgriffen. Vgl. Timm Starl: Bildbestimmung. Identifizierung und Datierung von Fotografien 1839 bis 1945. Marburg 2009, 110–111. 27 Schriftlich über Werner Rom am 24.3.2010 und 20.11.2011 sowie mündlich in einem Gespräch am 21.4.2010.

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noch seinen Enkeln gesagt: »Wenn Oma aus dem Haus geht, geht die Sonne unter, und wenn sie nach Hause kommt, geht die Sonne wieder auf.« Vielleicht ist das der Grund, dass Chaja Gliksman-Hellman auf dem Foto in der Mitte sitzt. Auch in Zürich habe Aron zunächst als Möbelschreiner gearbeitet und unter anderem die Möbel des damaligen Stadtpräsidenten restauriert. Die Schreinerei, die er zusammen mit einem Kompagnon betrieben habe, sei jedoch bankrott gegangen. Danach habe er als Vertreter im Kaffeegeschäft gearbeitet, seine Frau als Hausiererin mit Aussteuerwaren. Neben Lenin habe es weitere Verbindungen in die Arbeiterbewegung gegeben. So sei Aron Szmul Gliksman mit Hermann Greulich (1842–1925), dem bedeutenden Schweizer Sozialdemokraten, befreundet und auch – vermutlich später als zum Zeitpunkt der Fotografie – mit dem Kommunisten Edgar Woog (1898–1973) bekannt gewesen.28 Leider weiß das Ehepaar Taussky nichts über den Anlass zu dem Foto, das Lenin aufgenommen haben soll. Der Ursprung seiner Bekanntschaft mit Gliksman muss im Dunkeln bleiben. Der russisch-japanische Krieg kann es nicht gewesen sein: Lenin nahm nicht an ihm teil. Von 1903 bis 1905 lebte er in Genf, im April und Mai 1905 befand er sich am Parteitag in London, Anfang November 1905 reiste er nach St. Petersburg, um an Ort und Stelle die Revolution in Russland zu beeinflussen. Nach deren Scheitern kehrte er nach Genf zurück, im Herbst 1908 siedelte er nach Paris um. 1911 weilte er kurzzeitig in Zürich, 1913 in Bern. Während des Ersten Weltkrieges emigrierte Lenin erneut in die Schweiz, zunächst nach Bern, dann von Februar 1916 bis Anfang 1917 nach Zürich. Am 9. April 1917 verließ er die Schweiz, um sich in die revolutionären Ereignisse in Russland zu stürzen, die ihn dann an die Spitze der Sowjetregierung führen sollten.29 Dass Lenin in der Schweiz öffentlich zu Streiks aufgerufen habe, ist bisher nicht bekannt. Das hätte auch ein Eingreifen der Behörden zu Folge gehabt. Gewiss versuchte er, einen Kreis junger Arbeiter um sich zu bilden oder gemeinsame Sitzungen von russischen und schweizerischen Revolutionären zu organisieren. Diese Bemühungen blieben jedoch begrenzt.30 Erfolgreich waren höchstens seine Kontakte zu Schweizer Sozialisten, um die internationale Linke im revolutionären Kampf gegen den Weltkrieg und dessen Verursacher zu stärken. In privaten Gesprächen machte Lenin allerdings keinen Hehl aus seiner Meinung, dass in der Schweiz eine revolutionäre Erhebung möglich und 28 Der Nachlass Woog im Schweizerischen Sozialarchiv (Ar 140) enthält keinen Hinweis auf eine Bekanntschaft mit Glücksmann, umfasst allerdings auch lediglich politische Materialien. 29 Ausführlich dazu Willi Gautschi: Lenin als Emigrant in der Schweiz. Zürich, Köln 1973. 30 Vgl. etwa Gautschi: Lenin, 191–192.

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notwendig sei. Ähnlich äußerte er sich in russischen Zeitungsartikeln.31 Intern griff er, vor allem gegen Ende 1916 und Anfang 1917, in Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz – deren Mitglied er im Übrigen selbst auch war – über den künftigen Kurs ein, um den linken Flügel zu unterstützen. Ein von ihm gesteuertes »Spaltungsmanöver« scheiterte.32 In seinem »Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter«, der nach seiner Abreise im April 1917 veröffentlicht wurde, enthielt sich Lenin jeglicher Empfehlung für eine Revolution in der Schweiz.33 Natürlich schließt all das nicht aus, dass er mit Aron Gliksman über die Situation in der Schweiz diskutiert und dabei Ansichten vertreten hat, die dieser nicht teilen wollte. Wie sehen die Daten aus, die sich über die Familie Gliksman / Glücksmann herausfinden lassen? Ein Aron Samuel Glücksmann ist in den Einbürgerungsakten des Zürcher Staatsarchivs vermerkt. Danach wurde er 1872 in Tschenstochau geboren, war jüdischer Religion und von Beruf ein gewerbetreibender Schreiner, wanderte 1905 zu und wurde 1911 in der Stadt Zürich eingebürgert. Er wohnte in der Dienerstraße 83. Gemäß den Angaben auf dem Grabstein auf dem Oberen Friesenberg in Zürich starb er am 24. Juni 1956, seine Frau Chaja am 12. März 1976. Auch ihr Sohn Moritz ist dort bestattet. In den Einbürgerungsakten ist Chaja Helman nur knapp aufgeführt: geboren 1883, jüdischer Religion, Kinder: Dwoja (geboren 1905), Moritz (1906), Rosa (1908). Ebenso sind Unterlagen über weitere Herren Glücksmann aus Polen, teilweise sogar aus Tschenstochau, enthalten. Möglicherweise handelt es sich um Verwandte.34 Nach dem Alter der Kinder zu schließen, wurde das Foto etwa 1910, spätestens 1911 aufgenommen. Wenn Lenin der Fotograf gewesen sein soll, könnte dies Ende September 1911 geschehen sein. Am 23. und 24. September nahm er in Zürich an einer Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros teil, am 26. September hielt er hier einen Vortrag.35 Lernte er zu dieser Zeit auch die Familie Glücksmann kennen? Traf er Aron an einer Veranstaltung der Arbeiterbewegung? Vorher können sie sich jedenfalls kaum in Zürich begegnet sein. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass eine erste Bekanntschaft an einem anderen Ort stattfand, aber doch unwahrscheinlich. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand muss offen bleiben, wie die Beziehungen zwischen Lenin und 31 32 33 34

Vgl. Gautschi: Lenin, 211–212, 216–218. Gautschi: Lenin, 219–235, Zitat 234. Gautschi: Lenin, 272–275. Diese Unterlagen hat mir dankenswerterweise Karin Huser zur Verfügung gestellt. Sie hat sie für ihre Dissertation recherchiert: Karin Huser Bugmann: Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880–1939. Zürich 1998. Für ihre Hilfsbereitschaft danke ich ihr herzlich. 35 Gautschi: Lenin, 77–78.

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der Familie Glücksmann aussah und ob Lenin 1911 diese besucht hat. Somit lässt sich derzeit ebenfalls nichts Näheres über Anlass und Kontext des Familienfotos sagen. Hingegen ist festzuhalten, dass sich die Familie Glücksmann mit diesem Foto als kultiviert, vornehm und in guter bürgerlicher Position inszenieren wollte – nur der Lattenzaun im Hintergrund stört dieses Bild ein wenig. Damit setzte sie sich gegen ihre ostjüdische Herkunft ab, obwohl sie zum Zeitpunkt von Aron Glücksmanns Einbürgerung 1911 in Zürich-Aussersihl und damit im »Schtetl an der Sihl«, im ostjüdischen Quartier, lebte. Zu klären wäre, wie sich die (spätere?) Berufstätigkeit als Vertreter und Hausiererin auf ihr Selbstverständnis auswirkte.36 Es würde sich lohnen, dem Zusammenhang des Fotos weiter nachzugehen. Es ist deutlich geworden, dass bei allen Ähnlichkeiten, die die Untersuchung von derartigen Fotografien mit anderen Selbstzeugnissen verbinden, doch erhebliche Unterschiede bestehen. Wir können das Dargestellte wie den Text einer Erinnerung oder eines Oral History-Gesprächs beschreiben und in einen Dialog damit treten.37 Zwischen die Fotografie samt den darauf abgebildeten Personen und den Historiker schiebt sich der Fotograf. Diese Situation gleicht dem Fall, dass der Historiker ein Gespräch interpretieren soll, das er nicht selbst geführt hat. Aber sie hat doch ihre Besonderheiten: Wer war der Fotograf? Stand er in einer künstlerisch-fotografischen Tradition? Gehörte er einem FotoAtelier an, das einen bestimmten fotografischen Ansatz vertrat? Welche Technik verwendete er? Welchen Interessen und Absichten folgte er? Vergleichbar mit anderen Selbstzeugnissen sind weitere Fragen an die Fotografie, die aber ebenfalls Eigenheiten aufweisen. Wie sah der Kontext aus – zum Zeitpunkt der Aufnahmen wie während der späteren Geschichte der Fotografie? In welchem Medium lernen wir sie kennen? War sie privat oder wurde sie veröffentlicht? Ist sie in ein Album eingeordnet worden? Wie verhält sich das Foto zu einer eventuellen Bildlegende? Welches Zielpublikum wurde angepeilt? Hat es sich möglicherweise im Laufe der Zeit verändert? All das weist darauf 36 1905 verbot der Kanton Zürich russischen Staatsangehörigen das Hausieren (Huser: Schtetl, 140; Annette Brunschwig u. a.: Geschichte der Juden im Kanton Zürich. Von den Anfängen bis in die heutige Zeit. Hg. von Ulrich Bär und Monique R. Siegel. Zürich 2005, 257–260 [Ruth Heinrichs]). Das dürfte die Glücksmanns nicht betroffen haben, zeigt aber doch, wie schwierig es war, beruflich Fuß zu fassen, und mit welchem Misstrauen die zugewanderten Ostjuden beobachtet wurden. Vgl. insgesamt zur Lage dieser Bevölkerungsgruppe Huser: Schtetl; Patrick Kury: »Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!« Ostjudenmigration nach Basel 1890–1930. Basel 1998. 37 Im Folgenden verdanke ich Anton Holzer wichtige Anregungen (vor allem in seinem Schreiben vom 14.4.2009). Vgl. dessen Analysen: Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. 2. Aufl. Darmstadt 2007; ders.: Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Darmstadt 2008.

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6  Spielende Bauernkinder in Russland

hin, dass wir versuchen müssen, die Geschichte des Fotos zu verfolgen. Welche Rolle spielt es in den Erinnerungsprozessen eines Menschen, einer Familie, einer Gruppe? Sind lebensgeschichtliche Brüche damit verbunden? Wurde das Foto über den ursprünglichen Rahmen hinaus weitergegeben? Obwohl der Ausschnitt aus einer Lebenswelt, die das Foto wiedergibt, in der Regel kleiner ist als bei einer Erinnerung oder einem Gespräch – vielleicht grundsätzlich ähnlich einem kurzen Tagebucheintrag oder einem Brief –, müssen die Fragen weit ausgreifen. Die Beispiele, die ich hier zur Klärung methodischer Probleme untersucht habe, betrafen die Gattung der Porträtfotografie, da ich durch sie darauf aufmerksam geworden bin. Andere Gattungen sind analog zu behandeln, haben aber selbstverständlich wiederum ihre Eigentümlichkeiten. An zwei Beispielen möchte ich dies hier nur streifen. Die folgende Abbildung zeigt ein »KnipserFoto«.38 (Abb. 6) Es ist wahrscheinlich nicht gestellt. Vor einem Holzhaus, das um ein Eck gebaut ist, stehen und sitzen um ein schlichtes Tischchen fünf Kinder, ein Mädchen und vier Buben unterschiedlichen Alters. Alle Buben haben 38 Vgl. Guschker: Bilderwelt; Starl: Knipser. Starl hat sich mit zusätzlichen Aspekten privater Fotografien in mehreren Aufsätzen beschäftigt, die in der Zeitschrift »Fotogeschichte« erschienen sind (wie auch zahlreiche weitere wichtige Aufsätze). Methodisch weiterführend ist ebenfalls die im Folgenden zitierte Arbeit von Petra Schmid. Einführend Jäger: Fotografie, 183–193. Auf die Problematik des Begriffs »Knipser-Foto« gehe ich nicht ein (vgl. Guschker: Bilderwelt, 18–19).

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denselben Haarschnitt, eine Art »Bubikopf«, vermutlich »hausgemacht«, das Mädchen hat lange Haare. Die Kleider sind einfach. Das Mädchen, das mit dem Rücken zum Fotografen steht, trägt ein fußlanges Kleid und eine Schürze, die hoch über der Brust gebunden ist, die Buben tragen kittelartige Hemden und lange Hosen. Soweit es zu sehen ist, sind alle Kinder barfuß. Ein Teil der Buben sitzt auf einer Holzbank, in die eine große Axt eingeschlagen ist. Auf dem Hof liegen Holzabfälle herum. Einer der Buben – er steht rechts im Bild – scheint zu weinen. Sein Kittelhemd ist gemustert und mit einem Gürtel gebunden. Die übrigen Buben blicken zum Fotografen. Der größte von ihnen stützt sich mit einer Hand auf das Tischchen. Er wirkt dominant. Der kleinste hingegen scheint sich hinter dem mittleren Bub zu verstecken, er schaut ängstlich. Hinter den Kindern geht es durch einen breiten Eingang wohl in eine Scheune. Rechts ist an dem nach vorne gezogenen Haus ein Fenster erkennbar. Das Foto ist in einem Album enthalten, ich nenne es »Spielende Bauernkinder«. Aufgenommen hat es der Schweizer Charles Schindler (1877–1912) 1902 während einer Reise in Russland.39 Schindler war von 1899 bis 1902 Privatlehrer des Prinzen und späteren Königs Georg II. von Griechenland (1890– 1947), anschließend bis 1905 Erzieher in Russland und später dann Lehrer in der Schweiz. Seine Fotos, die er in Alben einklebte, nutzte er für seinen persönlichen Gebrauch, zeigte sie seiner Familie, seinen Freunden und Bekannten. Während seiner Reisen fotografierte er, wie eine Analyse seiner Aufnahmen ergab, im Wesentlichen über Schnappschüsse »bewegte Bilder«. Es ging ihm um die Erinnerung an seine Erlebnisse. Für den Historiker sind diese Fotos einzigartige Dokumentationen des Alltags, denn sie halten das »außergewöhnliche Normale« (Eduardo Grendi) fest.40 Zugleich sind sie Teil einer »visuellen Autobiographie«, denn Schindler fotografierte, »was ihn bewegt«. Knipser-Bilder sind in der Regel spontan, folgen aber dennoch Traditionen, Normen, Vorbildern und Konventionen, von denen die Fotografen geprägt sind. Ebenso muss der Historiker bei seiner Interpretation berücksichtigen, dass die Bilder vielfach Aussagen über ihre sozialen Funktionen im Rahmen der Lebensgeschichten der jeweils beteiligten Personen erlauben, etwa zur Integration einer fotografierten Gruppe – im Moment des Fotografierens und bei der späteren Betrachtung, die das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt –, zur Identitätsstiftung oder zur Erinnerung. Die Knipserbilder wirken so dem Vergessen entgegen, bestätigen oder ersetzen Gedächtnisbilder und schaffen neue Erinnerungen. Oft hilft bei der Interpretation eine genaue Betrachtung weiter, wie das jeweilige Foto im Album 39 © Sammlung Herzog, Basel. Ich habe das Foto bereits als Titelbild der Neuausgabe meiner »Geschichte Russlands« verwendet (Zürich 2003, 2. Aufl. 2010). 40 Vgl. Guschker: Bilderwelt, 144.

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eingeordnet ist, in welchem Zusammenhang es dort steht, wie es gegebenenfalls beschriftet ist, was das Album »erzählt« und wie es genutzt wurde.41 Das Foto der spielenden Kinder ist zusammen mit sieben weiteren Aufnahmen auf einer Albumseite eingeklebt, auf der oben »1902« geschrieben steht, neben dem einzigen hochformatigen Foto noch »03«. Sonst finden sich keine Beschriftungen. Sämtliche Bilder haben ländliche Szenen zum Gegenstand. Neben Holzhäusern, Kirchen, einer bäuerlichen Familie, die Rast auf einem Holzwagen macht, Bauern, die mit gezogener Mütze jemandem zuhören, einer Bäuerin, die an einem Bach wäscht, erkennen wir eine vornehm gekleidete Reisegruppe – darunter auch Kinder –, die den Bauern zuschaut oder durch die Gegend spaziert. Leider erfahren wir nichts über diese Gruppe und in welcher Beziehung sie zu den Bauern steht. Vielleicht hat sie schlicht einen Ausflug aufs Land gemacht. Wo die Gruppe auf die Bauern gestoßen ist, wissen wir ebenfalls nicht. Eine genauere Erforschung von Schindlers Lebensgeschichte könnte über alles näheren Aufschluss geben – auch darüber, was er möglicherweise nicht fotografisch festhalten wollte. Schindler hat anscheinend die Lebensweise der Bauern interessiert. Möglicherweise hatte ihn die russische Literatur auf bestimmte Themen aufmerksam gemacht, die er nun fotografisch festhalten wollte. Die »spielenden Bauernkinder« in ihrer Ungezwungenheit und Lebendigkeit – trotz aller ärmlichen Verhältnisse – haben ihn wahrscheinlich in ihrer Gegensätzlichkeit zu den städtischen Bedingungen fasziniert. So wie die spätere Betrachtung dieser Aufnahme Schindlers Erinnerung an sein damaliges Erlebnis und an seine Vorstellung vom russischen Landleben reaktiviert haben dürfte,42 ruft sie auch bei mir vielfältige Assoziationen hervor. Für eine Alltagsund Sozialgeschichte des russischen Dorfes und seiner Bewohner ist Schindlers Foto von hohem Wert. Eine weitere Gattung, die für Historiker wichtig sein kann, ist die Postkarte. Hier möchte ich kein Beispiel bringen, sondern lediglich einige Bemerkungen anfügen. Häufig sind auf Postkarten Landschaften, Ereignisse, Gebäude, All41 Petra Schmid: Charles Schindler knipst. Private Fotografien als historische Quellen am Beispiel zweier Fotoalben aus der Fondation Herzog. Unveröffentl. Master-Arbeit, Univ. Basel 2011, Zitate: 80, 106. Hier wie in einer Publikation, die sie vorbereitet, interpretiert Petra Schmid detailliert Art und Kontext der Schindlerschen Fotos. Dabei geht sie auch ausführlich auf mögliche Analyse-Methoden ein (dazu ebenfalls Guschker: Bilderwelt, 61–79). Als Beispiel einer Album-Analyse vgl. Maja Naef: Augen_Zeugen. Geordnete Erinnerung. Das Fotoalbum eines Wehrmachtssoldaten. In: Erinnerung an Gewaltherrschaft. Selbstzeugnisse – Analysen – Methoden. Hg. von Heiko Haumann. Frankfurt a. M. usw. 2010, 79–100. Ein schönes Interpretationsbeispiel eines einzelnen Knipser-Fotos: Cornelia Brink: Lesende Frau. Fotografie und Erinnerung. In: Fotogeschichte 25 (2005) H. 98, 5–8. 42 Vgl. Guschker: Bilderwelt, 272–279.

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tagsszenen, Bräuche zu sehen, manchmal auch Menschen, etwa in regionalspezifischen Trachten. Berühmt wurden früher die Postkarten mit »Völker-Typen«. Die Post- oder Ansichtskarte entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und ermöglichte es damit, sich visuell mit »Fremdem« auseinanderzusetzen, selbst wenn man nicht in der Lage war, in andere Länder zu reisen oder selbst die jeweiligen »Objekte« aufzunehmen. In der Regel reproduzierten die Postkarten Fotografien, sodass zunächst einmal für die Untersuchung dieselben Regeln gelten. Da in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Einführung noch keine Schnappschüsse möglich waren – so konnten noch keine Wolken fotografiert werden –, wurde oft retuschiert und montiert. Zusätzlich war eine Kolorierung beliebt. Die Gestaltung der Postkarten muss deshalb sorgfältig geprüft werden, nicht zuletzt, um Manipulationen zu entdecken: Wollte man nur die schönen Seiten eines Sujets zeigen? Oder wollte man vielleicht gerade die Armut hervorheben, das »Fremde«, den Gegensatz zum Bekannten? Damit kommen zugleich die Akteure der Aufnahme ins Spiel: die Fotografen und deren Auftraggeber, die Fotogeschäfte und -agenturen, die die Postkarten verkaufen wollten. Können wir etwas über deren Ziele und Absichten aussagen? Wie setzten sich Bildserien zusammen? Drückt sich ihnen auch aus, was die Betrachter nicht sehen sollten, Motive, die übergangen wurden? Gab es neben Serien Einzelbilder? Was bedeutet es, dass die Bilder nicht exklusiv sind? Durch die genaue Betrachtung des Bildes können wir uns möglicherweise in den Blick des Fotografen hineinversetzen, aber auch in die abgebildete Person, die in eine bestimmte Position gebracht worden ist, sich jedoch auch selbst zu inszenieren versucht. Zu berücksichtigen sind weiter der Blick und das Interesse derjenigen, die das Zielpublikum bilden, also die Karte später anschauen werden. Ikonografischen Traditionen, dem kulturellen Bild-Gedächtnis, ist wiederum nachzugehen, ebenso dem historischen Kontext. Im Zeitalter des Kolonialismus herrschte Nachfrage nach Bildern, die das Exotische darstellten und Klischees bedienten oder erst schufen: der edle Wilde in ursprünglicher Freiheit, der hinterhältige, aber doch stolze Fremde, der unzivilisierte Barbar mit magischen Bräuchen. Wie andere Fotografien (und sonstige Selbstzeugnisse) behaupten Postkarten Authentizität, vermitteln einen Sinn und sind Teil eines historischen Vorgangs. In diesem Punkt sind sie aber auch ein spezifisches Medium: Sie sollen als Kommunikationsmittel versandt werden. Mit dem Verschicken der Ansichtskarte, die seit der Gründung des Weltpostvereins ein normiertes Format hatte, eignete sich der Reisende einen Ort oder ein Geschehnis symbolisch an und bestätigte dem Empfänger, belegt durch Briefmarke und Stempel: »Ich war hier! Ich war dabei!« Neben dem, das abgebildet ist, hat somit auch der Gebrauch der Karte Quellenwert und muss – wie überhaupt bei Quellen – in die Untersuchung

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einbezogen werden. Dazu gehört dann neben der Bildlegende die Mitteilung an den Empfänger, die Botschaft, die auf der Karte zu lesen ist (manchmal hat sie überhaupt nichts mit der Fotografie zu tun, der Schreiber hat die Karte zufällig ausgesucht). Zum Gebrauch der Ansichtskarten, zur kulturellen Praxis im Umgang mit ihnen, zählt schließlich das Sammeln. 1897 gründete sich etwa der »Welt-, Kauf- und Tauschverband Kosmopolit« unter dem Motto: »Für wenig Geld seh’n wir die Welt!« Hier findet eine andere Form der Aneignung von Welt statt und eine andere Form, sich Topografien zu erschließen, die dann in Alben oder ähnlichen Systemen geordnet werden. Damit berührt sich die Ansichtskarte wieder mit dem privaten Erinnerungsbild.43 Gerade private Fotos – ob Knipser-Bilder, Porträtaufnahmen oder privat angeeignete Ansichtskarten – sind »Indikatoren der Lebenswelt«.44 Wie andere Selbstzeugnisse auch geben sie Auskunft über das Abgebildete – das Erzählte – 43 Meine Überlegungen wurden nicht zuletzt angeregt durch ein wissenschaftliches Kolloquium am 10. und 11.12.2009 zur Begleitung der Ausstellung »Liebe Grüsse aus Moskau. Eine Postkarten-Reise ins Zarenreich« in der Universitätsbibliothek Basel. Vgl. Jäger: Photographie, 140–150; erweitert ders.: Fotografie, 168–182; Rudolf Jaworski: Deutsche und tschechische Ansichten. Kollektive Identifikationsangebote auf Bildpostkarten in der späten Habsburgermonarchie. Innsbruck usw. 2006; Markus Helmut Lenhart: Zwischen Nationalismus und Gesamtstaat – Jüdische Bildpostkarten als Spiegel jüdischer Kultur im Ersten Weltkrieg. In: transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 9/2 (2008) 89–109; Eva Tropper: Medialität und Gebrauch oder Was leistet der Begriff des Performativen für den Umgang mit Bildern? Die Ansichtskarte als Fallbeispiel. In: Wie wir uns aufführen. Performanz als Thema der Kulturwissenschaften. Hg. von Lutz Musner und Heidemarie Uhl. Wien 2006, 103–130; dies.: Kommunikationsraum »Welt«. Die Ansichtskarte und die Phantasmen von Globalität um 1900. In: Zentraleuropa – ein hybrider Kommunikationsraum. Hg. von András F. Balogh und Helga Mitterbauer. Wien 2006, 215–226; dies.: Ansichtskarten und die verkleinerte Welt um 1900. Bild, Medium, Praxis. In: Iconic Turn? Hg. von Helga Mitterbauer und Ulrich Tragatschnig. Innsbruck usw. 2006, 218–224 (= Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 2, 2006); dies.: Hier ist es schön oder Was man von Ansichtskarten über Graz erfahren kann. In: Hier ist es schön. Grazer Ansichtskarten. Hg. von Margareth Otti und Otto Hochreiter. Graz 2007, 34–59; dies.: Bild/Störung. Beschriebene Postkarten um 1900. In: Fotogeschichte 30 (2010) H. 118, 5–16 (= Zeigen, grüßen, senden. Aspekte der fotografisch illustrierten Postkarte. Hg. von Timm Starl und Eva Tropper); Roberto Zaugg: Zwischen Europäisierung und Afrikanisierung. Zur visuellen Konstruktion der Kapverden auf kolonialen Postkarten. In: ebd., 17–28; Jens Jäger: Plätze an der Sonne? Europäische Visualisierungen kolonialer Realitäten um 1900. In: Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phänomen. Hg. von Claudia Kraft u. a. Frankfurt a. M., New York 2010, 162–184; Postcards. Ephemeral histories of modernity. Ed. by David Prochaska und Jordana Mendelson. University Park, Pennsylvania 2010. 44 Guschker: Bilderwelt, 9. Selbstverständlich können auch Fotos, die professionell genutzt werden (z. B. von Journalisten), etwas über Lebenswelten aussagen. Das klammere ich hier aus. Die Vorgehensweisen bei der Analyse ähneln sich.

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und zugleich über den Abbildenden – den Erzähler –, darüber hinaus über die späteren Betrachter – die Leser oder Zuhörer – bis hin zum interpretierenden Historiker. Sie vermitteln einen »Sinn«, der zu entschlüsseln ist.45 Häufig werden Wendepunkte im Leben abgebildet, besondere Ereignisse und Erlebnisse – vielfach während der Ferien –, etwas Fremdes und Auffallendes, manchmal aber auch einfache Alltagsvorgänge, die dokumentiert werden sollen. Werden Personen fotografiert, ist deren Interaktion mit dem Fotografen zu berücksichtigen. In diesen privaten Alltagsgeschichten, die die Bilder erzählen, spiegeln sich, wie in jeder Lebensgeschichte, Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse.46 Bei unseren Beispielen können wir auf Konstellationen, die das russische Dorf bestimmten, und auf die Beziehungen zwischen Stadt und Land schließen, auf den Stalinismus und die Vorstellungen vom »Neuen Menschen«, auf die Zwangsarbeit während des »Dritten Reiches« und die eingespielten Verhaltensweisen im Schwarzwalddorf, auf die Situation zugewanderter (Ost-) Juden und russischer Revolutionäre in der Schweiz, auf Geschlechter-, Generationen- und Familienbeziehungen.47 Da es sich bei den Fotos über die Herstellung, über die Betrachtung durch den Fotografen und weitere Personen sowie über die Interpretation um einen Vorgang handelt, der mehrere Menschen, verschiedene Zeiten und Räume, andersartige Wirklichkeitsbereiche sowie unterschiedliche Perspektiven umfasst, erhalten wir Einblicke in etliche Lebenswelten. Das gilt es zu nutzen, trotz aller methodischen Probleme, Schwierigkeiten der Analyse und Lücken, die bleiben. Anhang

Mehrere Jahre habe ich an der Universität Basel zusammen mit Studierenden sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein »Projekt Erinnerung« durchgeführt. In diesem Zusammenhang haben wir uns auch intensiv mit der Bedeutung der Fotografie beschäftigt. In der Auseinandersetzung mit zahlreichen Fallstudien und mit der einschlägigen Literatur ist ein Kriterienkatalog zur Quellenkritik und Interpretation von Fotografien entstanden. Ich füge ihn hier als Ergänzung an. 45 Zur Sinnkonstruktion von Fotos siehe Guschker: Bilderwelt, insbes. das 4. Kapitel. 46 Vgl. dazu auch: Vom Bild zum Text. Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis. Hg. von Andreas Volk und Hubertus von Amelunxen. Zürich 1996; Thomas Overdick: Photographing Culture. Anschauung und Anschaulichkeit in der Ethnographie. Zürich 2010. 47 Vgl. Guschker: Bilderwelt, 401–402.

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1. Art der Quelle, Überlieferung    

Fotograf (»Autor/-in») Datum, Ort (auch: Standort!), Aufnahmezeitpunkt Entstehungsbedingungen (Auftrag? Privatfoto?) Soziale Herkunft von »Autor/-in«, Auftrageber/-in, Besitzer/-in, evtl. auch von den dargestellten Personen  Ursprüngliche Betrachter oder Empfänger des Fotos  Technische Ausstattung und Möglichkeiten (z. B. Belichtungszeiten)  Originalnegativ? (wichtig, um Ausschnitt, Montagen, Retuschen, Fälschungen usw. beurteilen zu können)  Art der Reproduktion, Wiedergabebeschaffenheit (z. B. Papierqualität)  Prägestempel, handschriftliche Notizen o. ä. auf dem Foto?  Aufbewahrungsort  Einzelstück oder Teil einer Reihe?  Ursprüngliche und gegenwärtige Aufbewahrung  Private oder öffentliche Präsentation; Funktion (Presse, Propaganda, Dokumentation, Reiseaufnahmen, Ethnografie, Werbung usw.) Besondere Vorsicht ist geboten, wenn wir nichts Näheres wissen.

2. »Textsicherung«: Genaue Beschreibung des Fotos    

Welche »Realien« sind zu sehen? Wie sind sie arrangiert? Einordnung, Widersprüche? Welche Ereignisse werden dargestellt? Stil, Form (Aufnahmetechnik, Perspektive, Einordnung in die Fotogeschichte) Zusammenhänge zwischen der Form des Bildes und der Herkunft, der Produktionsbedingungen sowie des Inhalts  Bildaufbau, Rollenverteilung  Wohin wird der Blick des Betrachters gelenkt? Weshalb?  Welches ist der zentrale Punkt im Bild?  Identifizierung der abgebildeten Personen und Orte  Beziehungen zwischen den Personen / Gegenständen durch das Arrangement?  Wie wird Farbe eingesetzt?  Auffälligkeiten  Fehlt etwas?  Unverständliches?  Bildrhetorik, »visuelle Zeichen»  Symbole  »Stimmung»  Schnappschuss oder gestelltes Bild (Inszenierung), Atelierfoto, Dokumentarfoto, Reportagefoto, Sachfoto?  Fälschung erkennbar (z. B. technisch oder durch den historischen Zusammenhang)?  Sind Bildlegenden vorhanden? Wann sind sie entstanden? Stimmen sie mit der eigenen Sicht auf das Bild überein?

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3. Hermeneutik und Analyse, Interpretation  Kontext (Entstehungszusammenhänge, historischer Hintergrund, sozial-, alltags-, mentalitätengeschichtliche Hinweise)  Produktions- und Distributionsbedingungen  »Zielpublikum« des Fotos (zur Zeit der Aufnahme und später)  Eventuelle Aussagen zu seriellen Bilder  Bezüge zu anderen Ausdrucksformen (Malerei, Film, Literatur)  Kunsthistorische Einordnung (Tradition, Typus, Veränderungen, technische Möglichkeiten, Teil eines Diskurses?)  Künstler und Umwelt  Tradition der Symbole  Kulturelle Codes, Referenzsignale  »Subtext«?  Körperausdruck (Gefühle, Empfindungen, Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder usw.)  Bild und »Wirklichkeit« (Konstruktionscharakter)  Werden bestimmte Assoziationen angesprochen?  Gezielte Mechanismen der Beeinflussung?  Bildung von Bewusstsein? Bedeutung?  Analyse der Absichten und Ziele (Bilder im Kopf des Fotografen, aber auch der dargestellten Personen: »Pose«, Eigen-Inszenierung, Blickweisen und Wahrnehmungsformen)  Interaktion zwischen Fotograf und abgebildeten Personen  Teil einer (bildlichen) Autobiographie?  Wiedererkennungsmechanismen (»Zitate«, Erinnerung bei uns)  Analyse der Betrachterfunktion, Rezeption, Wahrnehmungsbedingungen (Aneignungsund Verwertungsbedingungen): Vergleich früher (zur Zeit der Aufnahme) und heute  Kritische Analyse der Bildlegenden (Stimmt der Text mit dem Bild überein? Ist er propagandistisch oder von sonstigen Absichten geprägt? Steckt bereits eine Interpretation darin?)  Worin besteht der »Sinn« des Fotos als Selbstzeugnis?  Eventuell Schlüsselaussage, von der aus zu interpretieren ist  Reflexion der Mehrdeutigkeit von Fotografien  Stellenwert im Gesamtwerk des Fotografen  Private oder öffentliche Erinnerungspolitik?  Funktion des Bildes im historischen Zusammenhang / Kommunikationsprozess (Fotograf – Bild – Kontext – Betrachter)  Auswirkungen der postfotografischen Geschichte auf die Interpretation des Fotos  Gesellschaftliches Beziehungsgefüge  Erkenntniswert für die eigene Fragestellung

Revolutionen Zum Zusammenhang von Lebenswelt und Geschichte*1 Abschiedsvorlesung am 2. Juni 2010

1  Marc Chagall: »Erinnerung 1914« (1918?) * Bislang unveröffentlicht. Der Vorlesungscharakter ist beibehalten worden. Den Hinweis auf Nikolaj A. Rubakin verdanke ich Julia Herzberg, jenen auf Kurt Picks Zeichnung Nicolas Berg. Für zahlreiche intensive Diskussionen und für tatkräftige Unterstützung bei der Vorbereitung der Abschiedsvorlesung danke ich meinen damaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Universität Basel.

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Marc Chagall lebte von 1887 bis 1985. Das Bild ist in Russland entstanden, möglicherweise erst um 1918. Vielleicht wollte Chagall mit der Datierung 1914 auf die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die jüdische Bevölkerung hinweisen, nicht zuletzt auf die Vertreibungen infolge der Kriegshandlungen. Der wandernde Jude trägt ein Haus auf dem Rücken, in der Tür steht eine Frau, vielleicht seine Frau oder seine Mutter – eine Erinnerung an die Heimat, die er verlassen musste? Wir werden noch sehen: die Last der Geschichte steht dennoch dem Flug der Gedanken und der schwerelosen Bewegung nicht entgegen. Chagall wird uns in dieser Vorlesung begleiten. Am Anfang steht eine kleine Geschichte. Sie handelt von einer Gesellschaft, genauer gesagt von einer zusammengewürfelten Gruppe jüdischer Menschen in Russland, in einem Eisenbahnwaggon dritter Klasse. Es ist früher Morgen. Die Menschen sind aufgewacht, haben ihr Gebet gesprochen und fangen nun an, lebhaft miteinander zu reden. Zunächst werden Neuigkeiten ausgetauscht. Man spricht über die Verhältnisse zu Hause, die wirtschaftliche Entwicklung, die Getreidepreise auf dem Markt. Dann ist man schnell beim Russisch-Japanischen Krieg und bei der Revolution von 1905. Die Pogrome sind natürlich ein Thema, und irgendeiner erwähnt Asef. Evno Fišelevič Asef (1869–1918) war ein Geheimagent der zaristischen Polizei, der in die Sozialrevolutionäre Partei eingeschleust wurde, dort terroristische Anschläge vorbereitete und gleichzeitig viele Revolutionäre – darunter zahlreiche Juden – an die Polizei, aber auch manche Polizeiaktion an die Revolutionäre verriet. Einige Mordanschläge auf hohe Persönlichkeiten des Zarenregimes – so auf den damaligen Innenminister und auf einen Onkel des Zaren – verhinderte er nicht, weil er es richtig fand, dass sie für ihre Verantwortung, die sie bei der Organisation von Judenpogromen gespielt hatten, zur Rechenschaft gezogen wurden. Dieser widersprüchliche Doppelagent wurde 1908 von Sozialrevolutionären entlarvt, konnte sich der Verurteilung seitens eines Ehrengerichtes jedoch durch Flucht entziehen. Zurück zu unserer Geschichte. Das Stichwort »Asef« löst eine Flut von aufgeregten Beiträgen aus. Einer der Mitreisenden ergreift schließlich das Wort: »›Verzeiht, aber Ihr seid alle miteinander ein Haufen Rindvieh! Ihr übertreibt ein bisschen mit Euren Aschew. Pah, welch ein Theater, alles wegen Aschew. Wer ist denn Euer Aschew? Ein erbärmlicher Kerl, ein Jämmerling, ein Lump, ein Verräter, eine Null, ein Nichts und Niemand. Wenn Ihr wollt, werde ich Euch eine Geschichte von einem richtigen Schurken erzählen. Dazu ist er noch einer von uns, aus Kaminke. Dann werdet Ihr, bitteschön, selbst sagen, dass Aschew dagegen ein elender Kläffer ist.‹(…) [Der Erzähler selbst fährt fort:] Ich sehe einen Mann, füllige Gestalt, seidene Sabbatmütze, rotes sommersprossiges Gesicht, lachende Äuglein, vorne keine Zähne. Das heißt, ein paar der Vorderzähne fehlen ihm, und offenbar deshalb zischt er jedes Mal, wenn er ein ›s‹ oder

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ein ›z‹ aussprechen will. Sagt er also Asew, klingt es bei ihm wie ‚Aschew‘. Der Mann hat es mir gleich angetan.« Die Leute rücken zusammen, sind gespannt, für eine gute Geschichte vergisst man alles andere. In dieser Geschichte, die der Reisende erzählt, geht es um den Fall eines jüdischen Schankwirtes während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der im Disput mit einem Christen angeblich dessen Religion beleidigt hat. Er soll zum Auspeitschen verurteilt werden. Um dies zu verhindern, wird er durch einen Trick befreit: Durch Bestechung wird erreicht, dass der verurteilte Jude für tot erklärt, aus dem Gefängnis gebracht und ins österreichische Ausland geschmuggelt wird. Der schlaue Jude nutzt jedoch diese Gelegenheit, um vom Ausland her seine Landsleute zu erpressen. Sie müssen ihm immer wieder Geld schicken, weil er sie sonst für ihren Trick anzeigen will. Die Geschichte verwirrt sich mehr und mehr, es muss endlich eine Lösung geben, sie treibt ihrem Höhepunkt zu. Die Leute im Eisenbahnwaggon werden immer aufgeregter, wie die Sache ausgehen wird. Da wird die Station Baranoviče – ein Eisenbahnknotenpunkt in Weißrussland – ausgerufen. Hören wir noch einmal unseren Erzähler: »Als er das Wort Baranowitsch hört, springt unser Mann aus Kaminke von seinem Platz auf, schnappt sich sein Gepäck, so eine Art Sack, vollgestopft mit irgendwelchen Sachen. (…) Eine Minute nur, und schon steht er mit beiden Füßen auf dem Bahnsteig (…) Mehrere aus unserem Waggon (und ich dabei) rennen ihm nach und halten ihn an der Schulter fest: ›Unmöglich, Mann, so geht das nicht! Wir lassen Euch nicht einfach laufen! Ihr müsst uns erzählen, wie die Geschichte ausgeht. Wie ist das Ende?‹ – ›Das Ende? Aber das war doch erst der Anfang! Lasst mich los! Soll ich wegen Euch meinen Anschluss verpassen? / (…)‹ Und ehe wir es uns versehen, ist von unserem Mann aus Kaminke keine Spur mehr da. Hol der Teufel den Bahnhof Baranowitsch!« Diese »Eisenbahngeschichte«, von der wir nie erfahren werden, wie sie ausgegangen ist, hat der jüdische Dichter Scholem Alejchem (1859–1916) 1909 geschrieben. Die Erzählung reflektiert, dass der Bau der Eisenbahnen im Russischen Reich auch die Lebensweise der jüdischen Bevölkerung grundlegend veränderte. Die Möglichkeiten für Besuche, für Behördengänge, für Geschäfte und für den Informationsaustausch erweiterten sich, und die Eisenbahnwaggons gerade der dritten Klasse boten ungeahnte Gelegenheiten für Gespräche und Geschichten. »Der Eisenbahnwagen war ein sich bewegender Mikrokosmos des gesellschaftlichen Makroraumes« (Frithjof Benjamin Schenk). Durch die Vernetzung des Raumes und die Erschließung neuer Räume wandelte sich auch das Kommunikationsverhalten. Die Revolution in Russland und ihre Folgen waren ein Thema bei den Gesprächen in den Drittklasswagen. In einer anderen seiner »Eisenbahngeschichten« macht Scholem Alejchem darauf aufmerksam, dass die Züge es erlaubten, schneller als früher Soldaten von einem Ort in den anderen

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zu verlegen. Schneller können ebenfalls die Mordbanden in die Schtetl fahren, um ein Pogrom zu veranstalten. Allerdings kann man sie auch leicht durch eine Blockierung der Schienen oder andere Maßnahmen aufhalten – eine Methode, die sich später die Revolutionäre gegenüber den heranrückenden Soldaten zunutze machen sollten. Eisenbahnen also sind ein zentrales Thema, um sich sozialen, wirtschaftlichen und alltäglichen Veränderungen im Leben der Menschen und zugleich der Revolution zu nähern. Doch Scholem Alejchems Geschichte in seiner dialogischen Gestaltung sagt noch mehr. Sie verläuft auf Umwegen, oft geht alles durcheinander, und sie endet unaufgelöst und unabgeschlossen. Das gilt auch für Revolutionen. Sie entwickeln sich nicht geradlinig und haben keinen festen Endpunkt, vieles bleibt ungelöst, sie wirken weiter. Das scheinbare Ende ist, wie bei unserer Geschichte, oft erst der Anfang. Wenn man vielleicht feststellen kann, die ursprünglichen Ziele einer Revolution seien gescheitert, dann kann man andererseits wie Friedrich Engels nach der fehlgeschlagenen Revolution 1848/49 sagen: »Sind wir also einmal geschlagen, so haben wir nichts anderes zu tun, als wieder von vorn anzufangen!« Aber nicht nur die Revolutionen sind unabgeschlossen, die Geschichte selbst ist es desgleichen. Wir werden immer nur Fragmente erschliessen können, in immer neuen Anläufen, mit unterschiedlichen Zugängen und vielen Perspektiven. Ich möchte die Interpretation der Erzählung nicht zu weit treiben, zumal ich keine geschichtsphilosophische Vorlesung halten möchte. Scholem Alejchems Geschichte gibt dem Historiker wichtige Hinweise, sie dient ihm als Quelle, deren fiktionale Beschaffenheit ihn selbstverständlich zu besonderen methodischen Verfahren veranlassen muss. Die Atmosphäre, das Milieu, die Themen dürften der Zeit entsprechen, sonst hätten diese »Eisenbahngeschichten« nicht eine so starke Resonanz unter der jüdischen Bevölkerung gehabt. Die Erzählung führt uns ein in unser Thema »Revolutionen« – in diejenigen, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, und zugleich in ihren unabgeschlossenen Charakter. Eine Revolution ist nach gängiger Definition eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, nach der ein Neubeginn möglich ist. Sie stellt eine »radikale Zäsur« dar, sie kann ein plötzlicher Umbruch sein, aber auch ein lang andauernder Prozess, ein Strukturwandel. Für Karl Marx waren die Revolutionen »Lokomotiven der Geschichte«. Das ist vielleicht ein wenig zu einfach gesehen. Nehmen wir zunächst einmal von diesem Pathos Abstand, können wir eine revolutionäre Umwälzung auch auf einzelne Bereiche der Gesellschaft beziehen oder sogar auf das private Leben. Lange habe ich mir überlegt, von welchen Revolutionen ich Ihnen berichten sollte: vom Erlebnis einer eigenen Revolution, als ich während der Studentenbewegung um 1968 herum meinem Osteuropa-Professor auf der anderen Seite

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einer Barrikade gegenüberstand, die er errichtet hatte, um die Bildung eines Institutsrates zu verhindern; von anderen revolutionären Erfahrungen an den Universitäten Freiburg im Breisgau und Basel; von der »schleichenden Revolution« der Universitätsreformen seit den 1990er Jahren, insbesondere durch die Einführung des »Bologna-Systems«, die uns eine höchst widersprüchliche Autonomie gebracht haben und die Beziehungen an der Universität tiefgreifend verändern? Oder sollte ich die fünf wichtigsten Revolutionen der Weltgeschichte vergleichen? Oder mich auf Polen, Ungarn und Böhmen konzentrieren – Länder, die neben Russland besondere Schwerpunkte in unserem Lehr- und Forschungsprogramm waren? Ich habe mich schließlich dafür entschieden, mich hier noch einmal mit Revolutionen zu beschäftigen, die im Mittelpunkt meiner Arbeit standen und immer noch stehen. Es geht dabei um Aspekte, die die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Osteuropa mit der Geschichte der russischen Revolution verbinden. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Juden in Osteuropa – und das hieß damals vor allem im alten polnisch-litauischen Königreich – damit konfrontiert, dass die Zeit relativer Sicherheit vorbei war. Anders als in Westeuropa waren sie bisher von systematischen Verfolgungen und Vertreibungen verschont geblieben, Polen-Litauen war seit dem 12./13. Jahrhundert geradezu eine Zufluchtstätte für sie gewesen. Gewiss gab es Judenfeindschaft: religiös bedingt in der katholischen Kirche, ökonomisch bedingt bei verschiedenen Adligen und bei Bürgern, für die die Juden eine unliebsame Konkurrenz bildeten. In Konfliktfällen verband sich manchmal beides. Dann konnten auch Bauern mobilisiert werden, die sonst in der Regel in einem zwar distanzierten, aber doch vertrauten Verhältnis mit den Juden auf dem Land lebten. So kam es durchaus zu vereinzelten Ausschreitungen und Pogromen. Jetzt aber, seit Mitte des 17. Jahrhunderts, geriet die jüdische Bevölkerung immer stärker zwischen die Fronten der sozialen, konfessionellen und dann auch nationalen Spannungen, in die Kämpfe um Bewahrung der polnisch-litauischen Großmacht, später – nach den Teilungen des Königreiches – in die Kämpfe um Wiedererringung der staatlichen Unabhängigkeit. In Folge dieser Entwicklung wurde die Judenfeindschaft zu einem wesentlichen Bestandteil der Politik in ganz Osteuropa. Im 17. und 18. Jahrhundert fanden erstmals mehrere flächenhafte Massaker an Juden statt, und in der folgenden Zeit waren sie immer wieder Diskriminierungen, Zerstörungen ihrer Lebenswelten durch angebliche »Zivilisierungen«, Boykottmaßnahmen und Schlimmerem ausgesetzt. Wie reagierte die jüdische Bevölkerung auf diese neue Situation? Bisher hatte, vereinfacht gesagt, die Auffassung vorgeherrscht, irgendwann werde der Messias kommen und alle erlösen, man müsse nur warten. Jetzt meinten zunehmend mehr Juden, angesichts der neuen Situation genüge das Warten nicht,

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man müsse etwas tun. Die »aktivistische Wende« setzte ein. Sie teilte sich anfangs in zwei Richtungen. Die eine Richtung wollte durch ihr Handeln in der Welt die Verhältnisse ändern, die Erlösung hier und jetzt selbst herbeiführen. Die andere Richtung, die vor allem mit der chassidischen Volksfrömmigkeit verbunden war, ging davon aus, dass die Erlösung in jedem Einzelnen stecke. Gefordert war die absolute Innerlichkeit, die tiefe ekstatische Versenkung in Gott, die Freude an Gott und am Leben, selbst wenn draußen das Böse herrsche. Man kann sagen: die eine Richtung wollte die Revolution der Verhältnisse, der Gesetze, der Normen – die andere die Revolution im Innern des Menschen. Diese beiden Formen des Aktivismus bestimmten auch, wiederum vereinfacht, wichtige politische Handlungsfelder späterer jüdischer Organisationen und flossen dabei, in unterschiedlicher Akzentuierung, zusammen. Die osteuropäischen Zionisten etwa strebten mehrheitlich an, die Bedingungen für die Juden in Osteuropa zu verbessern, als geistiges Zentrum und Rückzugsort zugleich eine Heimstätte in Palästina zu schaffen und darüber hinaus einen »neuen Menschen« heranzuziehen. Jüdische Sozialisten namentlich im Bund, dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, der 1897 – im selben Jahr wie die zionistische Weltorganisation – gegründet wurde, hatten als Ziel, die Gesellschaft zu revolutionieren und ebenfalls – wenngleich mit anderen Schwerpunkten – einen »neuen Menschen« zu bilden. Die Veränderung der Verhältnisse sollte mit Veränderungen im Innern der Menschen einhergehen. Dabei trafen sie sich mit anderen Revolutionären, und so haben wir hier das Bindeglied zu meinem zweiten Kernthema, der russischen Revolution. An sich gab es starke Berührungspunkte. Karl Marx und Friedrich Engels hatten gesagt, zwar bestimme das Sein das Bewusstsein, aber zugleich könne das Bewusstsein das Sein verändern, so wie »die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«. Die praktische Frage war nur, wie nach einer gelungenen Revolution die neue Gesellschaft aufgebaut werden könne, wenn doch bestenfalls eine kleine Minderheit schon ein neues Bewusstsein habe. Die sozialistischen Revolutionäre in Russland (und anderswo) wollten dieses Problem mildern, indem sie erst einmal unter sich, unter den Genossinnen und Genossen, die Werte von Freundschaft, Gleichberechtigung und Solidarität proklamierten. Das funktionierte durchaus in einigen Fällen, doch häufig erwies es sich, dass die alten Prägungen stärker waren als die guten ideologischen Grundsätze und sich die Genossen keineswegs daran hielten. Viele dachten weiterhin, wenn sich die Verhältnisse änderten, werde sich in der Folge auch das Bewusstsein der Menschen ändern. Bei ihnen war die ursprüngliche Dialektik verloren gegangen. Eine große Anzahl Sozialisten, darunter zahlreiche jüdische, versuchten hingegen, eine Brücke zur Tradition zu schlagen. Sie wollten vom

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Menschen ausgehen, die Gesellschaft aus der Perspektive der verschiedenen Lebenswelten umwälzen und diesen nicht eine bestimmte Norm überstülpen. Die Geschichte der russischen Revolution ist allerdings anders verlaufen. Lassen Sie sich zu diesen Zusammenhängen eine Lebensgeschichte erzählen. 1907 emigrierte ein gewisser Nikolaj A. Rubakin (1862–1946) aus Russland in die Schweiz, wo er bis nach dem Ersten Weltkrieg blieb. Rubakin war Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, die den von ihnen angestrebten Agrarsozialismus auf der Grundlage gemeinschaftlichen Handelns der Bauern aufbauen wollten, wie es sich etwa in den Entscheidungen der Dorfgemeinde, der obščina, ausdrückte. 1909 verliess er diese Partei, weil er Terroranschläge ablehnte, von denen sich die Parteiführung nicht deutlich genug distanzierte. Die Revolution müsse von den Bauern und den Arbeitern selbst kommen, war seine Meinung. Deshalb hatte er noch in Russland begonnen, mit Bauern Kontakt aufzunehmen, die bereit waren, mit ihm zu korrespondieren und ihm ihre Autobiographien zu senden. Zwar konnten die meisten Bäuerinnen und Bauern nicht lesen und schreiben, aber diejenigen, die es konnten, zeigten sich erstaunlich interessiert an Bildung, und andere liessen sich anstecken, bemühten sich, lesen und schreiben zu lernen, und diktierten – bis es soweit war – Schreibkundigen ihre Briefe. In der Schweiz und später in der Sowjetunion setzte Rubakin seine Korrespondenz fort – er soll über 5‘500 Briefpartner gehabt haben –, und so findet sich in seinem Nachlass heute eine einzigartige Sammlung bäuerlicher Selbstzeugnisse von den 1880er bis in die 1930er Jahre. Die Ergebnisse seiner Forschungen wollte Rubakin russischen Schriftstellern zur Verfügung stellen, damit sie angemessener über das Volk schreiben könnten. Darüber hinaus hoffte er aber auch, dass eine bessere Kenntnis der bäuerlichen Lebenswelten es nicht nur erleichtern werde, die Revolution durchzuführen, sondern auch, die neue Gesellschaft auf dieser Grundlage aufzubauen. Bei vielen russischen Schriftstellern hatte dieses Denken durchaus Tradition. Gogol’s »Tote Seelen« gewähren einen Einblick in die Missbräuche mit dem System der Leibeigenschaft, Turgenevs »Aufzeichnungen eines Jägers« sind erstrangige Quellen bäuerlichen Lebens vor der Agrarreform von 1861, Tolstojs »Volkserzählungen« schildern eine Welt im Dorf, die der Gewalt und dem Bösen Liebe und Fürsorge entgegensetzt, Čechovs und Bunins »Bauern« bringen uns die dörfliche Lebenswelt ohne Idyllisierung nahe. Ähnliches ließe sich über die Darstellung der Lebenswelten von Kleinbürgern, Arbeitern oder Adligen sagen. Und nicht nur die großen Dichter, sondern auch die Schriftsteller der »zweiten Reihe« wären heranzuziehen, um ihre Beschreibungen russischen Lebens, aber auch ihre Konstruktionen kritisch zu lesen. Rubakin war nicht der einzige unter den russischen Revolutionären, der die Lebenswelten der Menschen zum Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen

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Umwälzung machen wollte. Auch unter den radikalen Sozialdemokraten, den Bolschewiki, gab es Anhänger der Auffassung, man dürfe nicht den Menschen ein mehr oder weniger theoretisch erdachtes Konzept überstülpen, sondern müsse Theorie und Praxis, eben die Lebensweise der Menschen, die zu einer besseren und gerechten Welt befreit werden sollten, miteinander verknüpfen, beide Seiten vereinen. Der bedeutendste Vertreter dieser Strategie war Vladimir D. Bonč-Bruevič (1873–1955), der das »Sektenwesen« unter den Bauern intensiv erforschte. Dort waren urchristlich-urkommunistische Überzeugungen weit verbreitet. Die Nächstenliebe stand ebenso im Mittelpunkt des Denkens wie die Meinung, es müsse Gemeineigentum am Boden und an den Produktionsmitteln sowie eine gemeinschaftliche Organisation der Produktion geben, um nicht zuletzt soziale Unterschiede zu vermeiden. Solche Ideen hatten auch unter Fabrikarbeitern, die vom Land stammten, Resonanz gewonnen, so dass sie sich offen für sozialistische Argumente erwiesen. Deshalb hofften Bonč-Bruevič und seine Mitstreiter, dass diese Bauern und Arbeiter im Dorf und in der Fabrik Mittler des Sozialismus und Kommunismus sein könnten und dass man sich über deren Lebenswelten der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft nähern könne. Bonč-Bruevič konnte nach der Oktoberrevolution von 1917 als Lenins Freund und geschäftsführender Sekretär des Rates der Volkskommissare anfangs durchaus einigen Einfluss ausüben. So sah auch Rubakin nach 1917 zunächst nicht ohne Zuversicht in die Zukunft. Er kannte Lenin, und noch besser hatte er dessen Bruder Aleksandr Ul’janov gekannt, der 1887 an einem missglückten Attentat auf den Zaren Aleksandr III. teilgenommen hatte und deshalb gehängt worden war. Rubakin hielt, wie er 1918 in einem Aufsatz in der in Zürich erschienenen »Internationalen Rundschau« schrieb, Lenin für einen »aufrichtigen, aufopferungsvollen und selbstlosen« Revolutionär, der allerdings »ein vom Hass« gegen das System »besessener Mensch« sei. Seine Liebe gelte dem Proletariat und der »Verwirklichung des Sozialismus durch die Diktatur des Proletariats«. Und er stellte fest: »Diese Liebe und dieser Hass umgeben Lenin wie eine Mauer und verhindern,

Dieses gegenüber plazierte Bild, für die Feiern zum Jahrestag der Revolution in Vitebsk gemalt, wo er die Kunstschule leitete, zeigt, dass Chagall auf der Seite des Volkes stand. In einem Artikel zu diesem Anlass schreibt er: »Und ihr könnt sicher sein, dass das Volk der Arbeiter bald eine kulturelle und künstlerische Entwicklung erreichen wird, die einst nur wenige isolierte Völker gekannt haben und von der wir bisher nur träumen konnten.»

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2  Marc Chagall: »Friede den Hütten – Krieg den Palästen« (1918).

dass er die wirklichen, lebendigen, alltäglichen Menschen wahrnimmt.« Das verkehre seine eigentliche Gutmütigkeit und Güte oft in Feindschaft, und daher rührten sein Fanatismus und seine Unduldsamkeit. Seine »ungeheuere Willenskraft« und seine Kühnheit könnten sich deshalb leicht in Egozentrismus und Despotismus verwandeln, die auch vor einer Anwendung von Gewalt nicht zurückschreckten. Das Ziel heilige die Mittel, sei seine Ethik. Dies bringe den Sozialismus auf einen falschen Weg und werde ihn schließlich alle Sympathien kosten, fürchtete Rubakin. Deshalb rief er: »Kamerad Uljanow-Lenin! Mein Waffenbruder im Kampf der Ideen!« Sie seien vereint im gleichen Ziel, aber nicht in der gleichen Taktik und Ethik. Eine vollständige Vereinigung sei nur

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dann möglich, wenn auch Lenin »als ersten und wichtigsten allmenschlichen Wert« die »menschliche Persönlichkeit« anerkenne. Lenin mokierte sich über diesen »Individualisten« und »Idealisten«, aber ganz kalt gelassen hat ihn sein Appell wahrscheinlich nicht. In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution finden wir immer noch Schwankungen in seinem Denken und Verhalten – so wie überhaupt in der Politik der Bolschewiki. Doch in den 1920er Jahre verstärkte sich die Richtung innerhalb der Partei, die die Kluft zwischen Utopien und lebensweltlichen Wirklichkeiten zunehmend mit Gewalt schließen wollten, bis sie in den Terror des Stalinismus mündete. Nachdem es ab 1921 mit Lenins Unterstützung noch einmal zu einem Versuch gekommen war, die christlichen »Sekten« zur Bildung von Kollektivwirtschaften und als Bindeglied für eine bauernfreundliche Politik zu gewinnen, betrachtete sie die Parteiführung nach Lenins Tod 1924 mehr und mehr als »Klassenfeinde»; Bonč-Bruevič wurde kaltgestellt. Rubakin, der in die Sowjetunion zurückgekehrt war, erhielt zwar wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste eine hohe Pension zugesprochen, aber seine Schriften konnten nicht mehr gedruckt werden. Bitter registrierte er 1930, man lehne ihn ab, weil er »zum Wohl des Kollektivs nicht die menschliche, denkende, fühlende und leidende Persönlichkeit vergesse«.

3  Marc Chagall: »Revolution« (1937)

Chagall malte dieses Bild 1937. Es ist im ursprünglichen Zustand nicht erhalten, Chagall hat es 1943 zerschnitten und später neu bearbeitet. Hier ist eine Ölskizze zu dem Gemälde zu sehen, die heute in Paris hängt. Das Bild nimmt Motive der russischen Revolution, aber auch des Kampfes gegen den Faschismus in den 1930er Jahren auf. Im linken Bildteil marschieren die Massen zur Revolution (wir sehen

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rote Fahnen, Gewehre usw.), im rechten Teil wird die »Welt des Friedens, des Glücks und der Kreativität des Volkes« dargestellt. Die rote Fahne enthält die Insignien der russischen Revolution. Wir erkennen den alten Mann, den Bettler oder Hausierer, mit dem Sack (der Erinnerungen oder der Geschichten, wie wir eingangs eine gehört haben; der Geschichten erzählende Reisende trug auch einen Sack), ein Hochzeitspaar, Musiker und Maler. Besonders interessant ist die Mitte. Am Tisch sitzt ein nachdenklicher Rabbiner mit der Torarolle, und auf dem Tisch balanciert Lenin, zwischen den Beinen die russische Fahne. Der Rabbi wird mit dem Aufstand konfrontiert, Lenin mit der Volkskultur, auf die seine schwebende Hand hinweist. Dieser Lenin steht akrobatisch in der Luft, er stellt mit sich die Welt auf den Kopf, hat keinen Boden unter den Füssen. In seinen 1922 abgeschlossenen Erinnerungen schrieb Chagall: »Wir hängen in der Luft, unsere Krankheit ist unsere Sucht nach Stabilität (…)«. Die Revolution, wie sie hier durch Lenin symbolisiert wird, setzt die Menschen in Bewegung, bringt sie in Schwung, überwindet die Sucht nach Bodenhaftung, überwindet die Gesetze der Schwerkraft. Dieser Lenin ist nicht identisch mit dem heroisierten Denkmal, wie es für den Lenin-Kult in der damaligen Sowjetunion charakteristisch war. Es dürfte keine Überinterpretation sein, wenn wir in dieser Darstellung ein Gegenbild zu Stalin erkennen. Und vor allem: dieser Chagallsche Lenin ist nicht unumstritten, mit gleicher Wichtigkeit sitzt neben ihm der Rabbi. Dieser symbolisiert die Volkskultur (und, wohl bewusst 1937 gegen den Antisemitismus der Faschisten gewandt, gerade auch die jüdische Religion). Diese Volkskultur ist Teil der Revolution. Wir könnten also sagen: Chagall ruft mit diesem Gemälde dazu auf, sich mit der Revolution nicht gegen die Tradition und die Volkskultur zu stellen, sondern sie zu vereinen, auf ihr aufzubauen. Den Weg des Stalinismus hält er für falsch. Andere Sozialisten, die ähnlich dachten wie Rubakin, hielten sich noch stärker vom Bolschewismus fern. Sie suchten einen Weg, die Wurzeln der eigenen Kultur zu ergründen und diese mit den Lebenswelten anderer Kulturen zu verbinden, um neue Traditionen und ein neues Bewusstsein anzuregen. Ein solcher Vermittler oder auch »Grenzgänger« »zwischen zwei Welten« war der jüdische Schriftsteller und Forscher Semën Akimovič An-skij (1863–1920). Er schrieb Erzählungen, Romane und Dramen in Russisch und Jiddisch, engagierte sich politisch als Sekretär Petr L. Lavrovs (1823–1900) in der Sozialrevolutionären Partei und später im Bund, dem Jüdischen Arbeiterbund. Durch Expeditionen in die Hauptwohngebiete der jüdischen Bevölkerung im »Ansiedlungsrayon« sammelte er unersetzliche Schätze jüdischen Volkslebens. Er wollte Brücken bauen zwischen Russisch und Jiddisch, zwischen Juden und Slaven, Juden und Christen, Mystik und Rationalismus. Sein bekanntestes Werk, das Drama »Dibuk« (»Der böse Geist»), in dem er eine alte jüdische Legende verarbeitete,

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dreht sich um ein ruheloses Wesen zwischen Toten und Lebenden, das »neue Wege« suchte. Nicht zufällig heißt es im Untertitel: »Zwischen zwei Welten«. An-skij ist der Schöpfer eines der wichtigsten Arbeiterlieder, nämlich der 1902 verfassten neuen Version der Parteihymne des Jüdischen Arbeiterbundes: »Di Shvue«, »Der Schwur«. Dieses mitreißende, mit religiöser Symbolik besetzte Lied förderte den Zusammenhalt der Bundisten. Es beginnt mit der Anrede: »Brider un shvester fun arbet und noyt – Brüder und Schwestern in Arbeit und Not« – eine für die damalige Zeit einmalige Einbeziehung weiblicher Parteimitglieder. So nimmt es nicht wunder, dass im Bund überdurchschnittlich viele Frauen – und gerade auch Arbeiterinnen – aktiv waren. Ohnehin liegt mit 15 Prozent der Anteil von Frauen an revolutionären Organisationen im Russischen Reich höher als in Westeuropa, und hier im Bund waren es noch einmal mehr. Frauen fühlten sich vom Bund nicht zuletzt deshalb angezogen, weil er stärker als andere Parteien von der Lebenswelt der Menschen ausging. Nach Anfängen, in denen Vorläufergruppen des Bundes mit fertigen Konzepten an die jüdische Arbeiterbevölkerung herangetreten waren, hatten in den 1890er Jahren führende Mitglieder erkannt, dass man am Alltag und den praktischen Erfahrungen der Menschen anknüpfen müsse: »In di gasn, tsu di masn«, drückte es Vladimir Medem (1879–1923) aus. Folgerichtig forderte der Bund zwar wie alle anderen marxistisch orientierten Organisationen den Internationalismus, um in der ganzen Welt die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu brechen, der sozialistischen Revolution zum Sieg zu verhelfen und damit auch ein Ende von Nationalismus und Antisemitismus einzuleiten. Zugleich verlangte er aber eine kulturelle, nicht-territoriale Autonomie für die jüdische Bevölkerung (wie für andere ethnische Gruppen), damit nicht deren besondere Lebensformen kolonisiert würden. Der Zugang, sich nicht »von außen« den Menschen zu nähern, bestimmte auch das Leben von Isak Aufseher (1905–1977). Er wuchs in einem ostgalizischen Schtetl auf, lernte die Welt der Chassidim ebenso kennen wie die der strengen Rabbiner, brach aus beiden aus, indem er sich dem Sozialismus und Kommunismus zuwandte, blieb sich aber lebenslang den Kulturen seiner Kindheit bewusst. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen zerstörten die materiellen Grundlagen der Familie, sie brach auseinander. Isak Aufseher kam politisch vom Galizischen Bund über die Kommunisten sowie über trotzkistische und rätekommunistische Organisationen schließlich zu anarchistischen Gruppen, lebte in Berlin und Paris, nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil und ließ sich 1939, auf der Flucht vor den Nazis, in Basel nieder; Heiner und Fritz Koechlin – einigen von Ihnen vielleicht noch vom hiesigen traditionsreichen Antiquariat bekannt – hatten Fluchthilfe geleistet. Die »Arbeitsgemeinschaft freiheitlicher Sozialisten«, in der die Koechlins wirkten und der sich Aufseher anschloss, war

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für die Schweizer Behörden Grund genug, ihm die Niederlassungsbewilligung lange Zeit zu verweigern. Isak Aufsehers Leben ist ein Muster des Grenzgängertums, und zwar in seiner besonderen Form des Daseins als »Luftmensch«. Er übte keinen ständigen festen Beruf aus, schlug sich häufig mit Gelegenheitsarbeiten durch und setzte, wie seine Biographen Werner Portmann und Siegbert Wolf schreiben, bis an sein Lebensende gegen Krieg und Hoffnungslosigkeit mutig »›luftige‹ Welten von freien Menschen«. Luftige Welten von freien Menschen – das erinnert an Karl Marx und Friedrich Engels, die in ihrem »Manifest der kommunistischen Partei« 1848 schrieben, im Kommunismus werde die bürgerliche Gesellschaft abgelöst durch eine »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Anders als in der Sowjetgesellschaft und den sich darauf beziehenden Gesellschaften des »realen Sozialismus« gingen Marx und Engels – selbst wenn man es bei der Lektüre ihrer ökonomischen Schriften zunächst nicht glauben mag – vom einzelnen Menschen und seiner Lebenswelt aus. Ihre Verschiedenheit sollte nicht gleich gemacht, sondern anerkannt werden, um darauf aufbauend eine bessere, gerechte, freie Welt für alle zu erreichen. Das ist gewiss eine schöne Utopie, die angesichts der bestehenden Verhältnisse vielleicht nie zu verwirklichen sein wird – aber dies ist kein Grund, sie nicht als eine Möglichkeit, ein mögliches Ziel zu begreifen, nach dem es sich zu streben lohnt. Ohnehin gehört es zu den Aufgaben des Historikers und der Historikerin, »im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen« (Walter Benjamin). Das bedeutet, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«, nicht nur das schlichte Geschehene nachzuvollziehen und das eine aus dem anderen zu erklären, sondern auch die Bedingungen des Möglichen und Handlungsspielräume zu untersuchen, die Alternativen, die zunächst nicht ausgeführt wurden, aber an denen angeknüpft werden kann. Hilft uns die Idee des Luftmenschen weiter, um diesem Ziel näher zu kommen? Die Bolschewiki, die in der Revolution von 1917 angetreten waren, die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes zu erfüllen, entfernten sich im Laufe der Zeit immer mehr von diesem Vorhaben. Rosa Luxemburgs Appell in ihrer Schrift von 1918 über die Russische Revolution, im Anschluss an Marx und Engels auch die Freiheit »des anders Denkenden« zu berücksichtigen und eine stärker sozialistisch-demokratisch orientierte Politik zu betreiben, fand zwar durchaus Resonanz, aber zusehends weniger Niederschlag in der Praxis. So forderten noch die »linken Kommunisten« 1918, dass die Arbeiter »zum Subjekt der Organisation der Produktion und Arbeit gemacht« würden. »Entweder werden Sozialismus und die sozialistische Organisation der Arbeit vom Proletariat aufgebaut, oder sie werden überhaupt nicht aufgebaut (…)«. Solche Ansätze zu mehr sozialistischer Demokratie gingen im Bürgerkrieg verloren. 1920 gab es

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noch einmal Hoffnung, zu den ursprünglichen Zielen zurückzukehren. Doch eine schwere Wirtschaftskrise machte alle Hoffnungen zunichte. In den folgenden Jahren wurden Zentralismus und Bürokratisierung immer stärker, das durch die Erfahrungen der Fraktionskämpfe und des Exils in der Zarenzeit geprägte Freund-Feind-Denken setzte sich durch. Alternativen gab es noch lange, doch am Ende stand die stalinistische Machtpolitik, die sich die Lebenswelten mit Gewalt und Terror unterordnen wollte. Lenin hatte vor seinem Tod Anfang 1924 vergeblich versucht, das Rad noch einmal zurückzudrehen. Lev Trockij (1879–1940), ebenso wie Lenin mit verantwortlich für den autoritär-zentralistischen Weg seit dem Bürgerkrieg und für zahlreiche blutige Gewaltmaßnahmen, hatte ebenfalls erkannt, dass der Weg in die falsche Richtung ging und für eine Umkehr plädiert. Vor allem mit seinem Buch »Fragen des Alltagslebens«, das 1923 erschien, rief er zur inneren Einkehr auf, zur »kritischen Nachprüfung des Lebens«. Nach der Sicherung der Macht durch den Sieg im Bürgerkrieg müsse nun die Aufmerksamkeit auf die Kultur und die alltäglichen Lebensformen gerichtet werden. So sei es etwa wesentlich schwieriger, die Einstellungen von Mann und Frau gegenüber einer »wirklichen Gleichheit« der Geschlechter zu ändern, als die rechtliche Gleichstellung zu verordnen oder die Gleichheit am Arbeitsplatz zu erreichen. »Die Revolution ist ja aber doch vor allem das Erwachen der menschlichen Persönlichkeit (…)«. Im Mittelpunkt stünden die »Menschlichkeit«, die »eigene und fremde Würde«, die »Teilnahme für die Schwachen und Schwächsten«. »Alle Gebiete des Bewusstseins« seien »mit der marxistischen Methode durchzuarbeiten«. Nur so könne sich der »neue Mensch« entwickeln, eben der freie Mensch im Kommunismus. Das Schwergewicht auf die Revolution im Innern des Menschen zu legen: das berührt sich mit den Lehren der Chassidim und mit den Forderungen jüdischer Sozialisten. Gibt es eine Beziehung zur jüdischen Vorstellung vom Luftmenschen? Was ist ein Luftmensch? Der Begriff taucht im 19. Jahrhundert immer wieder auf. Seine Herkunft ist noch nicht geklärt, vielleicht stammt er sogar aus der polnischen Adelskultur. Spätestens seit den 1860er Jahren, als die sozialökonomischen Folgen der Industrialisierung spürbar wurden, war er allgemein gebräuchlich. 1865 verwendete ihn Mendele Mojcher Sforim (1836–1917) in seiner Erzählung »Der Wunschring« in einer Bedeutung, die einen wesentlichen Bestandteil der jüdischen Lebenswelt in Osteuropa trifft: Viele Juden müssen von der Luft leben, weil sie keine dauerhafte und sichere Existenzgrundlage haben. Irgendwie schlagen sie sich durch, nehmen jede Gelegenheitsarbeit an. Auch Asef, der Doppelagent, der in unserer Eingangsgeschichte eine Rolle spielte, entstammte diesem Milieu. In der jiddischen Literatur, die sich dem jüdischen Leben intensiv zuwandte, tauchen solche Luftmenschen immer wieder auf. Prägend für unser Verständnis sind die Darstellungen bei Scholem Alejchem, ebenfalls ein Grenzgänger »zwischen

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den Welten«. Ein berühmtes Beispiel ist seine 1895 erstmals erschienene Erzählung »Menachem Mendel, der Spekulant«. Dieses Muster eines Luftmenschen ist in allen möglichen »Wind-, Luft- und Papiergeschäften« tätig, wie seine Frau sagt, von denen sie ihn vergeblich abzuhalten versucht: »Hör, Mendel, mir gefällt die Sache nicht; ich bin in meines Vaters Haus an solche Luftgeschäfte nicht gewöhnt worden und Gott möge mich weiter davor bewahren! Wie sagt doch die Mutter, sie soll leben: ›Von der Luft kriegt man eine Erkältung.‹« Obwohl er immer wieder scheitert, lässt sich Mendel doch aufs Neue darauf ein, sein Glück machen zu wollen. Er gibt die Hoffnung nicht auf. Dies ist ein weiteres Kennzeichen des Luftmenschen: Trotz seiner schwierigen materiellen Lage bleibt er hoffnungsvoll, hartnäckig, geht ironisch mit seiner Lage um und reflektiert sie auf diese Weise.

4  Marc Chagall: »Über Vitebsk« (1914, 1921/22)

Ein Mann lebt von der Luft, geht über Häuser (so heißt im Jiddischen ein Hausierer), hängt in der Luft, sucht nach Grund und Stabilität, lebt träumerisch in die Luft hinein, ist trotz großer Last – der Last der Waren, vielleicht auch der Last der Erinnerung und der Geschichten – schwerelos und leicht, möglicherweise ein Pechvogel und kleiner Spekulant, ein Mensch, der trotz schwieriger Situation seinen Humor und seine Zuversicht, seine Hoffnung nicht verliert. Wir sehen die Beziehung zu Chagalls Revolutionsbild von 1937.

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Wie kommt Chagall zu solchen Darstellungen? Auf das Motiv des Fliegens in der Kunstgeschichte will ich jetzt nicht eingehen. Unmittelbare Vorbilder Chagalls sind Lubki – die russischen Volksbilderbögen –, auf denen häufig die »verkehrte Welt« und die Lachkultur dargestellt werden: eine Gegenwelt, wie sie auch die Hoffnung auf Revolution verkörperte. Ebenso hat Chagall Einflüsse der Ikonenmalerei aufgegriffen, vor allem bei den Farben und beim Malen des Magisch-Unwirklichen. Hinzu kommt die Aufbruchstimmung der damaligen Zeit, die gerade durch die Möglichkeiten des Fliegens angeregt wird. Wir werden gleich noch ein Beispiel dafür sehen. Dieses Fliegen-Können ist zugleich eine Metapher für krumme Geschäfte oder auch für ein In-die-Luft-Gehen oder »Durch-den-Schornstein-Gehen«: im Sinne von Pleite-Machen. Dies zeigen zwei Lubki (Abb. 5 und 6): »Zum Schornstein hinausgeflogen« stellt einen Schuldner dar, der seinen Gläubigern durch die Flucht in die Luft entwischt; spöttisch zieht er vor ihnen seinen Zylinder.

5  Lubok 1872: »Zum Schornstein hinausgeflogen»

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6  Lubok 1863: »Reise durch die Luft»

»Reise durch die Luft« erläutert den Grund für den Ruin: Der Schuldner, der seinen Gläubigern entflieht, hat, wie die Flasche in seiner Hand andeutet, zu viel getrunken und ebenso zu viel Geld für den Schmuck und die Kleidung seiner Frau ausgegeben. Chagall wendet das In-die-Luft-Gehen ins Positive, ganz in chassidischer Tradition: für schwebende Lebensfreude, für Selbstreflexion (Abb. 7: »Mit der Tora über der Stadt«, 1924/25), für Dynamik und Weltveränderung, die durch schwereloses Bewegen möglich wird (Abb. 9: »Selbstbildnis mit Frau / Spaziergang«, 1922). Nicht nur das Thema des Luftmenschen und des Fliegens, sondern auch die Gestaltung der Bilder weist darauf hin, dass dadurch neue Räume erschlossen werden. In besonderer Weise ist es die Liebe, die die Luftmenschen bewegt (Abb. 8: »Über der Stadt«, 1914/18).

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7  Marc Chagall: »Mit der Tora über der Stadt« (1924/25)

8  Marc Chagall: »Über der Stadt« (1914/1918)

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9  Marc Chagall: »Selbstbildnis mit Frau / Spaziergang« (1922)

Nehmen wir die literarischen Schilderungen, die Belege aus dem Alltag, wie sie uns in vielen Selbstzeugnissen überliefert sind, und solche Gemälde wie diese von Chagall, so drückt der Begriff des Luftmenschen die Sorge um das tägliche Brot aus, die materielle Not, die Schwere und Tragik der Existenz – gleichzeitig aber auch die Verarbeitung dieser Not durch Ironie und Selbstreflexion, eine Schwerelosigkeit und Leichtigkeit des Daseins, besondere menschliche Beziehungen, etwas von Freiheit, Weite, Unterwegssein, Losgelöstsein, Aufbruch, ja er steht auch als ein Zeichen für Nichtterritorialität und Universalismus. Die nichtterritoriale, kulturelle Autonomie, die der Bund zusammen mit Internationalismus forderte, fußt somit, können wir folgern, auf einer Lebensform der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa. Daneben entfalteten sich allerdings auch andere Verständnisse des Luftmenschen. Theodor Herzl (1860–1904), der Präsident der 1897 in Basel gegründeten zionistischen Weltorganisation, griff die Idee des fliegenden Luftmenschen noch zustimmend auf: Seinen 1896 veröffentlichten Plan eines »Judenstaates« sah er ähnlich wie ein »lenkbares Luftschiff»: Er, der Plan, schwebe über die Erde in der Luft, die Schwere – also die Hindernisse bei der Verwirklichung

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seiner Idee – werde durch die Bewegung überwunden, und diese werde ihr Ziel finden. In seinem Roman »Altneuland« von 1902 wurde das Luftschiff sogar »zur Metapher der Utopie schlechthin« (Nicolas Berg). Ähnlich wie in Russland und in der frühen Sowjetunion, wo das Fliegen, als Metapher und ebenso in den Versuchen konkreter Umsetzung, die Aufbruchstimmung und die Sehnsucht nach neuen Räumen ausdrückte, hoffte Herzl in Verbindung mit der wissenschaftlichen Revolution gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Eroberung der Luft und des Kosmos, sah ungeahnte Möglichkeiten des Menschen voraus. Dieser positive Bezug auf den Luftmenschen drückt sich noch in dieser Zeichnung aus, die Kurt Pick 1919 malte (Abb. 10). Im Mittelpunkt steht der wandernde Jude mit dem schweren Sack, der uns schon aus Chagalls Motiven und Scholem

10  Kurt Pick: »Mit wem fahr ich wohl am besten?»

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Alejchems Geschichten bekannt ist. Er betrachtet unschlüssig die Fahrzeuge, die auf ihn zukommen und verschiedene Richtungen im Judentum darstellen: Zionismus, Agudah (die Vertretung der Orthodoxie), der Central-Verein (die Vertretung der Assimilationsanhänger) und viele andere. Von oben winkt Achad Haam (1856– 1927) im Flugzeug der Luftmenschen, der Gegenspieler Herzls, der die traditionelle jüdische Kultur mit dem Zionismus in Einklang bringen wollte. Doch es gab auch die Gegenposition, die sich ebenfalls auf Herzl berufen konnte. Ungern bezog dieser sich nämlich auf die angebliche Unproduktivität des Luftmenschen: Für die Eroberung des Erdraums, namentlich die Kolonisierung der jüdischen Heimstätte in Palästina oder anderswo, brauchte man den erdverbundenen, kräftigen Pionier. So galt der Luftmensch im Zionismus bald als negatives Beispiel der Entwicklung in der jüdischen Bevölkerung: unproduktiv, wurzellos, bestenfalls mit »Luftwurzeln« im Geist (Theodor Lessing), schwächlich, der Typus der »unbeholfenen und ausgemergelten, hustenden Jammerzwerge des östlichen Ghettos« (wie sich Max Nordau am Basler Zionistenkongress von 1901 ausdrückte), ein Mensch ohne feste Zugehörigkeit, heimatlos und deshalb überall fremd – dies wäre ein Ausgangspunkt, um Querbeziehungen zwischen dem Luftmenschen und Ahasver, dem ewigen Juden, zu ziehen, dem gehe ich jetzt aber nicht weiter nach. Der Zionismus wollte diese Eigenschaften überwinden, auch um die Fremdzuschreibungen in judenfeindlichen Bewegungen Lügen zu strafen. Diese, mit dem Nationalsozialismus an der Spitze, malten ein Bild des Juden, das ihn als wurzellos, unproduktiv und geldgierig, als verschlagenen und übersteigert nervös-hysterischen Luftikus zeigte. Im »Dritten Reich« machten die Nazis dann die Juden wieder real zu Luftmenschen, so lange, bis diesen die Luft zum Atmen ausging, wie ein jüdischer Kommentator schon zu Beginn der 1930er Jahre voraussagte. Doch ich bleibe hier bei den positiven Wertungen des Luftmenschen. Die Bolschewiki haben sich im Laufe der Zeit nach der Oktoberrevolution von 1917 dafür entschieden, die neue Gesellschaft nicht aus den bestehenden Lebenswelten der Menschen zu entwickeln und darauf aufzubauen, sondern die immer breiter und tiefer werdende Kluft zwischen ihren Utopien und den existierenden Verhältnissen durch Konzepte »von oben« und »von außen«, durch zentralistische Anordnungen zu schließen. Funktionierte das nicht, setzten sie Gewalt ein, bis dann der Umbruch von beschleunigter Industrialisierung und durchgängiger Kollektivierung Ende der 1920er Jahre – eher eine panikartige Reaktion auf eine schwierige innen- und wirtschaftspolitische Situation als eine strategisch durchdachte Maßnahme – in eine blutige Welle des Terrors mündete und die Idee des Sozialismus und Kommunismus als eine freie Gesellschaft freier Menschen dort unterging.

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Revolutionen

Die Alternative, die der Jüdische Arbeiterbund und andere boten, eben von den Lebenswelten auszugehen, konnte sich unter den Bedingungen in Russland nicht durchsetzen. Statt Verbissenheit, Unduldsamkeit, dogmatischem Fanatismus wären Leichtigkeit, Ironie, Selbstreflexion, Hinwendung zu den Menschen, Denken in Möglichkeiten und Alternativen, Grenzgängertum und der Wille, Brücken zwischen Lebenswelten zu schlagen, notwendig gewesen. Ich schlage nun noch einmal eine Brücke zur Arbeit des Historikers heute. Worauf kommt es an? Die Revolutionen sind noch nicht zu Ende, noch nicht abgeschlossen, weder im Blick auf die Veränderungen der Verhältnisse noch auf die Veränderungen im Menschen selbst. Ich denke, auch wir können von diesen fragmentarischen Geschichten lernen, die ich Ihnen erzählt habe. Nicht ausufernde Reglementierungen, mehr Normen, Druck und Zwang sowie eine mehr oder weniger schematische Anhäufung von Wissen sind entscheidend, sondern die Freiheit des Lernens und Lehrens, die Reflexion über die Last der Erinnerung, verbunden mit Selbstreflexion, die wissenschaftliche Neugier nach Möglichkeiten menschlichen Handelns und ihren Bedingungen, also nach dem Probehandeln in verschiedenen Lebenswelten, ein Schweben zwischen und über den Grenzen, die unser Leben bestimmen, mehr Leichtigkeit und Unverkrampftheit. Ich verlasse jetzt mein Amt mit einem freudigen Rückblick auf meine Tätigkeit und mit Erleichterung, manche Bürden – vor allem administrativer und bürokratischer Natur – hinter mir lassen zu können. Theodor W. Adorno, der deutsche Philosoph jüdischer Herkunft, hat einmal einen schönen Aufsatz über den »Essay als Form« verfasst. Darin weist er diesem als innerstes Gesetz die »Ketzerei« zu und formuliert: »Tatsachenmensch oder Luftmensch, das ist die Alternative«. Ich plädiere für den Luftmenschen.

Abbildungsnachweise: Abb. 1, 2, 4, 9 entnommen aus: Marc Chagall: Die russischen Jahre 1906–1922. Hg. von Christoph Vitali. Bonn, Genf 1991, S. 75, S. 134, S. 71 und S. 120. Abb. 3 entnommen aus: Jutta Held: Avantgarde und Politik in Frankreich. Revolution, Krieg und Faschismus im Blickfeld der Künste. Bonn 2004, S. 69. Abb. 5, 6, 7, 8 entnommen aus: Als Chagall das Fliegen lernte. Von der Ikone zur Avantgarde. Hg. von Snejanka Dobrianowa-Bauer. Tübingen 2004, S. 102, S. 103. Abb. 10 entnommen aus: Schlemiel – Jüdische Blätter für Humor und Kunst (1919/1920). Für die Abbildungen 1–4, 7–9: © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land Ein Vergleich von vier Regionen im östlichen Europa (1850 bis 1917)*

Osteuropa bietet, betrachtet man die Beziehungen zwischen Stadt und Land, ein höchst differenziertes Bild. Sowohl zwischen den einzelnen staatlichen Territorien als auch zwischen den Regionen desselben Staates bestehen tiefe Unterschiede in den historischen Voraussetzungen wie in den Entwicklungen während der Industrialisierung. Einige Probleme sollen beispielhaft an den Regionen von Warschau, Lodz, Moskau und Petersburg behandelt werden. I.

Anschaulich machen die beiden bedeutendsten Industriezentren des seinerzeit unter russischer Herrschaft stehenden Teiles von Polen, Warschau und Lodz, Andersartigkeiten deutlich. Warschau, die traditionsreiche Königsmetropole und größte Stadt Polens (nicht nur des russischen Teilungsgebiets), vereinigte in sich die zentralen Behörden des Landes, die wichtigsten kulturellen Einrichtungen sowie eine Vielzahl von Dienstleistungs-, Wirtschafts­und Verkehrsbetrieben. Die Einwohnerschaft war stark strukturiert. Warschau galt als geistiger Mittelpunkt Polens, nicht zuletzt bei allen Hoffnungen auf eine neue nationale Eigenständigkeit.1 Die Stadt war bereits »urbanisiert«,2 bevor die Industrialisie* Erstpublikation in: Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig und Klaus Tenfelde. München 1990, 17–35. 1 Einführend, auch zum folgenden: Ryszard Kołodziejczyk, Warschau und Lodz während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Veränderung des Stadt-Land-Verhältnisses, Bevölkerungswachstum, Migration, Formierung von Unternehmer- und Arbeiterschaft, in: Zentrale Städte und ihr Umland. Wechselwirkungen während der Industrialisierungsperiode in Mitteleuropa. Hrsg. von Monika Glettler, Heiko Haumann und Gottfried Schramm. St. Katharinen 1985, 15–25; Maria Nietyksza, Rozwój miast i aflomeracji miejsko-przemysłowych w Królestwie Polskim 1865–1914. Warszawa 1986. Vgl. hier außerdem Stefan Kieniewicz, Warszawa w latach 1795–1914. Warszawa 1976; Warszawa stolica Polski. Warszawa 1980; Stephen David Corrsin, Political and Social Change in Warsaw from the January 1863 Insurrection to the First World War: Polish Politics and the »Jewish Question«. Ph. D. Univ. of Michigan 1981; ders., Warsaw. Poles and Jews in a Conquered City, in: The City in Late Imperial Russia. Ed. by Michael F. Hamm. Bloomington 1986, 123–151. 2 Zum Begriff Urbanisierung Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland. Frankfurt/M. 1985, 10–12.

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rung einsetzte. Wegen der Nähe zum früheren Königshof wie zu den jetzigen Machtorganen konzentrierten sich hier eine reich differenzierte Handwerkerschaft und eine Reihe von Manufakturen. Sie produzierten in erster Linie für die Bedürfnisse der politischen Zentralinstitutionen, vorab militärische und Luxusgüter. Erzeugnisse der Handwerker wurden auch gegen agrarische Waren aus dem Umland getauscht. Die Handwerker stellten zunächst das wichtigste Rekrutierungspotential für die neu entstehenden Fabriken. Die Verbindungen in die Region hinein verstärkten sich nicht, zumal nach dem gescheiterten Aufstand 1830/31 – und dann noch einmal nach 1863/64 – Warschau als Festung ausgebaut wurde und aufgrund strikter Verbote keine wechselseitigen Beziehungen zu einer aufblühenden Vorstadtzone – wie in anderen europäischen Metropolen – entstehen konnten; auch vom agrarischen Hinterland war die Stadt weitgehend abgeschnitten. Dadurch stagnierte die großstädtische Entwicklung, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine beschleunigte Industrialisierung und damit eine Expansion der Stadt nicht mehr aufzuhalten war. Zwischen 1893 und 1914 vervierfachte sich die Zahl der Fabrikbetriebe. In der Branchenstruktur rangierte jetzt die metallverarbeitende Industrie an der Spitze. Insgesamt verstärkte sich die Vielfalt der Industrien in Warschau, auch die Konsumgüterzweige waren differenziert vertreten. Daneben existierte ein reichhaltiges Dienstleistungsangebot. Gleichzeitig entfaltete sich auch in der Umgebung der Hauptstadt eine – ganz ähnlich strukturierte – Industrie, die fast die Hälfte der Fabrikproduktion im gesamten Gouvernement Warschau lieferte und ein Drittel der Arbeiter beschäftigte.3 Diese Expansion konnte natürlich nicht mehr lediglich mit den heimischen Arbeitskräften, in erster Linie ehemaligen Handwerkern, bewältigt werden. Mehr und mehr Arbeiter zogen nun von außerhalb zu, nachdem Warschau bereits in den vierziger und fünfziger Jahren eine starke Zuwanderung erlebt hatte, die das sozial mittlere und niedere Element – kleine Kaufleute und Händler, Krämer, Tagelöhner – verstärkte.4 Die Arbeiterschaft blieb in der Minderheit, selbst im Gefolge der industriellen Expansion: 1914 machte sie nicht einmal 3 Wielkomiejski rozwój Warszawy do 1918 roku. Pod red. Ireny Pietrzak-Pawłowskiej. Warszawa 1973; Ryszard Kołodziejczyk/Ryszard Gradowski, Zarys dziejów kapitalizmu w Polsce. Warszawa 1974; Wiesław Puś, Przemysł Królestwa Polskiego w latach 1870–1914. Problemy struktury i koncentracji. Łódź 1984. 4 Stefania Kowalska-Glikman, Przemiany struktury społecznej i zamodowej w I. połowie XIX w., in: Dzieje śródmieścia. Warszawa 1975, 136 f.; dies., Ruchliwość społeczna i zamodowa mieszkańców Warszawy w latach 1845–1861. Warszawa, Kraków, Wrocław 1971; Adam Szczypiorski, Warszawa i jej gospodarka i ludność w latach 1832–1862. Warszawa 1966.

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ein Drittel aus. Neben ruinierten oder stellungslosen Handwerkern und ausländischen Fachkräften suchten Nachkommen verarmter Adliger in Warschau und seiner Umgebung nach Arbeit: Dies dürfte eine nur für Warschau typische Besonderheit gewesen sein. Seit den siebziger und achtziger Jahren strömten darüber hinaus massenweise Verdienst suchende Landbewohner nach Warschau. 1882 kamen über zwei Drittel der dortigen Tagelöhner vom Land. Diese Zuwanderung ließ dann nach: Das Proletariat der Region Warschau rekrutierte sich zunehmend – und stärker als in den anderen Industriezentren Polens – wieder aus Einheimischen.5 Ganz anders verlief die Entwicklung in Lodz. Diese Stadt war eine künstliche Ansiedlung: 1820 ordnete die Regierung an, daß in der Nähe des alten kleinstädtischen Lodz eine Fabrikstadt geschaffen werden solle. Beide Teile von Lodz existierten lange Zeit nebeneinander – zwar mit vielfältigen Beziehungen, aber ohne Integration. Die Stadt wuchs zunächst gezielt nach verhältnismäßig großzügigen urbanistischen Plänen. Das änderte sich jedoch im Laufe der Industrialisierung, die sich in Lodz hauptsächlich auf den Textilsektor konzentrierte. In den dreißiger und vierziger Jahren wurde der Vorrang der Tuchherstellung von der Baumwollbranche abgelöst, die von nun an das Bild der Stadt bestimmte. Konnte die Verwaltung anfangs noch die rasch wachsende Einwohnerzahl durch neue Viertel im Rahmen der Planung auffangen, so glitt ihr die Entwicklung seit der Jahrhundertmitte aus der Hand. Die beschleunigte industrielle Expansion und die Massenzuwanderung der Arbeitskräfte vom Land führten zu einer wenig planmäßigen Bautätigkeit in Lodz und seiner Vorstadtzone. Die Stadtlandschaft wandelte sich grundlegend. Die künstliche Entstehung von Lodz, die Konzentration auf einen Industriezweig und deren Auswirkungen auf die Stadtentwicklung, schließlich auch das Fehlen von zentralen administrativen Funktionen brachten es mit sich, daß die Angebote an Arbeitsplätzen, Dienstleistungen und Kultur ziemlich undifferenziert blieben. Erst seit der Jahrhundertwende begann sich dies, verbunden mit den sich verschärfenden nationalen Gegensätzen zwischen Deutschen, Polen und Russen, allmählich zu ändern.6 5 Anna Żarnowska, Die soziale Herkunft des städtischen Proletariats im Königreich Polen, in: Zentrale Städte (wie Anm. 1), 36–44; dies., Forschungen zur Geschichte der Arbeiterklasse Polens im 19. bis 20. Jahrhundert (bis 1939), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 23, 1981, 531–548; dies., Die Kultur der Arbeiterklasse und ihre historischen Traditionen in Polen an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts. Ein Überblick, in: Archiv für Sozialgeschichte 23, 1983, 540–554; und zuletzt ihre wichtige Studie: Robotnicy Warszawy na przełomie XIX i XX wieku. Warszawa 1985. 6 Kołodziejczyk, Warschau und Lodz (wie Anm. 1); Łódź. Dzieje miasta. T. 1. Do 1918 roku. Warszawa, Łódź 1980; Gryzelda Missalowa, Studia nad powstaniem łódzkiego

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Anders als in Warschau gestalteten sich auch die Stadt-Land-Beziehungen. Ökonomisch gab es von Anfang an einen regen Kontakt, weil die neu gegründete Stadt gar nicht autark bestehen konnte. Die Lodzer Textilbetriebe produzierten allerdings im wesentlichen für ferner liegende Absatzgebiete. Die Arbeiter der Fabriken kamen in der ersten Phase von weit her: Tuchmacher aus Großpolen, andere Fachkräfte aus Preußen, Sachsen, Böhmen und weiteren Ländern. Es blieb ein Kennzeichen von Lodz, daß die Deutschen einen beträchtlichen Teil der Einwohnerschaft ausmachten, ursprünglich sogar etwa drei Viertel, am Vorabend des Ersten Weltkrieges ungefähr 10 % (jeweils ohne Angehörige jüdischer Konfession berechnet). Der Rückgang folgte aus der beschleunigten Industrialisierung seit der Jahrhundertmitte, aber auch aus den Wirkungen der Bauernbefreiung von 1864: Immer mehr Polen aus näher- und weitergelegenen Dörfern versuchten, in den Lodzer Fabriken Arbeit zu finden. Um 1900 waren rund zwei Drittel der Bevölkerung außerhalb der Stadt geboren; 85 % der Zuwanderer stammten aus Russisch-Polen. Der Arbeitsmarkt konnte den Zustrom, sieht man von einigen Krisen ab, im großen und ganzen fassen. In der Baumwollindustrie wuchs die Zahl der Arbeiter zwischen 1869 und 1900 um das Neunzehnfache. Lodz wurde zur größten polnischen Arbeiterzusammenballung. Die Textilindustrie blieb dominant, nach 1900 nahmen alle anderen Branchen lediglich etwa 6 % des Produktionswertes ein.7

okręgu przemysłowego 1815–1870. T. 1. Przemysł. Łódź 1964, t. 2. Klasa robotnicza. Łódź 1967, t. 3. Burżuazja. Łódź 1975; Adam Ginsbert, Łódź. Studium monograficzne. Łódź 1962; Ireneusz Ihnatowicz, Przemysł łodzki w latach 1860–1900. Wrocław, Warszawa, Kraków 1965; Anna Słoniowa, Problemy liczebności, narodowości i wewnętrznego zróżnicowania burżuazji Łódzkiej w drugiej połowie XIX w., in: Dzieje burżuazji w Polsce. Studia i materiały. T. III. Pod red. Ryszarda Kołodziejczyka. Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk, Łódź 1983, 121–144; Otto Heike, Aufbau und Entwicklung der Lodzer Textilindustrie. Eine Arbeit deutscher Einwanderer in Polen für Europa. Mönchengladbach 1971; Oskar Kossmann, Lodz. Eine historisch-geographische Analyse. Marburg 1966. Vgl. Irena Popławska, Die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Architektur am Beispiel der Stadt Lodz, in: Zentrale Städte (wie Anm. 1), 60–70; Wiesław Puś, Przemysł włokienniczy w Królestwie Polskim w Iatach 1870–1900. Zagadnienia struktury i dynamiki rozwoju. Łódź 1976 (= Acta Universitatis Lodziensis. Zeszyty naukowe Uniw. Łódzkiego, nauki human. – społeczne, seria I, zeszyt 5); ders./Stefan Pytlas, Les transformations et le développement de l‘industrie textile dans le royaume de Pologne dans !es années 1870–1914, in: Acta Universitatis Lodziensis. Folia geographica 6, 1985, 17–32. 7 Bronisława Kopczyńska-Jaworska, Lodz – Zur Geschichte der Stadt und zur Kultur des Arbeitermilieus (von den Anfängen bis 1939), in: Zentrale Städte (wie Anm. 1), 45–59; Kołodziejczyk, Warschau und Lodz (wie Anm. 1), 23 (die unterschiedliche Angabe der Einwohnerzahl zu Kopczyńska-Jaworska, 50, ergibt sich vermutlich aus der Einbeziehung der Vorstädte).

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Bevor auf Konfliktfragen innerhalb der Städte eingegangen wird, die sich aus diesen unterschiedlichen Stadt-Land-Beziehungen ergaben, muß ein Faktor erwähnt werden, der überall als Mittler zwischen Dorf und Stadt auftrat, aber auch selbst Träger von Konflikten wurde: die Juden. Diese Mittlerfunktion – »das Spezifikum des Judentums in der europäischen Geschichte»8 – erreichte in Polen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Jüdische Händler nahmen den adligen Grundbesitzern ihre Überschußproduktion ab, verkauften sie in der Stadt und lieferten im Gegenzug notwendige städtische Waren. Die Hausierer (»Dorfgeher») und Krämer deckten den Bedarf der Bauern und Kleinstädter, kauften deren Produkte an, ja wickelten oft deren sämtliche Geschäfte ab. Der Adel ließ die Juden darüber hinaus bei den Bauern die Pacht und andere Abgaben einziehen. Teilweise erhielten sie zur Belohnung für ihre Dienste selbst Pachtgüter überlassen. Außerdem bekamen sie häufig die Pacht der dörflichen Schankwirtschaften, wo sie den auf den Adelsgütern gebrannten Schnaps verkauften – eine weitverbreitete Erscheinung bis ins 19. Jahrhundert hinein. Dieser Wirtschaftskreislauf zwischen adligen Gutsbesitzern, Bauern, ländlichen oder städtischen Handwerkern, Großkaufleuten und Unternehmern mit den Juden als Mittlern wurde durch die mitteleuropäische Agrarkrise zu Beginn des 19. Jahrhunderts entscheidend gestört. Die Absatzprobleme für ihr Getreide versuchten die Adligen dadurch zu unterlaufen, daß sie die Alkoholproduktion ausweiteten und um des höheren Gewinns willen die Juden aus Branntwein-Erzeugung und -Absatz zumindest teilweise verdrängten.9 Der ökonomische Konkurrenzkampf führte dazu, daß antijüdische Ressentiments angeheizt wurden, die Juden zunehmend vom Land in die Städte zogen und durch den schwerwiegenden Eingriff in die jüdische Mittlerfunktion neue Barrieren zwischen Land und Stadt errichtet wurden. Wohlhabendere Juden in der Stadt übernahmen eine neue Mittlerrolle im entstehenden Kapitalismus: als

8 Jürgen Hensel, Polnische Adelsnation und jüdische Vermittler 1815–1830. Über den vergeblichen Versuch einer Judenemanzipation in einer nicht emanzipierten Gesellschaft, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 32, 1983, 7–227, hier 93. 9 Ausführlich dazu Hensel, Adelsnation (wie Anm. 8); vgl. außerdem Bernard D. Weinryb, Neueste Wirtschaftsgeschichte der Juden in Rußland und Polen. Von der 1. polnischen Teilung bis zum Tode Alexander II. (1772–1881). 2Hildesheim/New York 1972, hier bes. 50–51, 93–114, 128 ff., 152, 259–261; Artur Eisenbach, Z dziejów ludności żydowskiej w Polsce w XVIII i XIX wieku. Studia i szkice. Warszawa 1983; ders., Emancypacja Żydów na ziemiach polskich 1785–1870 na tle europejskim. Warszawa 1988; Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. von Gotthold Rhode. Marburg 1989 (auch zum folgenden).

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Großunternehmer oder Bankiers. Zu einer Zusammenarbeit mit den Restbeständen jüdischen Kleinhandels auf dem Land kam es nur punktuell.10 Durch diesen Wandel entstanden neue Konfliktpotentiale, die eng mit den Stadt-Land-Beziehungen zusammenhingen. Der teilweise extrem hohe Judenanteil in den polnischen Städten aufgrund der Zuwanderung vom Land – 1900 gab es in Warschau rund 35 % und in Lodz rund 30 % Juden – förderte die antijüdische Agitation. Hinzu traten der Verdrängungswettbewerb der aufsteigenden nichtjüdischen Bourgeoisie gegen die reichen Juden sowie der Haß in Teilen der Arbeiterschaft – und darüber hinaus innerhalb der Bevölkerung – auf die jüdischen »Kapitalisten«, die in den nationalen Auseinandersetzungen besondere Feindschaft auf sich zogen. Insbesondere in Lodz identifizierte man die Juden mit den Deutschen, obwohl dies höchstens für eine dünne Oberschicht zutraf. Als sich die Mehrheit der Juden im nationalen Konflikt der Polen mit den Russen eher neutral verhielt, gab dies antijüdischen Ressentiments starken Auftrieb. Die Warschauer Weihnachtsausschreitungen von 1881 machten erstmals sichtbar, wie leicht sich die Probleme des sozial-ökonomischen Umbruchs gegen die Juden entladen konnten und wie leicht sich der Neid auf einige wenige reiche Juden in Gewalt gegen alle Juden umsetzen ließ. Noch deutlicher wurde dieser Hintergrund bei den Unruhen in Lodz 1892. Eine anfangs erfolgreiche Streikbewegung ging in antijüdische Aktionen über, möglicherweise geschürt durch die russischen Behörden, damit sie um so einfacher Militär zur Niederschlagung des »Aufstandes« entsenden konnten. Daß sich jedoch eine Reihe von Arbeitern – wohl nicht zuletzt unter Hinweis auf die jüdischen Kapitalisten – von ihren eigentlichen Zielen ablenken ließ, zeigt, wie sehr die Juden die Rolle eines Katalysators im nicht klar durchschauten sozialen Konflikt einnehmen konnten.11 10 Hensel, Adelsnation (wie Anm. 8), 66, 68, 92, 116–118; Weinryb, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 9), 53–56; Jan Kosim, Losy pewnej fortuny. Z dziejów burżuazji warszawskiej w latach 1807–1830. Wrocław, Warszawa, Kraków, Gdańsk 1972; ders., Warszawscy liweranci wojskowi w latach 1807–1830, in: Rocznik Warszawski 10, 1969, 81–111. Allgemein zu Unternehmern außerdem Ireneusz lhnatowcz, Obyczaj wielkiej burżuazji warszawskiej w XIX wieku. Warszawa 1971; ders., Burżuazja warszawska. Warszawa 1972; Joanna Hensel, Burżuazja warszawska drugiej połowy XIX w. w świetle akt notarialnych. Warszawa 1979; Ryszard Kołodziejczyk, Miasta, mieszczaństwa, burżuazja w Polsce w XIX w. Szkice i rozprawy historyczne. Warszawa 1979; ders., Burżuazja w Królestwie Polskim – szkic do portretu in: Dzieje burżuazji III (wie Anm. 6), 293–308; ders., Rodzina mieszczańska w Warszwawie w XIX wieku, in: Kronika Warszawy 1984, 91–103; sowie dessen glänzendes letztes Werk in einer Reihe strukturgeschichtlicher Biographien, Jan Bloch (1836–1902). Szkic do portretu »króla polskich kolei«. Warszawa 1983. 11 Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa. Wiesbaden 1981, bes. 40–59. Vgl. zu ähnlichen Prozes-

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Interessant ist, daß die gewaltsamen Ausschreitungen in Warschau und Lodz hauptsächlich von städtischen Unterschichten, Vorstadtbewohnern, ja sogar aufgehetzten Bauern aus der Umgebung getragen wurden. Obwohl die Quellenlage außerordentlich schlecht ist, deutet doch einiges darauf hin, daß diese Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den Stadt-Land-Beziehungen stehen. Daß die Juden nicht zuletzt durch den Wandel ihrer ökonomischen Funktionen – der übrigens auch eine erhebliche soziale Differenzierung mit sich brachte – und den massenhaften Zuzug in die Städte erst Objekt neuer Formen antijüdischer Einstellungen wurden, liegt nahe. Darüber hinaus dürfte aber auch – dies wäre zumindest eine Arbeitshypothese – die durch eine Stadt-Land-Migration beeinflußte soziale Zusammensetzung der städtischen Unterschichten und der Arbeiterschaft von Bedeutung gewesen sein. Ein Blick auf die dadurch bestimmten Konfliktlagen in Warschau und Lodz mag dies verdeutlichen. Die dörflichen Zuwanderer nach Warschau arbeiteten in der ersten Phase vorwiegend zunächst saisonweise als Tagelöhner in der Stadt. Später, wenn sie eine ständige Verdienstmöglichkeit gefunden hatten, siedelten sie auf Dauer über. Oft wurde allerdings erst der Sohn eines solchen Zuwanderers seßhaft. In der zweiten Phase der Immigration, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zogen dann hauptsächlich Jugendliche vom Dorf nach Warschau, um dort als Lehrling im Handwerk zu beginnen und allmählich in Industriebetrieben oder anderen Unternehmen aufzusteigen. Die Großstadt bot verhältnismäßig günstige Bedingungen, eine Beschäftigung – auch außerhalb des industriellen Sektors – zu finden. Seit der zweiten Phase kam es deshalb selten vor, daß die Zuwanderer aufs Land zurückkehrten. Selbst in schwierigen Zeiten – etwa nach dem Tod des Vaters – blieb die Familie meist in der Stadt, weil sie es auch Frauen ermöglichte, so viel zu verdienen, um die Ernährung sicherzustellen. Zu der Seßhaftigkeit trug zusätzlich bei, daß die ehemaligen Dörfler nicht leicht wieder in ihre frühere Heimat ausweichen konnten: Die Kontakte waren meist rasch abgerissen, weil die Herkunftsregion weit entfernt lag oder die Weggezogenen dort als völlig Verarmte hätten neu anfangen müssen. Aufgrund der großstädtischen Möglichkeiten zeichnete sich die Warschauer Arbeiterschaft durch eine verhältnismäßig hohe Mobilität aus. Dennoch kann man sagen, daß die dörflichen Neuankömmlinge vor allem in »niederen« Arbeiten – etwa bei der Warschauer Eisenbahn – beschäftigt wurden. Wem der Aufsen in Prag Heiko Haumann, Das jüdische Prag (1850–1914), in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hrsg. von Bernd Martin und Ernst Schulin. München 1981, 209– 230, 347–349. – Die Angaben über den jüdischen Bevölkerungsanteil 1900 bei Arthur Ruppin, Soziologie der Juden. Bd. 1. Berlin 1930, 114 (sie beruhen auf der Volkszählung von 1897). Zur Minderheitenproblematik auch Elżbieta Kaczyńska, Nationalität und Bürgertum im Königreich Polen (1864–1914) in: Die alte Stadt 14, 1987, 254–274.

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stieg nicht gelang, blieb in kleinen industriellen oder handwerklichen Betrieben. Hier vermischte er sich mit deklassierten Handwerkern, Kleinkaufleuten und Kleinunternehmern. In diesem sozialen Gemenge lag die Brisanz, die sich leicht in gewaltsamen, wenig zielgerichteten Ausschreitungen entladen konnte. Die relativ schnelle Lösung der meisten Immigranten von ihrer früheren dörflichen Heimat und die Formierung eines seßhaften Proletariats trotz unterschiedlichster sozialer und nationaler Herkunft, Konfession sowie fachlicher Ausbildung begünstigte andererseits deren organisierte politische Aktivität.12 In Lodz gab es durch die Dominanz der Textilindustrie kein so reichhaltiges Angebot an Arbeitsplätzen wie in Warschau. Insofern blieben auch die Mobilität verhältnismäßig beschränkt und die Differenzierung innerhalb der Arbeiterschaft gering. Die Facharbeiter kamen zunächst aus dem Ausland; erst in einer späteren Phase rekrutierten sie sich aus einheimischen Ausbildungsstätten sowie durch Zuwanderung von Spezialisten aus ländlichen Gegenden. Die Frau als Haupternährerin der Familie – insbesondere in Krisenzeiten – finden wir ähnlich wie in Warschau, allerdings bot sich auch hier in der Regel keine Alternative zum Textilbetrieb. Die Neuankömmlinge vom Dorf versuchten – ebenso wie in Warschau –, sich so schnell wie möglich an das städtische Leben anzupassen. Der zweiten Immigranten-Generation nach der Jahrhundertwende fiel dies bereits wesentlich leichter als der ersten: Sie war meist beruflich besser vorbereitet und fand zudem häufig Hilfe bei den früher Zugewanderten. Eine gegenseitige Unterstützung der ehemaligen Dörfler ist allerdings von Anfang an zu beobachten. Die Neuankömmlinge zogen zu Verwandten oder Bekannten aus der gleichen Gegend, so daß vielfach in bestimmten Häusern und Stadtvierteln Leute aus demselben Landesteil lebten. Nur allmählich vermischten sie sich mit der übrigen Bevölkerung. Dadurch verlief der Assimilationsprozeß widersprüchlich. Die Neubürger strebten einerseits danach, möglichst schnell nicht mehr als »Bauern« zu gelten, da man sonst offenbar als Zielscheibe des Spottes diente. Man kleidete sich deshalb betont städtisch und vermied mundartliche Ausdrücke. Vor allem die ehemaligen Dorfarmen und diejenigen, die aus entfernten Gebieten stammten, brachen den Kontakt zur früheren Heimat rasch ab. Dazu trug im übrigen das weit verbreitete Analphabetentum bei, das eine briefliche Verbindung fast unmöglich machte. Die Ansiedler aus den Dörfern der näheren Umgebung trafen sich hingegen mit ihren Familien oder Bekannten auf den Wochenmärkten in Lodz oder auf der Kirmes und bei kirchlichen Feiertagen im Dorf. Auch sie hoben aber ihren neuen städtischen Status hervor, um ihren »Aufstieg« zu dokumentieren. 12 Żarnowska, Herkunft (wie Anm. 5), 38–41; dies., Robotnicy (wie Anm. 5), passim.

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Die Zwiespältigkeit der Assimilation zeigte sich darin, daß sich – hauptsächlich wohl durch das Zusammenleben der Zuwanderer gleicher regionaler Herkunft – Dorfkulturmuster lange erhielten. Traditionelle Bräuche bei Hochzeiten, Beerdigungen, Kirchenfesten oder an Fastnacht sind vielfältig belegt. Umstritten ist, ob die häufig anzutreffende Nachbarschaftshilfe auf dörfliche Vorbilder zurückging oder durch das wachsende Klassenbewußtsein bedingt war. Die Verbindung von Elementen dörflicher Überlieferung mit städtischen Lebensformen schlug sich auch im Verhalten bei Konflikten nieder: Eine Solidarisierung der Arbeiterschaft kam nicht ohne weiteres zustande. Die Zugewanderten schlossen sich manchem Streik nicht an. In einigen Fällen versuchten ehemalige Dörfler auch, Arbeitskämpfe oder Krisensituationen zu ihrem persönlichen Vorteil in der Fabrik auszunutzen. Das führte häufig zur – unberechtigten – pauschalen Abwertung der Immigranten. Diese Ambivalenz verschärfte sich noch durch die nationalen (und konfessionellen) Spannungen, die in Lodz wesentlich heftiger zutage traten als in Warschau. Obwohl die sozialistischen Organisationen durchaus starken Einfluß ausüben konnten, gewannen auch die Nationalisten zahlreiche Anhänger innerhalb der Arbeiterschaft, die sich hier wiederum mit Teilen des Kleinbürgertums zusammenfand. Der Kampf ging gegen den Deutschen und Juden als Synonym für den Kapitalisten. Der soziale Konflikt verdoppelte sich im nationalen (und religiösen). Die Besonderheiten der Stadt-Land-Beziehung in Lodz dürften zu dieser wenig rationalen Stoßrichtung erheblich beigetragen haben.13 II.

Die beiden polnischen Großstädte sollen nun mit den beiden russischen Metropolen Moskau und Petersburg, die ebenfalls zugleich bedeutende Industriezentren waren, verglichen werden. Die historischen Voraussetzungen der Stadt13 Kopczyńska-Jaworska, Lodz (wie Anm. 7), 52–59; dies., Kultura środowiska robotniczego Łódzi, in: Łódzkie Studia Etnograficzne 21, 1979, 15–34; A. Barszczewska-Krupa/P. Samuś, Życie społeczno-polityczne, in: Łódź (wie Anm. 6), 392–397. – Rosa Luxemburg hatte sicher recht, wenn sie für Polen (und gerade auch Lodz) bei den Arbeitern eine schwächere Landbindung als für Rußland annimmt. Ob die polnische Arbeiterschaft deshalb allerdings »stabiler« war, wie sie meint, muß in Frage gestellt werden (Die industrielle Entwicklung Polens [1898], in: Gesammelte Werke I/1. Berlin/DDR 1974, 113–216, hier bes. 162–167, vgl. 154–159). Allgemein zur Nationalitätszugehörigkeit der Arbeiter in Polen Anna Żarnowska, O składzie narodowościowym klasy robotniczej w Królestwie Polskim na przełomie XIX i XX wieku, in: Kwartalnik Historyczny 80, 1973, 787–816; zur Arbeiterkultur: Wokół tradycji kultury robotniczej w Polsce. Hrsg. von Anna Żarnowska. Warszawa 1986.

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Land-Beziehungen unterschieden sich tiefgreifend von denen in Polen. Eine rechtliche Abschottung zwischen Stadt und Land prägte sich in Rußland nicht aus. Folglich entstand auch keine klar umrissene Stadtbürgergemeinde. Die Grenzen zwischen beiden Bereichen blieben fließend: Die Bauern wanderten hin und her, sie verkauften ihre agrarischen und handwerklichen Produkte zum großen Teil selbst in der Stadt. Dies trug wiederum mit dazu bei, daß sich eine städtische, in Zünften organisierte Handwerkerschaft bestenfalls in Ansätzen herausbildete. Die Städtereformen des 18. und 19. Jahrhunderts veränderten die Rahmenbedingungen etwas, so wie sich auch Petersburg durch ihre künstliche Gründung und ihren residenzstädtischen Charakter von den altrussischen Städten abhob. Doch die Traditionen des Stadt-Land-Verhältnisses wirkten weiter.14 Dies zeigt sich ganz deutlich noch im Industrialisierungsprozeß des 19. und 20. Jahrhunderts, wie ein Blick auf Unternehmer- und Arbeiterschaft belegen soll. Die russische Unternehmerschaft unterschied sich in ihrer sozialen Zusammensetzung wesentlich von dem im Westen vorherrschenden Bild. Zwar wandten sich auch Großkaufleute dem neuen Geschäft zu, Handwerker findet man jedoch kaum, dagegen um so mehr Adlige und nicht zuletzt Bauern. Gerade das Industriezentrum Moskau wurde von einer Verbindung von ehemaligen Bauern, Kaufleuten und Adligen geprägt, die einen spezifischen »Moskauer Unternehmertyp« herausbildeten. Er war durch eine Ablehnung alles Ausländischen und Betonung des »Russischen«, Geringschätzung der Bürokratie sowie vorrangigem Engagement in der Textil- und Nahrungsmittelindustrie mit engen Beziehungen zum agrarischen Bereich gekennzeichnet.15 Unser besonderes Inter14 Einführend (mit Literaturhinweisen) Heiko Haumann, Die russische Stadt in der

Geschichte, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27, 1979, 481–497. Zum Charakter Petersburgs Klaus Meyer, Kaiserliche Residenz und sozialistische Großstadt. Typologische Überlegungen zur Geschichte der Stadt St. Petersburg – Petrograd – Leningrad, in: Ostmitteleuropa. Berichte und Forschungen. Hrsg. von Ulrich Haustein, Georg W. Strobel und Gerhard Wagner. Stuttgart 1981, 64–77. Zum Vergleich von Moskau und Petersburg (auch im folgenden) Joseph Bradley, Moscow. From Big Village to Metropolis, in: The City (wie Anm. 1), 9–41; James H. Bater, Between Old and New. St. Petersburg in the Late Imperial Era, ebd., 43–78. 15 Alfred J. Rieber, The Moscow Entrepreneurial Group: The Emergence of a New Form in Autocratic Politics, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 25, 1977, 1–20, 174–199, hier bes. 9; ders., Merchants and Entrepreneurs in Imperial Russia. Chapel Hill 1982; vgl. Pavel A. Buryškin, Moskva kupečestva. New York 1954; Thomas C. Owen, Capitalism and Politics in Russia: A Social History of the Moscow Merchants, 1855–1905. New York 1981; I. F. Gindin, Russkaja buržuazija v period kapitalizma, ee razvitie i osobennosti, in: Istorija SSSR 1963, Nr. 2, 57–80, Nr. 3, 37–60; M. L. Gavlin, Rol’ centra i okrain

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esse verdienen die früheren Bauern. Sicher gab es auch anderswo immer wieder Angehörige dieser Gruppe, die sich unternehmerisch betätigten. In Rußland stellten sie jedoch in Ausmaß und Bedeutung eine herausragende Erscheinung dar. Zahlreiche leibeigene Bauern, die statt Fronarbeit Geldzins leisten mußten, versuchten seit dem 17. Jahrhundert, durch Handel und Gewerbe ihre Abgaben zu verdienen und vielleicht noch die für den Loskauf benötigte Summe zu ersparen. Eine Reihe von Gutsbesitzern erkannte die Chance für den eigenen Gewinn und ließ diesen Bauern verhältnismäßig freie Hand. Natürlich darf man sich das nicht als Idylle vorstellen: Immer wieder setzten die Willkür des Herrn oder Beschränkungen seitens des zaristischen Staates dem bäuerlichen Selbständigkeits-­und Aufstiegsstreben eine Grenze. Doch einigen gelang der Aufstieg, und sie legten den Grundstein für die bedeutendsten Textilunternehmen vor allem im Moskauer Raum. Dies wäre ohne die besonderen Stadt-LandBeziehungen in Rußland nicht möglich gewesen.16 Mit zunehmender Industrialisierung gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat mehr und mehr ein zweiter Unternehmertyp hervor, der als der »Petersburger« bezeichnet wird. Er setzte sich im wesentlichen aus ehemaligen Staatsbeamten, Ingenieuren und Technikern zusammen, die die leitenden Positionen in Aktiengesellschaften der Schwerindustrie innehatten, eng mit den Großbanken verbunden waren und sich nicht nur in der Kapitalverflechtung, sondern auch in ihren Wertvorstellungen zum westlichen Ausland hin orientierten. In sich war er weniger geschlossen als der »Moskauer«, auch mangelte ihm die für das Prestige wichtige Teilnahme zahlreicher Adliger. Beide Unternehmertypen standen sich zunächst unversöhnlich gegenüber: Die »Moskauer« fühlten ich als echt russische »Herren« (chozjain) und schauten verächtlich auf die emporgekommenen »Bürokraten« in Petersburg (und anderswo) herab. Diese wiederum verspotteten die »Moskauer« als altmodisch und rückständig. Das Auseinanderklaffen zweier Mentalitätswelten vertiefte sich durch gegensätzliche ökonomische Interessen: Die Schwerindustrie war auf Staatshilfe bei der KapiRossijskoj imperii v formirovanii krupnoj moskovskoj buržuazii v poreformennoj period, in: lstoričeskie zapiski 92, 1973, 336 – 355; Roger Portal, lndustriels moscovites: Le secteur cotonnier (1861 – 1914), in: Cahiers du monde russe et soviétique 4, 1963, 5 – 46; Jo Ann S. Ruckman, The Business Elite of Moscow: A Social Inquiry. Ph. D. Northern llinois Univ. 1975. Hier und zum folgenden auch Heiko Haumann, Unternehmer in der Industrialisierung Rußlands und Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhanges von Herkunft und politischer Orientierung, in: Scripta Mercaturae 20, 1986 (1988), 143–159. 16 Speziell zum leibeigenen Bauern als Unternehmer J. Kulischer, Die kapitalistischen Unternehmer in Rußland (insbesondere die Bauern als Unternehmer) in den Anfangsstadien des Kapitalismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 65, 1931, 309–355; Henry Rosovsky, The Serf Entrepreneur in Russia, in: Explorations in entrepreneurial history 6, 1953–54, 207–233.

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talbeschaffung und bei Aufträgen angewiesen, die ihr auch großzügig gewährt wurde – zu Lasten der Textilindustrie, die in viel geringerem Umfang staatliche Aufträge erhielt und unter der Abschöpfung der Massenkaufkraft durch den Staat zu leiden hatte. Im Ersten Weltkrieg allerdings begannen sich dann auch die »Moskauer« Unternehmer in das System staatlicher Auftragsvergabe zu integrieren. Der »Kampf zwischen Moskau und Petersburg« machte in hohem Grade die immer wieder beklagte »Schwäche« der russischen Bourgeoisie aus. Er verhinderte den nötigen Druck, um eine mächtige Interessenvertretung gegenüber dem Staat aufzubauen, und durchkreuzte häufig Versuche der jeweils anderen Seite, bestimmte politische Vorstellungen zu verwirklichen. Der Wirrwarr, der durch das komplizierte Mit- und Gegeneinander von Unternehmergruppen und Regierungsorganen entstand und auch zu einer oft schwankenden staatlichen Politik führte, wurde gerade im Ersten Weltkrieg besonders deutlich. An eine prinzipielle Alternative zur zarischen Herrschaft dachte allerdings kaum einer der Unternehmer: Die einen fuhren ökonomisch nicht schlecht damit, und von einer Aufweichung des Systems befürchteten sie die sozialistische Revolution und das Chaos. Die anderen fühlten sich viel zu stark als Teil der zarischen Ordnung, als daß sie die Autorität des Zaren grundsätzlich in Frage gestellt hätten.17 Die Stadt-Land-Beziehungen beeinflußten demnach in doppelter Weise Struktur und Politik der Unternehmerschaft: Sie ermöglichten den Aufstieg ehemaliger Bauern sowie die Formierung eines speziellen Unternehmertyps und trugen damit zu den tiefgreifenden Konflikten zwischen verschiedenen Unternehmergruppen bei. Zugleich waren sie indirekt auch für die Einbindung

17 Ruth Amende Roosa, Russian Industrialists Look to the Future: Thoughts on Economic Development, 1906–1917, in: Essays in Russian and Soviet History in Honor of Geroid Tanquary Robinson. Ed. by. J. Sh. Curtiss. Leiden 1963, 198–218; dies., »United« Russian Industry, in: Soviet Studies 24, 1972–73, 421–425; James D. White, Moscow, Petersburg and the Russian Industrialists. ln Reply to Ruth Amende Roosa, ebd., 414–420; Victoria Anne Palmer King, The Emergence of the St. Petersburg Industrialist Community, 1870 to 1905: The Origins and Early Years of the Petersburg Society of Manufacturers. Ph. D. Univ. of California, Berkeley 1982. Vgl. außerdem P. A. Berlin, Russkaja buržuazija v staroe i novoe vremja. 2Moskva/Leningrad 1925; V. Ja. Laveryčev, Krupnaja buržuazija v poreformennoj Rossii (1861–1900 gg.). Moskva 1974; Entrepreneurship in Imperial Russia and the Soviet Union. Ed. by Gregory Guroff and Fred V. Carstensen. Princeton, N. J. 1983; Johannes H. Hartl, Die Interessenvertretungen der Industriellen in Rußland 1905–1914. Wien/Köln/Graz 1978; Heiko Haumann, Kapitalismus im zaristischen Staat 1906–1917. Organisationsformen, Machtverhältnisse und Leistungsbilanz im Industrialisierungsprozeß. Königstein 1980.

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des »russischen«, »Moskauer« Typs in das überkommene Herrschaftssystem mit verantwortlich. Noch deutlicher wird der Einfluß der traditionellen Stadt-Land-Beziehungen, die trotz der durch Industrialisierung und Städtewachstum errichteten Barrieren zwischen beiden Bereichen nachwirkten, bei der Bildung der Industriearbeiterschaft und den sich daraus ergebenden Konflikten. Als sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die industrielle Entwicklung beschleunigte und damit auch der Arbeitskräftebedarf sprunghaft anstieg, mußten die Unternehmen viel stärker als in westlichen Ländern auf Bauern zurückgreifen. Ein ausreichendes Reservoir an städtischen Unterschichten stand nicht zur Verfügung, schon gar nicht an Handwerkern. Hingegen gab es bereits länger die Praxis bäuerlicher Saison- oder Wanderarbeit in der Stadt, und eine ganze Reihe von Bauern, die nun in den neuen Betrieben Arbeit und Verdienst suchten, konnte aufgrund der weiten Verbreitung des dörflichen Handwerks entsprechende Fertigkeiten vorweisen. Leider liegen keine differenzierten Gesamtzahlen vor. Man wird aber für die Zeit um die Jahrhundertwende den Prozentsatz der Arbeiter bäuerlicher Herkunft mit über 50 % angeben müssen. In Moskau lag er mit über 90 % (1902) an der Spitze. Während des zweiten industriellen Aufschwungs seit 1908 wurden dann schon mehr Arbeiter aus städtisch-proletarischer Familie beschäftigt, ohne daß jedoch der Zuzug vom Land entscheidend nachließ. Schauen wir uns Moskau etwas genauer an. Fast alle zuwandernden Bauern stammten aus dem Moskauer oder den unmittelbar angrenzenden Gouvernements. Überwiegend handelte es sich bei den Neuankömmlingen um jüngere, verheiratete Männer, deren Frauen in der Regel zu Hause blieben. Mädchen und Frauen, die vom Land nach Moskau kamen und im allgemeinen in der Textilindustrie eine Beschäftigung fanden, waren meistens ledig. Als geschlossene Familie in die Stadt zu ziehen, lohnte offenbar normalerweise nicht. Dies hatte nicht nur für die Lebensweise in der Stadt, sondern auch für die Verhältnisse auf dem Land Konsequenzen. Ganz junge und ältere Männer, dazu die Ehefrauen der Weggezogenen blieben im Dorf zurück. Damit drohten Ineffektivität und Abneigung gegen neue technologische Prozesse, aber auch das Zusammenleben gestaltete sich komplizierter. Folgen hatte es, daß die männlichen »Bauern-Arbeiter« nicht nur früher als die in der Stadt geborenen Arbeiter, sondern ebenfalls früher als die »reinen« Bauern heirateten: Die größere Kinderzahl erhöhte die Landteilungen und verschärfte den Bevölkerungsdruck in den Dörfern, da die Mehrheit der »Bauern-Arbeiter« noch Landanteilsrechte behielt. In ihrer Abwesenheit übernahmen die Ehefrauen ihre Aufgaben; zur Ernte, manchmal auch zu anderen Feldarbeiten, kehrten viele Männer ins Dorf zurück. Ihre Rechte machten sie beim Tod des Vaters geltend, aber es war

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durchaus keine Seltenheit, daß sie diese schon früher, in Notzeiten, wenn die Unternehmer sie nicht mehr beschäftigen wollten oder den Lohn verringerten, wieder wahrnahmen. Insofern stellte die fortdauernde Landbindung zahlreicher Arbeiter einen erheblichen Schutz dar. Häufig organisierten sich Bauern, die in die Stadt ziehen wollten, in einem artel’, einer Art Genossenschaft, die seit langem vor allem unter wandernden Handwerkern üblich gewesen war. Gemeinsam verließen sie das Dorf, gemeinsam suchten sie einen Arbeitsplatz. Sie wurden dann auch geschlossen eingestellt und erhielten ihren Lohn als Gruppe, den der gewählte Älteste (starosta) verteilte. Insbesondere wenig qualifizierte Arbeitskräfte und Tagelöhner, die dann in Kleinbetrieben unterkamen, wählten diese Organisationsform. Daneben finden wir solche arteli als Einheiten in der Fabrik oder lediglich als Gemeinschaften, die zusammen wohnten. Einen viel wesentlicheren Einfluß übten die informellen Landmannschaften (zemljačestva) aus. Sie vermittelten nicht nur Arbeit, sondern hielten auch untereinander eng zusammen, erleichterten das ungewohnte Leben in der Stadt und bauten ein dichtes Informations- und Kommunikationsnetz auf. Um ein Beispiel für ihre Wirksamkeit zu geben: In der großen Moskauer Textilfabrik Ė. Cindel’ stammten 1899 etwas mehr als die Hälfte der Arbeiter aus dem Gouvernement Rjazan’, ein Viertel aus dem Gouvernement Tula, knapp 9 % aus dem Moskauer; der Rest verteilte sich auf andere Gebiete. Wie das erhalten gebliebene »Schwarzbuch« der Fabrik zeigt, stellte sich der regionale Zusammenhalt gerade bei sozialen Konflikten unter Beweis. Insgesamt scheint es so gewesen zu sein, daß die informellen Gruppen aus der gleichen Gegend über ein recht enges Nachrichtennetz untereinander wie mit ihren Dörfern verfügten, dadurch vielfältige Informationen erhielten und diese wiederum rasch austauschen konnten. Das verstärkte ihre Solidarität und kam ihnen bei Arbeitskämpfen und anderen Protestaktionen sehr zunutze. Einiges spricht dafür, daß sie in vielen Fällen stärker als die »eigentlichen« Organisationen der Arbeiterbewegung den Kern von Unruhen bildeten und die Aktivitäten vorantrieben. Auch für 1917 ist ihre Bedeutung belegt, obwohl die dürftige Quellenlage viele Fragen offen läßt.18 18 Robert Eugene Johnson, Peasant and Proletarian. The Working Class of Moscow in the Late Nineteenth Century. New Brunswick, N. J. 1979, bes. 67–79; ders., Family Relations and the Rural-Urban-Nexus: Patterns in the Hinterland of Moscow, in: The Family in Imperial Russia. New Lines of Historical Research. Ed. by David L. Ransel. Urbana etc. 1978, 263–279; ders., Peasant Migration and the Russian Working Class: Moscow at the End of the Nineteenth Century, in: Slavic Review 35, 1976, 652–664; Diane Koenker, Moscow Workers and the 1917 Revolution. Princeton, N. J. 1981, bes. 48–50; Victoria E. Bonnell, Roots of Rebellion. Workers’ Politics and Organizations in St. Petersburg and Moscow,

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Prinzipiell ähnlich, jedoch unterschiedlich im Ausmaß verlief die Entwicklung in Petersburg. Die Hauptstadt konnte auf keine so lange und ausgeprägte Tradition des ökonomischen und sozialen Austausches zwischen Stadt und Land oder so intensive Wanderungsbewegungen zurückblicken. Darüber hinaus waren die Gebiete um Petersburg für eine landwirtschaftliche Bearbeitung weniger geeignet als die Moskauer Region, so daß eine fortbestehende Bindung ans Land nicht unbedingt einen Vorteil bot. Wesentlich stärker als in Moskau kamen die Zuwanderer aus weiter entfernt liegenden Gegenden. Obwohl Zahlen über den Anteil von Bauern an der Industriearbeiterschaft nicht zur Verfügung stehen, müssen wir insgesamt ebenfalls von sehr hohen Prozentsätzen ausgehen: Der Anteil an der Bevölkerung vergrößerte sich zwischen 1900 und 1910 von 63 % auf 69 %, und das rasche Wachstum der Arbeiterschaft seit den neunziger Jahren korreliert mit einer starken Zunahme der Immigranten. Weniger intensiv als in Moskau dürften allerdings die Landbindungen der Neuankömmlinge gewesen sein: Nur rund 20 % der als Bauern bezeichneten Arbeiter kehrten 1908/1909 regelmäßig zur Feldarbeit ins Dorf zurück, 13 % galten als Saison- oder Wanderarbeiter. Einen Landanteil besaßen um diese Zeit nach einer – allerdings zahlenmäßig beschränkten – Umfrage etwa 40 % der Arbeiter. Mehr »Bauern-Arbeiter« als in Moskau strebten offenbar danach, sich dauerhaft in Petersburg niederzulassen. Darauf deuten auch Hinweise hin, daß sich die Tendenz verstärkte, die im Dorf zurückgebliebenen Familienangehörigen nachzuholen. Äußerlich vollzog sich eine verhältnismäßig schnelle Anpassung an städtische Gewohnheiten, Sitten und Moden, wenngleich sich einige überlieferte ländliche Bräuche – etwa bei Festlichkeiten und Todesfällen – sowie zumindest bei vielen Frauen religiöse Traditionen erhielten. Über die Probleme, die für die Zuwanderer beim Zurechtfinden in einer fremden Umgebung und bei der Umstellung auf neue Arbeitsverhältnisse entstanden, ist kaum etwas bekannt. Sie lassen sich höchstens vermuten, wenn man die hohe Fluktuation der Neuankömmlinge zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen, die niedrige Arbeitsproduktivität und den verbreitet auftretenden Alkoholismus als indirekte Indikatoren nimmt. Andererseits gab es auch in Petersburg starke »Landsmannschaften«, allerdings – soweit sich das nach der augenblicklichen Quellenlage sagen läßt – in geringerem Umfang als in Moskau. Sie erleichterten manchem 1900–1914. Berkeley etc. 1983, bes. 52–57; Joseph Bradley, Muzhik and Muscovite. Urbanization in Late Imperial Russia. Berkeley etc. 1985; B. N. Kazancev, Rabočie Moskvy i Moskovskoj gubernii v seredine XIX veka (40–50-e gody). Moskva 1976. Das Beispiel aus der Fabrik Cindel’ bei V. V. Ložkin, K metodike izučenija »černych knig« kapitalističeskich predprijatij konca XIX–načala XX v., in: Istočnikovedenie otečestvennoj istorii. Sbornik statej. Moskva 1980, 80–111, hier 106–107.

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»Bauern-Arbeiter« die Eingewöhnung, und sie festigten ebenfalls den Zusammenhalt in sozialen Konflikten. Dabei kam es zu engen Verbindungen mit der organisierten Arbeiterbewegung: Die (Untergrund-) Arbeit des Vyborger Rayon-Komitees der Bolschewiki zwischen 1907 und 1917 wurde z. B. weitgehend von einer Landsmannschaft geleistet. Die Aktivitäten eines Großteils der vom Dorf stammenden Arbeiter waren demnach – wie in Moskau – keineswegs nur spontanes Aufbegehren, schnell entflammt und ebenso schnell wieder erloschen, sondern durchaus auch zielgerichtet, bewußt und auf Dauer angelegt.19 Die große Zahl von Bauern, die in den beiden Metropolen Arbeit in Industriebetrieben suchten, verschärfte vermutlich die sozialen Spannungen: Die Umgewöhnung an neue Arbeits- und Lebensverhältnisse sowie der Konflikt von dörflichen Traditionen und Verhaltensweisen mit andersartigen Wertvorstellungen und Handlungsstrategien erhöhte die »Reizschwelle« der Zuwanderer. Zugleich aber gelang es vielen – offenbar anders als in Lodz – durch das verhältnismäßig enge Netz an Kommunikation und die Möglichkeit des Zusammenhaltes in den Landsmannschaften, nicht bei einer individuellen Verweigerungshaltung oder einem kurzfristigen Aufbegehren stehenzubleiben, sondern gemeinschaftlich und bewußt aufzutreten. In Petersburg waren die Bindungen an das heimatliche Dorf schwächer ausgeprägt als in Moskau; überkommene Kommunikations- und Verhaltensweisen übten jedoch immer noch einen erheblichen Einfluß aus. Vielleicht erklärt dies, warum sich hier die Neuankömmlinge schneller in das ansässige Proletariat integrierten und auch »politischer« agierten. Dabei kam es keineswegs zu einer völligen Unterordnung unter eine Partei – trotz der starken Stellung der Bolschewiki –, häufig erwies sich die »Basis« als das vorwärtstreibende Element. Auf jeden Fall machte es die spezifische Stärke der russischen Arbeiterbewegung zumindest in den beiden Hauptstädten aus, daß sich ländliche und städtische Verhaltens- und Kampfformen verbanden (statt in einen schwer überbrückbaren Gegensatz zu geraten). 19 Thomas Steffens, Die Arbeiter von Petersburg 1907 bis 1917. Soziale Lage, Organisation und spontaner Protest zwischen zwei Revolutionen. Freiburg 1985; Bonell: Roots (wie Anm. 18); Mary Frances Desjeans, The Common Experience of the Russian Working Class: The Case of St. Petersburg 1892–1904. Ph. D. Duke University 1978; Ė. Ė. Kruze, Peterburgskie rabočie v 1912–1914 godach. Moskva/Leningrad 1961; dies., Uslovija truda i byta rabočego klassa Rossii v 1900–1914 godach. Leningrad 1981; Natalija Vasil’evna Juchneva, Die Migrationsbewegungen nach Petersburg und ihre ethnischen Strukturen am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Bildungsgeschichte, Bevölkerungsgeschichte, Gesellschaftsgeschichte in den böhmischen Ländern und in Europa. Festschrift für Jan Havránek zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hans Lemberg u. a. Wien, München 1988, 350–369. Vgl. auch Reginald E. Zelnik, Labor and Society in Tsarist Russia. The Factory Workers of St. Petersburg, 1855–1870. Stanford, Cal. 1971; James H. Bater, St. Petersburg. Industrialization and Change. London 1976.

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Darüber hinaus erleichterte es diese Verbindung aufgrund der fortbestehenden Kontakte vieler Arbeiter zum Dorf, Arbeiter- und Bauernbewegung partiell anzunähern: Ohne dies wären die Revolutionen von 1917 nicht möglich gewesen. III.

Der skizzenhafte Vergleich zwischen den vier Städten und Regionen hat gezeigt, daß den Beziehungen zwischen Stadt und Land überall eine hohe Bedeutung für gesellschaftliche Konfliktlagen zukommt. Um ihre jeweiligen Besonderheiten herauszufiltern, muß zunächst die Stellung der Stadt in ihrem Um- und Hinterland20 gekennzeichnet werden: Wie stark ist die (traditionelle) zentrale Funktion der Stadt? Welche Rolle spielt sie in der Marktregion? Inwieweit konzentrieren sich hier Handel und Gewerbe – und mit welcher Branchenstruktur –, oder wie verteilen sie sich über die Region? Entsprechend unterschiedlich greift die Industrialisierung in die Stadt-Land-Beziehungen ein. In einer künstlichen Industriestadtgründung wie Lodz etwa müssen Fabriken, Unternehmer und Arbeiter ein anderes Gewicht erhalten als in traditionellen, vielfältig strukturierten Metropolen wie Warschau. Nur in den beiden polnischen Städten traten die Juden in Verbindung mit dem Stadt-Land-Problem als Konfliktpotential oder als Katalysator in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf; aus Moskau und Petersburg wurden sie als Massenerscheinung durch gesetzliche Regelungen ferngehalten. Sie stellten vom 16. bis 18. Jahrhundert die hauptsächlichen Mittler zwischen Stadt und Land. Diese Funktion veränderte sich mit dem Übergang zum Kapitalismus und zur Industrialisierung. Die in die Städte strömenden Juden schufen neue Konfliktlagen, Verdrängungswettbewerbe fanden statt, und der jüdische Unternehmer wurde vielfach zum Synonym für den ausbeuterischen Kapitalisten, den man zudem oft noch als Gegner im nationalen Kampf ansah. In einer anderen Weise berührten die Stadt-Land-Beziehungen die Ausbildung der Unternehmerschaft in den russischen Regionen. Der »Moskauer« Unternehmertyp ist ohne die Besonderheiten des Stadt-Land-Verhältnisses nicht denkbar, insgesamt bedingte dies – direkt oder indirekt – die Heterogenität und gesellschaftliche »Schwäche« der russischen Großbourgeoisie. Ähnliches gilt für Formierung und Verhalten der Arbeiterschaft in den beiden russischen Hauptstädten. In unterschiedlicher Intensität zeigten sich spezifische Kommu20 Zur Differenzierung dieser Bereiche vgl. Vera Bácskai, Budapest und sein Umland in der Zeit der Frühindustrialisierung (Erste Hälfte des 19. Jahrhunderts), in: Zentrale Städte (wie Anm. 1 ), 112–125, hier 113.

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nikations- und Handlungsformen der zugewanderten Bauern, die sich stark auf die sozialen Konflikte auswirkten. Die massenhafte Immigration veränderte im übrigen hier wie in Warschau und Lodz die Stadtlandschaft und führte zu neuartigen sozialen Spannungen; in den polnischen Städten verschärfte sie zudem die nationalen und religiösen Gegensätze. Die unterschiedliche Ausprägung der Konflikte hing nicht zuletzt vom Ausmaß der Zuwanderung, vom städtischen Integrationsangebot sowie von der Intensität dörflicher Traditionen und der Bindung ans Land ab. Die Frage nach den Stadt-Land-Beziehungen erweist sich demnach als fruchtbar, um die jeweiligen Besonderheiten in den einzelnen Regionen während des Industrialisierungsprozesses und insbesondere bei Konfliktlagen während dieser Zeit zu erklären. Sie schärft unseren Blick, um etwa über die Untersuchung von ökonomischen Mittlerfunktionen, von dörflich bestimmten Kommunikationsund Organisationsformen oder von Landbindungen der Arbeiter zum Kern von gesellschaftlichen Spannungen und Auseinandersetzungen vorzustoßen. IV.

Ein flüchtiger Ausblick sei auf die Zeit nach 1914 geworfen. In Polen setzten sich die Konfliktlinien auch nach Wiedergewinn der staatlichen Unabhängigkeit 1918 im großen und ganzen fort. Die Juden gerieten immer tiefer in das Spannungsfeld sozialer und nationaler Auseinandersetzungen, die sich auch im Parteienspektrum und im Parlament widerspiegelten. Die Tendenz, daß Judenfeindschaft jetzt weniger aus der traditionellen Funktion von Juden zwischen Stadt und Land, sondern eher aus dem Verdrängungswettbewerb in den Städten erwuchs, verschärfte sich zusehends. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, die den Prozeß von Industrialisierung und Urbanisierung in der polnischen Republik begleiteten, erweiterten im übrigen die Kluft zwischen Stadt und Land, anstatt sie zu verringern.21 21 Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen (wie Anm. 11), bes. 181 ff.; Pawel Korzec, Der Block der Nationalen Minderheiten im Parlamentarismus Polens, in: Zeitschrift für Ostforschung 24, 1975, 193–220; ders., Juifs en Pologne. La question juive pendant l’entre-deux­-guerres. Paris 1980; Dietrich Beyrau, Antisemitismus und Judentum in Polen, 1918–1939, in: Geschichte und Gesellschaft 8, 1982, 205–232; Rachel Heuberger, Die jüdischen Parteien im polnischen Parlament nach dem Ersten Weltkrieg, in: Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Hrsg. von Michael Brocke. Frankfurt a. M. 1983, 237–259; Ezra Mendelsohn, The Jews in East Central Europe between the World Wars. Bloomington 1983; Joseph Marcus, Social and Political History of the Jews in Poland, 1919–1939. Berlin/New York/Amsterdam 1983; Janusz Żarnowski, Społeczeństwo Drugiej Rzeczypospolitej 1918–1939. Warszawa 1973; Zbigniew Landau/Jerzy Tomaszew-

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Allerdings entluden sich die Gegensätze nicht so heftig wie in Rußland nach der Oktoberrevolution von 1917. In den Monaten zuvor war es zu bislang nicht gekannten unmittelbaren Kontakten zwischen Industriebetrieben und Dörfern gekommen, die oft von den neu gebildeten Fabrikkomitees organisiert wurden: Man sah keine andere Möglichkeit mehr, die Ernährung der Arbeiter sicherzustellen (oder auch Brennmaterialien und agrarische Rohstoffe für den Betrieb zu erhalten).22 Daraus gewannen gerade einige Bolschewiki die Hoffnung, es sei möglich, sogar auf gesamtstaatlicher Ebene einen unmittelbaren Austausch zwischen Stadt und Land aufzubauen. Diese Hoffnungen mündeten bald in eine Konzeption, wie selbst unter den ungünstigen wirtschaftlichen Voraussetzungen in Rußland während eines überschaubaren Zeitraumes der Sozialismus erreicht werden könne. In einer ersten, sehr kurzen Phase werde es einen inäquivalenten Austausch zwischen Stadt und Land geben, in der die Städter zu »Schuldnern des Bauern« (Lenin) würden, weil sie, um die Industrie rasch wieder herzustellen, wertmäßig mehr von diesen bezögen, als sie in die Dörfer lieferten. Als gewissen Ausgleich betrachtete man die Agrarreform zugunsten der Bauern, die unmittelbar nach dem Oktoberumsturz beschlossen worden war und die Enteignung der Großgrundbesitzer sowie die Verteilung der Gutsländereien unter die Bauern vorgesehen hatte. Die zweite Phase sollte dann von einem äquivalenten Warenaustausch gekennzeichnet sein, der zwar noch kapitalistische Elemente enthalte, jedoch bereits vom Staat planmäßig reguliert werde. In der dritten Phase des unmittelbaren Produktenaustausches sei schließlich die Warenform verschwunden, die freie Bedürfnisbefriedigung werde möglich. Gerade in Rußland mit seinen besonderen Traditionen könnten die Gegensätze zwischen Stadt und Land verhältnismäßig rasch abgebaut und damit eine – nach Marx – wesentlichen Ursache für gesellschaftliche Arbeitsteilung und Klassenbildung beseitigt werden.23 Die weit gespannten Erwartungen stießen schnell mit der Wirklichkeit zusammen. Die Konzeption war vermutlich zu sehr »von außen«, von der Stadt her gedacht – ein Grundzug, der auch die spätere Agrarpolitik der Kommunisten begleitete24 –, und sie berücksichtigte zu wenig inzwischen eingetretene ski, Zarys historii gospodarczej Polski 1918–1939. 3Warszawa 1971; Jerzy Tomaszewski, Rzeczpospolita wielu narodów. Warszawa 1985. 22 Vgl. z. B. Fabrično-zavodskie komitety Petrograda v 1917 godu. Protokoly. Red.: I. I. Minc u. a. Moskva 1979, 82, 134, 297, 302, 313, 344, 396, 476–477, 577–579. 23 Zu einer ausführlichen Darstellung dieser Konzeption und ihrer Probleme vgl. meinen Aufsatz: Die russische Revolution und ihre ersten Versuche sozialistischer Wirtschaftspolitik, in: Das Argument 15, 1973, Nr. 82, 768–803, hier bes. 791 ff. 24 Sehr anschaulich macht das deutlich Helmut Altrichter, Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung. München 1984.

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Entwicklungen sowie Vorstellungen und Wünsche der Bauern. Als die Ausweitung der Tauschkontakte zwischen Betrieben und Dörfern nicht funktionierte, versuchte die Sowjet-Regierung, den Austausch zwischen Stadt und Land zu erzwingen. Mit verschiedenen Maßnahmen führte sie 1918/19 die »ausgleichende Verteilung« (razvërstka) ein, die zum Ziel hatte, eine gleichmäßige Versorgung von Überschüsse produzierenden und defizitären Agrargebieten, von armen und reicheren Bauern sowie von Stadt und Land sicherzustellen. Als materielle Grundlage diente die dekretierte Verpflichtung für die Bauern, alle Überschüsse über einer bestimmten Norm an staatliche Organe abzuliefern. Dafür sollten sie Gegenwerte in städtischen Waren, in industriellen Konsumgütern oder Inventar erhalten. Zwar unternahmen die Staatsorgane einige Anstrengungen, um tatsächlich einen Warenfluß in Richtung Dorf einzuleiten, doch gab es vielfach nur solche Güter, mit denen die Bauern wenig anzufangen wußten. In der Führung hoffte man, daß die Bauern die Politik des inäquivalenten Austausches eine Weile tolerieren würden. Dies war jedoch nicht der Fall. Zahlreiche Bauern sahen darin eine Fortsetzung, ja eine Verschärfung der schon früher erkennbaren Linie, daß an ihren Bedürfnissen im wesentlichen vorbeiproduziert wurde. Sie erinnerten sich nicht zuletzt an die Benachteiligungen im Ersten Weltkrieg, als sie unter recht drastischen staatlichen Eingriffen zu leiden gehabt hatten, darunter ebenfalls einem Versuch der Getreideablieferungspflicht (1916) und des staatlichen Getreidemonopols (1917). Eine beträchtliche Anzahl verweigerte sich deshalb der sowjetischen Politik, handelte verstärkt auf dem Schwarzmarkt oder erhöhte den Eigenverbrauch.25 Die Bolschewiki antworteten darauf mit einer Verschärfung der Ablieferungspflicht, der sie – als der Erfolg ausblieb – mit bewaffneten Requirierungstrupps in den Dörfern Nachdruck verlieh. Dieser Konflikt eskalierte in blutigen Auseinandersetzungen, die um so heftiger ausfielen, als ringsum der Bürgerkrieg tobte und die Versorgungslage in den Städten immer schlechter wurde. 1920/21 kam es zu regelrechten Bauernaufständen – ein Höhepunkt des Stadt-Land-Gegensatzes, den man doch eigentlich aufheben wollte. Er fiel aufgrund der materiellen Not in eine Zeit der Stadtflucht, der Desurbanisierung: Allein Petrograd verlor zwischen 1918 und 1920 die Hälfte seiner Einwohnerschaft, Moskau 45 %.26 25 Vgl. mit weiteren Nachweisen: Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 3: 1856–1945.

Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. Hrsg. von Gottfried Schramm. 1. Halbbd. Stuttgart 1983, 518–519, 592–593, 713–714; Haumann, Kapitalismus (wie Anm. 17), 134–137, 162. 26 Heiko Haumann, Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrußlands 1917–1921. Düsseldorf 1974, 41 ff., 148 (Einwohnerzahlen), 151 ff., 182 ff.; Gert Meyer, Studien zur sozialökonomischen Entwicklung Sowjetrußland 1921–1923. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land zu Be-

Vier Regionen im östlichen Europa (1850–1917) 

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Der Stadt-Land-Gegensatz drohte die neue Ordnung hinwegzufegen. Die Sowjetregierung gab 1921 nach und ließ den freien Markt für Agrarerzeugnisse in gewissen Grenzen wieder zu, ja erleichterte auch in anderen Punkten die Lage der Landwirtschaft. Die Bauern konnten allerdings nicht so schnell gewonnen werden, zumal das städtische Warenangebot auch weiterhin hinter ihren Erwartungen zurückblieb und dadurch immer wieder Engpässe im Austausch auftraten. Diese Störungen waren ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Entscheidung Ende der zwanziger Jahre, nicht nur das Industrialisierungstempo zu beschleunigen, sondern auch die Kollektivierung in einem vorher nicht geplanten Ausmaß voranzutreiben, um ein für allemal die Schwierigkeiten mit den Bauern zu lösen. Die rücksichtslose Durchführung dieser Politik machte diese allerdings erst recht nicht zu Anhängern der Sowjetordnung und schuf neue Probleme, die für lange Zeit nachwirkten. Im übrigen wiederholten sich jetzt die Anpassungsprozesse derjenigen Arbeitskräfte, die massenhaft aus den Dörfern in die Industriebetriebe kamen. Inwieweit sie den Konflikt mit dem Staat verarbeiteten und ob sie deshalb auf die ungewohnten Verhältnisse am Arbeitsplatz und am Wohnort anders reagierten als die Arbeiter vor dem Ersten Weltkrieg, ist noch nicht untersucht.27 Jedenfalls führte die praktische Politik der Bolschewiki, entgegen ihren ursprünglichen Absichten, zu einem bislang nicht gekannten Gegensatz zwischen Stadt und Land. Für die Bauern wurde der Städter, oft mit dem Kommunisten identifiziert, nun viel stärker als früher zum Feind, von dem nur Schlechtes zu erwarten war. Umgekehrt empfanden viele Städter jetzt den Bauern als Gegner, der ihnen bewußt Lebensmittel vorenthielt und damit auf dem Schwarzmarkt spekulierte. Während sich auf dem Land antimodernistische und antirationalistische Haltungen versteiften, vereinzelt auch antisemitische Vorstellungen aufkamen, die die verhältnismäßig zahlreichen Juden unter den führenden Bolschewiki zum Anlaß nahmen, betrachtete man in der Stadt das Dorf zunehmend als rückständig und unzivilisiert – die beiden Lebenswelten entfremdeten sich immer mehr voneinander.28

ginn der Neuen Ökonomischen Politik. Köln 1974, bes. 21 ff., 77 ff.; Oliver H. Radkey, The Unknown Civil War in Soviet Russia. A Study of the Green Movement in the Tambov Region 1920–1921. Stanford, Cal. 1976. 27 Handbuch (wie Anm. 25), 716 ff., 737 ff., 2. Halbb. (bislang als Lieferungen), 811  ff, 1212 ff., 1275 ff. 28 Vgl. Altrichter, Bauern (wie Anm. 24); Handbuch (wie Anm. 25), 767 ff. – In dieser Entwicklung seit 1917 liegen interessante Vergleichsmöglichkeiten mit Klaus Tenfeldes Beitrag in diesem Band [gemeint ist der Band der Erstpublikation].

»Das kleine Bäuerlein elektrifizieren ...« Agrarfrage und Agrarpolitik in Russland von der Bauernbefreiung bis zur Kollektivierung*

»Eine traurige Erscheinung« sei es, »das kleine Bäuerlein zu elektrifizieren«. Man müsse an die Sache völlig anders herangehen, nämlich »große Güter als Zelle einer neuen Ordnung und Nutzung des Landes« schaffen, die rationell wirtschaften und »die ganze Psychologie des Dorfes ändern« würden.1 Als der Wirtschaftsfachmann G. A. Fel’dman am 26. Juni 1920 diese Meinung auf einer Sitzung der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Russlands – GOĖLRO – äußerte, ging es darum, nach der politischen Umwälzung durch die Oktoberrevolution von 1917 und auf der Grundlage der Erfahrungen, die man seitdem mit den Bauern gemacht hatte, Leitlinien für eine zukünftige sozialistische Argarpolitik zu formulieren, die die russische Landwirtschaft auf ein neues Fundament stellen sollte. Das Zitat ist außerordentlich aufschlussreich. Es weist auf grundlegende Strukturprobleme hin: Das »kleine Bäuerlein«, nicht der Großbetrieb ist offenbar der vorherrschende Typus im Dorf, und dieses »kleine Bäuerlein« wirtschaftet nicht rationell, jedenfalls nicht mit modernen technischen Mitteln. Als Entwicklungsmöglichkeiten stehen sich grob zwei Konzepte gegenüber. Das eine setzt auf die traditionelle Form des Kleinbetriebs und will ihn modernisieren, das andere auf große Güter, die die Landwirtschaft vollkommen umgestalten würden. In der Tat liegt hier die gesamte Geschichte der Agrarproblematik Russlands offen vor uns. Am Vorabend der Bauernbefreiung von 1861 stellten die Bauern über 80 Prozent der Bevölkerung. Im europäischen Teil des Zarenreiches lebten die meisten von ihnen in der Leibeigenschaft. Diese hatte sich wesentlich später als in Westeuropa in engem Zusammenhang mit dem Aufstieg des Moskauer Großfürsten- und dann Zartums herausgebildet, um die Dienstadligen des Herrschers zu versorgen und Abwanderungsbewegungen der Bauern einzuschrän* Erstpublikation in: Deutschland – Russland. 175 Jahre Universität Hohenheim. Studium generale Wintersemester 1993/94. Hg. von Jochem Gieraths. Stuttgart-Hohenheim 1994, S. 61–78. 1 Zitiert in: Heiko Haumann: Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands 1917–1921. Düsseldorf 1974, S. 122. – Im Text ist der Charakter meines Vortrages vom 6. Dezember 1993 an der Universität Hohenheim beibehalten worden. Die Anmerkungen enthalten lediglich die notwendigen Belege sowie Hinweise auf weiterführende Literatur.

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ken, ja schliesslich ganz zu verhindern. 1649 wurde die Schollenpflichtigkeit gesetzlich festgeschrieben, aus der dann in der folgenden Zeit – gegen massiven Widerstand der Bauern – eine faktische Leibeigenschaft erwuchs. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte etwa die Hälfte der Bauern adligen Gutsherren, die andere hatte es als »Staatsbauern« unmittelbar mit Vertretern der Staatsgewalt zu tun. Nachdem die Zarin Katharina II. gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihnen allen das Beschwerderecht genommen und gnadenhalber den Gutsherren eine kaum beschränkte Macht gewährt hatte, konnten diese – wie die Zarin oder der Zar selbst auch – »ihre« Bauern verkaufen, verspielen, verpfänden, verschenken, Unternehmen als Arbeitskräfte »zuschreiben«, zum Militärdienst auswählen, die Heiratserlaubnis versagen, bestrafen, in die Verbannung schicken. Der Willkür standen Tür und Tor offen. Doch dies war nur die eine Seite. Der Willkür wurden dadurch Grenzen gesetzt, dass eigentlich weder Gutsherr noch Staat Interesse daran haben konnten, »ihre« Bauern zu ruinieren. Es hing also sehr viel von der einzelnen Person und seiner Einsicht ab. Die persönliche Abhängigkeit als Leibeigener konnte auch Schutz durch den Herrn bedeuten. Schutz gewährte vor allem aber in weiten Teilen Russlands die Institution der Dorfgemeinde, der obščina. Sie war im Zuge der zarischen Herrschaftsbefestigung und der Ausweitung der Leibeigenschaft bewilligt worden, damit im Dorf die Steuern eingezogen und bestimmte Verwaltungsaufgaben erfüllt werden konnten. Auf rein bürokratischem Wege »von oben« wäre dies kaum möglich gewesen. Zu diesem Zweck erhielt die obščina gewisse Selbstverwaltungsrechte. Sie legte fest, wie die Verpflichtungen gegenüber Grundherr und Staat zu erfüllen waren, regelte vielfach die Fruchtfolge auf den Feldern der Gemeinde und bestimmte über weitere wichtige innere Angelegenheiten. Namentlich verfügte sie über den Grund und Boden des Dorfes und verteilte ihn in periodischen Abständen neu unter den Höfen, in der Regel nach der Zahl der Familienangehörigen oder zumindest der Arbeitskräfte. Dies hatte zur Folge, dass sich ein Zusammenhang zwischen Haushaltsgröße und relativem Wohlstand einstellte. In der typischen russischen Familie lebten mindestens zwei Generationen miteinander, also Eltern mit ihren Söhnen und deren Frauen sowie mit den unverheirateten Töchtern; oft kamen noch Großeltern, Onkel und Tanten oder sonstige Angehörige der Großfamilie hinzu. Sie teilten sich den Platz in einer ein- bis zweiräumigen Wohnhütte, der izba. Der deutsche Agrarexperte August Freiherr von Haxthausen schrieb in den vierziger Jahren nach einer Studienreise durch Russland: »Eine zahlreiche Familie ist nirgends ein größerer Segen, als bei den russischen Bauern! Die Söhne erwerben dem Familienhaupte stets neue Landanteile, die Töchter sind eine so gesuchte Ware, dass man kaum eine Mitgift verlangt, ja vielleicht noch dafür zahlen möchte. In Westeuropa ist für die niedern Stände die größte Last

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und Plage, viele Kinder zu haben, in Russland bilden sie für den Bauern den größten Reichthum!«2 Der Sinn dieser Landverteilung durch die Dorfgemeinde lag darin, dass dadurch die Steuerbelastung gleichmäßig und gerecht zugemessen werden sollte. Die gesamte Gemeinde haftete solidarisch für das Steueraufkommen, und deshalb wollte man möglichst keine größeren sozialen Unterschiede, deshalb ließ man es auch nicht zu, dass jemand unkontrolliert einfach wegzog. Dieses System bewahrte jedoch zugleich die Dorfbewohner vor vollständiger Verarmung. Selbst wer nicht mehr arbeiten konnte, wurde mitversorgt. Darüber hinaus erwies sich die obščina als flexibel genug, sich an besondere wirtschaftliche Bedingungen anzupassen. So erlaubten es die Dorfgemeinden in der Regel, dass in den weniger fruchtbaren Gegenden Russlands, in denen statt Fronarbeit auf den herrschaftlichen Feldern Geldabgaben – meist aus hausgewerblichen Einnahmen – üblich waren, manche Bauern mit Erlaubnis des Gutsherrn oder des staatlichen Verwalters das Dorf verließen, um Handel zu treiben, sich als Lohnarbeiter zu verdingen oder sogar regelrechte Unternehmen aufzubauen. Voraussetzung war allerdings, dass sie ihren Steueranteil, möglichst im voraus, entrichteten – so wie natürlich auch der Gutsherr Anspruch auf den größten Teil des Gewinns erhob. Immerhin gelang es doch einigen Bauern, mit oder ohne Einverständnis ihrer Herrschaften derart gute Geschäfte zu machen, dass die Grundlage für einen steilen Aufstieg geschaffen werden konnte. Zu Beginn unseres Jahrhunderts zählten die wichtigsten Unternehmerfamilien im Moskauer Raum bäuerliche Leibeigene zu ihren Vorfahren.3 Bei all den Vorteilen dieser ländlichen Ordnung war dennoch die Überzeugung weit verbreitet, dass eine grundlegende Reform nicht zu vermeiden sei. Mit der jetzigen Struktur könne weder eine Industrialisierung vorangetrieben noch ein wesentlicher Produktivitätsfortschritt in der Landwirtschaft erreicht 2 August v. Haxthausen: Studien über die innen Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Russlands. 2 Teile. Hannover 1847, S. 128. Als Überblick vgl. hier und im folgenden Heiko Haumann: Von der Leibeigenschaft zur Kollektivierung. Bauern im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Journal Geschichte (1989) H. 4, S. 35–43. Zur Bevölkerungsentwicklung und Sozialschichtung s. Ralph Melville, Thomas Steffens: Die Bevölkerung. In: Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3: 1856–1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. Hg. von Gottfried Schramm. 2. Halbband. Stuttgart 1992, S. 1009–1191. 3 Vgl. zu diesen Möglichkeiten Heiko Haumann: Unternehmer in der Industrialisierung Russlands und Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhanges von Herkunft und politischer Orientierung. In: Scripta Mercaturae 20 (1986) S. 143–161; ders.: »Ich habe gedacht, dass die Arbeiter in den Städten besser leben.« Arbeiter bäuerlicher Herkunft in der Industrialisierung des Zarenreiches und der frühen Sowjetunion. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 43 (1993) S. 42–60.

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werden. Die Bevölkerung in den Dörfern wuchs stark an, entsprechend verringerte sich die Größe des Bodenanteils, der vom Einzelnen bewirtschaftet werden konnte. Zwar wurden noch nicht einmal zehn Prozent des Bodens im Zarenreich agrarisch genutzt, doch eine Kolonisation von Neuland musste aufgrund der klimatischen und geographischen Bedingungen schnell an ihre Grenzen stossen. Die Mehrzahl der vielen kleinen und mittleren Adligen war damit überfordert, einen ökonomischen Ausweg aus dieser Lage zu finden, im Gegenteil auf die Produktion »ihrer« Bauern angewiesen. Immer wieder kam es deshalb zu Reformdiskussionen. Ein Teil der Vorschläge zielte auf eine Aufhebung der Leibeigenschaft ab. Man konnte sich allerdings nicht über die Art der Durchführung einigen, fürchtete auch den Widerstand des Adels, der seine Vorrechte und seine wirtschaftliche Existenzgrundlage bedroht sah. Zugleich war im grundbesitzenden Adel wie bei den Repräsentanten des Staates die Angst vor bäuerlichen Reaktionen weit verbreitet. Zu gut erinnerte man sich noch an die großen Volksaufstände im 17. und 18. Jahrhundert. Nach wie vor vertraten die Bauern die Rechtsvorstellung, das Land gehöre eigentlich ihnen und sei ihnen vom Adel geraubt worden. Eine Abschaffung der Leibeigenschaft ohne ausreichende Landzuteilung – wie es einigen Reformern im Interesse des Adels vorschwebte, um die Bauern dann zu zwingen, sich als Landarbeiter auf den Gütern zu verdingen oder in die Städte zu ziehen und dort als billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stehen – würden diese demnach nicht mitmachen. Insofern erlebten vorerst nur diejenigen Reformvorhaben eine Konkretisierung, die sich mit Verbesserungen im Rahmen des bestehenden Systems beschäftigten. Auch sie bildeten jedoch eine wichtige Voraussetzung für die Produktion in einer Landwirtschaft ohne Leibeigene. Seit langem widmeten besondere Organisationen, vor allem die bereits 1765 entstandene Freie Ökonomische Gesellschaft, ebenso wie staatliche Stellen Fragen der Landwirtschaft grosse Aufmerksamkeit. Das reichte von Problemen der Bodennutzung und der Tierzucht bis hin zu Bereichen der Marktbeziehungen und des Verkehrswesens. Untersuchungsergebnisse und Vorschläge wurden veröffentlicht und Ausstellungen veranstaltet, um die Kenntnisse zu erweitern und Änderungen anzuregen. Genau wurden dabei Entwicklungen im Ausland verfolgt, zumal traditionell gute Beziehungen zu ausländischen wissenschaftlichen Einrichtungen bestanden. Ein Beispiel mag verdeutlichen, wie man hier vorging. Der spätere Professor A. V. Sovetov war am Geistlichen Seminar auch in dem 1840 eingeführten Fach Landwirtschaft ausgebildet worden; die zukünftigen Priester sollten sich in ihrer Gemeinde nützlich machen und etwas von dem dortigen Arbeitsbereich verstehen. Anschließend schickte ihn das Ministerium an das Agrar-Institut in Gory-

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Gorki im Gouvernement Mogilev, das ihn gerne als Lehrer behalten wollte und deshalb seine Befreiung aus dem Geistlichen Stand erwirkte. Nachdem er zum Agronomen ernannt worden war, trat er in den Dienst des Departements für Landwirtschaft im Ministerium der Reichsdomänen. In dessen Auftrag unternahm er verschiedene Inlandsreisen, um sich über die Zuckerrübenproduktion, das Weinbrennen und die Bierbrauerei zu informieren. 1853 wurde Sovetov ins Ausland entsandt, um seine Kenntnisse zu vervollkommnen. Den wichtigsten Teil seines zweijährigen Studiums verbrachte er – nicht zufällig – an der Landwirtschaftlichen Akademie Hohenheim. Von der Gründung durch die Zarentochter Katharina, die Gemahlin des Königs von Württemberg, 1818 an war eine enge Verbindung bestehen geblieben. So hatte 1842 der Pflanzen- und Gartenbauspezialist Nikolaj I. Železnov hier studiert, bevor er 1847 Professor an der Moskauer Universität, 1857 Akademiemitglied und dann Gründungsrektor der 1861 angekündigten und 1865 gegründeten Landwirtschaftlichen Akademie in Petrovskoe bei Moskau wurde. Angeregt worden war diese Gründung durch die Kaiserliche Landwirtschaftliche Gesellschaft, die ebenfalls gute Beziehungen zur Hohenheimer Akademie pflegte; deren Rektor Heinrich Wilhelm Papst, Spezialist für landwirtschaftliche Taxationslehre etwa, gehörte um die Jahrhundertmitte zu ihren Mitgliedern. Doch zurück zu Sovetov. Nach seiner Rückkehr aus dem Ausland übte er in verschiedenen Funktionen eine Lehrtätigkeit am Agrar-Institut von GoryGorki aus und bereiste erneut verschiedene Regionen des Reiches, um landwirtschaftliche Probleme auch praktisch kennenzulernen. Eine Berufung nach Kazan’ schlug er aus und ging lieber nach St. Petersburg, wo er auch schließlich Professor wurde. Wir verdanken ihm eine hohe Zahl von kleineren und größeren Publikationen. Besondere Bedeutung hatte seine Magisterdissertation von 1859 (den Doktorgrad, der unserer Habilitation entspricht, erwarb er erst 1867, nachdem er schon Professor war, weil es erst seit 1864 die Möglichkeit gab, Doktor der Agrarwissenschaft zu werden – auch das zeigt den gestiegenen Stellenwert des Faches). In dieser Arbeit beschäftigte er sich mit dem Anbau von Futtergräsern. Sie erzielte eine große Wirkung, erreichte vier Auflagen und soll auch von den Bauern als Nachschlagewerk benutzt worden sein. Allerdings konnten zu dieser Zeit nur wenige lesen: Über 80 Prozent waren Analphabeten. Sovetov verfasste deshalb 1885 eine Kurzversion seines Buches, das mit 10000 Exemplaren in einer Alphabetisierungskampagne eingesetzt wurde.4 4 Die Angaben zu Sovetov verdanke ich Trude Maurer, die in ihrer Habilitationsschrift ausführlich auf ihn eingehen wird: Hochschullehrer im Zarenreich. Ein Beitrag zur russischen Sozial- und Bildungsgeschichte [Köln u.a. 1998]. Zur Verbindung zwischen Hohenheim und der Petrovskaja-/Timirjazev-Akademie vgl. Jochem Gieraths: Aus der Geschichte Hohenheims. Gedanken zum 175-jährigen Jubiläum der Universität Hohenheim. Vor-

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Damit befinden wir uns schon in der Zeit nach der Bauernbefreiung. Nach der Niederlage im Krimkrieg 1853 bis 1856 und dem Amtsantritt des neuen Zaren Alexander II. 1855 war die Bereitschaft gestiegen, durch eine grundlegende Reform neue Kraft zu gewinnen. Widerstrebende Adlige wusste der Zar nicht zuletzt damit zum Nachgeben zu veranlassen, dass er das Gespenst eines neuen Bauernaufstandes an die Wand malte. So gewährte dann das Gesetz vom 19. Februar 1861 den Bauern die persönliche Freiheit und entließ sie aus der Leibeigenschaft. Allerdings bedeutete dies keineswegs einen radikalen Bruch mit den vorangegangenen Verhältnissen. Zahlreiche Abhängigkeiten gegenüber den Adligen blieben bestehen, mussten nun allerdings vertraglich geregelt werden, um willkürliche Handlungen zu unterbinden. Auf diese Weise wollte der Staat die Interessen vor allem des kleinen und mittleren Adels schützen, die sonst mit den neuen ökonomischen Bedingungen nicht fertig geworden wären. Die Adligen erhielten ebenfalls beträchtlichen Spielraum bei der Neueinteilung der gutsherrlichen und bäuerlichen Felder. Nach einer Übergangszeit konnten die Bauern ihren Hof und ihr bisheriges Nutzungsland kaufen. Da sie meistens nicht über genügend Geld verfügten, mussten sie ihre Schulden beim Gutsherrn abarbeiten, oder der Staat schoss ihnen den größten Teil der Summe als Darlehen vor. Wer diesen Weg wählte – oft reichte es trotzdem nicht zum Erwerb tragsmanuskript 1992; Die Universität Hohenheim zwischen Herkunft und Zukunft. 1818–1993. Hg. von der Universität Hohenheim, Projektleitung Jochem Gieraths. Stuttgart 1993, S. 4–19; Klaus Herrmann: Vom Landwirtschaftlichen Institut zur Universität. Streiflichter aus der 175jährigen Geschichte der Universität Hohenheim. In: 175 Jahre Universität Hohenheim. Gemeinsame Sonderveröffentlichung der drei regionalen landwirtschaftlichen Wochenblätter für Baden-Württemberg. Freiburg i. Br., Stuttgart, Ravensburg 1993, S. 8–13. Zu Železnov: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija. 3. Ausgabe. Band 9. Moskau 1972, S. 387; K. V. Manojlenko: Nikolaj Ivanovič Żeleznov. Moskau, Leningrad 1965. Zur Landwirtschaftsverwaltung sowie zu der Landwirtschaftlichen Akademie und dem Agrarinstitut: Erik Amburger: Geschichte der Behördenorganisation Russlands von Peter dem Großen bis 1917. Leiden 1966, S. 243–250, 492–493. Zur Analphabetenrate in den sechziger Jahren liegen nur Schätzungen vor; nach der Volkszählung von 1897 waren noch 83 % der Landbevölkerung nicht lesefähig (75 % der Männer, 90 % der Frauen; in der Gesamtbevölkerung betrugen die entsprechenden Raten 79/71/87 %). Vgl. Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija. 1. Ausgabe. Band 36. Moskau 1938, Sp. 820; umfassend: Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897. Hg. von Henning Bauer, Andreas Kappeler und Brigitte Roth. 2 Bände. Stuttgart 1991, Band 1 (A), S. 360– 372, Band 2 (B), S. 96. Welche Bildungsanstrengungen im Dorf unternommen wurden, zeigt Ben Eklof: Russian Peasant Schools. Officialdom, Village Culture, and Popular Pedagogy, 1861–1914. Berkeley u.a. 1986. Bis Ende der dreißiger Jahre kehrte sich das Verhältnis gegenüber 1897 um, jetzt gab es noch rund 20 % Analphabeten. Hierzu und zum Gesamtprozess Hans-Heinrich Nolte, Gottfried Schramm: Die Schulen und Hochschulen. In: Handbuch der Geschichte Russlands 3/2, S. 1577–1661, hier S. 1633.

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des gesamten früher bewirtschafteten Bodens –, stand nun für viele Jahre unter dem Druck, nicht nur die Steuern, sondern auch den staatlichen Vorschuss abzahlen zu müssen. Die Zahlungstermine lagen kurz nach der Ernte, so dass die Bauern alle Produkte, die sie nicht selbst benötigten, fast gleichzeitig auf den Markt werfen mussten, um Geld zu bekommen (für den Staat im übrigen ein gern gesehenes Druckmittel, um möglichst viel Getreide für den Export zu bekommen). Aufgrund des hohen Angebotes sanken natürlich die Preise. Nur die wenigsten Bauern konnten letztlich ihre Schulden abtragen. 1905 musste der Staat die Reste endgültig erlassen – auch er hatte ein Verlustgeschäft gemacht. Viele Bauern verzichteten von vornherein auf den Kauf und entschieden sich für den »Bettelanteil«, ein Viertel der bisherigen Ländereien. Dafür mussten sie nichts bezahlen und waren zugleich sofort von allen Verpflichtungen gegenüber dem Gutsherrn befreit. Mit diesem kleinen Landstück waren sie allerdings kaum existenzfähig. Selbst wenn es manchen doch noch gelang, in günstigen Situationen etwas hinzuzupachten oder gar zu kaufen, wurde für zahlreiche Kleinbauern sowie für die leibeigenen Diener und das Gesinde der Gutsherren die Landarmut zum ernsten sozialen Problem. Die Bauernbefreiung beseitigte somit nicht die überwiegend zu geringe Größe und unzureichende Ausstattung der Betriebe. Nur wenige große Güter konnten derartige Überschüsse erzielen, dass auch attraktive Gewinne abfielen. Um den Verarmungsprozess der Bauern aufzuhalten und zu verhindern, dass sie mehrheitlich in die Städte zögen und dort zu proletarisierten Slum-Bewohnern würden, verstärkte die Regierung das Instrument der Dorfgemeinde, das nun auf fast das gesamte Reich ausgedehnt wurde. Die Bauern blieben an sie gebunden, konnten also weiterhin nur mit deren Zustimmung und entsprechenden Steuerzahlungen das Dorf verlassen. Ebensowenig durften sie ihr Land frei veräußern, die periodische Umverteilung – allmählich pendelte sich ein zwölfjähriger Abstand als Regel ein – wurde beibehalten. So wahrte der Staat seine Vorteile, indem er die obščina die Steuern eintreiben und Verwaltungsaufgaben ausführen ließ, vermied aber auch eine Existenzvernichtung der Bauern trotz der für die Mehrzahl nachteiligen materiellen Folgen des Gesetzes von 1861. Offen blieb damit nach wie vor, wie die innere Reform der Landwirtschaft und ihre weitere Entfaltung vonstatten gehen solle. Der Unmut der Bauern war jedenfalls nicht zu übersehen. Ihre Hoffnungen auf den »Zar-Befreier« hatten sich als trügerisch erwiesen. In vielen Manifestationen, teilweise auch in gewalttätigen Auseinandersetzungen, klang die Drohung durch, man werde sich den Boden, den der Adel unrechtmäßig besitze, demnächst selbst nehmen und dadurch die eigene Landnot beseitigen. Fast die Hälfte der Dorfgemeinden im europäischen Russland unterschrieb nicht die im Gesetz vorgesehenen Verträge mit den Gutsherren, weil es sich um neues Un-

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recht handele. Die Regierung sah sich gezwungen, die gesetzlichen Bestimmungen zu ändern und die Verträge dennoch in Kraft treten zu lassen – moralisch war dies eine deutliche Niederlage.5 Insofern nimmt es nicht wunder, dass von den Stützen der zarischen Selbstherrschaft und namentlich von der Mehrheit der adligen Grundbesitzer, deren Weltbild aufgrund der ökonomischen und sozialen Veränderungen durch tiefsitzende Ängste gekennzeichnet war,6 aber auch von denjenigen, die an einer Veränderung des Gesellschaftssystem interessiert waren, die Bauern als Träger einer neuen revolutionären Bewegung gesehen wurden. Der »Gang ins Volk«, den die idealistisch gesonnenen narodniki, die »Volksverbundenen«, 1874 unternahmen, scheiterte allerdings, weil die städtischen Agitatoren den Bauern zu fremd blieben.7 Ein paar Jahre später hoffte eine Gruppe von radikalen Revolutionären, durch die Ermordung des Zaren den Bauern das Signal zur Erhebung geben zu können, weil dann der Mythos des unumschränkten Autokrators durchbrochen sei. Als die Ermordung Alexanders II. am 1. März 1881 gelang, schritten die Bauern zwar keineswegs zum Aufstand. Aber wie sehr die Furcht 5 Zur Bauernbefreiung und ihren Folgen vgl. zusammenfassend und mit weiterführenden Literaturhinweisen: Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3: 1856–1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. Hg. von Gottfried Schramm. 2 Halbbände. Stuttgart 1983 und 1992 (mehrere Autoren und Beiträge). Wichtige neuere übergreifende Arbeiten in westlichen Sprachen, die durchgängig heranzuziehen sind, ohne dass noch einmal auf sie verwiesen wird: George L. Yaney: The Urge to Mobilize. Agrarian Reform in Russia 1861–1930. Urbana u. a. 1982; Dorothy Atkinson: The End of the Russian Land Commune 1905–1930. Standford, Cal. 1983; Andreas Moritsch: Landwirtschaft und Agrarpolitik in Russland vor der Revolution. Wien u. a. 1986; David A. Macey: Government and Peasant in Russia, 1861–1906. The Prehistory of the Stolypin Reform. DeKalb 1987; Robert Pepe Donnorummo: The Peasants of Central Russia. Reactions to Emancipation and the Market, 1850–1900. New York, London 1987; Francis William Wcislo: Reforming Rural Russia. State, Local Society, and National Politics, 1855–1914. Princeton, N. J. 1990; Land Commune and Peasant Community in Russia. Communal Forms in Imperial and Early Soviet Society. Ed. by Roger Bartlett. London, New York 1990; The World of the Russian Peasant: Post-Emancipation Culture and Society. Ed. by Ben Eklof and Stephen Frank. Boston u. a. 1990; Peasant Economy, Culture, and Politics of European Russia, 1800–1921. Ed. by Esther Kingston-Mann and Timothy Mixter with the assistance of Jeffrey Burds. Princeton, N. J. 1991; Christine D. Worobec: Peasant Russia. Family and Community in the Post-Emancipation Period. Princeton, N. J. 1991; Russian Peasant Women. Ed. by Beatrice Farnsworth and Lynne Viola. New York, Oxford 1992. 6 Friedrich Diestelmeier: Soziale Angst. Konservative Reaktionen auf liberale Reformpolitik in Russland unter Alexander II. (1855–1866). Frankfurt a. M. 1985. 7 Rex Rexheuser: Der Fremde im Dorf. Versuch über ein Motiv der neueren russischen Geschichte (17.-19. Jahrhundert). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 25 (1977) S. 494–512. Vgl. zur Geschichte der revolutionären Bewegung: Handbuch der Geschichte Russlands 3/1 (mehrere Autoren und Beiträge).

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davor selbst in höchsten Kreisen verbreitet war, zeigt sich daran, dass man das Gerücht verbreitete, die Juden seien für den Mord – und auch sonst für alle Übelstände – verantwortlich, und Pogrome von Bauern an Juden förderte, um sie von anderen Möglichkeiten, ihren Unmut abzureagieren, abzulenken.8 Obwohl also die Erwartungen der Revolutionäre zunächst nicht aufgingen, setzten viele von ihnen auch in den folgenden Jahrzehnten auf die Bauern als wichtigsten Faktor der angestrebten Umwälzung. Die Lage auf dem Land war somit in den Jahrzehnten nach der Bauernbefreiung höchst angespannt. Vor allem die Landarmut bot bei wachsendem Bevölkerungsdruck immer wieder Zündstoff. Eine Reihe von Landadligen gab immerhin nach 1861 ihren Grundbesitz auf, doch konnten dadurch die Bauern ihren Bodenanteil nur wenig vergrößern. Während sie im Durchschnitt mit wenigen Desjatinen Land auskommen mussten – eine Desjatine ist etwas mehr als ein Hektar –, verfügte 1895 ein Prozent der Großgrundbesitzer über 40 Prozent des Gutslandes: Das waren 17000 Desjatinen im Durchschnitt.9 Als nach der Jahrhundertwende ein Teil des Adels versuchte, seinen Landbesitz auszudehnen, löste dies heftige Unruhen in den Dörfern aus, die schließlich in die Revolution von 1905 mündeten. Allerdings gelang es nicht, die aufständischen Bauern mit den opponierenden Arbeitern in den Städten zu einer gemeinsamen Bewegung zusammenzubringen. Dadurch war es dem Staat noch einmal möglich, die Revolution niederzuschlagen.10 Die meisten Zeitgenossen – und mit ihnen zahlreiche spätere Wissenschaftler – zeichneten vor diesem Hintergrund ein durchweg düsteres Bild dörflichen Lebens. Der Kleinbauer verarme immer mehr, die obščina verhindere eine Modernisierung der rückständigen Produktionsweise – wenn alle paar Jahre der Boden neu verteilt werde, habe niemand Interesse, etwas zur Verbesserung der Bewirtschaftungsmethoden oder der Produktionstechnik zu unternehmen –, die für die Industrialisierung dringend benötigten Arbeitskräfte müssten im Dorf zurückbleiben. Insgesamt habe die Entwicklung der russischen Landwirtschaft stagniert. Dies war das gängige Bild, für das die durch eine extreme Dürre erzeugte schwere Hungersnot von 1891/92 als Bestätigung diente. Gewiss war 8 Heinz-Dietrich Löwe: Antisemitismus und reaktionäre Utopie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890–1917. Hamburg 1978; Stephen M. Bark: Year of Crisis, Year of Hope. Russian Jewry and the Pogroms of 1881– 1882. Westport, Conn., London 1986. Allgemein: Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 3. Aufl. München 1991. 9 Dietrich Beyrau: Reformen und soziale Beharrung im ländlichen Russland. In: Handbuch der Geschichte Russlands 3/1, S. 14–68, hier S. 60–61. 10 Vgl. zu diesen Entwicklungen zusammenfassend und mit weiteren Nachweisen die in Anm. 5 angegebene Literatur.

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die Lage labil, Ernteschwankungen traten häufig auf, und allzu leicht konnte dadurch ein Hof, der kaum nennenswerte Überschüsse erwirtschaftete, die ihm eine gewisse Marktunabhängigkeit gewährt hätten, in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Dennoch muss dieses Bild neu gemalt werden. Stutzig machen schon die statistischen Daten, dass zwischen 1861 und 1914 die Lebensmittellieferungen in die Städte wie der Getreideexport deutlich anstiegen. Dies ging keineswegs nur auf die großen Gutsbetriebe zurück, da die Bauern in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg immerhin drei Viertel des Marktgetreides zur Verfügung stellten. Auch konnten vermehrt städtische Waren im Dorf verkauft werden. In der Industrie wurde allmählich die Nachfrage nach neuem Inventar und zusätzlichen Gerätschaften spürbar.11 Darüber hinaus zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass durchaus genügend Arbeitskräfte von den Dörfern in die Städte zogen, um in den neuen Industriebetrieben eine Anstellung zu suchen. Ein großer Teil von ihnen behielt seine Verbindung mit der Heimat bei, zahlte im Dorf Steuern, unterstützte seine dort lebenden Familienangehörigen, gab keineswegs sein Recht auf einen Landanteil auf und kehrte häufig zu Erntezeiten, manchmal auch ganz, wieder zurück.12 Die obščina-Verfassung erwies sich demnach als durchaus flexibel. Ebenso flexibel reagierten, wie in Lokal- und Regionalstudien sichtbar wird, die Bauern selbst auf die wirtschaftlichen Wechsellagen. Traten Schwierigkeiten in der Landwirtschaft auf, verlegten sie sich vielfach stärker auf Nebengewerbe, etwa auf die Produktion handwerklicher Erzeugnisse, die sie auch in den Städten verkauften. Andere passten sich der jeweiligen Marktlage an und stellten ihren Schwerpunkt von der Viehwirtschaft auf die Getreideproduktion, auf Obst- und Gemüseanbau – oder umgekehrt – um. Natürlich war nicht in jeder Region ein derartiges Verfahren möglich. Insgesamt scheint sich jedoch, trotz der wiederholten Einbrüche, die bäuerliche Landwirtschaft stabilisiert, ja sogar leicht verbessert zu haben. Dies ermöglichte nun gerade der Familienbetrieb, der arbeits- und nicht kapitalintensiv wirtschaftete und sich deshalb rasch umstellen konnte. Dass er höchst selten teuere moderne Maschinen besaß, die auf bestimmte Anbauarten und Produktionstechniken spezialisiert waren, wirkte sich deshalb gerade als Vorteil aus.13 11 Heiko Haumann: Die Wirtschaft. In: Handbuch der Geschichte Russlands 3/2, S. 1193– 1297, hier S. 1225–1228, 1238–1239. 12 Haumann: Die Wirtschaft, S. 1239–1243; ders.: »Ich habe gedacht«. 13 Dazu ausführlich Heinz-Dietrich Löwe: Die Lage der Bauern in Russland 1880–1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft des Zarenreiches. St. Katharinen 1987.

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Da sich der bäuerliche Familienbetrieb und die obščina-Verfassung als widerstands-, anpassungs- und entwicklungsfähig darstellten, konnte das russische Dorf auch seine überkommene Lebenswelt bewahren. Die meisten Bäuerinnen und Bauern arbeiteten für die Sicherung des Auskommens, nicht für den Profit. Sie folgten in ihren Handlungen, Denk- und Verhaltensweisen überlieferten Vorstellungen. Der hergebrachte Rhythmus von Arbeit, Festen und Bräuchen bestimmte ihr Leben. Das gab ihnen oft Kraft, mit Problemen und Krisen fertig zu werden.14 Trotzdem war dies selbstverständlich keine Idylle. Die Familienangehörigen mussten hart arbeiten, um halbwegs leben zu können. Über die Grenze zwischen relativer Wohlhabenheit und Armut entschied vielfach der Verlust einer Kuh oder eines Pferdes, entsprechend hoch war die soziale Mobilität. Auch die obščina erfüllte keineswegs nur die Funktion einer solidarischen Gemeinschaft. Häufig prallten hier durchaus soziale Gegensätze aufeinander, Außenseiter hatten es schwer, sich zu behaupten.15 Angesichts dieses vielschichtigen, kontrovers interpretierten Bildes vom russischen Bauern und von der russischen Landwirtschaft fielen auch die Entwicklungskonzepte unterschiedlich aus. Die zarische Regierung folgte – nicht immer konsequent und intern immer wieder umstritten – einer Industrialisierungsstrategie, die auf einen raschen Aufbau einer Schwerindustrie abzielte, mit dem Eisenbahnbau und der Rüstungsindustrie als Leitsektoren. Die Förderung der Konsumgüterindustrie oder die Verbesserung der Lebensumstände von Mittel- und Unterschichten traten dahinter zurück. Auch wenn die Agrarpolitik nicht unbedingt und jedenfalls nicht durchgängig unmittelbar abhängig von dieser Industrialisierungsstrategie war, so leuchtet doch ein, dass in diesem Rahmen der traditionelle bäuerliche Familienbetrieb keinen Vorrang beanspruchen konnte. Den Vertretern jener Strategie schwebte eine moderne, renditeorientierte Landwirtschaft vor, die befreit war von allen hinderlichen Fesseln. Mehrfach wurde deshalb versucht, die steuerliche Solidarhaftung der obščina oder diese selbst aufzuheben. Doch zunächst erwies sich der Widerstand konservativer Kreise namentlich aus dem adligen Großgrundbesitz als zu stark. Diese Agrarier befürchteten einen Verlust an ökonomischer und politischer Macht, wenn die Schwerindustrie zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor 14 Sehr deutlich wird dies, mit Beispielen aus der Zeit nach 1917, bei Helmut Altrichter: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung. München 1984. Vgl. Stefan Plaggenborg: Bauernwelt und Modernisierung. In: Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Russland in der Spätphase des Zarenreiches. Hg. von Heiko Haumann und Stefan Plaggenborg. Frankfurt a.  M. u.a. 1994, S. 138–164. 15 Vgl. außer schon genannter Literatur Teodor Shanin: The Awkward Class. Political Sociology of Peasantry in a Developing Society. Russia 1910–1925. Oxford 1972.

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werde und – vor allem – wenn sich die Verhältnisse auf dem Land grundlegend änderten. Deshalb vertraten sie das Konzept, die Bindungen der Bauern an das Land nicht zu lockern, damit ihr Übergewicht erhalten bleibe und zugleich genügend – billige – Arbeitskräfte für von ihnen kontrollierte Kleinindustrien bereit stünden. Erst nach der Revolution von 1905 war die Zeit reif, die Verwirklichung des staatlichen Modernisierungskonzeptes im ländlichen Bereich einzuleiten. Seit November 1906 wurde eine Reihe von Reformmaßnahmen erlassen, die mit dem Namen des Ministerpräsidenten Petr A. Stolypin verbunden sind. Der bäuerliche Haushaltsvorstand erhielt das Recht, aus der obščina auszutreten, mit einfacher Mehrheit der Gemeindeversammlung konnte jetzt überdies jene Institution ganz aufgelöst werden. Dadurch sollte erreicht werden, dass sich die dynamischen Kräfte unter den Bauern selbständig machen, in ihre Landwirtschaft investieren und eine ökonomisch kräftige Mittel- und Oberschicht bilden würden. Von den armen Bauern ohne Entwicklungschancen wurde erwartet, dass sie sich als Arbeitskräfte für den industriellen Aufbau zur Verfügung stellten. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges verließen 25 Prozent der Haushalte im europäischen Russland die obščina. Nur rund zwölf Prozent von ihnen schaffte allerdings den Aufstieg in eine verhältnismäßig wohlhabende Schicht. Ob die Reform ohne Krieg und Revolution gelungen wäre, lässt sich schwer sagen – sicher wäre viel Zeit nötig gewesen. Die meisten Bauern standen den neuen Möglichkeiten skeptisch gegenüber: Die obščina bot ihnen immerhin einen nicht zu unterschätzenden Rest materieller Sicherheit. Auch der grundbesitzende Adel tat alles, um den Umschwung anzuhalten. Und letztlich ging das industrielle Wachstum – bei beachtlichen Ergebnissen – zu langsam voran, um den Abwanderungsprozess vom Dorf zu beschleunigen. Liberale wie Linke im Russland dieser Zeit waren sich einig, dass die grundlegende Voraussetzung für jegliche Entfaltung der Landwirtschaft die Abschaffung des Gutsbesitzes sei. Während die Liberalen den Eigentümern wenigstens eine geringfügige Entschädigung zahlen wollten, forderten die Sozialisten deren entschädigungslose Enteignung. Als Ziel hatten die Liberalen die individuelle, marktorientierte Bauernwirtschaft vor Augen – sie stimmten daher in manchem mit den Stolypinschen Reformen überein –, die Sozialisten hingegen kollektive Organisationsformen. Der Weg dorthin war allerdings umstritten. Die Sozialdemokraten sahen – wiederum in verschiedenen Schattierungen – mehrere Übergangsstufen und ein Nebeneinander von Privateigentum, Besitz von Selbstverwaltungsorganen und Nationalisierung vor. Die Sozialrevolutionäre, die sich in der Tradition der narodniki verstanden, traten für Gemeineigentum am Boden ein. Die obščina sollte in ihren egalitären Tendenzen gestärkt werden und jeder Bauer nur so viel Land zu privater Nutzung erhalten, wie er

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bearbeiten könne. Daraus werde dann allmählich ein kollektives Wirtschaften hervorgehen.16 Die Sozialdemokraten gingen davon aus, dass die überkommenen Strukturen im Dorf längst von kapitalistischen Einflüssen unterhöhlt seien und man deshalb nicht von ihnen unmittelbar zum Sozialismus und Kommunismus übergehen könne. Auf der anderen Seite idealisierten die Sozialrevolutionäre die obščina und übersahen die Vielschichtigkeit der ländlichen Entwicklung. Dem Familienbetrieb als ökonomische Einheit schenkten beide Richtungen nur wenig Aufmerksamkeit. Karl Marx hatte dies noch anders gesehen: Für ihn war »die ländlich patriarchalische Industrie einer Bauernfamilie« das nächstliegende Beispiel »für die Betrachtung gemeinsamer, d.h. unmittelbar vergesellschafteter Arbeit« gewesen. Die Tätigkeit der Bauernfamilie galt ihm als Modell für »einen Verein freier Menschen (...), die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«. Solche »Vereine« würden schließlich die Keimzelle der klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft bilden – einer »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«.17 Einige wenige russische Agrarwissenschaftler hielten, ohne unbedingt von Marx beeinflusst zu sein, ebenfalls die Bauernfamilie für den Kern der künftigen Entwicklung, konnten damit allerdings höchstens vorübergehend und punktuell auf Parteiströmungen oder Regierungen einwirken. Der berühmteste von ihnen ist Aleksandr V. Čajanov. Sein 1923 in deutscher Sprache erschienenes Hauptwerk »Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau«, das 1925 erweitert in Russisch veröffentlicht wurde, erregte seinerzeit großes Aufsehen, geriet später jedoch in Vergessenheit – vielleicht auch, weil Čajanov 1930 im Zuge des einsetzenden stalinistischen Terrors verhaftet wurde; sein Todesjahr ist bis heute nicht genau bekannt [inzwischen: 1937]. Sein Lebensweg erinnert ein wenig an das uns bereits von Prof. Sovetov her bekannte Muster. In der Bibliothek des Schweizerischen Bauernsekretariates in Brugg findet sich ein Brief Čajanovs an Ernst Laur, damals Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und Sekretär des Schweizerischen Bauernverbandes. Mit Datum vom 21. August 1923 übersendet Čajanov sein Buch und schreibt: »Ich habe die Haupt-Ideen 16 Zu diesem gesamten Prozess und den verschiedenen Konzeptionen vgl. einführend und mit weiteren Literaturhinweisen Haumann: Die Wirtschaft (auch im folgenden). 17 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 23, S. 92–93; dies.: Manifest der Kommunistischen Partei. Ebd., Band 4, S. 482; vgl. Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953, S. 76–77.

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dieses Werkes zuerst erhalten, als ich im Jahre 1912 bei Ihnen im Bauernsekretariat gearbeitet habe (...).« Čajanov war also dem Weg früherer russischer Gelehrter gefolgt und hatte sich zu einem Studienaufenthalt ins Ausland begeben. In der Schweiz lernte er nicht nur die Praxis der dortigen Bauernwirtschaft kennen, sondern auch neue betriebswirtschaftliche Methoden zur Untersuchung agrarischer Verhältnisse. Wieder zurück in Russland – 1913 wurde er Professor am Forschungsinstitut für Agrarökonomie der Akademie in Petrovskoe, die 1894 wegen politischer Unzuverlässigkeit in ein Agrar-Institut zurückgestuft worden war (und hatte damit auch eine institutionelle Verbindung zu Hohenheim) –, wertete er nicht zuletzt mit diesen Methoden umfangreiche statistische Erhebungen über die Zustände auf dem Land aus. Sein Ergebnis, das über Russland hinaus Gültigkeit beanspruchte und im übrigen dem an einem modernen, rentablen, Rendite erwirtschaftenden Agrarbetrieb orientierten Laur gar nicht recht war, lief darauf hinaus, dass der bäuerliche Familienbetrieb nach eigenen Kategorien organisiert sei. Er gehe vom Überlieferten aus, richte sich auf das Auskommen, nicht auf den Profit und sei deshalb von einem Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen und Arbeitsaufwand bestimmt. Die Arbeitskraft werde durch die Größe der Familie geregelt; dies sei »billiger« als der Einsatz von Maschinen. Nach betriebswirtschaftlicher Rechnung seien diese Höfe nicht rentabel und erzielten deshalb ständig Defizite. Dennoch könnten sie in der Regel überleben, ja zeigten sich widerstandsfähiger gegenüber Ernteschwankungen oder anderen Krisen als die nach dem modernsten Stand der landwirtschaftlichen Betriebslehre arbeitenden Höfe. Deshalb sei das Verhalten jener Bauern keineswegs unökonomisch, sondern folge lediglich einer anderen, spezifischen Ökonomie. Diese suchten sie auch in Auseinandersetzung mit feudalen Strukturen oder mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem – und dabei nicht zuletzt mit dem Handel –, mit denen sie verflochten seien, zu bewahren.18 18 Zu Čajanov in der Schweiz vgl. Werner Baumann: Bauernstand und Bürgerblock. Ernst Laur und der Schweizerische Bauernverband 1897–1918. Zürich 1993, S. 271–278 (der Brief ist in Faksimile S. 272 abgedruckt, den Hinweis darauf verdanke ich meinen Basler Kollegen Bernard Degen und Jakob Tanner) [vgl. Werner Baumann, Heiko Haumann: »... um die Organisation des typischen Arbeitsbetriebes kennenzulernen.« Zu Aleksandr Čajanovs Schrift »Bäuerliche Wirtschaft in der Schweiz«. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997) S. 1–26, dabei S. 9–26 Edition der Schrift]. Nachdruck des genannten Werkes: Alexander Tschajanow: Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft. Versuch einer Theorie der Familienwirtschaft im Landbau. Frankfurt a. M., New York 1987 (wichtig auch die Einleitung von Gerd Spittler: Tschajanow und die Theorie der Familienwirtschaft, S. VII–XXVIII, mit weiteren Literaturhinweisen); vgl. Alexander Tschayanoff: Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 51 (1924) S. 577–613; die russischen Schriften sind als Auswahl

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1917 flossen, anders als 1905, Bauern- und Arbeiterbewegung zusammen. Nach dem Sturz des Zarismus im Februar folgte im Oktober die Revolution, die eine sozialistische Gesellschaft anpeilte. Mit dem »Dekret über den Boden«, gleich nach dem Umsturz verabschiedet, erfüllten die Bolschewiki die Wünsche der Bauern. Die Gutsbesitzer wurden entschädigungslos enteignet und der gesamte Grund und Boden zum »Eigentum des ganzen Volkes« erklärt, aber den Bauern zur privaten Nutzung übergeben. Das war keineswegs ein kommunistisches Programm – es folgte eher den Vorstellungen der Sozialrevolutionäre –, und für dieses Entgegenkommen, das durch zusätzliche Entlastungen erweitert wurde, erhofften sich die Bolschewiki ein Wohlverhalten der Bauern. Nach all ihren Erfahrungen mit dem Staat waren diese allerdings nicht bedingungslos dazu bereit. Im Bürgerkrieg zwischen Anhängern und Gegnern der Oktoberrevolution, der zwischen 1918 und 1920 das Land verwüstete, stützten die Bauern mehrheitlich die »Roten«, weil sie bei einem Sieg der »Weißen« eine Rückkehr der Gutsbesitzer fürchteten. Trotzdem nahmen sie die Maßnahmen der neuen Sowjetregierung unter Lenin nicht widerspruchslos hin, die darauf abzielten, die Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Lebensmitteln grundlegend zu verbessern und dabei Spekulation und Schwarzhandel einzudämmen. Auf Kritik stieß insbesondere der Versuch, diese Eingriffe als Teil des Klassenkampfes zu verstehen: Die bäuerliche Unterschicht sollte sich in »Komitees der Dorfarmut« organisieren und gegen die wohlhabenderen Bauern, die Kulaken, vorgehen. Auf diese Weise könne die »anti-feudale, bürgerliche Revolution« im Dorf – wie man das Dekret vom Oktober 1917 interpretierte – in eine »proletarische« übergehen. Das Experiment schlug fehl. Die armen Bauern nutzten zwar die Vorteile, die sich ihnen boten, handelten jedoch nach eigenem Gutdünken und sorgten keineswegs dafür, dass mehr Lebensmittel in die Städte geliefert wurden. gesammelt in: A. V. Čajanov: Oeuvres choisies. Textes réunis et publiés par B. Kerblay. 8 Bände. Paris, The Hague 1967. S. auch – wieder mit weiteren Literaturhinweisen – Mark Harrison: Chayanov and the Marxists. In: Journal of Peasant Studies 7 (1979) S. 86–100; Susan Gross Solomon: The Soviet Agrarian Debate. A Controversy in Social Science, 1923–1929. Boulder, Col. 1977; Naum Jasny: Soviet Economists of the Twentieth. Names to Be Remembered. Cambridge 1972, hier bes. S. 200–203; Peasants and Peasant Societies. Selected Readings. Ed. by Teodor Shanin. Harmondsworth 1971. Die Konzeption Čajanovs spielt auch eine grosse Rolle in der Diskussion um Proto-Industrialisierung und um die »moral economy« des Dorfes, vgl. Hans Medick: Die proto-industrielle Familienwirtschaft. In: Peter Kriedte, Hans Medick, Jürgen Schlumbohm: Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus. Göttingen 1978, S. 90–154.

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Daraufhin griffen die Bolschewiki zu verschärften Zwangsmitteln. Die Bauern waren nun verpflichtet, alle Überschüsse über ihren eigenen Bedarf an staatliche Organe abzuliefern, die diese dann in Form einer »ausgleichenden Verteilung« – der razverstka – zwischen den Überschuss- und Mangelgebieten der Bevölkerung in den einzelnen Regionen je nach Bedarf zur Verfügung stellen sollten. Der zaristische Staat hatte Ende 1916 schon einmal ein solches Konzept verfolgt, das jedoch aufgrund widerstreitender Interessen in der Regierung und dem Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Initiativen weitgehend erfolglos geblieben war. Čajanov erklärte das Versagen so: »Die Regierung fürchtete den Hunger, aber noch mehr fürchtete sie öffentliche Organisationen.»19 Die Bolschewiki bauten jetzt ein Netz von Institutionen auf, um den Agrarmarkt zentral zu organisieren und den Handel durch einen Beschaffungs- und Verteilungsapparat zu ersetzen. Für die Ablieferung ihrer Erzeugnisse sollten die Bauern als Gegenleistung städtische Waren erhalten. Dabei war den Kommunisten klar, dass aufgrund der überkommenen industriellen Produktionsstruktur und des gegenwärtigen wirtschaftlichen Zustandes die Bauern mit einer Benachteiligung rechnen mussten. Lenin sprach davon, dass die Sowjetmacht vorübergehend zum »Schuldner« der Bauern werden müsse.20 Sie würden dies, so hoffte man, akzeptieren – eben in Anerkennung des Land-Dekretes von 1917 und darüber hinaus im Vertrauen auf die Absicht der Bolschewiki, die erhaltenen Mittel auf den Wieder- und Neuaufbau der Industrie zu konzentrieren, um möglichst rasch von einem »inäquivalenten Austausch« zwischen Stadt und Land zu einem »äquivalenten« zu gelangen. In dieser Phase würden dann nach den damals geäußerten Zielvorstellungen die Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen, in dem die Bevölkerung als Ergebnis einer planmäßig organisierten Gemeinwirtschaft »freier Assoziationen« im »Produktenaustausch« gemäß ihren Bedürfnissen leben werde. Mit diesem Programm wollten die Bolschewiki in einer Zeit tiefster Not und wirtschaftlicher Zerrüttung den unmittelbaren Weg zum Kommunismus beschreiten. Es zeigte sich jedoch, dass die Bauern die ihnen zugedachte Rolle nicht spielen wollten. Sie lieferten ihre Überschüsse nicht im erwarteten Maße ab und drückten ihren Unmut über das unzureichende städtische Warenangebot aus. Da die Ernährungslage in den Städten immer schlimmer wurde, entsandte die Regierung bewaffnete Abteilungen in die Dörfer, um die Abgaben einzutreiben. Dadurch verstärkte sich die Verweigerungshaltung der Bauern, 19 Zitiert in: Lars T. Lih: Bread and Authority in Russia, 1914–1921. Berkeley u.a. 1990, S. 53, vgl. S. 32–56 zur razverstka 1916/17 und S. 167–198 zur bolschewistischen razverstka. 20 Wladimir I. Lenin: Werke. Band 31, S. 502–503.

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sie versteckten ihre Produkte und handelten eher auf dem Schwarzmarkt. Die Gewalt eskalierte und entlud sich in einer Welle von Aufständen und Unruhen, die ihren Höhepunkt zwischen Herbst 1920 und Frühjahr 1921 fanden und erst mit massivem Truppeneinsatz niedergeschlagen werden konnten.21 In dieser Situation – der Bürgerkrieg neigte sich seinem Ende zu, die Wirtschaftsproduktion war auf einem Tiefstand angelangt, die Bauern leisteten Widerstand gegen die staatliche Agrarpolitik – tagte 1920 die Staatliche Kommission für die Elektrifizierung Russlands, um einen Plan für die weitere ökonomische Entwicklung auf modernster technischer Grundlage zu erstellen. Er sah vor, in zehn bis fünfzehn Jahren die materiellen Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus zu schaffen. Mit Hilfe der Elektrifizierung sollten dabei nicht nur die Produktion gesteigert, sondern auch die Arbeitsprozesse vereinfacht, die Aufhebung der Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit vorbereitet, die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« aufgehoben – eben weil am Ende nur noch Maschinen arbeiten und die Menschen diese lenken würden – und überhaupt die Herausbildung eines »neuen Menschen« gefördert werden. Wenn also Lenin Ende 1920 seine Begeisterung über den GOĖLRO-Plan in die Losung fasste: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«,22 so war hier die Technik als entscheidender wirtschaftlicher Hebel untrennbar mit gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen verbunden. Natürlich kam dabei der Landwirtschaft und dem Verhalten der Bauern ein hoher Stellenwert zu. In der Öffentlichkeit und in parteinternen Diskussionen über die zukünftige Agrarpolitik standen sich unterschiedliche Konzeptionen gegenüber. Zunächst in der Minderheit blieben Vorschläge, die individuellen Bauernwirtschaften stärker zu unterstützen und Marktmechanismen wieder zuzulassen. Dagegen wurde argumentiert, dass dann eine nicht mehr steuerbare kapitalistische Entwicklung auf dem Land einsetzen werde. Deshalb müsse man vorerst eher die staatlichen Kontrollen und Planauflagen ausweiten – etwa durch Aussaatvorschriften –, solle allerdings den Bauern mehr Anreize zur Stei21 Vgl. außer Handbuch der Geschichte Russlands, hier bes. S. 705 ff., Haumann: Leibeigenschaft, und Lih: Bread, die Quellenbände: Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des »Kriegskommunismus« und der Neuen Ökonomischen Politik. Hg. von Stephan Merl. Berlin 1993; Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Band 2: Wirtschaft und Gesellschaft. Hg. von Helmut Altrichter und Heiko Haumann. München 1987 (auch zum folgenden). Zur Konzeption und Politik der Bolschewiki: Heiko Haumann: Die russische Revolution und ihre ersten Versuche sozialistischer Wirtschaftspolitik. Materialien 1917–1921. In: Das Argument 15 (1973) Nr. 82, S. 768–803, zum »Produktenaustausch« speziell S. 793– 800. 22 Lenin: Werke. Band 31, S. 510–515.

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gerung von Produktion und Ablieferung geben. Eine besondere Förderung kollektiver Wirtschaften könne vielleicht mehr Bauern dazu bringen, sich zusammenzuschließen. Die Elektrifizierungskommission erörterte diese Konzeptionen intensiv. Das Thema Landwirtschaft nahm den breitesten Raum bei ihrer Arbeit ein und war zugleich das umstrittenste. Ziemlich einhellig wurde die Meinung vertreten, man könne mit Hilfe der Elektrifizierung zahlreiche Arbeitsvorgänge im Dorf verbessern und erleichtern: im Haus- und Kleingewerbe, bei der Bodenmelioration, beim Antrieb landwirtschaftlicher Maschinen – man führte etwa seinerzeit interessante Experimente mit Elektropflügen durch –, aber auch allein schon durch die Einführung des elektrischen Lichtes. Weiterhin sei viel durch die Elektrifizierung derjenigen Industriezweige zu gewinnen, die landwirtschaftliche Erzeugnisse verarbeiteten. Auf diese Weise werde allmählich der Gegensatz zwischen Stadt und Land abgebaut, selbst die Arbeitsformen näherten sich aneinander an. Hingegen gingen die Ansichten auseinander, ob man die Vorteile der Elektrizität allen Bauern oder nur den Großbetrieben zukommen lassen solle. Eine starke Gruppe unter den Kommunisten wollte so rasch wie möglich den – noch geringen – Anteil an Sowjet- und Kollektivwirtschaften vergrößern. Diese Auffassung wurde auch in der Kommission vorgetragen. Die meisten sahen die freiwillige Kollektivierung zwar auch als Ziel, hielten aber eine lange Übergangszeit für nötig. Einige Fachleute schlossen sich der damals von Čajanov vorgetragenen Linie an, lieber die Zusammarbeit von Familienbetrieben in Genossenschaften zu unterstützen. Čajanov selbst veröffentlichte 1920 unter einem Pseudonym einen geistreichen und nachdenkenswerten Roman: »Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie«, nämlich in das Russland des Jahres 1984, das sich nach einer Revolution in den dreißiger Jahren in eine Räte-Demokratie der Bauern verwandelt hatte. Die Städte waren radikal aufgelöst worden, Grundlage der Wirtschaft bildete der bäuerliche Familienbetrieb, der sich mit anderen zu Genossenschaften vereinte. Auf Kleinstparzellen wurde durch intensive Arbeit – in einer Art Gartenbauweise – ein Höchstmaß an Ertrag erzielt, der zur Versorgung der Bevölkerung ausreichte. Dabei verzichtete man keineswegs auf die modernste Technik – so belieferten große Elektrizitätswerke die Dörfer nicht nur mit Energie, sondern regelten über magnetische Wellen auch das Wetter. Čajanov blieb somit von den Elektrifizierungsutopien des Jahres 1920 nicht unbeeinflusst.23 23 Alexander Wassiljewitsch Tschajanow: Reise meines Bruders Alexej ins Land der bäuerlichen Utopie. Aus dem Russischen von Christiane Schulte und Rosalinde Sartorti. Hg. von Krisztina Mänicke-Gyöngyösi. Frankfurt a. M. 1981. Ende der zwanziger Jahre wurden im übrigen in einer Debatte über die sozialistische Siedlungsform der Zukunft auch Vorschläge zur radikalen Desurbanisierung erörtert; vgl. Heiko Haumann: Die russische Stadt

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In der GOĖLRO-Kommission setzte sich schliesslich die auch von ihrem Vorsitzenden, dem Elektroingenieur und Kommunisten Gleb M. Kržižanovskij, vertretene Konzeption durch, mit der Technisierung und Elektrifizierung der Einzelwirtschaften zu beginnen, Genossenschaften und Kollektivbetriebe dort zu fördern, wo sie schon möglich seien, doch in dieser Hinsicht eher auf voll elektrifizierte und maschinell gut ausgestattete Musterwirtschaften zu setzen, die eine Vorbildwirkung erzielen sollten. In Übereinstimmung mit der Grundidee für den stufenweisen Übergang zum Sozialismus und Kommunismus wollte man die »elektrische Ware« den Bauern als Tauschgegenstand für Lebensmittel anbieten. Auch dies, so dachte man, werde die Beziehungen zwischen Dorf und Stadt harmonischer als bisher gestalten. In der Tat gab es 1920 und 1921 derartige Abkommen, und 1921 wurden konkrete Pläne entwickelt, das Land mit einem Netz von Kleinkraftwerken zu überziehen, um die Voraussetzungen für die Elektrifizierung des Dorfes zu schaffen. Lenin selbst sah in der Elektrifizierung der Gesamtwirtschaft die Möglichkeit, den Bauern endlich diejenigen Erzeugnisse zur Verfügung stellen zu können, derer sie dringend bedurften.24 Die GOĖLRO-Kommission schlug somit vor, im Unterschied zur Empfehlung Fel’dmans doch »das kleine Bäuerlein zu elektrifizieren«, allerdings das Ziel der großen, kollektiv organisierten Güter nicht aus den Augen zu verlieren. Fel’dman wollte »die ganze Psychologie des Dorfes ändern«, und auch in der Wortwahl, »das kleine Bäuerlein zu elektrifizieren«, schwingt mehr mit, als nur die modernste Technik ins Dorf zu bringen. Ähnlich verhält es sich mit der damals geprägten Losung »Aufklärung durch Licht«: Die elektrische Beleuchtung schafft die Voraussetzungen, um überhaupt nach der Arbeit lesen zu können – aber zugleich erleuchtet die Aufklärung den Menschen. Mit der Gesellschaft der Zukunft sollte auch ein anderer Mensch entstehen, einer für den Stadt und Land, industrielle und landwirtschaftliche Arbeit keinen Gegensatz mehr in der Geschichte. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 27 (1979) S. 481–497, hier S. 495/496. 24 Ausführlich dazu: Haumann: Beginn der Planwirtschaft; ders.: Die russische Revolution. Zur Elektrifizierung auch: Jonathan Coopersmith: The Electrification of Russia, 1880– 1926. Ithaka, London 1992; Alex Cummins: The Road to NEP, the State Commission for the Electrification of Russia (GOELRO): A Study in Technology, Mobilization, and Economic Planning. Ph. D. Univ. of Maryland, College Park 1988. Während der »Industrialisierungsdebatte« in den zwanziger Jahre brachte V. A. Bazarov den Vorschlag ein, die arbeitsintensive Wirtschaft im Dorf mit einer Elektrifizierung des ländlichen Kleingewerbes zu verbinden, somit die Vorteile des bäuerlichen Familienbetriebes wie der modernen Technik zu nutzen: Die Sowjetunion, S. 219–221; vgl. zum Zusammenhang Haumann: Die Wirtschaft, S. 1218–1222; Alexander Erlich: Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924–1928. Frankfurt a. M., Wien 1971; N. S. Suchov: Političeskaja ėkonomija socializma v 20-e gody. Moskau 1991.

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darstellten, einer, der mit revolutionärer Energie das Leben gestalten werde – eben ein »elektrifizierter« Mensch. Neben vielen Hinweisen in Schriften, Vorträgen und Diskussionsbeiträgen der Kommissionsmitglieder kommt diese Idee in literarischen Verarbeitungen zum Ausdruck. Besonders eindrucksvoll ist ein Gedicht, das Michail P. Gerasimov 1920 verfasste. Gerasimov, ein aus einer Eisenbahnarbeiterfamilie stammender Lehrer, hatte sich der Bewegung »Proletarische Kultur« – »Proletkul’t« – angeschlossen, die der neuen Zeit entsprechende und aus dem Proletariat selbst entstehende künstleriche Formen schaffen wollte. »Elektrifizierung

(...) Wann endlich wird der belebende Donner / Schlaf und Trägheit beenden / Und im dahindämmernden Russland / Die Herde der Dörfer aufscheuchen? / Wann endlich wird der Hirt / Die eiserne Peitsche, die Eisenbahnschienen, schwingen / Und auf strohbedeckten Hütten / Der kupferne Hahn krähen? / Zu Zeiten des Heiligenkalenders / Flossen genug Tränen aus Auge und Kienspan.  / Jetzt bohren sich ins Herz ärmlicher Hütten / Elektrische Kabel ein.  / Die Sonne erkaltet im Winter nicht mehr, / Durchdringt der Jahrhunderte Dunkel, / Leuchtende Fackeln hängen gleich Zuckermelonen / In allen Winkeln der Hütten. / Auf gepflastertem Weg, / Mit granitenem Strom, /Hetzt der Traktor / Den Hakenpflug zu Tode. / Die Augen der Bewässerungstonnen / Erglänzen in den Wimpern des Roggens, / Und über ausgedürrtem Rain / Lachen Fontänen. / Ich weiß: / Die Elektrifizierung der Seelen / Wird die Landleute mit Flügeln versehen / Und die Krähwinkel mit Propellern aufscheuchen. / (...) Niemals war / So flammend aufgebäumt / Zum vorwärtsgerichteten Sprung  / Das petrinische Russland / Und das Lenins. / Das feurige Pferd / Wirbelt die eisernen Hufe. / (...) Wohin es sich wendet – / Das Alte zerfällt. / Es trocknet die bitteren Tränen des Kienspans, / Hängt gläserne Blitze an Balken, / Die die Laren vertreiben. / Sein Gewitterhuf / Meißelt das Eis der Wolga auf, / Enteist Kanäle / Mit gewalt’gen Turbinen, / Die nie wieder zufriern. / Abgemagerte Bauern / Suchen nicht mehr im Dickicht des Waldes / Hölzerne Haken für Pflüge. / Der Elektrostrom schleppt / Mit den Schlingen der Kabel / Hunderte stählerner Pflugschare. / Der Fahrer trägt keine monomachische Mütze, / Seinen Kopf bedeckt eine Arbeiterkappe. / Kein Schwingen kann die kupfernen Drähte / Der kräftigen Kabel zerreißen. / (...) Nie sah die Erde solches zuvor. / Noch beängstigen uns Friedhofskreuze und Tod, / Drohen uns Kirchenkuppeln mit Fäusten. / Aber schon zirkelt er mit

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dem Regenbogen / Seine Kreise in Himmel und Felder. / Millionen Volt stark sein Blick, / Erhellt er kometenhaft die Nacht, / Leuchtet als elektrische Sonne / Über jedem armseligen Landflecken auf. / Russland, einst arm und erniedrigt, / Bist du jetzt frei und stolz. / Wo einst Sumpf und Walddickicht waren, / Sollen Städte mit Elektrizitätswerken erblühen. / (...) Früher waren die Herzen stickig / Und träge wie Fischtranfunzeln, / Nächtliche Finsternis erstickte den Traum / Hinter den kleinen Fenstern der Augen. / Jetzt aber glänzt sogar Stroh / Und leuchtet wie Gold auf den Dächern, / Verjagt ist das Dunkel. / Auf dem Glockenturm leuchtet / Kein Kreuz mehr, / Sondern elektrisches Leuchtfeuer. / Radioantennen verbreiten mit eisernen Flügeln  / Ihre Botschaft über die Dörfer, / Ihr magnetenes Lied / Kündet vom Sieg über die dunkle Vergangenheit. / / Aluminiumnächte, / Elektrisches Blut!  / Es pulst durch die Adern, / Laicht silbernen Kaviar. / Über dem Reigen lichten Getreides / Hängt die Sichel des Mondes. / Unter dem voltenen Bogen / Erstrahlt festlich das Dorf. / Unter der Sternenstrasse / Singt begeistert ein Kinderchor.  / Das Herz in der Brust des Bauern – / Eine elektrische Birne. / Vorbei der Winterschlaf auf dem Flohpelz, / In den Bärenhöhlen der Bauernkaten. / Im Bauernklub / Erklingen jetzt bis morgens früh / Skrjabin, Bach, Mozart und Schubert  / Wie das Rauschen des Wasserfalls. / Die Bauern, träge vom selbstgebrannten Wodka, / Wachen beim rhythmischen Lärm / Der Motorschlitten auf. / Jetzt reifen sogar winters im Dorf die Birnen / Und leuchtende Trauben. / (...) Jetzt endlich verbrennt das elektrische Kabel / Das Russland des Bastschuhs. / / Mag der Traktor mit dem Elektropflug / Auch als stählerne Spinne erscheinen, / So ist er uns doch ein besserer Freund / Als Hundert der herrlichsten Stiere. / Lange genug diente die Mähre dem Dorf. / Jetzt übernimmt der Elektromotor / Mit Schwung ihre Arbeit. / Pferdewagen schluchzen nicht mehr durchs Land / Mit ihren ungeschmierten hölzernen Rädern. / Sogar die Alten bedauern es nicht, / Dass die Windmühlen / Ein letztes Mal ihre Flügel gedreht, / Schwankten, stürzten, auf dem Boden zerschmettert, / Mit dem Gesicht / Vor uns auf dem Eisenbeton liegen. / / Die Säge erleuchtet im rasenden Lauf / Sogar das Schwungrad des Regenbogens. / Beschlossene Sache / Ist das elektrische Fällen von Bäumen. / Wieviel hat die Trockenheit aus dem Leben gesogen, / Wie oft die Lippen des Schwarzerdelandes aufgerissen. / Jetzt aber sprüht der artesische Brunnen / Maschinenen Regen. / Niemals mehr werden Melde und Spreu / Den Bauch des Viehs aufblähen. / Es lebe das Bündnis mit der mächt’gen Maschine / In den eisernen Händen der ARBEIT! / / Die Sonne lächelt, / Entfaltet ihre goldenen Haare / Auf den blauen Schultern des Horizonts. / Zelte spannen sich auf mächtigen Schloten, / Höher als

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Regenbogen. / Unter ihnen liegt eine gigantische Elektrowerkstatt – / RäteRussland.«25 Hier wird die Atmosphäre deutlich, in der 1920 die Zukunftskonzepte und Utopien entworfen wurden: der ungeheure Enthusiasmus, die Welt zum Besseren hin verändern zu können, der Fortschrittsglaube, die Natur sei nach dem Willen und zum Nutzen des Menschen umzugestalten, die Annahme, die Gegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und Bauern höben sich auf, die Hoffnung auf die Menschen mit »elektrifizierter Seele« und innerer Energie, die die »dunkle Vergangenheit« hinter sich lassen, die Arbeit organisieren und ihren Wünschen im »Reich der Freiheit« (Marx) nachgehen könnten.26 Aus dem Gedicht wird auch spürbar, welche Faszination von der Idee und dem Programm der Elektrifizierung ausging. In einer Zeit, in der man kaum etwas zu essen hatte, in der es keinen Brennstoff mehr zum Heizen im Winter gab, in der Seuchen um sich griffen, in der alles trostlos aussah, vermittelte der Plan eine Perspektive der Hoffnung. Viele Berichte zeugen davon, wie Arbeiter oder Parteifunktionäre, wenn er vorgestellt wurde, sich mitreißen ließen, nun alle Kräfte für den Neuaufbau einzusetzen, mit welcher Freude Bauern die Einrichtung elektrischen Lichtes im Dorf begrüßten. Um so niederschmetternder war der Absturz in die Ernüchterung. Anfang 1921 befand sich das Land in einem beinahe ausweglosen Notstand, forderten immer mehr Menschen – bis hin zu Arbeiterdemonstrationen, zu Bauernunruhen und dann zum Kronstädter Aufstand – eine Änderung der Politik. Im März 1921 entschloss sich die Kommunistische Partei, die Zwangsablieferung der Agrarprodukte durch eine niedrigere Naturalsteuer zu ersetzen und den Bauern den freien Handel mit den verbleibenden Überschüssen auf örtlichen Märkten zu gestatten. Keineswegs gedacht als eine grundsätzliche Kehrtwende – die allgemeinen Zielsetzungen wollte man beibehalten –, entfaltete sich aus diesem Zugeständnis eine Dynamik, die das Wirtschaftssystem in weiten Bereichen veränderte und zu einer »Neuen Ökonomischen Politik« (NĖP) führte. Zwar konnte eine furchtbare Hungersnot nicht mehr verhindert werden, die Mitte 1921 Millionen Tote kostete. Doch die Bauern nutzten die neuen Möglichkeiten, setzten sich über die vorgesehenen Einschränkungen und den staatlichen Apparat hinweg, so dass bald auch überregional ein freier Handel mit agrarischen Erzeugnissen zustande kam. Die Regierung musste immer 25 Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrussland (1917–1921). Dokumente des »Proletkult«. Hg. von Richard Lorenz. Übersetzt von Uwe Brügmann und Gert Meyer. München 1969, S. 98–103. 26 Vgl. Marx, Engels: Werke. Band 3, S. 33 (Die deutsche Ideologie), Band 25, S. 828 (Das Kapital. Band 3). Zur Bedeutung der Energetik im Zusammenhang der Elektrifizierungskonzeption s. Haumann: Beginn der Planwirtschaft, S. 113–117.

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weitere »Rückzüge« antreten und die Wirtschaft – bis auf einige »Kommandohöhen«, wie man es nannte – wieder privatisieren. An die Stelle eines planmäßigen Neuaufbaus mit dem Ziel, den Sozialismus unmittelbar anzusteuern, war jetzt ein »Umweg« zum Sozialismus zu beschreiten. Die Wirtschaft sollte sich, mehr oder weniger ungelenkt, durch einen »reaktiven Kaufkraft-Effekt« (Werner Hofmann) wiederherstellen: Von der Landwirtschaft, deren Erholung man zunächst fördern wollte, würden Nachfrageimpulse auf die Konsumgüterindustrie und von beiden Bereichen zusammen schließlich auch auf die Produktionsmittelindustrie ausgehen. In der Tat erreichte die sowjetische Wirtschaft in dieser Reihenfolge bis etwa Mitte der zwanziger Jahre den Stand vor dem Ersten Weltkrieg, den man als Basis für die weitere Entwicklung betrachtete. In den Dörfern schien es, als habe sich, bis auf die Enteignung der Gutsbesitzer, keine Revolution ereignet. Die obščina-Verfassung herrschte vor, die Dorfversammlung war das wichtigste Organ, der Dorfsowjet und die Partei spielten kaum eine Rolle. Wie früher zogen viele »Bauern-Arbeiter« in die Industriezentren, hielten aber ihre Verbindung zum Land aufrecht. Man lebte und wirtschaftete in althergebrachter Weise. Versuche der Bolschewiki, moderne Produktionsmethoden, Düngung, Schädlingsbekämpfung, Fortschritte der Medizin und Hygiene im Dorf bekannt zu machen, wurden meistens mit grossem Misstrauen beobachtet. Zur Skepsis, ja Ablehnung trug bei, dass mancher Kommunist mit Verachtung auf die »zurückgebliebene« bäuerliche Kultur herabschaute und den Dorfbewohnern ihre Bräuche sowie religiösen Handlungen ausreden wollte. Hier wird ein Grundproblem bolschewistischer Agrarpolitik deutlich, dass sich durch die gesamte Geschichte der Sowjetunion zieht. Überwiegend war das Verhältnis der Kommunisten zu den Bauern »von außen« bestimmt. Nur selten versuchte man, aus der Lebensweise und Vorstellungswelt der Bauern heraus eine Politik zu entwickeln. Statt dessen verfiel man immer wieder auf die Methode, den Bauern etwas, das ihnen fremd war, aufzwingen zu wollen. Schnell war man bei der Hand, nicht erfüllte Erwartungen der Böswilligkeit von Klassengegnern im Dorf zuzuschreiben.27 27 Vgl. Gert Meyer: Studien zur sozialökonomischen Entwicklung Sowjetrusslands 1921– 1923. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land zu Beginn der Neuen Ökonomischen Politik. Köln 1974; Altrichter: Die Bauern von Tver; Stefan Plaggenborg: Volksreligiosität und antireligiöse Propaganda in der frühen Sowjetunion. In: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992) S. 95–130; ders.: Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus. Unveröffentl. Habil.-Schrift. Freiburg i. Br. 1993 [publiziert Köln usw. 1996 unter dem Titel: Revolutionskultur]. Allgemein Haumann: Sozialismus als Ziel, S. 716 ff. Das Zitat: Werner Hofmann: Die Arbeitsverfassung der Sowjetunion. Berlin 1956, S. 9.

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Immerhin gab es auch andere Ansätze. Eine Reihe hervorragender Agrarfachleute unter den Bolschewiki – an ihrer Spitze Lev N. Kricman – versuchte in intensiven Forschungen, die Verhältnisse auf dem Land besser kennenzulernen. Darüber hinaus erhielt die mit dem Namen Čajanovs verbundene »Produktions- und Organisations-Schule« besondere Bedeutung, die an der – inzwischen nach dem Pflanzenphysiologen Kliment A. Timirjazev benannten – Akademie von Petrovskoe wirkte. Sie baute ihren Ansatz aus, den bäuerlichen Betrieb nicht in erster Linie unter kapitalistischen Rentabilitätsgesichtspunkten zu betrachten, sondern von seiner speziellen Ökonomie auszugehen. Um dennoch Produktivitätsfortschritte zu erreichen, solle die Politik freiwillige Zusammenschlüsse zu Genossenschaften fördern – eine Strategie, die Lenin kurz vor seinem Tod in seinen Skizzen »Ueber das Genossenschaftswesen« ausdrücklich guthieß. Čajanov machte in diesem Zusammenhang detaillierte Vorschläge, über ein Kleinkreditsystem die Kapitalbildung im Dorf zu stärken. Ebenso legte er – wie andere Fachleute – Konzepte zur Verbindung von landwirtschaftlicher Produktion und verarbeitender Industrie und zur Verbesserung des Inventarbestandes vor; den Einsatz von Traktoren beurteilte er skeptisch – in den Kleinbetrieben sei die Arbeit mit Pferden wesentlich günstiger. Auf jeden Fall müsse man »vom Bauer ausgehen«, seine Erfahrungen nutzen und selbst dann behutsam vorgehen, wenn dessen Vorstellungen den Ergebnissen der modernen Wissenschaft widersprächen – ansonsten werde man nur auf Widerstand stoßen. Als Beispiel führte Čajanov den Glauben an, der Donner komme vom Wagen des Propheten Elias. »Uns scheint, die russische Erneuerung sollte dem Bauerntum die moderne wissenschaftliche Weltanschauung vermitteln, ohne seine Jahrhunderte alte Dichtung zu zerbrechen: im praktischen Leben muss der Wagen des Elias der elektrischen Entladung weichen, aber als Legende soll er einen Ehrenplatz im Leben des Bauerntums behalten.»28 28 Alexander Tschajanow: Die Sozialagronomie, ihre Grundgedanken und Arbeitsmethoden. Berlin 1924, S. 32–33 (zit. in: Tschajanow: Reise, S. 120). Lenins Gedanken zum Genossenschaftswesen in: Werke. Band 33, S. 453 ff. Zu den Zusammenhängen ausführlich Stephan Merl: Der Agrarmarkt und die Neue Ökonomische Politik. Die Anfänge staatlicher Lenkung der Landwirtschaft in der Sowjetunion 1925–1928. München, Wien 1981 (speziell zu Čajanov in diesem Zusammenhang S. 199, 278–279, 311); vgl. Anm. 18. Interessanterweise ging auch Evgenij Preobraženskijs Theorie der »ursprünglichen sozialistischen Akkumulation« vom bäuerlichen Familienbetrieb aus, dessen Kapitalbildung über »Selbstausbeutung« durch die Preis- und Steuerpolitik zugunsten der Industrialisierung abgeschöpft werden könne: E. Preobraženskij: Die Neue Ökonomik. Berlin 1971 (russ. 1926); vgl. die Vorschläge Bazarovs und allgemein die »Industrialisierungsdebatte« (Anm. 24). Zu Kricman und seiner »Schule« – außer bereits genannten Titeln –: Leo N. Kritzman: Die heroische Periode der großen russischen Revolution. Nachdruck der Ausgabe von 1929. Frankfurt a. M. 1971 (mit einer Einleitung von Heiko Haumann, auch zur

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So hätte die Agrarpolitik durchaus auf wissenschaftlich fundierten Entwicklungsstrategien aufbauen können, die zudem die bäuerliche Lebenswelt ernst nahmen. Sie benötigten allerdings einen langen Atem. Als die Neue Ökonomische Politik immer deutlicher ihre Strukturprobleme zeigte, verloren jedoch mehr und mehr Politiker die Geduld. Der Austausch zwischen Stadt und Land kam nicht recht in Gang, die Bauern erhielten nach wie vor für ihr Angebot nicht in ausreichendem Maße das, was sie sich wünschten. Die Regierung verschärfte durch eine unangemessene Preispolitik und organisatorische Mängel das Problem, so dass weniger Lebensmittel in die Städte kamen, als möglich gewesen wäre. Nachdem regelmäßig krisenhafte Schwierigkeiten aufgetreten waren, machte sich allmählich eine Stimmung breit, man müsse die Bauern endlich unter Kontrolle bringen und die Agrarfrage ein für allemal lösen. Komplizierte Konzepte, die die vielschichtigen Verhältnisse auf dem Land berücksichtigten, verloren mehr und mehr an Attraktivität. Selbst Vorstellungen, Kollektivwirtschaften aus der obščina-Verfassung oder anderen traditionellen Formen im Dorf heraus zu entwickeln, um den Bauern den Übergang leichter zu machen, hatten keine Chance. Ende der zwanziger Jahre spitzte sich die Situation auf dem Land dramatisch zu. Die Partei- und Staatsführung war nicht mehr Herr der Lage, und auch örtliche Instanzen reagierten zusehends hilfsloser. Kompetenz, Ausbildungsstand und politische Erfahrung der oft jungen, soeben erst in ihre Ämter eingesetzten Funktionäre reichten in vielen Fällen nicht aus, angemessen zu handeln. Nach einem schonungslosen Machtkampf an der Spitze entschloss sich die Gruppe um Stalin 1929 zur »Flucht nach vorn«. Einen Rückzug wie 1921 wollte man nicht wieder antreten, weil man dann mit dem Zusammenbruch des Regimes rechnete. Deshalb beschleunigte man nun das Industrialisierungstempo in höchst einseitiger Weise und verkündete Ende des Jahres die »durchgängige Kollektivierung« – der Anfang 1929 verabschiedete erste Fünfjahrplan hatte lediglich 15 Prozent kollektivierter Haushalte am Ende des Planzeitraumes vorgesehen – sowie die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse«.29 Person Kricmans und zu einer Bibliographie seiner Arbeiten, S. V-LXVI); Terry Cox: Class Analysis of the Russian Peasantry: The Research of Kritsman and his School. In: Journal of Peasant Studies 11 (1983/84) S. 11–60; Gary Littlejohn: The Agrarian Marxist Research in its Political Context; State Policy and the Development of the Soviet Rural Class Structure in the 1920s. Ebd., S. 61–84 (das Heft enthält auch eine – allerdings recht unvollständige – Bibliographie der Schriften Kricmans und seiner »Schule«, S. 144–149). Zu Timirjazev: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija. 1. Ausgabe. Band 54, Sp. 250–256. 29 Haumann: Sozialismus als Ziel, S. 691–704, 737–758; Stephan Merl: Die Anfänge der Kollektivierung in der Sowjetunion. Übergang zur staatlichen Reglementierung der Produktions- und Marktbeziehungen im Dorf (1928–1930). Wiesbaden 1985; ders.: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930–1941. Berlin 1990.

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Dies war ein verzweifelter Versuch, das Heft wieder in die Hand zu bekommen und insbesondere die Agrarverhältnisse »von oben« zu vereinheitlichen, um sie lenken zu können. Da weder die subjektiven Voraussetzungen – der Wunsch der Bauern – noch die materiellen und organisatorischen gegeben waren, mündete das, was als Durchbruch, als »Sprung in den Sozialismus« propagiert wurde, in einem ökonomischen Fiasko, in brutaler Gewalt und in unnennbarem menschlichen Leid. Eine Umwälzung zu einer Bauern-Demokratie, von der Čajanov geträumt hatte, fand nicht statt. Die großen Güter, die nun geschaffen wurden, veränderten durchaus »die ganze Psychologie des Dorfes«, aber keineswegs in jener Weise, wie es sich die Planer von 1920 vorgestellt hatten. Von einem Bauern, der aus Interesse und Begeisterung, von den Vorzügen des neuen Systems überzeugt, für eine höhere Produktivität und den Sozialismus arbeitete, konnte keine Rede mehr sein. Schon gar nicht war jetzt noch an die Alternative zu denken, »das kleine Bäuerlein zu elektrifizieren«. Auch wenn die Elektrifizierung der Landwirtschaft weiter auf dem Programm stand und Stromleitungen in die Dörfer verlegt wurden, erfolgte keine »Elektrifizierung der Seelen«. Die einmalige Gelegenheit, vom bäuerlichen Familienbetrieb aus eine neue gemeinschaftlich organisierte Gesellschaft aufzubauen, war vertan.

Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung Russlands an der Jahreswende 1916/17* I. Verschwörungen

Gegen Ende des Jahres 1916 schwirrten in Petrograd Gerüchte durch die Luft, es werde bald grundlegende politische Veränderungen geben.1 In den Salons war es Mode, letzte Meldungen über den Stand der »Verschwörung« oder gar »Palastrevolution« auszutauschen. In der Bevölkerung der Hauptstadt gärte es, weil die Lebensmittelversorgung immer schlechter wurde. Die Arbeiterschaft radikalisierte sich, im Oktober war es wieder zu einem aufsehenerregenden Streik mit Strassenkämpfen gekommen. Pavel N. Miljukov, der Führer der Konstitutionell-Demokratischen Partei, abgekürzt Kadetten genannt, machte sich zum Sprecher einer verbreiteten Stimmung, als er am 1. November 1916 in der Duma das Versagen der Regierung geißelte und, anspielend auf deutschfreundliche Kreise an der Staatsspitze sowie auf die deutsche Herkunft der Zarin Aleksandra, jeden seiner Angriffe mit der rhetorischen Frage schloss: »Ist es Dummheit, oder ist es Verrat?« Alles wartete darauf, dass etwas geschehen müsse. Wieder war es Miljukov, der am 16. Dezember 1916 der Regierung und den Duma-Abgeordneten zurief: »Die Luft ist voller Elektrizität, und man fühlt das Nahen eines Gewitters. Niemand kann sagen, wann oder wo der erste Donnerschlag erfolgen wird, aber damit der Sturm nicht in einer Art losbrechen soll, die wir nicht wünschen, müssen wir in Verbindung mit dem Volk energisch versuchen, den Sturm selbst zu verhindern.»2 * Erstpublikation in: Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreiches. Hg. von Heiko Haumann und Stefan Plaggenborg. Frankfurt a. M. etc. 1994, S. 353–370. 1 Die Frage der Leistungsbilanz des Zarenreiches und seiner Entwicklungsmöglichkeiten stand immer wieder im Mittelpunkt gemeinsamer Arbeiten und Diskussionen, seitdem ich 1972 als Assistent zu Gottfried Schramm gekommen war: in einem Arbeitskreis, der sich mit Russland im Ersten Weltkrieg beschäftigte, beim dritten Band des Handbuches der Geschichte Russlands, im Zusammenhang mit meiner Habilitationsschrift – um nur diese drei Projekte zu nennen. Meine Hommage an Gottfried Schramm soll es sein, diese Erörterungen noch einmal aufzugreifen und fortzuführen. 2 Diese knapp geschilderte Stimmung findet sich in allen Erinnerungen und zeitgenössischen Berichten. Zum Auftreten Miljukovs hier Pearson, Raymond: The Russian Moderates and the Crisis of Tsarism 1914–1917. London, Basingstoke 1977, S. 115, 124. Zum Problem einer Annäherung an Deutschland: Bonwetsch, Bernd: Russland und der Separatfrieden im Ersten Weltkrieg. Zum Stand einer Kontroverse. In: Geschichte und Gesellschaft  3 (1977) S. 125–149. – Überblickswerke, die im folgenden immer wieder heranzuziehen

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Miljukov fürchtete, dass die Krise des zarischen Systems außer Kontrolle geraten könne. Deshalb versuchte er, die Öffentlichkeit zu beruhigen und seine politischen Freunde zur Zurückhaltung zu bewegen. Aber nicht alle dachten so. Fürst Georgij E. L’vov, der gemäßigt-liberale Vorsitzende des Zemstvo-Bundes und spätere erste Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, vertrat die Ansicht, man müsse die Staatsspitze ersetzen, um den Zusammenbruch des Reiches aufzuhalten. An erster Stelle sei der verderbliche Einfluss der Zarin – und damit auch des Wundermönches Grigorij E. Rasputin – auszuschalten. Als es hieß, sie wolle mit dem Zaren zusammen im Hauptquartier leben, gelang es L‘ vov – folgt man den nicht ganz unumstrittenen Quellen –, General Michail V. Alekseev, den Generalstabschef der russischen Truppen, für einen Plan zu gewinnen: Die Zarin sollte am 30. November 1916 auf ihrem Weg ins Hauptquartier abgefangen und Zar Nikolaus gezwungen werden, ein Ministerium des Vertrauens mit L’vov an der Spitze zu bilden. Doch bevor dieser Plan ausgeführt werden konnte, erkrankte Alekseev und musste das Hauptquartier verlassen, um sich auszukurieren. Weiteren Projekten L’vovs versagte er sich. Dieser dachte inzwischen daran, den Zaren selbst zu entmachten und durch den populären Großfürsten Nikolaj Nikolaevič zu ersetzen. Gesinnungsgenossen teilte L’vov mit, General A. A. Manikovskij, der kompetente Leiter der Artillerie-Hauptverwaltung beim Kriegsministerium, habe ihm die Unterstützung der Armee zugesagt. Dies war wohl etwas voreilig, denn in den Sondierungsgesprächen beim Großfürsten und seiner Umgebung stellte sich heraus, dass man sich der Armee keineswegs sicher sein konnte. Nikolaj Nikolaevič war deshalb auch nicht bereit, sich auf die Verschwörung einzulassen.3 Ein zweiter Verschwörerkreis bildete sich um den Führer der gemäßigt-konservativen Oktobristen-Partei, Aleksandr I. Gučkov. Er war enttäuscht über die wenig entschlossene Haltung der seit 1915 im Progressiven Block verbundenen Duma-Parteien und sah nur noch in einer Palastrevolution einen Ausweg, um den Krieg erfolgreich weiterzuführen und das System vor einer Volksrevolution sind, ohne dass sie ausdrücklich genannt werden: Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3: 1856–1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. Hrsg. von Gottfried Schramm. 1. Halbband. Stuttgart 1983, bes. Kapitel IV; Geyer, Dietrich: Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven. 2. Aufl. Göttingen 1977; Hildermeier, Manfred: Die Russische Revolution 1905–1921. Frankfurt a. M. 1989; Bonwetsch, Bernd: Die russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz. Darmstadt 1991. 3 Die Quellenbelege für diese Pläne sind zusammengefasst bei Hasegawa, Tsuyoski: The February Revolution: Petrograd, 1917. Seattle, London 1981, S. 55,185–187. Vgl. Schramm, Gottfried: Die russische Armee als politischer Faktor vor der Februarrevolution (1914– 1917). In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 18 (1975) S. 33–62, hier S. 50–53.

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zu retten. Seine Idee ähnelte derjenigen L’vovs: Der Zar sollte während einer Eisenbahnfahrt zwischen seinem Palast in Carskoe Selo und dem Hauptquartier in Mogilev festgehalten und von einem geeigneteren Monarchen abgelöst werden. Über die Einzelheiten der Verschwörung berichten die Quellen widersprüchlich. Offenbar wurden zahlreiche Personen in den Plan eingeweiht. Dabei scheint die gemeinsame Mitgliedschaft bei den Freimaurern eine gewisse Rolle gespielt zu haben, um Treffen und Gespräche zu erleichtern. Politische Übereinstimmung war dadurch allerdings noch nicht gewährleistet. Liberale um Miljukov oder Konservative um den Oktobristen und Duma-Präsidenten Michail V. Rodzjanko lehnten es ab, sich an einer verfassungswidrigen Aktion zu beteiligen. Nicht völlig abgeneigt waren anscheinend linksliberale Politiker und Unternehmer wie Aleksandr I. Konovalov und Pavel P. Rjabušinskij, doch zögerten sie, sich mit Gučkov zu verbünden, weil sie nicht die Monarchie erhalten wollten, sondern eine Republik anstrebten. Eine Reihe Militärs sagte Gučkov ihre Hilfe zu. Aber die Vorbereitungen für den Putsch gingen nur langsam voran; nach einem Hinweis war Gučkov selbst vorübergehend durch einen Herzanfall geschwächt. Als man schliesslich einen Termin im März 1917 ins Auge fasste, war es zu spät: Die Februarrevolution überholte alle geheimen Verschwörungen.4 Damit waren auch alle Ansätze zunichte gemacht, in einem Bündnis der Linksliberalen mit sozialistischen Kreisen eine Alternative zur zarischen Ordnung zu schaffen und auf diese Weise einen Aufstand der Massen zu vermeiden. Konovalov und einige weitere Anhänger dieser Position hatten dabei auf Überlegungen und Kontakte vor dem Ersten Weltkrieg zurückgegriffen. Sie förderten die Wahl einer Arbeiter-Gruppe bei den Kriegs-Industriekomitees, um die Arbeiterbewegung für eine Unterstützung der Kriegswirtschaft zu gewinnen und sie zugleich in eine gemeinsame Oppositionsfront gegen den Zarismus einzubinden. Mit einzelnen sozialistischen Politikern wurden – wiederum teilweise über Freimaurer-Verbindungen erleichtert – Gespräche geführt. Zu engeren Absprachen kam es jedoch lediglich mit dem Trudovik Aleksandr F. Kerenskij, der später Justiz- und Kriegsminister, dann sogar der letzte Ministerpräsident der Provisorischen Regierung werden sollte. Ansonsten blieb die Gruppe isoliert, auf den Gang der Ereignisse im Februar 1917 hatte sie keinen Einfluss. Die gemäßigten Liberalen – mit Miljukov an der Spitze – versagten sich einer gemeinsamen Protestversammlung gegen die Verhaftung der Arbeiter-Gruppe Ende Januar 1917, ja sie erweckten in der Öffentlichkeit eher den Eindruck, als näherten sie sich wieder der Regierung an. Aleksandr G. Šljapnikov, einer 4 Nach Hasegawa, February Revolution, S. 187–197; Pearson, Russian Moderates, S. 128– 129; Pipes, Richard: The Russian Revolution 1899–1919. London 1990, S. 269. Vgl. Nikolaevskij, B. I.: Russkie masony i revoljncija. Moskva 1990.

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der führenden Bolschewiki in Petrograd, schrieb am 11. Februar 1917 an das Zentralkomitee seiner Partei in der Schweiz, jene verhielten sich wie »Schurken gegenüber der revolutionären Bewegung«.5 Im Januar 1917 berichtete die Ochrana, die zaristische Geheimpolizei, eine Gruppe um Fürst L’vov, Gučkov und Konovalov erwarte einen Umsturz, wolle Massendemonstrationen verhindern und verteile bereits Ministersitze in einer künftigen Regierung.6 Die Zentren der Verschwörungen waren somit durchaus bekannt, doch so geschlossen, wie es hier den Anschein hat, hielt die Gruppe keineswegs zusammen. Im Gegenteil: Im nachhinein erwecken all diese Projekte den Eindruck der Zersplitterung, des Dilettantismus und der Hilflosigkeit. Leicht waren sie durch Zufälle und Erkrankungen zum Einsturz zu bringen. Dies dürfte auf strukturelle Probleme zurückzuführen sein. II. Stärke und Schwäche der Unternehmer

Die Persönlichkeiten, die in irgendeiner Weise in die Verschwörungspläne verwickelt waren, gehörten überwiegend zu denjenigen, die seit langem aus liberaler oder gemäßigt-konservativer Sicht Kritik an der Innen- und Wirtschaftspolitik geübt und eine Änderung des Kurses verlangt hatten. Auffallend ist der hohe Anteil an Unternehmern: Gučkov, Konovalov und Rjabušinskij zählten wie einige weitere Teilnehmer des konspirativen Kreises zu jenen Industriellenfamilien des Konsumgütersektors, die ursprünglich der leibeigenen Bauernschaft – teilweise altgläubigen Bekenntnisses – entstammten und im Moskauer Raum Textilfabriken oder Betriebe der Nahrungsmittelverarbeitung aufgebaut hatten. Dieser Typus des »Moskauer« Unternehmers fühlte sich als echt russisch, als »Herr«, der das Heft der Firma in der Hand behielt und Einflüs5 Hasegawa, February Revolution, S. 172–184, 194–197; Pearson, Russian Moderates, S.  129–130, 135–138; Galili, Ziva: Commercial-Industrial Circles in Revolution: The Failure of »Industrial Progressivism«. In: Revolution in Russia: Reassessments of 1917. Ed. by Edith Rogovin Frankel, Jonathan Frankel and Baruch Knei-Paz. Cambridge etc. 1992, S. 188–216, hier S. 192; Haumann, Heiko: Kapitalismus im zaristischen Staat 1906–1917. Organisationsformen, Machtverhältnisse und Leistungsbilanz im Industrialisierungsprozess. Königstein 1980, S. 42, 98–99, 108, 148, 258. Speziell zu den Kriegs-Industriekomitees Siegelbaum, Lewis H.: The Politics of Industrial Mobilization in Russia 1914–17. A Study of the War-Industries Committees. Oxford 1983. Das Zitat bei Šljapnikov, A. G.: Semnadcatyj god. Moskva 1992, S. 60. Zur Tradition der Bündnisversuche zwischen Liberalen und Sozialisten vgl. Haimson, Leopold: Das Problem der sozialen Stabilität im städtischen Russland 1905–1917. In: Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Hrsg. von Dietrich Geyer. Köln 1975, S. 304–332, hier S. 319, 332, 325–326. 6 Hasegawa, February Revolution, S. 189; Pipes, Russian Revolution, S. 270.

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sen ausländischen Kapitals oder auch der staatlichen Bürokratie misstrauisch gegenüberstand. Deshalb sah er auch verächtlich auf den »Petersburger« Unternehmertypus herab, der sich nicht zuletzt aus Ingenieuren, Technikern und Staatsbeamten rekrutierte, im Produktionsmittel- und Rüstungssektor tätig war und sich in riesigen Aktiengesellschaften eng mit dem Auslandskapital und dem Staat verband. Die Kritik der »Moskauer« an der Regierung richtete sich gegen deren einseitige Bevorzugung der Schwerindustrie im Rahmen ihrer Industrialisierungsstrategie. Dadurch wurde die Massenkaufkraft derart abgeschöpft, dass die Konsumgüterbranchen ihren Absatz nicht wie gewünscht ausweiten konnten. Deshalb forderten sie eine Liberalisierung der staatlichen Wirtschaftspolitik. Sie trafen sich dabei mit einer Reihe von adligen Großgrundbesitzern, die ökonomisch mit den »Moskauern« zusammenarbeiteten und sich selbst zunehmend in der Industrie engagierten. Zu ihnen rechnete Fürst L’vov, einer der größten Grundbesitzer Russlands, der im Ersten Weltkrieg als Unternehmer tätig geworden war und die bedeutende Aktiengesellschaft Snabženie (Versorgung) gegründet hatte. Während des Krieges sammelten sich die Kritiker der zaristischen Wirtschaftspolitik in den Kriegs-Industriekomitees und ihnen nahestehenden Organisationen wie dem Zemstvo- und dem Städte-Bund. Mit diesen »gesellschaftlichen« Einrichtungen sollte den nachteiligen Folgen der staatlichen Industrialisierungsstrategie und der zu Beginn des Krieges zutage getretenen Unfähigkeit, die Rüstungswirtschaft wirksam zu organisieren, begegnet und zugleich ein politisches Gegengewicht gegen die Regierung geschaffen werden.7 7 Hierzu ausführlich und mit Quellennachweisen Haumann, Kapitalismus; auch ders.: Unternehmer in der Industrialisierung Russlands und Deutschlands. Zum Problem des Zusammenhanges von Herkunft und politischer Orientierung. In: Scripta Mercaturiae 20 (1986) S. 143–161; ders.: Die Wirtschaft. In: Handbuch der Geschichte Russlands, Band 3, 2. Halbband. Stuttgart 1992, S. 1193–1297. Vgl. Galili, Commercial-Industrial Circles, S. 188–195; West, James L.: The Riabushinsky Circle: Burzhuaziia and Obshchestvennost’ in Late Imperial Russia. In: Between Tsar and People. Educated Society and the Quest for Public Identity in Late Imperial Russia. Ed. by Edith W. Clowes, Samuel D. Kassow, and James L. West. Princeton, N. J. 1991, S. 41–56; Siegelbaum, Lewis: Russia’s Future: A Study in the Hegemonic Aspirations of the Commercial-Industrial Class before the October Revolution. In: Russian and Eastern European History. Selected Papers from the Second World Congress for Soviet and East European Studies. Ed. by R. C. Elwood. Berkeley 1984, S. 121–151; ders.: Politics; Roosa, Ruth Amende: Russian Industrialists during World War I. In: Entrepreneurship in Imperial Russia and the Soviet Union. Ed. by Gregory Guroff and Fred V. Carstensen. Princeton, N. J. 1983, S. 159–187; Gross, Hellmut: Selbstverwaltung und Staatskrise in Russland 1914–1917. Macht und Ohnmacht von Adel und Bourgeoisie am Vorabend der Februarrevolution. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 28 (1981) S. 205–381.

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Insofern scheint doch die Einschätzung der Ochrana zuzutreffen, hier habe es sich um eine geschlossene Oppositionsgruppe gehandelt. Doch der Schein täuscht. In Wirklichkeit hatten sich inzwischen Differenzierungen vollzogen, die die strukturelle Vielschichtigkeit Russlands noch vertieften und die Schlagkraft der Opposition entscheidend schwächten. Nach einem ersten Aufschwung im Sommer 1915, als das Zentrale Kriegs-Industriekomitee wie eine »zweite Regierung« erschien8 und die Fäden für die Vergabe von Rüstungsaufträgen bei ihm zusammenliefen, zeigte sich bald, dass vorwiegend kleinere und mittlere Betriebe zur kontinuierlichen Zusammenarbeit bereit waren. Bis Anfang 1917 dürften lediglich rund fünf Prozent aller Rüstungsaufträge über die Komitees gelaufen sein. Damit waren sie letztlich für die Kriegswirtschaft weitgehend bedeutungslos. Die Schwerindustrie hatte sich – bis auf Betriebe im Moskauer Raum – aus den Komitees zurückgezogen oder ließ die Geschäfte höchstens noch formal über sie laufen. Ihre Unternehmer fühlten ihre Interessen nicht ausreichend vertreten und erkannten vor allem, dass Aufträge und Vorschüsse wesentlich günstiger durch unmittelbare Verbindungen zu den staatlichen Kriegsbehörden zu erlangen waren.9 Der spätere Innenminister Aleksandr D. Protopopov – ein Großgrundbesitzer und Tuchfabrikant mit guten Beziehungen zu Banken und zur Schwerindustrie – hatte als Vertreter der DumaKommission für Handel und Industrie die Kriegs-Industriekomitees auf ihrem 1. Kongress im Juli 1915 noch von »ganzem Herzen« begrüsst.10 Anfang 1916 wählten ihn die Unternehmer wichtiger Rüstungsfirmen zum Vorsitzenden des soeben gegründeten Rates der Kongresse der großen metallverarbeitenden Betriebe. Sie reagierten damit auf die eingetretene Entwicklung, zumal es das Zentrale Kriegs-Industriekomitee abgelehnt hatte, für sie eine besondere Sektion zu bilden. Wo die ökonomische Macht lag, wurde nun schlagartig deutlich: Bis zur Februarrevolution lieferten die durch den Rat repräsentierten Firmen 80 Prozent der Kriegsversorgung – die Kriegs-Industriekomitees schnitten dagegen kläglich ab, selbst die Staatsbetriebe übertrafen mit 15 Prozent noch deren Beitrag.11 8 Sidorov, A. L.: Ėkonomičeskoe položenie Rossii v gody pervoj mirovoj vojny. Moskva 1973, S. 97, 99; Bukšpan, Ja. M.: Voenno-chozjajstvennaja politika. Formy i organy regulirovanija narodnogo chozjajstva za vremja mirovoj vojny 1914–1918 gg. Moskva, Leningrad 1929, S. 295. 9 Haumann, Kapitalismus, S. 96–98 (mit weiteren Nachweisen). 10 Trudy S-ezda Predstavitelej Voenno-Promyšlennych Komitetov 25–27 ijulja 1915 g. Petrograd 1915, S. 79–82. Zu Protopopov (mit weiteren Nachweisen) Haumann, Kapitalismus, S. 138–141. 11 Predsmertnaja zapiska A. D. Protopopova. In: Golos minuvšago na čužoj storona 15 (1926) Nr. 2, S. 167–193, hier S. 181–182; vgl. Djakin, V. S.: Russkaja buržuazija i carizm

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Die Regierung unterstützte diese Entwicklung nach Kräften. Sie sah darin die Möglichkeit, die Komitees als eigenständige Initiative der Bourgeoisie mit quasi-staatlichen Funktionen – so etwas hatte es bislang in der Geschichte der zarischen Selbstherrschaft noch nicht gegeben – wieder zurückzudrängen und damit zugleich die politische Opposition zu schwächen. Merkwürdigerweise erhob sich kein Proteststurm bei den Unternehmern, die die Komitees leiteten und nun doch ihr keineswegs geringes politisches und wirtschaftliches Gewicht in die Waagschale hätten werfen können. Sie benutzten weiterhin die Komitees als politisches Forum für Kritik an der Regierung, taten aber wenig, um die Kriegswirtschaftspolitik grundsätzlich zu ändern, und gingen sogar mehr und mehr dazu über, selbst den direkten Weg zu staatlichen Behörden zu suchen und von deren Möglichkeiten der Auftragsvergabe und Vorschusszuteilung zu profitieren. Der oppositionelle Teil der Bourgeoisie liess sich somit unter den Bedingungen des Krieges in das ökonomische System des Zarismus integrieren und damit entscheidend schwächen.12 Dieses Verhalten ist nicht einfach als Opportunismus zu interpretieren. Die politisch aktiven Vertreter des gegenüber der Regierung kritisch eingestellten Flügels der Bourgeoisie hatten erkannt, dass es nicht möglich war, über die Kriegs-Industriekomitees eine »Einheitsfront« der Unternehmer herzustellen. Auch der Vorschlag einiger Industrieller und linker Kadetten, im Sommer 1915 einen gesamtrussischen Streik zu organisieren, um zu verhindern, dass die Autokratie zu neuer Stärke zurückfinde, hatte keine ausreichende Resonanz gefunden. So fand man sich dann bereit, durch die Zusammenarbeit mit der Regierung wenigstens einen begrenzten Einfluss auszuüben, um nicht völlig verdrängt zu werden, wenn schon die Kraft nicht zu einer grundsätzlichen Veränderung der Ordnung genüge. Am deutlichsten zeigte sich dies im BaumwollKomitee, einem der wichtigsten Lenkungsorgane der russischen Kriegswirtschaft, in dem Fachleute des Staatsapparates gemeinsam mit Unternehmern Fragen der Produktion und Verteilung regelten. Hier kam die Regierung der Bourgeoisie durchaus entgegen, war zur Zahlung überhöhter Preise bereit, ging vielfach auf die Wünsche der Kapitalisten ein, »vergaß« deren politische Opposition. Im Gegenzug stellten die Unternehmer keine Forderungen, die auf einen Wandel des zarischen Systems abzielten.13 Neben der Überlegung, der politischen Auseinandersetzung mit der Autokratie noch nicht gewachsen zu sein, und neben der allmählichen Integration in das System spielte ein weiterer Grund eine Rolle. Während des Krieges verv gody mirovoj vojny (1914–1917). Leningrad 1967, S. 187 ff., 228. 12 Haumann, Kapitalismus, S. 99–101. 13 Haumann, Kapitalismus, S. 107–108.

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suchten mehr und mehr Unternehmer der Konsumgüterbranchen, aus der Beschränkung auf ihren Sektor auszubrechen und in den Produktionsmittelsektor vorzudringen. Auf den ersten Blick spiegelt sich darin lediglich das naheliegende Bestreben wider, unter den gegebenen Bedingungen an den Verdienstmöglichkeiten der Rüstungsproduktion teilzuhaben. Doch darüber hinaus wird sichtbar, wie sich die Tätigkeit der »Moskauer« derjenigen der »Petersburger« – um bei dieser Typologie zu bleiben – auch strukturell annäherte. Namentlich die Unternehmensgruppen von N. A. Vtorov, I. I. Stacheev sowie der Gebrüder Rjabušinskij entwickelten Strategien zur verstärkten Konzentration. Dabei wurden in modernen Konzernformen – mehr oder weniger kräftig ausgeprägt – verschiedene Industriezweige miteinander verbunden, von Rohstoffen über Konsumgüter bis zu Produktionsmitteln und Rüstungserzeugnissen. Interessanterweise bezogen diese Gruppen, insbesondere Vtorov, gezielt zukunftsträchtige Branchen wie die chemische und Elektroindustrie mit ein. Ebenso beteiligten sie sich an den grossen Geschäftsbanken, die den traditionellen »Moskauern« mit ihren Depotbanken ein Greuel gewesen waren, oder bauten selbst eigene auf. Dadurch kam es auch zu vielfältigen Beziehungen zu den »Petersburgern«, nicht zuletzt zur Putilov-Gruppe.14 So verschmolzen in einigen Bereichen verschiedene Kapitalformen, die bislang weitgehend unabhängig voneinander gewesen waren – eine Entwicklung, die vermutlich auch ohne den Krieg eingetreten wäre, doch durch diesen beschleunigt wurde. Diese zunehmenden ökonomischen und organisatorischen Verflechtungen stärkten jedoch nicht die Unabhängigkeit der Kapitalisten vom Staat, führten nicht zu einem geschlosseneren Auftreten der Bourgeoisie. Die Heterogenität der Produktionsweisen in Russland verminderte sich, die »Verkrüppelungen« des Kapitalismus bildeten sich zurück.15 Aber sie wirkten nach, indem nun die Bindung der Bourgeoisie an das Regime keineswegs gelockert, sondern die Integration in das zarische System eher vertieft wurde. Die Großunternehmer setzten auf Planmäßigkeit und engere Verzahnung mit der Regierungspolitik, wollten aber auch keine bloßen Ausführungsorgane staatlicher Vorgaben sein. Ein deutliches Zeichen ihrer Strategie – über den Krieg hinaus – war ein Vorschlag, der auf dem IX. Kongress der Vertreter von Handel und Industrie Mitte 1915 vorgetragen wurde: Eine einzige, als Aktiengesellschaft organisierte Industriebank solle auf der Grundlage eines langfristigen Plans Kapital heranziehen und verteilen. In dieser Bank verfüge der Staat 14 Haumann, Kapitalismus, S. 86–91. 15 Der Begriff des »verkrüppelten Kapitalismus« bei Haumann, Kapitalismus, S. 69, 152 (im Anschluss an Karl Marx, der 1847 in seinem Werk »Die moralisierende Kritik und die kritische Moral« vom »verkrüppelten Entwicklungsgang der deutschen Bürgerklasse« sprach, vgl. Marx, Karl, Engels, Friedrich: Werke. Band 4. Berlin 1969, S. 346).

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über mindestens die Hälfte der Anteile.16 Die Kräfte, aus der Bourgeosie heraus eine Opposition gegen die zarische Ordnung mit dem Ziel ihrer grundlegenden Veränderung aufzubauen, schwächten sich ab. Viele Unternehmer sahen, dass es für sie keine Alternative zum Bündnis mit der Autokratie gab. Sie hofften, dass eine Revolution doch noch zu vermeiden sei, da ihnen klar war, dass ein Zusammenbruch des Systems auch sie selbst, die so eng mit ihm verbunden waren, unmittelbar bedrohte. Putilov drückte diese Befürchtungen am 2. Juni 1915 in einem Gespräch mit dem französischen Botschafter Paléoloque eindringlich aus: »Die Tage des Zarismus sind gezählt; er ist verloren, unheilbar verloren; aber der Zarismus ist das Gebälk Russlands und das einzige Band seiner nationalen Einheit. (...) Zweifellos werden es die Bourgeois, die Intellektuellen, die ›Kadetten‹ sein, die das Signal zur Revolution geben werden, im Glauben, Russland zu retten. Aber von der bürgerlichen Revolution werden wir sofort in die Arbeiterrevolution fallen und bald danach in die Bauernrevolution. Dann wird eine entsetzliche Anarchie beginnen, eine endlose Anarchie (...) Man wird die Epoche Pugačevs wiedersehen, und vielleicht noch Schlimmeres!«17 Die Wogen des Volksaufstandes würden nicht nur die Selbstherrschaft, sondern auch die Unternehmer hinwegschwemmen – mit dieser Ansicht stand Putilov keineswegs allein. Indem sich auch die kritisch eingestellten Unternehmer in das System einbinden ließen, gerieten sie in ein kaum lösbares Dilemma: Öffentlich griffen sie nach wie vor die Regierung an und verlangten politische Veränderungen, zugleich arbeiteten sie jedoch mit ihr zusammen und machten gute Geschäfte dabei – was der Öffentlichkeit nicht ganz verborgen blieb. Die strukturelle Vielschichtigkeit verlagerte sich, ökonomisches und politisches Verhalten klafften mehr und mehr auseinander. Damit war aber auch das politische Gewicht der kritisch-liberalen Unternehmer entscheidend geschwächt. III. Die letzte Inszenierung der Selbstherrschaft

Aus dieser Veränderung des Kräfteverhältnisses konnte gefolgert werden, dass die Autokratie wieder Tritt gefasst habe. Die Regierung war nach der Schwächeperiode zu Beginn des Krieges in die Offensive gegangen. Sie hatte den Einfluss 16 Doklad Soveta S-ezdov o merach k razvitiju proizvoditel‘nych sil Rossii (9. Očerednyj S-ezd Predstavitelej Promyšlennosti i Torgovli). Petrograd 1915, S. 325–340, besonders S. 336– 340. 17 Paléoloque, M.: La Russie des Tsars pendant la Grande Guerre. 3 Bde. Paris 1921–22, hier Bd. 1, S. 371–372. Vgl. Gučkov, Aleksandr I.: Reči po voprosam gosudarstvennoj oborony i ob obščej politike 1908–1917. Petrograd 1917, S. 111–112.

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der Kriegs-Industriekomitees und anderer gesellschaftlicher Organisationen zurückdrängen können. Weitere Anzeichen belegen die neu gewonnene Initiative. Das auf Anregung von Großindustriellen, Bankiers und Duma-Abgeordneten im Frühjahr und Sommer 1915 geschaffene System von Sonderberatungen (Osoboe soveščanie) wurde zur zentralen kriegswirtschaftlichen Lenkungseinrichtung. Hier saßen Vertreter der Ministerien und Behörden, der Duma und des Staatsrates, verschiedener gesellschaftlicher Organisationen sowie je nach Bedarf geladene Einzelpersönlichkeiten zusammen, um die notwendigen Maßnahmen zu erörtern. Mit einer Reihe von Untergliederungen, Kommissionen und Komitees konnte ein eigener Apparat aufgebaut werden. Waren diese »staatskapitalistischen« Organe zunächst ein Kompromiss zwischen Staat und Gesellschaft, so behielt der Staat doch die Fäden in der Hand, ja konnte sogar seinen Einfluss vergrößern, nachdem der Anlauf der Kriegs-Industriekomitees steckengeblieben war. Die Ende 1915 eingerichtete und 1916 mit ausgeweiteten Kompetenzen versehene »Beratung der fünf Minister«, die die Tätigkeit der Sonderberatungen koordinieren sollte, symbolisiert dies nach außen. Nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit den Großunternehmern der Rüstungsindustrie – in die sich dann vermehrt zuvor eher kritisch eingestellte Kapitalisten eingliederten – setzten die Behörden in vielen Fragen ihre Ansichten durch und konnten in Teilbereichen der kriegswirtschaftlichen Versorgung durchaus Erfolge erzielen. Allerdings wäre es verfehlt, daraus zu folgern, der Staatsapparat habe die Industrie vollends unter Kontrolle und Abhängigkeit gebracht. Wie sich am deutlichsten an Konflikten um die Rohstoffversorgung der Metallbetriebe, um die »Militarisierung der Arbeit« und um die Sequestrierung von Rüstungsfirmen – an der Spitze die Putilov-Werke – zeigte, vermochten die Unternehmer sehr wohl, ihre Interessen zu wahren. Auch wenn sie sich nicht mit der Autokratie identifizierten, waren sie zur Zusammenarbeit mit ihr bereit, um ihre Geschäfte nicht zu verderben, wiesen aber Versuche zurück, sich den staatlichen Organen vollständig unterzuordnen. Sie fühlten sich nicht stark genug, um eine Änderung des politischen Systems zu erzwingen. Der Staat hingegen war trotz neu gewonnener Kraft nicht imstande, die Organisation der Wirtschaft uneingeschränkt in die Hand zu bekommen. Dabei standen sich im übrigen Staat und Bourgeoisie nicht einheitlich und geschlossen gegenüber – die Konfliktlinien zogen sich quer durch beide Seiten. Insofern verwundert es nicht, dass die kriegswirtschaftliche Politik in hohem Masse einen ZickZack-Kurs steuerte.18 18 Ausführlich dazu (mit entsprechenden Nachweisen) Haumann, Kapitalismus, S. 93–95, 102–132. Vgl. Siegelbaum, Politics; Laveryčev, V. Ja.: Voennyj gosudarstvenno-mono-

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Stärke und Schwäche des Staates lagen auch in anderen Bereichen nahe beieinander. Zar Nikolaus II. dokumentierte, als er im August 1915 selbst den Oberbefehl über die Streitkräfte übernahm, nicht nur seine Solidarität mit der durch schwere Niederlagen angeschlagenen Truppe, sondern auch den Willen, die Selbstherrschaft deutlicher als zuvor zur Geltung zu bringen. Doch der Absicht folgten keine Taten. Von einer straffen politischen Führung konnte keine Rede sein. Das Ministerkarussell drehte sich beängstigend schnell, ohne dass es dem Zaren gelang, überzeugende Persönlichkeiten zu präsentieren. Da sich zugleich die Verweigerungshaltung gegenüber Reformen an der Staatsspitze versteifte, schwand das Prestige des Regimes mehr und mehr – und mit ihm der Nimbus des Zaren, der sich derart in das Rampenlicht der Kritik gestellt hatte. Gerüchte über das verderbte Leben am Hofe im Umkreis Rasputins, wo auch ein Verrat zugunsten Deutschlands vorbereitet werde, fanden deshalb reiche Nahrung.19 Anhänger der Autokratie brachten in der Nacht vom 16. zum 17. Dezember 1916 Rasputin um, damit dieser »Schandfleck« für das zarische System beseitigt sei. Doch ihre Hoffnung trog, das Regime werde dadurch endlich neue Energien freisetzen können, die eine Perspektive für die überkommene Ordnung böten.20 Beim Militär selbst spiegelte sich die Ambivalenz von Stärke und Schwäche wider. Des Zaren Generalstabschef, Michail V. Alekseev, versuchte durchaus, den Wirrwarr in der Kompetenzverteilung, im Zusammenwirken von zivilen und militärischen Stellen, in den Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Kräften, zwischen Regierung, Bourgeoisie und Agrariern zu beenden. Im Juni 1916 legte er dem Zaren einen Plan vor, durch einen »Überminister« (verchovnyj ministr) die für den Krieg wichtigsten Ministerien und das System der Sonderberatungen zu koordinieren und integrieren. Minister wie Parlamentarier lehnten diesen Plan ab, und der Zar erwies sich als zu schwach, um ihn oder eine andere vereinheitlichende Lösung durchzusetzen.21 Ähnlich scheiterte später das Projekt eines Lebensmitteldiktators (verchovnyj načal’nik) oder zumindest die Ernennung eines Generals zum Landwirtschaftsminister.22

19 20 21 22

polističeskij kapitalizm v Rossii. Moskva 1988; Polikarpov, V. V.: Antimonopol‘naja politika samoderžavija v 1914–1917 godach. In: Voprosy istorii (1992) Nr. 11–12, S. 20–32. Vgl. Schramm, Gottfried: Militarisierung und Demokratisierung: Typen der Massenintegration im Ersten Weltkrieg. In: Francia 3 (1975) S. 476–497, hier S. 489; ders.: Die russische Armee, S. 38–42. Hasegawa, February Revolution, S. 60–61, vgl. S. 145–158. Schramm, Die russische Armee, S. 46–49. Sidorov, Ėkonomičeskoe položenie, S. 481–482. Vgl. zu den Versuchen der Regierung, die Lebensmittelversorgung zu sichern, Lih, Lars T.: Bread and Authority in Russia, 1914– 1921. Berkeley etc. 1990, S. 32–56.

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Die Spitzen des Militärs setzten also ebenfalls ihr Gewicht nicht ein, um eine Änderung des Systems nach ihren Vorstellungen zu erzwingen. Dabei hätten sie ihre gestiegene Autorität nutzen können: Nach den anfänglichen Niederlagen war es gelungen, die Front weitgehend zu stabilisieren. Im Sommer 1916 konnte sogar ein beträchtlicher Angriffserfolg erzielt werden. Für 1917 war eine neue, großangelegte Offensive beabsichtigt. Ebenso war die Versorgung der Armee mit Rüstungsgütern – trotz aller Widersprüche – erheblich verbessert worden. Zwar beobachtete die Führung mit Besorgnis, dass im Unterschied zur Rumänien- und Galizienfront im Westen und Norden die Verdrossenheit, Unzufriedenheit und Kriegsmüdigkeit unter den Soldaten auch nach den Offensiverfolgen von 1916 ständig zunahm. Allerdings wäre es übertrieben, bereits von einer allgemeinen Unzuverlässigkeit zu sprechen. Ende 1916 und Anfang 1917 stand demnach die Armee insgesamt nicht schlecht da.23 Als der Zar im September 1916 Aleksandr Protopopov zum neuen Innenminister ernannte, schien es so, als ob die Regierung nun doch, bei allem Lavieren, bereit sei, entschlossen das Gesetz des Handelns an sich zu reißen. Gewiss konnte man in seiner Berufung auch eine Intrige aus dem Kreis der Günstlinge um die Zarin sehen. Doch es steckte mehr dahinter. Protopopov, als Oktobrist Mitglied der Duma, ließ die Hoffnungen steigen, der Zar werde endlich den Parlamentariern entgegenkommen und die Verbindung zur »Gesellschaft« suchen. Zugleich symbolisierte er als Gutsbesitzer und Fabrikant das Bestreben, die Interessen von Agrariern und Großbourgeoisie auszugleichen. Seine Wahl brachte zum Ausdruck, dass die Bedeutung der Schwerindustrie und der Banken im Entscheidungszentrum des Systems gewachsen war und im Bündnis mit dem Großgrundbesitz versucht wurde, dem Zarismus eine neue soziale Stütze zu schaffen. Den zur Zusammenarbeit mit dem Regime bereiten Parlamentariern sollte dabei ein Signal gegeben werden, dass man sie nicht ausschließen wolle. Insofern personifiziert Protopopov den letzten Versuch der Autokratie, wieder in die Offensive zu gehen und ihre Basis zu festigen. Denn dass das Signal an die Parlamentarier keineswegs hieß, die Selbstherrschaft bereite den Übergang an eine Ordnung vor, in der die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig sei, machte der neue Innenminister schnell deutlich. Entschieden lehnte er jedes Zugeständnis an die Duma ab, alle Versuche, den Handlungsspielraum für parlamentarische Kräfte zu erweitern und den Hoffnungen der Gesellschaft entgegenzukommen, bekämpfte er mit starrer Härte. Selbst der konservative Vorsitzende des Ministerrates, Aleksandr F. Trepov, fiel dem zum Opfer, als er 23 Schramm, Die russische Armee, S. 33–38. Zur Verbesserung der Produktion für militärische Zwecke vgl. Haumann, Kapitalismus, S. 76–78.

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sich verständigungsbereit erwies: Nach der Ermordung Rasputins musste er gehen, der Zar stellte sich voll hinter den Kurs Protopopovs. Der Industrie kam dieser entgegen, indem er verschiedene Beschränkungen abbaute. Auch Behinderungen für jüdische Unternehmer wollte er beseitigen. Sein Vorhaben, den freien Handel mit Agrarprodukten einzuführen, entsprach den Wünschen der großen Banken. Insofern war Protopopov der erste zarische Innenminister, dessen Politik nicht vorrangig agrarisch bestimmt war. Deshalb traf sie auch auf heftigen Widerstand einflussreicher Adliger. Diese sollten aber natürlich dem Regime nicht entfremdet werden. Zu diesem Zweck förderte Protopopov rechtsradikale Organisationen und trat nach außen als konsequenter Vertreter des traditionellen autokratischen Systems auf. Er verkörperte demnach tatsächlich die Grundkonzeption, die hinter seiner Berufung stand. Doch er verkörperte ebenso die Widersprüche, die in dieser Konzeption steckten und die bestenfalls überdeckt werden konnten. Er vertrat die Interessen der Bourgeoisie und unterstützte gleichzeitig rechtsradikale Kräfte, die den Kapitalismus am liebsten wieder abgeschafft hätten. Umgekehrt wollte er es auch den Agrariern recht machen, machte sich jedoch stark für Maßnahmen, die deren Vorstellungen zuwiderliefen. Gewiss hatten Unternehmer und Agrarier in Russland auch ähnliche oder gar gemeinsame Interessen und sich während des Krieges durchaus ökonomisch angenähert. Vielleicht wäre es einer anderen Persönlichkeit gelungen, das Gemeinsame stärker zu betonen und sinnvolle Kompromisse zwischen den gegensätzlichen Interessen zu schließen. Protopopov war dazu nicht fähig. Seine Art, Politik zu betreiben, spitzte die Widersprüchlichkeit eher zu und schadete dem Zarismus mehr, als sie ihm nützte. Dass er dennoch bis zur Februarrevolution Innenminister bleiben konnte, dürfte wiederum nicht zufällig sein. Die Selbstherrschaft, die am Ende war, inszenierte ihre Abschiedsvorstellung. Wahrsager nährten Protopopovs Wahn, er sei auserwählt, Russland vor dem Ruin zu retten. Mit seinem Sendungsbewusstsein und seiner Starrheit stieß er viele vor den Kopf, die zunächst zur Zusammenarbeit bereit gewesen waren. Schließlich isolierte er sich sogar im Ministerrat, wo er seine administrative Unerfahrenheit durch Projekteschmieden kompensierte, wie Russland und die Selbstherrschaft zu neuer Größe geführt werden könnten. Die anderen Minister erkannten die Diskrepanz zwischen den hochfliegenden Plänen und der dilettantischen Durchführung, die den Bestand der Ordnung gefährdete. Mit Unterstützung des Zaren setzte er sich aber immer wieder durch. Angesichts der wachsenden sozialen Spannungen im Land zu Beginn des Jahres 1917 schien dann seine Stunde zu schlagen. In ihrer Hilflosigkeit dachten manche Repräsentanten des Systems, entschlossene Härte sei vielleicht doch die richtige Antwort auf die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Und Protopopov setzte Zeichen: Am 26./27. Januar 1917 ließ er die Mitglieder der Arbeiter-Gruppe

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beim Zentralen Kriegs-Industriekomitee verhaften – eine Warnung an die Arbeiterschaft, ihrem Unmut offen Ausdruck zu verleihen und auf Mitsprache zu hoffen, aber auch eine Warnung an die liberalen Unternehmer, ihren bislang wenig erfolgreichen Kurs weiter zu verfolgen, eine Partnerschaft mit den Arbeitern zu bewirken, um die oppositionelle Position gegenüber der Regierung zu stärken und dadurch die wirtschaftliche und politische Ordnung allmählich zu verändern. Im gleichen Sinne wehrte Protopopov alle Vorschläge zu Beginn der Februarrevolution ab, der Duma entgegenzukommen, um damit eine weitere Verschärfung der Lage zu vermeiden. Ebenso verstand er es, seine Entlassung zu verhindern, mit der der in der Öffentlichkeit am heftigsten angegriffene Minister aus dem Schussfeld genommen werden sollte. Am 27. Februar 1917 wussten die versammelten Minister keinen Ausweg mehr, um die Krise zu beenden und das System zu retten. Alle Augen richteten sich auf Protopopov. Seine harte Linie schien die letzte Möglichkeit zu sein, mit den Unruhen fertig zu werden. Doch jetzt versagte der Innenminister. Er sah ein, dass seine Politik gescheitert war, dass auch Härte nichts mehr nützte. Widerstandslos stellte er nun sein Amt zur Verfügung, ja bot an, Selbstmord zu begehen. Davon konnten ihn die Minister wieder abbringen. Einen Nachfolger fanden sie allerdings nicht mehr. Ebensowenig beschwichtigte der Rücktritt Protopopovs die aufständischen Massen. Am Abend löste sich die Regierung faktisch auf, viele Minister befanden sich in Arrest. So kläglich endete der letzte Innenminister des Zaren, und mit ihm dessen letzte Regierung. Im Unterschied zu einigen seiner Kollegen stand Protopopov immerhin zu seiner Politik. Am 28. Februar bat er um seine Verhaftung und verteidigte dann seine Vorstellungen und Maßnahmen vor der Untersuchungskommission der Provisorischen Regierung. Bis zu seinem Tode – er wurde 1918 als »Konterrevolutionär« erschossen – machte er Kräfte der »Gesellschaft« und Kompromissler in der Regierung dafür verantwortlich, dass es zum Zusammenbruch des Zarismus gekommen sei – nur eine harte, offensive Stärkung der Selbstherrschaft hätten das alte Russland retten können.24 Nachdem sich die Autokratie von ihrer anfänglichen Schwächeperiode erholt hatte, widersetzte sie sich allen Bestrebungen, mit Hilfe der »Gesellschaft« 24 Ich folge hier wiederum, teilweise wörtlich, früheren Ausführungen: Haumann, Kapitalismus, S. 138–141, vgl. S. 99, 136–137 (mit ausführlichen Nachweisen). Vgl. Predsmertnaja zapiska Protopopova; Hasegawa: February Revolution, S. 51–54, 148–158; speziell zur Interpretation der Handlungsspielräume und Absichten Protopopovs (und des Zaren) auch Bonwetsch, Russland, S. 142–149; Djakin, Russkaja buržuazija, S. 265 ff.; zur Politik, die Lebensmittelversorgung zu verbessern, noch einmal Lih, Bread, S. 32–56. Zu den Februartagen in Petrograd: Mandel, Mark David: The Petrograd Workers and the Fall of the Old Regime. From the February Revolution to the July Crisis 1917. London 1983.

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die Kriegswirtschaft zu organisieren. Sie schaffte es aber nicht, im Alleingang oder in Zusammenarbeit mit Unternehmern und Agrariern eine neue, effektivere Struktur aufzubauen. Darüber hinaus erwies sie sich als wenig lernfähig, die Signale einer erstarkenden Arbeiterbewegung und einer drohenden Revolution rechtzeitig zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Das gestiegene Gewicht der Grossbourgeoisie setzte sich nicht in entsprechende strukturelle Veränderungen um – Politik und Ökonomie gelangten auch in diesem Bereich nicht zur Deckung. IV. Zarismus, »Gesellschaft«, »Volk«

Wenn wir versuchen wollen, diese Ergebnisse in eine längerfristige Entwicklung einzuordnen, bietet es sich an, von einem Schema der Beziehungen zwischen dem Zaren und den bedingungslosen Anhängern der Selbstherrschaft, der »Gesellschaft« (obščestvo) der Besitzenden und Gebildeten sowie dem »Volk« (narod), den Unterschichten, auszugehen. Vor dem Ersten Weltkrieg klaffte zwischen »Gesellschaft« und »Volk« nach wie vor eine tiefe Kluft, doch es gab immerhin zahlreiche Querverbindungen zwischen beiden gesellschaftlichen Bereichen, namentlich durch Einzelpersönlichkeiten aus kritisch-liberalen sowie sozialistischen Parteien und Zirkeln. Hier schien sich eine Annäherung, ja eine Überwindung der Kluft anzukündigen. Die Gemeinsamkeit beruhte auf dem Wunsch, die zarische Ordnung grundlegender zu verändern, als es durch die Einschränkungen der Autokratie infolge der Revolution von 1905 möglich gewesen war. Insofern verstärkte sich das Trennende zwischen Zar und »Gesellschaft«, obwohl insgesamt der Graben zwischen diesen beiden Bereichen nicht so breit und tief war. Viele Angehörige der »Gesellschaft« standen in engen Beziehungen zum Kreis um den Zaren. Während des Ersten Weltkrieges wandelte sich dieses Szenario. Die Verbindungen zwischen »Gesellschaft« und »Volk« wurden schwächer, trotz fortbestehender Kontakte und sogar neuer Elemente wie der Arbeiter-Gruppe bei den Kriegs-Industriekomitees. Hingegen ließ sich der kritische Flügel der »Gesellschaft« über die Organisation der Kriegswirtschaft in das zarische System integrieren, so dass ein schwerwiegender Widerspruch zwischen ökonomischem und politischem Verhalten entstand. Dadurch verlor jener an Glaubwürdigkeit beim »Volk«, das Misstrauen, ob eine Überwindung der Kluft wirklich möglich sei, wuchs. Der Zarismus konnte durch die ökonomische Integration der politisch eher oppositionellen Kräfte des Unternehmertums seine soziale Basis noch einmal erweitern. Insofern gewann er Kraft und Stärke. Doch diese war vordergründig

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und ambivalent, wie sich an der Personifizierung der neuen Konstellation – Protopopov – zeigte. Die Stärke wurde durch Äußerlichkeiten demonstriert, aber nicht genutzt, um etwa die Kriegswirtschaft wirksamer als zuvor zu organisieren oder eine überzeugende politische Perspektive anzubieten. Statt dessen setzte sich die Tradition fort, Konflikte nicht produktiv lösen zu können,25 die Ver-Ordnung des Staates in der Hand zu behalten und Initiativen gesellschaftlicher Gruppen keine Autonomie gewähren zu wollen. Die Lernfähigkeit des Regimes, auf bedrohliche Signale angemessen zu reagieren, erwies sich als begrenzt: Auf den zunächst erfolgreichen Boykott der Wahlen zur ArbeiterGruppe der Kriegs-Industriekomitees und auf die zunehmende Streikbereitschaft des Proletariates seit Herbst 1916 wäre sonst mit einer anderen Politik geantwortet worden. Die gewonnene Stärke schlug deshalb in Schwäche um, die nach außen demonstrierte Offensive musste den Zusammenbruch des Systems beschleunigen. Die »Gesellschaft« konnte letztlich keine Alternative bieten, da auch hier Politik und Ökonomie auseinanderfielen. Die wirtschaftliche Bedeutung wurde nicht eingesetzt, um gemeinsam mit der Autokratie oder allein neue Strukturen aufzubauen, die – um bei diesem Beispiel zu bleiben – die Organisationsprobleme der Kriegswirtschaft gelöst oder die Legitimationsbasis gegenüber dem »Volk« verbreitert hätten. Ebensowenig nutzte man die Möglichkeit, das Bündnis mit dem »Volk« zu suchen, um eine neue Ordnung zu schaffen. Insofern waren die Verschwörungspläne gegen den Zaren von vornherein zum Scheitern verurteilt, ihr Misslingen nicht zufällig. Dahinter stand keine politische Alternative, die das »Volk« hätte hinter sich bringen können. 25 Vgl. für diese Tradition z. B. den Beitrag von Peter Liessem in diesem Band. Im politischen Bereich trug die Regierung durch ihre Art und Weise, Auseinandersetzungen auszutragen, dazu bei, Polarisierungen zu verstärken, und wirkte auch nach 1906 Bestrebungen entgegen, politische Verantwortung auf einen breiteren Kreis von Personen und sozialen Schichten zu verteilen (dazu ausführlich Dittmar Dahlmann in seiner Habilitationsschrift: Die Provinz wählt. Russlands Konstitutionell-Demokratische Partei und die Dumawahlen 1906–1912. Köln usw. 1996). Hierhin gehört auch, dass in vielen Fällen notwendige Reformen zwar gründlich erörtert, aber immer wieder blockiert und dann gar nicht oder zu spät verabschiedet wurden: etwa die Einführung der progressiven Einkommenssteuer (Martiny, Albrecht: Parlament, Staatshaushalt und Finanzen in Russland vor dem Ersten Weltkrieg. Der Einfluss der Duma auf die russische Finanz- und Haushaltspolitik (1907–1914). Bochum 1977, S. 205–307; Goldberg, Carl A.: The Association of Trade and Industry 1906–1917: The Successes and Failures of Russia’s Organized Businessmen. Ph. D. Univ. of Michigan 1974. Ann Arbor 1975, S. 208–232), die Senatsreform und die Schaffung allgemeiner Verwaltungsgerichte (Liessem, Peter: Verwaltungsgerichtsbarkeit im späten Zarenreich. Der Dirigierende Senat und seine Entscheidungen zur russischen Selbstverwaltung [1864–1917]. Frankfurt a. M. 1996).

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Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung

Als in der Februarrevolution von 1917 die demonstrierenden Frauen und Männer aus dem »Volk« das zarische Regime hinwegfegten, kam es deshalb auch nicht zu einer Vereinigung mit den Kräften der »Gesellschaft«. Statt dessen bildete sich eine »Doppelherrschaft« zwischen den Repräsentanten beider Bereiche heraus: zwischen Sowjet und Provisorischer Regierung. Gewiss wirkten die früheren lockeren Verbindungen nach, eine Annäherung war nicht ausgeschlossen. Doch das historisch bedingte Misstrauen der Vertreter des »Volkes« sah sich durch die Politik der Provisorischen Regierung bestätigt, die die drängenden Probleme des Landes nur halbherzig anging oder immer wieder vertagte – die Beendigung des Krieges, die Agrarreform, die den Bauern mehr Grund und Boden bringen sowie die Ernährungsschwierigkeiten überwinden sollte, die Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiterschaft und die Gewährung von Kontroll- und Mitbestimmungsrechten im Betrieb, eine überzeugende Antwort auf die Wünsche der Nationalitäten und Minderheiten, die verfassungsmäßige Sicherung der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung. So verbreiterte sich die Kluft zwischen »Gesellschaft« und »Volk« wieder, die anfangs aufkeimenden Hoffnungen, es werde jetzt vielleicht doch zunehmend Brücken geben, schwanden bald wieder. Daher verwundert es nicht, dass die Politiker der Sozialrevolutionäre und Menschewiki samt ihrer Parteien in den Sog dieses Vertrauensschwundes hineingezogen wurden, als sie in die Provisorische Regierung eintraten, aber keine grundlegende Änderung deren Politik herbeiführten. Die Bolschewiki blieben als einzige größere Partei übrig, die in den Augen weiter Kreise des »Volkes« noch konsequent seine Interessen zur Geltung bringen wollte.26 Dass die nichtsozialistische Opposition gegen die Autokratie an der Jahreswende 1916/17 keine tragfähige Alternative zu deren Politik entwerfen konnte – weder eigenständig noch im Bündnis mit dem alten Regime oder dem »Volk« –, schuf deshalb entscheidende Voraussetzungen nicht nur für die Februarrevolution selbst, sondern auch für die weitere Entwicklung.

26 Für diese Vorgänge verweise ich nur allgemein auf die entsprechenden Abschnitte im Handbuch der Geschichte Russlands sowie in Geyer, Russische Revolution, Hildermeier, Russische Revolution und Bonwetsch, Russische Revolution. Wichtige Hinweise auch in: The Workers’ Revolution in Russia, 1917. The View from Below. Ed. by Daniel H. Kaiser. Cambridge u. a. 1987; Society and Politics in the Russian Revolution. Ed. by Robert Service. Basingstoke etc. 1992; Revolution in Russia (die Frage der Alternativen zur Oktoberrevolution diskutiert hier Frankel, Jonathan: 1917: The Problem of Alternatives, S. 3–13). Bourgeoisie und Agrarier knüpften im übrigen zwischen Februar und Oktober 1917 mit verschiedenen Organisationen und Bündniskonzepten an Ansätzen von Ende 1916 an (vgl. Haumann, Kapitalismus, S. 155–160, bes. mit Anm. 6, 29, 35).

Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrußlands (1917–1921)* I. Die gegenwärtige Diskussion

Mit den Anläufen zur Reform der sowjetischen Gesellschaft, die die neue Parteiführung um Michail S. Gorbačev seit 1985 einleitete und die mit den Leitbegriffen »perestrojka« (Umbau) und »glasnost‘« (Durchsichtigkeit) verbunden sind, setzte auch eine faszinierende Geschichtsdiskussion ein, die ihresgleichen sucht. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, für die es nach Gorbačev Wort vom 14 . Februar 1987 keine »weißen Flecken« mehr geben dürfe, ging zunächst von der Publizistik, der Schönen Literatur, dem Film und anderen künstlerischen Bereichen aus, erfaßte dann jedoch zunehmend die Geschichtswissenschaft selbst. Intensiv wurden nun bisherige Tabus der Historiographie untersucht. Das Spektrum der Diskussionsteilnehmer reichte dabei von konservativen Verteidigern des eingeschlagenen Entwicklungsweges über Anhänger einer konsequenten Reform des Sozialismus – »Die Wahrheit über die Geschichte ist eine Quelle unserer Kraft« überschrieb eine Historikergruppe ihr Manifest vom 24. April 1988 – bis hin zu Befürwortern einer grundsätzlichen Neuorientierung. Diese Tendenz gewann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an Gewicht.1 Anfangs stand die leidvollste Periode der sowjetischen Geschichte, der Stalinismus, im Mittelpunkt der Geschichtsdiskussion – der Terror und seine Opfer, die Begleitumstände von beschleunigter Industrialisierung und Kollektivierung, die Auswirkungen auf die internationale kommunistische Bewegung, der Zweite Weltkrieg, die Person Stalins, das Funktionieren des Systems. Sie dehnte * Erstpublikation in: Archiv für Sozialgeschichte 34, 1994, S. 19 – 34. 1 Vgl. – mit weiteren Hinweisen – Gert Meyer (Hrsg.), Wir brauchen die Wahrheit. Geschichtsdiskussion in der Sowjetunion, 2. Aufl., Köln 1989 (das Manifest von 1988 S. 305– 307); Dietrich Geyer (Hrsg.), Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Göttingen 1991; Robert W. Davies, Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991. Das Zitat von den »weißen Flecken« bei Bernd Bonwetsch, Die Bewältigung der Vergangenheit. Geschichts­- und Gesellschaftswissenschaften in der »Perestrojka«, in: Margareta Mommsen/Hans-Henning Schröder (Hrsg.), Gorbatschows Revolution von oben. Dynamik und Widerstände im Reformprozeß der UdSSR, Frankfurt/Main etc. 1987, S. 74–88, hier S. 77.

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sich rasch aus auf die Nationalitätenproblematik, die Oktoberrevolution, die Person Lenins und schließlich auch auf die Frühgeschichte Sowjetrußlands, die Zeit zwischen 1917 und 1921. Dies folgte zwangsläufig aus der Beschäftigung mit dem Stalinismus: Waren die Strukturen jener Periode schon in der ersten Phase der kommunistischen Herrschaft, namentlich im »Kriegskommunismus« mit seinen gewalthaften Prozessen, angelegt? Oder müssen diese Zeiten grundsätzlich voneinander unterschieden werden, bestehen bestenfalls auf der Oberfläche Verbindungslinien? Damit war zunächst die wichtige politische Frage verbunden, ob bei den Überlegungen, nach der Erstarrung des Systems von innen her einen neuen Anlauf zur Gestaltung eines sozialistischen Systems zu unternehmen, an Ansätzen aus der Oktoberrevolution und den ersten Jahren danach angeknüpft werden könne oder ob die gesamte Entwicklung seit 1917 »abgeschrieben« werden müsse. Solche Gedankengänge sind seit 1991 in den Hintergrund getreten, werden aber möglicherweise wieder aufgegriffen werden. Im einzelnen wurde der »Kriegskommunismus« daraufhin untersucht, ob hier der Ursprung von beschleunigter Industrialisierung, durchgängiger Kollektivierung und Terror liege. Dabei spielte auch eine Rolle, ob er – ähnlich wie die Vorgänge von 1929 – als eine »Flucht nach vorn« zu interpretieren sei, als hilf- und konzeptionslose Reaktion auf eine fast aussichtslose Situation. In Weiterführung einer früheren Minderheitenposition in der sowjetischen Forschung wandten einige Historiker dagegen ein, es habe sich eher um den bewußten Versuch gehandelt, die Ideen und Theorien von Marx und Engels mehr oder weniger wörtlich in die Praxis umzusetzen und den unmittelbaren Übergang zum Kommunismus anzustreben.2 Des weiteren stand im Mittelpunkt der kontroversen Erörterungen, wie die Anwendung von Gewalt zu beurteilen sei. Thematisiert wurden etwa die Verjagung der Verfassunggebenden Versammlung im Januar 1918, die Einstellung der Bolschewiki zur Demokratie, die Haltung der Kommunisten gegenüber anderen Parteien wie gegenüber den Massenbewegungen der Zeit, schließlich die Frage nach der Verantwortung für den Ausbruch des Bürgerkrieges – der immer häufiger nun »Bruderkrieg« genannt wurde –, der Bauernaufstände und des Konfliktes zwischen der Machno-Bewegung und den Bolschewiki. Einen hohen Stellenwert – auch bei den bereits angesprochenen Themen – nahmen Studien über das Verhältnis zwischen sozialökonomischen Bedingungen und bewußtem politischen Willen ein. Gerieten die Bolschewiki durch Weltkrieg und Bürgerkrieg, durch den Verfall der Wirtschaft und die sozialen 2 Vgl. meine Auseinandersetzung mit den früheren Positionen: »Kriegskommunismus« oder unmittelbarer Aufbau des Sozialismus?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 23, 1975, S. 97–104.

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Veränderungen in derartige Zwänge, daß sie von ihren ursprünglichen Zielen abrücken mußten, aber doch versuchten, durch das Konzept des unmittelbaren sozialistischen Aufbaus diese nicht aus den Augen zu verlieren und die Initiative wiederzugewinnen? Oder begünstigten die Zustände eine ohnehin vorhandene Absicht, die demokratischen Kräfte zurückzudrängen, nicht die »Diktatur des Proletariats«, sondern die Diktatur einer kleinen Führungsgruppe, ja eine »asiatische« Herrschaftsform zu errichten? Damit waren auch theoretische Überlegungen zu angemessenen Kategorien für diese Zeit angesprochen, nachdem nicht mehr von einer »Übergangsgesellschaft« gesprochen werden konnte. Die meisten dieser Untersuchungen konnten neue Forschungsergebnisse vorlegen. Ihre Argumente wurden jedoch häufig – verständlicherweise in der aktuellen Situation – durch emotional aufgeladene, moralisch nach der »Schuld« fragende Formulierungen überdeckt.3 Grundsätzlich unterscheiden sich die Themen der westlichen Forschung zur Periode zwischen 1917 und 1921 nicht mehr von denjenigen, die in der Sowjetunion nach 1985 und dann in deren Nachfolgestaaten bearbeitet werden. Auch hier wird die Frage gestellt, ob die Oktoberrevolution letztlich nur »ein verhängnisvoller Zufall« gewesen sei, wie es Leszek Kolakowski zugespitzt formuliert hat: Soll man denn so tun, »als ob nichts geschehen wäre«, »ganz von vorne [...] beginnen«, oder – wie er meint – die 70 Jahre sowjetischer Herrschaft »nicht einfach als verschwendet bezeichnen« und sich der Geschichte stellen? »Man kann die Vergangenheit zwar verfluchen, verleugnen aber kann man sie nicht.«4 Ähnlich wie bei den neuen Ansätzen in Rußland wollen auch die Wissenschaftler im Westen herausfinden, ob der Stalinismus von Anfang an angelegt gewesen sei, ob die Politik in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution eher auf die sozialen und ökonomischen Umstände reagiert habe oder sich doch von einer bewußten Strategie und Konzeption habe leiten lassen. Anders aber besteht im Westen weniger die Notwendigkeit, sich mit dem moralischen Problem der Schuld zu belasten – obwohl es hin und wieder durchaus derartige Tendenzen gibt.5 Eine Reihe von Arbeiten ist bestrebt, sich nicht auf den 3 Im einzelnen hierzu Eberhard Müller, Blick zurück im Zorn?! Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und Neue Ökonomische Politik, in: Geyer, S. 75–102. 4 Leszek Kolakowskl, Ein verhängnisvoller Zufall. Über die russische Revolution, in: Neue Zürcher Zeitung Nr. 19, 25.1.1993, S. 15. 5 Als Beispiele für die genannten Fragen vgl. Äußerungen in einer der wichtigsten Neuerscheinungen zur hier behandelten Periode: Diane P. Koenker/William G. Rosenberg/Ronald Grigor Suny (Hrsg.), Party, State, and Society in the Russian Civil War. Explorations in Social History, Bloomington etc. 1989, S. XI (Hrsg.), S. 385–398 (Sheila Fitzpatrick, The Legacy of the Civil War).

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Bezugspunkt Stalinismus zu fixieren, sondern – wie dies etwa schon für die »Marburger« Forschungen zwischen 1965 und 1974 galt6 – die Offenheit oder Ambivalenz der Entwicklung jener Zeit darzulegen. Teilweise wird sogar – entgegen dem Trend – der Anlauf, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, mit Sympathie begleitet und als möglicher Anknüpfungspunkt für neue Versuche gesehen: »The story of the city in those seventy years awaits the telling, and by a new generation of its own historians. To them, but not to them alone, this book is dedicated, although the author’s sympathies with socialism will attract little support from a generation reacting against its tarnished image. It is also written in memory of those who tried to find the path to socialism, and in memory of those who suffered as the attempt failed. It is for those who were striving, in 1990, to secure a democratic future and, finally, it is for those who, at a future date, will find the way to create a socialist society in which bread and justice are taken for granted, and all its members are equally valued.«7 Herausgefordert durch den Umbruch in Osteuropa und die dadurch entstandenen Fragestellungen, hat sich eine Anzahl Forschungen den Ausprägungen von Gewalt und dem Abbau von Demokratie, der Rolle der Kommunistischen Partei, auch im Verhältnis zu anderen Parteien und Organisationen,8 6 Richard Lorenz, Anfänge der bolschewistischen Industriepolitik, Köln 1965; Walter Pietsch, Revolution und Staat. Institutionen als Träger der Macht in Sowjetrußland 1917– 1922, Köln 1969; Falk Döring, Organisationsprobleme der russischen Wirtschaft in Revolution und Bürgerkrieg 1918–1920, dargestellt am Volkswirtschaftsrat für den Nordrayon (SNChSR), Hannover 1970; Uwe Brügmann, Die russischen Gewerkschaften in Revolution und Bürgerkrieg 1917–1919, Frankfurt/ Main 1972; Gert Meyer, Studien zur sozialökonomischen Entwicklung Sowjetrußlands 1921–1923. Die Beziehungen zwischen Stadt und Land zu Beginn der Neuen Ökonomischen Politik, Köln 1974; Heiko Haumann, Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrußlands 1917–1921, Düsseldorf 1974. 7 Mary McAuley, Bread and Justice. State and Society in Petrograd 1917–1922, Oxford 1991. 8 Hier und in den folgenden Anmerkungen weise ich – abgesehen von bereits genannten Titeln – auf eine Auswahl von Publikationen aus den letzten Jahren hin (der frühere Forschungsstand ist zusammengefaßt bei Helmut Altrichter, Staat und Revolution in Sowjetrußland 1917–1922/23, Darmstadt 1981): Heiko Haumann, Sozialismus als Ziel: Probleme beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung (1918–1928/29) bzw. Die Wirtschaft, beide in: Gottfried Schramm (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 3: 1856–1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat, 1. Halbbd., Stuttgart 1983, S. 623–780, bzw. 2. Halbbd., Stuttgart 1992, S. 1193–1297; Helmut Altrichter (Hrsg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1986; Eberhard Müller/Hans-Henning Schröder (Hrsg.), Partei, Staat und Sovjetgesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte politischer Macht. Dokumente 1917– 1941, Tübingen 1993; Dittmar Dahlmann, Land und Freiheit. Machnovščina und Zapatismo als Beispiele revolutionärer Bewegungen, Stuttgart 1986; E. A. Rees, State Control

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und der Entwicklung der Wirtschaft zugewandt.9 Der Blick richtet sich inzwischen nicht mehr nur »von oben« auf die jeweiligen Verhältnisse, sondern auch »von unten« und »von innen« auf lokale Veränderungen,10 kulturelle Formen, Menschenbilder, Volksreligiosität und Verhalten von Menschen, nicht zuletzt von Frauen.11 Einige Bereiche sollen im folgenden exemplarisch behandelt werden.

in Soviet Russia. The Rise and Fall of the Workers’ and Peasants’ lnspectorate, 1920–34, Houndmills etc. 1987; V. N. Brovkin (Hrsg.), Dear Comrades. Menshevik Reports on the Bolshevik Revolution and the Civil War, Stanford 1991; Ronald Kowalski, The Bolshevik Party in Conflict. The Left Communist Opposition of 1918, Houndmills etc. 1991. 9 Helmut Altrichter/Heiko Haumann (Hrsg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 2: Wirtschaft und Gesellschaft, München 1987; Stephan Merl (Hrsg.), Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des »Kriegskommunismus« und der Neuen Ökonomischen Politik, Berlin 1993; Alex G. Cummins, The Road to NEP, the State Commission for the Electrification of Russia (GOELRO): A Study in Technology, Mobilization, and Economic Planning, Ann Arbor 1992; Wolfgang Levermann, Kommunismus und Kapital. Das russische Bank- und Industriekapital in der Wirtschaftspolitik der Bolschewiki 1917/18, Melsungen 1989; William B. Husband, Revolution in the Factory. The Birth of the Soviet Textile Industry 1917–1920, Oxford 1990; Lars T. Lih, Bread and Authority in Russia, 1914–1921, Berkeley etc. 1990; Jonathan Coopersmith, The Electrification in Russia, 1880–1926, Ithaca etc. 1992. 10 William J. Chase, Workers, Society, and the Soviet State: Labor and Life in Moscow, 1918– 1928, Urbana 1987; Isabel A. Tirado, Young Guard! The Communist Youth League, Petrograd 1917–1920, New York etc. 1988; Richard Sakwa, Soviet Communists in Power. A Study of Moscow during the Civil War, 1918–21, Houndmills etc. 1988; Orlando Figes, Peasant Russia, Civil War. The Volga Countryside in Revolution (1917–1921), Oxford 1989; T. H. Friedgut, Iuzovka and Revolution, Bd. 1: Life and Work in Russia’s Donbass, 1869–1924, Princeton 1989. 11 Abbott Gleason/Peter Kenez/Richard Stites (Hrsg.), Bolshevik Culture. Experiment and Order in the Russian Revolution, Bloomington 1985; Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, Oxford 1989; Lynn Mally, Culture of the Future. The Proletkult Movement in Revolutionary Russia, Berkeley 1990; Gabriete Gorzka, Arbeiterkultur in der Sowjetunion. Industriearbeiter-Klubs 1917–1929. Ein Beitrag zur sowjetischen Kulturgeschichte, Berlin 1990; Kristine von Soden (Hrsg.), Lust und Last. Sowjetische Frauen von Alexandra Kollontai bis heute, Berlin 1990; Barbara Evans Clement, Baba and Bolshevik. Russian Women and Revolutionary Change, in: Soviet Union 12, 1985, S. 161–184; Stefan Plaggenborg, Volksreligiosität und antireligiöse Propaganda in der frühen Sowjetunion in: AfS [Archiv für Sozialgeschichte] 32, 1992, S. 95–130; ders., Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrußland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln etc. 1996; James von Geldern, Bolshevik Festivals, 1917–1920, Berkeley etc. 1993.

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II. Basis und Parteiführung

Immer wieder hat es Verwunderung hervorgerufen, warum im Dekret über die Nationalisierung der Großindustrie vom 28. Juni 1918 verfügt wurde, die verstaatlichten Firmen vorerst an die früheren Besitzer unentgeltlich zu verpachten und ihnen die Verfügung über die Gewinne in der bisherigen Weise zu garantieren. Auch die Direktoren und das übrige Leitungspersonal sollten ein Gehalt im gleichen Umfang wie vor der Nationalisierung erhalten. Dies erschien nicht nur naiv, sondern angesichts der klassenkämpferischen Politik der Bolschewiki ausgesprochen merkwürdig. Unterdessen wissen wir, daß sich derartige Absichten in eine konzeptionelle Linie, die in der Parteiführung vertreten wurde, einordnen lassen. Ihre Anhänger hatten bereits kurz nach dem Oktoberumsturz von 1917 Pläne für eine zentralistische Wirtschaftsverfassung vorgelegt und erörtert, die institutionelle Ansätze aus der zaristischen Kriegswirtschaft aufgriffen und im Interesse eines reibungslosen wirtschaftlichen Wiederaufbaus einen vollständigen Bruch mit den Betriebsleitern und Fachleuten vermeiden wollten. Obwohl diese Kräfte anfänglich in der Minderheit waren und bestenfalls Kompromißlösungen erreichten, konnten sie doch in einigen Regionen und Gremien ihre Auffassung in die Praxis umsetzen. So erhielten die Unternehmer, die sich organisatorisch neu formiert hatten, Zugang zu einigen Volkswirtschaftsräten. In Moskau beteiligten sie sich auf der Basis einer Drittelparität am dortigen Wirtschaftskomitee. Ebenso arbeiteten in den Hauptverwaltungen (glavki) der Volkswirtschaftsräte Vertreter des Staates, der Gewerkschaften und der Unternehmer zusammen. Projekte gemischt staatlich-privater Trusts wurden für einige Industriezweige der Nationalisierung entgegengestellt. Als sich seit Anfang 1918 die Wirtschaftslage drastisch verschlechterte, der Abschluß des Friedensvertrages von Brest-Litovsk mit dem Deutschen Reich am 2. März 1918 eine weitere schwerwiegende ökonomische Einbuße bedeutete und die Popularität der Bolschewiki zusehends verfiel, gewannen die Befürworter eines »staatskapitalistischen« Weges an Boden. Während der Versuch, die bereits im Dezember 1917 verstaatlichten Banken wieder zu denationalisieren, um die entstandenen Geld- und Kreditprobleme zu lösen und den versiegenden Kapitalzufluß neu zu beleben, noch verhindert werden konnte, gingen nun die Projekte gemischt staatlich-privater Trusts in eine konkrete Verhandlungsphase; die Realisierung schien greifbar nahe. Letztlich scheiterten jedoch all diese Bestrebungen. Verantwortlich dafür waren gewiß auch die zu hohen Forderungen der Unternehmer, der Widerstand konkurrierender Fabrikanten und die entschlossene politische Gegnerschaft der »Linken Kommunisten«, die den unmittelbaren Aufbau des Sozialismus mit sozialistischen Methoden, ohne Umweg über einen »Staatskapitalismus«, verlangten. Als ganz entscheidend er-

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wies sich die Haltung der Arbeiter. Sie hatten seit der Revolution in einer »rotgardistischen Attacke auf das Kapital«, wie es Lenin nannte, viele Unternehmen enteignet und die Verwaltung in eigene Hände übernommen. In der verbreiteten Begeisterung über den revolutionären Elan des Proletariats verstärkte sich die Hoffnung, es könne doch möglich sein, sehr rasch die Wirtschaftsverwaltung auf der Grundlage des Rätesystems umzugestalten, schneller als gedacht die Bourgeoisie auszuschalten und den Sozialismus zu verwirklichen. Jetzt, in einer ökonomisch wie politisch kritischer gewordenen Situation, war offenbar nach wie vor ein großer Teil der Arbeiter nicht bereit, hinter das Erreichte zurückzufallen. Sie wollten die Oktoberrevolution nicht gemacht haben, um dann doch die Kapitalisten behalten zu müssen. Ihre Einstellung, auch gegenüber den Verhandlungen über »staatskapitalistische« Trusts, verliehen sie selbst durch Streiks Nachdruck. Dies stärkte die Position der »Linken Kommunisten«, die sich dann mit ihren Vorschlägen auf dem Ersten Kongreß der Volkswirtschaftsräte, der Ende Mai 1918 zusammentrat, weitgehend durchsetzen konnten. Damit wurde der Versuch, den Sozialismus auf unmittelbarem Weg zu erreichen, zur Grundlage der Politik. Als zentrale Voraussetzung für eine dementsprechende Wirtschaftsverfassung galt die Nationalisierung der Großindustrie. Insofern war das Dekret vom Juni 1918 folgerichtig, wenngleich der Zeitpunkt seines Erlasses von verschiedenen aktuellen Umständen abhing. Daß in ihm die Tür für eine Zusammenarbeit mit den Unternehmern offen blieb, weist auf fortbestehende Meinungsverschiedenheilen über die innerbetriebliche Organisation hin. Eine Reihe von Kommunisten gab, obwohl sie die neue politische Richtung zunächst einmal akzeptierten, die Hoffnung nicht auf, doch noch zu einer Übereinkunft mit den Unternehmern und den »bürgerlichen« Wirtschaftsspezialisten zu gelangen. Anscheinend schätzten sie die Fähigkeit, aus eigener Kraft ein neues Organisationssystem zu schaffen und eine wirtschaftliche Erholung einzuleiten, verhältnismäßig gering ein. Der weitere Verlauf des Bürgerkrieges machte all diese Überlegungen hinfällig. Doch über die Heranziehung der »bürgerlichen« Spezialisten und über die Form der Betriebsleitung sollten schon bald wieder Konflikte aufbrechen. Mit dem Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) 1921 wurde dann den »linken« Konzepten eindeutig eine Absage erteilt. Wenn auch die NĖP keineswegs die geradlinige Fortsetzung der »staatskapitalistischen« Experimente von 1917/18 darstellte, ist die Kontinuität mancher Ansätze nicht zu übersehen.12 12 Ausführlich dazu Levermann. Vgl. schon Lorenz, Anfänge (auch die übrigen in Anm. 6 genannten Arbeiten sind heranzuziehen); ders., Wirtschaftspolitische Alternativen der Sowjetmacht im Frühjahr und Sommer 1918, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 15, 1967, S. 209–236. Zur zaristischen Kriegswirtschaft und den Institutionen, die teilweise den Umsturz von 1917 überdauerten, Heiko Haumann, Kapitalismus im zaristischen Staat

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Die politischen Denkmuster bei denjenigen Kommunisten, die in diesen Debatten und Entscheidungsvorgängen eine Rolle spielten, verdienen eine genauere Betrachtung. Wodurch waren sie geprägt? Wie entwickelten sie sich? In welcher Weise nahmen diese Personen die Vorgänge nach dem Umsturz von 1917 wahr? Welche Absichten und Zielvorstellungen bestimmten sie? Desgleichen müssen die »Milieus« und Lebenswelten der Unternehmer und Arbeiter vertiefter erforscht werden, wenngleich einige Lokalstudien bereits interessante Aufschlüsse über Lebensverhältnisse sowie Denk- und Verhaltensweisen von Arbeitern vermitteln.13 Auf diese Weise können die Hintergründe der Entwicklung in den ersten Jahren der Sowjetmacht noch deutlicher werden. Nicht zuletzt ist das Verhältnis der Unternehmer und Arbeiter zur politischen Führung genauer zu bestimmen. Jedenfalls muß festgehalten werden, daß die Arbeiter – oder zumindest ein aktiver Teil von ihnen – in einem hohen Maße zu einer einschneidenden Weichenstellung im Frühsommer 1918 beitrugen. III. »Wir müssen zuschlagen, erbarmungslos zuschlagen, obwohl wir Gewalt im Grunde ablehnen« (Lenin)

Daß die Basis radikaler eingestellt war als die politische Führung und entschiedenere Maßnahmen forderte, war kein Einzelfall in der Geschichte jener Zeit. Dieses Verhalten und diese Spannung begünstigten auch die Entstehung gewalthafter Verhältnisse. Bereits zwischen den beiden Revolutionen des Jahres 1917 hatte die Radikalisierung der städtischen Arbeiterschaft – vorab der jüngeren – nicht nur die Bolschewiki zur immer stärker werdenden politischen Kraft gemacht, sondern diese auch zum Handeln gedrängt und diejenigen Parteiführer unterstützt, die zum Aufstandsversuch entschlossen waren.14 Ebenso gingen die ersten Gewaltakte nach dem Umsturz gegen tatsächliche oder vermeintliche Konterrevolutionäre nicht unbedingt von Bolschewiki aus. Ähnlich wie bei den spontanen Enteignungen der Unternehmer, bei der Verteilung privaten, »bür1906–1917. Organisationsformen, Machtverhältnisse und Leistungsbilanz im Industrialisierungsprozeß, Königstein 1980. Zur Beurteilung der gesellschaftlichen Grundkonzeptionen und der Wirtschaftspolitik vgl. meinen in Anm. 2 zitierten Artikel sowie meinen Aufsatz: Die russische Revolution und ihre ersten Versuche sozialistischer Wirtschaftspolitik. Materialien 1917–1921, in: Das Argument 15, 1973, H. 82, S. 768–803. 13 Etwa McAuley. 14 Vgl. Bernd Bonwetsch, Die russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz, Darmstadt 1991, S. 150–161, hier insb. S. 159 ff.; Manfred Hildermeier, Die Russische Revolution 1905–1921, Frankfurt/Main 1989, S. 219–244.

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gerlichen« Wohnraums an Angehörige der Unterschichten oder bei den Vorgängen auf dem Land, wo sich viele Bauern – unabhängig von irgendwelchen gesetzlichen Bestimmungen – ihr Land selbst nahmen und die Gutsbesitzer vertrieben, folgten die Handlungen der Revolutionsanhänger keineswegs programmatischen Erklärungen der Kommunisten oder deren Anordnungen. Sie wollten ihre Existenz sichern, endlich Verbesserungen ihrer Lage sehen, mit der Einlösung der Hoffnung auf eine schöne Zukunft beginnen. Daneben bestand allerdings in dieser Situation offenbar auch eine Bereitschaft zur Gewalt, die sich bei der geringsten Kleinigkeit entladen konnte. In der Regel legalisierten und deckten Bolschewiki und Sowjetregierung die von ihnen ursprünglich nicht beabsichtigten Aktionen. Sie wollten sich nicht gegen diejenigen stellen, die den Revolutionsprozeß trugen und ihre Basis ausmachten. Darüber hinaus verschaffte ihnen dieses Vorgehen die Möglichkeiten, allmählich das unkontrollierte Handeln zu begrenzen und zu kanalisieren.15 Neben dieser Ordnungsvorstellung spielte allerdings auch eine theoretische Überlegung eine Rolle: Vorherrschend war eine Tradition des Denkens, die kapitalistische Gesellschaft als ein Gewaltverhältnis zu interpretieren, das letztlich durch revolutionäre Gewalt als Mittel zur Emanzipation überwunden werden müsse. Rational und zweckgerichtet eingesetzte Gewalt, um der sozialen Revolution zum Sieg zu verhelfen und deren Gegner zu schwächen, wurde somit als legitim angesehen.16 Doch im Rahmen dieser Entwicklung entstanden immer mehr Organe staatlicher Gewalt: die Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage (ČK), die Revolutionären Tribunale, besondere Einrichtungen zur Durchführung der Enteignungen, bewaffnete Abteilungen zur Lebensmittelerfassung – um nur einige zu nennen. Diese Institutionalisierung »revolutionärer Gewalt« erreichte eine neue Qualität, als der Rat der Volkskommissare kurz nach dem Aufstandsversuch der Linken Sozialrevolutionäre und namentlich nach dem Attentat auf Lenin, aber auch in Reaktion auf den sich verschärfenden Bürgerkrieg am 5. September 1918 den »roten Massenterror« verkündete. Gewiß standen sich »roter« und »weißer« Terror an Ausmaß und Brutalität in nichts nach. Für die weitere Geschichte Sowjetrußlands wog indes besonders schwer, daß nun Gewalt zur Staatspraxis geworden war. Sie wurde jetzt nicht mehr begrenzt-zielgerichtet als revolutionärer Akt eingesetzt, 15 Bonwetsch, S. 189–213 ; Hildermeier, Die Russische Revolution, S. 245–264. 16 Die theoretischen Vorstellungen führender Bolschewiki und Beispiele für die Vorgänge in der damaligen Zeit hat zusammengestellt Elfriede Katharina Müller, Die Bolschewiki und die Gewalt. Theorie, Praxis und Legitimation von Gewalt in der Russischen Revolution vom Juli 1917 bis ins Jahr 1921, unveröffentl. Magisterarbeit, Freiburg 1993, hier insb. S. 71–86 [inzwischen als Aufsatz in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 15, 1998, S. 155–204].

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konnte auch nicht mehr als Ausdruck spontaner Wut oder Interessen bezeichnet werden. Statt dessen handelten in der folgenden Zeit Staatsorgane, die sich zu kaum noch kontrollierten neuen Machtgebilden verselbständigten, vielfach willkürlich und unbegründet. Die staatliche Gewalt verlor ihre Funktion als Notwehr im Überlebenskampf gegen die Feinde im In- und Ausland und richtete sich in zahlreichen Fällen gegen Unschuldige.17 Der »rote Massenterror« war unter den Kommunisten keineswegs unumstritten. In Petrograd etwa konnte er gegen den Widerstand der dortigen Parteiorganisation erst nach energischer Intervention der Moskauer Zentrale durchgesetzt werden.18 Doch er folgte einer Linie, die innerhalb der Bolschewiki zunehmend Anhänger gewann, nämlich anstehende Probleme durch eine Stärkung der Staatsmacht zu lösen. Dafür nahm man – durchaus reflektiert – in Kauf, daß man von ursprünglichen Zielen abwich und zugunsten von Zentralisierung und Disziplin Selbstverwaltungsbestrebungen und Initiativen »von unten« zurückdrängte, sich damit auch nicht mehr unter den Druck radikaler Gruppen setzen lassen wollte. Dahinter standen nicht einfach Machthunger oder bewußte Strategie, sondern oft Hilflosigkeit, mit den Erfordernissen des Krieges, mit der wachsenden Not der Menschen, der Ernährungs- und Wohnsituation, den sich ausbreitenden Krankheiten fertig werden zu können. So war dann das Jahr 1920, als sich der Bürgerkrieg seinem Ende entgegenneigte und sich Hoffnungen auf einen friedlichen Aufschwung verbreiteten, von Widersprüchlichkeit und Offenheit geprägt. Auf der einen Seite wurden etwa die Todesstrafe abgeschafft, die Macht der ČK beschnitten, die Rückkehr zu den Anfängen von 1917 proklamiert, Konzepte dezentraler Politik erörtert, die innerparteiliche Demokratie in erstaunlichem Ausmaß praktiziert und die künftige Wirtschaftsstrategie geplant, die in zehn bis fünfzehn Jahren die materielle Grundlage für den Sozialismus schaffen sollte. Auf der anderen Seite gab es einflußreiche Bestrebungen, die Erfahrungen aus der Kriegszeit auf die Friedensperiode zu übertragen und beispielsweise durch die »Militarisierung der Arbeit« den wirtschaftlichen Neuaufbau zu organisieren oder durch weitere Auflagen und Kontrollen die Agrarproduktion zu steigern. Allerdings war man sich in den Debatten dieses Jahres weitgehend einig darin, daß die Beibehaltung, ja Verstärkung der zentralisierten Staatsgewalt lediglich vorübergehend bleiben müsse. Gerechtfertigt 17 George Legett, The Cheka: Lenin’s Political Police. The AII-Rusian Extraordinary Commission for Combating Counter-Revolution and Sabotage (December 1917 to February 1922), 2. Aufl., Oxford 1986; Lennard D. Gerson, Tbe Secrct Police in Lenin’s Russia, Philadelphia 1976; vgl. auch Hildermeier, Die Russische Revolution S. 285–288; Elfriede Müller, S. 87 ff. 18 McAuley, S. 375–393, hier insb. S. 382. Vgl. auch Dimitri Wolkogonow, Lenin. Utopie und Terror, Düsseldorf etc. 1994, S. 252 f.

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wurde dies, so von Trockij, mit der Theorie, daß eine zunehmende »Verstaatung«, die immer mehr Menschen und Organisationen – bei der »Militarisierung der Arbeit« vor allem die Gewerkschaften – zu staatlichen Funktionsträgern mache, dialektisch schließlich zur Aufhebung des Staates führen werde. Keine der beiden Richtungen konnte sich vollständig durchsetzen. Die Enttäuschung und Erbitterung über den Zusammenbruch aller hochgespannten Erwartungen zu Beginn des Jahres 1921 förderte jedoch die Akzeptanz von Gewalt. Arbeiter und Bauern machten ihrer Unzufriedenheit in Demonstrationen, Streiks und Aufständen Luft. Noch einmal mußte die Partei dem Druck sozialer Bewegungen nachgeben, ihre Politik ändern und sich bereitfinden, mit der Legalisierung kapitalistischer Elemente in der NĖP einen Umweg zum Sozialismus einzuschlagen. Zugleich zog sie aber die Zügel politischer Kontrolle schärfer an, ging entschiedener als zuvor gegen die noch bestehenden nichtbolschewistischen Gruppierungen vor, stärkte erneut die Macht der ČK und insgesamt die Konzentration der Staatsgewalt. Die 1920 nicht nur unter Spitzenpolitikern, sondern auch unter zahlreichen einfachen Parteimitgliedern wie unter vielen Sympathisanten spürbare Aufbruchstimmung, die sich nicht zuletzt in einer bemerkenswerten kulturellen Vielfalt ausgedrückt hatte, schlug in Resignation und Apathie um. Dies wiederum erleichterte die Machtzusammenballung in der Zentrale. Allgemein scheint sich ein Bewußtsein in immer mehr Köpfen festgesetzt zu haben, daß zumindest in Krisensituationen die gewalthaften Problemlösungsstrategien, die sich zwischen 1917 und 1921 doch bewährt hatten, eine angemessene Antwort darstellten. Die Prägungen dieser Elemente des »Kriegskommunismus« entfalteten ihre Wirkungsmacht und dürften den Übergang zum Stalinismus Ende der 1920er Jahre begünstigt haben.19 Eben dies wäre noch genauer zu untersuchen. Sicher muß auch vor dem Hintergrund erst nach der Öffnung der Archive aufgetauchter Quellen die Politik der Bolschewiki, müssen Denken und Verhalten führender Bolschewiki – mit Lenin an der Spitze – neu analysiert werden.20 Dabei wird man schärfer als bisher fragen müssen, wie deren Einstellung zur Gewalt beschaffen war – für viele Kommunisten ist bezeugt, daß sie danach strebten, die Gewalt abzuschaffen, jedoch unter den gegebenen Verhältnissen keine andere Wahl sahen –, unter welchen Umständen der Entschluß zur Gewaltanwendung zustande kam, wie er im Zusammenhang – auch ihrer sonstigen Vorstellungen – zu beurteilen ist. Intensiv ist zu 19 Für Petrograd zeigt McAuley diesen Prozeß anschaulich. Zur Aufbruch-Stimmung auch Gorzka, S. 132–140. Für die Ambivalenz im Jahre 1920 vgl. Haumann, Beginn. 20 Zu Lenin jetzt Wolkogonow, der die neu entdeckten Quellen zusammengestellt hat, dem jedoch die Empörung über die Desillusionierung anzumerken ist. Vgl. Benno Ennker, Ende des Mythos? Lenin in der Kontroverse, in: Geyer, S. 54–74.

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prüfen, inwieweit der Bürgerkrieg, die Phase des »roten Massenterrors« und der Übergang zur NĖP samt der Enttäuschung über das Scheitern des Anlaufs, auf unmittelbarem Weg den Sozialismus zu erreichen, dazu beitrugen, daß Gewalt als Staatspraxis nun für eine längere Zeit als »normal« angesehen wurde. Auch wenn 1921 der Stalinismus noch nicht deterministisch unausweichlich war und es – nicht von vornherein aussichtslose – Alternativen gab, so gehört der Einsatz von Gewalt doch zu den entscheidenden Faktoren, die Sowjetrußland immer weiter von den Ansprüchen und Zielen der Oktoberrevolution entfernten. Mindestens ebenso wichtig ist es zu untersuchen, in welcher Weise und mit welchen Folgen die Gewaltmaßnahmen jener Jahre Denken und Verhalten der Bevölkerung prägten, deren Alltag davon bestimmt wurde. Hier wird man nach Generationen, Geschlechtszugehörigkeit, Herkunft, soziokulturellem Milieu, Stadt und Land unterscheiden müssen. Zu erforschen sind die Erfahrungen und Verarbeitungen des Krieges, des Terrors und anderer Formen der Gewalt im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der Politik von Partei und Sowjetregierung. Gab es etwa bei Angehörigen der Roten Armee, gerade bei jüngeren Soldaten, die sich freiwillig gemeldet hatten, einen Gewöhnungsprozeß auch an brutale Terrorakte gegenüber den »Weißen«, den Kulaken und all den anderen, die man für Helfershelfer der Konterrevolution hielt? Welche Rolle spielten dabei der Konformitätsdruck in der Gruppe, die Begeisterung für die Ziele der Revolution, die Propaganda und Legitimierung durch die Führung, die Handlungen der Gegenseite? Wie veränderte sich dadurch die Persönlichkeit?21 Läßt sich feststellen, welche Nachwirkungen diese Erfahrungen in den Nachkriegsjahren hatten? Knüpften die Gewaltverherrlichung, namentlich der Helden der Roten Armee, auf Plakaten und in der sonstigen Propaganda, in Filmen, in der Literatur – nicht zuletzt der Kinder- und Jugendliteratur – an diesen Erfahrungen an, verstärkten sie diese und vermittelten sie entsprechende Einstellungen an die nächste Generation? Trug die Darstellung des »Kriegskommunismus« insgesamt als »heroischer Periode der großen russischen Revolution«22 dazu bei, gewalthafte Konfliktlösungsmuster für legitim zu halten, um die Ziele des gesellschaftlichen Neuaufbaus zu errei21 Vgl. die in einem anderen Zusammenhang gewonnenen, aber vergleichend zu nutzenden erschreckenden Ergebnisse von Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993. Selbstverständlich sind auch Theorien und Ergebnisse anderer Disziplinen bei der Analyse von Aggression und Gewalt in die Untersuchung einzubeziehen; vgl. etwa Udo Rauchfleisch, Allgegenwart von Gewalt, Göttingen 1992. 22 Leo N. Kritzman, Die heroische Periode der großen russischen Revolution, Nachdruck der Ausgabe von 1929 mit einer Einleitung von Heiko Haumann, Frankfurt/Main 1971. Dieses Buch ist allerdings keineswegs eine einseitige Heroisierung des »Kriegskommunismus«.

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chen? Welchen Nutzen zog die politische Führung aus diesen Prägungen, wie wirkte sie darauf ein, wie wurde sie selbst davon beeinflußt, in welchem Wechselverhältnis standen Verhaltensweisen der Menschen und politische Maßnahmen? Der Blick auf vergleichbare Entwicklungen – etwa auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland mit ihrer hohen Militanzbereitschaft oder auf das »Dritte Reich« – vermag dabei zu helfen, die Fragestellungen zu präzisieren, die Untersuchungsfelder abzustecken und die Auswertungen vorzunehmen.23 Bei derartigen Forschungen bietet sich ein Ansatz an, der von der Lebenswelt einzelner Menschen ausgeht. Im Begriff der Lebenswelt bündelt sich das Wechselverhältnis von Individuum und Struktur. Er umfaßt die wirtschaftliche und soziale Lage des Menschen, seine Lebensverhältnisse und seine unmittelbare Umwelt, die Einflüsse der politischen und gesellschaftlichen Ordnung und zugleich die Erfahrungen, Wahrnehmungs-, Denk- und Verarbeitungsweisen, die sich im Verhalten äußern, die Einstellungen, Normen und Werte, die symbolische Ordnung samt ihren Verschlüsselungen und Codes. Über den Zugang zu einer Lebenswelt kommt die alltägliche Praxis des Individuums ebenso ins Blickfeld wie – als kulturelle Perspektive – dessen Beziehungen zu den Strukturen der Gesellschaft. Und da das Individuum nicht isoliert existiert, sondern in einem Kommunikationsprozeß steht, erschließen sich zugleich die Verbindungen zu anderen Lebenswelten und über sie Schritt für Schritt die Beziehungsgeflechte vieler Individuen in ihrer Vernetzung mit der strukturellen Vielschichtigkeit der Gesellschaft. Exemplarisch können wir dann über die Einsicht in eine Vielzahl von Wirklichkeiten und daraus herrührender Sichtweisen hinaus gesellschaftliche Zusammenhänge und Prozesse nachzeichnen, die die historischen Vorgänge verständlicher machen als eine Konzentration auf die »großen Linien« der Politik und deren Handlungsträger.24

23 In einer Zusammenarbeit der beiden Bereiche für osteuropäische Geschichte an den Historischen Seminaren der Universitäten Freiburg und Basel wird derzeit – unter der Leitung von Stefan Plaggenborg und mir – ein Forschungsprojekt zum Thema »Jugend und Gewalt in der Sowjetunion 1917–1941« vorbereitet, das ähnlichen Zielsetzungen folgt. Ich verzichte hier deshalb auf weiterführende Literaturhinweise. 24 Zu diesem Ansatz, der hier nur sehr verkürzt dargestellt wird, neuerdings Olivia Hochstrasser, Ein Haus und seine Menschen 1549–1989. Ein Versuch zum Verhältnis von Mikroforschung und Sozialgeschichte, Tübingen 1993; Heiko Haumann/Martin Schaffner, Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften, in: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel, hrsg. v. Rektorat Nr. 70, 1994, S. 18–21.

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IV. Utopie und Praxis

Dieser lebensweltlich orientierte Ansatz kann sich gerade dann bewähren, wenn man den Zusammenhang damaliger Zielvorstellungen und Utopien mit den tatsächlichen Verhältnissen und der Praxis der Handelnden neu überdenken will. Ihren faszinierendsten Ausdruck fanden die Utopien des »Kriegskommunismus« in dem Ende 1920 vorgelegten Plan der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Rußlands (GOĖLRO), dem ersten Gesamtwirtschaftsplan überhaupt.25 Mit ihm sollten auf modernster technischer Grundlage und in einer Verbindung von zentralistischen und dezentralen Elementen innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen werden. Das Schlüsselglied bildete dabei die umfassende Elektrifizierung, die seinerzeit zukunftsweisende Technologie. Sie werde dazu dienen – so erwarteten die Fachleute –, nicht nur die Produktion rasch zu steigern, sondern auch die Arbeitsprozesse zu vereinfachen, die Aufhebung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit vorzubereiten, die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« zu beenden – eben weil am Ende nur noch Maschinen arbeiten und die Menschen diese lenken würden – und insgesamt die Herausbildung eines »neuen Menschen« zu fördern. Wenn also Lenin seine Begeisterung über den GOĖLRO-Plan in die Losung faßte: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«, so war hier die Technik als entscheidender wirtschaftlicher Hebel untrennbar mit gesellschaftspolitischen Zielen verbunden. Es breche eine Zeit an, in der die Ingenieure und Agronomen allmählich die Politiker ersetzten. Dies könne durchaus als Vorbild für die künftige sozialistische Weltgesellschaft dienen.26 Die Kommission, die aus ausgezeichneten, überwiegend nichtkommunistischen Elektrifizierungs-, Wirtschafts- und Planungsspezialisten bestand und von Gleb M. Kržižanovskij, einem Elektrotechniker und langjährigen Parteimitglied, geleitet wurde, arbeitete den Plan in einer Zeit tiefster Not und wirtschaftlicher Zerrüttung aus. Sie sah gerade in diesem Zustand die Möglichkeit, einen vollständigen Neuaufbau anstatt einer Wiederherstellung der alten Wirtschaftsstruktur vorzunehmen und dadurch besonders hohe Wachstumsraten zu erzielen. Dabei vertraute sie, beeinflußt durch das damals nicht nur in Rußland weit verbreitete »energetische« Denken, auf die schöpferische Kraft und Energie, die den »Kollektivgeist des werktätigen Volkes« entfalte, in Verbindung mit 25 Das folgende nach Cummins, Coopersmith und Haumann, Beginn. 26 Lenin verwendete diese Formel mehrfach. Am ausführlichsten ist der Zusammenhang dargestellt in seiner Rede auf dem Achten Sowjetkongreß Ende Dezember 1920; vgl. Lenin, Werke, Bd. 31, S. 510–515. Daß Elektrifizierung im Unterschied zum Stalinismus nicht nur mit Technisierung gleichzusetzen ist, muß betont werden.

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den Vorteilen der Elektrifizierung. So wie die Dampfmaschine das Symbol des Kapitalismus gewesen sei, werde die Elektrizität das Symbol des sozialistischen Zeitalters werden, meinte Kržižanovskij. Daß dies keineswegs rein technisch gedacht war, zeigte M. G. Gerasimov, einer der Dichter der »Proletkult«-Bewegung, als er 1920 von der »Elektrifizierung der Seelen« sprach.27 Die Zielsetzung wurde nicht zuletzt in den Überlegungen zur Gestaltung der Landwirtschaft deutlich. Nach langen und kontroversen Diskussionen, die zwischen der Hilfe für individuelle Bauernwirtschaften auf der Basis von Marktmechanismen und der Unterstützung einer freiwilligen Kollektivierung schwankten, setzte sich eine Auffassung durch, die »das kleine Bäuerlein elektrifizieren« wollte. Durch die Elektrifizierung könnten zahlreiche Arbeitsvorgänge im Dorf erleichtert und verbessert sowie die Verarbeitung agrarischer Erzeugnisse auf eine höhere Stufe gestellt werden. Auf diese Weise sei es möglich, das Niveau der bäuerlichen Einzelhöfe erheblich zu steigern. Zugleich könne man durch voll elektrifizierte und maschinisierte Musterwirtschaften den Zusammenschluß zu Genossenschaften und Kollektivbetrieben anregen. Die Befürworter dieser Konzeption hofften, daß sich mit der Elektrifizierung »die ganze Psychologie des Dorfes ändern« werde. Diese Erwartung schwang auch mit, wenn von der »Aufklärung durch Licht« gerade auf dem Land gesprochen wurde: Die elektrische Beleuchtung schaffe die Voraussetzungen, um lesen und sich bilden zu können, doch zugleich erleuchte die Aufklärung den Menschen. »Elektrifiziert« werde er mit revolutionärer Energie das Leben neu gestalten. So wollte dann auch Kržižanovskij den Bauern die »elektrische Ware« als Tauschgegenstand gegen Lebensmittel anbieten, wodurch »ein neues Gebiet für harmonische Beziehungen zwischen Stadt und Dorf« entstehe.28 Mit diesen Vorstellungen ordneten sich Kržižanovskij und die GOĖLROKommission in die unter den Bolschewiki vorherrschenden programmatischen Zielsetzungen ein, wie denn der unmittelbare Aufbau des Sozialismus aussehen solle. Da die Verbindung zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und Bauern als das wichtigste Element in diesem Prozeß angesehen wurde, banden sich die beabsichtigten Phasen an entsprechende Tauschbeziehungen. 27 M. P. Gerasimov, Elektrifizierung, in: Richard Lorenz (Hrsg.), Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917–1921). Dokumente des »Proletkult«, München 1969, S. 98–103. 28 Ausführlicher gehe ich – in größerem Zusammenhang – auf diese Konzeption ein in: »Das kleine Bäuerlein elektrifizieren ...« Agrarfrage und Agrarpolitik in Rußland von der Bauernbefreiung bis zur Kollektivierung (erscheint demnächst in der Publikation einer Vortragsreihe an der Universität Hohenheim zu ihrem 175jährigen Jubiläum [im vorliegenden Band enthalten]). Zitatnachweise in Haumann, Beginn, S. 109, 111, 122.

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Dringend notwendig war zunächst die Zunahme der Lebensmittellieferungen in die Städte. Für die Abgabe ihrer Überschußprodukte an den staatlichen Beschaffungs- und Verteilungsapparat sollten die Bauern als Gegenleistung von ihnen benötigte städtische Waren erhalten. Dabei war den Kommunisten klar, daß aufgrund der überkommenen industriellen Produktionsstruktur und des gegenwärtigen wirtschaftlichen Zustandes die Bauern mit einer Benachteiligung rechnen mußten. Lenin sprach davon, daß die Sowjetmacht vorübergehend zum »Schuldner« der Bauern werde.29 Sie würden dies, so hoffte man, akzeptieren – in Anerkennung des Dekretes, das unmittelbar nach dem Oktoberumsturz von 1917 die Gutsbesitzer enteignet und den Bauern das Land zur privaten Nutzung übergeben hatte. Darüber hinaus erwartete man, daß sie auf die Absicht der Bolschewiki vertrauten, die erhaltenen Mittel auf den Wieder- und Neuaufbau der Industrie zu konzentrieren, um möglichst rasch von der ersten Phase, dem »inäquivalenten Austausch zwischen Stadt und Land«, zur zweiten Phase zu gelangen, dem »äquivalenten« oder »Warenaustausch«. Hier werde es dann keinerlei Benachteiligung mehr geben, und zugleich würden planmäßig die Voraussetzungen für die dritte Phase, den Kommunismus geschaffen. In ihr werde die Bevölkerung im »Produktenaustausch« einer Gemeinwirtschaft »freier Assoziationen« – ohne den Zwang, auf Äquivalenzen Rücksicht nehmen zu müssen – gemäß ihren Bedürfnissen leben.30 Mit diesem Programm versuchten die Bolschewiki, in fast wörtlicher Umsetzung einiger Äußerungen von Marx und Engels, ergänzt durch konkrete Planvorgaben für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre, eine neue, herrschaftsfreie Gesellschaft zu erreichen. Anfang 1921 wurde offenbar, daß keine Aussicht auf seine Verwirklichung bestand. Die Bauern hatten die ihnen zugedachte Rolle nicht spielen wollen. Sie lieferten ihre Überschüsse nicht im erwarteten Maße ab und drückten ihren Unmut über das unzureichende städtische Warenangebot aus. Da die Ernährungslage in den Städten immer schlimmer wurde, entsandte die Regierung bewaffnete Abteilungen in die Dörfer, um die Abgaben einzutreiben. Dadurch verstärkte sich die Verweigerungshaltung der Bauern, sie versteckten ihre Produkte und handelten eher auf dem Schwarzmarkt. Die Gewalt eskalierte und entlud sich in einer Welle von Aufständen und Unruhen, die ihren Höhepunkt zwischen Herbst 1920 und Frühjahr 1921 fanden und erst mit einem – in der Parteiführung nicht unumstrittenen – massiven Truppeneinsatz niedergeschlagen werden konnten.31 AIs sich dann zu Beginn 29 Lenin, Bd. 31, S. 502 f. 30 Vgl. Haumann, Die russische Revolution, speziell zum »Produktenaustausch« S. 793–800. Die Verbindung mit der Agrarfrage ist in meinem in Anm. 28 zitierten Aufsatz erläutert. 31 Der Grad der Gewalt lag bei den aufständischen Bauern nicht niedriger als bei den Einheiten der Sowjetregierung. Im übrigen war den Bolschewiki durchaus bewußt, daß

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des Jahres 1921 die Wirtschaftslage – nach einem Hoffnungsschimmer gegen Ende 1920 – erneut drastisch verschlechterte und das Land in einen beinahe ausweglosen Notstand geriet, gegen den auch zahlreiche Arbeiter und im März schließlich die Kronstädter Matrosen protestierten, wurde die Abkehr von dem Programm unvermeidlich. Die Bolschewiki versuchten, beim Übergang zur NĖP so viel wie möglich davon zu retten, mußten aber im Laufe des Jahres einen vollständigen Rückzug antreten. Im Oktober 1921 stellte Lenin fest: »Der Warenaustausch war ein Fehlschlag, der Privatmarkt hat sich als stärker erwiesen als wir, und statt des Warenaustausches ist gewöhnlicher Kauf und Verkauf, ist Handel zustande gekommen. [...] wir müssen stets daran denken, daß der nächste Übergang kein unmittelbarer Übergang zum sozialistischen Aufbau sein kann.«32 Die Utopie der herrschaftsfreien Gesellschaft brach sich somit an der Not der Menschen und an ihrem Widerstand gegen die bolschewistische Politik, die ihnen viel versprach, aber immer nur mehr Leid verschaffte. Lag deshalb schon im Ansatz dieser Utopie der Keim des Scheiterns? War die Kluft zu den tatsächlichen Verhältnissen nicht überwindbar? Um diese Fragen zu beantworten, wird man nicht nur den Voraussetzungen und Realisierungsmöglichkeiten des GOĖLRO-Planes nachgehen müssen, sondern auch den Anknüpfungspunkten für das Gesamtprogramm an den Lebenswelten der Menschen und deren Reaktionen darauf. Der Elektrifizierungsplan beruhte auf sorgfältigen methodischen Verfahren – grundlegend für jede spätere Planarbeit –, und seine Verwirklichung konnte unter den gegebenen Bedingungen als durchaus realistisch eingeschätzt werden.33 Bekannt gewordene Reaktionen von Bauern auf die »elektrische Ware« – Beleuchtung des Dorfes, Elektrifizierung von Arbeitsvorgänihre Ablieferungsvorgaben zu hoch gewesen waren und die Requisitionskommandos von den Bauern als »Fremdherrschaft« empfunden wurden. Vgl. Eberhard Müller, Autonome Bewegungen des Volkskrieges in Sowjetrußland nach der Revolution von 1917, in: Gerhard Schutz (Hrsg.), Partisanen und Volkskrieg. Zur Revolutionierung des Krieges im 20.  Jahrhundert, Göttingen 1985, S. 35–56, hier S. 50 f. Wolkogonov, S. 325, weist darauf hin, daß Bucharin am 2.2.1921 im Politbüro mit Erfolg vorschlug, durch ökonomische Zugeständnisse an die Bauern deren Aufstand im Gouvernement Tambov einzudämmen. Als dies offenbar wenig half, beschloß man am 27.4. in Abwesenheit Bucharins den Truppeneinsatz. Im Grunde stellte die NĖP den Versuch dar, wieder zu ökonomischen Beziehungen zurückzukehren, allerdings mit der Bereitschaft, auf gewaltsame Mittel zurückzugreifen, wenn man es für notwendig halte; im politischen Bereich erfolgte ohnehin eine Machtkonzentration. Die Zeit zwischen 1921 und 1929, der Wende zum Stalinismus, verlief keineswegs geradlinig. Immer wieder gab es Ansätze, sich den Lebenswelten der Menschen anzunähern oder zumindest Aufklärung vor Gewalt zu setzen. 32 Lenin, Bd. 33, S. 76 f. 33 Wie Anm. 25.

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gen, Bau von Kraftwerken – stimmten optimistisch. 1921 wurden Vorhaben in Angriff genommen, durch die Errichtung von Kleinkraftwerken, unter Nutzung von Wind- und Wasserenergie sowie lokalen Brennstoffvorräten, die ländliche Elektrifizierung voranzutreiben.34 Kržižanovskij behauptete, Bauern hätten der Sowjetmacht Lebensmittel zur Verfügung gestellt, als ihr Dorf elektrisches Licht erhalten habe – der »Warenaustausch« könne somit funktionieren.35 Diese Konzeption war auch keineswegs völlig aus der Luft – oder allein aus den Schriften von Marx und Engels – gegriffen. Seit 1917 hat es immer wieder Beispiele für einen Austausch gegeben, deren Wirkung auf das politische Denken der Bolschewiki im einzelnen noch nicht untersucht sind. So zitierte am 12. September 1917 ein Mitglied des Fabrikkomitees der Putilov-Werke in Petrograd den bäuerlichen Ausspruch: »Gebt uns landwirtschaftliche Geräte, dann werden wir Brot geben.« Mehrere Fabrikkomitees dieser Stadt entschlossen sich deshalb, um die Ernährung der Arbeiterschaft ihrer Betriebe zu sichern, entweder einen Teil der betrieblichen Produktion auf solche Geräte umzustellen oder kostenlos in der Freizeit dafür zu arbeiten.36 Auch nach dem Oktoberumsturz versuchten zahlreiche Industrieunternehmen, in unmittelbarem Kontakt mit Dörfern Lebensmittel im Austausch gegen ihre Erzeugnisse zu erhalten. Ob dabei die Herkunft ihrer Arbeiter, die oft in Landsmannschaften organisiert waren, eine Rolle spielte, verdient eine nähere Überprüfung. Der Gedanke eines unmittelbaren Warenaustausches war darüber hinaus keineswegs auf einige Bolschewiki oder Sympathisanten beschränkt. Er gehörte etwa zu den Kernbestandteilen der bäuerlich-anarchistischen Machno-Bewegung in der Ukraine und schlug sich auch in einigen programmatischen Dokumenten nieder. Anfang 1919 wurde er sogar einmal in die Tat umgesetzt: Die Machnovščiki entsandten einen Zug Getreide nach Moskau, dafür wurden ihnen als Gegenleistung Industriegüter zur Verfügung gestellt.37 34 Haumann, Beginn, S. 109 f., 178 f., 188–190. 35 G. Krshishanowski, Bemerkungen zur Elektrifizierung, in: Russische Korrespondenz 1921, Bd. 2, S. 745 f. 36 Fabrično-zavodskie komitety Petrograda v 1917 godu. Protokoly (Red. koll.: I. I. Minc u. a., sost.: B. D. Gal‘perina), Moskva 1979, S. 82, 134, 297, 302, 313, 344, 396, 476 f. (Zitat), 577–579. 37 Dahlmann, Land und Freiheit, S. 106, 111, 123, 125, 137, 139. Eberhard Müller, Autonome Bewegungen, S. 52, erwähnt einen zweiten Versand von Getreide zum Warenaustausch nach Moskau. Weder bei Müller, S. 48, noch bei Dahlmann wird klar, warum die Arbeiter diesem Warenaustausch skeptisch gegenüberstanden, wenn ihnen die Bauern doch Getreide anboten. Zur Bedeutung der Landsmannschaften für die Beziehungen zwischen Stadt und Land vgl. Heiko Haumann, »Ich habe gedacht, daß die Arbeiter in den Städten besser leben.«

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Gab es demnach in dieser wichtigen Frage Berührungspunkte, denen weiter nachzugehen sein wird, so lassen sich in anderen Bereichen weitere Bestrebungen entdecken, an bäuerlichen Lebenswelten anzuknüpfen.38 Den Bolschewiki war sehr bewußt, daß sich ohne die Unterstützung der Bauern die Oktoberrevolution nicht auf ganz Rußland hätte ausdehnen können. Führende Kommunisten suchten deshalb nach einem Weg, über das sozialrevolutionäre Potential in der Bauernschaft das gemeinsame Bündnis für die Zukunft zu sichern. Ein besonderer Stellenwert kam dabei den zahlreichen Sekten und Abspaltungen von der Orthodoxen Kirche – vorab den Altgläubigen – zu. Das volksreligiöse Gedankengut der Sekten, das in Opposition zur Staatskirche wie zum autokratischen Staat selbst gestanden hatte, war unter den Bauern weit verbreitet. Über deren Endzeiterwartungen in einer sozial gerechten, herrschaftsfreien, im christlichen Sinn kommunistischen Gesellschaft, über deren häufige kollektive Lebensformen, das Prinzip der gegenseitigen Hilfe – der krugovaja poruka –, ihren Widerstandsgeist und den Stolz auf die Arbeitsleistung flossen Verbindungslinien zu marxistischen Vorstellungen. Bolschewiki, die sich dieser Welt annäherten, lösten sich von einer schematischen Anwendung der Prinzipien des Klassenkampfes und des Atheismus. Hier schimmerte die Möglichkeit durch, daß die Sektenangehörigen eine Mittlerfunktion übernehmen könnten und damit die Kommunisten nicht mehr als »Fremde im Dorf« auftauchten, als die sie bislang überwiegend angesehen wurden.39 Die herausragende Persönlichkeit – aber durchaus kein völliger Außenseiter – unter den Bolschewiki, die diesen Weg gehen wollten, war Vladimir D. BončBruevič, der sich bereits in der vorrevolutionären Zeit intensiv mit den russischen Sekten und der Volksreligiosität beschäftigt hatte, in guten Beziehungen zu Lenin stand und zwischen 1917 und 1920 immerhin die Geschäftsführung des Rates der Volkskommissare wahrnahm.40 Arbeiter bäuerlicher Herkunft in der Industrialisierung des Zarenreiches und der frühen Sowjetunion, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 43, 1993, S. 42–60. 38 Diese sind noch viel zu wenig erforscht. Helmut Altrichters Studie ist bislang ein Einzelfall geblieben: Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984. Im übrigen war es vielleicht auch, wenn von der »Elektrifizierung der Seelen« gesprochen wurde, nicht ausgeschlossen, daß man Zugang zu den Gefühlen der Menschen gewinnen und diesen nicht einfach Fortschrittsvorstellungen überstülpen wollte, doch gewiß ist eine solche Äußerung höchst ambivalent. 39 Vgl. Rex Rexheuser, Der Fremde im Dorf. Versuch über ein Motiv der neueren russischen Geschichte (17.–19. Jahrhundert), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 25, 1977, S. 494–512. 40 Eberhard Müller, Opportunismus oder Utopie? V. D. Bonč-Bruevič und die russischen Sekten vor und nach der Revolution, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 35, 1987, S. 509–533; Plaggenborg, Volksreligiosität (er weist auch darauf hin, daß in dieser Zeit eine antireligiöse Propaganda »nur sporadisch und improvisiert« stattfand, S. 115). Einen

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Letztlich gelang es jedoch nicht, diese Verbindungslinien zu stabilisieren und auszubauen. Offenbar empfand es die Mehrheit der bolschewistischen Politiker nicht als Widerspruch, für ein Bündnis mit den Bauern – zumindest den »werktätigen« – einzutreten und den Warenaustausch anzukündigen, gleichzeitig aber den Klassenkampf auf dem Land organisieren zu wollen und bewaffnete Requirierungskommandos in die Dörfer zu schicken. Gewiß war die »ausgleichende Verteilung«, die razverstka, wie die Politik der Ablieferungspflicht bezeichnet wurde, ursprünglich als Teil des Warenaustausches gedacht gewesen, ebenso wie 1921 dann die Naturalsteuer.41 Daß versucht wurde, sie auch mit Gewalt durchzusetzen, mußte allerdings die ökonomischen Beziehungen empfindlich stören. Nahm man dies in Kauf, weil man davon ausging, es handele sich um eine vorübergehende, kriegsbedingte Erscheinung, in der kommenden Friedenszeit würden die Bauern schon erkennen, wo ihre wahren Interessen lägen? Oder drückte sich hierin eine Enttäuschung vieler Bolschewiki darüber aus, daß die Bauern die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllten, den »inäquivalenten Austausch« nicht akzeptierten, sich mit dem Land-Dekret vom Oktober 1917 nicht zufrieden gaben? Möglicherweise wirkte sich hier eine schwerwiegende Fehleinschätzung aus. Die Bolschewiki waren – wie die meisten Zeitgenossen – davon überzeugt, daß die Bauern als Hauptleidtragende der zaristischen Industrialisierungsstrategie betrachtet werden müßten. Da die Revolution sie von erheblichen Belastungen befreit habe, sei ihnen eine zeitweilige Benachteiligung zuzumuten. Nach neueren Forschungen entsprach diese Wahrnehmung nicht der tatsächlich während des Zarismus verfolgten Politik. Die Bauern könnten deshalb unter den Maßnahmen der Sowjetregierung eine radikale Abkehr von dem seit den 1880er Jahren erkennbaren Trend verstanden haben, staatliche Akkumulationsquellen mehr aus der Stadt als aus dem Land zu schöpfen.42 Vielleicht erklärt das ihren erbitterten Widerstand. Ebenso wäre zu prüfen, welche Erfahrungen sie mit der Agrarpolitik der zaristischen Regierung während des Ersten Weltkrieges – die in dessen Endphase auch schon eine razverstka kannte – gemacht hatten und wie sie vor diesem Hintergrund den bolschewistischen Versuch einschätzten.43 Trotz ihrer Ablehnung der Requirierung unterstützte die Bauernschaft mehrheitlich die Sowjetordnung und die Rote Armee, weil sie bei Überblick über die nicht in der Orthodoxen Kirche organisierten religiösen Gruppen und die Politik des zaristischen Staates ihnen gegenüber gibt Ralph Tuchtenhagen, Religion als minderer Status. Die Reform der Gesetzgebung gegenüber religiösen Minderheiten in der verfaßten Gesellschaft des Russischen Reiches 1905–1917, Frankfurt a. M. etc. 1995. 41 Nachweise bei Haumann, »Kriegskommunismus«, S. 102, Anm. 20–27. 42 Vgl. Haumann, Die Wirtschaft, S. 1212–1219. 43 Dazu zuletzt Lih, S. 32 ff., S. 167 ff.

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einem Sieg der »Weißen« eine Rückkehr zu den alten Zuständen befürchtete. Möglicherweise war es gerade der Einsatz von Gewalt auch am Ende des Bürgerkrieges – bei der Beschlagnahme von Getreide wie etwa, unter Bruch eines Abkommens, im November 1920 gegenüber den Machno-Truppen –, der zahlreiche Bauern zu der Auffassung brachte, mit den Bolschewiki werde es keine Verständigung geben.44 Wenn die Mehrheit der Bolschewiki – aus welchen Gründen auch immer – so leicht den Weg der Überzeugung, der Kommunikation, des Dialogs, der ökonomischen und kulturellen Beziehungen verließ, so läßt sich daraus schließen, daß es ihnen schwerfiel, die »Fremdheit« den Bauern gegenüber zu überwinden, sich in deren Lebenswelten hineinzuversetzen. Dies scheint ohnehin ein Grundzug bolschewistischen Denkens zu sein: sich in der Regel den Menschen »von außen« oder gar »von oben« zu nähern. Entsprach deren Verhalten dann nicht dem Bild und der Erwartung, die man sich gemacht hatte, so trat der Aufbau eines Feind-Stereotyps ein. Dies konnte unter den damaligen Verhältnissen schnell in Gewalt umschlagen. Es gelang nicht, die Ambivalenz der Lage zwischen hochgesteckten Ansprüchen und der Not zu vermitteln – und die Bolschewiki versuchten es auch nicht in ausreichendem Maße. Als sich die Situation erneut verschlechterte, verwandelten sich Begeisterung und Hoffnung in Empörung und Enttäuschung, in Gewaltbereitschaft und Apathie. Je mehr sich dann Parteispitze und Bevölkerung entfremdeten, je weiter die Zielsetzungen und die praktischen Möglichkeiten, diese einzulösen, auseinanderklafften, desto stärker wurde die Macht konzentriert und im Konfliktfall gewaltsame Mittel eingesetzt. Anfänglich als situationsbedingt angesehen, galt Gewalt immer häufiger als scheinbar bewährtes Problemlösungsinstrument, bis in den 1920er Jahren Militanz und Gewalttätigkeit zunehmend zum »Ersatzritus für das nicht Erreichbare« und während des Stalinismus vollends zum Systemmerkmal gerieten.45 Nicht weil die Utopie keinerlei Bezugspunkt zu den Wirklichkeiten gehabt hätte, scheiterte das Experiment eines unmittelbaren Weges zum Sozialismus, sondern weil sie auch unter Einsatz von Gewalt erreicht werden

44 Eine eindringliche Beschreibung der Wirkung des bolschewistischen Verhaltens bei Victor Serge, Beruf: Revolutionär. Erinnerungen 1901–1917–1941, Frankfurt/Main 1967, S. 141. Vgl. Eberhard Müller, Autonome Bewegungen, der S. 52 betont: »Die sadistische Grausamkeit, die an der Antonovščina [der militanten Bauernbewegung im Gouvernemet Tambov, H. H.] erschreckend auffällt, sollte wohl weniger auf Antonovs Individualcharakter oder auf die dumpfe Brutalität des russischen Bauern überhaupt (Gorki), als auf den enormen Stau ohnmächtiger Wut zurückgeführt werden, den die äußerste Frustration von der Revolution freigesetzter Erwartungen erzeugt hatte.« 45 Plaggenborg, Menschenbilder, S. 485.

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sollte und damit einen Widerspruch zu ihrem eigenen Anspruch darstellte.46 Anders als zu späteren Zeiten hatten die Menschen damals eine Perspektive, die nicht nur aus materiellen Kennziffern bestand, aber sie erwies sich nicht als tragfähig.

46 Zu einlinig scheint mir nach dem Gesagten die in der Diskussion in Rußland geäußerte Interpretation, die Utopie sei an der Macht gewesen und habe mit allen Mitteln die Wirklichkeit nach ihrem Bilde formen wollen. Ebenso ist die Herleitung gewalthafter Lösungsmuster aus der autokratischen Tradition differenziert zu überprüfen. Vgl. Manfred Hildermeier, Revolution und Revolutionsgeschichte, in: Geyer, S. 32–53.

Jugend und Gewalt in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus im lebensweltlichen Zusammenhang*

I.

1928 veröffentlichte Nikolaj Robertovič Ėrdman (1902–1970) als Bühnenmanuskript seine satirische Kömodie »Der Selbstmörder« (Samoubijca).1 Im arbeitslosen Kleinbürger Semen Semenovič Podsekal’nikov keimt nach einem Streit mit seiner Frau und seiner Schwiegermutter sowie weiteren Verwicklungen die Idee, seinem sinnlosen Dasein durch Selbstmord ein Ende zu setzen. Plötzlich sieht er sich dadurch im Mittelpunkt der Gesellschaft: Viele Leute, bei denen sich seine Absicht herumgesprochen hat, eilen herbei, wollen ihm helfen, dann aber auch seinen Freitod für ihre Zwecke ausnutzen. Er soll öffentlich für die »Wahrheit«, für die »heilige Kunst«, für die »Religion« und vieles andere sterben, versuchen ihm die verschiedensten Personen einzureden. Podsekal’nikov fühlt sich als Held, sein Tod gewinnt Sinn. In dessen Angesicht wird er zum freien und mutigen Mann, ruft im Kreml an und teilt dort mit, dass ihm Marx, nachdem er ihn gelesen habe, nicht zusage (III, 2). Schliesslich bringt er es aber doch nicht fertig, sich das Leben zu nehmen. Zum Entsetzen aller steigt er am Ende wieder aus dem Sarg. »Bloß leben« will er und nicht für die Menschheit sterben. In einer Ansprache erklärt er, dass ihm die Revolution nichts gebracht habe. Er wünsche nur »ein ruhiges Leben und ein anständiges Gehalt«. »Genossen, ich bitte euch im Namen von Millionen Menschen: gebt uns das Recht zu flüstern« (V, 6). Alle halten sich für betrogen und wollen sich auf ihn stürzen, ihn als »Konterrevolutionär« erschießen, da kommt die Nachricht, der junge Arbeiter Fedja Pitunin habe sich umgebracht. Er hinterlässt die Nachricht: »Podsekal’nikov hat Recht. Zu leben lohnt sich wirklich nicht« (V, 7). * Erstpublikation in: Sowjetjugend 1917–1941. Generation zwischen Revolution und Resignation. Hg. von Corinna Kuhr-Korolev, Stefan Plaggenborg und Monica Wellmann. Essen 2001, 25–61 [leicht erweitert auf der Grundlage des ursprünglichen Entwurfs]. 1 Nikolaj Ėrdman: Samoubijca, in: ders.: P’esy. Intermedii. Pis’ma. Dokumenty. Vospominanija sovremennikov, M. 1990, 81–164 (Übersetzungen im Folgenden: HH). – Für Anregungen, Kritik und Unterstützung danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projekts »Jugemd und Gewalt in Sowjetrussland 1917–1912« – Viktor Isaev, Corinna Kuhr, Stefan Plaggenborg, Vera Spiertz, Daniela Tschudi, Monica Wellmann – sowie Nina Klingler, Monica Rüthers und Carmen Scheide in Basel.

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Ėrdman hatte mit seiner 1925 uraufgeführten Komödie »Das Mandat« große Erfolge erzielt. Sein Regisseur Vsevolod Ėmil’evič Mejerchol’d (1874–1940) war begeistert vom »Selbstmörder« und forderte Konstantin Sergeevič Stanislavskij (1863–1938), der sich ebenfalls für das Stück interessierte, zum »sozialistischen Wettbewerb« auf.2 Hier werde mit dem Spießertum abgerechnet, lautete sein »politisches« Argument für eine Aufführung. Doch man konnte die Satire auch anders lesen. Gewiss machte sich Ėrdman über alles Spießige und Kleinbürgerliche lustig, aber unüberhörbar war auch die Kritik an den Ergebnissen der bisherigen bolschewistischen Politik, die den Menschen nichts gebracht habe, Zwang gegen Andersdenkende ausübe, von den ursprünglichen Zielen kaum noch etwas erkennen lasse. Der im Stück als »junger Mann (...) mit marxistischem Standpunkt« eingeführte Egoruška will die poetischen Einfälle den Vorschriften angepasst sehen und erweist sich als Denunziant. Dies musste die Anhänger der herrschenen Linie ins Mark treffen. Mejerchol’d wie Stanislavskij stießen in dem sich verhärtenden politischen Klima auf wachsenden Widerstand von mit Ėrdman konkurrierenden Schriftstellern wie von kunstpolitischen Gremien. Stanislavskij wandte sich direkt an Stalin mit der Bitte um Unterstützung. Dieser antwortete am 9. November 1931, er habe keine »sehr hohe Meinung« von dem Stück, halte auch das negative Gutachten des Haupt-Repertoirekomitees (Glavrepertkom) für überzeugend. Aber da er »in dieser Sache Dilettant« sei, wolle er sich nicht dagegen sperren, dass das Theater einen Versuch machen könne. Ein kunstsachverständiger Genosse werde als Supervisor eingesetzt.3 Mejerchol’d, der diesen Brief als positives Signal interpretierte, versuchte 1932, mit einer geschlossenen Vorstellung für ausgewählte Kommunisten politische Rückendeckung zu erhalten. Deren ablehnendes Urteil muss ihn so entsetzt haben, dass er die Arbeit an dem Stück einstellte und von da an keine zeitgenössischen Komödien mehr inszenierte.4 Supervisor des Stückes wurde im übrigen Lazar Moiseevič Kaganovič (1893–1991), es blieb bei der Ablehnung.5 Ėrdman verschwand bald darauf für lange Zeit im Lager. Ob Stalin die Komödie überhaupt kannte, oder ob er sich an Ėrdman rächen wollte, weil – angeblich – während der Aufführung des »Mandats« »Schmäh-

2 Marjorie Hoover: Nikolai Erdman: A Soviet Dramatist Rediscovered, in: Russian Literature Triquarterly (1972), 413–434, hier 424. 3 Carl R. Proffer: Erdman‘s The Suicide: An Unpublished Letter from Stalin to Stanislavsky, in: Russian Literature Triquarterly (1973), 425–426, hier 425 (Übersetzung: HH). 4 Eberhard Reissner: Ėrdman: Der Selbstmörder, in: Bodo Zelinsky (Hg.): Das russische Drama, Düsseldorf 1986, 292–303, hier 294. 5 Proffer, 426. Die Uraufführung des »Selbstmörders« fand 1969 in Göteborg statt (Reissner, 295).

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rufe« auf ihn laut geworden waren6, und sich auf das ideologische Urteil seiner Umgebung verließ, soll hier nicht entschieden werden. Für die Ablehnung durch die Parteigremien dürfte nicht zuletzt den Ausschlag gegeben haben, dass Ėrdman mit dem Freitod des resignierenden jungen Arbeiters einen dramatischen Schlussakkord setzte. Damit stellte er das offizielle Bild des strahlenden Kämpfers für die sozialistische Zukunft radikal in Frage. Schon in einer früheren Szene hatte er die Partei auf diesen wunden Punkt hingewiesen, als er den Priester sagen ließ, man müsse »die Jugend erobern«, und der Schriftsteller dies »mit Ideen« erreichen wollte (II, 22). Ebenso problematisch musste der Umgang mit Gewalt erscheinen, der hier angesprochen wurde: mit Selbstmord wie mit Mord, mit Lynchjustiz an einem »Konterrevolutionär«. Wenig später als Ėrdman reflektierte ein anderer Dichter über eine ähnliche Problematik. Osip Ėmil’evič Mandel’Štam (1891–1938) fand im Herbst 1929 Arbeit bei der Zeitung Moskovskij Komsomolec und erhielt dadurch auch Einblicke in Tätigkeitsfelder der Jugendorganisation, die der Öffentlichkeit entzogen blieben. Seine Erfahrungen schlugen sich in seinem Werk »Vierte Prosa« nieder, das im Wesentlichen 1930 entstand. Darin schildert er »das Training eines Komsomolzenknirpses (...), damit er, Wassenka, lerne, Fußtritte zu geben, damit er, Wassenka, zuschlage (...).« Als Beispiele für die Einübung »der Lynchjustiz«, die er mit der »Leichten Kavallerie des Komsomol«7 in Verbindung bringt, führt er an: »Ein Ladengehilfe an der Ordynka hat beim Abwägen eine Arbeiterin bemogelt – töte ihn! Eine Kassiererin hat sich um einen Fünfer verrechnet – töte sie! Ein Direktor hat irgendeinen Wisch ungelesen unterzeichnet – töte ihn! Ein Bauer hat Roggen in seinem Speicher verheimlicht – töte ihn! (...) Wir sind die Freibeuter des Komsomol. Wir sind Krakeeler mit der Zustimmung aller Heiligen.«8 Dass dieser Text in jener Zeit nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken durfte, versteht sich. Im übrigen fehlte auch hier nicht ein Hinweis auf einen Freitod, nämlich auf jenen des Dichters Sergej Aleksandrovič Esenin (1895–1925).9 6 Reissner, 300. 7 Diese Gruppierung wurde von der Partei gezielt zu Hilfsdiensten bei Kampagnen, aber auch zu Überwachungsaufgaben herangezogen. Dabei wählte man offenbar häufig Jugendliche aus, die ein körperliches Gebrechen hatten, bisher als Versager galten oder sich hatten etwas zuschulden kommen lassen. Vgl. auch S. Sobelev: Leningradskij komsomol v polose socialističeskogo stroitel’stva, L. 1928. 8 Ossip Mandelstam: Das Rauschen der Zeit. Gesammelte »autobiographische« Prosa der 20er Jahre. Aus dem Russischen übertragen und hg. von Ralph Dutli, Frankfurt a.  M. 1989, 252–254, vgl. 294–295, 305. Der im Anschluss erwähnte Hinweis auf Esenin findet sich 261. 9 Am Freitod Esenins sind erneut Zweifel aufgetaucht (vgl. Thomas Urban: Es war doch kein Selbstmord. Neueste Literatur scheint zu bestätigen, dass Stalin die russischen Dichter Majakowskij und Jessenin ermorden ließ, in: Süddeutsche Zeitung, 14./15.10.2000, SZ am

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In der Wahrnehmung der Partei gab es neben einer kleinen Schicht von Jugendlichen, die sie für ihre Zwecke mobilisieren und radikalisieren konnte, eine große Anzahl politisch denkender junger Leute, die von den Verhältnissen enttäuscht waren und deren Enttäuschung leicht in radikale Forderungen umschlagen konnten, sowie eine Mehrheit von »Unpolitischen« – auch im Komsomol –, deren Verhalten keineswegs den Wünschen entsprach und die oft gewalttätig wurden.10 Die aktive Beteiligung von Jugendlichen, nicht zuletzt von Komsomol-Mitgliedern, an Streiks während der zwanziger Jahre, wirkte als Warnzeichen.11 Mit großer Aufmerksamkeit registrierte man, dass sich die Jugend nicht wie erhofft entwickelte. Gerade hatte es eine intensive Debatte über Selbsttötungen und andere unerwünschte Verhaltensweisen von Jugendlichen gegeben. Sie sollte nun nicht außer Kontrolle geraten. Eine öffentliche Diskussion, angestoßen von einem populären Komödiendichter, über enttäuschte Jungarbeiter, die den Freitod wählten, anstatt sich für den industriellen Aufbau einzusetzen, konnte die Sowjetführung in jenen aufwühlenden Umbruchjahren nicht gebrauchen. Ebensowenig war sie daran interessiert, die Lynchjustiz und das Denunziantentum von Komsomol-Mitgliedern zu thematisieren, die in dieser Zeit das Land überzogen, so wie überhaupt Gewaltakte an der Tagesordnung waren. Stalin meinte im März 1930 entlarvend und ablenkend: »Gewalt (…) wäre dumm und reaktionär«.12 II.

Gewalt, so hat es Samuel N. Eisenstadt in seiner vergleichenden Untersuchung der Transformation von Gesellschaften formuliert, »signalisiert die Auflösung geordneter Beziehungen zwischen einem Akteur oder einem System und seiner Umgebung.« In jeder Gesellschaft gründeten sich die menschlichen Beziehungen auf einer »Regulierung und symbolischen Transformation von Gewalt und Wochenende, II). Darauf kann ich hier nicht eingehen, zumal in unserem Zusammenhang wichtig ist, dass an den Freitod geglaubt und er in einem bestimmten Sinn gedeutet wurde. 10 Die Beobachtung, dass in den Umbruchsituationen der Sowjetgeschichte zwischen 1917 und 1932 immer wieder radikales Handeln von Jugendlichen ein vorwärtstreibendes Element darstellte, lag den Überlegungen für unser Forschungsprojekt zugrunde. 11 Andrew Pospielovsky: Strikes During the NEP, in: Revolutionary Russia 10 (1997) 1–34, hier 21–23. 12 I. V. Stalin: Vor Erfolgen von Schwindel befallen. Zu den Fragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, in: Pravda, 2.3.1930; hier zitiert nach Helmut Altrichter / Heiko Haumann (Hg.): Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 2: Wirtschaft und Gesellschaft, München 1987, 296–299, hier 297.

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Aggression«. Wenn diese Mechanismen außer Kraft träten oder in Frage gestellt würden, komme es zu nichtregulierter Aggression, zu Gewalt. Diese könne sich im Verhalten Einzelner wie in gesellschaftlichen Protestbewegungen äußern.13 Gewalt, die über einen leicht eingrenzbaren aggressiven Akt hinausgeht, ist somit – folgt man dieser Ansicht – ein Zeichen von Störungen im gesellschaftlichen Gefüge. Ein besonders sensibler Indikator ist dabei Jugendgewalt. Die Sowjetgesellschaft zwischen 1917 und 1929 war gekennzeichnet von einer Auflösung traditioneller Ordnungen und Experimenten mit neuen. Der Versuch, radikal alle kapitalistischen Wirtschaftsbeziehungen abzuschaffen und den unmittelbaren Weg zum Kommunismus einzuschlagen, wurde 1921 abgebrochen und von einer – als Umweg verstandenen – teilweisen Wiederzulassung kapitalistischer Elemente abgelöst. Materiell besserte sich die Situation für die Bevölkerung zwar allmählich, war aber noch keineswegs rosig. Erwerbslosigkeit und »Verwahrlosung« (besprizornost’ ) von Kindern und Jugendlichen bildeten die extremen äußeren Merkmale. Heftig und kontrovers diskutierte man die wirtschaftspolitischen Strategien. Der jeweilige Kurs wechselte vielfach, war oft schwer nachvollziehbar und hatte keine klaren Konturen. Verwirrend mussten die »Fraktionskämpfe« innerhalb der Kommunistischen Partei wirken, und die Innenpolitik schwankte zwischen relativer Liberalität – etwa im künstlerischen Bereich – und Repression gegenüber nichtkommunistischen Organisationen. Eine Anzahl althergebrachter Werte, wie sie sich zum Beispiel aus dem religiösen Glauben oder einem bürgerlichen Lebensstil ergaben, war offiziell geächtet, wurde aber dennoch praktiziert. Am stärksten machten sich die Probleme in den Städten bemerkbar, aber auch in den Dörfern war nicht zuletzt durch die Abwanderung in die Industriezentren vieles durcheinander geraten.14 Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es gerade auch unter Jugendlichen zu Verunsicherung, Orientierungslosigkeit, Aufmüpfigkeit, unangepasstem Auftreten oder eben gewaltsamem Handeln und Kriminalität kam. Was als kriminell angesehen wird, ist im übrigen häufig umstritten. Die Normen des Strafrechts stimmen nicht unbedingt mit den Rechtsauffassungen bestimmter Bevölkerungsgruppen überein, und in Konfliktsituationen tritt

13 Samuel N. Eisenstadt: Revolution und die Transformation von Gesellschaften. Eine vergleichende Untersuchung verschiedener Kulturen, Opladen 1982, 61. 14 Der Einfachheit halber verweise ich auf meine Übersichten: Sozialismus als Ziel: Probleme beim Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung (1918–1928/29), in: Gottfried Schramm (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3: 1856–1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. 1. Halbband, Stuttgart 1983, 623–780; Geschichte Russlands, München/Zürich 1996, 466–554.

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dieser Gegensatz deutlich hervor.15 Welche Handlungsformen sollen als Gewalt verstanden werden? Eine einheitliche Definition gibt es nicht, das jeweilige Verständnis von Gewalt ist ein Konstrukt.16 Im alltäglichen Sprachgebrauch wird menschliche Gewalt – dies ist schon eine Einschränkung, denn wir kennen auch den Begriff der Naturgewalten – vorwiegend als etwas Aggressives und Destruktives empfunden. Letztlich werden »alle Handlungen oder Strukturen, die Menschen daran hindern, ihr Entwicklungs- und Realisierungspotential in freier Entscheidung zu entfalten, mit dem Begriff ›Gewalt‹ zu umfassen versucht«.17 Ursprünglich leitet sie sich allerdings von herrschaftlicher und staatlicher Gewalt her. In Form der »Gewaltenteilung« ist damit sogar eine Kontrolle staatlichen Zwangs verbunden.18 Weitere Differenzierungen können sich darauf beziehen, ob Gewalt beabsichtigt oder unbeabsichtigt ausgeübt wird, ob sie per15 Vgl. nur Dirk Blasius: Kriminalität und Alltag. Zur Konfliktgeschichte des Alltagslebens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1978. In Russland fallen etwa über mehrere Jahrhunderte die unterschiedlichen Rechtsauffassungen von Bauern und Gutsbesitzern auf (s. Haumann: Geschichte Russlands, 356 u. ö.). 16 Vgl. Rudolf Walther: Sie kommt mitten aus der Gesellschaft und ist männlich. Gewalt: Was ist das? Wo kommt das her? Versuch, über ein »unerklärliches« Phänomen nachzudenken, in: Basler Zeitung, 7.9.2000, 37–38; ders.: Terror, Terrorismus, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 6, Stuttgart 1990, 323–443; Achatz v. Müller: Gewalt, in: Manfred Asendorf u. a.: Geschichte. Lexikon der wissenschaftlichen Grundbegriffe, Reinbek 1994, 268–270; Jörg Callies (Hg.): Gewalt in der Geschichte, Düsseldorf 1983; Michael Wimmer / Christoph Wulf / Bernhard Dieckmann (Hg.): Das »zivilisierte Tier«. Zur Historischen Anthropologie von Gewalt, Frankfurt a. M. 1996; Helmut Willems: Gewalt und Fremdenfeindlichkeit. Anmerkungen zum gegenwärtigen Gewaltdiskurs, in: Hans-Uwe Otto / Roland Merten (Hg.): Rechtsradikale Gewalt im vereinigten Deutschland. Jugend im gesellschaftlichen Umbruch, Bonn 1993, 88–108, hier 92 (vgl. auch weitere Beiträge dieses Bandes). Auch: Rolf W. Brednich / Walter Hartinger (Hg.): Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses, Passau 1993. 2 Teilbände, Passau 1994. 17 Alberto Godenzi: Gewalt im sozialen Nahraum, Basel/Frankfurt a. M. 1993, 36, vgl. 27– 38 zu Definitionen von Aggression und Gewalt (die 3. Aufl. 1996 ist – abgesehen von redaktioneller Bearbeitung – um ein Namen- und Sachverzeichnis erweitert). Vgl. Udo Rauchfleisch: Allgegenwart von Gewalt, Göttingen 1992, 11 ff.; Gudrun Friderichs / Rolf Eichholz: Der Schrei nach Wärme. Jugend und Gewalt, 2. Aufl. Frankfurt a. M. usw. 1997, 20–22. Die Schwierigkeit, eine geeignete Definition zu finden, bestätigt Hans Thiersch: Gewalt – Bemerkungen zur gegenwärtigen Diskussion, in: Hans Thiersch / Jürgen Wertheimer / Klaus Grunwald (Hg.): »... überall, in den Köpfen und Fäusten«. Auf der Suche nach Ursachen und Konsequenzen von Gewalt, Darmstadt 1994, 1–22. Siehe auch die Beiträge zu »Aggression und Gewalt« in: Der Bürger im Staat 43 (1993) H. 2. 18 Hans Fenske: Gewaltenteilung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 2, Stuttgart 1975, 923–958.

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sönlich oder sozial motiviert ist, ob jemand angreift oder sich verteidigt, ob sie zwischen Personen, Gruppen oder Staaten ausgeübt wird – dies lässt sich uferlos fortsetzen. Eine gängige Typologie unterscheidet zwischen direkter Gewalt – körperlicher wie seelischer – und struktureller Gewalt, durch Armut, Unterdrückung und »repressive Toleranz«.19 So lässt sich dann etwas präziser definieren: »Als ›Gewalt‹ bezeichnen wir eine spezifische Form der Aggression, welche die Schädigung eines Objektes oder einer Person zum Ziel hat«.20 Am leichtesten ist es noch – auch von den Quellen her –, beabsichtigte, auf Personen oder Objekte bezogene physische Gewalt zu fassen; ein zu weit gefasster Begriff ist analytisch unbrauchbar.21 Doch bei deren Analyse sind Formen psychischer und struktureller Gewalt notwendigerweise einzubeziehen. Unbedingt müssen diese Kategorien mit den zeitgenössischen Verständnissen von Gewalt in Beziehung gesetzt werden, um die Verhaltensweisen nicht unzulässig zu interpretieren.22 Und was heisst »Jugend«? Auch dies ist kein Begriff, der durch alle Zeiten und in allen Gesellschaften einheitlich verstanden wird. Ebenso wie Gewalt ist Jugend ein Konstrukt im jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhang, spiegelt – auch im negativen Sinn – die Wertvorstellungen und »Errungenschaften« der Gesellschaft und steht somit in vielfältigen Wechselbeziehungen.23 Beim Um19 Sie ist namentlich von Johan Galtung entwickelt worden, siehe seine Kurzfassung: Der besondere Beitrag der Friedensforschung zum Studium der Gewalt: Typologien, in: Kurt Röttgers / Hans Saner (Hg.): Gewalt. Grundlagenprobleme in der Diskussion der Gewaltphänomene, Basel/Stuttgart 1978, 9–32. Vgl. auch die übrigen Beiträge dieses Bandes. Nach dem Zweck differenziert Wilhelm Heitmeyer: Gehen der Politik die gewaltlosen Mittel aus? Zur Paralysierung gesellschaftlicher Institutionen, in: Otto / Merten, 109–119, hier 112. 20 Rauchfleisch, 36. 21 Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke (Hg.): Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, bes. die Einleitung; Godenzi, 38; Hans Nicklas / Änne Ostermann / Christian Büttner: Vaterlos, gottlos, arbeitslos – wertlos? Zum Problem der Jugendgewalt und mögliche Präventivstrategien, HSFK-Report 4 (1997), 14; Lothar Brock: Friedensforschung im Zeichen immer neuer Kriege, in: HSFK-Standpunkte/Friedensforschung aktuell Nr. 2 (Februar 1995), hier 2–3. Vgl. Trutz v. Trotha (Hg.): Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, insbesondere die Beiträge des Hg. (Zur Soziologie der Gewalt, 9–56) und Birgitta Nedelmanns (Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzungen in der gegenwärtigen und Wege der künftigen Gewaltforschung, 59–85) geben wichtige Hinweise für die weitere Forschung. 22 Zum Gewalt-Verständnis der Bolschewiki vgl. Walther, Terror, 406–418; Heiko Haumann: Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft und Praxis gewalthafter Verhältnisse. Offene Fragen zur Erforschung der Frühgeschichte Sowjetrußlands (1917–1921), in: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994) 19–34, hier 25–28. Siehe auch die in Anm. 94 zitierten Arbeiten Stefan Plaggenborgs. 23 Dies zeigen etwa Winfried Speitkamp: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 1998. Vgl. Giovanni Levi / Jean-Claude Schmitt (Hg.):

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gang mit jeder Definition sind somit wiederum zeitgenössische Vorstellungen zu berücksichtigen. Teilweise wird versucht, die Jugend über Altersgrenzen zu bestimmen.24 Dabei kommt es zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Angemessener erscheint eine Orientierung am Generationen-Verständnis.25 Jugend ist dann die Generation zwischen Kindheit und Erwachsenen-Dasein. Diese Phase endet – durchaus nach Kulturen und Gesellschaften unterschiedlich –, wenn in den wichtigsten »Handlungsbereichen Autonomie und Eigenverantwortlichkeit erreicht worden ist«.26 Zu diesem Verständnis gehört, dass Jugendliche immer Geschichte der Jugend. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1996–1997; Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt a. M. 1986; Bernhard Schäfers: Soziologie des Jugendalters. Eine Einführung, 6. Aufl. Opladen 1998; Helmut Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch in pädagogischer Absicht, Opladen 2000; Thomas H. Macho: Jugend und Gewalt. Zur Entzauberung einer modernen Wahrnehmung, in: Wimmer / Wulf / Dieckmann, 221–241; Dorle Dracklé (Hg.): Jung und wild. Zur kulturellen Konstruktion von Kindheit und Jugend, Berlin 1996; Melita Srob / Josef Held (Hg.): Jugend zwischen Ausgrenzung und Integration. Theorien und Methoden eines internationalen Projekts, Hamburg 1998. 24 Vgl. z. B. Nikolai Slepzow / Lidija Rewenko: Die Perestroika-Generation. Jugendliche in Russland, München 1993, 155; Jürgen Zinnecker: Kinder im Übergang. Ein wissenschaftlicher Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11, 8.3.1996, 3–10, hier 3, 5; Deutsche Shell (Hg.): Jugend 2000. Die 13. Shell Jugendstudie. 2 Bde., Opladen 2000, hier Bd. 1, 349, 353–354. 25 Dem folgt auch Anne E. Gorsuch: »A Woman Is Not a Man»: The Culture of Gender and Generation in Soviet Russia, 1921–1928, in: Slavic Review 55 (1996) 636–660. Vgl. Irmtraud Götz v. Olenhusen: Jugendreich, Gottesreich, Deutsches Reich. Junge Generation, Religion und Politik 1928–1933, Köln 1987, 11–27; Walter Jaide: Generationen eines Jahrhunderts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahrhunderttrend. Zur Sozialgeschichte der Jugend in Deutschland 1871–1985, Opladen 1988, bes. 7–8, 281–286, 327–334; Fend: Entwicklungspsychologie. Thomas H. Macho betont die Instrumentalisierung der – jeweils meist männlichen – jüngeren durch die ältere Generation zu deren Zielen, wodurch der Mythos einer gewalttätigen, aber opferfreudigen Jugend entstehe (239). – Einführend mit wichtigen Texten, auch zur im Folgenden angesprochenen Problematik: Ludwig v. Friedeburg (Hg.): Jugend in der modernen Gesellschaft, Köln/Berlin 1965. 26 Yvonne Bernart: Jugend, in: Bernhard Schäfers / Wolfgang Zapf (Hg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998, 352–361, hier 353; Mitterauer, bes. 25– 27, 34, 41, 247 ff.; vgl. Klaus Hurrelmann: Lebensphase Jugend, Weinheim/München 1994. Insofern ist Jugend mehr als nur eine »Befindlichkeit des Bewußtseins»: Wolfgang R. Krabbe (Hg.): Politische Jugend in der Weimarer Republik, Bochum 1993, 9. Vgl. Julian Marias: Generations. A Historical Method, Alabama 1970; Alan S. Spitzer: The Historical Problem of Generations, in: The American Historical Review 78 (1973) 1353–1385. Auf die umfangreiche Literatur zum Generationen-Ansatz kann ich hier nicht eingehen. Vgl. in diesem Zusammenhang zu Russland Daniel R. Browder: Fathers, Sons and Grandfathers: Social Origins of Radical Intellectuals in Nineteenth-Century Russia, in: Journal of Social

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wieder und häufig in ritualisierter Form – wie bei »Rügebräuchen« – Normen und Regeln, kulturelle Orientierungen und Codes kritisieren, um die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu erproben, in die Welt der Älteren hineinzuwachsen und sich ihrer jeweiligen Identität zu vergewissern, zu sich selbst zu finden. Zugleich wird dabei überprüft, ob die traditionellen Normen und Werte, Verhaltensleitsätze und Kontrollen nicht neuen Verhältnissen angepasst werden müssten. Die Rituale der Jugendkultur, zu denen – auch als Teil des »Generationen-Konflikts« – Protest und Rebellion zählen, verhindern einerseits in der Regel manifeste Gewalt, rücken sie aber andererseits in den Bereich des Möglichen, so dass in bestimmten Situationen physische Gewalt eine Eigendynamik gewinnt.27 Treten die Ansichten über das Verhältnis von alt und neu zu weit auseinander, kann es leicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen.28 In den Riten bestätigt sich die jeweilige Gruppe zugleich ihre Zusammengehörigkeit.29 Nicht jeder Gewaltakt von Jugendlichen ist somit Zeichen von sozialer Isolation, Ausgrenzung, Desintegration, Enttäuschungs- und Minderwertigkeitsgefühlen oder gar von Non-Konformismus. Zu berücksichtigen sind allgemeine Ursachen wie das vorhandene Aggressionspotential, das sich unter bestimmten History 2 (1969) 333–355. Am Rande sei nur vermerkt, dass die Führungsgruppe der Bolschewiki zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution ein Durchschnittsalter von 39 Jahren, bei ihrer Hinwendung zur revolutionären Aktion jedoch von 17 Jahren aufwies. Siehe Philip Abrams: Rites de Passage. The Confilct of Generations in Industrial Society, in: Journal of Contemporary History 5 (1970) 175–190, hier 179. 27 Vgl. aus unterschiedlichen Perioden und Gesellschaften: Norbert Schindler: Die Hüter der Unordnung. Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit, in: Levi / Schmitt, Geschichte der Jugend I, 319–382; ders.: Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1992, 222–257; Nicklas u. a., 15; Martin Leuenberger: Mitgegangen – mitgehangen. »Jugendkriminalität« in Basel 1873–1893, Zürich 1989, z. B. 356–357; Günther Kaiser: Randalierende Jugend. Eine soziologische und kriminologische Studie über die sogenannten »Halbstarken«, Heidelberg 1959, etwa 51, 75–76, 211–213, 218–220. 28 So interpretiert Mary Douglas gewalttätiges Handeln in den Studentenunruhen der 1960– 70er Jahre – ähnlich wie in Erlösungsbewegungen – aus einem Widerstand gegen »die Überstrukturierung des sozialen Lebens durch das soziale Klassifikationsgitter«, der in der »hoffnungsvollen Erwartung einer Katastrophe« gegipfelt habe, »durch die alle bestehenden Strukturen hinweggefegt werden würden« (Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a.  M. 1986, 191). 29 Vgl. Ernst Hinrichs: »Charivari« und Rügebrauchtum in Deutschland, in: Martin Scharfe (Hg.): Brauchforschung, Darmstadt 1991, 430–463; Jozsef Kotics: Soziale Kontrolle als Gewalt. Die Rolle der Gewalt im Charivari-Ritual, in: Brednich / Hartinger, Teilband I, Passau 1994, 377–385; Katharina Inhetveen: Gesellige Gewalt. Ritual, Spiel und Vergemeinschaftung bei Hardcorekonzerten, in: v. Trotha, 235–260. Viele der in diesem Abschnitt zitierten Schriften kommen zu ähnlichen Aussagen.

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Bedingungen ins Destruktive kehren kann, die Neigung, alles Unangenehme von sich zu schieben, oder die verbreitete Unfähigkeit, sich starken Außeneinflüssen zu entziehen.30 Vor allem aber ist in jedem Einzelfall zu prüfen, welche sozialen und psychischen Faktoren zu gewalthaftem Handeln geführt haben.31 Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden sichtbar, wenn wir Formen und Ursachen von Jugendgewalt in verschiedenen Gesellschaften während vergleichbarer Umbruchzeiten betrachten. Das gilt besonders für Deutschland, wo sich die Verarbeitung der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wie der Niederlage mit ihren Folgen, die oft schwierige materielle Lage mit hoher Erwerbslosigkeit und sozialem Elend auch auf die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen auswirkten.32 Ein Klima der Gewalt in zahlreichen Familien, Schulen und Betrieben sowie durch den wieder erstarkenden Militarismus in der Gesellschaft – sichtbar auch in den Kulten um Führer, Kampf, Uniform und Marschieren oder in paramilitärischen Verbänden und Jugendgruppen – verstärkte diese Tendenz.33 Jugendbanden, 30 Rauchfleisch, 226–227. 31 Tilman Moser: Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur. Zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und psychoanalytischen Theorien des Verbrechens, Frankfurt a. M. 1987 (er betont Kindheit, Familie, Schicht); Huub Angenent / Anton de Man: Background Factors of Juvenile Delinquency, New York usw. 1996 (sie nennen vor allem Familie, Schule, Freunde und Peers, soziale Umstände sowie persönliche Identität und Selbstwertgefühl als »conglomerate of variables which interact«, 195). 32 Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz (Hg.): »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ...« Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1996; Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Dieter Langewiesche / Hans-Peter Ullmann (Hg.): Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs, Essen 1997. Vgl. Christoph Schubert-Weller: »Kein schöner Tod ...«. Die Militarisierung der männlichen Jugend und ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg 1890–1918, Weinheim 1998. – Der Vergleich mit Deutschland nach dem 1. Weltkrieg war in unserem Projektantrag als Orientierungshilfe ausdrücklich vorgesehen. 33 Peter Loewenberg: The Psychohistorical Origins of the Nazi Youth Cohort, in: The American Historical Review 76 (1971) 1457–1502, zeigt – auch wenn sich seine Thesen empirisch nur teilweise bestätigt haben –, dass die Weltkriegserfahrungen und deren Verarbeitung während der Weimarer Republik eine wichtige Rolle für den Erfolg der Partei spielten und dass sich die Nazis den Generationenkonflikt zunutze machten. Zwei zentrale Losungen lauteten: »Nationalsozialismus ist organisierter Jugendwille« und »Macht Platz, ihr Alten!« (1469). – Im übrigen wäre es notwendig, einmal vergleichend den Grad der Militarisierung oder »Bellifizierung« einer Gesellschaft zu untersuchen, weder Deutschland zwischen 1890 und 1945 noch die Sowjetunion sind Einzelfälle. Man denke an die Heroisierung und Ästhetisierung des Krieges in der Epoche der Französischen Revolution und der deutschen »Befreiungskriege«, die nicht zuletzt von Dichtern, Malern, Bildhauern, Philosophen und anderen Geistesgrößen vorangetrieben wurden. Vgl. Johannes Kunisch / Herfried Münkler (Hg.): Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts, Berlin 1999.

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»wilde Cliquen« und verwahrloste Kinder, die das Strassenbild vieler Städte bestimmten, entwickelten eine eigene Subkultur, fielen – als extreme Erscheinungen – teilweise aber auch durch Plünderungen und Straßenkämpfe auf. Politische Gruppierungen, namentlich Kommunisten und Nationalsozialisten, benutzten ihre Jugendorganisationen auch für gewalttätige Auseinandersetzungen. Andererseits ist hier wiederum zu beachten, dass es sich häufig um Verhaltensweisen im Rahmen traditioneller Jugendkulturen handelte. Jugendliche erprobten etwa in den Banden und Cliquen ihren Mut, ihre Kraft (auch ihre »Männlichkeit») und den Grad ihrer Verwegenheit, die Erwachsenen herauszufordern.34 Ebenso ist dies zu berücksichtigen, wenn jugendliches Verhalten im »Dritten Reich« in den Blick kommt. Darüber hinaus kann hier nachvollzogen werden, wie Jugendliche gezielt zu Gewalttätern »gemacht« wurden.35 34 Vgl. Rolf Lindner: Bandenwesen und Klubwesen im wilhelminischen Reich und in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur historischen Kulturanalyse, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1994) 352–375; Detlev J. K. Peukert: Jugend zwischen Krieg und Krise. Lebenswelten von Arbeiterjungen in der Weimarer Republik, Köln 1987; Jürgen Reulecke: Jugendprotest – ein Kennzeichen des 20. Jahrhunderts?, in: Dieter Dowe (Hg.): Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich, Bonn 1986, 8–19; ders.: Jugend und »junge Generation« in der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit, in: Dieter Langewiesche / HeinzElmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, 86–110; Krabbe; Alfons Kenkmann: Wilde Jugend. Lebenswelt großstädtischer Jugendlicher zwischen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und Währungsreform, Essen 1996. Überblicke geben Jan Fischer: Jugend und Gewalt in der Weimarer Republik. Unveröffentl. Seminararbeit, Basel 1997; Matthias Jösch: Militanz und politisch motivierte Gewalt unter Jugendlichen in der Weimarer Republik. Unveröffentl. Seminararbeit, Basel 1997; ders.: Der »Kampf um die Strasse»: Gewalt und Radikalismus der SA in der Weimarer Republik. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 1998; Undine Loose: Jugendverwahrlosung. Die Sorge um Bewahrung und Erziehung in der Weimarer Republik. Unveröffentl. Seminararbeit, Basel 1997; wenig ergiebig: Volker Brand: Jugendkulturen und jugendliches Protestpotential. Sozialgeschichtliche Untersuchung des Jugendprotestes von der Jugendbewegung zu Beginn des Jahrhunderts bis zu den Jugendkulturen der gegenwärtigen Risikogesellschaft, Frankfurt a. M. usw. 1993. 35 Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner. Neuausgabe Köln 1999; Ulrike Jureit: Erziehen, Strafen, Vernichten. Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht im Nationalsozialismus, Münster/New York 1995, vgl. auch die Beiträge von Peter Dudek, Jürgen Schiedeck, Martin Stahlmann und Dagmar Reese in: Hans-Uwe Otto / Heinz Sünker (Hg.): Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1991, 141–225, sowie Kenkmann. Zu den Mechanismen, wie Menschen zu Gewalttätern werden, Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993. Siehe dazu Rauchfleisch, 222–234. Vgl. auch Ulrich Mählert / Gerd-Rüdiger Stephan: Blaue Hemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend, Opladen 1996; Peter Skyba:

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Obwohl die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ohne weiteres mit denen Sowjetrusslands in den zwanziger und dreißiger Jahren verglichen werden können, geben neuere Forschungen zu Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland doch wichtige Aufschlüsse. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Probleme in den familiären Beziehungen einschließlich der Erfahrung innerfamiliärer Gewalt, Verlust an Zugehörigkeit, Integrationsschwierigkeiten bei Migranten, verhältnismäßig niedriger Bildungsstand sowie Misserfolge in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt – also vielfältige Individualisierungs- und Desintegrationselemente – oft zu einer niedergeschlagenen Grundstimmung, zu einem Gefühl der Bedeutungslosigkeit führen, das anfällig macht für autoritäre, stereotype Denkmuster, Schuldzuweisungen an »Fremde« und für gewalthafte Aktionen. Wer ausgegrenzt wird, neigt offenbar dazu, selbst wiederum andere gewaltsam auszugrenzen. Wer sich nicht ernstgenommen fühlt, kann gewalttätig werden, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vielfach ist Verunsicherung, ja Angst entstanden durch die verloren gegangene Bindekraft traditioneller Werte, (rechts-) radikale Ideologien bieten dafür eine Schein-Sicherheit und einfache Erklärungsmuster für die Probleme an. In der Gruppe wird – auch mittels Gewaltausübung – eine soziale Identität erreicht, die einen positiv empfundenen Zustand vermittelt, das Selbstwertgefühl erhöht. Möglich ist dabei die Identifikation mit einer starken Führer-Persönlichkeit.36 Offenbar Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949–1961, Köln/Wien/Weimar 1999. 36 Vgl. z. B. Otto / Merten; Götz Eisenberg / Reimer Gronemeyer: Jugend und Gewalt. Der neue Generationenkonflikt oder Der Zerfall der zivilen Gesellschaft, Reinbek 1993; Walther Specht: Jugendliche Gewalt – Hintergründe und Handlungsansätze, in: Thiersch u.  a., 182–194; verschiedene Aufsätze in: Brednich / Hartinger; Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Das Gewalt-Dilemma. Gesellschaftliche Reaktionen auf fremdenfeindliche Gewalt und Rechtsextremismus, Frankfurt a. M. 1994; Wilhelm Heitmeyer u. a.: Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, München 1995; Ralf Bohnsack u. a.: Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt in der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen, Opladen1995; Werner Lindner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn, Opladen1996; Ute Schad: Verbale Gewalt bei Jugendlichen. Ein Praxisforschungsprojekt über ausgrenzendes und abwertendes Verhalten gegenüber Minderheiten, Weinheim 1996; Hermann Tertilt: Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande, Frankfurt a. M. 1996; Helmut Willems: Jugendunruhen und Protestbewegungen. Eine Studie zur Dynamik innergesellschaftlicher Konflikte in vier europäischen Ländern, Opladen 1997; Nicklas / Ostermann / Büttner; Friderichs / Eichholz; Christian Pfeiffer / Peter Wetzels: Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland. Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26, 25.6.1999, 3–22; Roland Eckert / Christa Reis / Thomas A. Wetzstein u. a.: »Ich will halt anders sein wie die anderen!«. Abgrenzung, Gewalt und Kreativität bei Gruppen Jugendlicher, Opladen

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führt nicht zuletzt die Erfahrung von Gewalt zum Wunsch, selbst Gewalt auszuüben, stark und mächtig zu sein: Gewalt fasziniert.37 Über Gewalt kann man sich Ressourcen verschaffen und Macht ausüben.38 Vor allem Männer üben körperliche Gewalt aus. Junge Frauen neigen, ohne weniger aggressiv zu sein, zu einer Verarbeitung von Belastungen, die sich zunächst gegen sie selbst richtet und, wenn sie nach außen tritt, sich eher in verbaler und psychischer Gewalt ausdrückt. Hin und wieder delegieren sie die manifeste Gewaltausübung an Jungen. Wenn sie allerdings, so eine These, weibliche Rollen-Vorbilder – etwa der Mütter – als »unattraktiv« empfinden, weichen sie möglicherweise auf männliche Verhaltensmodelle aus und werden selbst in Banden aktiv. Ebenso sind sie ofenbar dann besonders anfällig für Gewalt, wenn die eigene Person minderbewertet wird oder gar eine Form von Selbsthass vorliegt.39 Bei den Erörterungen, wie auf die Herausforderung jugendlicher Gewalttätigkeit zu antworten sei, geht es immer wieder um die Bekämpfung der Ursachen, um Prävention und um Repression. Um die Diskussionen in Sowjet2000; Roland Roth / Dieter Rucht: Jugendkulturen, Politik und Protest. Vom Widerstand zum Kommerz? Opladen 2000. Nachdenkliche Überlegungen von Herbert Riehl-Heyse: Die Verrohung des Gemüts, in: Süddeutsche Zeitung, 12./13.8.2000. Nur am Rande sei vermerkt, dass es auch in Deutschland »Verwahrloste« gibt, so in Berlin schätzungsweise 3000 »Trebekinder«: Süddeutsche Zeitung, 18./19.5.1996. 37 So z. B. Mario Erdheim: Die Faszination von Gewalt. Identifikation mit dem Aggressor und Omnipotenzphantasien: Kriege und die sozialpsychologischen Aspekte menschlicher Aggression, in: Badische Zeitung, 29.1.2000, 22; ders.: Die Psychoanalyse und das Unbewußte in der Kultur. Aufsätze 1980–1987, Frankfurt a. M. 1988,191–214, bes. 199 ff. Auch: Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a. M. 1996; Allan Guggenbühl: Die unheimliche Faszination der Gewalt. Denkanstösse zum Umgang mit Aggression und Brutalität unter Kindern, Zürich 1993; Frauke Meyer-Gosau / Wolfgang Emmerich (Hg.): Gewalt. Faszination und Furcht. Jahrbuch für Literatur und Politik in Deutschland I, Leipzig 1994. Auf die Diskussion über Gewalt als anthropologische Konstante des Menschen oder über ihre jeweilige kulturelle Bedingtheit gehe ich hier nicht ein. 38 Vgl. Godenzi, 105–116. 39 Rose Griffel: (Warum) werden Kinder und Jugendliche immer häufiger delinquent? Einschätzungen – Erklärungszusammenhänge – richtungsweisende Impulse für die Prävention, in: ajs-informationen. Mitteilungsblatt der Aktion Jugendschutz 34 (1998) Nr. 1–2, 1–22, hier 12; Birgit Meyer: Mädchen und Rechtsextremismus. Männliche Dominanzkultur und weibliche Unterordnung, in: Otto / Merten, 211–218. Vgl. Godenzi, 112–113, zusammenfassend 394–397; Rauchfleisch, 20–23; Lothar Böhnisch: Ist Gewalt männlich?, in: Thiersch u. a., 103–113; Anne Claire Groffmann: Die Marginalisierung von Mädchen in kulturellen Prozessen am Beispiel rechtsorientierter Jugendgruppen, in: Christel KöhleHezinger / Martin Scharfe / Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Gechlecht in der Kultur. 31. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, Marburg 1997, München/Berlin 1999, 336–346, bes. 341–343.

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russland einordnen zu können, ist erneut ein Blick auf Deutschland sinnvoll.40 Gewarnt wird hier davor, das repressive Element zu stark in den Vordergrund zu stellen. Die Kriminalstatistik, die eine Zunahme von Jugendgewalt anzeige, müsse kritisch darauf geprüft werden, ob hier nicht eine veränderte Wahrnehmung sowie korrigierte quantitative wie qualitative statistische Kennziffern zugrunde lägen. Ein überwiegend repressives Vorgehen gegen Jugendliche erzeuge nur neue Kriminalität und diene dem Bestreben vieler Politiker und Vertreter der Staatsorgane, die Gesellschaft überhaupt zu disziplinieren. Jugendgewalt sei immer in Gefahr, für ein politisches Interesse instrumentalisiert zu werden.41 Zur Abschreckung müssten positive Motive und neue Interaktionsformen hinzutreten, um eine Abkehr von gewalthaftem Handeln dauerhaft zu stabilisieren.42 Kern der Bemühungen sollte sein, den jungen Menschen nicht Werte und Normen überzustülpen – damit ihre »Ich-Schwäche« nur zu überdecken und zu verfestigen –, sondern ihn oder sie als Person ernst zu nehmen und anzuerkennen.43 Begünstigt wird das Verhalten von Jugendlichen offenbar durch das in der Gesellschaft herrschende »Gewaltklima«. Deshalb sei bei der Ursachenforschung danach zu fragen, welche Gewaltformen als »normal« und »alltäglich« akzeptiert würden, an welche man gewöhnt sei, inwieweit staatliches Auftreten im Interesse der »Ordnung« kopiert oder auch durch indirekte Zeichen und Codes – etwa in der Politikersprache gegen »Fremde« oder in deren »Ideologie der Ungleichwertigkeit«, die »zwischen nützlichen und ausnützenden« Menschen unterscheidet – Gewalt gefördert werde. »Was als vermeintlich sinnlose Gewalt junger Männer erscheint, ist die schrille Antwort auf die Akzeptanz gesellschaftlicher und staatlicher Gewalt in einem von Gewalt gesättigten Klima. 40 Nur hinweisen möchte ich auf die Verhältnisse im gegenwärtigen Russland. Vgl. z.  B. Slepzow / Rewenko; Wolfgang Melzer u. a. (Hg.): Osteuropäische Jugend im Wandel. Ergebnisse vergleichender Jugendforschung in der Sowjetunion, Polen, Ungarn und der ehemaligen DDR, Weinheim 1991; Miriam Neubert: Im Wartesaal der Unbehausten. Die Bahnhofskinder von Moskau, in: Süddeutsche Zeitung, 10./11.12.1994; Suzanne Bontemp: Weggetreten. Das russische Arbeitslager Kolpino ist ein mieser Knast für Jugendliche und ein Ort für Gewalt und Korruption, in: Badische Zeitung, 16.1.1999, Magazin III; Tatjana Eggeling: »Wie leben?« Jugend in der Perestrojka. Eine Zeit gesellschaftlicher Neuorientierung in Leserbriefen, Hamburg/Berlin 1999. Einen Überblick gibt Lina Reznik: Die Kinderverwahrlosung in Russland – ein Problem von gestern bis heute. Unveröffentl. Seminararbeit, Basel 1997. 41 So Fritz Sack: Gewalttätige Jugend – Schlüssel zur Pathologie der Gesellschaft?, in: Gewalttätige Jugend – ein Mythos. Hg. vom Schweizerischen Nationalfonds, NFP 40, Bulletin Nr. 4, Bern 1999, 5–36; vgl. auch die folgenden Beiträge von Manuel Eisner und Edgar J. Forster. 42 Godenzi, 402–403. 43 Vgl. Heitmeyer u. a., Gewalt, 13 A. 1.

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Die Gewalt fällt nicht vom Himmel, sondern sie kommt mitten aus Staat und Gesellschaft.»44 Es zeigt sich: ein einheitliches gewalthaftes Handeln »der« Jugend ist wissenschaftlich nicht fassbar – weder gibt es eine homogene Jugendkultur noch fügt sie sich aus einer Vielfalt von Subkulturen zusammen. Auszugehen ist deshalb auch für unsere Fragestellung von jeweils einzelnen Jugendlichen in ihrer Auseinandersetzung mit den gegebenen Lebensbedingungen, Strukturen und Wertvorstellungen sowie ihrer Verarbeitung der dabei gemachten Erfahrungen und ihren Interaktionen45 – eben von deren Lebenswelten. Die Kategorie »Lebenswelt« wird als Schnittstelle von Individuum und Strukturen verstanden. In einer Wechselwirkung von materiellen und anderen Rahmenbedingungen, Natur und sozialem Umfeld bilden sich im Menschen Gefühle, Einstellungen, Wahrnehmungs- und Verarbeitungsweisen heraus, die seine Handlungen bestimmen. Über eine Rekonstruktion von jugendlichen Lebenswelten, die ihrerseits wiederum in einem vielfältigen Beziehungsnetz verbunden sind, können wir somit die Einwirkungen von Strukturen und Systemen, Prägungen und Erfahrungen erkennen, die schließlich auch das Verständnis von Gewalt formten. Dazu gehörten selbstverständlich die Diskurse46 über Gewalt und Jugend in der Kommunistischen Partei oder im Komsomol ebenso wie die Folgen von Weltkrieg und Bürgerkrieg, Not und Desintegration, die Sozialisation in der Familie und die Auseinandersetzungen mit der Umwelt, die überlieferten Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Einflüsse sonstiger traditioneller Vorstellungen, Bräuche und Rituale. Insofern können die

44 Walther, Gewalt, Zitat 38; ähnlich Wilhelm Heitmeyer: Gefährliche Selbsttäuschung. Rechts kommt nicht aus dem Nichts, in: Süddeutsche Zeitung, 30.8.2000 (von ihm stammt das Zitat von der »Ideologie der Ungleichwertigkeit«). Vgl. Godenzi, 99–105. Hier wären auch langfristige Trends zu beobachten, vgl. Peter Gay: Kult der Gewalt. Aggressionen im 19. Jahrhundert, München 1996. 45 Karl Lenz: Kulturformen von Jugendlichen: Von der Sub- und Jugendkultur zu Formen der Jugendbiographie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 27/28.6.1991, 11–19; ausführlich ders.: Alltagswelten von Jugendlichen. Eine empirische Studie über jugendliche Handlungstypen, Frankfurt a. M./New York 1986. Er unterscheidet zwischen familien-, maskulin-, hedonistisch- und subjekt-orientierten Handlungstypen (zusammengefasst: 411–434); gewaltbereit sind danach am ehesten die maskulin-orientierten. Diese Ergebnisse wären natürlich für andere Gesellschaften zu überprüfen. Vgl. zu seinem Projekt weiterhin ders.: Die vielen Gesichter der Jugend. Jugendliche Handlungstypen in biographischen Portraits, Frankfurt a. M./New York 1988. 46 Unter Diskursen werden Aussagen verstanden, die sich zu einer die Gesellschaft strukturierenden Redeweise formiert haben. Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, und weitere Schriften dieses Autors.

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verschiedenen Ebenen jugendlichen Handelns einschließlich der Rahmenbedingungen exemplarisch zusammengebracht werden.47 III.

Nach Esenins Tod erschütterte zwischen 1925 und 1928 eine Selbstmord-Welle gerade unter Jugendlichen die Sowjetunion – oder besser gesagt: die offiziellen Medien nahmen sich dieses Themas an, um auf Probleme der Gesellschaft aufmerksam zu machen und damit bestimmte Forderungen zu rechtfertigen. Esenin wurde vorgeworfen, sich zum Symbol des »Hooliganismus« gemacht und der Jugend ein schlechtes Beispiel gegeben zu haben.48 Lässt sich zunächst noch das Bestreben beobachten, nach den tatsächlichen Ursachen für den häufigen Freitod junger Menschen zu forschen, so trat zusehends die Absicht in den Vordergrund, den Anlass zur Sozialdisziplinierung49 von Jugendlichen zu nutzen, die sich nicht wie gewünscht verhielten. Deutlich wurde das etwa in einer Debatte 1928 anlässlich eines bekannt gewordenen Briefes des Moskauer Studenten Andrej Jurov. Er fand seine Arbeit nutzlos, sah keine Perspektiven und wollte so nicht weiterleben. In Stellungnah47 Vgl. hier nur Olivia Hochstrasser: Ein Haus und seine Menschen 1549–1989. Ein Versuch zum Verhältnis von Mikroforschung und Sozialgeschichte, Tübingen 1993; Heiko Haumann / Martin Schaffner: Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften, in: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel 70 (1994) 18–21; Alf Lüdtke: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1998, 557–578. Als Konzept für die Jugendforschung vgl. Lenz, Alltagswelten, 93–125. Auch: Eckert / Reis / Wetzstein, 24–31. Zur Verbindung von strukturgeschichtlichen, akteursbezogenen und situativen Faktoren vgl. Wolfgang Höpken: »Blockierte Zivilisierung»? Staatsbildung, Modernisierung und ethnische Gewalt auf dem Balkan (19./20. Jahrhundert), in: Leviathan 25 (1997) 518–538, hier 522–523. 48 Vgl. Sergej Jesenin: Gesammelte Werke in 3 Bänden. Hg. von L. Kossuth, Berlin 1995; Fritz Mierau: Sergej Jessenin, Leipzig 1991. Zur Attraktivität des »Hooliganismus« für den Futurismus vor dem 1. Weltkrieg siehe Joan Neuberger: Culture Besieged: Hooliganism and Futurism, in: Stephen P. Frank / Mark D. Steinberg (Hg.): Cultures in Flux. LowerClass Values, Practices, and Resistance in Late Imperial Russia, Princeton, N. J. 1994, 185–203. 49 Der Begriff wurde für die Politik absolutistischer Fürsten geprägt, Einzelne und gesellschaftliche Gruppen in einen Untertanenverband einzufügen und einen einheitlich regierten Territorialstaat durchzusetzen. Dazu gehörte wesentlich die Bekämpfung der Kriminalität und eine verstärkte Kontrolle der Jugend. Vgl. Jens Flemming: Sozialdisziplinierung, in: Asendorf u. a., Geschichte, 573–574; Kaspar v. Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000, 71.

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men zu dem Brief wurden vielfach Parallelen zum »Esenismus« gezogen. Eine derart individualistische Haltung weise auf ein Versagen der Verantwortlichen in den Hochschulen wie in der Politik hin.50 Zwar stand hier noch die politische Aufklärung als Mittel gegen unerwünschtes Verhalten im Vordergrund, doch der Disziplinierungswunsch und auch die Instrumentalisierung der Selbsttötungen zu politischen Zwecken sind unübersehbar. Der Schritt zu Kontrolle und Repression war nicht weit.51 Besonders aufgeschreckt reagierte man darüber, dass auch Mädchen den Weg des Freitodes wählten. Im ersten Halbjahr 1928 gab es in der Komsomolorganisation von Nikolaevsk vier Selbsttötungen und drei Versuche. Zwar waren die »Fälle« nicht einheitlich, als Grundmotiv wurde aber doch ein »unkameradschaftliches« Verhalten von jungen Männern den Mädchen gegenüber angesehen, deren Betrachtung als reine Liebesobjekte, insgesamt männliche Verantwortungslosigkeit bei leichtfertig geschlossenen Sexualkontakten. Komsomolzen hielten die Selbstmorde wohl eher für eine emotionale Verwirrung der Mädchen.52 Eine frühere Untersuchung hatte gezeigt, dass sich vor allem junge Frauen das Leben nahmen, die allein leben mussten, weil sich ihr Partner von ihnen getrennt hatte oder gestorben war. Weitere wichtige Gründe waren Arbeitslosigkeit oder Schwierigkeiten von Mädchen, die vom Dorf in die Stadt gekommen waren, sich hier zurecht zu finden.53 Doch nicht nur die Selbsttötungen von Jugendlichen bestimmten die »Jugend-Debatte« in den zwanziger Jahren. Ein weiterer Aspekt betraf die Kinds50 Vgl. Haumann, Geschichte Russlands, 533–534. 51 Auf diese Thematik gehen zahlreiche Beiträge in diesem Band ein. Peter Konecny weist auf eine Untersuchung mit ähnlicher Funktion über den Selbstmord von Studenten 1935 hin: Library Hooligans and Others: Law, Order, and Student Culture in Leningrad, 1924–38, in: Journal of Social History 30 (1996) 97–128, hier 115. Zur Selbstmord-Diskussion im zaristischen Russland, die eine Krise des Selbstverständnisses und einen Protest gegen die Verhältnisse reflektierte, Susan K. Morrissey: Suicide and Civilization in Late Imperial Russia, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43 (1995) 201–217 (Anlass war der Freitod von drei jüdischen Studentinnen 1910). 52 D. Zaslavskij: Otryzki starogo byta, in: Kommunistka (1929) Nr. 16, 17–20. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Carmen Scheide, die auf jene Vorgänge näher eingeht: »Einst war ich Weib und kochte Suppe, jetzt bin ich bei der Frauengruppe.« Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Unveröffentl. Diss., Basel 1999, Ms. für die Druckfassung unter dem Titel: Kinder, Küche, Kommunismus, Teil I, 116 [erschienen Zürich 2002]. Nach Untersuchungen zu Moskau wurde in den 20er Jahren ca. ein Drittel der Selbsttötungen von Mädchen oder Frauen unternommen (Hinweis von Monica Wellmann). 53 Ja. Lejbovič: Ženskie samoubijstva, in: Rabočij sud (1926) Nr. 8, 552–560, Nr. 9, 623– 632 (Hinweis von Carmen Scheide). Eine vergleichende Untersuchung der Selbsttötung wäre lohnend, s. etwa Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit, Göttingen 1999.

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morde. Sie wurden vorwiegend von unverheirateten Frauen unter 25 Jahren begangen, die entweder im Dorf lebten oder vom Land in die Stadt gekommen waren und hier als Hausangestellte arbeiteten. Allein in Moskau wurden zwischen 1925 und 1927 jährlich rund 60 Frauen als Kindsmörderinnen verurteilt. Die Furcht, den Arbeitsplatz zu verlieren oder im Dorf als unmoralisch angesehen zu werden, bestimmte ihr Handeln.54 Aufsehen erregten mehrfach Fälle von brutalen Vergewaltigungen. Die Diskussion erhielt dabei rasch auch einen politischen Charakter, wenn sich Komsomol-Mitglieder an Massenvergewaltigungen beteiligt hatten. Der zuständigen Parteiorganisation konnte leicht unzureichende politische Arbeit vorgeworfen werden. Während der Diskurs über Vergewaltigungen recht gut erforscht ist55, verdienen die Schicksale der Betroffenen, aber auch die Ursachen der Gewaltakte bei den Tätern noch gründliche Studien. Was geschah mit den vergewaltigten Frauen? Welche Bedeutung hatten die Versuche nach der Oktoberrevolution, die Beziehungen zwischen Mann und Frau auf eine neue Grundlage zu stellen? Wirkte sich die Heroisierung des Männlichen im Gefolge des Bürgerkrieges aus? Die Verhörprotokolle vermitteln oft den Eindruck, als handele es sich bei den Tätern überwiegend um orientierungs- und bindungslose Jugendliche.56 Noch genauer zu untersuchen sind gewalthafte Beziehungen am Arbeitsplatz. Körperstrafen durch Meister gegenüber Arbeitern und Arbeiterinnen scheinen häufig gewesen zu sein. Aber auch untereinander wurden Konflikte um den Arbeitsplatz oder persönliche Streitigkeiten vielfach gewaltsam ausgetragen, namentlich zwischen jungen und älteren Beschäftigten. Darüber hinaus kamen sehr oft sexuelle Übergriffe – verbale wie körperliche – gegenüber Mädchen und Frauen vor.57 Lokale Quellen berichten von Feindseligkeiten jugendlicher 54 B. S. Man’kovskij: Detoubijstvo, in: Ubijstva i ubijcy, M. 1928, 249–272; Louise Shelley: Female Criminality in the 1920s: A Consequence of Inadvertent and Deliberate Change, in: Russian History 9 (1982) 265–284, hier 272–273; Scheide, Ms. Teil II, 70–72. 55 Vor allem Eric Naiman: The Case of Chubarov Alley: Collective Rape, Utopian Desire and the Mentality of NEP, in: Russian History/Histoire Russe 17 (1990) 1–30; vgl. ders.: Sex in Public. The Incarnation of Early Soviet Ideology, Princeton, N.Y. 1997, 250–288; Natal’ja Borisovna Lebina: Povsednevnaja žizn’ sovetskogo goroda: normy i anomalii. 1920–1930 gody, SPb. 1999, 63–66. 56 In den Dörfern waren allerdings offenbar häufig gut integrierte junge Männer die Täter (Hinweis von Daniela Tschudi). Vgl. allgemein Godenzi, 100, 397; Irmtraud Götz v. Olenhusen: Sexualisierte Gewalt. Eine historische Spurensuche vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, in: Peter Burschel / Götz Distelrath / Sven Lembke (Hg.): Das Quälen des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, Köln/Weimar/Wien 2000, 217–236. 57 Scheide, Ms. Teil II, 85–86; Diane P. Koenker: Men against Women on the Shop Floor in Early Soviet Russia: Gender and Class in the Socialist Workplace, in: The American Historical Review 100 (1995) 1438–1464.

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Arbeiter gegen Meister und Spezialisten, die sie für Rationalisierungsmaßnahmen, Entlassungen oder schlechte Lohneinstufungen verantwortlich machten. Das aggressive Verhalten reichte dabei von Widersetzlichkeiten und NichtBefolgungen der Anweisungen über Zerstörung von Betriebseigentum bis hin zu Rügebräuchen – einen Sack überstülpen und auf der Karre hinausfahren – oder gar körperlicher Gewalt gegenüber Vorgesetzten.58 Ein Konfliktfeld bildeten die Arbeiterklubs. Die älteren Arbeiter fühlten sich hier oft unwohl, weil Jugendliche respektlos den Ton angaben und lautstark ihren Interessen nachgingen. Klagen über Sachbeschädigungen und Schlägereien, die »Hooligans« zugeschrieben wurden, häuften sich Mitte der zwanziger Jahre. Bei Nachforschungen und »Schaugerichten« stellte sich allerdings oft heraus, dass nicht unbedingt jugendliche Banden randaliert hatten, sondern betrunkene erwachsene Partei- und Gewerkschaftsmitglieder. Auf der anderen Seite gab es zahlreiche Jugendliche, die wegen Ruhestörung, Erregung öffentlichen Ärgernisses oder Schlägereien – also chuliganstvo, »Hooliganismus« – verhaftet wurden und die ihre Vergehen in hohem Maße in alkoholisiertem Zustand ausgeführt hatten.59 Chuliganstvo war ohnehin das zentrale Stichwort der »Jugend-Debatte« in den zwanziger Jahren.60 In der Vorkriegszeit hatten Erscheinungsformen des »Hooliganismus« – etwa Verspottung und Einschüchterung von Passanten – symbolisch den Gegensatz bestimmter Gruppen gegen die damalige Obrigkeit ausgedrückt. Diese wiederum war insofern in die Offensive gegangen, als sie jene Verhaltensweisen als Zeichen für den sozialen und kulturellen Verfall angeprangert und damit versucht hatte, die Unterschichten zu disziplinieren.61 Die Partei- und Sowjetführung setzte mit ihrer Kampagne seit 1924/25 dieses 58 Diese Zusammenhänge werden zwei Dissertationen in Kürze detailliert darstellen: Thomas Held: Sozial- und Alltagsgeschichte Leningrader Industriearbeiter. Zum Wandel proletarischer Lebenswelten in der frühen Sowjetzeit, 1921–1932 [inzwischen Internet-Publikation]; Monica Wellmann: Jugendliche Lebenswelten im Moskau der zwanziger Jahre: Zwischen Militanz und Disziplinierung [inzwischen: Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplinierung. Jugendliche Lebenswelten in Moskau 1920–1930. Zürich 2005]. Über solche Bräuche, die an sich wegen Störung der Arbeitsabläufe nicht gern gesehen wurden, scheinen gegen Ende der 20er Jahre Jugendliche gezielt gegen »bürgerliche Spezialisten« mobilisiert worden zu sein. 59 Gabriele Gorzka: Arbeiterkultur in der Sowjetunion. Industriearbeiter-Klubs 1917–1929, Berlin 1990; Held. 60 Das wird in mehreren Beiträgen dieses Bandes thematisiert. 61 Joan Neuberger: Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900–1914, Berkeley usw. 1993; Neil B. Weissman: Rural Crime in Tsarist Russia: The Question of Hooliganism, 1905–1914, in: Slavic Review 37 (1978) 228–240; Stephen P. Frank: »Simple Folk, Savage Customs?« Youth, Sociability, and the Dynamics of Culture in Rural Russia, 1856–1914, in: Journal of Social History 25 (1992) 711–736.

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Schreckgespenst zu ähnlichen Zwecken ein. Der unordentliche, sozial desorganisierte, unmoralische und sexuell unkontrollierte, streitsüchtige und gewaltsame »Hooligan« wurde zum Feind der Gesellschaft stilisiert. Die Tendenz, anstatt nach Ursachen für soziale Probleme zu suchen oder entwicklungspsychologische Ansätze zu erörtern, die Jugend zu disziplinieren und zugleich gegnerische Gruppierungen in der Partei zu schwächen, verallgemeinerte sich.62 Einige Parteiführer erkannten selbst den konstruierten Charakter des Begriffszusammenhangs und machten sich darüber lustig. So erklärte der Vorsitzende des Allsowjetischen Gewerkschaftsverbandes, Michail Pavlovič Tomskij (1880– 1936), 1926:«Der Hooliganismus überflutet die Arbeiterklasse«. Jedes auffällige Benehmen, jeder Streich, jedes unliebsame Verhalten, sei es noch so harmlos, werde nun so bezeichnet, damit »aus einer Mücke ein Elefant« gemacht. Er führte dies auf eine veränderte Wahrnehmung zurück und warnte davor, Jugendliche dadurch zu kriminalisieren.63 Nach Untersuchungen zum Leningrader Gouvernement zwischen 1923 und 1926 fielen der geringe Bildungsstand, das Desinteresse an Politik – dies mag bei den Befragungen eine Schutzbehauptung gewesen sein, um keiner politisch motivierten Tat verdächtigt zu werden – sowie die hohe Zahl Alleinstehender auf. Dies dürfte auf die Form der Zuwanderung in dieses Gebiet zurückzuführen sein, könnte aber auch auf den Einfluss fehlender Bindungen hinweisen. Die meisten Delikte, die überwiegend von Einzelpersonen begangen wurden, betrafen Übergriffe gegen Passanten – Anrempeln oder Belästigungen und ähnliches –, öffentliche Ruhestörung mit Trunkenheit, Beleidigungen und Widerstand gegen die Miliz. In steigendem Maße war Alkohol im Spiel. Von einem Handeln organisierter, zielgerichtet vorgehender Gruppen konnte höchstens am Rande die Rede sein. Andererseits lässt sich das Verhalten der »Hooligans« durchaus als Teil einer Entfremdung gegenüber den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen interpretieren.64 62 Vgl. Naiman, The Case of Chubarov Alley, 6. Zur Disziplinierung der Studenten durch den Vorwurf des »Hooliganismus»: Konecny. Zum Zusammenhang von antisemitischen Einstellungen unter Jugendlichen und Kampf gegen den »Trotzkismus« vgl. Lebina, Povsednevnaja žizn’, 60–61. Vera Spiertz wird in ihrer Dissertation den Antisemitismus in der Roten Armee behandeln (Entwürfe für eine bellifzierte Gesellschaft und Versuche ihrer Umsetzung in der Roten Armee, 1918–1932). 63 M. P. Tomskij: Bor’ba s chuliganstvom i klubnaja rabota, in: Chuliganstvo i prestuplenie. Sbornik statej, L. 1927, 3–9, hier 3–5. In weiteren Beiträgen dieses Bandes finden sich ähnliche Argumentationen. Vgl. Kakova že naša molodež’? Sbornik statej pod red. S. I. Guseva, M./L. 1927. 64 Chuliganstvo v cifrach. Po dannym obsledovanija Kriminologičeskogo Kabineta Leningradskogo Gubernskogo suda, in: Chuliganstvo i prestuplenie, 131–146, sowie weitere

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Die Spitze dieses Phänomens waren die Jugendcliquen, die sich eine feste Struktur gaben, eine eigene Ideologie und kulturelle Praxis pflegten, regelmäßig auch gewaltsam Passanten angriffen, Arbeiterklubs sprengten, Klubleiter und andere Funktionäre verprügelten. Hin und wieder half nur der Einsatz von Militäreinheiten, derartige Banden zu zerschlagen; manchenorts bildeten sich Selbstschutzkräfte. Diese Cliquen waren in der Straße oder im Quartier verankert und lieferten sich Schlachten mit rivalisierenden Gangs, maßen sich manchmal aber auch in friedlichen Fußballspielen. Sie trugen einheitliche Kleidung, trafen sich in ihren Stammkneipen, sangen Lieder zur Gitarre, suchten Vorbilder, in denen sich in romantisierender Weise ein Streben nach Unabhängigkeit ausdrückte. Offensichtlich spielten Männlichkeitsrituale eine wichtige Rolle. Zu ihnen zählte eben auch Gewaltsamkeit im Auftreten, die sich oft symbolisch – nämlich verbal in Obszönitäten und Beleidigungen – äußerte.65 So gefährlich diese Banden gewesen sein mögen oder den Politikern als bedrohliches Zeichen galten – das Straßenbild wurde stärker durch »verwahrloste« Kinder und Jugendliche oder Bettler bestimmt, die sich anscheinend oft sehr aggressiv verhielten.66 Nachdem obdachlose und herumstreunende Kinder und Jugendliche bereits in zaristischer Zeit zu einem Massenproblem geworden waren, wurden sie durch Welt- und Bürgerkrieg sowie durch die Hungersnot von 1921/22 zu einer Millionenerscheinung. In großen Gruppen und Banden mit teilweise eigenständigen kulturellen Formen zogen sie durch Russland und versuchten zu überleben. Diebstahl, Mord, Prostitution waren dabei gang und gäbe.67 Arbeiten, die Thomas Held in seiner Dissertation auswertet. Beispiele für Unzufriedenheit mit der Partei bringt Konecny, z. B. 114. 65 Chuliganstvo v cifrach, 134–140; L. G. OrŠanskij: Chuligan. (Psichologičeskij očerk.), in: Chuliganstvo i prestuplenie, 55–82, hier bes. 58–60, 76–77. Zum Problem jugendlicher Subkultur – auch als Gegenkultur – vgl. Leuenberger, 29–32; John Clarke u. a.: Jugendkultur als Widerstand. Milieu, Rituale, Provokationen, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1981. Mädchen scheinen in jenen Cliquen überwiegend nicht aktiv gewesen zu sein; dies bedarf aber noch einer genaueren Untersuchung. 66 Vgl. Joseph Roth: Reise nach Russland. Feuilletons, Reportagen, Tagebuchnotizen 1919– 1930. Hg. von Klaus Westermann, Köln 1995, z. B. 151, 264–265 («ärger […] als die Chuligane»); Roth bereiste 1926 Russland. Dass sich auch nicht-obdach- und -elternlose Jugendliche den »Verwahrlosten»-Banden bewusst anschlossen, greift Leonid Dobycin (1894–1936) in seinem Roman »Im Gouvernement S. Surkas Verwandtschaft« auf (aus dem Nachlass russisch 1993, ins Deutsche übersetzt von Peter Urban, Berlin 1996). 67 Siegfried Weitz: Verwahrlosung, Delinquenz und Resozialisierung Minderjähriger in der Sowjetunion. Zur Geschichte eines sozialpädagogischen Problems, dargestellt am Beispiel der Russischen Sowjetrepublik, 1917–1935, Marburg1978; Alan M. Ball: And Now My Soul Is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930, Berkeley usw. 1987; René Bosewitz: Waifdom in the Soviet Union. Features of the Sub-culture and Re-educa-

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In den Debatten über unerwünschte Verhaltensweisen von Jugendlichen betonte etwa der Volkskommissar für das Bildungswesen, Anatolij Vasil’evič Lunačarskij (1875–1933), den Zusammenhang zwischen aggressiver Kriminalität und Selbstmord bei Jugendlichen: Im einen Fall richte sich die Destruktivität nach außen, im anderen nach innen. Ursachen seien Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit, Schwierigkeiten der materiellen Lage und Frustration, als Katalysator wirke vielfach der Alkohol.68 Wenn nun mehr und mehr, auch als Ausdruck der Hilflosigkeit, das Bestreben, zu kontrollieren und zu unterdrücken, in den Vordergrund trat, lag das nicht zuletzt daran, dass die Zielvorstellung vom »Neuen Menschen« im Kern herausgefordert war.69 Als Vorbild galt der allseitig gebildete Mensch, der seine Identität in der Arbeit und im gesellschaftlichen Engagement fand. Die meisten dieser Zukunftsentwürfe waren eindeutig männlich geprägt und bauten auf einem traditionellen, heldischen Typus auf. Immerhin formte sich das Gewaltsam-Kriegerische, das während des Bürgerkrieges dominierte, in den zwanziger Jahren zumindest teilweise zur Forderung nach einer lebensfrohen, aktiv-kämpferischen, disziplinierten, verantwortungsbewussten, vom Streben nach Bildung und beruflicher Qualifikation tion, Frankfurt a. M. usw. 1988; Dorena Caroli: Les enfants abandonnés devant les tribunaux dans la Russie pré-révolutionnaire 1864–1917, in: Cahiers du Monde russe 38 (1997) 367–386; dies.: Les mineurs devant le tribunal tsariste, in: Dietrich Beyrau / Igor’ Cicurov / Michael Stolleis (Hg.): Reformen im Russland des 19. und 20. Jahrhunderts. Westliche Modelle und russische Erfahrungen, Frankfurt a. M. 1996, 261–279; dies.: Enfreindre la loi au temps du bolchevisme (1918–1924): le cas d’un enfant abandonné, in: Rechtshistorisches Journal 14 (1995) 444–458; dies.: L’assistance sociale à la délinquance juvénile dans la Russie soviétique des années 20, in: Cahiers du Monde russe 100 (1999) 385–414. – »Verwahrlosung« war ein gängiger zeitgenössischer Begriff in der Jugendfürsorge, Pädagogik, Psychiatrie und Psychoanalyse. Er bezog sich auf Menschen, die jeglicher Obhut entbehrten und – mit schwerwiegenden psychischen Folgen – in keiner Weise mehr den gesellschaftlichen Verhaltensnormen entsprachen. Nicht im Blick sind bei einem derartigen Verständnis die eigenständigen kulturellen Formen »verwahrloster« Jugendlicher oder deren manchmal bewusste Entscheidung, abseits überlieferter Wertvorstellungen das Leben zu gestalten. – Deren Praktiken sind einmal vergleichend und in größerem Zusammenhang unter den Kategorien »Überlebenskultur« und »culture of poverty« zu untersuchen. Vgl. z. B. Oscar Lewis: A Study of Slum Culture. Backgrounds for La Vida, New York 1968. 68 A. V. Lunačarskij: O byte, M./L. 1927, 47. Vgl. M. N. Gernet: Prestupnost’ i samoubijstva vo vremja vojny i posle nee, M. 1927 (zu Gernet vgl. den Beitrag von Vera Spiertz in diesem Band). Dieser Zusammenhang, der aus den Spannungen und Selbstwertkonflikten der Adoleszenzphase herrühre, wird auch aus psychoanalytischer Sicht gesehen, vgl. Erdheim, Psychoanalyse, 203–214. 69 Dazu Stefan Plaggenborg: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln/Weimar/Wien 1996; Scheide, Ms., hier bes. Kap. 3.

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gekennzeichneten Haltung um.70 Das bolschewistische Menschenbild beinhaltete also keineswegs durchgängig Gewalt und Gewaltverherrlichung. Eine besondere weibliche Form des »Neuen Menschen« fand nur selten Berücksichtigung. Charakteristisch war Trockijs Argumentation, der Arbeiterin und Arbeiter grundsätzlich gleichstellte und lediglich aus pragmatischen Gründen spezifische Erleichterungen für Frauen auf ihrem Weg verlangte, etwa die Entlastung von Haushalt und Kinderbetreuung.71 Die ideale junge Frau, die in der Regel schlechtere Ausgangsbedingungen habe und deshalb lernen müsse, wies dadurch stark vermännlichte Züge auf, obwohl gleichzeitig traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen auf sie übertragen wurden. Dieser Widerspruch war für diejenigen, die sich an den Vorgaben der Partei orientieren wollten, schwierig zu ertragen. Die Diskussion innerhalb der kommunistischen Frauenbewegung und namentlich in den ženotdely, den Frauenabteilungen der Partei, half ihnen nur bedingt weiter. Auf der einen Seite wirkte Aleksandra Michailovna Kollontaj (1872–1952) bahnbrechend. Für sie sollte die »Neue Frau« »innerlich selbständig, unabhängig und frei« sein.72 Ihren Partner suche sie aktiv in »erotischer Kameradschaft« nach der Wahl der »freien Liebe«.73 Andere Frauenpolitikerinnen wollten »Liebe« als Teil der alten Gesellschaft, damit auch als Teil der Unterdrückung und Versklavung der Frau, überhaupt abschaffen. Mehrheitlich fand jedoch das Bild des asketischen und – noch mehr – des kontrollierten, sexuell disziplinierten Menschen Anklang.74 Im Grunde wurden mit diesen Vorstellungen, wenngleich unter neuen Akzentsetzungen, herkömmliche Rollenzuweisungen fortgeführt. Als gegen Ende der zwanziger Jahre Frauenvertreterinnen versuchten, die »Rückständigkeit« der Männer aufzubrechen und an der »Revolutionierung der Lebensweise« – des byt – aus den ersten Jahren nach 1917 anzuknüpfen, hatten sie keine Chance mehr. Entsprechend setzte sich als positives Identifikationsangebot das Bild der hygienisch sauberen Frau, Mutter und »Kampfgefährtin des Mannes« durch.75 70 Vgl. Nikolaj Bucharin: Za uporjadočenie byta molodeži, in: Byt i molodež’, M. 1926, 6–9, hier 8–9. Auch in anderen Beiträgen dieses Bandes wird das geschilderte Bild deutlich. 71 Leo Trotzki: Fragen des Alltagslebens, o. O. 1924, 32. 72 A. M. Kollontaj: Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Berlin 1920, 46. 73 Kollontaj, Neue Moral, 50, 61; vgl. Scheide, Ms. Teil I,106, 126. 74 Die Debatte über Asketismus oder »freie Liebe« spiegelt sich z. B. in mehreren Beiträgen in: Byt i molodež’. Vgl. auch Lynn Mally: Performing the New Women: The Komsomolka as Actress and Image in Soviet Youth Theater, in: Journal of Social History 30 (1996) 79–95; Eric Naiman: Revolutionary Anorexia (NEP as Female Complaint), in: Slavic and East European Journal 37 (1993) 305–325. Siehe den Beitrag von Corinna Kuhr-Korolev in diesem Band. 75 In diesem Abschnitt folge ich im Wesentlichen Carmen Scheides detaillierten Ausführungen. Vgl. zu den Zusammenhängen Almut Bonhage: Mutterschaft in der Zeit der Neuen

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Die Verwirrung für Jugendliche, woran sie sich orientieren sollten, wurde durch die Lektüre populärer Romane und Theaterstücke oder durch gängige Filme nicht aufgehoben.76 Nebeneinander standen hier differenzierte, einfühlsame Beschreibungen jugendlichen Lebens, literarisch-problematisierende Verarbeitungen ideologischer Vorstellungen, heroisierende Darstellungen mit Zwischentönen und schematisch-einlinige Musterbilder des erwünschten »Neuen Menschen«. Bis Ende der zwanziger Jahre scheint immerhin Offenheit in der Skizzierung des Jugendbildes möglich gewesen zu sein. Die Jugendlichen konnten sich unter diesem Angebot ein eigenes Urteil bilden, dürften aber teilweise auf die Widersprüchlichkeit verunsichert reagiert haben.77 Ökonomischen Politik. Arbeiterfamilien in Moskau im Spiegel einer soziologischen Untersuchung. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 1997; Bianka Pietrow-Ennker: Rußlands »neue Menschen«. Die Entwicklung der Frauenbewegung von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution, Frankfurt a. M./New York 1999; Atina Grossmann: Die »Neue Frau« und die Rationalisierung der Sexualität in der Weimarer Republik, in: Ann Snitow / Christine Stansell / Sharon Thompson (Hg.): Die Politik des Begehrens. Sexualität, Pornographie und neuer Puritanismus in den USA, Berlin 1985, 38–62. 76 Auf Filme gehe ich hier nicht ein. Die Widersprüchlichkeit, wie ich sie andeuten möchte, kam etwa anlässlich der Retrospektive »Eine andere Geschichte des sowjetischen Films 1926–1968« beim Filmfestival Locarno 2000 gut heraus (Katalog: Lignes d’ombre. Une autre histoire du cinéma soviétique [1926–1968]). Als Überblick: Christine Engel (Hg.): Geschichte des sowjetischen und russischen Films, Stuttgart/Weimar 1999, 14–67. Vgl. Mally, Performing; Anne E. Gorsuch: Soviet youth and the politics of popular culture during NEP, in: Sociel History 17 (1992) 189–201. Auch die Propagandasprache war in den 1920er Jahren noch nicht kanonisiert: Daniel Weiss: Prolegomena zur Geschichte der verbalen Propaganda in der Sowjetunion, in: Slavistische Beiträge 332 (1995) 343–391, hier 346, 371–373. 77 Ich beziehe mich z. B. auf folgende Werke (zitiert in deutschen Übersetzungen, um zum Nachlesen anzuregen): Nikolai Ognew: Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew, Berlin 1967 (1926); G. Bjelych / L. Pantelejew: Schkid, die Republik der Strolche, Berlin 1929; Nikolai Bogdanow: Das erste Mädel, Berlin 1982 (1929); Alexandra Kollontai: Wege der Liebe. Drei Erzählungen, 5. Aufl. Berlin 1992 (1923); Sergej Tretjakow: Ich will ein Kind haben, in: Wolfgang Storch (Hg.): Stücke der zwanziger Jahre, Frankfurt a. M. 1977, 179– 217, vgl. 218–232 (1926); Nikolai Ostrowski: Wie der Stahl gehärtet wurde, 34. Aufl. Berlin 1975 (1934). Zur Tradition des »stählernen Körpers«, wenngleich mit anderen Zielsetzungen, vgl. Rolf Hellebust: Aleksei Gastev and the Metallization of the Revolutionary Body, in: Slavic Review 56 (1997) 500–518; Plaggenborg, Revolutionskultur, 62–108. Naiman, The Case of Chubarov Alley, 30, macht darauf aufmerksam, dass mit dem Namen des Helden in Ostrovskijs Roman, Pavel Korčagin, auf den Hauptverantwortlichen jener 1926 das Land erschütternden Massenvergewaltigung einer jungen Frau in Leningrad, den dann hingerichteten Pavel Kočergin, angespielt wird. Auch in einer der Varianten von Tret’jakovs Stück, die die zitierte Ausgabe nicht enthält (hingegen die schwerer zugängliche Ausgabe: Sergej Tretjakow: Brülle, China! Ich will ein Kind haben. Zwei Stücke, Berlin 1976, 113–117; vgl. die russische Fassung sowie Materialien in: Sovremennaja dramatur-

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Da offenbar, im Verständnis der Parteiführung, die politische Aufklärungsarbeit nicht die erhoffte Wirkung erzielte, verschoben sich die Akzente bei den Rechtsvorschriften im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, aber auch in der Pädagogik. Nach der Oktoberrevolution – oder besser: als sich das neue Regime zu etablieren begann – setzte eine Phase des Experimentierens ein, wie denn eine Rechtsordnung in der Phase des Übergangs zum Sozialismus und Kommunismus aussehen könne. Unverkennbar zeigt sich dabei zum Beispiel das Bestreben der Revolutionstribunale, nicht einfach – wie in der Zeit unmittelbar nach dem Umsturz – »revolutionäre Gewalt« zu legitimieren, wie sie auch von Jugendlichen angewendet wurde, die ihr Verhalten mit dem Nutzen für die bolschewistische Sache rechtfertigten.78 1918 wurde die Strafmündigkeit gegenüber der zaristischen Zeit von 10 auf 17 Jahre heraufgesetzt; 16jährige mussten sich vor Kommissionen für Jugendangelegenheiten verantworten, die zwar auch Strafen verhängen konnten, vor allem aber für erzieherische und fürsorgliche Maßnahmen sorgen sollten. Für Kinder sollte es keine Gerichtshöfe und Gefängnisse mehr geben, wie das Dekret vom 14. Januar 1918 proklamierte. Dahinter stand die Einsicht, dass Kinder- und Jugendkriminalität letztlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen verursacht wurde. Nicht das Interesse des Staates wurde in den Vordergrund gerückt, sondern das des Kindes und Jugendlichen.79 Dem entsprachen pädagogische Konzepte – etwa von Stanislav T. Šackij (1878–1934) oder Pavel Petrovič Blonskij (1884–1941) –, die Gewalt in der Schule ablehnten, Aufklärung vor Zwang setzten und den »Kult des Militärstaats« verurteilten. Der Bürgerkrieg entzog solchen Positionen einer Autonomisierung der Schule den Boden. Die staatlichen Eingriffe wurden immer stärker. Wenngleich der Zwiespalt zwischen einem zunehmend dogmatischen Weltbild und freien Unterrichtsmethoden in gija [1988], Nr. 2, 206–243, Hinweis von Almut Bonhage), ist die Massenvergewaltigung einer jungen Frau durch »Hooligans« Thema einer Szene (das Stück, das im übrigen wiederum Mejerchol’d inszenieren wollte, war derart umstritten, das es nie zur Aufführung gelangte). – Wenig ergiebig für die angesprochenen Zusammenhänge: Felicity Ann O’Dell: Socialisation through Children’s Literature. The Soviet Example, Cambridge usw. 1978. Vgl. Jürgen Rühle: Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus in der Epoche Lenins und Stalins, Frankfurt a. M. 1987, 109–117. 78 Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Urteil gegen den jungen Kommunisten Murin 1919, das Daniela Tschudi in diesem Band behandelt. Im übrigen ist die populäre Auffassung, Gewaltausübung sei jetzt legitim, keine Besonderheit Sowjetrusslands, sondern galt auch in anderen Umbruchzeiten, etwa der Französischen Revolution: Martin Dinges: Gewalt und Zivilisationsprozess, in: traverse (1995) 70–82, hier 77. 79 Peter H. Juviler: Contradictions of Revolution: Juvenile Crime and Rehabilitation, in: Abbott Gleason / Peter Kenez / Richard Stites (Hg.): Bolshevik Culture. Experiment and Order in the Russian Revolution, Bloomington, Ind. 1985, 261–278.

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den zwanziger Jahren unübersehbar wurde, waren Elemente der frühen Ansätze noch deutlich erkennbar. Die Enttäuschung, dass der »revolutionäre Idealismus« nicht hatte verwirklicht werden können, schlug allerdings mehr und mehr in die Überzeugung um, es seien doch Druck und Zwang notwendig, um die Kinder hin auf den »Neuen Menschen« zu entwickeln.80 Unter den Bedingungen der Neuen Ökonomischen Politik reichten die Mittel für Jugendschutz, Fürsorge und Rehabilitation immer weniger aus. Trotzdem blieb es zunächst dabei, den Jugendlichen zu helfen, sich in die Gesellschaft einzufügen und vielleicht sogar Träger des zukünftigen Sozialismus zu sein: Die Experimente mit Arbeitskommunen folgten diesem Ziel.81 Allmählich begann allerdings ein Umdenken, das nun auch Jugendstrafen in Betracht zog. Bereits im Strafgesetzbuch von 1922 war die Strafmündigkeit auf 16 Jahre gesenkt worden, und 14–16jährige konnten jetzt von den Kommissionen für minderjährige Straffällige unter bestimmten Voraussetzungen vor Gericht gestellt werden. Dies war gewiss eine Reaktion auf die rasch wachsende Zahl von »Verwahrlosten«, derer man nicht mehr Herr wurde. 1926 verschärfte man die Strafmöglichkeiten zur Bekämpfung des »Hooliganismus«. Schritt für Schritt gewann das repressive Element die Oberhand, bis unter Stalin 1935 die Strafmündigkeit auf 12 Jahre festgesetzt wurde und damit die auffälligen Jugendlichen endgültig in Straflagern verschwanden.82 Freiheitsstrafen wegen »Rowdytum« nahmen drastisch zu. Anhänger einer Rechtsordnung, die vorab auf Prävention abhob, galten jetzt als »Schädlinge« und »Sowjetfeinde«, sie wurden verhaftet und erschossen. Aron A. Sol’c hatte es noch 1930 gewagt, davor zu warnen, Kinder von »Kulaken« wegen ihrer Herkunft zu verfolgen und sie damit zu Feinden zu machen83, und erklärte noch 1937, man müsse die Fälle von chuliganstvo differenziert betrachten.84 Jetzt 80 Peter Lüthi: Die Idee der Arbeits-Schule auf dem Weg zur Verwirklichung im ersten Jahrzehnt der Russischen Revolution. Aus dem Drama des revolutionären Idealismus. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 1997, Zitate 40, 91. Vgl. Dorena Caroli: Il bambino collettivo, in: Ottavia Niccoli (Hg.): Infanzie. Funzioni di un gruppo liminale dal mondo classico all‘Eta moderna, Firenze 1993, 301–325. 81 In den Arbeitskommunen war zunächst nicht Makarenkos Pädagogik mit ihrem hohen Stellenwert der Disziplin und der Straffestsetzung durch die Jugendgruppe selbst vorherrschend, sondern eher Ansätze, die – wie diejenigen Šackijs – »vom Kinde aus« dachten. Vgl. Anm. 87. 82 Wendy Zeva Goldman: The »Withering Away« and the Resurrection of the Soviet Family, 1917–1936, Ann Arbor, Mich. 1992, 368. 83 Den Hinweis verdanke ich Monica Wellmann. 84 A. Sol’c: O chuliganstve, in: Socialističeskaja zakonnost’ (1937), Nr. 10, 62–63. Dabei war er in den 20er Jahren keineswegs ein Anhänger einer »weichen« Haltung gewesen: Lebina, Povsednevnaja žizn’, 61, 67.

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kam er in eine Irrenanstalt gemäß der Auffassung, wer sich gegen die Linie der Partei stelle, sei entweder ein Konterrevolutionär, dumm oder eben verrückt. Volksrichter, die die Kriminalisierung der Jugend nicht mitmachen wollten, wurden »gesäubert«.85 Zwar wurde der Zwang zu disziplinierter Anpassung mit erzieherischen Faktoren verbunden, die etwa die neuen Quartiers-Inspektoren (učastkovie inspektory) über Diskussionen, Versammlungen und persönliche Kontakte wahrnehmen sollten.86 Auch sprach man weiter von einer Erziehung der Jugendlichen in den Jugendarbeitskolonien, doch entweder stand das lediglich auf dem Papier oder lag auf der Linie einer autoritär-militaristisch-disziplinierten Erziehung in Auslegung der Theorien und praktischen Erfahrungen Anton Semenovič Makarenkos (1888–1939).87 IV.

In der Regel nähern wir uns den Gewaltakten Jugendlicher und ihren Ursachen über die Diskurse, also über zeitgenössische Statistiken und Untersuchungen sowie deren Erörterung, über Diskussionen in der Partei oder über die Aufnahme dieser Thematik in Literatur und Kunst. Selbstverständlich können wir aus diesen Diskursen indirekt viel über das Verhalten von Jugendlichen oder über deren Fühlen und Denken aussagen. Aber es bleibt doch der Blick »von oben«, der versucht, die gesellschaftlichen Konstruktionen zu entschlüsseln, zu de-konstruieren. Ausgangspunkt eines solchen Vorgehens ist das Gesellschaftssystem, ist die politische Macht. Wie reagiert die Partei- und Staatsführung auf das unerwünschte Handeln von Jugendlichen? Wie setzen bestimmte Gruppierungen ihre Deutung der Jugendkultur ein, um Gegner auszuschalten und ihre politischen Ziele zu erreichen? Nicht das Mädchen, das vergewaltigt wurde, 85 Zu diesen knappen Hinweisen verweise ich nur auf Wendy Z. Goldman: Women, the State and Revolution. Soviet Family Policy and Social Life, 1917–1936, Cambridge 1993 (zu Sol’c 1937: 340); Eugene Huskey: Russian Lawyers and the Soviet State. The Origins and Development of the Soviet Bar, 1917–1939, Princeton, N.J. 1986; Volker Rabe: Die Justiz, in: Gottfried Schramm (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3/II, Stuttgart 1992, hier 1547–1576; Peter H. Solomon: Soviet Criminal Justice under Stalin, Cambridge/New York/Melbourne 1996. 86 Das ist die These von Paul Hagenloh: Street Crime and Urban Police in Stalin’s Russia, 1930–1940, in: VI. World Congress for Central and East European Studies. Divergencies, Convergencies, Uncertainties. Abstracts, 29 July–3 August 2000 Tampere, Finland, Helsinki 2000, 153. 87 Vgl. Karl Kobelt: Anton Makarenko – Ein stalinistischer Pädagoge. Interpretationen auf dem Hintergrund der russisch-sowjetischen Bildungspolitik, Frankfurt a. M. usw. 1996 (mit weiterer Literatur).

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interessiert, ebensowenig geht es um die jungen Männer, die diesen Gewaltakt ausgeführt haben, sondern in erster Linie wird danach gefragt, wie Politiker mit jenem Fall umgehen und ihn für ihre Zwecke instrumentalisieren.88 Auf diese Weise starren wir letztlich nur auf die Strategien der Herrschenden. Diese Blickrichtung soll umgedreht werden. Im Zentrum steht der einzelne Mensch, seine Erfahrungen und deren Verarbeitung, sein Fühlen und Denken, seine kommunikativen Beziehungen, sein Handeln in seinem Umfeld, seine Interaktionen. Mit der Rekonstruktion seiner Lebenswelt, die die materiellen Verhältnisse und das Milieu einschliesst89, werden auch die Zusammenhänge mit strukturellen Bedingungen und Diskursen fassbar. Nicht zuletzt bildet sich in der Auseinandersetzung zwischen Innen- und Außenwelt die jeweilige Identität des Menschen, sein Selbstverständnis, aus. Gewiss wird auch danach gefragt, was die politische Macht damit zu tun hat. Aber die Frage stellt sich eben von der Seite des jungen Menschen, nicht umgekehrt. Es kommt auf die Perspektive an. Dadurch sehen wir zunächst, was Menschen bewegt, was sie für die Geschichte bedeuten. Welcher Verlust entsteht, wenn ein junger Mensch durch einen Gewaltakt verletzt wird oder gar zu Tode kommt? Welcher Verlust entsteht aber auch, wenn ein junger Mensch sich von der Gesellschaft abwendet, »a-sozial« wird? Dies vertieft schließlich die Überlegung, welche Folgen ihr Verhalten für das Schicksal der Revolution und die Entwicklung der Sowjetunion hatte. Auf diese Weise erkennen wir nicht zuletzt, welche Brüche im Gang der Geschichte verborgen sind, welche Alternativen sich boten, welche Möglichkeiten angelegt waren.90 Zielvorstellungen, Normen und Diskurse sind nicht gleichbedeutend mit menschlichem Verhalten. Es besteht ein Wechselverhältnis, beide Bereiche beeinflussen sich und verändern sich. Bewusst oder unbewusst versuchen die Menschen, die Normen, deren Einhaltung von ihnen erwartet wird, ihren Möglichkeiten anzupassen oder auch Widersprüche auszunutzen. Im Umgang mit dem, was von der Gesellschaft an sie herangetragen wird, gestalten sie ihre 88 Vgl. Naiman, The Case of Chubarov Alley; ders., Sex in Public. 89 Gegen kulturalistische Verengungen, die nur noch kulturelle Konstrukte im Blick haben, vgl. Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus – Kultur statt Gesellschaft?, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995) 80–95. 90 Zur Kategorie Möglichkeit vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1985, 258–288. Aufgrund der Vieldeutigkeit von Bildern und Texten, Erfahrungen und Handlungen können wir gewiss nur Fragmentarisches erfassen. Als Teil unserer Lebenswirklichkeit sollten wir den Mut haben, dies so stehen zu lassen. Vgl. Karin Hausen: Die NichtEinheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick / Anne-Charlott Trepp (Hg.): Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, 15 ff.

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Handlungsspielräume. Manchmal gelingt es ihnen sogar, sie zu erweitern. Eine solche Auseinandersetzung birgt ein produktives Potential. Auf diese Weise wird in jenem Wechselverhältnis soziale Wirklichkeit geschaffen.91 Die Phase der Neuen Ökonomischen Politik war in ihrer Widersprüchlichkeit gewiss keine Idylle, ob es nun um materielle Schwierigkeiten92, um Wohnungsprobleme93, um Reibungen mit der Bürokratie oder um Auseinandersetzungen mit Parteifunktionären ging. Ohne Mühe lassen sich viele Elemente erkennen, die als »Stalinismus vor dem Stalinismus« gekennzeichnet werden können.94 Das ist nicht verwunderlich, denn schliesslich entfaltete sich das Machtsystem des Stalinismus nicht voraussetzungslos.95 Andererseits suggeriert eine solche Begrifflichkeit eine übermächtige Kontinuität, selbst wenn betont wird, es handele sich nicht um einen bruchlos-linearen Prozess. Für die Menschen in den zwanziger Jahren war nicht absehbar, dass aus jenen Elementen eine neue, terroristische Ordnung entstünde. Immer noch standen Alternativen zur Debatte und gab es Handlungsspielräume, die in eine andere Richtung deuteten. Ohne die konkrete wirtschaftliche, soziale und politische Situation Ende 91 Vgl. Godenzi, 136. 92 Vgl. die bahnbrechende Studie zum Zusammenhang von Lebens- und Arbeitsverhältnissen, Alltag und Jugendkultur: Natal’ja Borisovna Lebina: Rabočaja molodež’ Leningrada. Trud i social’nyj oblik, 1921–1925 gg., L. 1982; neuerdings dies.: Povsednevnaja žizn’. Als weiteres Beispiel neuer Untersuchungen: Normy i cennosti povsednevnoj žizni. Stanovlenie socialističeskogo obraza žizni v Rossii, 1920–30-e gody, SPb. 2000. 93 Vgl. Philipp Pott: Moskauer Kommunalwohnungen von 1917 bis 1997: Alltag, Erfahrung, Erinnerung. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 2000. [Inzwischen ders.: Moskauer Kommunalwohnungen 1917 bis 1997. Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung. Zürich 2009]. 94 Plaggenborg: Revolutionskultur, 352; ders.: Grundprobleme der Kulturgeschichte der sowjetischen Zwischenkriegszeit, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 48 (2000) 109– 118, hier 118 («Stalinismus avant la lettre») mit weiterer Literatur. Plaggenborg wendet sich ausdrücklich gegen eine lineare Deutung. Vgl. auch seine weiteren Aufsätze: Weltkrieg, Bürgerkrieg, Klassenkrieg. Mentalitätsgeschichtliche Versuche über die Gewalt in Sowjetrußland, in: Historische Anthropologie 3 (1995) 493–505; Gewalt und Militanz in Sowjetrußland 1917–1929, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996) 409– 430; Stalinismus als Gewaltgeschichte, in: ders. (Hg.): Stalinismus. Neue Forschungen und Konzepte, Berlin 1998, 71–112. 95 Vgl. neben den in Anm. 14 zitierten Titeln Heiko Haumann: Nachholende Industrialisierung und Aufbau des Sozialismus. Langwirkende Faktoren der sozialökonomischen Entwicklung in der UdSSR, in: Peter Brokmeier / Rainer Rilling (Hg.): Beiträge zur Sozialismusanalyse III, Köln 1981, 7–32; ders.: Arbeiterklasse, Partei und Stalinismus. Die Auswirkungen sozialer und organisatorischer Umbrüche 1917–1929 auf die Entstehung eines neuen Machtsystems, in: Gernot Erler / Walter Süß (Hg.): Stalinismus. Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und Weltkrieg, Frankfurt a. M./New York/ Berlin 1982, 345–366.

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der zwanziger Jahre, auf die die Parteiführung um Stalin panikartig in einer Flucht nach vorn reagierte, wäre es nicht zu dieser Wende gekommen.96 Insofern ist die Ambivalenz der Entwicklung gerade unter kulturwissenschaftlicher Perspektive auch begrifflich zu unterstreichen. Bei der Erörterung der Ursachen von Jugendgewalt kamen zunächst die materiellen Verhältnisse in den Blick, namentlich Arbeitslosigkeit, Migration und Fluktuation. Zu nennen sind außerdem die Barbarisierung durch Weltkrieg97 und Bürgerkrieg98, durch die Erfahrung der Gewalt als Alltagsnormalität99 sowie durch Einflüsse der folgenden Heroisierungsbemühungen100 oder auch einer Gewalt fördernden Sprache.101 Doch aus der lebensweltichen Perspektive der Jugendlichen selbst wird Weiteres sichtbar. Soweit es gelungen ist, aus den Diskursen auf die Lebenswelten Jugendlicher zurückzuschliessen oder diese aus Selbstzeugnissen, Gerichtsakten und Berichten zu rekonstruieren, tritt eine Vielfalt an Gemütsverfassungen, Denk- und Verhaltensweisen hervor, die keineswegs den Wahrnehmungen durch die Vertreter von Partei und Staat entspricht. Einige Elemente dieser Vielfalt seien hier skizziert.102 Vorweg ist zu betonen, dass im Wesentlichen Lebenswelten auffällig gewordener Jugendlicher zum Vorschein gekommen und andere, vielleicht für den Einzelnen wichtigere Bereiche wie Liebe, Ausbildung, Musik oder Sport nicht erfasst worden sind. Doch gerade am – aus dem Einzelfall entwickelten –

96 Im Unterschied zu Manfred Hildermeier (Stalinismus und Terror, in: Osteuropa [2000], 593–605, hier 603) bleibe ich auch und gerade nach der Lektüre von Stephan Merls Buch (Die Anfänge der Kollektivierung in der Sowjetunion. Der Übergang zur staatlichen Reglementierung von Produktions- und Marktbeziehungen im Dorf [1928–1930], Wiesbaden 1985) bei meiner Interpretation der Vorgänge als Flucht nach vorn. Das schließt selbstverständlich nicht aus, dass gezielt auf Elemente eines ideologischen Programms zurückgegriffen wurde. 97 Genadii Bordiugov: The First World War and Social Deviance in Russia, in: Hugh Cecil / Peter H. Liddle (Hg.): Facing Armageddon. The First World War Experienced, London 1996, 549–553. Dort auch zur damaligen besprizornost’. 98 Vgl. Anne E. Gorsuch: »NEP Be Damned!« Young Militants in the 1920s and the Culture of Civil War, in: Russian Review 56 (1997) 564–580; Sheila Fitzpatrick: The Civil War as a Formative Experience, in: Gleason / Kenez / Stites, 57–76, bes. 66–67, 69–73. 99 Hinweis von Monica Wellmann sowie Aglaja Popoff: »Ich sehe alles, ich höre alles, aber ich fühle nichts.« Gewalterfahrungen und Ursachen gewalthaften Verhaltens im Russischen Bürgerkrieg. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 2000. 100 Vgl. Plaggenborg, Revolutionskultur, 163–185. 101 Dazu an Fallbeispielen Daniela Tschudi: Jugend und Gewalt in Smolensk 1917–1932. Eine Phänomenologie. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Basel 1997, 3. Kapitel. 102 Im Folgenden orientiere ich mich hauptsächlich an den Ergebnissen der Beiträge dieses Bandes. aber auch an Aussagen in der zuvor zitierten Literatur.

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»aussergewöhnlich Normalen»103 sind die Spannungen und Widersprüche einer Gesellschaft am schärfsten zu fassen. Die Spannbreite der Auffälligkeiten und des »Eigen-Sinns»104 reichte dabei von eigenständigen kulturellen Praktiken über Gewalt als Bestandteil spezifisch jugendlicher Rituale bis hin zu gewalttätigem Protest gegen staatliche Politik. Immer wieder wurden Formen eigenständiger kultureller Praxis beobachtet. So führten (junge) Arbeiterinnen lieber ausgedehnte Gespräche im Waschraum als zu den Betriebsversammlungen zu gehen. Ähnlich hatten junge Arbeiter ihre Rückzugsgebiete.105 Die kulturellen Angebote, die sich am Ideal des »Neuen Menschen«, an asketisch-puritanischen Lebensformen oder an aufklärerisch-erzieherischer Agitation orientierten, wurden von vielen jungen Menschen nicht unbedingt als attraktiv empfunden. Sie wollten sich auch einmal unkompliziert vergnügen, nicht gegängelt werden, sich fröhlich und unkonventionell kleiden, nicht immer nur »sauber« und »anständig« sein, statt ständig in der Freizeit politische Versammlungen zu besuchen lieber tanzen gehen.106 Enttäuschungen von jungen Arbeiterinnen im Komsomol – und für Jungarbeiter dürfte Ähnliches gelten – rührten oft daher, dass sie sich vom Eintritt in die Jugendorganisation oder auch in die Partei selbst ein leichteres und besseres Leben versprochen hatten.107 Ebenso wurden sie oft von der männlich dominierten Kultur im Komsomol zurückgestoßen.108 Darüber hinaus waren Jugendliche nicht unbedingt darüber erfreut, dass von ihnen erwartet wurde, auch intime Vorgänge offenzulegen und zu diskutieren. Eine sexuelle Beziehung konnte dann leicht zu einer diskriminierenden Erörterung führen, die das Mädchen oder den Jungen wegen »bourgeoisen« Verhaltens und Verletzung der »kommunistischen Moral« an den Pranger stellte. Oft verbarg sich dahinter nur Heuchelei, wenn im Grunde traditionelle Rollen- und Moralvorstellungen zum Tragen kamen. So wurde häufig sexuell freizügiges Verhalten bei Jungen als Ausdruck von »Männlichkeit«, bei Mädchen hingegen als »Prostitution« oder als vampirhaftes Verhalten gewertet, 103 Ein von Edoardo Grendi 1977 geprägter Begriff, der in der Diskussion um Mikro-Geschichte eine wichtige Rolle spielt; Hans Medick spricht leicht abgewandelt vom »normalen Ausnahmefall«. Vgl. Hans Medick: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, 94–109, hier 101–102. 104 Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 105 Koenker, Men, 1444–1445. Ähnliche und weitere solcher Praktiken finden sich auch in anderen Gesellschaften, vgl. Lüdtke, Eigen-Sinn. 106 Gorsuch, Soviet Youth. Vgl. auch Mally. 107 Scheide, Ms. Teil II, 103. 108 Gorsuch, Woman, bes. 652–654. Einige übernahmen das männliche Ideal: ebd., 656

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das den Männern den Verstand nehme und sie vom revolutionären Weg abhalte. Bereits Tanzen und Schminken konnte als »Hooliganismus« denunziert werden.109 Aus diesen Konflikten konnte leicht eine eigenständige jugendliche »Subkultur« entstehen, ein »Abtauchen« in informelle Gruppen und Banden, aber auch eine Abwendung von den politischen Zielen der Partei, vom offiziellen Diskurs und von Organisationen. Kam dann noch das Gefühl hinzu, dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer größer werde, konnte dies schnell in ein aggressiv-gewalttätiges Verhalten umschlagen. Bei denjenigen, die durch Gewalt gegen andere oder gegen sich selbst in den Quellen auftauchen, lässt sich kein typischer Lebenslauf eines Gewalttäters verfolgen. Neben denjenigen, die als »Verwahrloste« »aus der Bahn geworfen« worden waren, handelte es sich etwa um Jugendliche aus dem Dorf, die in die Stadt gezogen waren und mit den dortigen Bedingungen nicht zurechtkamen. Andere waren enttäuscht, dass sich die materiellen Verhältnisse nicht wie erwartet und versprochen entwickelten oder dass die Realitäten nicht den sozialistischen Idealen entsprachen. Das Leben erschien ihnen nicht mehr als schön.110 109 Vgl. den Beitrag von Corinna Kuhr-Korolev in diesem Band. Vgl. Gorsuch, Woman, 648– 652, 656 (sie zitiert u. a. M. M. Rubinštejn: Junost’: Po dnevnikam i avtobiografičeskim zapisjam, M. 1928); dies.: Soviet Youth; auch: Koenker, Men. Lunačarskij betonte, die Revolution mache es notwendig, sich in das sogenannte Privatleben einzumischen: O byte, 9–10. Vgl. Brigitte Studer / Berthold Unfried: »Das Private ist öffentlich«. Mittel und Formen stalinistischer Identitätsbildung, in: Historische Anthropologie 7 (1999) 83–108, hier 107 (Beispiel von 1937); Berthold Unfried: Die Konstituierung des stalinistischen Kaders in »Kritik und Selbstkritik«, in: traverse 2 (1995) 71–88. Allerdings ist die Übertragung der Kategorien »privat« und »öffentlich« auf die russische und sowjetische Gesellschaft problematisch. Studer / Unfried folgern, dass sich aufgrund des öffentlichen Eindringens in die Privatsphäre – wie es sich auch in den Techniken der »Selbstkritik« und in den von Parteikadern mehrfach verlangten Autobiographien manifestierte – im Stalinismus allmählich eine Doppelexistenz vieler Sowjetbürger zwischen standardisiertem Auftreten in der Öffentlichkeit und abgeschottetem Privatleben ausbildete – »der sowjetische Weg in die Privatheit« (108). Zu derartigen Autobiographien vgl. Igal Halfin: From Darkness To Light: Student Communist Autobiography During NEP, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 45 (1997) 210–236. Einen anderen Weg der Identitätsbildung verdeutlicht der Werdegang Stepan Podlubnyjs: Jochen Hellbeck (Hg.): Tagebuch aus Moskau 1931–1939, München 1996; vgl. ders: »Wo finde ich mein Spiegelbild?« Soziale Identität im sowjetischen Stalinismus der dreißiger Jahre, in: Bios 7 (1994) 149–164; Sabrina Dallafior: Gewalt und ihre Wahrnehmung im Stalinismus. Das Tagebuch von Stepan Podlubnyj. Unveröffentl. Seminararbeit, Basel 1997. Die Männlich- und Weiblichkeitsbilder spiegeln sich auch in der Debatte über Homosexualität, vgl. Dan Healey: Evgeniia / Evgenii: Queer Case Histories in the First Years of Soviet Power, in: Gender & History 9 (1997) 83–106. 110 Vgl. den Beitrag von Monica Wellmann.

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Ein junger Arbeiter namens Eliseev brachte Mitte 1929 in einem Leserbrief die Kritik an den Verhältnissen auf den Punkt: »Wie arbeiten wir heute? (…) Nach meiner Meinung bedeutet sozialistischer Wettbewerb ›quetsche die letzten Tropfen aus den Arbeitern‹. (…) es ist falsch zu sagen, dass ich vielleicht ein Konterrevolutionär bin, dass ich gegen die Sowjetmacht bin, und so weiter. (…) Aber ich kann nicht verstehen, was jetzt in unserem Land vorgeht. Ich bin erst seit einem Jahr in der Produktion. Vorher habe ich auf dem Land gelebt und gedacht, dass die Arbeiter in den Städten besser leben.«111 Dabei traten wiederum unterschiedliche Hintergründe hervor. Einem Teil der Jugendlichen fehlte die eigene revolutionäre Erfahrung oder die Prägung durch den Bürgerkrieg. Den »militanten Kommunismus« und die Revolution kannten sie nur als »Parole«. Daraus rührte der Wunsch, die revolutionäre Tat der Elterngeneration nachzuholen, der sich oft in einem spezifischen »Kommunistenhochmut« ausdrückte.112 Andererseits konnte das zu Desinteresse an politischen Konzepten der Zukunft führen, aber auch zu Sensibilität für den Widerspruch zwischen Ziel und Realität. Ebenso gehört die Unzufriedenheit mit der Erstarrung der Revolution sowie mit der Nachgiebigkeit gegenüber kapitalistischen Elementen und der verwirrend-kompromisslerischen Linie der Neuen Ökonomischen Politik in diesen Zusammenhang. Daneben gab es Jugendliche, die in der Revolution oder im Bürgerkrieg aktiv die bolschewistischen Ideale des unmittelbaren Übergangs zum Sozialismus vertreten hatten und nun enttäuscht waren, dass während der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) – dem »heroischen Nepp« – die Kluft zwischen dem utopischen Entwurf und den tatsächlichen Zuständen samt den politischen Maßnahmen immer weiter wurde. Ebenso war bei manchen dieser Gruppe Orientierungslosigkeit festzustellen, weil sie, anders als während des »heroischen 111 Hiroaki Kuromiya: The Crisis of Proletarian Identity in the Soviet Factory, 1928–1929, in: Slavic Review 44 (1985) 280–297, hier 289. Vgl. Heiko Haumann: »Ich habe gedacht, dass die Arbeiter in den Städten besser leben.« Arbeiter bäuerlicher Herkunft in der Industrialisierung des Zarenreiches und der frühen Sowjetunion, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 43 (1993) 42–60. N. M. Blinov: Sociologičeskie issledovanija truda i vospitanija Sovetskoj molodeži 20-ch godov, in: Sociologičeskie issledovanija (1975) 1, 145–154, hier 147: zu Beginn der 20er Jahre lebten über 28 Mill. Jugendliche (14–22 Jahre) auf dem Land und knapp über 4 Mill. in der Stadt; die Migration in die Städte nahm stetig zu. 112 Walter Benjamin machte 1926 diese Beobachtung: Moskauer Tagebuch. Hg. von Gary Smith, Frankfurt a. M. 1980, 79–80. Vgl. zu ähnlichen Generationsproblemen in anderen Gesellschaften z. B. Maurice Zeitlin: Revolutionary Politics and the Cuban Working Class, New York 1970; Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, München 1990.

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Kriegskommunismus«, ein klares Feindbild oder ein überzeugendes, mitreißendes Ziel vermissten.113 So kam es bei vielen, aus unterschiedlichen Motiven, zu einer Idealisierung der »heroischen Periode« und zu einer Kritik des – wie es schien – opportunistischen Pragmatismus. Der »liquidierte Heroismus« war durchaus auch Gegenstand der öffentlichen Debatte.114 Die »revolutionäre Ungeduld« drückte sich im Widerstand gegen die Disziplin, die Mäßigung, die Hinnahme von Pluralismus in der Gesellschaft, das schwierige Einarbeiten in komplizierte Sachzusammenhänge aus. Dazu gehörte die Anfälligkeit Jugendlicher für einen Kult des Bürgerkrieges, des Militanten. Dem stand eine politische Apathie zahlreicher anderer Jugendlicher gegenüber. Konflikte mit der Umwelt – die auch als Auseinandersetzung zwischen den Generationen formuliert wurden – entzündeten sich vielfach an Fragen der Reinlichkeit, der Kleidung, des Rauchens oder Schminkens.115 Für die Sowjetführung waren diese Vorgänge im Jugend-Milieu gefährlich, weil sie an den revolutionären Anspruch erinnerten und anzeigten, dass die Jugend ihrer Kontrolle entglitt. Die Jugendlichen wurden »vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko«.116 Neben der Enttäuschung aus den verschiedensten Gründen spielten Ängste als Auslöser von Gewalt eine herausragende Rolle – Ängste vor Strafe und gesellschaftlicher Zurücksetzung, vor einem Makel, aber auch Ängste davor, nicht den Normen zu entsprechen und unwürdig zu sein. Es ist immer wieder erstaunlich, wie stark man sich doch auf die Wertvorstellungen der bolschewistischen Ideologie bezog. Oft gingen sogar Gewaltakte, die dem Wunsch nach

113 Zitate: Benjamin, 103. 114 Joseph Roth beschreibt 1926 ein Theaterstück, in dem ein junger Mann dargestellt wird, der ein »revolutionärer Held« sein will und einen »jüdischen NEP-Mann« umbringt; von ihm stammt der Begriff des »liquidierten Heroismus« (Reise nach Russland, 205–210, Zitate 205). 115 Diese Wahrnehmungen werden ausführlich dargestellt von Gorsuch: NEP; auch: Peter Gooderham: The Komsomol and Worker Youth: The Inculcation of ›Communist Values‹ in Leningrad during NEP, in: Soviet Studies 34 (1982) 506–528; Hilary Pilkington: Good Girls in Trousers – Codes of Masculinity and Feminity in Moscow Youth Culture, in: Marianne Liljeström / Eila Mäntysaari / Arja Rosenholm (Hg.): Gender Restructuring in Russian Studies, Tampere 1993, 175–191. Zur sozialistischen Jugendbewegung 1917 vgl. Isabel Tirado: The Socialist Youth Movement in Revolutionary Petrograd, in: The Russian Review 46 (1987) 135–156; zu den folgenden Jahren dies.: Young Gard! The Communist Youth League, Petrograd 1917–1920, New York usw. 1988. 116 In Anlehnung an Peter Skyba: Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949–1961, Köln/Wien/Weimar 1999.

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Identifikation mit den herrschenden Normen entsprangen, über das hinaus, was das Regime für richtig hielt.117 Weiterhin kam es zu gewalthaftem Handeln aus persönlichen Alltagsproblemen, etwa Liebeskonflikten, oder im Zusammenhang mit Initiationsritualen und mit Folgerungen aus den gesellschaftlichen Diskursen. Dies könnte vor allem bei Gewaltakten junger Männer gegen Frauen und Mädchen einer der Hintergründe gewesen sein.118 In all diesen verschiedenartigen Motivkreisen vermischen sich Verhaltensweisen, die einer generationell geprägten Jugendkultur eigen sind und das Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt begleiten – insofern auch die herrschenden Normen reflektieren –, mit spezifischen Reaktionen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Durchweg sind jedoch Verunsicherung, Identifikationsprobleme, Entfremdung vom gesellschaftlichen Umfeld, Bindungslosigkeit, Verlust an Selbstvertrauen und allgemein ein gestörtes Selbstwertgefühl spürbar. Diese geschwächte Identität führte bei vielen jungen Menschen zu einer »Panzerung« ihres Körpers. Dies konnte sich im Widerstand gegen den versuchten Zugriff auf den Körper äußern, wie er in der Forderung nach Preisgabe auch intimer Vorgänge und nach Unterordnung unter bestimmte Vorgaben offenkundig wurde. Die Panzerung bedeutete vielfach jedoch eine Abschottung gegenüber kritischem, unabhängigen Denken oder gegenüber einer produktiven Auseinandersetzung mit Gegenwelten, damit zugleich gegenüber dem Unkontrollierten im eigenen Innern. Ich-schwache Menschen haben Schwierigkeiten, sich eigenständig zu orientieren und zu entscheiden.119 Hier können Querverbindungen zur sowjetischen Politik gezogen werden. Im Umgang mit dem Jugendproblem lässt sich ein regelrechter »Kampf um den Körper« erkennen. Auffällig ist die durchgängig zu beobachtende Wortwahl, dass es um »gesunde« und »kranke« Jugendliche gehe, auch darum, dass die »kranken« nicht die »gesunden« »ansteckten«. Dabei dominierte zunächst der Ansatz, die Ursachen der »Krankheit« zu entdecken, um vorbeugen und heilen

117 Das zeigt etwa der von Daniela Tschudi geschilderte Fall. Auch Vera Spiertz weist darauf hin, dass ein Großteil der jungen Rotarmisten die Erziehungsnormen des »Neuen Menschen« verinnerlicht hatten. Hierin drückt sich nicht zuletzt die häufig zu beobachtende soziologische Erkenntnis aus, dass sich die Normen der Jugendlichen – auch in »Subkulturen« – »fast immer auf die Welt der Erwachsenen« beziehen (so Ludwig v. Friedeburg: Zum Verhältnis von Jugend und Gesellschaft, in: ders., Jugend, 176–190, hier 186). 118 Vgl. Abschnitt III. 119 Zur Theorie des »Körperpanzers«, hier bezogen auf den Männerkörper, Klaus Theweleit: Männerphantasien. 2 Bde., Reinbek 1980.

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zu können.120 Etwa seit 1924 wurde jedoch nach und nach die Auffassung vorherrschend, es helfe letztlich nur die Ausgrenzung und Repression derjenigen »Kranken«, die auf die Heilungsangebote nicht ansprächen. So betrieben die verantwortlichen Funktionäre zunehmend gegenüber »abweichenden« Jugendlichen gezielte Atomisierungs- und Desintegrationsstrategien, um diese vereinzelten Jugendlichen dann entweder besser disziplinieren oder völlig ausgrenzen zu können.121 Damit setzte sich eine Linie fort, die bereits während des »Kriegskommunismus« wirksam gewesen war und die Spirale der Gewalt in Bewegung gehalten hatte. Viele Bolschewiki näherten sich den Menschen in der Regel »von außen« oder gar »von oben«. Sie gingen mit stereotypen Bildern an die Umwandlung der Gesellschaft, ohne die Bedingungen zur Verfügung stellen zu können, die nötig gewesen wären, um zu neuen Formen zu finden. Anstatt sich dann stärker an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren, gaben sie die ursprüngliche Idee auf oder verschoben sie mindestens in die ferne Zukunft. Der – vorgebliche – Durchbruch zum Sozialismus wurde mit Menschen vollzogen, die nicht in einem sozialistischen Alltag lebten. Entsprach deren Verhalten nicht dem Bild und den Erwartungen, die man sich gemacht hatte, so galten sie rasch als Feinde. Gewalt war die Folge eines solchen Denkens und Vorgehens. Je mehr sich Parteispitze und Bevölkerung entfremdeten, je weiter die Zielsetzungen und die praktischen Möglichkeiten, diese einzulösen, auseinanderklafften, desto stärker wurden die Macht konzentriert und im Konfliktfall gewaltsame Mittel eingesetzt.122 Gerade bei der Behandlung von Jugendlichen, die aus Familien von »Klassenfeinden« stammten, zeigte sich diese Tradition. Es gelang den Bolschewiki überwiegend nicht, diese zu integrieren. Sie knüpften nicht an deren Lebens120 Die Terminologie taucht in zahlreichen Beiträgen dieses Bandes auf. Vgl. auch Plaggenborg, Revolutionskultur, 62–198; Susan Gross Solomon: The Limits of Government Patronage of Sciences: Social Hygiene and the Soviet State, 1920–1930, in: Social History of Medicine 3 (1990) 405–435; dies. / John F. Hutchinson (Hg.): Health and Society in Revolutionary Russia, Bloomington/Indianapolis 1990. 121 Vera Spiertz hat mich darauf hingewiesen, dass nach ihren Beobachtungen die Ausgrenzung vermeintlich »Kranker« in der Roten Armee durch Truppenkommandeure und Rekruten etwa 1923 einsetzte, während auf der Führungsebene Ende der 20er Jahre die Integrationsangebote durch Kriminalisierung und Repression abgelöst wurden. Vgl. für repressive Strategien gegenüber Jugendlichen in anderen Ländern im Interesse der Herrschaftssicherung Heitmeyer, Das Gewalt-Dilemma; Sack, Gewalttätige Jugend. 122 Haumann, Utopie, hier bes. 34. Vgl. zu dem Versuch der Bolschewiki, den Volksbewegungen ihre Vision einer revolutionären Umgestaltung aufzuzwingen, Vladimir N. Brovkin (Hg.): The Bolsheviks in Russian Society. The Revolution and the Civil Wars, New Haven/London 1997.

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welten an, sie blieben ihnen »fremd«. So entstand eine enge Wechselwirkung zwischen staatlicher Gewalt und gewalttätigem Vorgehen dieser Jugendlichen.123 Allgemein lässt sich sagen: Durch die Konstruktion des Feindbildes »Hooligan« entfremdete sich die Partei von einem Großteil der Jugend. Diese verstand ihre kulturellen Praktiken in wachsendem Maße als Gegenkultur. Wie die wechselseitige Beziehung zwischen öffentlichem Diskurs und Verhaltensweisen von Jugendlichen aufzeigt, entwickelten sich beide Seiten immer weiter auseinander. Je mehr der Rückhalt der Jugendlichen, von denen man so viel erwartete, verloren ging, um so stärker griff dann die Staatsführung zu Repression und Gewalt. Die Spirale drehte sich weiter.124 Die Wende von 1929 und die folgenden Maßnahmen in den dreißiger Jahren bedeuteten somit den Schritt zur gewaltsamen Homogenisierung der Jugend. Gewalt, die zuvor oft noch ein Zeichen von Hilfslosigkeit vor den großen Problemen gewesen war,125 wurde nun endgültig zu einem Systemmerkmal. Wer jetzt noch »krank« blieb, wurde endgültig kriminalisiert, in ein Straflager oder in eine psychiatrische Klinik gesteckt. Den anderen bot die stalinistische Politik den scheinbaren Schutz unter dem »Ganzheitspanzer des totalitären Leibes Sowjetunion« an, auch wenn dieser eher ein Wunschbild als Wirklichkeit war.126 Viele Jugendliche nahmen dieses Angebot an. Ein Teil sah in der Wende die ersehnte Erlösung von den ungeliebten Verhältnissen und schloss sich – oft 123 Dies wird aus mehreren Beiträgen dieses Bandes deutlich. 124 Diese Entwicklung lässt sich auch auf der symbolischen Ebene, in der bildenden Kunst nachvollziehen: Vladimir Tatlins (1885–1953) 1919 entstandenes »Denkmal der III. Internationale« stellt die Spirale als Grundmerkmal des gesellschaftlichen Prozesses dar. Dieser verläuft eben nicht linear, er ist dialektich angelegt, aber er vollzieht sich in einer Bewegung von unten nach oben – auch in der politischen Willensbildung. In dem starken, diagonalen Neigungswinkel des Turms manifestieren sich zugleich Dynamik, Kühnheit und Fortschritt. Der Gegenpol ist im siegreichen Entwurf Boris Iofans für den Moskauer »Palast der Sowjets« Anfang der dreißiger Jahre zu sehen, der mit seiner überdimensionalen Figur des Führers und seiner gesamten Architektur »den autoritär-vertikalen Diskurs«, eine »Rehierarchisierung der öffentlichen Sphäre« vorstellt. Dieser Umschwung hatte sich schon 1923 bei der Entscheidung für den Entwurf N. A. Trockijs im Wettbewerb um den Moskauer »Palast der Arbeit« angekündigt, war aber zunächst nicht zur vorherrschenden Linie geworden. Vgl. Andreas Guski: Babylonische Türme. Zu einem Motiv der neueren russischen Kulturgeschichte, in: Wolfgang Girke / Andreas Guski / Anna Kretschmer (Hg.): Verto grad’ mnogocvetnyj. Festschrift für Helmut Jachnow, München 1999, 59– 70, Zitat 66. 125 Vgl. Gorsuch, Soviet Youth. 126 Franziska Herold: Der totalitäre Leib. Zur Körpermetaphorik sowjetischer Grenz-Erzählungen der 30er Jahre, in: Claudia Benthien / Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Hg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik, Stuttgart/Weimar 1999, 108–134, Zitat 129. Vgl. John McCannon: Positive Heroes at the Pole: Celebrity

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nur vorübergehend – begeistert den neuen Kampagnen an, ja beteiligte sich aktiv an der staatlichen Gewaltanwendung. Ein anderer suchte zumindest die Sicherheit des »Panzers«. Auf diese Weise wurden zahlreiche, in den zwanziger Jahren »auffällige« Jugendliche zu Trägern des Stalinismus und auch des Terrors.127 Andere führten unter dem Schutz des »Panzers« eine Doppelexistenz zwischen öffentlichem Auftreten und persönlicher Sphäre, wieder andere zogen sich in die »kollektive Verantwortungslosigkeit« zurück: kein Risiko einzugehen, sich vor Entscheidungen nach allen Seiten abzusichern, die eigene Tätigkeit möglichst zu verschleiern. Stärkere Persönlichkeiten mit in sich gefestigter Identität und einem kritisch reflektierten, aber sicheren Selbstwertgefühl wurden sie deshalb nicht. Die Jugend der zwanziger Jahre hatte das Bild der zukünftigen Gesellschaft gezeigt.128

Status, Socialist-Realist Ideals and the Soviet Myth of the Arctic, 1932–39, in: The Russian Review 56 (1997) 346–365. 127 Vgl. den Beitrag von Gabor Rittersporn in diesem Band. 128 Vgl. Oskar Negt (1980): »Jede Jugend zeigt der Gesellschaft das Bild ihrer eigenen Zukunft«, zit. in: Heitmeyer u. a., Gewalt, 11. Selbstverständlich bedarf dieser Ausblick noch der sorgfältigen Überprüfung.

Das jüdische Prag (1850–1914)* Einleitung

Wer heute nach Prag fährt, sollte nicht versäumen, eine höchst sehenswerte und zugleich makabre Attraktion zu besichtigen: das Staatliche Jüdische Museum. Sehenswert ist dieses Museum, weil hier über mehrere Gebäude – meist Synagogen – verstreut eine einzigartige Sammlung jüdischer Kultgegenstände und historischer Zeugnisse angelegt wurde; zugleich ist es makaber, weil wir diese Sehenswürdigkeit nur dem Umstand zu verdanken haben, daß die Nationalsozialisten in Prag ein zentrales Museum »einer ausgestorbenen Rasse«, geeignet als Schule des Antisemitismus, einrichten wollten und dazu aus ganz Böhmen und Mähren nach vollzogenem Vernichtungs- und Zerstörungswerk jüdische Kultgegenstände aller Art zusammentrugen. Dies war der Schlußpunkt einer langen Entwicklung, in der Prag von den Juden der Welt – wie es in einer alten jüdischen Legende heißt – als »Mutter Israels« verehrt wurde.1 Von Juden in Prag wird schon aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts berichtet. Ihre Gemeinde entwickelte sich schnell zu einer der größten – zeitweise war sie überhaupt die größte – und angesehensten in Europa. Prag hatte eine der wirklichen mittelalterlichen Judenstädte, ein Ghetto mitten in der Altstadt; die meisten Ghettos wurden erst seit dem 16. Jahrhundert im Zuge der Gegenreformation geschaffen. Die Stadt bildete eine Brücke zwischen Ost und West, zwischen den aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern eingewanderten »Westjuden« und den aus Polen stammenden »Ostjuden«. Beide Teile lebten allerdings räumlich und kulturell ziemlich scharf voneinander getrennt – Ghettos im Ghetto –, die hin und wieder beschworene »Symbiose« blieb keineswegs konfliktfrei. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dominierte eindeutig die nach Westen orientierte Judenschaft. Ihre Vertreter – in erster Linie natürlich die reichen – waren es auch, die der Judenstadt trotz der engen Gassen einen gewissen großstädtischen Glanz gaben. Vor allem nach dem verheerenden Brand von 1754 entstanden hier stattliche Barockhäuser, die den Kontrast zu den Elendsquartieren der armen Juden kraß hervortreten ließen. Doch Prag war auch die Stadt unzähliger Judenpogrome und -verfolgungen im Mittelalter und in der Neuzeit. 1389 wurde die Judenstadt so verwüstet, daß * Erstpublikation in: Die Juden als Minderheit in der Geschichte. Hg. von Bernd Martin und Ernst Schulin. München 1981 (4. Aufl. 1989), 209–230, 347–349. 1 Eduard Petiška, Der Golem. Jüdische Märchen und Legenden aus dem alten Prag. Wiesbaden 1972, S. 13.

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nichts mehr an das älteste jüdische Prag erinnert. Die jüdischen Märchen und Legenden spiegeln die zahllosen Pogrome und die Furcht vor neuen eindringlich wider. Mit dem Toleranzedikt Josephs II. von 1782 schien diese Periode ein Ende gefunden zu haben. Zu seinem Andenken taufte man die Judenstadt in »Josephstadt« (Josefov) um, als 1852 das Ghetto aufgehoben wurde, nachdem keine strikte Trennung zwischen Juden und Christen mehr bestand. 1849 waren den Juden Freizügigkeit gewährt und die Einschränkungen der Heiratsmöglichkeiten aufgehoben worden; I867 erhielten sie endlich die volle gesetzliche Gleichberechtigung. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wandelten sich die Verhältnisse in Prag wie in der Judenschaft grundlegend. Aber immer noch bestimmte das jüdische Element die Atmosphäre der Stadt. Zugleich sah man in Prag ein überwiegend von Juden geprägtes kulturelles Zentrum, wo – wie Max Brod schreibt – in den bekanntesten Cafés die berühmtesten zeitgenössischen Dichter und Literaten anzutreffen waren. Und in der Tat: Wer assoziiert nicht mit dem Prag in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkrieg Franz Werfel, Max Brod, Franz Kafka und nicht zuletzt den aus einer alten jüdischen Familie stammenden »rasenden Reporter« Egon Erwin Kisch, dazu die Nichtjuden Rainer Maria Rilke und Gustav Meyrink? Gingen also Prag und die Prager Juden eine harmonische Symbiose ein, die zu einer einmaligen kulturellen Blüte führte? Harmonisch war sie ganz sicher nicht. In einer Zeit, in der es in Deutschland um den Antisemitismus noch eine eher theoretische Diskussion gab, kam es in Prag immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen und Pogromen gegen die Juden. Sie gerieten in ein Dilemma, das sich wegen der besonderen Situation in Prag vielleicht schärfer als anderswo zeigte, das auf jeden Fall eng verknüpft ist mit ihrer formalen Emanzipation, mit dem Problem des Nationalismus und mit den Folgen einer raschen Industrialisierung. Tschechen, Deutsche, Juden: Nationale und soziale Beziehungen in einer Stadt im Umbruch

Seit den 30er Jahren und besonders seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Böhmen vom Strudel der Industrialisierung erfaßt. Im 18. Jahrhundert hatte sie verhältnismäßig bescheiden mit einigen Berg- und Hüttenwerken sowie Textilmanufakturen angefangen. Nun wurde Böhmen zum industriellen Schwerpunkt der Habsburgermonarchie. Dieser Prozeß brachte grundlegende Strukturverschiebungen mit sich. Die Manufakturen waren vorwiegend im deutschsprachigen Nordwest­- und Nordostböhmen angesiedelt gewesen. Durch die neue industrielle Produktionsform erfuhr diese Gegend eine radikale Wandlung mit

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oft katastrophalen Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensverhältnisse. Darüber hinaus drang der industrielle Großbetrieb nun auch nach Innerböhmen vor: Hier lockten nicht zuletzt die niedrigen Löhne der neuen, aus der Landwirtschaft abgezogenen Arbeiter; dafür fehlten allerdings häufig qualifizierte Kräfte. Das hauptsächlich von Wien aus gelenkte »deutsche« Kapital, das sich vornehmlich in der Schwerindustrie konzentrierte, traf hier nicht nur auf das ansässige deutschböhmische Klein- und Mittelunternehmertum, sondern auch auf das aufstrebende tschechische Bürgertum, das zunächst in der Konsumgüter- und speziell der Nahrungsmittelindustrie engagiert war. Daß die bäuerliche Hausindustrie wie das städtische Kleingewerbe durch die großindustrielle Expansion teilweise existenziell gefährdet wurden, schuf eine weitere Konfliktebene. Dabei standen die Juden von Anfang an im Visier der Benachteiligten wie der Aufstrebenden: Man identifizierte sie mit dem deutschen ausbeuterischen Großkapitalisten. I844 wie 1848 kommt es zu schweren antijüdischen Unruhen, die in erster Linie von den radikalisierten städtischen Unterschichten Prags ausgehen. Von 1859 bis 1861 breiten sich immer wieder judenfeindliche »Exzesse« aus, bis 1866 in einer Wirtschaftskrise ganz Böhmen davon erfaßt wird: »Es ist ein Judenkrieg, und die Juden müssen alle erschlagen werden.»2 Dies gelingt zwar noch nicht, aber Tote sind durchaus schon zu beklagen. Trotzdem: es kündigen sich hier erst Vorboten der mit Industrialisierung und Nationalismus zusammenhängenden Judenfeindschaft an. Prag verwandelte sich in diesen Jahren von der Provinz- zur Großstadt, ja wuchs in eine überragende »Ausnahmestellung« und Metropolenfunktion hinein. Nach Wien bildete sich dort das zweitgrößte Maschinenbauzentrum ÖsterreichUngarns heraus. Neben den Eisenbahnverbindungen gaben dafür die Nähe zu den mittelböhmischen Kohlen- und Eisenrevieren sowie der Kontakt zu der in Prag konzentrierten, mit internationalen Verbindungen ausgestatteten Finanzwelt den Ausschlag. Charakteristisch für Prag ist jedoch, daß keine reine Industriestadt entstand. Die Bedeutung von Handwerk und Kleingewerbe blieb gewahrt, auch wenn zahlreiche Betriebe durch die eindringenden Produktionsformen gefährdet waren. Die Selbständigen konnten ihren Anteil an der Bevölkerung zwischen 1869 und 1900 konstant bei etwa einem Drittel halten. Wichtig wurde aber, daß sich die Kleingewerbetreibenden aus dieser Gruppe durch die neue wirtschaftliche Entwicklung deklassiert fühlten. Hier lag gesellschaftspolitischer Zündstoff. Zwischen 1850 und 1910 verdoppelte sich die Bevölkerung Prags. Den größten Schub brachten bis 1869 die in die Stadt strömenden Industriearbei2 Zitiert bei Christoph Stölzl, Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. München 1975, S. 39.

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ter. Anschließend verlangsamte sich dieser Prozeß; jetzt stieg noch besonders der Anteil der im tertiären Sektor Beschäftigten an. Am stärksten schwoll nun die Einwohnerzahl der damals noch nicht eingemeindeten Vorstädte an, in denen sich viele ansiedelten, die mit der Hoffnung auf Besserung ihres Lebens in Richtung Prag gezogen waren. Hier überwogen dann auch bald die Arbeiter, während sie in der Prager Innenstadt in der Minderheit blieben. Die durch die Industrialisierung verursachte ungeheuere Migrationsbewegung schuf große Probleme. Die ständige Fluktuation wirkte sich auf Bewußtsein und Stabilität der sozialen Gruppen aus; die teilweise erbärmlichen Lebensverhältnisse, vor allem die entstandene Wohnungsnot, ja überhaupt die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung führten zu Spannungen, die bei passendem Anlaß in offene Konflikte umschlagen konnten. Sie wurden dadurch verschärft, daß die sozialen und demographischen Verschiebungen auch das Verhältnis der Nationalitäten veränderten. Der Anteil der deutschen Minorität an der Bevölkerung Prags und der Vorstädte in der »ersten inneren Zone« ging zwischen 1880 und 1900 von 15,5 Prozent auf 7,5 Prozent zurück. Um so klarer mußte nun hervortreten, daß diese Deutschen fast ausschließlich der Oberschicht zuzurechnen waren, die Tschechen hingegen der Mittel- und Unterschicht. Die Deutschen wohnten nach wie vor in den besten Wohnungen in der Innenstadt. Und für viele Tschechen waren Deutsche und Juden das gleiche. In der Mehrzahl der Fälle traf diese Identifizierung bis in die 90er Jahre auch zu. Wie verhielten sich nun Prager Bürgertum und Arbeiterschaft in dieser Umbruchzeit? Wie wirkten sich ökonomische Unsicherheit, Ängste, die aus dem Verlust der alten Bindungen in der Heimat durch Umzug in eine unbekannte Großstadt herrührten, politische Erregbarkeit durch die neuen sozialen und nationalen Konflikte aus? Man kann dies zunächst einmal an der Veränderung der Parteienlandschaft deutlich machen. Bei den Tschechen beherrschte ursprünglich eine bürgerliche Honoratiorenpartei um František Palacký und Franz Rieger – die Führer der Revolution von 1848 in Prag – das Feld. Sie hatten ihre Stützen im Beamtentum, bei den Unternehmern und bei den Großbauern. Diese »Alttschechen« mußten jedoch zunehmend den »Jungtschechen« weichen, die sich zum Sprecher der Deklassierten wie der Aufsteiger, der radikalen Intelligenz wie der Arbeiterschaft aufwarfen. Sie wollten das ganze tschechische Volk vertreten. Ein wichtiges Instrument war ihr straff organisierter Turnverein »Sokol« (Der Falke). Massenaufmärsche und riesige Sportveranstaltungen sollten die nationale Einheit symbolisieren und Sympathisanten wie Gegner beeindrucken – mit Erfolg übrigens. Es schien so, als gebe es unter den Tschechen keine sozialen Gegensätze, als sei es möglich, Kapitalismus und Sozialismus zu vereinbaren. Zusammengeschweißt wurde diese Einheit durch den wieder und wieder beschworenen Kampf gegen die Deutschen und – immer schärfer – gegen

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die Juden. Selbst der alte Palacký gab sich dafür her, um seiner Partei – allerdings erfolglos – eine größere Anhängerschaft zu erhalten, als er 1872 vor dem »Raubtiertrieb der jüdischen Rasse« warnte.3 Die Jungtschechen warfen 1870 eine Broschüre mit dem Titel »Die Angst vor dem Judentum« auf den Markt, für deren Abfassung sich der bedeutende Schriftsteller Jan Neruda nicht zu schade gewesen war. In ihr tauchen Vorstellungen über das Weltjudentum auf, das in allen Ländern seine Marionetten – in Österreich z. B. das Wiener Großkapital, das deutsche Bürgertum – tanzen lasse. 1883 trafen sich die Jungtschechen schon im geheimen mit den ungarischen Antisemiten, dann gemeinsam auch mit Wiener Politikern: man wollte eine »Aussöhnung der Völker auf dem Boden des Antisemitismus« erreichen. Im gleichen Jahr wurden in Prag massenhaft Zettel verteilt, auf denen man z. B. in deutscher und tschechischer Sprache folgenden kläglichen Reimversuch lesen konnte:4 Herr im Himmel ists ein Leben dort tuts keine Juden geben Aber dafür hier auf Erden Tun sie immer mehre werden Alle die ihr brav und bieder nehmt den Stock und schlagt sie nieder Denn nur dann wirds Heil erstehen wenns wird keine Juden geben. Schnell radikalisierte sich diese Strömung bei den Jungtschechen. Seit 1891 waren sie im Wiener Parlament vertreten und lernten den christlich-sozialen Antisemitismus der Partei Karl Luegers kennen, der von 1897 bis 1910 das Amt des Bürgermeisters von Wien ausübte und den jungen Adolf Hitler nachhaltig beeinflußte. Als 1897 das allgemeine Wahlrecht begrenzt eingeführt wurde, mußten die Jungtschechen fürchten, in erheblichem Ausmaß Stimmen an die Sozialdemokratie abgeben zu müssen. Die Massenwirksamkeit der judenfeindlichen Agitation schien ein geeignetes Mittel, diese Tendenz wenigstens zu bremsen. Unter Leitung des Redakteurs Václav Klofáč wurden zahlreiche Gruppen und Vereine unter den Kleingewerbetreibenden und der Arbeiterschaft gegründet, die sich an einem »national-sozialen« Programm orientierten und den Boykott von Deutschen und Juden propagierten. Bald schon formierten sich diese »Nationalsozialisten«, die man trotz mancher Ähnlichkeit nicht mit der gleichna3 Stölzl, Kafkas böses Böhmen, S. 42. 4 Beide Zitate bei Stölzl, Kafkas böses Böhmen, S. 48–49.

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migen deutschen Gruppierung verwechseln darf, zu einer eigenen Partei. Ihre internationalen Verbindungen reichten bis zur zaristischen Regierung, die sie finanziell unterstützte; ihre Anhängerschaft rekrutierte sich in erster Linie aus sozial absteigenden Gewerbetreibenden, Beamten und Angestellten, aber auch aus Arbeitern. Wie die Wiener Christlich-Sozialen wurden auch sie zu einer Volkspartei. Welche Konsequenzen dies für Deutsche und Juden haben mußte, kann man sich ausmalen. Die deutschsprachige Einwohnerschaft Prags – hauptsächlich Großbürger – blieb von dieser Entwicklung nicht unbeeinflußt. Sie war ursprünglich durchaus nicht antijüdisch eingestellt, zumal ihr ja viele Juden selbst angehörten. In der liberalen Fortschrittspartei, ihrer stärksten politischen Kraft, gab es zunächst keine Diskriminierungen. Als der Liberalismus 1867 in Österreich zur vorherrschenden Richtung wurde, fielen die letzten gesetzlichen Beschränkungen für das Judentum. Die Juden revanchierten sich, indem sie den tschechischen Nationalismus heftig angriffen. Der wirtschaftliche Einbruch 1873 mit der folgenden »Großen Depression« veränderte auch dieses Kräftefeld. 1879 ging die politische Vormachtstellung des Liberalismus verloren. Es dauerte nicht lange, bis auch in den deutschen Kreisen die »Judenfrage« gestellt wurde, in der Prager Oberschicht allerdings weniger als anderswo. Einen großen Einfluß spielte hier – auf ganz Deutschböhmen bezogen – ebenfalls das Wählerreservoir, das mit der Wahlrechtsreform von 1882 und später dem allgemeinen Wahlrecht immer wichtiger wurde. Rücksichtnahme auf kleinbürgerliche Wähler und dann der zunehmende Konkurrenzdruck der Sozialdemokratischen Partei, darüber hinaus die Schwenkung, die zahlreiche Juden aus Angst vor weiteren Verfolgungen an die Seite der Tschechen machten, ließen liberale deutsche Politiker die Wirkung des Antisemitismus erproben. Nach 1900 wurden dann die Verbände der niederen Beamten und Angestellten sowie ihre nationalen Turnvereine im »Bund der Deutschen in Böhmen« zusammengefaßt, der an der »Rassenfront« kämpfen wollte; bei einigen Gruppen tauchte bereits der »Arierparagraph« auf. Viele deutsche Studenten und ihre Korporationen in Prag spielten hier im übrigen eine besonders unrühmliche Rolle. Auch völkische Arbeitervereine entstanden in dieser Zeit, die die Tschechen und Juden in dem Ziel vereint sahen, die deutsche Arbeiterschaft auszuschalten. Aus ihnen bildete sich nach dem Ersten Weltkrieg die »Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei«, deren Führer sich 1920 in Salzburg zum ersten Mal mit Adolf Hitler trafen. Auf dem Hintergrund sozialer Nöte verschärfte sich der nationale Konflikt, und es entfaltete sich bei Tschechen wie bei Deutschen »national-sozialistisches« Gedankengut. Beide sahen jeweils die Juden in der Schar ihrer Feinde. Für viele war der Jude das Symbol des Kapitalismus, der neuen, unverstandenen Zeit, in

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der die traditionelle Wertehierarchie auf den Kopf gestellt war. Wenn sie sich gegen ihn stellten, so trafen sie damit stellvertretend die ganze Moderne, die sie anders nicht zu fassen wußten. Das aufstrebende tschechische Bürgertum empfand die Juden als Konkurrenten um die Stellen in Industrie und Verwaltung. Hier fand eine neue Art des »Verdrängungswettbewerbs« statt, der uns in der Geschichte des Judentums so häufig begegnet. Und da man die Juden mit den Deutschen gleichsetzte, verdoppelte sich der soziale im nationalen Konflikt. Für die absteigenden Schichten beider Nationalitäten blieben die sozialökonomischen Ursachen dieses Prozesses im Dunkeln. Um so mehr konnte im Juden das ganze Übel personifiziert werden, wie man es aus der Vergangenheit gewohnt war und wie es die Politiker der verschiedensten Schattierungen immer wieder vormachten. Daß der Jude dabei für jede der beiden Nationalitäten jeweils an der Seite des Gegners stand, störte nicht weiter, sondern vertiefte höchstens die Vorstellung vom geheimnisvollen, skrupellosen Drahtzieher. Immerhin: nicht alle ließen sich ihre Vernunft vernebeln und verschleiern. Der Soziologieprofessor und spätere Staatspräsident der Tschechoslowakei Tomaš G. Masaryk erhob zusammen mit seiner kleinen liberalen »Realistenpartei« warnend seine Stimme gegen das sich radikalisierende antijüdische Ressentiment. Sie verhallte zunächst beinahe ungehört. Von seiten der tschechischen Studenten und aus weiten Kreisen der tschechischen Öffentlichkeit hagelte es heftige Vorwürfe: er verrate die Nation und begünstige das Deutschtum. Unterstützung fand er fast nur bei der Sozialdemokratie, der bedeutendsten politischen Kraft, die konsequent den Antisemitismus bekämpfte. Die österreichische Sozialdemokratie vereinte Deutsche, Tschechen und andere Nationalitäten unter einem Dach, wenngleich sie spätestens seit der Föderalisierung der Partei 1897 organisatorisch weitgehend getrennt waren. Internationalistisches Denken blieb hier erhalten, obwohl sich auch viele Sozialdemokraten nicht dem anwachsenden Nationalismus entziehen konnten. In Prag dominierte naturgemäß der tschechische Teil, da es nur wenige deutsche Arbeiter gab. Diese konnten sich seit 1896 in einem eigenen Bildungsverein organisieren, in dem – zu ihrer Ehrenrettung sei es gesagt – auch deutsche Studenten aktiv waren. Ein Versuch nach der Jahrhundertwende, eine eigene Gewerkschaft zu gründen, scheiterte mangels Masse. Auf die Entwicklung innerhalb der Sozialdemokratie kann hier nicht näher eingegangen werden. Zu fragen ist jedoch, wie es sich erklärt, daß tschechische wie deutsche Arbeiter an der Seite der jeweils für ihre Nationalität zuständigen völkischen Gruppen, aber auch der eher internationalistisch denkenden Sozialdemokraten zu finden waren, für die der Klassenkonflikt noch im Zentrum ihres Denkens und Handelns stand und die den »jüdischen Ausbeuter« als Einzelerscheinung und nicht als Symbol für das ganze Judentum betrachteten.

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Untersucht man, in welchen Stadtvierteln bzw. damaligen Vorstädten Prags die antijüdische und antideutsche Agitation die größte Resonanz fand, so stehen Žižkov, Vršovice, Vinohrady (Weinberge) im Mittelpunkt der Berichte, weniger Smíchov, fast gar nicht Holešovice-Bubny, Libeň und Karlín (Karolinenthal). In all diesen Vierteln wohnten Arbeiter. Nach einer mir vorliegenden Analyse der Reichstagswahl von 1907 entfielen auch gerade in den erstgenannten Bezirken mehr Stimmen auf die tschechischen Nationalsozialisten als auf die Sozialdemokraten, bestenfalls hielten sie sich die Waage. Insgesamt wird in dieser Untersuchung geschätzt, daß lediglich drei Viertel aller Arbeiter für die Sozialdemokratie stimmten. Näheren Aufschluß über das Wahlverhalten der Arbeiter gibt die Wahl ihrer Vertreter in die böhmische Unfallversicherungsanstalt: Die Fabrikarbeiter wählten vorwiegend die Sozialdemokraten, die Arbeiter im Kleingewerbe – darunter wohl viele einstige Bauern – eher die Nationalsozialisten. Anfällig für die nationalistische Ideologie scheinen darüber hinaus Teile der – durchaus gewerkschaftlich organisierten – verhältnismäßig hochbezahlten Facharbeiterschaft gewesen zu sein, die traditionell gute Beziehungen zur tschechischen Nationalbewegung hatten. Hierüber stehen die Untersuchungen erst am Anfang. Man wird sich jedenfalls hüten müssen, allzu rasch schematisch zu gliedern und etwa zu folgern, besonders die vom Land nach Prag eingewanderten Arbeiter hätten den Kern der Nationalsozialisten im Proletariat gestellt. Im Archiv der Prager Statthalterei finden sich sehr viele Polizeiberichte über Sozialisten und »Aufwiegler«, bei denen auffällt, daß sie größtenteils nicht aus Prag oder anderen Großstädten, sondern vom Land oder aus Kleinstädten kommen. Soweit man das jetzt schon sagen kann, dürften Nationalismus und Judenfeindschaft einen besonders günstigen Nährboden in einem Milieu gefunden haben, in dem auf dem Land verarmte, zuwandernde, verunsicherte – wenn man so will: entwurzelte –, unqualifizierte Arbeitskräfte auf in ihrer Existenz bedrohte oder sich bedroht fühlende Handwerker und Kleingewerbetreibende stießen, die – wie erwähnt – in Prag trotz der Industrialisierung eine vergleichsweise große Bedeutung behielten. Eben dieses Zusammentreffen geschah namentlich in den genannten Stadtvierteln, in denen sich am ehesten die aufgestauten antijüdischen Gefühle Luft machten. Die Viertel, die am Ende der Liste stehen, wurden hauptsächlich von Fabrikarbeitern mit enger Bindung an die Sozialdemokratie bewohnt; hier ging man sogar aktiv gegen Plünderer und Brandschatzer vor. In Smíchov überwog die tschechisch-nationale Arbeiterschaft. Trotzdem hielten sich hier die Ausschreitungen in Grenzen, vielleicht weil das Element des deklassierten Kleinbürgertums in diesem Bereich nicht so stark war wie etwa in Žižkov, dem Musterfall eines höchst reizbaren Milieus. Ganz wichtig für das Verhalten der Arbeiter wird auch gewesen sein, ob sie in Vereinen oder anderen Gruppen integriert waren und wie diese sich ent-

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wickelten. Die frühen Selbsthilfekassen, die Bruderschaften der Handwerkergesellen und die Arbeiterbildungsvereine gingen mehr oder weniger bruchlos in die Gewerkschaften über; in ihnen waren vor allem die höher qualifizierten Arbeiter organisiert. Die große Masse der neuen Zuwanderer stand ihnen fern, ganz ähnlich wie in anderen Industrieregionen. Das lag an der eingefahrenen Struktur der Gewerkschaften, an der Art des Arbeitsplatzes meist im Kleingewerbe, sicher auch am Bildungs- und Bewußtseinsstand. Bei der Vereinzelung, der Unsicherheit in den ungewohnten Verhältnissen und der schnellen Erregbarkeit der Zugereisten wirkten nationalistische und antijüdische Parolen besonders nachhaltig, schienen damit doch endlich greifbare Verantwortliche für deren Situation und zugleich ein einigendes Band, das ihnen gemeinsam Halt gab, gefunden. Diese Vermutungen müssen allerdings noch durch weitere Forschungen überprüft werden. Die Lage der Juden und ihre Reaktion

Auch bei den Juden rüttelte der Umbruch in dieser Industrialisierungsphase an den Grundlagen ihres Daseins. Deutlichster Ausdruck war die große »Assanierung«, als die Prager Behörden zwischen 1893 und 1905 das alte Judenghetto – »die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser« – niederreißen ließen, jenes Viertel, in dem nach einer alten Legende der von Rabbi Löw aus Lehm und Ton geformte Golem hin und wieder auftauchte, um ein großes Ereignis anzukündigen, vor einer Katastrophe zu warnen. Jetzt entstand ein Stadtteil mit hohen, nüchternen, modernen Häusern. Die Juden konnten sich damit nicht leicht abfinden: »Wir gehen durch die breiten Straßen der neu erbauten Stadt. Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assanation. Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum, selbst nur ein Spuk vergangener Zeit« – so Franz Kafka.5 Anlaß für den Abriß der alten Judenstadt – bis auf wenige Kultstätten und historische Denkmäler – waren die unerträglichen Wohnverhältnisse und die Folgen der Aufhebung des Ghettos. Das Recht, Handel zu treiben – eine Beschäftigung, der über die Hälfte der böhmischen Juden nachging –, war vor der Emanzipation an Hausbesitz gebunden; zugleich wurde den Juden jedoch 5 Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen. Frankfurt 1968, S. 116.

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zwischen 1727 und 1848 der Erwerb zusätzlicher Häuser aus christlichem Besitz verboten. Als auch die Judenstadt nicht mehr erweitert werden konnte, kam es mehr und mehr zu »Teilhäusern« mit zunehmend unübersichtlicher werdenden Besitzverhältnissen. So besaß mancher Jude hier ein Treppenhaus, dort eine Eingangstür, in einem dritten Haus den Schornstein. Weniger aufgeteilt waren natürlich die Wohnhäuser der jüdischen Oberschicht. Sie mußte sich auch nicht so beengt fühlen wie die ärmere Bevölkerung. In einem dieser Elendsquartiere war zwischen 1729 und 1790 die Zahl der Bewohner von 40 bis 50 auf 140 gestiegen. Die Situation verschlimmerte sich, als nach 1848 die letzten gesetzlichen Beschränkungen für die Juden fielen. Der industrielle Aufschwung löste auch eine größere jüdische Binnenwanderung in die Städte aus. In Prag und seinen Vorstädten wuchs die Zahl der Juden zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des 20. Jahrhunderts von 8000 auf 13000; sie stellten damit etwa 6,5 Prozent der Einwohnerschaft, während ihr Bevölkerungsanteil in Böhmen lediglich rund I,5 Prozent ausmachte (zum Vergleich: in Berlin waren 5 Prozent der Einwohner Juden, in Wien 9 Prozent, in Warschau 30 Prozent). Da die meisten Ankömmlinge zunächst auf sozial niedrigem Niveau standen, siedelten sie sich in den Slums der Josephstadt an. Die reicheren Juden verließen hingegen z. T. diesen Bezirk, um in angesehenere Stadtviertel Prags umzuziehen. Für sie strömten Tschechen in die Josephstadt. Die unübersichtlichen Besitzverhältnisse der Häuser und die immer drückender werdenden Wohnbedingungen dürften die städtischen Behörden davon überzeugt haben, daß eine Sanierung dringend notwendig war. Und wie man so etwas macht, ist ja bekannt: Man läßt alles einfach abreißen und nach dem gerade modernen Stil Neues aufbauen, ganz gleich, welche Werte für die ehemaligen Bewohner damit vernichtet werden. Ein weiterer Grund kam hinzu: In den engen Gassen hausten nicht nur arme Leute, sondern das Häusergewirr bot auch eine von der Polizei kaum noch zu kontrollierende Basis für Diebe, Räuber und Prostituierte. Die Aufhebung der Judenstadt zerstörte die Übereinstimmung der Grenzen zwischen Kultusgemeinde und Stadtbezirk. Die Veränderungen in der Sozialstruktur bedeuteten eine weitere Schwächung der religiösen Autorität. Die in den Dörfern lebenden Juden – die »Draußigen«, wie die Prager sie nannten – strömten in die Stadt, weil sie sich hier bessere Verdienst- und Aufstiegschancen erhofften, aber auch weil auf dem Land die Judenfeindschaft früher spürbar wurde. Die Hausierer oder »Dorfgeher«, die – oft in Beziehung mit dem reichen jüdischen Kaufmann in der Stadt – praktisch das Monopol im Kleinhandel besaßen, trafen auf den wachsenden Widerstand tschechischer Kleinhändler: Die Parole Svůj k svému – Jedem das Seine – fand großen Anklang. Viele Juden zogen es deshalb vor, in die Stadt auszuweichen. Auf dem Land blieben im

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wesentlichen nur die Bauern, meist Pächter; seit 1861 war den Juden das Recht auf »Besitzfähigkeit« gewährt. Die Tschechen in den Städten, gleich welcher Schicht, sahen natürlich diesen Zuzug höchst ungern. Sie betrachteten den Juden als unliebsamen Konkurrenten um die neuen Positionen und fürchteten, jene hätten die besseren Chancen wegen ihrer Beziehungen zur alteingesessenen jüdisch-deutschen Oberschicht. Die Zuwanderer gerieten demnach erneut in einen »Verdrängungswettbewerb« und gaben den unfreundlichen Gefühlen gegen sie zusätzliche Nahrung. Gewiß gelang auch einer Reihe von zugezogenen Juden in Prag der soziale Aufstieg. So schaffte Herrmann Kafka, der Vater des Dichters, der ein kleines böhmisches Dorf verlassen und sich nach verschiedenen Zwischenstationen zunächst im Prager Ghetto niedergelassen hatte, den Sprung zum Galanteriewaren-Großhändler. Andere konnten sich Industrieunternehmen aufbauen oder wurden tatsächlich durch ihre Glaubensbrüder in führende Stellungen hineingebracht. Viele jedoch sanken sozial eher ab und blieben in den Slums in der Hoffnung, ihre Kinder würden vorwärtskommen, da sie in der Stadt eine bessere Bildung als im Dorf genössen. Manche jedoch stießen die Verhältnisse in die unterste Schicht der »Schnorrers«, die dann nach der Jahrhundertwende durch den erneuten Zuzug der vor den Pogromen in Rußland flüchtenden Ostjuden erheblich vergrößert wurde. Insgesamt änderte sich in der Berufsstruktur – rein statistisch gesehen – gegenüber früheren Jahren wenig: Etwa die Hälfte der böhmischen Juden betätigte sich in Handel und Finanzen, ein Fünftel in Industrie und Gewerbe. Der Rest übte hauptsächlich freie Berufe aus, wenige wurden Beamte oder Landwirte. Die Gegensätze zwischen arm und reich verschärften sich allerdings und brachen wohl nur deshalb nicht offen aus, weil der Druck von außen die Juden zu einem Mindestmaß an Zusammenhalt zwang. Vor allem aber änderte sich das Bewußtsein. Insbesondere die jüdische Oberschicht und die Neuaufsteiger brachen mit dem orthodoxen Glauben oder verhielten sich religiös indifferent. Während früher die strenge Glaubensgemeinschaft der einzige Halt in einer feindlich gesinnten Umwelt war, erhoffte man sich nun nach der gesetzlichen Emanzipation und den erweiterten Möglichkeiten einen ökonomisch und sozial höheren Rang, eine Angleichung an die übrige, nichtjüdische bürgerliche Lebenswelt. Soweit diese Leute sich nicht Sekten anschlossen oder sogar zu einem christlichen Glauben konvertierten, entwickelten sie eine Vorliebe für den sogenannten »geregelten« Ritus, mit der die reich nuancierte Liturgie in ein einfaches Schema gezwängt wurde. Synagogen wurden zwar weiter gebaut, füllten sich jedoch nur noch an den hohen Festtagen. Diese Neuerungen stießen auf den Widerstand der Strenggläubigen, die in erster Linie aus den Mittel- und Unterschichten kamen. Ihnen gab der Glaube häufig noch den Zusammenhalt, dessen sie bedurften, so wie sie

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nach wie vor jiddisch sprachen, während die Oberschicht sich im allgemeinen deutsch ausdrückte. So geschlossen die jüdische Gemeinde nach außen wirkte, so wenig war sie es im Innern. Die Oberschicht, die sich auch kulturell mehr und mehr vom Rest der Juden abschloß, rückte immer stärker in die Nähe der Deutschen, empfand sich selbst überwiegend als deutsch. Die aufstiegsbewußte Mittelschicht orientierte sich ebenfalls zunehmend an der deutsch geprägten bürgerlichen Welt und ihren Werten. Für die Unterschicht war dies nicht so wichtig, sie lebte in anderen Bindungen. Die Umwertung der Werte durch die neue Zeit, wie sie ihren äußeren Ausdruck in der »Assanierung« des ehemaligen Ghettos fand, und vor allem der wachsende Druck von außen, die anschwellende Judenfeindschaft, blieben jedoch nicht ohne Einfluß auf das alltägliche Zusammenleben aller Juden, ihr Verhalten zueinander und zu ihrer Umwelt. Kurz vor der Jahrhundertwende erreichte der tschechische Antisemitismus einen dramatischen Höhepunkt. Die hin und wieder aufflammenden Ausschreitungen, der vereinzelte Boykott, die ständigen Hetzkampagnen, wie sie in den 70er und 80er Jahren üblich gewesen waren, kulminierten in brutaler Gewalt. Der Anlaß war der Rücktritt der Regierung Badeni in Wien im Herbst 1897. Diese Regierung hatte mit den Jungtschechen zusammengearbeitet und Sprachverordnungen erlassen, die die Zweisprachigkeit – also deutsch und tschechisch – im amtlichen Schriftverkehr einführten. Die deutschnationalen Kräfte empfanden dies als einen solchen Affront, daß sie mit allen Mitteln auf den Sturz der Regierung und die Rücknahme der Sprachverordnungen hinarbeiteten und auch Erfolg hatten. Die tiefe Enttäuschung der Tschechen und ihre Wut auf die Deutschen brach sich – aus nichtigem Anlaß – Ende November/Anfang Dezember 1897 in einem gewaltigen Sturm auf deutsche Institutionen und Geschäfte in Prag Bahn. Daß dabei die reichen Juden nicht geschont wurden, versteht sich von selbst; zu sehr identifizierte man sie mit den Deutschen. Doch schnell schlug die Stimmung der plündernden und brandschatzenden Menge in einen allgemeinen Haß auf die Juden um, in denen man den eigentlichen Drahtzieher allen Übels sah. Auch die kleinen Juden in der Josephstadt mußten nun dran glauben, obwohl sie doch mit den Deutschen wenig im Sinn hatten. Da nützte es ihnen wenig, wenn sie rasch ihren Namen tschechisierten, die tschechische Fahne ins Fenster hängten oder erklärten, sie stünden im nationalen Konflikt ganz auf der Seite der Tschechen: sie wurden mißhandelt, ihre Geschäfte und Wohnungen verwüstet, die Synagogen demoliert. Polizei und Militär wurden nur langsam Herr der Lage, schließlich wußte man sich in Wien nicht mehr anders zu helfen, als über Prag und seine Vorstädte das Standrecht zu verhängen. In dieser auch nach Beendigung des Aufruhrs anhaltenden Welle der Judenhetze wird am 1. April 1899 nahe einem kleinen nordböhmischen Dorf die neun-

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zehnjährige Häuslerstochter Anežka Hrůzová mit einer großen Schnittwunde am Hals tot aufgefunden. Täter und Motiv fehlen. Ein Prager tschechisch­ nationalistischer Redakteur spielt selbst Detektiv und weist in einem Schreiben an den christlich-sozialen Politiker und bekannten Wiener Antisemiten Ernst Schneider auf den jüdischen Schustergesellen Leopold Hilsner als Mörder hin; die zuständigen Behörden suchten nach seiner Meinung den Fall zu vertuschen. Schneider hat nichts Eiligeres zu tun, als den österreichischen Justizminister unter Druck zu setzen, und einer der bekanntesten tschechischen Politiker, der spätere Prager Bürgermeister Karel Baxa läßt sich von der Familie der Ermordeten zum Vertreter der Nebenkläger ernennen. Die tschechische und die christlich-soziale österreichische Massenpresse entfaltet eine beispiellose Kampagne, in der sehr schnell die Vermutung ausgesprochen wird, Hilsner habe einen Ritualmord an dem christlichen Mädchen begangen, ihr den Schächterschnitt am Hals angesetzt, um ihr Blut in einem Gefäß aufzufangen und damit den Türpfosten am österlichen Pesach- (Passah-) Fest zu bestreichen, wie es bis zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70 durch die Opferung des Osterlammes üblich war. Ständige Presseberichte mit den greulichsten Ausmalungen und Ausschmückungen dieser Geschichte erscheinen, ein Teil der katholischen Geistlichkeit predigt von der Kanzel über die jüdische »Blutschuld« und den Fluch, der auf den Juden laste; Flugblätter, Bildpostkarten, Hetzgedichte im Bänkelsangstil, Hilsner-Porträts und -Büsten auf den Jahrmärkten – all dies schafft ein Klima der Massenhysterie. Überall werden nun Ritualmorde entdeckt, die sich natürlich alle als Einbildung oder einfache Denunziation herausstellen, aber durch die Veröffentlichung in der Presse die Stimmung weiter anheizen. In einigen Gemeinden und Städten, vorab in der Gegend des Mordes, kommt es zu gewalttätigen antijüdischen Ausschreitungen. Die an dem Fall interessierten Journalisten bilden einen »Spezialgerichtshof«, der häufig vor den ordentlichen Behörden die Zeugen vernimmt. Auch der Prozeß im November 1899 verläuft wider alle Regeln. Die Zuhörer können im Gerichtssaal frei Zustimmungs- oder Mißfallensäußerungen von sich geben. Nebenkläger Baxa tritt als der heilige Rächer auf und beschwört, bar jeglicher Beweise, genüßlich die Szene, in der die Täter – man ging von mehreren aus – »die ehrbare christliche Jungfrau« überfielen, sie entkleideten, das Messer herausholten, was das Mädchen dabei empfand, wie sie zur »Märtyrerin« wurde. Weder die Zeugen noch das Gericht können sich der Stimmung entziehen. Hilsner wird zum Tode verurteilt. Die Öffentlichkeit jubelt. Neue antijüdische Unruhen brechen aus, auch in Prag. Die Verteidigung kann dann Gutachten vorlegen, die die Ritualmordanklage endlich so widerlegen, daß im Oktober 1900 das Verfahren in der zweiten Instanz wieder aufgenommen werden muß. Statt aus religiösen soll Hilsner nun aus sexuellen Motiven gehandelt haben, und flugs unterschiebt

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man noch den Mord an einem zweiten Mädchen aus dem Ort, der bislang ebenfalls unaufgeklärt geblieben war. Trotz fehlender Beweise verurteilt das Gericht Hilsner erneut zum Tode, ein Spruch, der kurz darauf in lebenslängliche Freiheitsstrafe umgewandelt wird. Der letzte Habsburger Kaiser, Karl I., begnadigt Hilsner schließlich kurz nach seinem Amtsantritt 1916. Nur wenige wandten sich gegen die allgemeine Meinung. Zu nennen sind Vertreter der Sozialdemokratie, zu nennen ist Masaryk, der dafür »Judenknecht« genannt wurde und aufgrund der gegen ihn gerichteten Demonstrationen tschechischer Studenten seine Lehrtätigkeit vorübergehend einstellen mußte und sogar eine Gerichtsstrafe wegen Eingriffs in ein schwebendes Verfahren erhielt. Der katholische Theologie-Professor August Rohling hatte in seinem Buch »Der Talmudjude« 1871 Anklagen wegen Ritualmordes pseudowissenschaftlich gerechtfertigt. In der österreichisch-ungarischen Monarchie gab es zwischen 1867 und 1914 zwölf solcher Verfahren. Aber nur eines endete mit einem Schuldspruch. Die judenfeindliche Welle verebbte erst nach der Jahrhundertwende allmählich, als der durch die Industrialisierung bedingte Umbruchprozeß sich seinem Ende zuneigte; zu dieser Zeit waren die Juden aus zahlreichen früheren ökonomischen Funktionen verdrängt. Die ständigen Kampagnen und Gewaltausbrüche, die sich durchaus nicht auf die beiden geschilderten Fälle beschränkten, wirkten sich auf die Judenschaft – ganz abgesehen von den jeweiligen unmittelbaren Folgen – verheerend aus. Die erste Reaktion war: Verstärkung der Assimilation, wie sie seit längerem angestrebt wurde. Ein Indiz dafür ist die 1880 eingeführte Statistik der Umgangssprache; die Angaben für die Umfragen kamen einem »nationalen Bekenntnis« gleich. In Prag bekannten sich 1890 74 Prozent der Juden zur deutschen Umgangssprache – 1900 waren es hingegen nur noch rund 45 Prozent. Die Daten signalisieren die hohe Wertschätzung des Deutschen und zugleich die Umorientierung weiter Kreise im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts. Sie wurde in erster Linie von der jüdischen Mittelschicht vollzogen. Die jiddisch sprechende Unterschicht hatte mit den Deutschen nie viel im Sinn, und die Oberschicht war zu stark in der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft eingebunden, als daß sie sich hätte anders entscheiden können. Allerdings mußte sie der wachsende deutsche Antisemitismus schmerzlich treffen. Zwar war er (noch) nicht so unmittelbar existenzgefährdend wie die tschechische Judenfeindschaft, wirkte sich aber doch schon nachteilig aus. So konnten Juden immer weniger im Staatsdienst höhere Stellen einnehmen; auch die Industrie zog zusehends »arische« Bewerber vor. Die Forderung nach dem Taufschein in den Stellenanzeigen wurde häufiger. Der Antisemitismus gab Interessierten eine einzigartige Waffe im harten Konkurrenzkampf um gutbezahlte Stellen in die Hand. Da die freien Berufe allmäh-

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lich überbesetzt waren, blieben den Juden, soweit sie nicht bereits fest im Sattel saßen, kaum noch Aufstiegsmöglichkeiten. Die meisten jüdischen Großbürger und Aufsteiger nahmen dies alles hin, gaben sich deutscher als die antisemitischen Deutschen, standen mehrheitlich nach wie vor den Liberalen nahe, ließen Demütigungen über sich ergehen. Jüdische Unternehmer stellten selbst bevorzugt »arische« Bewerber ein; deutschjüdische Couleurstudenten provozierten 1908 in einer solchen Art die Tschechen, daß erneut der Ausnahmezustand über Prag verhängt werden mußte. Lediglich eine Minderheit – namentlich aus der jüngeren Generation – näherte sich den Sozialdemokraten; jüdische Studenten gründeten 1896 einen »Verein der deutschen Arbeiter in Prag«. Die Völkischen konnten damit ihren Parolenvorrat ergänzen: Juden und »Rote« gehören zusammen. Einen anderen Weg suchten viele vorwiegend aus der Mittelschicht stammende Juden: sie erklärten sich für die Tschechen, in der Hoffnung, allmählich deren Feindschaft überwinden zu können. Mitte der 80er Jahre bildete sich sogar eine Politische Union der Tschechojuden (Politická jednota českožidovská), die in den 90er Jahren erheblichen Mitgliederzulauf hatte. Die Rechnung, sich auf diese Weise bei dem immer stärker werdenden tschechischen Nationalismus rückzuversichern, ging jedoch nicht auf, wie sich schnell zeigte. Das tschechische Bürgertum blieb bei seiner traditionell ablehnenden Haltung und sah in den Juden nach wie vor lästige Konkurrenten beim sozialen Aufstieg. Da nützten den Tschechojuden auch keine leicht durchschaubaren Anbiederungen, indem sie lautstark gegen die »deutschen« Juden zu Felde zogen. Nur für eine kurze Zeit während des Höhepunktes antisemitischer Ausschreitungen zwischen 1897 und 1900 zog eine Mehrheit der jüdischen Wähler die Konsequenz aus dem Verhalten der tschechischen Nationalisten und stimmte für die Sozialdemokratie. Das tschechische Bürgertum reagierte aus Furcht vor der »roten Gefahr« ähnlich wie die Deutschvölkischen. Für die meisten Juden war eine Annäherung an die Sozialdemokratie im übrigen keine dauerhafte Lösung, weil vor allem deren wirtschaftspolitische Vorstellungen ihren Interessen widersprachen. Das Engagement für die tschechische Nationalität stürzte zahlreiche Juden in ein tiefes Dilemma: sie konnten ihre Verwurzelung in der deutschen Kultur nicht einfach abstreifen. Obwohl sie nun doch Tschechisch als Umgangssprache deklarierten, schickten sie ihre Kinder immer noch fast ausschließlich auf deutsche Schulen. Gewiß taten sie das nicht nur aus Liebe zu Goethe und Schiller, sondern auch, weil die Kenntnis der deutschen Sprache die besseren beruflichen Möglichkeiten eröffnete, aber das Herausreißen aus den traditionellen Bindungen mußte Narben hinterlassen, ja das ständige Lavieren die Wunde immer wieder aufreißen.

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Mit dem Ausbruch des Weltkrieges verstärkten sich die Widersprüche: Die Tschechojuden stellten sich zwar an die Seite der Tschechen, wollten jedoch nicht wie diese auf die Russen als Befreier hoffen – sie wußten um die Pogrome im Zarenreich. So galten sie schnell als Feinde der Slawen, die Entfremdung wuchs, selbst Masaryks Realistische Partei – lange Zeit die einzige wesentliche integrative Organisation – wandte sich ab. Dennoch war es nicht zuletzt Masaryk, dem es nach den schweren antijüdischen Unruhen zwischen 1918 und 1920 gelang, die jüdische Problematik zu entschärfen und ein nur von der deutschen Minderheit in Frage gestelltes erträgliches Miteinander­-Auskommen von Tschechen und Juden zu erreichen. Die tschechoslowakische Verfassung räumte die Möglichkeit ein, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen. Die anfänglichen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Erfolge des neuen Staates begünstigten ein gedeihliches Klima und verstärkten die tschechojüdischen Assimilierungstendenzen. Auf diese – wenngleich höchst labile und ohnedies ja nur vorübergehende – Lösung konnte bis 1918 niemand hoffen. Die Versuche, sich Deutschen oder Tschechen zu assimilieren, waren letztlich am Widerstand des ausgewählten Partners gescheitert, auch wenn sich viele Juden darüber noch Selbsttäuschungen hingaben. Die Art dieser Versuche und die Umstände ihres Scheiterns beeinflußten Bewußtsein und Verhalten eines Großteils der Juden so stark, daß man von einer Identitätskrise sprechen muß. Gesetzliche Emanzipation und Industrialisierung hatten die Juden aus ihren gewohnten Bahnen gerissen, ihren neuen Platz in der Gesellschaft fanden sie nicht. »Weg vom Judentum (...) wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden« – so charakterisierte etwa Franz Kafka die Situation.6 Die daraus entspringenden Verhaltensweisen – einige sind bereits angeklungen – zerstörten die Gemeinschaft der Juden weiter, als sie es ohnehin schon war, und schufen dennoch nur Mißtrauen und Verachtung bei Tschechen und Deutschen. Manche Juden nährten geradezu das Bild, das von ihnen entworfen worden war, wenn sie selbst vom »rassenmäßig unvermischten Judentum« sprachen,7 wenn sie selbst in ihren Schriften den Drang nach oben propagierten, der ihnen schnell zum Bösen ausgelegt werden konnte. In dieser Zeit der tiefen Verunsicherung verbreitete sich sogar ein jüdischer Antisemitismus, meist aus durchsichtigem Opportunismus, vielleicht aber auch durch Verinnerlichung der ständigen Diskriminierungen. Völkisch-antisemitische Schriften wurden vielfach gerade 6 Franz Kafka, Briefe 1902–1924. Frankfurt 1958, S. 337. 7 Zitiert bei Stölzl, Kafkas böses Böhmen, S. 124.

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von – meist zu den Deutschen neigenden – Juden am eifrigsten beklatscht oder offen judenfeindliche Gruppierungen durch Spenden jüdischer Geschäftshäuser mitfinanziert. Dieser scheinbare Ausweg, der den übermächtigen Druck der Umwelt wenigstens für einzelne mildern sollte, führte zum Haß vieler Juden auf sich selbst und andere Juden, zum Verlust der Selbstachtung eines Kollektivs, dessen Kraft zur Prägung einer spezifisch »jüdischen Atmosphäre« Prags oft beschworen wurde. Franz Kafka reflektierte dies bis zur extremsten Konsequenz: »... manchmal möchte ich sie eben als Juden (mich eingeschlossen) alle etwa in die Schublade des Wäschekastens dort stopfen, dann warten, dann die Schublade ein wenig ausziehen, um nachzusehen, ob sie schon alle erstickt sind, wenn nicht, die Lade wieder hineinschieben und es so fortsetzen bis zum Ende.«8 Neben den bereits angesprochenen Formen äußerte sich der jüdische Selbsthaß in Verachtung und Beschimpfung der Ostjuden – bis zum »Ungeziefer«; in Abscheu vor dem Milieu, in dem man wohnte, ja gerade vor Prag und seiner »jüdischen Atmosphäre«; in der Abneigung vieler reicher gegenüber den armen Juden, weil diese sie angeblich diskreditierten; im Widerwillen gegenüber allem der Jugend gegenüber ihren Eltern, weil diese als Unternehmer die Arbeiter schlecht behandelten und in ihrem Opportunismus – mal deutsch, mal tschechisch – jegliche Selbstachtung zerstörten. Diejenigen, die den überlieferten Weg der Assimilation bis zur Selbstaufgabe und Selbsterniedrigung nicht mehr gehen wollten, flüchteten häufig in Versuche, produktive Arbeit zu leisten, statt in des wohlhabenden Vaters Fußstapfen zu treten. Nur wenige gingen allerdings so weit, im Sozialismus die Rettung zu sehen und sich aktiv in einer entsprechenden Organisation zu engagieren. Andere suchten in einer Rückbesinnung auf die jüdische Vergangenheit und im Mystizismus eine Lösung ihrer Probleme. Am meisten Anziehungskraft übte noch der Zionismus aus, der die Anerkennung der Juden als dritte böhmische Nationalität und eine Minderheitengesetzgebung forderte, daneben die Judenstaatsidee propagierte. In erster Linie fanden die Zionisten seit der Zeit kurz vor der Jahrhundertwende ihre Anhänger unter den jüdischen Studenten an der Prager deutschen Universität; unter den tschechisch sprechenden Juden kam die Bewegung langsamer voran. Durch den Einfluß Martin Bubers entwickelte sich die »Prager Richtung im Zionismus« seit 1908 weniger aggressiv als anderswo, setzte versöhnliche Akzente und stellte die geistige Erneuerung in den Vordergrund. Dennoch ist nicht zu übersehen – zumal die Bubersche Richtung auch in Prag nicht die einzige war –, daß der Zio-nismus in Ideologie, Argumentation und Organisationsformen – z. B. in den national-jüdischen Turnvereinen – viele Anleihen bei den Völkischen machte, 8 Franz Kafka, Briefe an Milena. Frankfurt 1952, S. 57.

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in manchem ein Spiegelbild des nationalistischen Antisemitismus bildete. Aus dem Geist der Zeit, der auf nichtdurchschaute soziale und ökonomische Prozesse, auf die Umwertung der Werte mit Zivilisationskritik und Nationalismus reagierte, konnte er sich nicht befreien. Schluß

Die Juden standen wie ihre Gegner der neuen Zeit hilflos gegenüber. Sie verloren ihre traditionellen Bezugspunkte, ihren Halt. Ihre Gemeinschaft zerfiel mehr und mehr. Schon in der Vergangenheit waren sie kaum in die gewohnten Kategorien Nation, Religionsgemeinschaft, fest umrissene Gruppe einzuordnen gewesen, »sie waren von all dem etwas und doch keines von ihnen«.9 Allein deshalb wirkten sie auf die Nichtjuden unheimlich. Und wozu wurden sie jetzt, unter den neuen Bedingungen der gesetzlichen Gleichheit und der ökonomischen Veränderungen? Die Juden wußten es selbst nicht. Ihre ursprünglichen Strategien scheiterten, neue boten bis auf wenige Ansätze keine echten Alternativen, um allen Juden ihre historische und soziale Identität zu geben und die Judenfeindschaft zu überwinden. Deutscher wie tschechischer Antisemitismus trafen sich im Verdrängungswettbewerb um die neuen Stellen in Industrie und Verwaltung. Der tschechische war aggressiver, weil hier der Konkurrenzkampf mit der nationalen Auseinandersetzung verknüpft war; damit wurde der Jude, identifiziert mit dem Deutschen, ein doppelter Gegner. Diese Besonderheit gilt es deutlich herauszustellen. Die gewaltigen Umbrüche, die von der Industrialisierung ausgingen, erzeugten Furcht, Neid, Egoismus und Opportunismus. Man begriff die Welt nicht mehr und fand in den Juden eine greifbare Personifizierung allen Übels. Je weniger sich die Juden selbst verstanden, je mehr ihre Verhaltensweisen denen ihrer Feinde ähnelten, um so unheimlicher wurden sie, um so eher projizierten jene alles Schlechte aus sich selbst in sie hinein. In diesem erregten Klima genügte der geringste Anlaß für einen Ausbruch der Gewalt. Nur eine Minderheit widerstand dem Judenhaß, der »das Denken der bedrückten und in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Existenz bedrohten Menschen auf falsche Bahnen« lenkte, wie es 1912 ein führender tschechischer Sozialdemokrat ausdrückte.10 Daß nicht immer und unbedingt die Juden in dieser Funktion Objekt handfester politischer und wirtschaftlicher 9 František Graus, Prolegomena zu einer Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern. Judaica Bohemiae 3 (1967), S. 81. 10 Bohumil Šmeral, zitiert bei Stölzl, Kafkas böses Böhmen, S. 86.

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Interessen sein müßten, erkannte schon 1883 ein jüdischer Politiker: »Was man den Juden nehmen kann, obwohl es ihnen in den Verfassungen verbürgt ist, die persönliche Sicherheit, den gleichen Anspruch auf Pflicht und Recht im Staate, das nimmt man gelegentlich auch den übrigen, denen es ja ebenfalls nur durch die Verfassung verbürgt ist.»11 Literaturhinweise Lesenswerte einführende Gesamtüberblicke liefern Christoph Stölzl, Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden. München 1975; ders., Zur Geschichte der böhmischen Juden in der Epoche des modernen Nationalismus. Bohemia 14 (1973), S. 179–221, 15 (1974) S. 129–157; Ruth Kerstenberg-Gladstein, The Jews between Czechs and Germans in the Historic Lands, 1848–1918. In: The Jews of Czechoslovakia. Historical studies and surveys. Bd. 1, Philadelphia, New York 1968, S. 21–71; in diesem Band, wie in Bd. 2, Philadelphia, New York 1971, finden sich weitere interessante Aufsätze; Michael A. Riff, Czech antisemitism and the Jewish response before 1914. The Wiener Library Bulletin 29 (1976), S. 8–20; Gary B. Cohen, Jews in German society. Prague, 1860–1914. In: David Bronsen (Hg.), Jews and Germans from 1860 to 1933. The problematic symbiosis. Heidelberg 1979, S. 306–337; in diesem Sammelband regt eine Reihe von Aufsätzen zum Vergleich der Prager Verhältnisse mit denen in Wien und im Deutschen Reich an. Wichtige Analysen zum Prager Geistesleben enthält das Buch: Eduard Goldstücker (Hg.), Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin, Neuwied 1967. Über die sozialökonomischen und demographischen Veränderungen informieren: Ludmila Kárníková, Vývoj obyvatelstva v českých zemích 1754–1914 (Die Entwicklung der Einwohnerschaft in den böhmischen Ländern 1754–1914). Prag 1965; Pavla Horská, On the problem of urbanization in the Czech lands at the turn of the 19th and 20th centuries. Hospodářske dějiny (Wirtschaftsgeschichte), (1978), Nr. 2, S. 259–294; Jan Havránek, Social classes, nationality ratios and demographic trends in Prague 1880–1900. Historica 13 (1966), S. 171–208; ders., Die soziale Struktur von Prag in den Jahren 1869–1921 im Vergleich zu Budapest. Tanulmányok Budapest múltjaból 20 (1974), S. 124–128; Jaroslav Purš, The situation of the working class in the Czech Iands in the phase of the expansion and completion of the Industrial Revolution (1849–1871). Historica 6 (1963), S. 145–237; Vlastimíla Křepeláková, Struktura a sociální postavení dělnické třídy v Čechách 1906–1914 (Struktur und soziale Stellung der Arbeiterklasse in Böhmen 1906–1914). Prag 1973; Harald Bachmann, Die Handels- und Gewerbekammern Prag und Reichenberg und der bürgerliche Wirtschaftsnationalismus als sozialgeschichtliches Problem. Bohemia 14 (1973), S. 278–288. Schwerpunktmäßig die politische Entwicklung behandelt Friedrich Prinz, Die böhmischen Länder von 1848 bis 1914. In: Karl Bosl (Hg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 3, Stuttgart 1968, S. 1–235. Zur Geschichte der böhmischen Arbeiterbewegung sind für einen ersten Zugang heranzuziehen: Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die 11 Gerson Wolf, Die Juden. Wien, Teschen 1883, S. 164 (aus der Schlußbetrachtung von Wilhelm Goldbaum).

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Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. Das Ringen um die supranationale Integration der cisleithanischen Arbeiterbewegung 1867–1907. Wien 1963; Jiří Kořalka, Erste Sozialisten in Nordböhmen im Verhältnis zur Eisenacher Sozialdemokratie und zur tschechischen Nationalbewegung 1868–1870. Archiv für Sozialgeschichte 8 (1968), S. 285–347; Zdeněk Šolle, Dělnické stávky v Čechách v druhé polovině XIX. století (Arbeiterstreiks in Böhmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Prag 1960. Interessante Angaben über Arbeitervereine machen speziell Jana Fleglová, Ke společenskému žívotu pražského dělnictva na konci 19. a v prvních letech 20. století (Zum geselligen Leben der Prager Arbeiterschaft am Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts). Etnografie dělnictva 5 (1975), S. 12–73; lvan Otcovský, Přehled o rozvoji německých dělnických spolkúv Čechách koncem 19. století. Materiálová studie (Übersicht über die Entwicklung der deutschen Arbeitervereine in Böhmen am Ende des 19. Jahrhunderts). Sborník k dějinám 19. a 20. století 4 (1977), S. 86–122. Die Haltung Masaryks und die Zeit nach 1918 beschreibt Christoph Stölzl, Die »Burg« und die Juden. T. G. Masaryk und sein Kreis im Spannungsfeld der jüdischen Frage. Assimilation, Antisemitismus und Zionismus. In : Karl Bosl (Hg.), Die »Burg« Einflußreiche politische Kräfte um Masaryk und Beneš. Bd. 2., München, Wien 1974, S. 79–110. Die beste Darstellung des Ritualmordprozesses bietet noch immer Arthur Nussbaum, Der Polnaer Ritualmordprozeß. Eine kriminalpsychologische Untersuchung auf aktenmäßiger Grundlage. Berlin 2. Aufl. 1906. Das jüdische Verhalten beleuchtet vergleichend Hans-Dieter Hellige, Generationskonflikt, Selbsthaß und die Entstehung antikapitalistischer Positionen im Judentum. Der Einfluß des Antisemitismus auf das Sozialverhalten jüdischer Kaufmanns- und Unternehmersöhne im Deutschen Kaiserreich und in der K. u. K.-Monarchie. Geschichte und Gesellschaft 5 (1979), S. 476–518. Der Beitrag ist im Zusammenhang meines Forschungsvorhabens »Stadt und Land während der Industrialisierung. Vergleichende Untersuchungen zu Deutschland, Ostmitteleuropa und Rußland« entstanden, das von der Stiftung Volkswagenwerk im Rahmen ihres Habilitierten­ Förderungsprogramms finanziert wird. Meinen Prager Kollegen und den Mitarbeitern des Státní ústřední archiv (Zentralen Staatsarchivs) danke ich für wertvolle Hinweise und vielfältige, großzügige Hilfe.

Zionismus und die Krise jüdischen Selbstverständnisses Tradition und Veränderung im Judentum*

Theodor Herzl war während des Ersten Zionistenkongresses vom 29. bis 31.  August 1897 in Basel und auch auf der Rückreise viel zu erschöpft, um seinem Tagebuch – bis auf eine kurze Notiz am Morgen des 30. August – Einzelheiten anzuvertrauen. Erst als er wieder in Wien eingetroffen war, nahm er am 3. September seine Aufzeichnungen wieder auf. Die ersten Reaktionen auf den Kongress hatten ihm gezeigt, »dass unsere Bewegung in die Geschichte eingetreten ist. Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.«1 Herzl sollte recht behalten. Die zionistische Bewegung wuchs nach bescheidenen Anfängen zu einem geschichtsmächtigen Faktor, und nur wenig mehr als 50 Jahre waren vergangen, als am 29. November 1947 die Vollversammlung der Vereinten Nationen der Bildung eines jüdischen Staates – und zugleich der Teilung Palästinas – zustimmte und am 14. Mai 1948 David Ben Gurion die Unabhängigkeitsurkunde Israels verlas. Herzls Feuer, seine unermüdliche Aktivität, seine mitreißende Rhetorik und sein unerschütterlicher Glaube an die baldige Verwirklichung der zionistischen Idee verhalfen der Bewegung zum Durchbruch und gaben ihr eine Kraft, die alle Hindernisse überwinden sollte. Von den Anfängen des mit Herzls Namen verbundenen Zionismus bis heute ist er umstritten, innerhalb wie außerhalb des Judentums. Er bedeutete einen radikalen Bruch: Für ein Volk, das über die ganze Welt verstreut war, sich in der Diaspora, im Exil verstand und nicht in die gängigen Begriffe einer politisch * Erstpublikation in: Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus. Hg. von Heiko Haumann. Weinheim 1998, S. 9–64 [leicht gekürzt]. 1 Theodor Herzl: Tagebücher. Buch 5, 3.9.1897. In: Central Zionist Archives (im folgenden CZA), HII B2 5/H 75, S. 49–50. Publiziert z. B. in Theodor Herzl: Briefe und Tagebücher. Hg. von Alex Bein u. a. Bd. 2. Berlin, Frankfurt a. M., Wien 1983, S. 538–539. – In diesem Beitrag greife ich Überlegungen meiner Einführung des Bandes auf, der die Ausstellung in Basel zum Jubiläum des Ersten Zionistenkongress begleitet: Heiko Haumann zusammen mit Peter Haber, Patrick Kury, Kathrin Ringger und Bettina Zeugin (Hg.): Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. »... in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« Basel 1997 (im folgenden: Begleitbuch zur Ausstellung). Auf diesen Band ist auch weiterhin immer wieder zurückzugreifen.

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handelnden Einheit hineinpasste,2 wurde der Anspruch erhoben, doch eine gemeinsame, einheitliche Nation zu sein und das Recht auf eine »Heimstätte« in Palästina zu haben.3 Trotz dieses Bruches sah sich der Zionismus in der jüdischen Tradition, wollte den alten Traum von der Rückkehr nach Zion und der messianischen Erlösung endlich verwirklichen. Die Zionssehnsucht ist so alt wie die Zeit seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 und der darauf folgenden allmählichen Zerstreuung der Juden über die ganze Welt. Zion war ursprünglich die Bezeichnung für einen Hügel Jerusalems, dessen Burgfeste nach der Eroberung durch David »Davidsstadt« genannt wurde. Mit ihrer Erweiterung dehnte sich auch der Zionsbegriff auf den Tempelberg und sein Heiligtum auf. Später stand Zion dann für ganz Jerusalem, ja für das Land Israel.4 Die Hoffnung auf eine Rückführung der Juden nach Erez Israel blieb lebendig, drückte sich in Gebeten oder auch in der Wunschformel »Nächstes Jahr in Jerusalem!« aus und verband sich vielfach mit messianischen Vorstellungen. Auf dem Berg Zion werde der Mensch Gott begegnen. Wenn die Juden wieder in Israel vereinigt seien, werde der Messias erscheinen, den Tempel und das jüdische Königreich wiedererrichten sowie den Juden und der ganzen Welt Frieden schenken, sie erlösen.5 »Denn Zion verkör2 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemtismus, Imperialismus, Totalitarismus. 5. Aufl. München, Zürich 1996, S. 38, 45 ff.; dies.: Die Krise des Zionismus. Essays & Kommentare 2. Hg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann. Berlin 1989; vgl. Zygmunt Baumann: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust. Hamburg 1992, S. 66 ff. 3 So das »Baseler Programm«. Entwurf in: CZA, DD A2/1/1/1, verabschiedete Fassung: Zionisten-Congress in Basel (29., 30. und 31. August 1897). Officielles Protocoll. Wien 1898, S. 114, 119. 4 Julius H. Schoeps (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh, München 1992, S. 493. Vgl. Jesaja 1, 27 zur Gleichsetzung von Zion und Israel, auch 2, 2–4. Grundlegend Alex Bein: Von der Zionssehnsucht zum politischen Zionismus. In: Hans Tramer, Kurt Loewenstein (Hg.): Robert Weltsch zum 70. Geburtstag von seinen Freunden. 20. Juni 1961. Tel Aviv 1961, S. 33–63; David Biale: Das Wort geht aus von Zion. Die religiösbiblischen Grundlagen der jüdischen Geschichte Jerusalems. In: Hendrik Budde, Andreas Nachama (Hg.): Die Reise nach Jerusalem. Eine kulturhistorische Exkursion in die Stadt der Städte. 3000 Jahre Davidsstadt. Eine Ausstellung der 9. Jüdischen Kulturtage in der Großen Orangerie Schloss Charlottenburg Berlin. Berlin 1995, S. 2–10; Marianne Awerbuch: Zionsliebe – Zionssehnsucht. Ebd., S. 44–49; Paul Mendes-Flohr: Zion und die Diaspora. Vom babylonischen Exil bis zur Gründung des Staates Israel. In: Andreas Nachama u. a. (Hg.): Jüdische Lebenswelten. Essays. Frankfurt a. M. 1991, S. 257–284. 5 Vgl. Ekkehard Stegemann (Hg.): Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen. Stuttgart u. a. 1993. Beispiele für Zionsreisen bei Awerbuch: Zionsliebe; Wolf Kaiser: Das »heilende Bad der Seele« und das »Wunder im Dünensand«. Jerusalem und Tel Aviv in deutschsprachigen Reisebeschreibungen. In: Menora 5 (1994) S. 197–229 (vgl. seinen in Anm. 81 zit. Aufsatz). Die Verbundenheit mit Zion drückte sich auch in Unterstützungsleistungen an

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pert nicht nur den jüdischen Ursprung und die jüdische Einheit. Es ist auch das Symbol der Erlösung, das die jüdische Identität auf ihr höchstes Ziel ausrichtet und ihm ihre eigentliche Bedeutung verleiht.»6 Vor allem in Umbruchzeiten verbreitete sich mehrfach in der Geschichte der Glaube, die Ankunft des Messias stehe unmittelbar bevor oder er sei bereits erschienen und werde in Kürze das Werk der Erlösung vollenden: etwa David Rubeni zwischen 1520 und 1532, Sabbatai Zvi (1626–1676) oder Jakob Frank (1726–1791).7 Immer wieder verkauften in solchen Zeiten Gläubige all ihr Hab und Gut, um in das Gelobte Land zu reisen und dort den Messias zu erwarten. Eine kleine jüdische Gemeinde bestand ständig in Israel, das seit 135 Palästina genannt wurde, namentlich in Jerusalem, Hebron, Safed und Tiberias. Für fromme Juden bedeutete es die Erfüllung eines Lebenszieles, wenn es ihnen gelang, einmal dorthin zu reisen, die Heiligen Stätten zu sehen, vielleicht sogar hier begraben zu werden, zumindest aber ein Säckchen Erde mit nach Hause zu nehmen.8 Eine Masseneinwanderung oder gar der Wunsch, durch die Bildung eines neuen jüdischen Reiches in Erez Israel die Juden aus der Diaspora zu befreien und die Erlösung aus eigener Kraft zu bewerkstelligen, war damit allerdings nicht verbunden. Dies hätte dem religiösen Verständnis widersprochen, dass der Mensch nicht Gottes Wille vorgreifen dürfe. Insofern entsprangen die zahlreichen Projekte für einen »Judenstaat«, über die wir seit dem Mittelalter unterrichtet sind, überwiegend keiner religiösen Juden in Palästina aus. So berichtet »Das Protokoll der Versammlung der Gemeindevorsteher in Niederehnheim vom 21. Ijar 5537 (28. Mai 1777)« (bearb. von Joseph Bloch. Sonderabdruck aus der »Tribune Juive«. Strasbourg 1934) in § 30, dass das »Machazith haschekel-Geld«, die Gabe, die am Purimfest für Palästina gespendet werde, diesmal nur schlecht eingehe. Ich danke Uri Kaufmann für den Hinweis auf die Quelle. 6 Michael A. Meyer: Jüdische Identität in der Moderne. Frankfurt a. M. 1992, S. 136, vgl. S. 83, 108. Als ein Beispiel, auf welchen Wegen die Zionssehnsucht wirkte, sei das Buch des stark vom Chassidismus beeinflussten Philosophen Leo Schestow (Lev Isaakovič Švarcman, 1866–1938) genannt: Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen Philosophie. München 1994. 7 Haim Hillel Ben-Sasson (Hg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1992, S. 856–864, 939–940; Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Frankfurt a. M. 1992; Heiko Haumann: Erlösung und Verstörung. In: ZeitSchrift für Kultur, Politik, Kirche (Reformatio) 43 (1994) S. 187–193; zu Frank vgl. Anm. 11. Es ist kein Zufall, dass der aus Prag stammende und vom Zionismus beeinflusste Dichter Max Brod (1884–1968) eine dieser Bewegungen als »blutsverwandte Seele« literarisch verarbeitete: Rëubeni, Fürst der Juden. Ein Renaissance-Roman. Frankfurt a. M. 1979 (Erstausgabe 1925), Zitat S. 423. Vgl. allgemein Mark H. Gelber: Max Brod’s Zionist Writings. In: Leo Baeck Institute (LBI) Year Book 33 (1988) S. 437–448. 8 Vgl. die Hinweise in Anm. 5 oder auch die Legende von der Reise des Baal Schem-Tow (Martin Buber: Die chassidischen Bücher. Berlin [1931], S. 192–197).

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Strömung im Judentum. In der Regel waren dies eher abenteuerliche Pläne einzelner. Christen wollten auf diese Weise die Juden zusammenfassen, sozusagen ein Groß-Ghetto bilden, oder sie einfach loswerden. Trug einmal ein Jude selbst eine derartige Idee vor, wollte er Abhilfe vor Bedrückung und Verfolgung schaffen. Nur vereinzelt ging es darum, die Ankunft des Messias durch die Staatsbildung vorzubereiten.9 Eine gewisse Sonderstellung nahm das Siedlungsprojekt ein, das Dona Gracia und ihr Schwiegersohn Don Josef Nassi während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Tiberias vorantrieben. Die beiden aus Spanien vertriebenen Juden lebten am Hof des osmanischen Sultans, Nassi stieg vom Steuerpächter zum Financier des Sultans auf und wurde 1556 zum Herzog von Naxos erhoben. In Tiberias entstand vorübergehend eine halbautonome, blühende Gemeinde in der Erwartung, dass von hier die Erlösung Israels ausgehen werde.10 Dies begann sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu ändern. In der Bewegung um den »falschen Messias« Jakob Frank, den »wahren Jakob«, drückte sich nicht nur das Streben nach einer Überschreitung der bisher durch Glauben und Tradition gesetzten Grenzen oder gar – verschwommen – nach einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus, sondern auch die Vorstellung, man könne die Erlösung erzwingen: Frank lehrte in übersteigerter Fortsetzung kabbalistischer Lehren und der Bewegung um Sabbatai Zvi, die Menschen müssten die Sünde bis zum tiefsten Punkt auskosten, um das Böse von innen her zu überwinden und damit die Erlösung herbeizuführen, die noch während des Exils der Juden kommen werde. Hierin drückte sich in extremer Weise die aktivistische Wende im Judentum aus, die auf die Haskala, die jüdische Aufklärung, auf das Reformjudentum, den Weg zur Assimilation und zur Säkularisierung, zur Abwendung von der Religion, ebenso ausstrahlte wie auf das Nationaljudentum und den Zionismus.11 9 N. M. [Nathan Michael] Gelber: Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695–1845. Hg. im Auftrag der Exekutive der zionistischen Weltorganisation, London 1927. Wien 1927. 10 Ben-Sasson: Geschichte, S. 777–779, 804; Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 1985, S. 148. 11 Vgl. Heiko Haumann: Der »wahre Jakob«. Frankistischer Messianismus und religiöse Toleranz in Polen. In: Michael Erbe u. a. (Hg.): Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg. Mannheim 1996, S. 441–460. Den Zusammenhang mit dem Zionismus, etwa über Salman Rubaschow (1889–1974, als Salman Schasar von 1949 bis 1950 Erziehungsminister und von 1963–1973 Staatspräsident Israels) betont Gershom Scholem: Judaica 5. Erlösung durch Sünde. Hg. von Michael Brocke. Frankfurt a. M. 1992, S. 20–21 (selbst zu Herzls »Altneuland« sind Linien zu ziehen, S. 137). Israel Zangwills letzter, unvollendet gebliebener Roman beschäftigte sich mit dem »Baron von Offenbach«, Jakob Frank (Herbert

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Gewiss kam diese Wende nicht unvorbereitet, es gab – nicht zuletzt in der Kabbala – eine Tradition, sich aus eigener Kraft aus den Fesseln der Autoritäten zu befreien.12 Doch jetzt, in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, erwuchs daraus eine auch nach außen gerichtete Strömung. Selbst die Chassidim wurden davon erfasst. Der Chassidismus, die »Bewegung der Frommen«, war von Israel ben Elieser (1700–1760) im damaligen Polen begründet worden. Dieser Baal Schem Tow – der Meister des heiligen, nämlich Gottes Namens – hatte gelehrt, dass in jedem Menschen selbst die Erlösung stecke und es deshalb auf die innere Wende ankomme. Eine Massenbewegung neuer Volksfrömmigkeit war die Folge gewesen.13 Aber schon der Baal Schem Tow soll versucht haben, durch die Macht seiner Gebete Gott zu zwingen, die Welt zu erlösen. Noch stärker wurde dieser Wunsch nach der Französischen Revolution und während der verheerenden Kriege, die auf sie folgten. Weit verbreitet war die Meinung, die Endzeit sei nahe. Die Lebenswelten vieler Menschen gerieten aus den Fugen. Sie suchten in dieser gesellschaftlichen Krise nach einer Orientierung, die ihrem Leben Sinn verleihen konnte. Gerade unter den Chassidim wuchs die Überzeugung, Napoleons Feldzüge gingen gemäß der biblischen Prophezeiung dem Kommen des Messias voran. Drei ihrer damals bedeutendsten Zaddikim beschlossen, durch eine Vereinigung ihrer Gebete Gott dazu zu bringen, sofort den Erlöser zu senden, starben jedoch, bevor sie ihr Vorhaben ausführen konnten. Manche sahen darin eine Strafe Gottes.14 Der Wille Tauber: Nachwort. In: Israel Zangwill: Der König der Schnorrer. Roman. München 1994, S. 219–253, hier S. 245. Vgl. auch Abraham G. Duker: Polish Frankism’s Duration: From Cabbalistic Judaism to Roman Catholicism and from Jewishness to Polishness. A Preliminary Investigation. In: Jewish Social Studies 25 (1963) S. 287–333, hier S. 296–297 zu dem amerikanischen Zionisten Louis D. Brandeis (1856–1941). Vgl. Anm. 46 (Karl Lippe zur aktivistischen Wende). 12 Vgl. Israel Jacob Yuval: Magie und Kabbala unter den Juden im Deutschland des ausgehenden Mittelalters. In: Karl E. Grözinger (Hg.): Judentum im deutschen Sprachraum. Frankfurt a. M. 1991, S. 173–189, hier bes. S. 181–184; ein Beispiel bei Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1990, S. 382. 13 Simon Dubnow: Geschichte des Chassidismus. 2 Bde. Berlin 1931 (ND Königstein 1982); Karl E. Grözinger: Die Hasidim und der Hasidismus. In: Michael Brocke (Hg.): Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Frankfurt a. M. 1983, S. 131–153; ders.: Chasidismus, osteuropäischer. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 17. Berlin, New York 1988, S. 377–386; Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 3. Aufl. München 1991, S. 43–57. 14 Dubnow: Geschichte des Chassidismus, Bd. 2, S. 234–235, 243–253, vgl. 202, 209, 263–270. Literarisch hat Martin Buber diesen Vorgang gestaltet: Gog und Magog. Eine chassidische Chronik. 4. Aufl. Gerlingen 1991. Zu dieser aktivistischen Wende gehört auch der entgegengesetzte Weg, nämlich der etwa von Rabbi Meir von Przemyschlany geäußerte Wunsch, der Messias solle nicht kommen, wenn er »Leid und Not über die Welt

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nach aktiver Beschleunigung der Heilsentwicklung war jedoch unübersehbar und hing eng mit den tiefgreifenden Veränderungen in Wirtschaft und Politik, im Denken und Verhalten der Menschen zusammen. Im 19. Jahrhundert verstärkten sich diese Tendenzen: Die Folgen der Aufklärung, die Säkularisierung, die Ansätze zur rechtlichen Emanzipation der Juden, begleitet von wachsendem Antisemitismus, entstehende Formen eines Nationalbewusstseins, das die Juden als Nichtzugehörige auszugrenzen suchte, die Industrialisierung und die mit ihr verbundenen sozialen Umwälzungen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Juden selbst und auf die Haltung der nichtjüdischen Umwelt ihnen gegenüber. Die Frage einer rechtlichen Gleichstellung der Juden war vielfach damit verknüpft, dass sie ihnen nur dann gewährt werden sollte, wenn sie ihre jüdische Kultur und Eigenständigkeit aufgaben. Diese galt, nach einem damals verbreiteten Bild der »Zivilisation« und des entsprechenden Menschen, als zurückgeblieben, geprägt von Aberglauben und Vorurteilen. Die erwartete Assimilierung bedeutete somit zugleich eine »Kolonialisierung« der traditionalen Lebenswelten.15 Aus ganz unterschiedlicher Motivation wurzelten in diesem Prozess neue Judenstaatsprojekte. Eine Richtung kann exemplarisch an den Dekabristen verdeutlicht werden. Diese russische Verschwörergruppe, die nach ihrem Aufstand vom Dezember (dekabr’) 1825 ihren Namen erhielt, wollte den Zaren stürzen und eine konstitutionelle Monarchie oder gar Republik einrichten. Bei ihren Reformprojekten für den zukünftigen Staat beschäftigten sich einige von ihnen auch mit der – für Russland erst seit dem Territorialgewinn durch die Teilungen Polens zwischen 1772 und 1815 aktuellen – »Judenfrage«. Eine radikale Lösung schlug Pavel Pestel’ (1793–1825) vor. Er betrachtete die Juden als Hindernis für einen fortschrittlichen Staat, weil ihre Loyalität untereinander höher sei als gegenüber dem Gemeinwesen, weil die Rabbiner zu viel Macht hätten und alle aufklärerisch-integrierenden Elemente fernhielten, schließlich weil sie sich als auserwähltes Volk und daher allen anderen überlegen fühlten. Falls es nicht gelinge, von den Rabbinern und sonstigen Führern der Juden eine Zusage zu erhalten, mit der Regierung zusammenarbeiten zu wollen, bleibe nur ein Weg: die Juden zu vertreiben, am besten nach Kleinasien, wo sie einen unabhängigen Staat bilbringen« wolle (Chajim Bloch: Chassidische Geschichten. Wiesbaden 1986, S. 247–248, Zitat S. 248). 15 Zum Begriff »Kolonialisierung« Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1988, S. 293; zum Vorgang: Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 76–82, 87–88. Unter »Lebenswelt« verstehe ich die Schnittstelle zwischen individuellen Gefühlen, Wahrnehmungs, Denk- und Verhaltensweisen auf der einen Seite und strukturellen Einflüssen sowie einem Netz gesellschaftlicher Beziehungen, Zusammenhänge und Mechanismen auf der anderen.

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den könnten. Grigorij Perez, ein anderer Dekabrist und Sohn eines getauften Petersburger Hofjuden, sah noch einen Staat auf der Krim als Alternative.16 Andere Judenstaatsideen entstanden aus messianistischen Hoffnungen: Wenn es gelinge, die Juden wieder in ihrem angestammten Staat zu vereinen, werde endlich die Erlösung der Welt eintreten. Interessanterweise verband sich etwa der polnische Messianismus – der, wie es vor allem der Dichter Adam Mickiewicz (1798–1855) formulierte, die Befreiung Polens als Voraussetzung der Befreiung der Menschheit ansah – mit derartigen Überlegungen.17 Später, zu Beginn der achtziger Jahre, sollte der Lemberger Alfred Nossig (1864–1944) in Fortsetzung dieser polnisch-jüdischen Symbiose im Zeichen des Messianismus Polen als das wiedergeborene Israel preisen; der Aufstand der Makkabäer entspreche dem Freiheitskampf der Polen. Aus Enttäuschung über die mangelnde Resonanz dieses Akkulturationsstrebens und über die wachsende Judenfeindschaft wurde Nossig zu einem zionistischen Nationalisten und befürwortete seit 1886 die Bildung eines Staates in Palästina.18 Auch christliche Gruppen förderten das Projekt eines Judenstaates. Teilweise verbanden sich derartige Bestrebungen mit Überlegungen zur Judenmission, etwa bei der »London Society for Promoting Christianity among the Jews« oder bei der Basler Mission und dem »Verein der Freunde Israels»: Werde die Zionssehnsucht, die Erwartung des Messias, erst einmal unter den Juden so stark, dass sie sich zu einem eigenen Staatswesen in Israel zusammenschlössen, falle es leichter, sie davon zu überzeugen, dass Jesus der Messias sei. Andere gingen von der biblischen Vorhersage aus, es müsse eine bestimmte Anzahl Juden wieder in Israel vereint sein, dann werde der Tag der Erlösung anbrechen.19 Aus all diesen Ideen entstanden ernst16 Gelber: Vorgeschichte des Zionismus, S. 56–61; vgl. S. 49–55 über die Projekte Lewis Ways und seine Vorschläge an den Zaren Alexander I., S. 213–220 über ein »Krimprojekt« von 1841 aus eher antisemitischen Motiven. 17 Gelber: Vorgeschichte des Zionismus, S. 90–91; vgl. Heiko Haumann: »Das Erhabenste der Menschlichkeit«. Adam Mickiewicz und der jüdisch-polnische Messianismus. In: Bernard Degen u. a. (Hg.): Fenster zur Geschichte. 20 Quellen – 20 Interpretationen. Festschrift für Markus Mattmüller. Basel, Frankfurt a. M. 1992, S. 247–259; Stefan Schreiner: Die Säkularisierung der messianischen Idee. Jüdischer und polnischer Messianismus im 19. Jahrhundert. In: Evangelische Theologie 54 (1994) S. 45–60. 18 Ezra Mendelsohn: From Assimilation to Zionism in Lvov: The Case of Alfred Nossig. In: The Slavonic and East European Review 49 (1971) S. 521–534. 19 Vgl. Alex Carmels Beiträge in diesem Band und im Begleitbuch zur Ausstellung; Yaron Perry: »Mount Hope«. Deutsch-Amerikanische Siedlung in Jaffa 1850–1858. Haifa 1995; Monika Häfliger: Der Zionismus in den USA bis 1933. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit Basel 1995, S. 6–17; Gelber: Vorgeschichte des Zionismus, S. 125–212. Vgl. auch Anm. 57. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang George Eliots (Mary Ann Cross, 1819– 1880) 1876 veröffentlichter Roman »Daniel Deronda«.

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hafte Kolonisationsvorhaben in Palästina.20 Eher in die Kategorie des Abenteuerromans gehörte die Initiative Friedrich Gustav Seyfarts, der sich als Siegfried Justus I. zum König von Jerusalem ausrief und zwischen 1830 und 1839 viele Staatskanzleien und Polizeistationen beschäftigte.21 Deutlich wird aber immerhin daran, wie die Idee des Judenstaates in der Luft lag. Von jüdischer Seite selbst wurden nun vermehrt Projekte vorgelegt, die der Einsicht entsprangen, dass die »Judennot« nicht mehr mit rein philanthropischen Mitteln gelindert oder gar beseitigt werden könne. Notwendig sei ein eigenes Staatswesen – in Palästina oder anderswo –, um das Problem zu lösen. In den USA proklamierte Mordechai Immanuel Noah (1785–1851) in verschiedenen Anläufen zwischen 1818 und 1844 einen »unabhängigen und freien Judenstaat«,22 in Deutschland forderte der Kaufmann Bernhard Berend 1832 den Frankfurter Bankier Amschel Meyer Rothschild (1773–1855) auf, ein Landgebiet in Nordamerika zu kaufen und dort eine Kolonie zu gründen, die der Staat der Juden werden könne. Rothschild lehnte – ebenso wie andere Adressaten Berends – ab, und als ihn Berend 1845 zu einer persönlichen Unterredung aufsuchte, schloss er die Diskussion mit einem kurzen »Schtuss«. Die Juden müssten das von Gott gesandte Schicksal geduldig ertragen. Dahinter stand die Erwartung, über die rechtliche Emanzipation und die Assimilation werde sich die »Judenfrage« von selbst erledigen.23 Hier zeigt sich eine Haltung, wie sie auch später noch für die philanthropischen Bemühungen der Rothschilds oder des Barons Moritz von Hirsch (1831–1896) und der 1891 von ihm gegründeten »Jewish Colonization Association« charakteristisch war: Bedrohten Juden, namentlich aus dem Russischen Reich, sollte geholfen und ihnen die Gelegenheit gegeben werden, möglichst autonom über landwirtschaftliche Arbeit neue Kraft zu gewinnen, aber einen eigenen Staat in Palästina hielten sie nicht für sinnvoll – Herzl hatte 1895 bei beiden ebensowenig Erfolg wie Berend fünfzig Jahre zuvor.24 Auf der anderen Seite propagierten in einflussreichen

20 Vgl. Berek J. Penslar: Zionism and Technocracy. The Engineering of Jewish Settlement in Palestine, 1870–1918. Bloomington, Indianapolis 1991. 21 Gelber: Vorgeschichte des Zionismus, S. 92–124. 22 Gelber: Vorgeschichte des Zionismus, S. 62–84, Zitat S. 84; Arthur Hertzberg: Shalom, Amerika! Die Geschichte der Juden in der Neuen Welt. München 1992, S. 50–53; Häfliger: Zionismus in den USA, S. 30 (vgl. S. 13–17, 29–32). 23 Gelber: Vorgeschichte des Zionismus, S. 85–90; Karl Cohen: Ein Judenstaatsprojekt vor 100 Jahren. In: Jüdisches Gemeindeblatt Mannheim 16 (1937) 6, S. 4 (den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Manfred Bosch). 24 Kennee Switzer-Rakos: Baron de Hirsch, The Jewish Colonization Association and Canada. In: LBI Year Book 32 (1987) S. 385–406. Zu den Rothschilds s. Anm. 44.

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Schriften orthodoxe Rabbiner wie Jehuda Alkalai (1798–1878)25, Zwi Hirsch Kalischer (1795–1874) oder Josef Natonek (1813–1892) die Rückkehr der Juden nach Erez Israel und die Kolonisation des Landes. Der Sozialist Moses Hess (1812–1875) sah in seiner 1862 erschienenen Schrift »Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage« das Scheitern der Emanzipation voraus. Der einzige Ausweg lag für ihn in einer nationalen Selbstbesinnung und in der Bildung eines jüdischen Nationalstaates. Doch noch war die Zeit nicht reif.26 Auf der einen Seite also stand die Hoffnung auf Emanzipation und Assimilation oder Akkulturation27, religiös die Haltung, auf Gottes Lenkung zu vertrauen. Auf der anderen verstärkten sich der Wille, das Schicksal der Juden durch eine radikale politische Lösung zu wenden, und die Erkenntnis, dass die »Judennot« ein Ausmaß erreiche, das neue Mittel notwendig mache. Gewiss, auch früher hatte man nicht alles einfach hingenommen. Die Fürsprecher, die Schtadlanim, versuchten, die Mächtigen zu beeinflussen, und in kritischen Situationen ergriff die jüdische Gemeinde vielfach ungewöhnliche Maßnahmen, 25 Alkalai war Rabbiner in Zemun/Semlin gegenüber von Belgrad. Theodor Herzls Großvater, Simon Lejb Jehuda Herzl (1805–1879), der ebenfalls dort wohnte, war ein Schüler Alkalais und kannte dessen Bücher. Möglicherweise hat der Enkel in seiner Kindheit davon erfahren. Präzise Hinweise darauf sind mir allerdings nicht bekannt geworden. Vgl. Jichak Gur-Ari: Rabi Jehuda Haj Alkalaj. Monografija o zemunskom rabinu, preteči cionizma koji je živio u XIX vijeku. Zagreb 1931, S. 47–48 (ich verdanke diese Quelle Milica MihailovićKraus, der Direktorin des Jüdischen Museums in Belgrad, und Nataša Mišković); Bein: Herzl (Anm. 52), S. 11. 26 Vgl. Barbara Linner: Die Entwicklung der frühen nationalen Theorien im osteuropäischen Judentum des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur Theorie und geistesgeschichtlichen Entwicklung des national-jüdischen Gedankens in seinem Zusammenhang mit der Haskalah. Frankfurt a. M. u. a. 1984; Arnold Blumberg: Zion before Zionism 1838–1880. Syracuse, N. Y. 1985; Thomas Rahe: Frühzionismus und Judentum. Untersuchungen zu Programmatik und historischem Kontext des frühen Zionismus bis 1897. Frankfurt a.  M. u. a. 1988; Michael Stanislawski: For Whom Do I Toil? Judah Leib Gordon and the Crisis of Russian Jewry. Oxford 1989; Monty Noam Penkower: The Emergence of Zionist Thought. New York u. a. 1991, S. 11–30; Gideon Shimoni: The Zionist Ideology. Hanover, London 1995; Geoffrey Wheatcroft: The Controversy of Zion. Jewish Nationalism, the Jewish State, and the Unresolved Jewish Dilemma. Reading, Mass. u. a. 1996, S.  40  ff. (diese beiden letzten Bücher sind auch im folgenden immer wieder heranzuziehen). Wichtige Quellen sind zusammengestellt in: Julius H. Schoeps (Hg.): Zionismus. Texte zu seiner Entwicklung. 2. Aufl. Wiesbaden 1983, hier S. 46–57 (die Sammlung ist auch im folgenden zu benutzen, ohne dass jeweils darauf verwiesen wird). 27 Unter Assimilation wird die weitgehende Aufgabe der eigenen Kultur durch Angleichen an eine andere verstanden, unter Akkulturation die Begegnung mit der anderen Kultur in der Erwartung einer neuen Synthese. Vgl. Jonathan Frankel, Steven J. Zipperstein (Hg.): Assimilation and Community. The Jews in Nineteenth-Century Europe. Cambridge u. a. 1992.

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um zu retten, was zu retten war. Über die Selbstverwaltungseinrichtungen betrieb man durchaus eine aktive Politik, und es war keineswegs ausgeschlossen, dass man sich auch zur bewaffneten Selbstverteidigung zusammenschloss. In Osteuropa, vor allem im Königreich Polen-Litauen, lässt sich diese Haltung häufiger beobachten als im Westen, vermutlich, weil hier lange Zeit die Stellung der Juden besser war.28 Doch damit reagierten die Juden lediglich auf eine bestimmte Situation: Man sah sich in einen Konflikt hineingestellt, musste eine Entscheidung treffen, musste handeln, konnte sich auch wehren – all das war Gottes Wille. Hingegen betrieb man keine langfristig angelegte Politik, machte keine Zukunftsprojekte – das wäre ein Vorgriff auf die Pläne Gottes gewesen. Diese Einstellung also begann sich allmählich bei Teilen der Judenschaft zu ändern, unter dem Eindruck der existentiellen Erschütterungen des 17. und 18. Jahrhunderts samt ihren Folgen für den Glauben und das Denken, und dann immer stärker unter dem Eindruck der »Judennot«. Dieser Begriff bezog sich auf die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der einsetzenden Industrialisierung, die zahlreiche Juden verarmen ließ, aber auch auf die wieder zunehmenden judenfeindlichen Aktionen, die sich gegen die Emanzipation wandten und die Juden zu Sündenböcken für in ihren Ursachen undurchschaute Krisen stempelte.29 Immer mehr Juden begannen deshalb daran zu zweifeln, dass eine Asssimilation der Weg sei, der alle Juden zur Freiheit führen werde. In Deutschland, überhaupt in Mitteleuropa, war zunächst die Assimilationsund Akkulturationstendenz – bis hin zum »jüdischen Selbsthass« –30 derart vorherrschend, dass alle anderen Orientierungsvorschläge nur eine unbedeutende 28 Vgl. nur Haumann: Geschichte der Ostjuden, sowie die Beiträge von Andrzej K. LinkLenczowski und Józef A. Gierowski in: Heiko Haumann, Jerzy Skowronek (Hg.): »Der letzte Ritter und erste Bürger im Osten Europas«. Kościuszko. das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz. Basel, Frankfurt a.  M. 1996, S. 186–191, 192–199. 29 Vgl. Rainer Wirz: »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale«. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden 1815–1848. Frankfurt a. M. u. a. 1981; Stefan Rohrbacher: Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (1815–1848/49). Frankfurt u. a. 1993; Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1987. 30 Vgl. Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. München 1984 (zuerst Berlin 1930); Lawrence Baron: Theodor Lessing: Between Jewish Self-Hatred and Zionism. In: LBI Year Book 26 (1981) S. 323–340; Hans-Dieter Hellige: Generationskonflikt, Selbsthass und die Entstehung antikapitalistischer Positionen im Judentum. Der Einfluss des Antisemitismus auf das Sozialverhalten jüdischer Kaufmanns- und Unternehmersöhne im Deutschen Kaiserreich und in der K. u. K.-Monarchie. In: Geschichte und Gesellschaft 5 (1979) S. 476–518.

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Resonanz fanden. Die Wurzeln für einen radikalen Bruch lagen in Osteuropa.31 Im polnisch-litauischen Reich hatte sich im 18. Jahrhundert unter den Juden, ausgelöst durch die vorangegangenen grundlegenden Wandlungen ihrer Lage, das Bewusstsein einer eigenen, »in sich abgeschlossenen Kulturpersönlichkeit« herausgebildet, für die sich später der Begriff des Ostjudentums einbürgerte.32 Während des 19. Jahrhunderts veränderten sich die Lebenswelten dieser Juden tiefgreifend. Die Teilungen Polens zwischen 1772 und 1815 zerrissen die bisherige, weitgehend einheitliche staatliche Zuordnung des Siedlungsgebietes. Westpolen geriet unter preußische Herrschaft; die dortigen Juden glichen sich allmählich den »Westjuden« an. Hingegen verstärkte sich die lebensweltliche Eigenständigkeit der Juden, die im österreichischen und russischen Teilungsgebiet Polens – Galizien und Kongress-Polen – sowie in Russland selbst – im »Ansiedlungsrayon«, der früher überwiegend zu Polen gehört hatte – lebten oder die infolge der neuen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in weitere Gebiete Osteuropas, namentlich nach Ungarn und Rumänien, ausgewandert waren. Darüber hinaus unterbrach eine schwere Agrarkrise zu Beginn des 19. Jahrhunderts den bisherigen traditionellen Wirtschaftskreislauf zwischen Stadt und Land, zwischen adligen Gutsbesitzern, Bauern, ländlichen und städtischen Handwerkern, Großkaufleuten und Unternehmern mit den Juden als Mittlern. Der Druck, mit dem versucht wurde, die Juden aus den Dörfern zu vertreiben, ließ ihre Zahl in den Städten sprunghaft ansteigen. Zwischen den eingesessenen Juden und den Zuwanderern kam es zu einem harten Konkurrenzkampf um die wenigen Erwerbsstellen in Handwerk und Handel. Die »Ausstoßung« aus den bisherigen Berufen und Siedlungsgebieten führte, verbunden mit der einsetzenden Industrialisierung, zu einer nachhaltigen sozialökonomischen »Um31 Dies gilt natürlich nicht überall in der gleichen Weise. Eine Sonderentwicklung vollzog sich etwa in Ungarn; vgl. dazu die Beiträge von Walter Pietsch und Peter Haber in diesem Band. 32 M. A.: Polnische Juden. In: Der Jude 1 (1916/17) S. 561 f., Zitat S. 561. Nathan Birnbaum spricht bereits in seiner Rede auf dem Ersten Zionistenkongress ganz selbstverständlich von den Ostjuden mit eigener Kultur (Zionisten-Congress, S. 82–94). Später bezeichnet er sie als »eigene Kulturgemeinschaft«, »von innerer Bewegung erfüllt, reich an Vergangenheit, gegenwartsstark und zukunfstvoll« (Was sind Ostjuden? Zur ersten Information. Wien 1916, S. 15; s. auch einige Schriften in: ders.: Die jüdische Moderne. Frühe zionistische Schriften. Augsburg 1989). Vgl. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 55–57. Die Geschichte des Begriffs »Ostjude« muss noch geschrieben werden. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass er aus dem innerjüdischen Sprachgebrauch heraus entstand. Dass der Ostjude als Klischee dann in der antisemitischen Agitation eine wichtige Rolle spielte, sollte nicht dazu führen, auf die Bezeichnung zu verzichten. Auch der zuvor gängige Begriff des »polnischen Juden« wurde immer wieder mit negativen, judenfeindlichen Stereotypen besetzt (vgl. nur Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 65, auch 69–70).

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schichtung«. Die Masse der Juden verelendete zusehends und lebte unter unvorstellbaren Wohn-, Arbeits- und Verdienstbedingungen. Die Überbesetzung insbesondere in verschiedenen Handwerksberufen schuf zahlreiche »Luftmenschen«, die sich täglich neu sorgen mussten, ob sie irgendwoher Nahrungsmittel bekommen würden, und häufig eben nur von der Luft lebten. Der Kleinhandel wurde anstelle des Handwerks insgesamt zur wichtigsten Erwerbsquelle. Auf der anderen Seite gelang einigen wenigen Juden der Aufstieg zum Großunternehmer oder Bankier. Diese scharfe soziale Polarisierung blieb nicht ohne Folgen für die innere Struktur und das Zusammenleben in der jüdischen Gemeinde. Zugleich bewirkte das Anwachsen des jüdischen Bevölkerungsanteils, der sich in bestimmten Straßen und Vierteln – Ghettos – konzentrierte, neue Formen antijüdischer Einstellungen. Die aufstrebende nichtjüdische Bourgeoisie trat in einen Verdrängungswettbewerb mit den wohlhabenden Juden, die darüber hinaus als »Kapitalisten« den Hass von Teilen der Bevölkerung, auch der Arbeiterschaft, auf sich zogen. Ähnliche Vorgänge waren im Kleinhandel zu beobachten, die vielfach in Boykott-Bewegungen eskalierten. Die antijüdischen Ressentiments verbanden sich mit nationalistischen Strömungen unter den Polen, die die Juden aus dem nationalen Verband ausgrenzten und zum Gegner erklärten. In mehreren Ausschreitungen wurde deutlich, wie leicht sich nationalistische Gefühle wie Probleme des sozial-ökonomischen Umbruchs gegen die Juden entladen konnten. Die blutigen Pogrome im Anschluss an die Ermordung des Zaren Alexander II. 1881, für die vor dem Hintergrund wachsender sozialer und religiöser Gegensätze die Juden verantwortlich gemacht wurden, gaben dann den letzten Anstoß für die Suche nach grundsätzlich neuen Wegen, die »Judennot« zu beheben.33 Die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden beendete im Grunde die Bestrebungen der jüdischen Aufklärung – der Haskala –, eine vollständige Integration der Juden in die bestehende Gesellschaft zu errei33 Vgl. Haumann: Geschichte der Ostjuden, S. 66–163; Inge Blank: Haskalah und Emanzipation. Die russisch-jüdische Intelligenz und die »jüdische Frage« am Vorabend der Epoche der »Grossen Reformen«. In: Gotthold Rhode (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Marburg 1989, S. 197–231. Neuere Erkenntnisse finden sich bei Monica Rüthers: Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 1996; Desanka Schwara: Humor und Toleranz. Ostjüdische Anekdoten als historische Quelle. Köln u. a. 1996; François Guesnet: Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln u. a. 1998. Vgl. ebenfalls die Ergebnisse eines von Monica Rüthers, Desanka Schwara und Peter Bollag durchgeführten und von mir betreuten Forschungsprojektes »Der Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert« [inzwischen in: Heiko Haumann (Hg.): Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2003].

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chen, sich in das weltliche Bildungswesen einzugliedern und die überkommene Lebensweise aufzugeben. Eine Reihe Juden im Russischen Reich begann, sich auf das Judentum zurückzubesinnen. Studenten schlossen sich 1882 zu »Biluim« zusammen. Sie wählten diese Anfangsbuchstaben – im Hebräischen  – des Jesaja-Wortes »Auf, Haus Jakobs, lasst uns gehen!« nicht nur, um einen nationalen Widerstand gegen die Pogrome zu organisieren, sondern sie wollten auch eine Auswanderung nach Erez Israel in Gang bringen. Dabei arbeiteten die Biluim mit den »Chowewe Zion«, den »Zionsliebenden«, in der Bewegung »Chibbat Zion«, »Zionsliebe«, zusammen. Die Anfangserfolge dieser »Ersten Alija«, des »Aufstiegs« nach Zion, blieben hinter den Hoffnungen zurück.34 Doch insgesamt wurde der Wunsch nach »Autoemancipation«, nach Selbst-Emanzipation, wie ihn Leon Pinsker (1821–1891) 1882 formulierte,35 unter den Ostjuden stärker: Sie mussten feststellen, dass eine Emanzipation »von außen« auf absehbare Zeit nicht erwartet werden konnte und es zunehmend als geradezu demütigend und würdelos erschien, auf sie als ein Geschenk zu hoffen, zumal die nichtjüdische Gesellschaft selbst nicht emanzipiert war. Die Antworten auf die Frage nach dem neuen Platz in der Gesellschaft fielen unterschiedlich aus. Nur ein kleiner Teil – vor allem aus der dünnen Oberschicht – wählte weiterhin den Weg der Assimilierung. Viele wanderten aus, um anderswo nach besseren Bedingungen zu suchen.36 Anklang fand der Sozialismus, die internationalistische Arbeiterbewegung, die mit der Aufhebung der Klassen auch die nationalen Grenzen überwinden wollte. Es ist nicht zufällig, dass der »Bund«, der »Allgemeine jüdische Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland«, im selben Jahr wie die Zionistische Weltorganisation gegründet wurde.37 Zahlreiche Juden, vor allem die Ärmeren, suchten in der religiösen 34 Vgl. Penslar: Zionism; Jehuda Reinharz: The Esra Verein and Jewish Colonisation in Palestine. In: LBI Year Book 24 (1979) S. 261–289; Ehud Luz: Parallels Meet. Religion and Nationalism in the Early Zionist Movement (1882–1904). Philadelphia u. a. 1988, S. 29 ff. 35 Mir lag eine spätere Ausgabe vor: Leon Pinsker: »Autoemanzipation«. Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. 4. Aufl. Berlin 1932; Penkower: Emergence, S. 31–40. 36 Stellvertretend für die reiche Literatur nenne ich nur Ruth Gay: Unfinished People. Eastern European Jews Encounter America. New York, London 1996. 37 John Bunzl: Klassenkampf in der Diaspora. Zur Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung. Wien 1975; Jonathan Frankel: Prophecy and Politics. Socialism, Nationalism and the Russian Jews, 1862–1917. New York 1982; Henry J. Tobias: The Jewish Bund in Russia. From its Origins to 1905. Stanford, Cal. 1972; Nora Levin: While Messiah Tarried. Jewish Socialist Movement, 1871–1917. New York 1977; Ezra Mendelsohn: Class Struggle in the Pale. The Formative Years of the Jewish Workers’ Movement in Tsarist Russia. Cambridge 1970; vgl., auch zu Querverbindungen, ders.: Zionism in Poland. The Formative Years, 1915–1926. New Haven, London 1981; Ilse Elisabeth Veronika Yago-Jung: Die

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Gemeinschaft gerade während dieser Umbruchzeit Schutz, Geborgenheit und Orientierungshilfe. Neben der rabbinischen Orthodoxie blieb der mystische Chassidismus lebendig. Und ein weiterer Weg führte zum Verständnis eines nationalen Judentums und dabei auch zum Zionismus als politischer Bewegung.38 Dies war eine nationalistische Antwort auf die nationalistische Bewegung in der nichtjüdischen Umwelt, aber zugleich doch mehr. Ähnlichkeiten mit anderen Nationalbewegungen bestanden darin, dass in der Entstehungsphase Intellektuelle die Nation als Einheit konstruierten, »erfanden«. Auch in der Begrifflichkeit, in der Symbolik, in der Art der Analyse und Interpretation der Situation lassen sich Querbezüge herstellen. Unterschiede nationale Frage in der jüdischen Arbeiterbewegung in Russland, Polen und Palästina bis 1929. Frankfurt a. M. 1979; Klaus Heller: Revolutionärer Sozialismus und nationale Frage. Das Problem des Nationalismus bei russischen und jüdischen Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären im Russischen Reich bis zur Revolution 1905–1907. Frankfurt a. M. u. a. 1977; ders.: Proletarisches Klassenbewusstsein als nationales Identitätsproblem: Die jüdischen Arbeiterparteien in Russland vor 1914. In: Karl-Heinz Ruffmann, Helmut Altrichter (Hg.): »Modernisierung« versus »Sozialismus«. Formen und Strategien sozialen Wandels im 20. Jahrhundert. Erlangen 1983, S. 65–99, hier S. 76–99; Moshe Mishkinsky: Die spezifischen historischen Bedingungen der Entstehung der jüdischen Arbeiterbewegung in Russland. In: Helmut Konrad (Hg.): Probleme der Herausbildung und politischen Formierung der Arbeiterklasse. Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung, 24. Linzer Konferenz 1988. Wien, Zürich 1989, S. 52–63; ders.: Regional Factors in the Development of the Jewish Labor Movement in Tsarist Russia. In: YIVO Annual of Jewish Social Science 14 (1969) S. 27–53; Gottfried Schramm: Wilna und die Entstehung eines ostjüdischen Sozialismus 1870–1900. In: Shulamit Volkov (Hg.): Deutsche Juden und die Moderne (=Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 25). München 1994, S. 129–140; Mario Keßler: Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus. Arbeiterbewegung und jüdische Frage im 20. Jahrhundert. Mainz 1993. S. auch Anm. 65. Dazu Beth Hatefutsoth, the Nahum Goldmann Museum of the Jewish Diaspora (Hg.): Workers and Revolutionaries. The Jewish Labor Movement. Tel Aviv 1994, mit einem Begleitheft zur deutschen Fassung der Ausstellung: Jüdisches Mudeum der Stadt Frankfurt a. M. (Hg.): Arbeiter und Revolutionäre. Die jüdische Arbeiterbewegung. Frankfurt a. M. 1996. 38 Wie sehr die unterschiedlichen Orientierungen in diesem Umbruch bis in die Familien hineinwirkten, schlug sich auch in zahlreichen literarischen Verarbeitungen nieder. Vgl. nur Isaac B. Singer: Das Landgut, Das Erbe, Die Familie Moschkat. München 1981, 1983, 1986; Pinhas Kahanowitsch genannt Der Nister: Die Brüder Maschber. Das jiddische Epos. Frankfurt a. M. 1995; Julian Stryjkowski: Echo. Roman. Berlin 1995; Soma Morgenstern: Funken im Abgrund. 3 Bde. Lüneburg 1996. Ähnlich können die Orientierungsversuche exemplarisch durch die Analyse von Autobiographien und die Rekonstruktion von Familiengeschichten gezeigt werden, vgl. neben Rüthers: Tewjes Töchter: Maria Kłańska: Aus dem Schtetl in die Welt. 1772 bis 1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien u. a. 1994; Martin Trančik: Zwischen Alt- und Neuland. Die Geschichte der Buchhändlerfamilie Steiner in Preßburg. Ein mikrohistorischer Versuch. Bratislava 1996 (ursprünglich Lizentiatsarbeit Basel 1995).

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fallen aber auch sofort ins Auge: Trotz gemeinsamer Grundzüge in Geschichte und Kultur aller Juden, die durchaus ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Art »Volksbewusstsein« schufen, gab es doch vielfältige Besonderheiten in den einzelnen Ländern der Diaspora. Weiterhin fehlten ein Gebiet, in dem zumindest ein großer Teil der Nation lebte, und eine gemeinsame Sprache – selbst wenn man zugesteht, dass anfänglich Deutsch als Verkehrssprache selbst bei den Zionistenkongressen diente und sich später das Hebräische durchsetzte. Als Sonderfall muss zudem gelten, dass die Juden von außen bereits als Nation definiert und damit ausgegrenzt wurden, als sie selbst noch gar nicht an eine Nationalbewegung dachten. Dieses vorhandene und in erheblichem Maße zugeteilte Nationalbewusstsein musste nun durch ein neues ersetzt werden, das unabhängig vom subjektiven Selbstverständnis »objektiv« gegeben sei. Dies machte im übrigen manche Zionisten für die biologische Argumentation der damals in den Wissenschaften diskutierten »Rassenkunde« anfällig. Mit dieser Neukonstruktion der Nation konnte dann unter Hinweis auf die religiöse Zionstradition von der »nationalen Wiedergeburt des jüdischen Volkes« gesprochen werden.39 Von besonderer Bedeutung für die Herausbildung des Zionismus war die Wahrnehmung zwischen Ost- und Westjuden.40 Wegen der unterschiedlichen 39 Thomas Rahe: Religiöse Zionstradition, säkularer Nationalismus und die Anfänge des Zionismus. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 39 (1988) S. 413–426, Zitate S. 413, 422. Vgl. ders.: Frühzionismus; Linner: Entwicklung; Shlomo Avineri: Politische und soziale Aspekte des iasraelischen und arabischen Nationalismus. In: Heinrich August Winkler (Hg.): Nationalismus. 2. Aufl. Königstein 1985, S. 232–251; Joachim Doron: Social Concepts Prevalent in German Zionism: 1883–1914. In: Studies in Zionism 5 (1982) S. 1–31; Moshe Zimmermann: Das Gesellschaftsbild der deutschen Zionisten vor dem 1. Weltkrieg. In: Trumah 1 (1987) S. 139–158; Jehuda Reinharz: Jewish Nationalism and Jewish Identity in Central Europe. In: LBI Year Book 37 (1992) S. 147–167. Vgl. Anm. 72  ff. Eine Analyse der Entstehung nationaler Konzeptionen bei den Zionisten und ihres Wandels von eher friedlichen Vorstellungen zur Inkaufnahme von Gewaltanwendung gibt Anita Shapira: Land and Power. The Zionist Resort to Force, 1881–1948. New York, Oxford 1992. Zur »Erfindung« der hebräischen Sprache s. das Wirken des aus Litauen stammenden und seit 1881 in Palästina lebenden Elieser Ben Jehuda (1858–1922): Meyer: Jüdische Identität, S. 92–93; Schoeps: Neues Lexikon, S. 67. 40 Vgl. etwa Andreas Herzog (Hg.): Ost und West. Jüdische Publizistik 1901–1928. Leipzig 1996; Zimmermann: Gesellschaftsbild, bes. S. 151 ff.; Adolf Gaisbauer: Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918. Wien u. a. 1981; Jonathan Frankel: Modern Jewish Politics East and West (1840–1939). Utopia, Myth, Reality. In: Zvi Y. Gitelman (Hg.): The Quest for Utopia – Jewish Political Ideas and Institutions Through the Ages. New York, London 1992, S. 81–103; Mordechai Breuer: Orthodoxy in Germany and its Eastern Counterparts at the Turn of the Century. In: LBI Year Book 41 (1966) S. 75–86 (dabei mehrfach auch zum Zionismus, S. 83 zum Basler Rabbiner Cohn). Die »unterschiedlichen Emanzipations- und Erfahrungsgeschichten der Juden Osteuropas und des Westens« bestimmen noch heute die Deutungszusammenhänge

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Voraussetzungen in Ost- und Westeuropa gab es – trotz grundsätzlich identischer Wurzeln – verschiedenartige Ausprägungen der Vorstellungen über das Ziel und die Wege dorthin. Für die meisten Ostjuden war aufgrund ihrer noch festeren kulturellen Tradition Zion ausschliesslich mit Erez Israel verbunden. Darüber hinaus galt ihnen in der Regel der Staat als Ziel weniger als die konkrete Hilfe für die bedrohten und verarmten Juden Osteuropas durch eine Hilfe bei der Kolonisation und Auswanderung. Den Zionismus fanden sie nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil er eine radikale Lösung – wie sie dringend nötig war – mit Anknüpfungspunkten an den traditionellen Glauben verband. Damit zusammenhängend strebten sie an, die Lage der Juden in ihren Heimatländern zu verbessern, bis hin zur Anerkennung als autonome nationale Minderheit. Hier trafen sich die osteuropäischen Zionisten mit Vertretern anderer Richtungen, von Autonomisten und Nationaljuden über Liberale bis hin zum »Bund«. Für die Westjuden bedeutete dies keine Lösung der Probleme des Judentums: Die rechtliche Gleichstellung und der sozialökonomische Aufstieg waren in Westeuropa bereits erreicht. Der unterschiedliche Stellenwert, den der Staat in den politischen Konzeptionen der Zionisten Ost- und Westeuropas einnahm, mag auch mit der Erfahrung ihrer jeweiligen Umwelt zu tun haben. Der ostjüdische Kulturkreis war bekannt geworden mit dem Erstarken des Nationalbewusstseins der verschiedenen Völker im osteuropäischen Raum, das zunächst einher ging mit einer politischen Befreiungsbewegung. Selbst wenn sich diese zusehends in einen aggressiven, andere Nationalitäten ausgrenzenden Nationalismus verwandelte, blieb vermutlich doch etwas von dem frühen Begriff, der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Nationen auf demselben staatlichen Territorium, in der Erfahrungsund Denkwelt vieler Juden haften. Die Westjuden hingegen, sehr viel stärker in ihren kulturellen Ausprägungen zerrissen, lebten überwiegend in Ländern, die als nationale Machtstaaten an der internationalen imperialistischen Aufteilung der Welt mitwirkten. Das beeinflusste wesentlich ihr Verständnis von Nation, Nationalismus und internationaler Politik. Deshalb suchten sie den Weg der raschen Staatsbildung, indem sie die internationale Mächtekonkurrenz ausnutzen, ja den zukünftigen Staat als Machtfaktor einsetzen wollten. Insofern waren »kulturelle Missverständnisse« zwischen Ost- und Westjuden nicht verwunderlich. der israelischen Geschichtswissenschaften (Dan Diner: Individualität und Nationalität. Wandlungen im israelischen Geschichtsbewusstsein. In: Babylon 15 [1995], S. 5–27, hier S. 8, vgl. S. 10, 17; Moshe Zimmermann: Der Umgang Israels mit der osteuropäischen Vergangenheit. In: Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte [und Kultur] e. V.: Vorstellung des Forschungsprofils im Sächsischen Landtag am 9.11.1995, S. 31–39). Vgl. hier und im folgenden die entsprechenden Beiträge im Begleitbuch zur Ausstellung. Zum Nationaljudentum und zu Dubnow s. Anm. 71.

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Alexander Hausmann aus Lemberg warf im Rückblick auf den Ersten Zionistenkongress den Westjuden – und damit meinte er gerade auch Herzl, den er an sich bewunderte – vor, über dem Ziel des Judenstaates die »nationale Gegenwartsarbeit im Golus«, also in der Diaspora, vergessen zu haben.41 Mehrere Berichte bestätigen, dass es zwischen Ost- und Westjuden auf diesem Kongress, aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten, immer wieder zu Spannungen kam, weil die einen von den anderen zu wenig kannten.42 Herzl selbst ist ein gutes Beispiel. Von den ostjüdischen Zionisten anfänglich enthusiastisch begrüßt, weil er den Durchbruch auch für ihre Hoffnungen zu bringen schien, verlor er rasch an Popularität, weil er auf ihre Anliegen oft mit Unverständnis reagierte. Dies lag nicht einfach daran, dass Herzl über das Leben der Juden in Osteuropa wenig wusste und nicht einmal die früheren zionistischen Schriften gelesen hatte. Der tiefere Grund ist darin zu suchen, dass er bei allen taktischen Zugeständnissen – ihm war bald klar geworden, dass ohne die Massenbewegung unter den Ostjuden der Zionismus keinen Erfolg haben werde – »von ihrer minderen Stellung überzeugt blieb«. Viele russischen Zionisten nahmen ihm übel, dass er 1903 mit dem zarischen Innenminister Pleve zusammentraf, den man für den furchtbaren Pogrom in Kišinev wenige Monate zuvor verantwortlich machte. Zwar erreichte Herzl eine Erleichterung zionistischer Aktivitäten im Russischen Reich, ging aber zugleich auf das Argument des Ministers ein, die Zionisten sollten vor allem die der Regierung missliebigen Juden nach Palästina holen. Im Konflikt um den »Uganda-Plan« 1903/04 zeigten sich dann Herzls »Vorurteile« gegenüber den Ostjuden besonders drastisch, die er durchaus mit zahlreichen »kultivierten« Westjuden teilte.43 41 Berliner Büro der Zionistischen Organisation (Hg.): Warum gingen wir zum Ersten Zionistenkongress? Berlin 1922, S. 45–47, hier S. 47. Zu den Differenzen zwischen Herzl und den galizischen Juden vgl. auch: Pięćdziesiąt lat sjonizmu. 1884–1934. Jubileuszowa księga pamiątkowa. Tarnów 1934 (Leszek Hońdo hat mir dankenswerterweise diese Schrift zugänglich gemacht). Vgl. meinen Artikel zu Galizien im Begleitbuch zur Ausstellung. Zum dort erwähnten Abraham Salz s. auch Anm. 53 und Doron: Social Concepts, S. 9 ff. 42 Der »Jewish Chronicle« freute sich am 3.9.1897 in seinem abschließenden Bericht vom Ersten Zionistenkongress, dass die große Zahl der Delegierten aus Osteuropa kultivierte Menschen gewesen seien, die nicht den Ostjuden im Londoner East End geähnelt hätten. Vgl. auch Weizmann: Memoiren, S. 75–76; Martin Buber: Herzl und die Historie (1904). In: ders.: Der Jude und sein Judentum. Gesammelte Aufsätze und Reden. 2. Aufl. Gerlingen 1993, S. 766–776. 43 Yossi Goldstein: Herzl and the Russian Zionists: The Unavoidable Crisis? In: Peter Y. Medding (Hg.): Studies in Contemporary Jewry 2 (1986) S. 208–226, Zitate S. 215, 221. Vgl. aus anderem Blickwinkel ders.: Some Sociological Aspects of the Russian Zionist Movement in its Inception. In: Jewish Social Studies 47 (1985) S. 167–178; ders.: The Attitude of the Jewish and the Russian Intelligence to Zionism in the Initial Period (1897–1904). In: The Slavonic and East European Review 64 (1986) S. 546–556; N. M. Gelber: Herzl’s

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In Palästina wirkten sich dies etwa beim Vorgehen Edmond de Rothschilds (1845–1934) aus. Er behandelte die Siedler aus Osteuropa in den von ihm finanzierten Kolonien – 1903 waren es 19 von 28 – wie »Bettler«, die Almosen in Empfang zu nehmen hatten, und bekämpfte den »übertriebenen Aktivismus der Zionisten aus Osteuropa«. Dabei liess er sich vom »selbstgeschaffenen Stereotyp des osteuropäischen Juden« leiten, der unfähig sei, aus eigener Kraft, selbständig, Landwirtschaft zu betreiben, und den man erst »erziehen« müsse. Der Idealismus vieler gedemütigter Siedler zerrann bald, manche Siedlung und manches Projekt konnte – wenn überhaupt – nur unter größten Schwierigkeiten und Veränderungen ihres Charakters am Leben gehalten werden. Ohne Rothschilds Verhalten wäre der Aufbau Palästinas »mit weniger Opfern und weniger Leid« geschaffen worden.44 Der Zionismus ist somit ein Ausdruck der Krise jüdischen Selbstverständnisses im 19. Jahrhundert.45 Er erwächst aus der Tradition des Judentums, ist Teil jener Auseinandersetzung mit ihr, die neben anderen Wegen die HinwenPolish Contacts. In: Herzl Year Book 1 (1958) S. 197–231. Zu den Zusammenhängen s. auch Edward H. Judge: Easter in Kishinev. Anatomy of a Pogrom. New York, London 1992 (speziell zu Herzls Besuch in Russland S. 102–106); A. Lokšin: Formirovanie politiki (Carskaja administracija i sionizm v Rossii v konce XIX – načale XX v.). In: Vestnik Evrejskogo Universiteta v Moskve 1 (1992) S. 42–56 (Herzl verfolgte offenbar diese Politik, um den Zionismus für die zarische Regierung interessant zu machen, von Anfang an, so auch in einem Gespräch mit einem Geheimdienst-Mitarbeiter 1899); N. Rachmanov: Evrejskij vopros v politike V. K. Pleve. In: ebd. (1995) Nr. 1 (8), S. 83–103. Zur selben Zeit polemisierte Max Nordau stellvertretend für Herzl gegen Achad Haam anlässlich dessen Kritik an Herzls »Altneuland« und ließ bei seiner Wortwahl seine tiefsten Vorurteile gegenüber den Ostjuden erkennen; vgl. Barbara Schäfer: »Über einem Hypocaust erbaut«. Zu Herzls Roman »Altneuland«. In: Menora 4 (1993) S. 79–89, hier S. 81. Zum »Uganda-Plan«, und in diesem Zusammenhang auch zu Herzls Russland-Reise: Michael Heymann (Hg.): The Uganda-Controversy. The Minutes of the Zionist General Council. 2 Bde. Jerusalem 1970,1977 (darin auch zum Graben zwischen Ost und West, z. B. Bd. 1, S. 21–22). Vgl. auch Jehuda Reinharz: Chaim Weizmann and German Jewry. In: LBI Year Book 35 (1990) S. 189–218, hier S. 194–198. – Zur weiteren Entwicklung in Polen vgl. Wojciech Jaworski: Struktura i wpływy syjonistycznych organizacji politycznych w Polsce w latach 1918–1939. Warszawa 1996. 44 Yoram Mayorek: Zwischen Ost und West: Edmond de Rothschild und Palästina. In: Georg Heuberger (Hg.): Die Rothschilds. Beiträge zur Geschichte einer europäischen Familie. Sigmaringen 1994, S. 133–150, Zitate S. 136, 146, 149. Vgl. Georg Heuberger (Hg.): Die Rothschilds. Eine europäische Familie. Begleitbuch zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt a. M. 11.10.1994–27.2.1995. Sigmaringen 1994, S. 159–168. 45 Vgl. Shlomo Avineri: Die Krise der jüdischen Identität und die Anfänge des Zionismus. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 31 (1980) S. 531–540; ausführlich ders.: The Making of Modern Zionism. The Intellectual Origins of the Jewish State. London 1983. Vgl. David Vital: The Origins of Zionism. Oxford 1975; ders.: Zionism: The Formative

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dung zu einer aktivistischen Haltung in der Welt zur Folge hatte. Den Unterschied zwischen der traditionellen Erwartung des Messias und der zionistischen aktiven Herbeiführung der Erlösung brachte Karl Lippe aus Jassy als Alterspräsident am Ersten Zionistenkongress in seiner Eingangsrede zum Ausdruck: »Unsere Frommen, welche noch immer den eselreitenden Messias erwarten, mögen auch fernerhin im Golus bleiben und auf seine Ankunft warten; aber wenn sie Bettlern, Müßiggängern und Greisen gestatten, sich im heiligen Lande anzusiedeln, und sie mit einem Bettelpfennig unterstützen, so darf auch uns nicht verboten sein, lebenskräftige, arbeitslustige junge Leute hinzubefördern, welche durch Arbeit und Fleiß das verwüstete Land in ein Eden verwandeln werden«.46 Der Zionismus antwortet darauf, dass der Messias ausbleibt, aber die »Judennot« dringend einer Abhilfe bedarf, er antwortet auf Säkularisierung und Toleranz, auf Emanzipation und Liberalismus, auf Industrialisierung und Verarmung, auf den Wandel der Lebenswelten. Man kann von einem verweltlichten Messianismus sprechen47 und feststellen, dass der Zionismus, selbst wenn er Years. Oxford 1982; ders.: Zionism: The Crucial Phase. Oxford 1987; Penkower: Emergence; Shimoni: The Zionist Ideology. 46 Zionisten-Congress, S. 2. Zum Menschenbild vgl. Anm. 73 ff. 47 Shmuel N. Eisenstadt: Die Transformation der israelischen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1992, S. 148 ff.; Avineri: Krise, S. 540. Dies zeigt sich auch in der Utopie über die künftige Gesellschaft, die ebenfalls Traditionen im Judentum aufgreift – die kollektive, soziale Erlösung (als Nation oder als Klasse, je nach politischer Richtung) oder die Erlösung, die in jedem selbst steckt: Yosef Gorny: Utopian Elements in Zionist Thought. In: Studies in Zionism 5 (1984) S. 19–27. Für den Zusammenhang auch Michael Löwy: Redemption and Utopia. Jewish Libertarian Thought in Central Europe. A Study in Elective Affinity. London 1992; Eveline Goodman-Thau: Zeitbuch. Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Tradition. Berlin 1995, speziell S. 153–173 zu Buber und Scholem. Skeptisch gegenüber den eschatologischen Tendenzen im frühen Zionismus, die eher rhetorisch gemeint gewesen seien, um eine Tradition zu konstruieren: Eli Lederhendler: Interpreting Messianic Rhetoric in the Russian Haskalah and Early Zionism. In: Jonathan Frankel (Hg.): Jews and Messianism in the Modern Era: Metaphor and Meaning (=Studies in Contemporary Jewry 7). New York, Oxford 1991, S. 14–33. Es scheint mir aber nicht zufällig zu sein, dass zionistische Autoren, namentlich aus Osteuropa, die Figur Ahasvers, des »Ewigen Juden«, aufgriffen und als Symbol der Erlösung verstanden (der im Exil »wandernde Jude« kommt zum Ziel). Wichtige Hinweise verdanke ich hier einer Seminararbeit von Shifra Kuperman (Basel 1997). Vgl. auch Avram Andrei Băleanu: Der »ewige Jude«. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos. In: Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München, Zürich 1995, S. 96–102; Mona Körte, Robert Stockhammer (Hg.): Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom »Ewigen Juden«. Leipzig 1995 (dasselbe gilt für Künstler, etwa Alfred Nossig und Samuel Hirszenberg, vgl. die Literaturhinweise in Anm. 70). Auch in der Auseinandersetzung mit liberalen Interpreten jüdischer Kultur – wie Hermann Cohen – hoben Zionisten, namentlich der kulturzionistischen Richtung, die Anknüpfung an die messianische Erwartung hervor.

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mit der traditionellen Erwartungshaltung gebrochen hat, in vielem die religiöse Tradition im Judentum aufgreift und fortsetzt.48 Mit diesen geistigen, politischen und sozialökonomischen Veränderungen hängen auch der zunehmende Antisemitismus und Nationalismus zusammen. Sie beschleunigen die Formierung der zionistischen Bewegung, machen die Zeit reif für ihre Organisation als ernstzunehmende Kraft. Herzls »Judenstaat« und der Erste Zionistenkongress in Basel kommen genau im richtigen Augenblick. Theodor Herzl (1860–1904), der einer assimilierten jüdischen Familie Budapests entstammte und in Wien lebte, hatte lange Zeit seine Berufung in der Schriftstellerei gesehen und durchaus erfolgreiche Feuilletons und Schauspiele verfasst. Daneben sah er sich als guten Journalisten.49 In Wien und dann in Frankreich, wo er als Korrespondent der »Neuen Freie Presse« wirkte, stieß er auf einen sich verschärfenden Antisemitismus. Immer mehr kam er zu der Überzeugung, dass die Judenfeindschaft nicht verschwinden werde und die einzige Lösung darin bestehe, dass die Juden als ein Volk einen eigenen Staat bildeten. Später betrachtete er es als seine eigentliche Leistung, dass »ein mittelloser jüdischer Journalist inmitten der tiefsten Erniedrigung des jüdischen Volkes, zur Zeit des ekligsten Antisemitismus, aus einem Lappen eine Fahne u. aus einem gesunkenen Gesindel ein Volk gemacht hat, das sich aufrecht um diese Fahne schaarte«.50 Den letzten Anstoss gab die hasserfüllte Stimmung, die sich in der Pariser Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den angeblichen Dazu gehöre, dass mit der Erlösung der Juden die ganze Menschheit erlöst werde. Martin Buber schrieb 1916 in einer Antwort auf Cohen: »Wir wollen Palästina nicht ›für die Juden‹: wir wollen es für die Menschheit, denn wir wollen es für die Verwirklichung des Judentums« (wiederabgedruckt in ders.: Der Jude, S. 287–297, hier S. 292, auch zum Motiv des Wanderns mit dem Ziel des Heils: S. 296–297). Vgl. Jörg Hackeschmidt: Die hebräischen Propheten und die Ethik Kants. Hermann Cohen in kultur- und sozialhistorischer Perspektive. In: Aschkenas 5 (1995) S. 121–129; Ulrich Sieg: Bekenntnis zu nationalen und universalen Werten. Jüdische Philosophen im Deutschen Kaiserreich. In: Historische Zeitschrift 263 (1996) S. 609–639; Manuel Duarte de Oliveira: Passion for Land and Volk. Martin Buber and Neo-Romanticism. In: LBI Year Book 41 (1996) S. 239–260, hier bes. S. 254 ff. 48 Hermann Greive: On Jewish Self-Identification. Religion and Political Orientation. In: LBI Year Book 20 (1975) S. 35–46, hier S. 45–46. Zum Bruch des Zionismus mit trationellen Haltungen vgl. auch Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin 1988, S. 107. 49 Vgl. Johannes Wachten: Theodor Herzl als Literat. In: Norbert Leser (Hg.): Theodor Herzl und das Wien des Fin de siècle. Wien u. a. 1987, S. 139–158; ders.: Theodor Herzl: Zionismus und Journalismus. In: Karl E. Grözinger (Hg.): Judentum im deutschen Sprachraum. Frankfurt a. M. 1991, S. 357–370. 50 Tagebucheintrag vom 1.6.1901, in: Herzl: Briefe und Tagebücher Bd. 3, S. 291–292.

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deutschen Spion Capitaine Alfred Dreyfus (1859–1935) 1894/95 äußerte. Sie machte deutlich, dass auch der assimilierte und erfolgreiche Jude jederzeit vom Antisemitismus getroffen werden konnte.51 In wenigen Monaten schrieb Herzl seine Gedanken in der Schrift »Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage« nieder, die am 14. Februar 1896 erschien. In ihr legte er sich noch nicht fest, wo der Staat entstehen könne – irgendein »Stück der Erdoberfläche« sollte es ein. Allerdings: Palästina wäre als »unvergessliche historische Heimat« allein schon »ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk«. »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.« Als neutraler Staat werde man mit Europa in Verbindung bleiben und auch den Christen ihre heiligen Stätten garantieren. Alle Andersgläubigen sollten tolerant behandelt werden und Rechtsgleichheit genießen. Schon wenn man mit der Ausführung dieses Plans beginne, werde »der Antisemitismus überall und sofort zum Stillstand« kommen. Als Staatsform dachte er an eine »aristokratische Republik«, für die Lösung der Sprachenfrage zwischen den aus aller Welt stammenden Juden hielt er den »Sprachenföderalismus« der Schweiz für vorbildlich.52 51 Vgl. Catherine Nicault: Theodor Herzl et le sionisme. In: Michel Drouin (Hg.): L’affaire Dreyfus de A à Z. Paris 1994, S. 503–507 (sie weist darauf hin, dass Herzl in der DreyfusKrise ein Zeichen der Schwäche Frankreichs sah, das Wilhelm II. veranlassen könne, sich für das zionistische Palästina-Projekt zu verwenden, S. 506); Vincent Duclert: Die Dreyfus-Affäre. Militärwahn, Republikfeindschaft, Judenhass. Berlin 1994; Eckhardt Fuchs, Günther Fuchs: »J’accuse!« Zur Affäre Dreyfus. Mainz 1994; Clemens Thoma: Die Affäre Dreyfus in neuer Sicht. In: Freiburger Rundbrief N.F. 2 (1995) S. 81–86 (vor allem zu Forschungen Michael Graetz’). 52 Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Leipzig, Wien 1896, hier zitiert nach der Ausgabe Zürich 1988, S. 37, 40, 41, 114, 101. Zur Vorbildwirkung der Schweiz vgl. Herzl: Briefe, Bd. 2, S. 190–191, sowie Anm. 61, 100, 111. Bei der Erwartung, der Zionismus werde den Antisemitismus verschwinden lassen, stand Herzl nicht allein, vgl. etwa Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi: Antisemitismus. Von den Zeiten der Bibel bis Ende des 19. Jahrhunderts. Wien, München 1992, S. 254–277, bes. S. 276–277. Aus der Zahl der Biographien seien hier genannt: Amos Elon: Morgen in Jerusalem. Theodor Herzl. Sein Leben und sein Werk. Wien u. a. 1974; Alex Bein: Theodor Herzl. Biographie. Frankfurt a. M. u. a. 1983; Falk Avner: Herzl, King of Jews. A Psychoanalytical Biography of Theodor Herzl. Lanham u. a. 1993; Julius H. Schoeps: Theodor Herzl 1860–1904. Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen. Eine Text-Bild-Monographie. Wien 1995; Steven Beller: Herzl. Wien 1996. Auch: David Vital: A prince of the Jews. The legacy of Herzl’s »Der Judenstaat« to modern Israel. In: The Times Literary Supplement vom 7.6.1996, S. 6–7. Einen kurzen Überblick zur Situation in Wien gibt Eleonore Lappin: Juden in Wien. In: Wir. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. 217. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien 19.9.-29.12.1996. Wien 1996, S. 57–69 (zur Resonanz auf Herzl S. 64). Vgl. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. München, Zürich 1994, S. 138–164; Larry Wolff: Ansichtskarten vom Weltuntergang. Kindesmiss-

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Die Begeisterung, dass Herzl mit seiner Schrift genau den Ton getroffen habe, der überzeugen und mitreißen könne, veranlasste viele national eingestellte Juden, diesen zu drängen, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen.53 Herzl, von sich selbst überzeugt und aus Schutz vor Depressionen von einer oft wirklichkeitsfremden Überaktivität angetrieben, setzte sich mit seiner ganzen Kraft und seiner Organisationsfähigkeit dafür ein, dass endlich eine Versammlung von Vertretern der zionistischen Gruppierungen zustande käme. Er war damit erfolgreicher als Nathan Birnbaum (1864–1937). Dieser hatte in seiner Zeitschrift »Selbst-Emancipation« 1890 den Begriff »Zionismus« für die neue Strömung oder gar Weltanschauung geprägt und ihm auch eine politische Wendung gegeben, um ihn auf die Staatsbildung in Palästina zu beziehen und damit von allgemeinen nationaljüdischen Bestrebungen, aber auch von rein philanthropischen Kolonisationsbemühungen abzusetzen.54 Mit seinen Anläufen, eine Bewegung zu formieren, war er allerdings nicht über eine Vorkonferenz 1894 hinausgekommen.55 Jetzt überwand der Enthusiasmus, den Durchbruch schaffen zu können, alle Widerstände. handlungen in Freuds Wien. Salzburg, Wien 1992, S. 55–57, 131–138, 151; Leon Botstein: Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938. Wien, Köln 1991, S. 93–112. 53 Abraham Salz wies später darauf hin, dass er und andere »Alte Herren« der Wiener »Kadima« Herzl, den »idealsten Propheten des Zionismus«, überzeugt hätten, »sich an die Spitze des erweiterten Komitees zur Einberufung eines Kongresses zu stellen«: Berliner Büro: Warum gingen wir zum Ersten Zionistenkongress, S. 79–81, hier S. 81. Vgl. Julius H. Schoeps: Modern Heirs of the Maccabees. The Beginning of the Vienna Kadimah, 1882–1897. In: LBI Year Book 27 (1982) S. 155–170, hier bes. S. 169–170. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Kommers-Kultur der »Kadima« und ähnlicher Vereinigungen in den Kommersen während der Zionistenkongresse weiterlebte; s. etwa Ludwig Rosenhek (Hg.): Festschrift zur Feier des 100. Semesters der akademischen Verbindung Kadimah. Mödling 1933, zum Basler Kongress S. 94–96; Berkowitz: Zionist Culture (Anm. 70), S. 19–23. Das Buch zum »Commers in der Burgvogtei Basel« anlässlich des Elften Zionistenkongresses 1911 ist im CZA zugänglich; es enthält zahlreiche Unterschriften der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Aufgeführt wurde dabei auch ein Dialog zwischen Ahasver und dem Basler Ratsdiener, dem Standesweibel. 54 Bein: Zionssehnsucht, S. 41, 47 mit Anm. 36, 54, 55 (Ende 1892 gebrauchte er zum erstenmal den Begriff »politischer Zionismus»). Vgl. Nathan Birnbaum: Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen. Wien 1893; wiederabgedruckt zusammen mit anderen wichtigen Werken in: ders.: Die jüdische Moderne, S. 17–37. Max Bodenheimer formulierte 1891 bezeichnenderweise im Anschluss an Birnbaum die Losung: »Zionisten aller Länder vereinigt Euch!« (Bein: Zionssehnsucht, S. 47). 55 Vgl. Almut Bonhages Kurzbiographie Birnbaums im Begleitbuch zur Ausstellung. Zum Konflikt mit Herzl, der auch am Ersten Kongress zum Ausbruch kam, s. Josef Fraenkel: Mathias Achers Kampf um die »Zionskrone«. Basel 1959.

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Selbst der richtige Ort konnte nach manchen Schwierigkeiten gefunden werden: Basel. Hier gab es keinen so starken Antisemitismus wie in Wien, keinen Protest orthodoxer Rabbiner oder der jüdischen Gemeinde wie in München, keine Kolonie revolutionärer Russen wie in Zürich, welche die aus Osteuropa anreisenden zionistischen Delegierten befürchten ließ, die zaristische Geheimpolizei werde auch sie überwachen und ihnen dann Ungelegenheiten bereiten. Statt dessen stand eine gute Infrastruktur zur Verfügung, die Kantonsregierung verhielt sich entgegenkommend, der orthodoxe Rabbiner Arthur Cohn half, obwohl noch skeptisch eingestellt, bei der Vorbereitung ebenso,56 wie die »christlichen Zionisten« – wenngleich nicht uneigennützig – den Kongress unterstützten.57 Insgesamt herrschte ein liberales, offenes Klima, wie es wohl anderswo nicht so leicht zu finden gewesen wäre. Selbst nicht zu übersehende judenfeindliche Tendenzen oder innere Probleme der Israelitischen Gemeinde – wie sie sich etwa gegenüber den zuwandernden Ostjuden ausdrückten – konnten daran nichts ändern.58 56 Vgl. Arthur Cohn: Von Israels Lehre und Leben. Reden und Aufsätze. Basel 1928; Marcus Cohn: Erinnerungen eines Baslers an den ersten Zionistenkongress. Sonderdruck aus der Festschrift des Schweizerischen Insraelitischen Gemeindebundes 1954. Basel 1954; Gabriel Cohn: »Mein Grossvater wäre stolz und dankbar«. Über Rabbiner Arthur Cohn und seine Schomre aus der Sicht eines Enkels. In: Jüdische Rundschau Maccabi Nr. 43 vom 26.10.1995. S. Anm. 104. 57 Vgl. neben Beiträgen im Begleitbuch zur Ausstellung Sara Janner: Aus dem Archiv der Stiftung für Kirche und Judentum I: Briefe von frühen Zionistinnen und Zionisten an Carl Friedrich Heman. In: Der Freund Israels 156 (1993) S. 6–8; dies.: Friedrich Heman und die Anfänge des Zionismus in Basel. »Oh, wenn ich Missionar sein könnte, möchte ich Missionar des Zionismus sein.« In: Judaica 53 (1997) 1–2, S. 84–96 (mit einer Quellenveröffentlichung S. 106–121). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Haltung Henri Dunants. S. dazu den Beitrag von Shaul Dominique Ferrero im Begleitbuch zur Ausstellung; Emil Dreifuss: Ein Genfer tritt für Palästina ein. Henry Dunants Einsatz für die Wiederbelebung der alten Heimat des jüdischen Volkes. In: Der Bund Nr. 201 vom 29.8.1983, S. 2; Daniel Regli: Die Apokalypse Henri Dunants (1828–1910). Das Geschichtsbild des Rotkreuzgründers in der Tradition eschatologischer Naherwartung. Bern u. a. 1994. Einen Eindruck vermittelt auch die Berichterstattung der »London Society for Promoting Christianity amongst the Jews«, z. B. Jewish Missionary Intelligence 13 (1897) S. 141, 14 (1898) S. 35, 174–181. 58 David Farbstein empfahl Herzl brieflich am 2.7.1897, gegenüber der schweizerischen Öffentlichkeit nicht nur den »Geist der Freiheit« zu rühmen, sondern auch auf antisemitische Tendenzen Rücksicht zu nehmen. Deshalb dürfe der Zionismus nicht ausschliesslich als Reaktion auf den Antisemitismus erscheinen, sondern solle eher als eine Bewegung zugunsten der »unschuldigen armen Juden« dargestellt werden, die sich gegen die reichen Juden und bestimmte Rabbiner richte (CZA, H 1205). Vgl. die Beiträge von Patrick Kury im Begleitbuch zur Ausstellung sowie seine Arbeit: »Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!« Ostjudenmigration nach Basel 1890–1930. Basel 1998.

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Der Erste Zionistenkongress tagte im Stadtcasino, das festlich geschmückt war. Die Teilnehmer erschienen – bis auf eine Ausnahme – im Frack, die Damen ebenfalls in eleganter Kleidung. Als ein Delegierter fragte, ob diese stimmberechtigt seien, antwortete der zum Präsidenten gewählte Herzl: »Die Damen sind selbstverständlich sehr verehrte Gäste, nehmen aber an der Abstimmung nicht theil.»59 Immerhin erhielten sie das Stimmrecht am Zweiten Kongress, der ein Jahr später wiederum in Basel stattfand. Theodor Herzl wurde mit seiner ruhigen, beeindruckenden Rede, mit der er die Ziele des Zionismus darlegte, endgültig zur Integrationsfigur der Bewegung. Max Nordau (1849–1923), der Vizepräsident, rührte mit seiner Analyse der Lage des jüdischen Volkes und des Antisemitismus die Anwesenden und riss sie mit, diese Zustände zu ändern. Zugleich war er bestrebt, den Juden ein neues Selbstbewusstsein zu vermitteln. David Farbstein (1868–1956) begründete die Notwendigkeit des Zionismus aus den wirtschaftlichen Entwicklungen, und Nathan Birnbaum ging auf die kulturellen Hintergründe ein. Eindringlich machte er auf die Unterschiede zwischen Ost- und Westjuden aufmerksam, die zu berücksichtigen seien. Einzelberichte über die Verhältnisse in einzelnen Ländern folgten. Die Kongressteilnehmer beschlossen die Formierung der Zionistischen Organisation. Daneben wurde die Gründung eines Jüdischen Nationalfonds und einer Bank ins Auge gefasst, um Land in Palästina ankaufen zu können. Aus Zeitgründen konnten die Fragen der hebräischen Sprache, Literatur und Erziehung sowie einer künftigen hebräischen Hochschule nur am Rande behandelt werden. Das wichtigste Ergebnis bildete die Verabschiedung des »Baseler Programms«, das bis zur Staatsbildung Israels am 14. Mai 1948 seine Geltung behielt. Sein Leitsatz lautete: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.« Wie das gesamte Programm war auch diese Kernaussage ein Kompromiss. Mit dem Begriff »Heimstätte« statt »Staat« wollten die Verfasser denjenigen Juden entgegenkommen, für die die Besiedlung des Landes wichtiger war als ein »Judenstaat« oder die Gottes Willen nicht vorweggreifen wollten. Ebenso sollte der Sultan des Osmanischen Reiches nicht brüskiert werden. Deshalb wählte man auch die Formulierung »öffentlich-rechtlich« statt »völkerrechtlich«, hielt allerdings eine Beschränkung auf »rechtlich«, wie sie ursprünglich 59 Zionisten-Congress, S. 115. Die im folgenden zitierten Reden von Herzl, Nordau, Birnbaum und Farbstein S. 4–9, 9–20, 82–94, 94–108. Birnbaums Rede ist wiederabgedruckt in: ders.: Die jüdische Moderne, S. 85–99. – Die integrative Bedeutung Herzls wurde schließlich – trotz aller Differenzen, die zuvor aufgebrochen waren – nach seinem Tod deutlich, als man den Verlust erkannte. Vgl. die beeindruckende Schilderung der Beerdigung von Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a. M. 1970, S. 132–133 ( S. 124 ff. zu seinen Begegnungen mit Herzl).

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vorgeschlagen worden war, für eine zu schwache Garantie. Mit den in Aussicht genommenen Mitteln, das Ziel zu erreichen, versuchte man gleichermaßen, verschiedene Strömungen innerhalb der Bewegung zu integrieren: die Kolonisationsbefürworter, die Assimilierten, die in ihren Heimatländern arbeiten wollten, oder die Nationaljuden und Kulturzionisten, für die die »Stärkung des jüdischen Volksgefühls und Volksbewusstseins« im Vordergrund stand. Herzls Einfluss ist zu erkennen, wenn die »Erlangung der Regierungszustimmung« – also diplomatische Bemühungen – für nötig gehalten wurde, um ans Ziel zu gelangen.60 Nach dem Kongress fand dann der Zionismus in Basel, aber auch in der Landjudenschaft der das Elsass und Südbaden mitumfassenden Region oder unter jüdischen Studenten an der Universität Freiburg im Breisgau Resonanz. Zionistische Vereinigungen entstanden. Die Freiburger Gruppe diente als Basis für Sitzungen von Delegierten aus Osteuropa, namentlich der »Demokratischen Fraktion«, die hier ihre Strategie gegen den »Uganda-Plan« absprachen. Die Schweiz spielte für die zionistische Bewegung eine wichtige Rolle: Die meisten Kongresse fanden hier statt, die staatliche Verfassung wurde vielfach für die zukünftige Organisation des Staates Israel in Betracht gezogen, und bedeutende zionistische Persönlichkeiten wirkten hier.61 Herzl hatte recht: Obwohl es nach wie vor ablehnende Reaktionen in aller Welt gab, traten die Zionisten mit dem Erfolg des Ersten Kongresses als gesell60 Wie Anm. 3. Im einzelnen sind die Beiträge im Begleitbuch zur Ausstellung heranzuziehen. Vgl. Israel Kolatt: A Jewish National Assembly or the Foundation of the State of Israel? In: Dispension and Unity 17/18 (1973) S. 67–77. Vgl. den Leitsatz des »Baseler Programms« mit den 1882 in Minsk verabschiedeten Richtlinien der Chowewe Zion: »Das Ziel ist die Schaffung einer sicheren Zuflucht für die übergebliebenen Söhne Israels, die aus ihrem Lande [Russland] verstossen, verbannt wurden»: zit. in Mayorek: Zwischen Ost und West, S. 150 Anm. 13. 61 Vgl. im einzelnen die einschlägigen Beiträge im Begleitbuch zur Ausstellung. In der traditionsreichen Judengemeinde Endingen im Surbtal wurde 1903 eine zionistische Ortsgruppe gegründet; vgl. den Rückblick von Florence Guggenheim in: Israelitisches Wochenblatt vom 7.4.1967. Zur Schweiz auch Dominique Ferrero: La Suisse »berceau du sionisme politique«. Aperçu sur les relations entre le sionisme et la Suisse (1897–1947). In: Equinoxe. Revue Romande de Sciences Humaines 13 (1995) S. 95–111. Als Randbemerkung: Am Sechsten Zionistenkongress 1903 in Basel arbeitete als Herzls Sekretär Lazar Felix Pinskus, der über das Thema »Die moderne Judenfrage. Von den Grundlagen der jüdischen Wirtschaftsgeschichte und des Zionismus« (Breslau 1903) seine Dissertation geschrieben hatte. Der 1909 geborene Sohn erhielt den Rufnamen Theodor. Theo Pinskus wurde dann einer der bekanntesten Schweizer Kommunisten und Sozialisten (Rudolf M. Lüscher, Werner Schweizer: Amalie und Theo Pinskus-De Sassi. Leben im Widerspruch. 2. Aufl. Zürich 1994, S. 17–19). Zur Schweiz als Vorbild für die Staats- und Gesellschaftsordnung s. Anm. 52, 100, 111.

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schaftliche Bewegung in die Geschichte ein. Bei der Vorstellung der Organisationsprinzipien war sich Max Bodenheimer (1865–1940) ganz des Bodens bewusst gewesen, auf dem sich die Zionisten befanden: »So möge denn ein Geist der Einigkeit, der Geist des Rütli auch über unserer Versammlung neuer Eidgenossen wehen.»62 Vielleicht hatten Herzl und seine engsten Mitstreiter gehofft, die Bewegung geeinigt zu haben, so dass sie in Zukunft geschlossen auftreten werde. Dies erwies sich allerdings als Illusion. Schon bald nach dem Kongress kamen die vorher bestehenden Gegensätze wieder zum Vorschein, zusätzlich entfalteten sich neue Unterschiede, die mehrfach zu Abspaltungen führten. Deshalb war die Mehrheitslinie, wie sie sich nach und nach in der Zionistischen Weltorganisation herausbildete, nicht unumstritten.63 Der »synthetische Zionismus«, wie ihn Chaim Weizmann (1874–1952) 1907 im Anschluss an Menachem Ussischkin (UsyŠkin, 1863–1941) vorschlug, versuchte den »praktischen«, auf die Besiedlung Palästinas gerichten Zionismus mit dem »politischen«, der den diplomatischen Aktivitäten und der Staatsbildung Vorrang gab, zu verbinden. Dieser Lösung konnten sich die religiösen Zionisten, die sich 1902 in der »Misrachi«-Bewegung organisiert hatten, anschließen.64 Häufig kam es auch zur Zusammenarbeit mit den eher sozialistisch orientierten Kräften, mit der zionistischen Arbeiterbewegung. Diese zerfiel wieder in verschiedene – marxistische bis gemäßigt-sozialdemokratische – Richtungen, die sich erst allmählich zu Parteien zusammenfanden, aber nie eine vollständige Einheit bildeten. Ber Borochov (1881–1917), der Marxist und Theoretiker der 1901 gegründeten »Poale Zion«, der »Arbeiter Zions«, entgegnete den nichtzionistischen jüdischen Sozialisten, die den Zionismus als Spielart des »bourgeoisen« Nationalismus betrachteten, die Juden benötigten Zion als Territorium, auf dem sich der Klassenkampf entwickeln könne. Das arabische Proletariat werde dabei der Bündnispartner der jüdischen Arbeiterschaft sein. Nachman Syrkin (1868–1924), der ebenfalls großen Einfluss auf die Arbeiterbewegung hatte und die Partei der Zionisten-Sozialisten begründete, löste sich hingegen 62 Zionisten-Congress, S. 130. 63 Im einzelnen sind hier die Gesamtdarstellungen zur Geschichte des Zionismus heranzuziehen: Joseph B. Sapir: Der Zionismus. Eine populär-wissenschaftliche Darlegung des Wesens und der Geschichte der zionistischen Bewegung. Brünn 1903; Nahum Sokolow: Geschichte des Zionismus. 2 Bde. Wien, Berlin 1925; Adolf Böhm: Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkriegs. 2 Bde. Tel Aviv 1935, Jerusalem1937; vgl. Avineri: Making; Richard Lichtheim: Die Geschichte des deutschen Zionismus. Jerusalem 1954; Yehuda Eloni: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen 1987; Walter Laqueur: Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus. Wien 1975; Vital: Origins, Zionism: The Formative Years, Zionism: The Crucial Phase. 64 Vgl. Penkower: Emergence, S. 108–119; Luz: Parallels Meet, S. 227–255..

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im Zusammenhang mit der »Uganda«-Debatte von der Fixierung auf Palästina. In den zwanziger Jahren schwächte sich im übrigen die klassenkämpferische Perspektive zunehmend zugunsten eines vorrangig nationalen Denkens ab.65 Diesen »Blöcken« standen ernstzunehmende Alternativen gegenüber. Die »Territorialisten« um Israel Zangwill (1864–1926) wollten sich nicht auf Erez Israel als künftigen Staat fixieren, sondern suchten auch nach anderen Möglichkeiten, ein Gebiet zu finden, in dem Juden nach ihren Wünschen und Bedürfnissen leben konnten.Wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten mit der Mehrheit der Zionistischen Organisation anlässlich der »Uganda»Frage formierten sie sich 1905 in der Basler »Safranzunft« als eigenständige »Jüdisch-Territorialistische Organisation« (ITO).66 In gewisser Weise kam die Sowjetunion diesen Bestrebungen entgegen, als sie mit dem Jüdischen Autonomen Gebiet BirobidŽan den – allerdings untauglichen – Versuch machte, den Juden eine »Heimstätte« zu geben. Sie wurde, nachdem schon 1928 ein entsprechender Beschluss gefasst worden war, am 8. Mai 1934 offiziell gegründet. Eine größere Resonanz der Juden blieb jedoch aus. Diejenigen, die sich dort ansiedelten, stellten immer lediglich eine deutliche Minderheit im Land. Das Experiment war schlecht vorbereitet. In der Terrorwelle der »Großen Säuberung« in den dreißiger Jahren – und dann noch einmal nach 1948 – kam zudem ein beträchtlicher Teil der Juden um. Der Rest wurde von der zentralen Führung zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes eingesetzt. Immerhin gab es Ansätze einer jiddischen Kultur, jiddische Zeitungen und Zeitschriften; auch eine jiddische Universität war geplant.67 65 Marie Syrkin: Nachman Syrkin. Socialist Zionist. A Biographical Memoir. Selected Essays. New York 1961; Matityahu Mintz: Ber Borokhov. In: Studies in Zionism 5 (1982) S. 33–53; Penkower: Emergence, S. 85–107; Mario Keßler: Zionismus und internationale Arbeiterbewegung 1897 bis 1933. Berlin 1994; Shlomo Na’aman: Marxismus und Zionismus. Gerlingen 1997; Beth Hatefutsoth: Workers, S. 44–45; Jüdisches Museum: Arbeiter, S. 12–14. S. Anm. 37. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kibbuz-Bewegung, hier nur Hermann Meier-Cronemeyer: Kibbuzim. Geschichte, Geist und Gestalt. Erster Teil. Hannover 1969; Wolfgang Melzer, Georg Neubauer (Hg.): Der Kibbutz als Utopie. Weinheim, Basel 1988. 66 Vgl. Patrick Marcolli: »Jerusalem, like Heaven, is more a state of mind than a place.« Israel Zangwill, seine Zionismus-Kritik und die Jüdisch-territorialistische Organisation. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit Basel 1996. Die Eltern Zangwills stammten übrigens aus dem Russischen Reich. Vgl., auch zu den pragmatischen amerikanischen Zionisten, Wheatcroft: Controversy, S. 117–129, 187–201. 67 Antje Kuchenbecker verdanke ich hier wichtige Hinweise [s. dies.: Zionismus ohne Zion. BirobidŽan: Idee und Geschichte eines jüdischen Staates in Sowjet-Fernost. Berlin 2000]; vgl. Walter Kaufmann: »Der Kampf auf der jüdischen Straße«. Die Politik der jüdischen Sektion der Kommunistischen Partei am Beispiel Odessas, 1920–1925. Vorgeschichte und Verlauf. Unveröffentl. Magisterarbeit Berlin 1994; Allan Laine Kagedan: Soviet Zion. The

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Die extrem entgegengesetzte Richtung in diesem Umfeld des politischen Zionismus waren die »Zionisten-Revisionisten«, die sich in der zwanziger Jahren unter der Führung Zeev Jabotinskys (Vladimir Žabotinskij, 1880–1940) formierten und kompromisslos mit allen Mitteln, auch durch den bewaffneten Kampf, den Staat Israel durchsetzen wollten. Teilweise auf den Erfahrungen der Selbstverteidigung gegen die Ausschreitungen während der Pogrome im Russischen Reich beruhend, drückte sich hier ein geradezu übersteigerter Nationalismus aus. Dass Jabotinsky ein Bewunderer Mussolinis war, ist insofern kein Zufall. Für Träumereien eines arabisch-jüdischen Ausgleichs hatte er nichts übrig; für ihn stand fest, dass der Judenstaat nur gewaltsam gegen die derzeitige arabische Bevölkerungsmehrheit und durch eine Beschleunigung jüdischer Einwanderung erreicht werden könne.68 Achad Haam (Ascher Ginzberg, 1856–1927) hielt einen jüdischen Staat für eine Utopie und vertrat statt dessen das Ziel, Palästina zu einem erneuerten geistigen Zentrum des Judentums zu machen, um dadurch auch eine Renaissance des jüdischen Volkes in der Diaspora zu erreichen. Der »Kulturzionismus« wurde dann nicht zuletzt von Martin Buber (1878–1965) und seinen Anhängern weiterentwickelt.69 1901 traten sie in Basel am Fünften Kongress mit einer Ausstellung zur »jüdischen Kunst« hervor. In vielfältigen Aktivitäten ging es ihnen um die Besinnung auf die »Jüdischkeit«, vor allem unter Berufung auf die ostjüdischen Wurzeln. Mit der Betonung der besonderen jüdischen Kultur war zugleich eine Anerkennung der arabischen verbunden, so dass hier starke Quest for a Russian Jewish Homeland. Houndmills, London 1994. Anfang der neunziger Jahre lebten rund 8000 Juden in Birobidžan, davon sind inzwischen etwa 2500 ausgewandert. Das Schicksal der Republik ist ungewiss. Offenbar hat sich aber ein neues Selbstbewusstsein ausgebildet. Vgl. Matthias Vetter: Antisemiten und Bolschewiki. Zum Verhältnis von Sowjetsystem und Judenfeindschaft 1917–1939. Berlin 1995 (zu Birobidžan speziell S. 242–245); Keßler: Zionismus, S. 165–170. 68 Wheatcroft: Controversy, S. 168–186; Shapira: Land, S. 154–163; Penkower: Emergence, S. 120–132; Yosef Gorny: Zionism and the Arabs, 1882–1948. A Study of Ideology. Oxford 1987, S. 159 ff.; Vladimir Žabotinskij: Opyt avtobiografii [1913, hg. von Ch. Firin]. In: Vestnik Evrejskogo Universiteta v Moskve Nr. 3 (1993) S. 213–217; in dieser Zeitschrift erscheinen weitere Beiträge von und über Jabotinsky. Vgl. den Beitrag von Bettina Zeugin in diesem Band sowie dies.: Die zionistisch-revisionistische Bewegung in der Schweiz 1925–1935. Zielsetzung und Entwicklung. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit Basel 1995; Francis R. Nicosia: Revisionist Zionism in Germany (I). Richard Lichtheim and the Landesverband der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 1926–1933. In: LBI Year Book 31 (1986) S. 209–240. 69 Steven J. Zipperstein: Elusive Prophet. Achad Ha’am and the Origins of Zionism. Berkeley, Los Angeles 1993; Jossi Goldstein: An der Zeitenwende. Achad Ha’am in historischer Perspektive. In. Jakob Hessing (Hg.): Jüdischer Almanach 1995, S. 81–90; Penkower: Emergence, S. 53–62.

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Ansätze für den Ausgleich mit den Arabern zu finden sind.70 In der Analyse der Zustände und in der Folgerung, die Juden müssten sich als Volk, als Nation begreifen und entsprechend politisch handeln, stand die Bewegung des »Nationaljudentums« dem Zionismus nicht fern. Doch noch stärker als viele osteuropäische Zionisten wollten die Nationaljuden einen autonomen Status innerhalb des Landes, in dem sie lebten, verwirklichen. Ihr bedeutendster Vertreter war der Historiker Simon Dubnow (1860–1941), der in Russland 1906 die Jüdische Volkspartei gründete. Für ihn war die schöpferische Kraft des Judentums nicht an Erez Israel gebunden, sondern viel stärker auf die Erinnerung bezogen.71 In dem Bestreben, eine Antwort auf die gesellschaftlichen Wandlungen und die Bedrohungen der Judenheit zu finden, verinnerlichten viele Zionisten in gewisser Weise den »Zeitgeist« – auch dies ist ein Teil der Krise des Selbstver70 Dokumente zur Kunstausstellung in: CZA, DD A2/1/1/5. Ausdruck dieser Bewegung waren etwa der »Jüdische Verlag«, der »Jüdische Almanach« und die Zeitschrift »Ost und West«. Vgl. die entsprechenden Artikel im Begleitbuch zur Ausstellung. Einen Eindruck vermittelt auch Herzog: Ost und West; Martin Buber (Hg.): Jüdische Künstler. Berlin 1903 (hier werden die künstlerischen Ausdrucksformen immer wieder mit den jüdischen »Rasseneigenschaften« in Verbindung gebracht, vgl. Anm. 39, 72 ff.). Vgl. Mark H. Gelber: The jungjüdische Bewegung. An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History. In: LBI Year Book 31 (1986) S. 105–119; Michael Berkowitz: Zionist Culture and West European Jewry before the First World War. Cambridge u. a. 1993, bes. S. 77–98, 119–143; Gavriel D. Rosenfeld: Defining »Jewish Art« in Ost and West, 1901– 1908. A Study in the Nationalisation of Jewish Culture. In: LBI Year Book 39 (1994) S. 83–110; Inka Bertz: »Eine neue Kunst für ein altes Volk«. Die Jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924. Ausstellungsmagazin Nr. 28, hg. vom Jüdischen Museum im Berlin Museum. Berlin 1991; dies.: Politischer Zionismus und Jüdische Renaissance in Berlin vor 1914. In: Reinhard Rürup (Hg.): Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien. Berlin 1995, S. 149–180; dies.: Propheten und Ostjuden. Zur Verarbeitung von Zeiterfahrung im Werk Jakob Steinhardts vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In: Jakob Steinhardt, der Prophet. Ausstellungs- und Bestandskatalog. Jüdisches Museum im Berlin Museum. Berlin 1995, S. 65–92. S. auch die Diskussion über Messianismus in Anm. 46–48. 71 Simon M. Dubnow: Die Grundlagen des Nationaljudentums. Berlin 1906; ders.: Die jüdische Geschichte. Ein geschichtsphilosophischer Versuch. Frankfurt a. M. 1921; ders.: Nationalism and History. Hg. von Koppel Pinson. Philadelphia 1958; Sophie Dubnov-Erlich: The Life and Work of S. M. Dubnov. Diaspora Nationalism and Jewish History. New York 1991; vgl. Meyer: Jüdische Identität, S. 90; Christoph Gassenschmidt: Jewish Liberal Politics in Tsarist Russia, 1900–14. The Modernization of Russian Jewry. Houndmills, London 1995. Zu Deutschland Michael Brenner: The Jüdische Volkspartei. National-Jewish Communal Politics during the Weimar Republic. In: LBI Year Book 35 (1990) S. 219–243. Vgl. auch Ernst Schulin: »The Most Historical of All Peoples«. Nationalism and the New Construction of Jewish History in Nineteenth-Century Germany. German Historical Institute London – The 1995 Annual Lecture. London 1996.

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ständnisses. Während Ostjuden in erster Linie vom Volksbegriff ausgingen, griff vor allem eine Reihe Westjuden, um das Nationaljudentum aus der Naturwissenschaft zu begründen, in die Diskussion um die »arische« und »semitische« oder »jüdische« Rasse ein.72 Max Nordau trug mit seinem 1892 erschienenen kulturkritischen Buch zur Verbreitung des Begriffs der »Entartung« bei.73 Um dem Klischee des »weibischen« Juden – des gelehrten, blassen, unpraktischen, körperlich schwachen Mannes – entgegenzuwirken, propagierten die Zionisten den »Muskeljuden«, den starken, »männlichen«, »produktiv« tätigen Menschen. Max Nordau, der den Begriff des »Muskeljuden« in die Debatte geworfen hatte, stellte ihn »den unbeholfenen, ausgemergelten, hustenden Jammerzwergen des östlichen Ghettos« gegenüber.74 Daraus folgten immer wieder Bestrebungen, 72 Joachim Doron: Rassenbewusstsein und naturwissenschaftliches Denken im deutschen Zionismus während der wilhelminischen Ära. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte (Universität Tel Aviv) 9 (1980) S. 389–427 (keineswegs nahmen übrigens nur zionistische Juden den Rassengedanken auf, das Spektrum reichte bis zu dem »jüdischen Selbsthasser Otto Weiniger« und dem assimilierten, später konvertierten Soziologen Ludwig Gumplowicz, S. 398); George L. Mosse: Die Geschichte des Rassismus in Europa. Frankfurt a. M. 1990, S. 156–160; Walter Zwi Bacharach: Jews in Confrontation with Racist Antisemitism, 1879–1933. In: LBI Year Book 25 (1980) S. 197–219; Annegret Kiefer: Das Problem einer »jüdischen Rasse«. Eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Ideologie (1870–1930). Frankfurt a. M. u. a. 1991, bes. S. 59 ff. Vgl. Anm. 39. 73 Max Nordau: Entartung. 2 Bde. Berlin 1892; s. ders.: Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit. Leipzig 1884 (die heutige Zivilisation sei von »Pessimismus, Lüge und Selbstsucht« gekennzeichnet, S. 350 des 62.–63 Tsd., o. J.). Vgl. P. M. Baldwin: Liberalism, Nationalism, and Degeneration: The Case of Max Nordau. In: Central European History 13 (1980) S. 99–120; Botstein: Judentum, S. 113–125; Christoph Schulte: Psychopathologie des Fin de siècle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau. Frankfurt a. M. 1997. 74 Max Nordau: Generalreferat über »Fragen der körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Hebung des Judentums« am 5. Zionistencongress in Basel. Basel 1901, S. 19–20; ders.: Muskeljudentum. In: ders.: Zionistische Schriften. Hg. vom Zionistischen Aktionskomitee. Köln, Leipzig 1909, S. 379–381. Wichtige Hinweise bei Barbara Lüthi: Rasse und Krankheit: Ein Körperdiskurs im Spiegel zionistischer Zeitschriften. Unveröffentl. Manuskript (Seminararbeit) Basel 1996. Vgl. T. Bergmann: Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Eine soziologische Studie. Wien 1973; Shmuel Almog: Zionism and History. The Rise of a New Jewish Consciousness. Jerusalem 1987; Berkowitz: Zionist Culture, S. 105–118. Zu einem aktuellen Bezug David Grossman: Der Sabra – der schöne, neue Jude. Betrachtungen nach Yitzhak Rabins Ermordung. In: Süddeutsche Zeitung vom 7.11.1995. Eine derartige Wortwahl, die ihre Fortsetzung in vielen Äußerungen von Zionisten fand, die judenfeindlichen Klischees zu bestätigen schien und die »Ghettojuden« würdelos machte, wurde gerade im Hinblick auf die NS-Propaganda von manchen Juden scharf kritisiert, vgl. Esriel Carlebach: Vom nationaljüdischen Antisemitismus (1934). In: Henryk M. Broder, Hilde Recher (Hg.): Jüdisches Lesebuch 1933–1938. Nördlingen 1987, S. 77–96.

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möglichst nur geeignete »Männer« für die Kolonisation Palästinas auszusuchen. Studentenverbindungen und Turnverbände pflegten das neue Ideal.75 Darüber hinaus hatte dies Folgen für die Einstellung zur Sexualität oder zur Rolle von Mann und Frau.76 Für die Frauen im Zionismus bedeutete es, dass sie durch75 So gab sich das zionistische »Kartell Jüdischer Verbindungen« (K.J.V.) 1914 als Ziel: »Das K.J.V. will seine Mitglieder zu Männern erziehen, die in dem Bewusstsein der nationalen Einheit der jüdischen Gemeinschaft entschlossen sind, für eine der Vergangenheit des jüdischen Volkstums würdige Erneuerung in Eretz-Israel einzutreten»; zit. in: Walter Gross: The Zionist Students’ Movement. In: LBI Year Book 4 (1959) S. 143–164, hier S. 149. Auch: Walter Laqueur: The German Youth Movement and the ›Jewish Question‹. A Preliminary Survey. In: ebd. 6 (1961) S. 193–205; Chanoch Rinott: Major Trends in Jewish Youth Movements in Germany. In: ebd. 19 (1974) S. 77–95; Werner Rosenstock: The Jewish Youth Movement. Ebd., S. 97–102, Diskussion S. 102–105; Moshe Zimmermann: Jewish Nationalism and Zionism in German-Jewish Students’ Organisations. In: ebd. 27 (1982) S. 129–153; Marsha L. Rozenblit: The Assertion of Identity. Jewish Student Nationalism at the University of Vienna before the First World War. In: ebd. 27 (1982) S. 171–186; Jehuda Reinharz: Hashomer Hazair in Germany (I). 1928–1933. In: ebd. 31 (1986) S. 173–208; ders.: Hashomer Hazair in Germany (II). Under the Shadow of the Swastika, 1933–1938. In: ebd. 32 (1987) S. 183–229; Chaim Shatzker: Jüdische Jugend im zweiten Kaiserreich. Sozialisations- und Erziehungsprozesse der jüdischen Jugend in Deutschland, 1870–1917. Frankfurt a. M. u. a. 1988; Jutta Hetkamp: Sport als darstellendes Element einer Lebensphilosophie. Ein Beitrag zum Stellenwert des Sports als Ausgleich von Minderwertigkeitsgefühlen bei Juden in der Jüdischen Jugendbewegung Deutschlands. In: Menora 5 (1994) S. 313–329. 76 Vgl. Monica Rüthers’ Beitrag in diesem Band; dies.: Der Jude wird weibisch – und wo bleibt die Jüdin? Jewish Studies – Gender Studies – Body History. In: traverse 3 (1996) 1, 136–145; David Biale: Zionism as an Erotic Revolution. In: Howard Eilberg-Schwartz (Hg.): People of the Body. Jews and Judaism from an Embodied Perspective. New York 1992, S. 283–307; Sander L. Gilman: Der jüdische Körper: Gedanken zum physischen Anderssein der Juden; Christina von Braun: Antisemitische Stereotype und Sexualphantasien, beide in: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995, S. 168–179, 180–191; Naomi Seidman: Carnal Knowledge: Sex and the Body in Jewish Studies. In: Jewish Social Studies N.F. 1 (1994/95) S. 115–146; Daniel Boyarin: Judaism as a Gender. In: LBI News No. 62 (1995) S. 7–8. Die Theorien Sigmund Freuds wurden vor diesem Hintergrund diskutiert; vgl. Sander L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht. Frankfurt a. M. 1994; vgl. Falk: Herzl. Gewiss entstand auch eine damals aufsehenerregende Schrift nicht zufällig: Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. München 1980, zuerst Wien 1903. Der Koitus entwürdige die Frau, da sie dabei nur Objekt sei, obwohl sie selbst ihn wolle; nur der Mann könne diesen Zustand überwinden, indem er den Koitus und die Fortpflanzung verweigere. Mit dieser »Idee der Menschheit« – S. 459 u. ö. – werde die Frau wahrhaft emanzipiert. Da das Wesen der Juden bis zu einem gewissen Grade mit dem der Weiber übereinstimme – Weininger spitzt hier das Negativklischee vom »weibischen Juden« zu, vgl. das 13. Kap. –, würde auf diese Weise, so ließe sich folgern, zugleich die »Judenfrage« gelöst. Selbst in dieser »Erlösung« sind noch Elemente messianistischen Den-

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aus eine Brücke zwischen Tradition und Neuerung schlagen, ihre Jüdischkeit bewahren und doch öffentlich tätig werden konnten: im modernen Sozial- und Erziehungswesen, in der landwirtschaftlichen Arbeit in den jüdischen Kolonien Palästinas etwa, aber auch im politischen Wirken. Dass Frauen deshalb bereits auf dem Zweiten Zionistenkongress 1898 das Wahlrecht erhielten, ist insofern kein Zufall. Doch die Vorstellung vom »Muskeljuden« führte zugleich dazu, dass die neuen Handlungsräume von Mehrfachbelastungen, Rollenzuweisungen und Identitätsproblemen überdeckt wurden.77 Darüber hinaus brachte das Männlichkeitsbild eine Verachtung des angeblich feigen, passiven Verhaltens der meisten Juden gegenüber ihren Gegnern mit sich. Der »männliche« Jude, der sich als Teil einer Nation verstand, sollte Widerstand leisten. Nun war Widerstand in bestimmten Situationen mit der Haltung religiös orthodoxer Juden durchaus vereinbar, wie die bewaffneten Verteidigungsaktionen während der Verfolgungen im mittelalterlichen Westeuropa oder in den Kriegen Polens gezeigt hatten. Aber die bewaffnete Aktion galt nicht als Tugend. In der Regel antwortete man duldend auf Gewalt. »Die scheinbare Feigheit des Juden, der auf den Steinwurf des spielenden Knaben nicht reagiert und den schmähenden Zuruf nicht hören will, ist in Wahrheit der Stolz eines, der weiß, daß er einmal siegen wird und daß ihm nichts geschehen kann, wenn Gott es nicht will, und daß eine Abwehr nicht so wunderbar schützt, wie Gottes Wille es tut.«78 Manche Zionisten zeigten wenig Verständnis für die menschliche Würde, die in diesem Gottvertrauen, in diesem Selbstkens zu erkennen. Dazu Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 154–160; Christina v. Braun: »Der Jude« und »Das Weib»: Zwei Stereotypen des »Anderen« in der Moderne. In: Metis 1992/2, S. 6–28; Inge Stephan, Sabine Schilling, Sigrid Weigel (Hg.): Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Köln u. a. 1994; Gudrun Hentges: Der (Einzel-)Fall Otto Weininger? In: dies. u. a. (Hg.): Antisemitismus. Geschichte – Interessenstruktur – Aktualität. Heilbronn 1995, S. 91–114; Nancy A. Harrowitz, Barbara Hyams (Hg.): Jews and Gender. Responses to Otto Weininger. Philadelphia 1995. 77 Ada Fischmann: Die arbeitende Frau in Palästina. Geschichte der Arbeiterinnenbewegung in Palästina 1904–1930. Tel Aviv 1930; Rachel Katznelson Shazar (Rubashow) (Hg.): The Plough Woman. Memoirs of the Pioneer Women in Palestine. 2. Aufl. New York 1975; aus der Sicht einer Kommunistin Ruth Lubitsch: Ich kam nach Palästina. Geschichte meines Lebens. Hg. von Angelika Timm. Berlin 1988; Claudia Prestel: Frauen und die Zionistische Bewegung (1897–1933). Tradition oder Revolution? In: Historische Zeitschrift 258 (1994) S. 29–71; Margalit Shilo: The Transformation of the Role of Women in the First Aliyah, 1882–1903. In: Jewish Social Studies N.F. 2 (1996) S. 64–86; vgl. Rüthers: Tewjes Töchter, bes. S. 255–258. 78 Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft (1927/1937). In: ders.: Werke. Hg. von Hermann Kesten. 3. Band. Köln 1976, S. 293–369, hier S. 308–309.

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Bewusstsein, ja auch in der Einsicht in die Sinnlosigkeit von Gewalt lag. Wenn dann – als Beispiel – Josef Trumpeldor (1880–1920), der jüdische Selbstverteidigungseinheiten organisierte und im Kampf gegen die Araber fiel, heroisiert und zum Vorbild stilisiert wurde, konnte durchaus bezweifelt werden, ob dies der rechte Weg sei: Wurde dadurch nicht neue Gewalt heraufbeschworen?79 Das Männlichkeitsideal, die Betonung des Nationalen und der zivilisatorischen Leistungen der Juden, das Aufgreifen des Rassegedankens, ja geradezu »völkischer Elemente»80 bei einem Teil der Zionisten wirkte sich auch auf die Einstellung gegenüber den Arabern aus. Wenn auf sie herabgeschaut, sie als kulturell minderwertig eingestuft wurden, so war dies vor dem Hintergrund des »Zeitgeistes« verständlich, legte aber doch die Wurzel für den verhängnisvollen Konflikt, der bis heute ungelöst ist.81 Selbst der Soziologe Arthur Ruppin (1876–1943), der als Leiter des »Palästina-Amtes« seit 1908 die jüdische Kolonisation des Landes organisierte und dabei nachdrücklich für einen Ausgleich und ein friedliches Zusammenleben mit den Arabern eintrat, war nicht frei von Klischeevorstellungen. Nicht zuletzt sah er es als Aufgabe des künftigen Schulwesens an, die »heranwachsende arabische Generation mit den Juden auf glei79 Vgl. Daniel Boyarin: Homotopia: The Feminized Jewish Man and the Lives of Women in Late Antiquity. In: Differences. A Journal of Feminist Cultural Studies 7/2 (1995) S. 41– 81, z. B. S. 69: »(...) the feminized Jewish male, may be useful today, for he may help us precisely in our attempts to construct an alternative masculine subjectivity (...)«. 80 Vgl. George Eisen: Zionism, Nationalism and the Emergence of the Jüdische Turnerschaft. In: LBI Year Book 38 (1983) S. 247–262, bes. S. 259, auch S. 251: zu 1903 in Basel; Baron: Lessing, S. 337–340. Weitere Beispiele finden sich in den in Anm. 61 ff. zitierten Titeln. Ausdrücklich ist aber zu betonen, dass keineswegs alle Zionisten, die den Rassenbegriff verwendeten, Rassisten waren; einige von ihnen – etwa Elias Auerbach oder Arthur Ruppin – verstanden sich sogar betont als Anhänger eines Zweivölkerstaates in Palästina. Der Gebrauch des Begriffes ist häufig sehr unscharf und ambivalent. Zur Gleichsetzung von Volk und Rasse sowie zur unbefangenen Verwendung des Begriffs in angelsächsischen Sprachen s. Claus Leggewie: Ethnizität, Nationalismus und multikulturelle Gesellschaft. In: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2. Frankfurt a. M. 1994, S. 46– 65, hier S. 50. 81 Vgl. Avineri: Politische und soziale Aspekte; Zimmermann: Gesellschaftsbild; Shapira: Land, S. 40 ff. Auch: Wolf Kaiser: The Zionist Project in the Palestine Travel Writings of German-speaking Jews: In: LBI Year Book 37 (1992) S. 261–286. Allgemein zu den kulturellen Voraussetzungen etwa Berkowitz: Zionist Culture, bes. S. 144–164; Frans Michael Konrad: Wurzeln jüdischer Sozialarbeit in Palästina. Einflüsse der Sozialarbeit in Deutschland auf die Entstehung moderner Hilfssysteme in Palästina 1890–1948. Weinheim, München 1993; Anne Betten, Miryam Du-nour (Hg.): Wir sind die Letzten. Fragt uns aus. Gespräche mit den Emigranten der dreißiger Jahre in Israel. Gerlingen 1995; Deutsch-Israelische Gesellschaft (Hg.): Die »Jeckes« in Israel. Der Beitrag deutschsprachiger Einwanderer zum Aufbau Israels. Katalog zur Ausstellung. Bonn 1995.

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che kulturelle Stufe« zu bringen.82 Dabei hatte Achad Haam schon 1881 auf die eigenständige Kultur der Araber hingewiesen und die möglichen Konfliktursachen durch das Verhalten jüdischer Siedler benannt.83 Die Hochschätzung der eigenen Kultur aus der Geschichte heraus führte zur Anerkennung der Kultur der Anderen. Seine Stimme verhallte weitgehend ungehört. Vor allem Nordaus Denken kreiste vollständig um die Vorrangigkeit der europäischen Zivilisation. Bei Herzl, dessen »Judenstaat« noch von einer unmissverständlichen Verachtung der nichteuropäischen Kultur geprägt war, vollzogen sich durchaus deutliche Wandlungen, ähnlich wie bei seinen früher eher elitär-hierarchischen Staatsund Gesellschaftsideen. In die Zukunftsvorstellungen, wie er sie in seinem 1902 veröffentlichten Roman »Altneuland« niederlegte, flossen neue Überlegungen zur Organisation des zukünftigen Gemeinwesens ein, die keinen traditionellen Nationalstaat, sondern genossenschaftliche Formen vor Augen hatten. Entsprechend gab es keine unüberwindlichen Gegensätze zwischen Juden und Arabern, keinen Nationalismus, der andere wurde als Bruder angesehen. Allerdings ist nach wie vor ein gewisser Paternalismus, ein Überlegensheitsgefühl gegenüber den Arabern, nicht zu verkennen.84 Klarsichtig hatte der junge Gershom Scholem 1916 in seinem Tagebuch notiert: »Drei Dinge müssen dem Zionismus abgewöhnt werden: die Ackerbaueinstellung, die Rassenideologie und die Blut- und Erlebnisargumentation.«85 Enttäuscht wandte sich Joseph Roth 1934 gegen den nationalen Weg der Juden. Es gebe schon genug »barbarische Nationen«, und es liege eine Tragik darin, »so kümmerlich zu werden wie die anderen«. Wahre Freiheit werde man erreichen, wenn man sich aus der nationalen Gefangenschaft löse und nur noch Mensch sei. Und das Bild vom »ewigen Juden« aufgreifend, schloss er: »Das Wandern 82 Arthur Ruppin: Das Verhältnis der Juden zu den Arabern (1918). In: Schoeps: Zionismus, S. 270–276, hier S. 275–276. 83 Vgl. Barbara Lüthis Beitrag im Begleitbuch zur Ausstellung (auch im folgenden); Meyer: Jüdische Identität, S. 89–92. S. Anm. 97. 84 Vgl. den Beitrag von Nadia Guth-Biasini im Begleitbuch zur Ausstellung; Doron: Social Concepts, S. 26 ff.; Schäfer: Hypocaust; Julius H. Schoeps: »Alles hängt von der Form des zu schaffenden fait accompli ab.« Theodor Herzls Palästina-Reise und die Vision des Judenstaates in seinem Roman »Altneuland«. In: Budde, Nachama: Reise nach Jerusalem, S. 323–327. Herzls Erwartungen an die modernste Technik, namentlich die Elektrifizierung, wären einmal mit den entsprechenden Utopien der frühen Sowjetzeit zu vergleichen (s. Heiko Haumann: Beginn der Planwirtschaft. Elektrifizierung, Wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands 1917–1921. Düsseldorf 1974). Vgl. auch Bernhard Vogt: Die Utopie als Tatsache? Judentum und Europa bei Franz Oppenheimer. In: Menora 5 (1994) S. 123–142, z. B. S. 131. 85 Zit. von Gert Mattenklott: Passagen. In: Budde, Nachama: Reise nach Jerusalem, S. 96– 103, hier S. 98.

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ist kein Fluch, sondern ein Segen.«86 Gewiss gab es auch Versuche, mit den Arabern als gleichberechtigte Partner ins Gespräch zu kommen, einen Ausgleich zu finden, in guter Nachbarschaft zu leben. Die historische Entwicklung begünstigte allerdings die Konfrontation.87 Der Idealismus vieler Einwanderer, bei denen sich religiöse Erlösungssehnsucht mit sozialistischer Hoffnung auf eine herrschaftsfreie, kommunistische Gesellschaft vereinten, stieß sich an der Wirklichkeit. Schon zwischen den ersten zionistischen Kolonisten in Erez Israel und den dortigen arabischen Siedlern kam es zu »kulturellen Missverständnissen« aufgrund der wechselseitigen Unkenntnis der jeweiligen Sitten und Gebräuche, aber auch zu handfesten Konflikten über den Landerwerb.88 Obwohl zunächst noch nach der Balfour-Erklärung von 1917, mit der der britische Außenminister die Zielsetzung des »Baseler Programms« aufgriff, und nach dem Ersten Weltkrieg ein Ausgleich möglich schien und arabische Persönlichkeiten die Juden als Brüder begrüßten, eskalierte das Verhältnis aufgrund der internationalen Rahmenbedingungen – nicht zuletzt der unausgegorenen britischen Politik

86 Joseph Roth: Der Segen des ewigen Juden. Zur Diskussion. In: Die Wahrheit vom 30.8.1934, hier zit. nach Körte, Stockhammer: Ahasvers Spur, S. 207–213, Zitate S. 212, 213. Vgl. Anm. 47, 100. 87 Vgl. insgesamt, auch zum folgenden, Gorny: Zionism and the Arabs; Neville J. Mandel: The Arabs and Zionism before World War I. Berkeley u. a. 1976; Israel Kolatt: The Zionist Movement and the Arabs. In: Shmuel Almog (Hg.): Zionism and the Arabs. Jerusalem 1983, S. 1–34 (vgl. die übrigen Beiträge des Bandes zu Einzelaspekten); Avineri: Politische und soziale Aspekte; Klaus Gensicke: Der Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, und die Nationalsozialisten. Frankfurt a. M. u. a. 1988; Gershon Shafir: Land, Labor and the Origins of the Israeli-Palestinian Conflict 1882–1914. Cambridge 1989; Itzhak Galnoor: The Partition of Palestine: Decision Crossroads in the Zionist Movement. Albany 1995; Patricia Dvoracek: Der Zionismus, die Gründung des Staates Israel und die Palästinafrage. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit Basel 1994; Martin Gilbert: Jerusalem in the Twentieth Century. London 1996; Brigitte Brinkmann: Konfliktstrukturbildende Elemente in der Entwicklung des arabisch-israelischen Konflikts 1915/16–1948. Frankfurt a. M. u. a. 1996; Adel El Sayed: Palästina in der Mandatszeit. Der palästinensische Kampf um politische Unabhängigkeit und das zionistische Projekt. Zur Dynamik eines Interessenkonflikts – vom Zerfall des Osmanischen Reiches bis zur Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Fankfurt a. M. u. a. 1996. 88 Vgl. etwa Mandel: Arabs, S. 34 ff. Die meisten Zionisten hatten ursprünglich kaum Kenntnisse über die Verhältnisse in Palästina. Erst der Elfte Zionistenkongress 1911 in Basel vermittelte über einen von Murray Rosenberg und seiner Frau gedrehten Film, einen Lichtbildervortrag von Heinrich Löwe, einige weitere Vorträge und eine Ausstellung von Produkten der jüdischen Kolonien einen vertieften Eindruck vom Land; vgl. Die Welt vom 11., 14. und 18.8.1911, S. 813, 854, 855, 874–875; Jewish Chronicle vom 11.8.1911, S. 824.

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gegenüber Arabern und Juden –, des Handelns mancher Zionisten und des sich steigernden Nationalismus auf beiden Seiten zum offenen Zusammenstoß.89 Entscheidende Wendepunkte in diesem Verhältnis stellten zwei Ereignisse in den zwanziger Jahren dar. Am 30. Juni 1924 wurde der niederländisch-jüdische Schriftsteller, Politiker und Jurist Jacob Israel de Haan beim Verlassen einer Synagoge in Jerusalem aus nächster Nähe erschossen. Haan, am 31. Dezember 1881 geboren, war usprünglich ein religiöser Sozialist und Zionist gewesen, dann jedoch zur streng orthodoxen »Agudat Israel«, der »Vereinigung Israels«, überwechselt. Zusammen mit deren Führer, Rabbi Chaim Sonnenfeld (1849–1932), hatte er begonnen, den Zionismus scharf zu bekämpfen. Er knüpfte Kontakte zu arabischen Persönlichkeiten und strebte einen Ausgleich zwischen Palästinensern und Juden an. In seinen Methoden und öffentlichen Äußerungen war er dabei nicht wählerisch. Die zionistische Seite antwortete entsprechend heftig, sah sie doch ihre politische Linie und auch ihren Vertretungsanspruch aller Juden beim britischen Hochkommissar bedroht. Die »Jüdische Rundschau« bezeichnete ihn als »Volksverräter«.90 Was zuerst niemand glauben wollte, erwies sich bald als zutreffend: Den Mord hatten zwei Juden begangen, junge zionistische Neueinwanderer. Ein Tabu war gebrochen. Erst 89 Zu den Ausgleichsmöglichkeiten etwa Mandel: Arabs, S. 165 ff., 186 ff.; Dvoracek: Zionismus, S. 57 ff.; El Sayed: Palästina, S. 44–46; auch Chaim Weizmann: Memoiren. Das Werden des Staates Israel. Zürich 1953, S. 313 ff., 345 ff., 363 ff. Dan Diner spricht von einem »kolonialen Nationalitätenkonflikt« (Individualität und Nationalität, S. 21). Vgl. ders.: »Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser.« Eine historisch-politische Bilanz der Palästinafrage. Hamburg 1982. Auf die Ereignisgeschichte gehe ich hier nicht ein. Die Balfour-Erklärung war nach langer Zeit wieder ein Erfolg auf internationaler Ebene. Herzls Versuche, über den Zaren oder das Deutsche Reich den Sultan zu beeinflussen, waren schon früh gescheitert. Vgl. Anm. 43; Walther Peter Fuchs: Studien zu Großherzog Friedrich I. von Baden. Stuttgart 1995, S. 186–220, sowie die entsprechenden Aufsätze im Begleitbuch zur Ausstellung. Auch: Isaiah Friedman: Germany, Turkey and Zionism, 1897–1918. Oxford 1977; ders.: The Hilfsverein der deutschen Juden, the German Foreign Ministry and the Controversy with the Zionists, 1901–1918. In: LBI Year Book 24 (1979) S. 291–319; Francis R. J. Nicosia: Weimar Germany and the Palestine Question. Ebd. S. 321–345; ders.: Jewish Affairs and German Foreign Policy during the Weimar Republic. Moritz Sobernheim and the Referat für jüdische Angelegenheiten. In: ebd. 33 (1988) S. 261–283. Die Reaktion der englischen Zionisten auf die Balfour-Erklärung ist abgedruckt in: English Zionist Federation: Annual Report for the Year 1917. Presented to the Annual Conference, London, 3rd February 1918. London 1918, S. 10–12 (S. 11 heißt es dabei, auf einer Massenversammlung am 2.12.1917 habe Lord Robert Cecil erklärt, die britische Regierung werde den Juden Judäa und Arabien den Arabern geben; ich verdanke den Hinweis auf diese Quelle David L. Maier). 90 Zit. von Hans-Albert Walter: Ein Fall von Vatermord oder Bilanz der palästinensischen Judenheit anno 1932. Eine Interpretation. In: Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim. Roman. Frankfurt a. M. 1995, S. 265–427, hier S. 286.

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viel später stellte sich heraus, dass die 1920 gegründete zionistische Selbstverteidigungsorganisation »Hagana« den Mord befohlen hatte, vermutlich weil de Haan deren illegale Aktivitäten aufdecken wollte.91 Während orthodoxe Blätter ihn als »Opfer des jüdisch-völkischen Faszismus« bezeichneten,92 gelang es den Zionisten, dem Fall mit Hinweis auf de Haans homoerotische Neigungen eine unpolitische Wende zu geben; die Mörder kamen nie vor Gericht.93 1929 brachen nach einem Zwischenfall an der Jerusalemer Klagemauer schwere Unruhen aus. Fromme Juden hatten dort am Jom-Kippur-Fest 1928 gebetet, der Mufti und der muslimische Oberrat dies als Verletzung geltenden Rechts und als Versuch gewertet, ihre heiligen Stätten zu entweihen. Das Verhalten der britischen Behörden verschärften den Konflikt, aus Demonstrationen wurden bewaffnete Auseinandersetzungen. Im August 1929 überfielen arabische Einheiten zahlreiche jüdische Siedlungen. Einen – bis heute nachwirkenden – Schock löste dabei vor allem das Massaker an unbewaffneten Juden in Hebron aus, das über 60 Menschen das Leben kostete.94 Hatten zuvor noch Hoffnungen auf eine Verständigung zwischen Juden und Arabern bestanden, so waren sie jetzt für lange Zeit zerstört. Ein friedliches Zusammenleben beider Völker stand nun in weiter Ferne. Arnold Zweig (1887–1968), selbst Zionist, stellte in seinem Ende 1932 veröffentlichten Roman »De Vriendt kehrt heim« klarsichtig beide Ereignisse in Beziehung zueinander und ließ sie zeitlich zusammenfallen. Er hatte bei seinem Palästina-Besuch 1932 Näheres davon erfahren und war erschüttert, obwohl ihm der Mordauftrag durch die Hagana wahrscheinlich nicht bekannt geworden war. In einem Brief vom 16. Januar 1933 an Max Brod kommt dies deutlich zum Ausdruck: »Für empfindliche Menschen in Palästina gilt, was mir Hugo Bergmann vor ein paar Wochen schrieb: daß die Ermordung de Haans unseren

91 Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Frankfurt a. M. 1987, S. 44–48; vgl. Walter: Ein Fall, S. 294, 414 (A. 48); Margarita Pazi: Ideologie und Einflüsse in den frühen Schriften Arnold Zweigs und ihr Echo in den Jahren nach 1930. In: David Midgley u. a. (Hg.): Arnold Zweig. Psyche, Politik und Literatur. Akten des II. Internationalen Arnold-Zweig-Symposiums Gent 1991. Bern u. a. 1993, S. 49–69, hier S. 59–62. 92 Zit. von Walter: Ein Fall, S. 291. 93 Walter: Ein Fall, S. 292–294; Sigrid Thielking: Auf dem Irrweg ins »Neue Kanaan«? Palästina und der Zionismus im Werk Arnold Zweigs vor dem Exil. Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 118–130 (insgesamt zum Roman S. 106–261). 94 Walter: Ein Fall, S. 281–283; Thielking: Irrweg, S. 131–134. Vgl. Shapira: Land, S. 173– 211; Gilbert: Jerusalem, S. 119–128; El Sayed: Palästina, S. 112–130; Keßler: Antisemitismus; S. 66–80; Laqueur: Weg, S. 272–278.

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Zionismus mitermordet habe.«95 Die Vertreter des Zionismus nahmen den Roman nicht sehr erfreut auf. Die Verarbeitung der Ereignisse von 1924 und 1929 in Zweigs Roman ist ein Hinweis auf die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der zionistischen Bewegung. Die extremistischen Zionisten-Revisionisten bekämpften mit zunehmender Schärfe die zentristische Richtung um Chaim Weizmann, weil ihnen diese zu gemäßigt und zu wenig offensiv war. Am 16. Juni 1933 fiel Chaim Arlosoroff (geb. 1899), einer der Führer der zionistischen Arbeiterpartei, der wie viele sozialistische Zionisten um einen Ausgleich zwischen Juden und Arabern bemüht und zugleich um die Rettung der deutschen Juden besorgt war, einem Mordanschlag zum Opfer. Hinweise deuteten darauf hin, dass Angehörige der Zionisten-Revisionisten dafür verantwortlich gewesen sein könnten, auch wenn sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden mussten.96 Auf der anderen Seite weist Zweigs Haltung auf die Kritik derjenigen Zionisten hin, die für eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas eintraten. Das galt etwa für Arthur Ruppin, Hugo Bergmann (1883–1975), Hans Kohn (1891–1971) und Georg Landauer (1897–1954), die neben anderen 1925/26 den »Brit Schalom«, den »Friedensbund«, gegründet hatten, der einen binationalen Staat Palästina mit einer Gleichberechtigung für Juden und Araber verfocht. Die »Kulturzionisten« standen diesen Bestrebungen vielfach mit Sympathie gegenüber. So verwundert es nicht, dass dann Martin Buber, Juda Leon Magnes (1877–1948) und Henrietta Szold (1860–1945) die Arbeit des »Brit Schalom«, der aufgrund der Unruhen von 1929 Zielscheibe heftigster Kritik geworden war und sich 1933 auflöste, weiterführten und 1942 die Nachfolgeorganisation »Ichud«, die »Einheit«, ins Leben riefen. Obwohl viele Anhänger dieser Richtung offizielle Funktionen innerhalb der zionistischen Bewegung innehatten, gerieten sie mit ihren Ansichten eher an den Rand des 95 Pazi: Ideologie, S. 59 (aus dem Brod-Archiv); vgl. David R. Midgley: Arnold Zweig. Eine Einführung in Leben und Werk. Frankfurt a. M. 1987, S. 64–74. Der Philosoph Hugo Bergmann (1883–1975) kam aus der »Prager Richtung im Zionismus« und baute nach 1920 in Palästina die Nationalbibliothek auf. Später wurde er Professor für Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und übernahm zeitweise auch das Amt des Rektors (Schoeps: Neues Lexikon, S. 68). Vgl. auch Margarita Pazi: Arnold Zweig und Max Brod – 1929, 1939, 1949. In: LBI Year Book 23 (1978) S. 259–264. 96 Wiznitzer: Zweig, S. 47. Zweig verurteilte auch diesen Mord heftig: Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch. Leipzig 1991 (zuerst Amsterdam 1934), S. 250; ders.: Arlosoroff-Gedenkwort. In: ders.: Jüdischer Ausdruckswille. Publizistik aus vier Jahrzehnten. Berlin 1991, S. 280–287. Vgl. die Übersicht von Reuven Assor: Politische Morde und Attentate der Vergangenheit: Eine Geschichte des Schreckens. In: Jüdische Rundschau Maccabi 55/Nr. 1 vom 4.1.1996. Vgl. Laqueur: Weg, S. 33.

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Zionismus.97 Schliesslich zeigten sich auch jene Zionisten von der Entwicklung ihrer Bewegung betroffen, die nicht nur eine gemeinsame Aufbautätigkeit mit den Arabern,98 sondern auch eine sozialistische Utopie verwirklichen wollten. Wieder mag Arnold Zweig exemplarisch für sie sprechen. Er sah vor sich – in Anlehnung an Gustav Landauer (1870–1919) – den »reinen Sozialismus (...) – in kleinen Siedelungen, ohne Staat, aus gemeinschaftlichen, antipolitischem Geiste heraus, unter Gemeinbesitz an Grund und Boden und den entscheidenden Produktionsmitteln den sozialistischen Geist zu leben, im jüdischen Lande, dem Lande unserer Arbeit und Erfüllung (...).»99 Das zukünftige Gemeinwesen werde wie eine »linke Schweiz« sein – pazifistisch, klassenlos, vielfältig in ihren Kulturen, ein Vorbild für die im nationalistischen Wahn und kapitalistischer Klassenspaltung befangenen Völker Europas.100 97 Arthur Ruppin: Briefe, Tagebücher, Erinnerungen. Hg. von Schlomo Krolik. Königstein 1985, S. 17–18, 378–422, 435, 464–468, 580; Buber: Der Jude, passim; Paul MendesFlohr: Sprachformen der Verständigung. Martin Buber und der israelisch-palästinensische Dialog. In: Jakob Hessing (Hg.): Jüdischer Almanach 1996/5756. Frankfurt a. M. 1995, S. 83–90; Peter Freimark: Zum Selbstverständnis jüdischer Nationalität und Staatlichkeit in Palästina. In: Helmut Mejcher, Alexander Schölch (Hg.): Die Palästina-Frage 1917– 1948. Historische Ursprünge und internationale Dimensionen eines Nationenkonflikts. Paderborn 1981, S. 47–42, hier S. 51–52, 54–55, 58, 67–68.; Leon Weliczker Wells: Und sie machten Politik. Die amerikanischen Zionisten und der Holocaust. München 1989, S. 44–45; Shapira: Land, S. 163–172, 308, 325; Wheatcroft: Controversy, S. 179–181, 220–226; El Sayed: Palästina, S. 150–162. Magnes war Mitbegründer der Hebräischen Universität in Jerusalem und von 1925 bis 1935 ihr Kanzler, anschliessend ihr Präsident (Schoeps: Neues Lexikon, S. 300). Zu Henrietta Szold, der Gründerin der »Hadassa«, vgl. den Artikel Monika Häfligers im Begleitbuch zur Ausstellung. S. Anm. 95. 98 Diese Hoffnung war zunächst unter den sozialistischen Zionisten weit verbreitet, schwächte sich dann seit den dreißiger Jahren mehr und mehr ab. Fritz Naphtali (1883– 1961) vertrat eine Verständigung mit den Arabern aber nach wie vor ebenso wie die »Alija Chadascha«, die 1942 von aus Deutschland oder Österreich stammenden Juden gegründete Hilfsorganisation: Jehuda Riemer: Über die politische Eingliederung der deutschsprachigen Alija: Der Fall Fritz Naphtali. In: Aschkenas 5 (1992) S. 451–466, hier bes. S. 458 ff. (Riemer betont übrigens auch S. 457, dass sich die »schlechten Beziehungen zwischen West- und Ostjuden in Europa« auf die Beziehungen zwischen den jüdischen Einwanderern in Palästina auswirkten). 99 Zit. bei Walter: Ein Fall, S. 363. Zu Landauer vgl. Löwy: Redemption, S. 127–138; Adam Weisberger: Gustav Landauers mystischer Messianismus. In: Aschkenas 5 (1995) S. 425–439 (er sieht auch eine Linie von Moses Hess zu Landauer, S. 438); Michael Matzigkeit (Hg.): »... die beste Sensation ist das Ewige ...«. Gustav Landauer – Leben, Werk und Wirkung. Düsseldorf 1995 (dabei speziell zu Zweig und Landauer Gabriele Ewenz S. 293–300). 100 Vgl. Arnold Zweig: Das Neue Kanaan. Eine Untersuchung über Land und Geist. Berlin 1925, Abschnitt 8 (im Abschnitt 11 spricht er davon, dass das »nationale Heim der Juden [...] nur unter dem Beifall der Araber Palästinas gebaut werden« könne; damals hatte er im

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Der Mord von 1924 zeigte aber darüber hinaus, wie weit die Entfremdung zwischen Zionisten und ihren Gegnern im religiösen Judentum gediehen war. Von Anfang an hatten sich die Chassidim in Osteuropa gegen die zionistischen Bestrebungen gewandt, wie sie nach 1881 sichtbar geworden waren: Durch sie würden weltliche Tendenzen im Judentum gestärkt und das Kommen des Messias verzögert. Mit Predigten und Bannsprüchen, ja sogar mit Anzeigen bei den zaristischen Behörden versuchten sie, die Ausbreitung des Zionismus aufzuhalten.101 Ebenso ablehnend reagierten zahlreiche orthodoxe Juden in Ost- und Westeuropa. 1897 schlug sich diese Einstellung auch in dem »Protest« der im »Allgemeinen Rabbinerverband« Deutschlands zusammengeschlossenen liberalen und orthodoxen Rabbiner gegen die Einberufung des Zionistenkongresses nieder. Diese Erklärung sah den Zionismus in Gegensatz zu den »messianischen Verheissungen des Judenthums« und zu den »Religionsquellen«.102 Eine Anzahl orthodoxer Juden teilte diese Meinung nicht. Für sie war der Zionismus so alt wie die Sehnsucht der Juden nach ihrem angestammten Land, aus dem die Römer sie vertrieben hatten. Um das Judentum zu stärken und die Rückkehr nach Zion einzuleiten, seien eine nationale Zusammenfassung aller Juden und eine Kräftigung des jüdischen Volksbewusstseins geradezu notwendig. Der Zionismus werde auch dazu beitragen, diejenigen wieder zum Glau-

übrigen noch gehofft, dass nicht Zionisten für die Ermordung de Haans verantwortlich seien, zugleich jedoch schon die Aufnahme, die der Mord im »Legionsmilitarismus« – wohl der Anhänger Jabotinskys – fand, verurteilt: ebenfalls Abschnitt 11); Jost Hermand: Judentum und deutsche Kultur. Beispiele einer schmerzhaften Symbiose. Köln u. a. 1996, S. 165. Schon in der »Jüdischen Rundschau« vom 4. April 1924 hatte Zweig vor einer »jüdisch-völkischen Einstellung« gewarnt, die nur dazu führe, dass »wir (...) sehr bald unseren Hitler« hätten (zit. in: Midgley: Zweig, S. 65). Von einer »Art jüdischer Hitlerei« im Zionismus sprach auch Lion Feuchtwanger in: ders.: Arnold Zweig: Die Aufgaben des Judentums. Paris 1933, S. 5–42, hier bes. S. 12, 33, 41. Vgl. Thielking: Irrweg, S. 54–106, speziell zur Diskussion um die Schweiz als Vorbild für eine föderalistische Ausgestaltung des künftigen Staates, wie sie auch Weizmann offenbar vorübergehend vertrat, S. 57–58. Vgl. Anm. 52, 61, 111. 101 Vgl. Joseph Goldstein: The Beginnings of the Zionist Movement in Congress Poland: The Victory of the Hasidim over the Zionists? In: Polin 5 (1990) S. 114–130. 102 Yaakov Zur: Die deutschen Rabbiner und der Frühzionismus. In: Julius Carlebach (Hg.): Das aschkenasische Rabbinat. Berlin 1995, S. 205–217. Vgl. seinen Beitrag im Begleitband zur Ausstellung. Auch zum folgenden: Hermann Greive: Zionism and Jewish Orthodoxy. In: LBI Year Book 25 (1980) S. 173–195, 28 (1983) S. 241–246; Freimark: Selbstverständnis, S. 56–57. Zu einem speziellen Aspekt: Josef Fraenkel: Moritz Güdemann and Theodor Herzl. In: LBI Year Book 11 (1966) S. 67–82. Zum Gesamtzusammenhang (auch im folgenden): Michel Abitbol u. a. (Hg.): Zionism and its Jewish Opponents. Jerusalem 1990.

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ben zurückzubringen, die sich von ihm entfernt hätten.103 Der Basler Rabbiner Arthur Cohn, der zur orthodoxen Richtung gehörte, wandelte sich durch seine Kontakte mit führenden Zionisten und durch seine Teilnahme am Ersten Kongress von einem Skeptiker zu einem bewussten Zionisten und sorgte durch Veröffentlichungen dafür, dass die Ablehnungsfront der Orthodoxen zu bröckeln begann. 1911 zog er sich jedoch wieder zurück, weil ihm inzwischen die zionistische Politik zu weltlich und mit den religiösen Grundsätzen nicht mehr vereinbar erschien. Er trat dann der 1912 in Kattowitz gegründeten Agudat Israel bei.104 Nur Gott könne die Verbannung der Juden in das Exil aufheben und sie nach Israel zurückführen. Die Agudat Israel versuchte, möglichst viele strenggläubige Gruppierungen in Ost- und Westeuropa gegen den Zionismus einschliesslich der Misrachi-Bewegung zu vereinen. Sie wurde selbst in den verschiedenen Ländern politisch aktiv und strebte nach Anerkennung als eigenständige jüdische Gemeinschaft. Ihre Zentren lagen in Deutschland, Polen und Ungarn. Seit 1921 betätigte sie sich auch in Palästina. Hier gewann die ultraorthodoxe Richtung mehr und mehr an Einfluss, wie sie Chaim Sonnenfeld im Anschluss an den vor allem in Ungarn wirkenden Chatam Sofer (1763–1839) vertrat, der der quasi-nationalen Besonderheit des jüdischen Volkes und der Sehnsucht nach Zion Ausdruck verliehen hatte: Aufgrund der strengsten ToraGläubigkeit sei jede Neuerung verboten. Zionismus galt den Ultra-Orthoxen – wie Emanzipation, Aufklärung und Assimilation – als tödliche Gefahr für das Judentum.105 Nach der Schoa entschloss sich die Agudat Israel, am Aufbau des neuen Staates mitzuwirken, und war an verschiedenen Koalitionen beteiligt. 1987/88 trennten sich die Orthodoxen von dieser Organisation, die damit zur Partei der 103 Ein Beispiel für diese Meinung ist M. A. Roth: Der Zionismus vom Standpunkte der jüdischen Orthodoxie. 2. Aufl. Nagytapolcsany 1904; aus orthodoxer Sicht dagegen u. a. Hermann Klein: Der Waitzner Gaon und der Zionismus. In: Der Israelit Nr. 49 vom 20.6.1904, S. 1023–1025; dazu auch: Frankfurter Israelitisches Familienblatt, Beilage zu Nr. 25, 1.7.1904, S. 9, Nr. 27, 15.7.1904, S. 11, Nr. 29, 29.7.1904, S. 6, Nr. 30, 5.8.1904, S. 9. Den Hinweis auf diese Schriften verdanke der Direktorin der Central Archives for the History of the Jewish People, Frau Hadassah Assouline. 104 Vgl. Zur: Die deutschen Rabbiner, S. 215–217. Zur geht darauf näher in seiner Dissertation ein, die bislang nur in Hebräisch vorliegt: Die deutsch-jüdische Orthodoxie und ihr Verhältnis zur inneren Organisation und zum Zionismus (1896–1911). Diss. Tel Aviv 1982. Zu Cohn vgl. die Beiträge im Begleitband zur Ausstellung sowie Anm. 56. 105 Walter Pietsch: Über die Wurzeln der Ultra-Orthodoxie im ungarischen Judentum. Gestalt und Wirken von Rabbi Chaim Josef Sonnenfeld. Vortrag am Historischen Seminar der Universität Basel, 15.6.1995 [inzwischen in: ders.: Zwischen Reform und Orthodoxie. Der Eintritt des ungarischen Judentums in die moderne Welt. Berlin 1999, S. 105– 117, 168–171]. Vgl. seinen Beitrag in diesem Band.

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Chassidim wurde. Die Ultra-Orthodoxen blieben in Distanz zum Zionismus und bildeten eigene Gruppierungen, etwa die »Neturei Karta«, die »Wächter der Stadt«. Für sie ist der Staat Israel eine Gotteslästerung. Um ihn zu beseitigen, war ein Teil sogar zur Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen bereit. Manche betrachten den Zionismus als eine Auflehnung gegen Gott, für die dieser die Juden mit der Schoa bestraft habe.106 Bei der Bekämpfung des Zionismus verbanden sich orthodoxe Juden oft mit denjenigen, für die sie eigentlich nur Verachtung übrig hatten: mit liberalen, assimilationsbereiten Juden. Schon der »Protest« der Rabbiner von 1897 hatte deutlich gemacht, dass diese Richtung fürchtete, ihre Integration in den bestehenden Staat werde gefährdet und ihr Einsatz für dessen nationale Belange in Frage gestellt. Als Patrioten wollten sie nicht ihre »nationale Zuverlässigkeit« in Zweifel ziehen und sich den – bis heute immer wieder erhobenen – Vorwurf der »doppelten Loyalität« zwischen ihrem Heimatland und der zionistischen Weltbewegung oder dem Staat Israel gefallen lassen.107 Die assimilierten Juden reagierten dabei nicht nur defensiv, sondern griffen den Zionismus auch offen als Irrweg an. Exemplarisch sei auf den Konflikt zwischen dem »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« und den deutschen Zionisten hingewiesen.108 Noch weiter ging etwa der Philologe Victor Klemperer. Er war sich seines »Deutschtums (...) so sicher« und fühlte sich abgestoßen von der – bei allen grundsätzlichen »Unähnlichkeiten« – »Verwandtschaft« und dem »sprachlichen Zusammenklingen« zwischen Herzl und Hitler, wie sie sich in der Demagogie und in der »verkitschten Romantik« als »geistige und stilistische Gemeinsamkeit der beiden Führer« ausdrücke. Deshalb sei der Zionismus keine 106 Schoeps: Neues Lexikon, S. 18, 336; vgl. z. B. Amos Elon: Jerusalem. Innenansicht einer Spiegelstadt. Reinbek 1992, S. 264–277; Josef Joffe: Zank der frommen Murrer und Haderer. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 95 vom 25.4.1995, S. 3. 107 Vgl. Anm. 102. Zu England Geoffrey Alderman: Modern British Jewry. Oxford 1992, S. 232. Auch: Greive: Jewish Self-Identification, S. 43. 108 Neben den Beiträgen im Ausstellungsband vgl. allgemein Eloni: Zionismus. Die Interpretation dieses Konflikts wird nach wie vor kontrovers diskutiert: Jehuda Reinharz: Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jews, 1893–1914. Ann Arbor 1975; zusammengefasst ders.: The German Zionist Challenge to the Faith in Emancipation 1897–1914 (=  Spiegel Lecture in European Jewish History 2). Tel Aviv 1982; ders. (Hg.): Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933. Tübingen 1981; ders.: Ideology and Structure in German Zionism, 1882–1933. In: Jewish Social Studies 42 (1980) S. 119–146; Moshe Rinott: The Zionist Organisation and the Hilfsverein. Cooperation and Conflict (1901–1914). In: LBI Year Book 21 (1976) S. 261–278; Marjorie Lamberti: From Coexistence to Conflict. Zionism and the Jewish Community in Germany, 1897–1914. In: ebd. 27 (1982) S. 53–86, sowie die folgende Debatte in dieser Zeitschrift, z. B. 33 (1988). Ähnliches gilt für andere Länder.

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Lösung für die deutschen Juden.109 Der aus einer reformjüdischen Krakauer Familie stammende Soziologe Ludwig Gumplowicz (1838–1909) schrieb Herzl am 12. Dezember 1899, er möge doch bei seinen Gedichten und Feuilletons bleiben, denn der Zionismus zeuge von »politischer Naivität« ohnegleichen. »Sie wollen einen Staat ohne Blutvergießen gründen? Wo haben Sie das gesehen? Ohne Gewalt u. ohne List? So ganz offen u. ehrlich – auf Actien?«110 Bereits 1896 hatte der Schriftsteller und Literaturkritiker Anton Bettelheim in einer Besprechung von Herzls »Judenstaat« die grundsätzliche Kritik der Assimilierten am Zionismus formuliert. Mit dieser Idee werde der Antisemitismus nicht beseitigt, die »Judenfrage« nicht gelöst. Es gehe darum, den Antisemitismus dort zu bekämpfen, wo man lebe und seine Heimat habe. Der Weg der Emanzipation werde sich letztlich als richtig erweisen, und keine Kränkung könne ihm die Liebe zu seinem Land nehmen. Das Projekt Herzls sei hingegen »gedankenarm, an Thorheiten reich« und nichts anderes als der »Gründerprospect« einer »jüdischen Schweiz auf Actien«.111 Getroffen vom Misstrauen gegenüber ihrer nationalen Loyalität fühlten sich im übrigen nicht nur diejenigen Juden, die dem Zionismus eigentlich fern standen, sondern auch die Zionisten, die ihren Wunsch nach einem »Judenstaat« ohne weiteres mit ihrer Zugehörigkeit zu dem Staat, in dem sie lebten, zu ver109 Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. 13. Aufl. Leipzig 1995, S. 217, 220, 223, 224. 110 Herzl: Briefe und Tagebücher, Bd. 5, Frankfurt a. M., Berlin 1991, S. 601–602 (Anm. 4), Zitat S. 602. Vgl. Emil Brix (Hg.): Ludwig Gumplowicz oder Die Gesellschaft als Natur. Wien u. a. 1986, hier S. 36–37; Hermann Meier-Cronemeyer: Zur Geschichte des Zionismus. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Nr. 16 vom 15.4.1988, S. 23–37, hier S. 25. Ich verdanke den Hinweis auf die Quelle Hanna Konzińska-Witt. Herzl reagierte indirekt auf Gumplowicz’ Brief in einem Artikel in der »Welt« Nr. 1/1900: »Aber die Herren Professoren, die das Werdende nie verstehen, kommen erst später; nachher freilich wissen sie alles besser als wir und sie erklären uns das Gewordene»; zit. in: Moses Schorr: Staatsseher und Staatslehrer. Ein Beitrag zur Biographie Theodor Herzls. In: Ismar Elbogen u. a. (Hg.): Festschrift zu Simon Dubnows siebzigstem Geburtstag. Berlin 1930, S. 262–265, hier S. 265. Vgl. Rafał Żebrowski: Mojżesz Schorr i ego listy do Ludwika Gumplowicza. Warszawa 1994; Krzysztof Pilarczyk: Professor Dr. Moses Schorr. Porträt eines Gelehrten – Entdeckers und Erforschers der Quellen zur Geschichte der Juden in Polen. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 23 (1996) S. 115–128. 111 Anton Bettelheim: Der Gründerprospect einer jüdischen Schweiz. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung (München) Nr. 52 vom 3.3.1896, S. 4–6. Ich danke Frau Dr. Edith Schipper von der Bayerischen Staatsbibliothek München, dass sie mir den Artikel zugänglich gemacht hat, und für Recherchen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Münchner Stadtarchivs sowie der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Zur Vorbildwirkung der Schweiz vgl. Anm. 52, 61, 100.

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einbaren wussten. Schon Herzl hatte keineswegs angestrebt, dass alle Juden in den künftigen Staat auswandern sollten. In erster Linie war es ihm um einen Ausweg für verfolgte und wirtschaftlich notleidende Juden gegangen. Ebenso dachte zunächst etwa die Mehrzahl der deutschen oder auch der schweizerischen Zionisten.112 Wenn nun der radikale Flügel in der zionistischen Bewegung die Meinung vertrat, letztlich sei eine Integration von Juden in eine nichtjüdische Umwelt nicht möglich, so wurde dies nur zu gerne von überzeugten Antisemiten aufgegriffen. Sie lobten teilweise sogar diese Haltung, unterstützte sie doch indirekt ihre Forderung, die Juden sollten ihre »Gastländer« verlassen. Insofern verwundert es nicht, daß trotz aller grundsätzlichen Gegnerschaft Kontakte und Verhandlungen zwischen Zionisten und Antisemiten zustande kamen.113 So traf noch am 11. August 1933 Arthur Ruppin, als Mitglied von Brit Schalom ein Gegner des Nationalismus, andererseits aber seit langem von der Diskussion um das Rassenbewusstsein beeinflusst, mit dem nationalsozialistischen 112 Herzl: Judenstaat, S. 37 ff., 81 ff.; s. auch Begleitbuch zur Ausstellung, S. 160. Bodenheimer sprach auf dem Ersten Zionistenkongress von einer Heimstätte »für die unterdrückten Stammesgenossen»: Zionisten-Congress, S. 122, vgl. 123. Vgl. den Aufruf des Zionistenvereins Basel vom November 1897 »An die Israeliten Basels»: Darin wurde die zionistische Tätigkeit ausdrücklich darauf bezogen, »den im Elend schmachtenden Juden Osteuropas, Nordafrikas und Persiens zu einem menschenwürdigen Dasein in ihrer Urheimat Palästina zu verhelfen«. In recht freier Auslegung des »Baseler Programmes« hieß es weiter: »Der Zionismus will die Assimilierung nicht hemmen (...). In kulturell vorgeschrittenen Ländern, wo keinerlei Nötigung zur Knebelung des Geistes und Gewissens besteht, hat der Zionismus gegen eine Verschmelzung nichts einzuwenden.« In einem Anschreiben zur Versendung der Vereinsstatuten vom Januar 1898 wurde noch einmal betont, dass der Zionismus den »armen, rechtlosen Mitmenschen« helfen wolle. »Der Zionismus verpflichtet seine Anhänger absolut nicht zur späteren Auswanderung nach Palästina, und er verlangt nichts, was nicht jeder Rechtlichdenkende ohne irgendwelche Verletzung seiner vaterländischen Pflichten thun dürfte« (Staatsarchiv Basel-Stadt, Privatarchiv 793 [IGB-Reg], U 1, Zionisten; auch CZA, Mappe Schweiz). Deutlicher geht es wohl nicht. Dazu Bettina Zeugins Artikel im Begleitbuch zur Ausstellung; Ferrero: La Suisse, z. B. S. 106; Reinharz: Ideology, S. 127; Zimmermann: Gesellschaftsbild, S. 151 ff. 1912 beschlossen die deutschen Zionisten allerdings, dass jeder die eigene Emigration nach Palästina in sein Lebensprogramm aufnehmen solle: Lamberti: Coexistence, S. 71; Kurt Blumenfeld: Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus. Stuttgart 1962, S. 90 ff. 113 Vgl. Alderman: Modern British Jewry, S. 229 mit Anm. 86; Jehuda Reinharz: The Zionist Response to Antisemitism in Germany. In: LBI Year Book 30 (1985) S. 105–140 (zur Diskussion über Verbindungen zu Deutsch-Völkischen oder gar zur NSDAP S. 132–133, 136). Zur Ablehnung aller Kontakte mit den Nazis: Hermann Meier-Cronemeyer: Zionismus. Von den Anfängen bis zum Staat Israel. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1989, S. 101. Vgl. meinen Beitrag zu Zionismus und Schoa im Begleitbuch zur Ausstellung.

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Rassenforscher Hans F. K. Günther (1891–1968) zu einem wissenschaftlichen Gespräch zusammen. Dieser »war sehr liebenswürdig« und stimmte Ruppin zu, »dass die Juden nicht minderwertig, sondern anderswertig seien und dass die Judenfrage in anständiger Weise geregelt werden müsse«.114 Zeigt sich hier eine Fehleinschätzung nationalsozialistischen Denkens, so waren andererseits Verhandlungen zwischen Zionisten und Vertretern des »Dritten Reiches« unumgänglich, um die Bedingungen für die Ausreise von Juden aus Deutschland zu klären. Dass trotz der Berührungspunkte zwischen Zionisten und Antisemiten der Antizionismus ebenso wie Antibolschewismus in bestimmten Situationen zum Synonym für Antisemitismus, für Judenfeindschaft wurde, steht auf einem anderen Blatt.115 Eine geradezu berüchtigte Rolle im Kampf gegen den Zionismus – wie gegen das Judentum überhaupt – spielten die »Protokolle der Weisen von Zion«. Diese vermutlich von der zaristischen Geheimpolizei angefertigte Fälschung, die angeblich eine Sitzung am Rande des Ersten Zionistenkongresses dokumentierte, diente als Beweis für die zentral gesteuerte Verschwörung der Juden, um die Weltherrschaft zu erlangen. Weder ein Prozess in Bern während der dreißiger Jahre noch andere Nachweise der Fälschung änderten etwas daran, dass sie bis heute in immer neuen Auflagen auf den Markt gebracht wird.116 In vielfacher Hinsicht erreichte der Zionismus seine Ziele nicht, oder jedenfalls nicht so, wie es sich die Zionisten der ersten Stunde vorgestellt hatten. Die diplomatisch-politischen Bemühungen führten nicht, wie besonders von Herzl erhofft, zu einem raschen Erfolg. Nur zögernd flossen die erforderlichen finanziellen Mittel. Die »Erlösung« ist nicht eingetreten. Blutvergießen und Gewalt konnten nicht vermieden werden. Durch die Staatsbildung ist der Antisemitis114 Ruppin: Briefe, S. 446, vgl. 422. Vgl. Doron: Rassenbewusstsein, S. 413–416, 421–425. 115 Ernst Piper: »Die jüdische Weltverschwörung«. In: Schoeps, Schlör: Antisemitismus, S. 127–135. Vgl. Alderman: Modern British Jewry, S. 251, 253, 263. Zum übergreifenden Zusammenhang auch Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. 116 Dazu Michael Hagemeister in diesem Band; ders.: Sergej Nilus und die »Protokolle der Weisen von Zion«. Überlegungen zur Forschungslage. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 5 (1996) S. 127–147; Urs Lüthi: Der Mythos von der Weltverschwörung. Die Hetze der Schweizer Frontisten gegen Juden und Freimaurer am Beispiel des Berner Prozesses um die »Protokolle der Weisen von Zion«. Basel, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Harvard-Vorlesungen (Norton Lectures 1992–93). München, Wien 1994, hier in Teil 6, S. 174–184. Hagemeister machte mich auch auf die Schrift des NS-Ideologen Rosenberg aufmerksam, der den Zusammenhang mit Basel thematisierte: Alfred Rosenberg: Der Weltverschwörerkongress zu Basel. München 1927. [Über den neuesten Forschungsstand informieren weitere Schriften Michael Hagemeisters.]

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mus nicht verschwunden – im Gegenteil, er wurde infolge des Konflikts zwischen Zionisten und Palästinensern zusätzlich in seiner europäischen Form in die arabische Welt gebracht. Ebensowenig gelang es, rechtzeitig die vom Antisemitismus bedrohten Juden zu retten. Die positive Resonanz auf den Zionismus blieb lange Zeit auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis beschränkt. Zugespitzt kann man sagen: Erst die Schoa schweißte alle Juden zusammen und machte die Gründung eines Staates Israel zu einer Notwendigkeit, zu einer allgemeinen Forderung. Durch die kollektive Erfahrung kam es auch zu einer »Einebnung bislang gültig gewesener unterschiedlicher Formen jüdischen Bewusstseins und Selbstverständnisses. Das Ergebnis: Die Geschichte der Juden hatte sich zu einer jüdischen Geschichte gewandelt.«117 Allerdings löste die Erfahrung der Schoa bei vielen Zionisten Verdrängungsprozesse aus. Das Gefühl, trotz erheblicher Anstrengungen vielleicht doch nicht genug zur Rettung der gefährdeten Juden getan zu haben, mündete in Vorwürfe, warum diese nicht auf die Zionisten gehört hätten und nicht rechtzeitig ausgewandert seien oder größeren Widerstand geleistet hätten, anstatt sich »wie Lämmer zur Schlachtbank« führen zu lassen. Dieser Satz, mit dem in Anlehnung an ein Jesaja-Wort die Bewohner des Wilnaer Ghettos Ende 1941 zum Widerstand aufgefordert worden waren,118 wurde nun mehr und mehr zur Rechtfertigung des eigenen Handelns und dann auch gegen die Überlebenden verwendet. Zusammen mit der Vorstellung des »Muskeljuden« als Modell des Menschen, der den Staat Israel aufbauen werde, führte dies zu einer gewissen Verachtung für die nichtzionistischen Lebenswelten und zugleich zu einer mythischen Verklärung des heroischen Ghettokämpfers wie des Pioniers in Erez Israel, die in der Tradition des Kampfes der Juden gegen die Römer in Masada stünden.119 Nach 117 Dan Diner: Zweierlei Emanzipation. Westliche Juden und Ostjuden in universalhistorischer Perspektive. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 22 vom 27./28.1.1996, S. 17. Er macht auch darauf aufmerksam, dass weniger der zionistische Einfluss als die Situation der jüdischen Displaced Persons nach 1945 »zum eigentlichen Hebel der Errichtung des Staates Israel wurde« (der Artikel geht auf seine Rede zurück in: Dubnow-Institut: Vorstellung, S. 19–28, hier S. 21, 27). Vgl. ders.: Individualität und Nationalität, S. 8 ff. Der israelische Außenminister Abba Eban sprach 1967 von den »Grenzen von Auschwitz«, zu denen man nach dem Juni-Krieg nicht mehr zurückkehren werde (ebd., S. 24). S. auch Meyer: Jüdische Identität, S. 94–95. Zum Verhältnis von Zionismus und Schoa vgl. meinen Artikel im Begleitbuch zur Ausstellung. 118 Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Reinbek 1995, S. 152. 119 Vgl. den Beitrag von Christian Hofer im Begleitbuch zur Ausstellung; Jürgen Lillteicher: Der Yom HaShoah in Israel – Kollektive Erinnerung 1953–1975. Unveröffentl. Staatsexamensarbeit Freiburg i. Br. 1996 (ich verdanke den Hinweis darauf Irmtraud Götz v. Olenhusen); Uri Ram: Narration, Erziehung und die Erfindung des jüdischen Nationa-

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dem Sieg im Sechs-Tage-Krieg von 1967, durch den die heiligen Stätten in den Besitz Israels kamen, fand dann eine Sichtweise zunehmend Anhänger, für die eine Aufgabe jener Gebiete nicht mehr in Betracht gezogen werden konnte. Dabei knüpfte sie an eine Strömung im orthodoxen Judentum an, die von Anfang an dem Zionismus gegenüber aufgeschlossen gewesen war: Sie verband ihn mit der religiös bestimmten Sehnsucht der Juden nach ihrem angestammten Land, aus dem die Römer sie vertrieben hatten. Um das Judentum zu stärken und die Rückkehr nach Zion einzuleiten, seien eine nationale Zusammenfassung aller Juden und eine Kräftigung des jüdischen Volksbewusstseins geradezu notwendig. Der Zionismus werde auch dazu beitragen, diejenigen wieder zum Glauben zurückzubringen, die sich von ihm entfernt hätten. Die Rückgewinnung der heiligen Stätten verstand diese Neuinterpretation des Zionismus jetzt als ein Zeichen Gottes, dass die messianische Erlösung nicht mehr fern sei.120 Eine Mehrheit gewann diese Richtung nicht zuletzt durch die Zustimmung der sephardisch-orientalischen Juden, die in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt nach Israel eingewandert waren und die europäischen Traditionen der bisherigen Elite in Frage stellten.121 Der Konflikt mit den Palästinensern hat sich dadurch weiter verschärft, eine Lösung ist schwieriger geworden. Auf der anderen Seite werden inzwischen die zionistischen Mythen kritisch diskutiert, die Geschichte des Zionismus neu aufgearbeitet und der Dialog mit den Palästinensern gesucht. Die Festigung des Staates Israel und die Möglichkeit, seine Isolierung in einer feindlichen Umwelt zu überwinden und auch ein dauerhaft friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern in die Wege zu leiten, führen zu der Frage, ob der Zionismus nicht seine Aufgabe erfüllt habe, nachdem Israel nicht ein Staat in messianilismus. Ben-Zion Dinur und seine Zeit. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (1994) S. 151–177. Zur Kritik am Verhalten vieler Zionisten gegenüber den vom Völkermord bedrohten Juden vgl. Wells: Und sie machten Politik; Segev: Die siebte Million. Über den »Muskeljuden« und die Kritik am mangelnden Widerstandswillen der Diasporajuden ist es heute z. T. zum Bild des »harten Juden« gekommen, der jegliche Zugeständnisse an die »Feinde« ablehnt. Vgl. Joachim Riedl: Von Schreckensvisionen getrieben. Die Rolle der zionistischen Fundamentalisten in Amerika. In: Süddeutsche Zeitung vom 24.2.1997. 120 Vgl. den Beitrag Moshe Zimmermanns im Begleitbuch zur Ausstellung; Joffe: Zank der frommen Murrer. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Nationalreligiösen sind keineswegs zu verwechseln mit den Ultraorthodoxen. Diese lehnen meist noch immer den Staat Israel ab und haben gar nichts gegen ein Zusammenleben mit den Palästinensern. 121 Moshe Zimmermann: Wende in Israel. Zwischen Nation und Religion. Berlin 1996, S. 26–27. Dan Diner sieht in der »territorialistischen Deutung der Gewordenheit Israels« aufgrund der Einwanderung eher aus Not denn aus zionistischer Überzeugung den entscheidenden Begründungszusammenhang (Individualität und Nationalität, S. 27).

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scher Tradition, sondern ein »normaler« Staat geworden sei, oder ob er sich nicht zumindest neu orientieren müsse. Ebenso sei das Verhältnis der Juden in Israel zu den Juden in der Diaspora, der religiösen zu den nichtreligiösen, der aschkenasischen zu den sephardischen, der europäischen zu den orientalischen, der liberalen zu den fanatisch orthodoxen und den ultraorthodoxen Juden, der Eingesessenen zu den Neueinwanderern sowie nicht zuletzt der Juden zu den Arabern neu zu definieren. Kann sich die israelisch-nationale Identität von der des jüdischen Volkes entfernen? Wie kann der Zusammenstoß der Kulturen in ein Leben mit der Vielfalt, in eine gegenseitige Anerkennung münden?122 Eine wichtige Rolle bei dieser Orientierungssuche spielt die Erinnerung, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der israelische Staatspräsident Ezer Weizman hat bei seiner Rede im Deutschen Bundestag am 16. Januar 1996 das Bild gebraucht, daß derjenige, der bewusst die Geschichte der vorangegangenen Generationen mitlebt, »mit dem Rucksack der Erinnerungen auf meinen Schultern und dem Stab der Hoffnung in den Händen (...) auf die große Kreuzung der Zeitläufte« tritt.123 Der Zionismus war nie eine geschlossene, einheitliche Bewegung und Ideologie. Er hat das Judentum verändert und steht doch – je nach Richtung in unterschiedlicher Weise – in seiner Tradition. Er war und ist veränderbar. Deshalb ist die jüdische Geschichte auch weiterhin eine Geschichte der Jüdinnen und Juden.

122 Vgl. die Beiträge von Sumaya Farhat-Naser, Patrick Kury, Christian Hofer, Barbara Lüthi und Simon Erlanger im Begleitbuch zur Ausstellung; Zimmermann: Wende, S.  88–89, 112–127; Meyer: Jüdische Identität, S. 95 ff.; Amos Elon: Israel and the End of Zionism. In: The New York Review of Books 43/20 vom 19.12.1996, S. 22–30. Vgl. David N. Myers: Re-Inventing the Jewish Past. European Jewish Intellectuals and the Zionist Return to History. New York, Oxford 1995. Aus der Vielzahl von Zeitungsartikeln erwähne ich hier nur: Richard Haim Schneider: Krieg in der Diaspora. Zur Identität des modernen Israel. In: Süddeutsche Zeitung vom 18./19.11.1995; Eva-Elisabeth Fischer: Mit Blick zurück in die Zukunft. Ebd. 24.11.1995; dies.: Zwischen den Zeiten. Yosef Hayim Yerushalmis IsraelVortrag in Münschen. Ebd. 9./10.11.1996; Joachim Riedl: Verblasste Mythen: Der Zionismus. Ebd. 15.12.1995; »Netanyahu ist nicht Mussolini.« Ein Gespräch mit dem israelischen Schriftsteller Amos Oz. Ebd. 10.6.1996; Israelitisches Wochenblatt Nr. 47 und 48 vom 22. und 29.11.1996; Michael Marek: Historikerdebatte in Israel. Revisionen an der zionistischen Geschichtsschreibung. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 8 vom 11./12.1.1997. Mit den Schwierigkeiten mancher Juden, die islamischen und christlichen Beiträge zur Kultur in Erez Israel angemessen zu würdigen, setzte sich Alex Carmel auseinander, s. seinen Artikel in: Haaretz vom 12.4.1996 (ich danke ihm für die Übersetzung). 123 Zitiert nach dem Redetext in der Süddeutschen Zeitung vom 17.1.1996, S. 7. Damit griff er auch auf die Idee des »wandernden Juden« zurück, vgl. Anm. 47, 86.

Jüdische Nation – Polnische Nation? Zur gesellschaftlichen Orientierung von Juden in Polen während des 19. Jahrhunderts*

Alexander Lesser: Beisetzung der fünf Opfer der Kundgebung in Warschau 1861. Öl auf Leinwand, 170 x 207. Muzeum Narodowe w Krakowie (Reproduktion mit freundlicher Genehmigung des Krakauer Nationalmuseums)

Das Gemälde zeigt einen Höhepunkt der jüdisch-polnischen Geschichte. Gemalt hat es 1867 Aleksander Lesser, ein Pole jüdischer Herkunft, der 1814 in Warschau geboren wurde und 1884 in Krakau gestorben ist. Lesser war seinerzeit ein bekannter Künstler, der in Polen wie im Ausland studiert und in Warschau zusammen mit anderen die Gesellschaft zur Anregung schöner Künste gegründet hatte, sich aber auch politisch engagierte: In Italien war er der Legion des Dichters Adam Mickiewicz (1798–1855) beigetreten, die dieser * Erstpublikation in: Kontexte der Schrift. Band 1: Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft. Ekkehard W. Stegemann zum 60. Geburtstag. Hg. von Gabriella Gelardini. Stuttgart 2005, S. 442–457.

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1848 gebildet hatte, damit Polen und Juden gemeinsam an Freiheitskämpfen teilnehmen könnten.1 »Beisetzung der fünf Opfer der Kundgebung in Warschau 1861« hat er das abgebildete Gemälde genannt.2 Wir sehen die fünf Särge, die von verschiedenen Männergruppen an zahlreichen Trauernden vorbei getragen werden, unter denen im Vordergrund nur einige wenige Frauen zu identifizieren sind. Ziel ist der Friedhof Powązkowski; im Hintergrund erkennen wir die Silhouette von Warschau. Was war geschehen? Der Wiener Kongress von 1815, an dem nach der Niederlage des napoleonischen Frankreich die Neuordnung Europas beschlossen wurde, hatte die Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 zwischen Preußen, Österreich und Russland bestätigt. Das Russische Reich behielt damit jene Gebiete, die es sich bei diesen Gelegenheiten angeeignet hatte. Zudem wurde das neu geschaffene »Königreich Polen« um die Hauptstadt Warschau in Personalunion mit dem russischen Zaren verbunden. Zwar erhielt das Land zunächst eine gewisse Autonomie im Rahmen einer vom Zaren oktroyierten Verfassung – Russland selbst wurde autokratisch ohne Verfassung regiert –, doch im Laufe der Zeit spitzten sich die Gegensätze zu und mündeten Ende November 1830 in einen Aufstand gegen die zaristische Herrschaft. Nach dessen Niederschlagung 1831 wurde die Verfassung ausgesetzt und der Ausnahmezustand erklärt, der bis 1856 andauerte. Die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen hielten jedoch an. Es gärte im Untergrund, immer wieder bildeten sich Geheimbünde, die Aufstände vorbereiteten. Nach der Niederlage Russlands im Krimkrieg 1856 und der Liberalisierungspolitik des neuen Zaren Alexander II. (1818–1881) verstärkten sich in gemäßigten polnischen Kreisen – den »Weißen« – Hoffnungen, in Zusammenarbeit mit der russischen Regierung Erleichterungen, vielleicht sogar wieder die politische Selbständigkeit zu erreichen. Bei radikalen Gruppen – den »Roten« – stieg hingegen die Erwartung, aufgrund der günstigen internationalen Lage und der inneren Probleme Russlands die russische Besatzung durch einen erneuten Aufstand vertreiben zu können. Am 27. Februar 1861 fand in Warschau anlässlich des Jahrestages einer wichtigen Schlacht im Aufstand 1830/31 eine grosse 1 Żydzi w Polsce. Dzieje i kultura. Leksykon, hg. v. Jerzy Tomaszewski und Andrzej Żbikowski, Warszawa 2001, 252; Żbikowski, Andrzej, Żydzi, Wrocław 1997, 89, 92–93, 168; Ostrowski, Jan K., Die polnische Malerei vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn der Moderne, München 1989, 158; zu Mickiewicz Haumann, Heiko, »Das Erhabenste der Menschlichkeit.« Adam Mickiewicz und der jüdisch-polnische Messianismus, in: Fenster zur Geschichte. 20 Quellen – 20 Interpretationen. Festschrift für Markus Mattmüller, hg. v. Bernard Degen u. a., Basel/Frankfurt a. M. 1992, 247–259. 2 Żydzi w Polsce. Obraz i słowo, hg. v. Mark Rostworowski, Teil 1, Warszawa 1993, 180– 181. Für Hilfe bei der Beschaffung der Reproduktionsgenehmigung des Krakauer Nationalmuseums danke ich Catherine Schott.

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Demonstration für die Freiheit Polens statt. Kosaken lösten sie mit Waffengewalt auf. Dabei kamen fünf Demonstranten ums Leben, darunter ein Jude.3 Das Begräbnis der Opfer am 2. März 1861 gestaltete sich zu einer machtvollen Manifestation polnischer Einheit. Lessers Gemälde führt uns das eindringlich vor Augen. Auf einem Hügel, an dem die Särge vorbeigetragen werden, steht die hohe Geistlichkeit, ganz im Zentrum der katholische Erzbischof Antoni Melchior Fijałkowski (1778–1861). Neben weiteren katholischen Würdenträgern erblicken wir rechts vom Erzbischof die evangelischen Pastoren Leopold Otto und Juliusz Ludwig – und links zwei Rabbiner: Markus Jastrow (1829–1901), an seiner Kleidung deutlich dem religiösen Reformflügel zuzuordnen, und Dov Ber Meisels (1798–1871), den orthodoxen Oberrabiner Warschaus. Damit nicht genug. Unterhalb der Geistlichkeit, am rechten Bildrand, hat sich eine Delegation der Stadt Warschau aufgestellt. Ihr gehören ebenfalls Personen jüdischer Herkunft an: Mathias Rosen (1804–1865), schräg rechts neben den beiden Geistlichen, und Leopold Kronenberg (1812–1878), hinter dem Geistlichen, der die Hände gefaltet hat. Rosen war ein bekannter Bankier und hatte am Aufstand von 1830/31 als Angehöriger der Nationalgarde teilgenommen. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft übernahm er immer wieder wichtige Funktionen. Energisch trat er für die Gleichberechtigung der Juden ein und unterstützte die Idee ihrer »Produktivisierung«, also die Loslösung aus ihrer Beschränkung auf den Handel. In der Wirtschaft hatte er vielfältige Beziehungen zu Kronenberg. Dieser war einer der bedeutendsten Unternehmer der Zeit, namentlich in der Tabak- und Zuckerindustrie sowie im Bergbau, und betätigte sich auch im Bankwesen. Obwohl er 1845 zur evangelisch-reformierten Konfession übergetreten war, stand er der jüdischen Gemeinschaft zur Seite, engagierte sich im Wohlfahrtswesen und befürwortete nachdrücklich die Gleichberechtigung der Juden.4 Dabei arbeitete er eng mit Graf Andrzej Zamoyski (1800–1874) zusammen, der auf dem Gemälde unmittelbar links neben ihm steht. Dieser galt als Führer des grundbesitzenden Landadels und leitete die 1858 gegründete Landwirtschaftliche Gesellschaft, die nicht nur Agrarfragen und die Verbesserung der Verhältnisse für die Bauern erörterte, sondern darüber hinaus ein Sammelbecken für die »Weißen« darstellte, denen auch Kronenberg nahe stand. 3 Vgl. – auch im Folgenden – als Überblick Hoensch, Jörg K., Geschichte Polens, Stuttgart 3 1998, 180–249; Jaworski, Rudolf, Das geteilte Polen (1795–1918), in: ders. u. a., Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt a. M. 2000, 247–303. 4 Żydzi w Polsce, Leksykon, 249, 401. Vgl. Kołodziejczyk, Ryszard, Portret warszawskiego milionera, Warszawa 1968; ders., Leopolda Kronenberga (1812–1878) – portret własny, in: ders., Studia nad dziejami burżuazji w Polsce. Wybór prac za let 1956–1998 wydany z okazji 75-lecia urodzin autora, Warszawa/Pułtusk 1998, 253–263.

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Bereits in dieser Konstellation wird sichtbar, dass die Juden in die Begräbnisfeierlichkeiten eingeschlossen, Teil eines nationalen Gedenkens waren und keineswegs eine »Randgruppe« der polnischen Gesellschaft bildeten.5 In besonderer Weise symbolisiert dies die Beteiligung des Rabbiners Meisels, unübersehbar mit seinem Pelzhut und dem pelzgeschmückten Kaftan, mit seinem langen Bart und den Schläfenlocken. Meisels hatte in den dreißiger und vierziger Jahren von sich reden gemacht, als es ihm in Krakau-Kazimierz mit Unterstützung der weltlichen Behörden gelungen war, die Macht in der jüdischen Gemeinde an sich zu reißen und dabei die Mehrheit aus Reformorientierten und Chassidim auszuschalten. Trotz seiner Orthodoxie bekannte er sich zum Polentum und zur Solidarität zwischen Polen und Juden gerade auch bei den Bemühungen um politische Freiheit. Sein autoritärer Amtsstil war allerdings auf wachsenden Widerstand in der Gemeinde gestoßen, so dass Meisels 1856 das Angebot angenommen hatte, als Rabbiner nach Warschau zu wechseln.6 Dort blieb er seinen Anschauungen treu und unterstützte weiterhin die polnische Seite. Am 28. Februar 1861, unmittelbar nach der blutig endenden Demonstration, hatte ihn Zamoyski gebeten, eine an den russischen Zaren gerichtete Petition für mehr politische Freiheiten im Namen der Juden in Polen zu unterschreiben. Meisels war dem Ansuchen nachgekommen.7 So versteht sich seine Teilnahme an den Begräbnisfeierlichkeiten zusammen mit den Geistlichen der anderen Konfessionen – in der Kirche zum Heiligen Kreuz8 wie auf dem Friedhof – als konsequenter Ausdruck seiner politischen Einstellung. Und das Ensemble auf Aleksander Lessers Gemälde bringt zum Ausdruck: Am 2. März 1861 bildeten Christen und Juden in Polen eine Nation. Die weit verbreitete Vorstellung, in Polen seien die Juden traditionell eine gesonderte, ausgegrenzte Bevölkerungsgruppe gewesen, trifft demnach nicht zu, jedenfalls nicht pauschal. Untersuchen wir die Lebenswelten der Juden in ihren Netzwerken, Kommunikationen und Interaktionen, so finden wir zwar viel inneren Zusammenhalt, Selbstverwaltung, Autonomie, aber ebenso Nach5 Staudinger, Barbara, Juden als »Pariavolk« oder »Randgruppe»? Bemerkungen zu Darstellungsmodellen des christlich-jüdischen Verhältnisses in der Frühen Neuzeit, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), 8–25. 6 Kozińska-Witt, Hanna, Die Krakauer Jüdische Reformgemeinde 1864–1874, Frankfurt a. M. usw. 1999, 32–33. 7 Guesnet, François, Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel, Köln usw. 1998, 96, vgl. 194, 394. 8 Den Auszug aus der Kirche zeigt ein Gemälde von Henryk Pillati (1832–1894), in: Żydzi w Polsce. Obraz i słowo, 178–179. Auch hier sind die beiden Rabbiner zu erkennen, zusammen mit weiteren Juden, aber sie stehen – anders als am Friedhof – am Rande, während die evangelischen Pastoren im Zug hinter den katholischen Bischöfen gehen.

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barschaft zu Christen, Kontakt, Zusammenarbeit – ohne dass deshalb Konflikte, Gegensätze, Feindschaften ausgeschlossen gewesen wären.9 Die Nationsverständnisse in Polen blieben davon nicht unberührt. Es lohnt sich, sie sich zu vergegenwärtigen. Im »alten Polen«, der »Adelsrepublik mit monarchischer Spitze«, repräsentierte die szlachta, der Adel, die Nation. Der Begriff wurde hier noch ständisch verstanden, von einer Gemeinschaft, die als Kollektiv mit geschichtlich-kultureller Zugehörigkeit konstruiert wird und sich als Bewegung formiert, um politische Ziele zu erreichen, ist noch keine Rede.10 Zugleich war »Nation« eine soziale Kennzeichnung. Wie tief die Kluft war, die den Adel in seinem Bewusstsein von anderen Schichten trennte, bringt ein verbreitetes adliges Wort zum Ausdruck: »Wer in der polnischen Nation kein Szlachcic ist, der kann auch kein Mensch sein.«11 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts umfasste der Adel ungefähr acht bis zehn Prozent der Bevölkerung Polens, etwa gleich viel wie die Juden.12 Zu dieser Zeit war bereits eine Diskussion im Gange, die Gesellschaftsverfassung des Landes neu zu bestimmen und Konzepte für die Zukunft vorzulegen. Ein Jahrhundert zuvor hatte Polen noch die Rolle der Großmacht im Ostseeraum, ja überhaupt in Osteuropa ausgeübt. Durch militärische Niederlagen und inneren Zerfall war das Königreich stark geschwächt und außenpolitisch in erheblichem Maße von Russland abhängig. Ein Großteil des Adels wollte die veränderte Situation nicht wahrhaben. Gefangen in der »sarmatischen Ideologie«, die die adligen Tugenden und Freiheiten sowie die Bedeutung in der

9 Vgl. Haumann, Heiko, Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930, in: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, hg. v. Nada Boškovska u. a., Zürich 2002, 323–348; ders., Juden in der ländlichen Gesellschaft Galiziens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Schneider, hg. v. Andrea Löw, Kerstin Robusch und Stefanie Walter, Frankfurt a. M./New York 2004, 36–58; zum Ansatz ders., Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel, in: Jüdische Studien. Reflexionen zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, hg. v. Klaus Hödl, Innsbruck 2003, 105–122. 10 Vgl. den Beitrag verschiedener Autoren: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd. 7, Stuttgart 1992, 141–431. 11 Dazu Hoensch, Jörg K., Sozialverfassung und politische Reform. Polen im vorrevolutionären Zeitalter, Köln/Wien 1973, 53–54. 12 Hoensch, Sozialverfassung, 83 ff. Als Überblick, auch zum Folgenden, vgl. die in Anm. 3 genannten Titel.

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Gesellschaft auf das antike Kriegervolk der Sarmaten (3. Jahrhundert v.d.Z. – 2. Jahrhundert d.Z.) zurückführte,13 sah er keine Notwendigkeit für Reformen. Die Stimmung schlug dramatisch um, als 1772 Preussen, Russland und Österreich gemeinsam Polen einen Vertrag aufzwangen, der die Abtretung großer Gebiete an die drei Staaten legitimierte.14 Intensiv wurden nun Reformpläne erörtert. Sie zielten auf ein neues Verständnis der Nation, in die weitere Bevölkerungskreise einbezogen werden müssten. In der Ständeverfassung sollten die nichtadligen Stände, namentlich die Stadtbürger, mehr Rechte erhalten. Geregelt werden sollten darüber hinaus die Stellung der erbuntertänigen Bauern – und die Beziehungen zu den Juden. Für die Juden in Polen war 1648 ein »goldenes Zeitalter« zu Ende gegangen. Im Mittelalter vor den Verfolgungen in West- und Mitteleuropa zugewandert, hatten der König und der Hochadel sie überwiegend mit offenen Armen aufgenommen, da sie wirtschaftlich und sozial von Nutzen sein konnten. Zwar waren sie auch in Polen nicht überall willkommen: Die Judenfeindschaft der katholischen Kirche verband sich mit ökonomisch begründeter Gegnerschaft bei Kleinadligen, Händlern, Kaufleuten, Handwerkern und Bauern und führte zu Diskriminierungen, Ritualmordanklagen, Vertreibung aus zahlreichen Städten sowie Ausschreitungen. Dennoch: im Vergleich zum Westen ging es hier den Juden besser. Sie spielten als Mittler zwischen Stadt und Land im Wirtschaftskreislauf die entscheidende Rolle, ihre Gelehrsamkeit und Kultur waren in der ganzen Welt berühmt, ihre Selbstverwaltungsmöglichkeiten – von der Gemeinde, dem Kahal, bis zum »Judenreichstag« auf höchster Ebene, dem Waad arba arazot – standen einzigartig da. 1648 erhoben sich die ukrainischen Bauern und Kosaken gegen die Herrschaft der polnischen Gutsbesitzer. Der Krieg zerstörte in weiten Gebieten das blühende Leben jüdischer Gemeinden und forderte zahlreiche Todesopfer: Die Juden galten als Werkzeuge der Gutsbesitzer. Zum ersten Mal war die Existenz der polnischen Judenheit bedroht. Auch wenn diese sich verhältnismäßig schnell wieder konsolidieren konnte, war ihre herausgehobene Stellung doch vernichtet. Sie musste sich ihren Platz in der Gesellschaft neu suchen. Messianistische Bewegungen, besondere religiöse Strömungen – wie der Chassi-

13 Vgl. Kersken, Norbert, Geschichtsbild und Adelsrepublik. Zur Sarmatentheorie in der polnischen Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 52 (2004), 235–260. 14 Auf die Hintergründe dieser ersten Teilung Polens gehe ich nicht ein. Vgl. Müller, Michael G., Polen zwischen Preussen und Russland. Souveränitätskrise und Reformpolitik, 1736–1752, Berlin 1983; ders., Die Teilungen Polens 1772–1793–1795, München 1984.

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dismus – und veränderte Lebensformen waren die Folge. Dabei ging es nicht zuletzt um das Verhältnis zu den christlichen Bevölkerungsgruppen in Polen.15 Eine Neubestimmung der polnischen Nation stand zur Debatte. Sollten die Juden dazu gehören? Ein kleiner Teil der Diskutanten befürwortete dies uneingeschränkt, ein anderer forderte zunächst eine Assimilation und »Zivilisierung«, ein weiterer lehnte die Gleichberechtigung der Juden ab. Als Ergebnis der gesamten Reformdiskussion wurde am 3. Mai 1791 die polnische Verfassung verabschiedet, die erste in Europa, die einem aufgeklärten Geist verpflichtet war. Sie stellte die Regenerierungs- und Reformkraft der traditionellen Ordnung unter Beweis. Das Wahlrecht wurde verändert, das Regierungssystem verbessert, die Gewaltenteilung neu geregelt. Das Nationsverständnis erwies sich als ambivalent: Zwar sollten alle Stände zur Nation gehören, doch indem es nun den Bürgern erleichtert wurde, in den Adel aufzusteigen, deutete sich ein Nachwirken der früheren Überzeugung an, dass nur der Adel die Nation bilde. Ohnehin hatte man die beiden wichtigsten sozialen Fragen, die Stellung der Bauern und der Juden, weitgehend aus der Verfassung ausgeklammert, weil ein Konsens noch nicht möglich gewesen war. Bereits diese Reformverfassung galt den Nachbarmächten, vorab Russland, als zu revolutionär. Es kam zu einer militärischen Intervention mit dem Ergebnis der zweiten Teilung Polens 1793. Von diesem Diktat versuchte sich Polen ein Jahr später durch einen Aufstand unter Führung von Tadeusz Kościuszko (1746–1817) zu befreien. Er stand unter der Losung »Freiheit, Ganzheit, Unabhängigkeit«. Man kann ihn als erste nationale Erhebung bezeichnen. Nach anfänglichen Erfolgen mussten sich die polnischen Truppen der russischen Übermacht beugen. 1795 wurde Polen zum dritten Mal, und diesmal vollständig, unter die drei Großmächte aufgeteilt. Das Land verschwand als eigenständiges Gemeinwesen bis 1918 von der politischen Landkarte. Trotz seines Scheiterns war der Aufstand von 1794 für die Geschichte der polnischen Nation von außerordentlicher Bedeutung. Nicht nur, dass hier die Tradition des heroischen Befreiungskampfes begründet wurde – Kościuszko gilt bis heute in Polen als der größte Held in der Geschichte des Landes –, sondern hier entfaltete sich auch ein radikales Nationsverständnis: Gegen den Widerstand vieler Adliger proklamierte Kościuszko für die Zeit nach dem Sieg die Befreiung der Bauern aus der Erbuntertänigkeit sowie die Gleichberechtigung der Juden und aller anderen Minderheiten; auch die Frauen sollten politische Rechte erhalten. Alle, die in Polen lebten und sich zur Freiheit Polens bekannten, wurden als Brüder und als Teil der Nation angesprochen. Selbst wenn hier 15 Als Überblick über die Geschichte der Juden in Polen: Haumann, Heiko, Geschichte der Ostjuden, München 51999.

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der Zweck dahinter stand, möglichst viele Menschen für den Aufstand zu gewinnen, und wenn zu bezweifeln ist, ob Kościuszko all seine Ankündigungen bei einem Sieg tatsächlich hätte verwirklichen können, war dieser »weite« Nationsbegriff zukunftsweisend. Nicht zufällig unterstützten viele Juden den Aufstand. Unter Führung von Berek Joselewicz wurde sogar eine jüdische Legion aufgestellt.16 Die dritte Teilung Polens und vollends die Beschlüsse des Wiener Kongresses 1815 durchkreuzten alle Erwartungen, die an die Bildung der polnischen Nation geknüpft worden waren. Trotzdem blieb der »weite« Nationsbegriff zunächst bestimmend, denn eine einige Nation sollte die Unabhängigkeit wieder erringen. Allerdings deuteten sich auch Brüche und unterschiedliche Interessen an, indem ein wichtiger Teil des Adels nichts von einer Befreiung der Bauern wissen wollte, diese deshalb auch den Aufstandsbestrebungen zurückhaltend gegenüberstanden, oder indem sich judenfeindliche Tendenzen verstärkt bemerkbar machten. Im Aufstand von 1830/31 galt aber nach wie vor, dass alle Menschen in Polen Angehörige der polnischen Nation sein könnten. Adam Mickiewicz erweiterte dieses Verständnis in der Emigration sogar, indem er die polnische Losung »Für unsere und eure Freiheit«, mit der international für die Unabhängigkeitsbestrebungen geworben wurde, messianistisch deutete: Polen durchlaufe in seiner Geschichte ein Schicksal, das dem Leiden Jesu gleiche. Werde Polen erlöst, indem es seine Freiheit erringe, bedeute dies zugleich die Erlösung der Menschheit von allen Unterdrückungen. Und er fügte hinzu, der jüdische Messianismus habe auf den polnischen eingewirkt. Nicht umsonst habe sich dieses Volk Polen als Vaterland gewählt. 1848 erklärte Mickiewicz in seinem Manifest, mit dem er zur Gründung einer polnischen Legion aufrief: »Jedermann in der Nation ist ein Bürger. (...) Dem Juden, unserem älteren Bruder, (zollen wir) Ehrerbietung und Beistand auf seinem Weg zu ewigem Wohlergehen sowie gleiches Recht in allen Dingen.«17 Diese Auffassung wurde von vielen Polen geteilt, insbesondere in der demokratisch-republikanischen, aber auch in der konservativ-aristokratischen Bewegung. Der Sprecher der Demokraten, 16 »Der letzte Ritter und erste Bürger im Osten Europas.« Kościuszko, das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz, hg. v. Heiko Haumann und Jerzy Skowronek unter Mitarbeit von Thomas Held und Catherine Schott, Basel 2 2000; Jaworski, Rudolf, Polnische Helden – europäische Taten: Sobieski – Kościuszko – Piłsudski, in: Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, hg. v. Jacques Le Rider u. a., Innsbruck usw. 2002, 13–30. 17 Haumann, Mickiewicz, Zitat 257; Olschowsky, Heinrich, Der Mythos des auserwählten Volks bei Adam Mickiewicz. Literarische Stiftung und politische Funktion, in: Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas, hg. v. Eva Behring u. a., Stuttgart 1999, 87–97.

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der Historiker Joachim Lelewel (1786–1861), hatte 1832 in seinem »Manifest an das israelitische Volk« den Juden die vollständige Gleichberechtigung zugesprochen und sah sie »Hand in Hand mit ihren polnischen Brüdern«.18 Dagegen kündigten sich zwar schon andere, verengende Nationsbegriffe an, traten jedoch noch nicht in den Vordergrund, weil alle Kräfte auf den erneuten Aufstand konzentriert werden sollten. Damit ist knapp die Einstellung zur Nation im Umfeld von 1861 skizziert. Die »Verbrüderung« anlässlich der Trauerfeier für die Opfer der Demonstration war ein folgerichtiger Ausdruck der bisherigen Entwicklung. Die herrschenden Kreise reagierten sofort. Einerseits verschärfte die zaristische Besatzung ihre Repressionen gegen nationale Demonstrationen, andererseits wurden eine polnische Zivilregierung eingesetzt, ein Ausgleich mit der katholischen Kirche gesucht, Reformmaßnahmen für die Bauern eingeleitet und ihre vollständige Befreiung in Aussicht gestellt. Nicht zuletzt erhielten die Juden am 5. Juni 1862 die rechtliche Gleichstellung.19 Die Absicht war klar: Die Einheit der Opposition gegen die Herrschaft des Zaren sollte aufgespalten werden. Dies gelang nur teilweise. Die Bauern standen allerdings der Befreiungsbewegung aufgrund ihres Misstrauens gegenüber dem Adel ohnehin weitgehend skeptisch gegenüber. Um einer Zerschlagung zuvorzukommen, mussten die Verschwörer den Aufstand vorzeitig im Januar 1863 auslösen. Trotz unzureichender Vorbereitung und zahlenmäßiger Unterlegenheit konnten die polnischen Einheiten den russischen Truppen bis Mitte 1864 Widerstand leisten, mussten sich dann aber geschlagen geben. Die Strafmaßnahmen fielen wesentlich härter als nach dem gescheiterten Aufstand von 1830/31 aus. Vor allem wurde die soziale und ökonomische Stellung des Adels gebrochen. Mehr und mehr setzte sich nun in Polen die Überzeugung durch, dass eine weitere Hoffnung auf eine erfolgreiche Erhebung gegen die Besatzungsherrschaft sinnlos sei. Insbesondere hatte sich gezeigt, dass keine tatkräftige Unterstützung seitens anderer europäischer Staaten zu erwarten war und dass die eigene bewaffnete Kraft nicht ausreichte, die Teilungsmächte zum Nachgeben zu zwingen. Kritisch wurden auch die Differenzen innerhalb der polnischen Freiheitsbewegung erörtert, die mangelnde Berücksichtigung der Bauernfrage, aber auch der Situation der Juden. Obwohl Oberrabbiner Meisels ebenso wie Rosen und Kronenberg wegen ihrer politischen Haltung vorübergehend in die Emigration gehen mussten und auch sonst viele Juden unter Repressalien zu 18 Haumann, Mickiewicz, 256. 19 Vgl. im Zusammenhang mit der gesamten Emanzipationsdebatte Eisenbach, Artur, Emancypacja Żydów na ziemiach polskich 1785–1870 na tle europejskim, Warszawa 1988, hier bes. 468–513.

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leiden hatten, wurden zunehmend Stimmen laut, die Juden hätten sich durch das zaristische Emanzipationsangebot »kaufen« lassen und die polnischen Aufständischen verraten. Gewiss hatte es einige jüdische Unternehmer gegeben, die Produkte an die russischen Truppen geliefert hatten, aber insgesamt war der Aufstand von 1863/64 noch erheblich stärker als jener von 1830/31 von Juden unterstützt worden.20 Doch jetzt suchte man nach Sündenböcken. Dies sollte sich in den künftigen Diskussionen über das Nationsverständnis auswirken. Nach dem Abschied von Hoffnungen auf einen neuen Aufstand kam es zu einer »realistischen« Wende: Man müsse die Möglichkeiten des Landes besser nutzen, Polen im Innern wirtschaftlich und politisch stark machen, um auf dieser Grundlage über Autonomie oder Unabhängigkeit verhandeln zu können. Zu diesem Zweck sollten die Landwirtschaft modernisiert, die Bauern in die Nation integriert, die »Rückständigkeit« im industriellen Sektor beseitigt und die Industrialisierung vorangetrieben werden. Unter den Stichworten »Positivismus« und »Organische Arbeit« entfaltete sich vor allem in der Industrie eine beträchtliche Dynamik, die einige Regionen zu ökonomischen Zentren werden ließ.21 Diese Aufholjagd, um internationales Niveau zu erreichen, heizte zugleich einen »militanten Wirtschaftsnationalismus« an. Dieser wandte sich gegen ausländische Konkurrenz, aber auch gegen Juden im eigenen Land: Sie waren Konkurrenten beim sozialen Aufstieg in den neuen Industriebetrieben und Banken. Boykottbewegungen forderten den Verzicht auf »deutsche« Waren – etwa in der Provinz Posen, die als Ergebnis der Teilungen Preußen zugesprochen worden war – ebenso wie auf »jüdische«.22 Auch auf kulturellem Gebiet verstärkten sich die Bemühungen, zur nationalen Integration beizutragen. Theaterstücke, Opern, Gemälde, Bauwerke wurden als nationale Symbole verstanden, zumal der Russifizierungspolitik der za20 Gelber, Nathan M., Die Juden und der polnische Aufstand 1863, Wien/Leipzig 1923; Żydzi a powstanie styczniowe. Dokumenty i materiały, hg. v. Artur Eisenbach, Warszawa 1963; Opalski, Magdalena/Bartal, Israel, Poles and Jews. A Failed Brotherhood, Hanover/ London 1992 (auch zum gesamten Zusammenhang der polnisch-jüdischen Beziehungen im 19. Jahrhundert). 21 Blejwas, Stanislaus A., Realism in Polish Politics: Warsaw Positivism and National Survival in Nineteenth Century Poland, New Haven 1984. 22 Jaworski, Rudolf, Zwischen ökonomischer Interessenvertretung und nationalkultureller Selbstbehauptung. Zum Wirtschaftsnationalismus in Ostmitteleuropa vor 1914, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 53 (2004) 257–268, Zitat 260; zu einer exemplarischen Analyse ders., Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (1871–1914), Göttingen 1986; Zieliński, Konrad, »Swój do swego!« O stosunkach polsko-żydowskich w przeddzień Wielkiej Wojny, in: Kwartalnik Historii Żydów 3 (211) (2004), 325–346.

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ristischen Regierung das »Eigene« entgegengestellt werden sollte.23 Bedeutende Schriftsteller und Wissenschaftler unterstützten das Konzept der »Organischen Arbeit«. Die Besinnung auf Geschichte und nationale Traditionen fand breiten Anklang – mit dem Ziel, durch Selbstbewusstsein und Bildung den Aufstieg und die Stärke Polens zu fördern. Zunächst waren die Juden wie selbstverständlich in diese Konzeption eingeschlossen, zumal ihre Wirtschaftskraft als vorteilhaft angesehen wurde. Allerdings verband sich dies mit der Erwartung, sie würden sich assimilieren, ihre traditionellen Bräuche und die jiddische Sprache aufgeben, sich in ihrer Jüdischkeit auf das religiöse Bekenntnis beschränken. Als dies mehrheitlich nicht geschah, reagierten viele »Positivisten« enttäuscht. An die Stelle des Integrationsangebotes traten Abwehr und Ausgrenzung. Die Legende vom »jüdischen Verrat« 1863 wurde wieder aufgewärmt und der Nutzen angeprangert, den manche Juden aus der ökonomischen Schwächung des polnischen Adels und dem wirtschaftlichen Aufschwung gezogen hatten. Eine judenfeindliche Stimmung erfasste gegen Ende des 19. Jahrhunderts weite Kreise der polnischen Öffentlichkeit.24 Neben dem »weiten« Nationsbegriff, dem immer noch zahlreiche Menschen anhingen, stand jetzt ein »enges« Verständnis: Zur polnischen Nation könne nur gehören, wer bestimmte Voraussetzungen und Merkmale erfülle, etwa eine Anpassung an das »Polnische«. Weniger rassistische, sondern eher kulturelle Zuordnungen bestimmten dieses Verständnis. Zunehmend wurde dabei die Forderung laut, eigentlich könnten nur Katholiken wirkliche Polen sein: »polak 23 Vgl. Ruminski, Krzysztof, Bildende Kunst, Politik und Geschichtsbewusstsein in Polen. Ein Beitrag zur Erforschung der nationalen Identität Polens ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1998; Jaworski, Rudolf, Bildende Künste und nationale Identifikationen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Tschechen und ihre Nachbarn, in: Österreichische Osthefte 45 (2003), 419–445. 24 Ein Beispiel für die damalige Atmosphäre und dabei auch für antijüdische Einstellungen ist der Roman »Die Puppe« von Bolesław Prus (1847–1912), der den »Positivismus« unterstützte und sich ursprünglich auch für die Integration der Juden in die polnische Nation eingesetzt hatte. Vgl. Umińska, Bożena, Postać z cieniem. Portrety żydówek w polskiej literaturze od końca XIX wieku do 1939 roku, Warszawa 2001. Zu den Verhältnissen auf dem Land und dem Bestreben, die Bauern in die polnische Nation zu integrieren vgl. Struve, Kai, Gentry, Jews, and Peasants. Jews as Others in the Formation of the Modern Polish Nation in Rural Galicia during the Second Half of the Nineteenth Century, in: Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, hg. v. Nancy M. Wingfield, New York/Oxford 2004, 103–126; ders., Bauern und Nation in Ostmitteleuropa. Soziale Emanzipation und nationale Identität der galizischen Bauern im 19. Jahrhundert, in: Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, hg. v. Ulrike v. Hirschhausen u. Jörn Leonhard, Göttingen 2001, 347–371. Zu Galizien auch Andlauer, Teresa, Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867– 1914), Frankfurt a. M. usw. 2001, sowie die in Anm. 9 genannten Aufsätze.

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= katolik«. Hier wirkte nach, dass die katholische Kirche in Polen die einzige »nationale« Institution geblieben war und in den Aufständen eine hohe Autorität errungen hatte, weil sich der Klerus, gegen die Weisungen aus dem Vatikan, überwiegend an die Seite der Freiheitskämpfer gestellt hatte. Außerdem war die Tradition des polnischen Messianismus noch lebendig, den die Vertreter des »engen« Nationsbegriffs allerdings aus der Verbindung zum jüdischen Messianismus im Sinne Mickiewicz’ lösten; statt dessen förderten weite Teile der katholischen Geistlichkeit die Judenfeindschaft.25 Neben diese nationalen Konzeptionen traten in dieser Zeit Überlegungen, wie die sichtbar werdenden Gegensätze – nicht nur von Polen gegenüber Juden, sondern auch gegenüber Ukrainern, Deutschen, Russen und anderen Bevölkerungsgruppen – aufgehoben oder zumindest gemildert werden könnten. So wurde die Erwartung formuliert, der zukünftige polnische Staat werde unter seinem Dach die verschiedenen Nationalitäten vereinen und durch ein strenges Minderheitenrecht schützen. Ansatzweise tauchten auch Ideen auf, durch regionale Identitäten nationale Spannungen abzubauen. Und schliesslich stellte die im Zuge der Industrialisierung entstehende Arbeiterbewegung dem Begriff der Nation den Begriff der Klasse entgegen. Im Klassenkampf und in der späteren internationalen Revolution würden die nationalen Gegensätze verschwinden.26 Für weite Teile der jüdischen Bevölkerung fiel allerdings die judenfeindliche Welle, die so kurz nach der »Verbrüderung« das Land erfasste, stärker ins Gewicht. Sie traf sie wie ein Schock. Ohnehin war sie durch grundlegende Veränderungen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage verunsichert. Eine schwere Agrarkrise zu Beginn des Jahrhunderts hatte dazu geführt, dass zahlreiche Juden aus ihren Berufen auf dem Land verdrängt und zur Abwanderung in die Städte veranlasst wurden. Sie schieden weitgehend aus ihrer traditionellen Rolle als Mittler zwischen Stadt und Land aus. In den Städten ballten sich mehr und mehr jüdische Einwohner in besonderen Vierteln zusammen, die oft als Ghettos eingerichtet waren. Die Konkurrenz, eine Anstellung zu finden oder sich auf andere Weise ein Auskommen zu sichern, nahm drastisch zu. Immer weniger Menschen konnten als Handwerker genügend verdienen, der Handel – 25 Ausführlich Pollmann, Viktoria, Untermieter im christlichen Haus. Die Kirche und die »jüdische Frage« in Polen anhand der Bistumspresse der Metropolie Krakau 1926–1939, Wiesbaden 2001, zu den Konzeptionen im 19. Jahrhundert 61–88. Dass zu dieser Zeit in vielen europäischen Ländern ein aggressiv-ausgrenzender Nationalismus vordrang, zeigt der Vergleich: Nationalismen in Europa; Kunze, Rolf-Ulrich, Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005 (Zusammenfassung des Forschungsstandes, hier z. B. 63–73, 93–96). 26 Zu den regionalistischen Ansätzen vgl. verschiedene Aufsätze in: Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Philipp Ther u. Holm Sundhaussen, Marburg 2003.

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überwiegend durch Kleinhändler – wurde zur wichtigsten Erwerbsquelle. Eine »Umschichtung« ergänzte die »Ausstoßung«. Die jüdische Gemeinschaft differenzierte und polarisierte sich zusehends. Ein sehr kleiner Teil zählte zu den reichsten Bankiers und Unternehmern in Polen, ein ebenfalls verhältnismäßig kleiner Teil bildete eine Mittelschicht, während die Mehrheit in wachsendem Masse verarmte. Der »Luftmensch«, der am Morgen nicht wusste, ob er bis zum Abend genug zum Leben finden werde, der eben von der Luft lebte, jede Gelegenheit nutzte, um etwas zu verdienen, oft mit Witz und Selbstironie seine Lage kommentierte, wurde zur typischen Gestalt dieser Zeit.27 Die sozialökonomische wie politische Entwicklung zwang die Juden, ihren Platz in der polnischen Gesellschaft neu zu bestimmen.28 Die Suche nach dem »richtigen« Weg drückte sich in neuen religiösen Strömungen aus – etwa in Reformgemeinden, die den Ritus dem christlich-protestantischen anpassten –, aber auch in Überlegungen, die von der jüdischen Aufklärung, der Haskala, beeinflusst waren und eine weitgehende Loslösung von der überkommenen Lebensweise vorsahen, um sich in die bestehende Gesellschaft zu integrieren.29 Jetzt gewann die innerjüdische Diskussion eine neue Dimension. Wie sollte man darauf reagieren, dass ein Teil der polnischen Bevölkerung die Juden aus einer gemeinsamen Nation ausschließen wollte? Die Frage nach dem, was denn »jüdisch« sei, wurde immer drängender. Grundsätzlich suchte man nach wie vor nach Möglichkeiten, sich mit der polnischen Nation zu verbinden, nach einer 27 Überblick bei Haumann, Geschichte der Ostjuden, 95–111. Vgl. Guesnet, François, Jüdische Armut und ihre Bekämpfung im Königreich Polen: Grundzüge und Entwicklungen im 19. Jahrhundert, in: Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa, hg. v. Stefi JerschWenzel u. a., Köln usw. 2000, 185–208; Schwara, Desanka, »Luftmenschen« – Leidtragende des Verarmungsprozesses in Osteuropa im 19. Jahrhundert, ibid., 149–165; dies.: Luftmenschen – ein Leben in Armut, in: Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert, hg. v. Heiko Haumann, Köln usw. 2003, 71–222. Die Begriffe »Ausstoßung« und »Umschichtung« bei Friedmann, Philipp, Wirtschaftliche Umschichtungsprozesse und Industrialisierung in der polnischen Judenschaft 1800–1870, in: Jewish Studies. In Memory of George A. Kohut, hg. v. Salo W. Baron u. Alexander Marx, New York 1935, 178–247. 28 Haumann, Heiko, Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert, in: Luftmenschen und rebellische Töchter, 309–337; speziell zu den Auswirkungen auf Frauen Rüthers, Monica, Frauenleben verändern sich, ibid., 223–307. 29 Vgl. Kozińska-Witt, Die Krakauer Jüdische Reformgemeinde; Guesnet, Polnische Juden, Teil V; Blank, Inge, Haskalah und Emanzipation. Die russisch-jüdische Intelligenz und die »Jüdische Frage« am Vorabend der Epoche der »Großen Reformen«, in: Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. Gotthold Rhode, Marburg 1989, 197–231; Dohrn, Verena, Von der Haskala zum prosveščenie. Jüdische Aufklärung und staatliche Akkulturationspolitik im Zarenreich, unveröffentl. Habilitationsschrift Universität Göttingen 2002.

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Koexistenz von jüdischer und polnischer Kultur, die eine wechselseitige Beeinflussung – wie sie bisher schon stattgefunden hatte – keineswegs ausschloss. Doch das Bestreben wurde größer, die Selbständigkeit des Jüdischen zu betonen. Mit der Zeit entfalteten sich verschiedene Ansätze, die alle mehr oder weniger an der traditionellen Autonomie anknüpften. Ganz fundamental war es für die meisten Juden, ihre Eigenständigkeit im Alltag zu bewahren. Sie wollten ihre Gewohnheiten im täglichen Leben, ihre Sprache, ihre Kleidung, ihre Bräuche, ihre Schulen, ihr eigenes Recht, das der Rabbiner auslegte, nicht aufgeben. Dies führte fast zwangsläufig dazu, auf eigenen Selbstverwaltungsorganen zu bestehen. Der Kahal sollte bleiben, ebenso wollte man nicht auf eigene Vereine und Gesellschaften, die Chewrot, verzichten. Durch die zaristische Gesetzgebung waren sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verboten worden, doch es war gelungen, diese Gesetze zu unterlaufen und die Traditionen, teilweise in anderen Formen, zu erhalten.30 Lebendig war auch die Idee einer autonomen Vertretung auf höchster Ebene, wie sie durch den »Judenreichstag« im alten Polen gegeben gewesen war. Ein Teil der politisch aktiven Juden hielt es für ausreichend, in einem zukünftigen Parlament des Russischen Reiches oder eines neuen polnischen Staates über jüdische Parteien oder auch durch die Arbeit in »allgemeinen« Parteien zu wirken. Wichtige Impulse gingen vom »Verband zur Erreichung der Vollberechtigung des jüdischen Volkes in Russland« aus, der während der Revolution von 1905 gegründet wurde und nicht nur das Wahlrecht für Juden, sondern auch eine nationale Autonomie und eine alljüdische Nationalversammlung forderte. 1906 löste er sich wieder auf, doch das Bewusstsein gemeinsamer politischer Interessen blieb bestehen und wirkte nicht zuletzt auf jene Konzeptionen, die von einer nationalen Eigenständigkeit der Juden ausgingen.31 Grob lassen sich dabei drei Richtungen unterscheiden. Die »Zionisten« verlangten, mit mehreren Varianten, die Gleichberechtigung der Juden und eine Verbesserung ihrer Verhältnisse auf allen Ebenen. Zion, Eretz Israel, galt ihnen vorwiegend als geistig-kulturelles Zentrum. An eine massenhafte Auswanderung nach Palästina dachten sie nicht. Die Erfahrungen der frühen Zionsfreunde seit den 1870er Jahren sowie der Ersten Alija, der Auswanderungen nach den Pogromen im Zarenreich 1881/82, hatten gezeigt, dass das Land bestenfalls als »Heimstätte« für existentiell Bedrohte in Frage kam, als Zufluchtstätte in der Not.32 Wichtiger erschien den meisten osteuropäischen Zionisten die »Gegen30 Dazu ausführlich Guesnet, Polnische Juden. 31 Gassenschmidt, Christoph, Jewish Liberal Politics in Tsarist Russia, 1900–1914. The Modernization of Russian Jewry, Houndmills/London 1995. 32 Petry, Erik, Ländliche Kolonisation in Palästina. Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Köln usw. 2004, vor allem Kap. II-VII.

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wartsarbeit« in den Ländern, in denen die Juden lebten, um ihre Lage zu erleichtern. Die polnischen Zionisten um Israel Isidor Jasinowski (1842–1917), Israel Jelski (1865–1927) und Nahum Sokołów (1859–1936) leisteten kulturelle und erzieherische Arbeit, versuchten, jüdische Arbeiter und Großbürger ebenso wie Chassidim anzusprechen und setzten sich auch innerhalb der zionistischen Bewegung für eine eigenständige Politik in den jeweiligen Ländern ein. Mit den russischen Zionisten gerieten sie über das politische Vorgehen oft in Konflikt, während sie mit den galizischen eng zusammenarbeiteten.33 Diese waren im Rahmen der Möglichkeiten im Habsburgerreich politisch sehr aktiv und kamen in der Bukowina der nationalen Autonomie mit dem Ausgleich von 1910 nahe.34 Unterschieden sie sich im Stellenwert, den sie Palästina zumaßen, so näherten sich die Zionisten in der konkreten Arbeit vielfach den »Nationaljuden« an. Grundlegend waren für diese die Überlegungen des Historikers Simon Dubnow (1860–1941). Beeinflusst von Johann Gottfried Herder interpretierte er die Geschichte der Juden als Weg von einem Stammesverband über eine Staatsnation zur Kulturnation. Gestützt auf die historische Erinnerung würden die Juden als »kollektives Individuum«, als »kollektive Persönlichkeit« eine »internationale Nation« bilden. Sie sollten sich als autonome Nation in die jeweilige Gesellschaft eingliedern. Folgerichtig plädierte er für eine Dreisprachigkeit der Juden: Jiddisch als Volkssprache, Hebräisch als Sprache der Religion und der Gelehrsamkeit, die jeweilige Landessprache als Kommunikationsmittel gegenüber der nichtjüdischen Umwelt. Dubnow gründete auch die jüdische Volkspartei, die dann in Russland wie in Polen auf parlamentarischer Ebene mitarbeitete.35

33 Schott, Catherine, Die Anfänge der zionistischen Bewegung in Kongresspolen 1897–1900, in: Scripta Judaica Cracoviensia 1 (2002), 81–111. 34 Haumann, Heiko, »Nationale Gegenwartsarbeit« im Schtetl: Anfänge des Zionismus in Galizien, in: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. »... in Basel habe ich den Judenstaat gegründet«, hg. v. Heiko Haumann u. a., Basel usw. 1997, 74–78. Dieser Band ist für die Konzeptionen und Politik im Zionismus ebenso heranzuziehen wie: Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, hg. v. Heiko Haumann, Weinheim 1998. 35 Dohrn, Verena, Bundistische und folkistische Konzeptionen der Kulturnation – inspiriert von Johann Gottfried Herder, in: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, hg. v. Christoph Schulte, Hildesheim 2003, 167–179 (behandelt im wesentlichen Dubnow und erwähnt dessen Forderung – zusammen mit Leo Motzkin, 1867–1933 – an den Völkerbund Mitte der 1920er Jahre, die Juden als »internationale Nation« anzuerkennen, weil sie die »älteste Internationale der Welt« seien, 178 Anm. 36); umfassend Hillbrenner, Anke,

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Einen anderen Weg bevorzugten die Sozialisten im Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, kurz »Bund« genannt. Nachdem sie eingesehen hatten, dass sie mit Flugblättern in russischer oder polnischer Sprache die jüdischen Arbeiter nicht erreichen konnten, benutzten sie die jiddische Sprache und knüpften an traditionell jüdischen Formen an, etwa bei Zeremonien und Bräuchen. Es wurde ihnen bewusst, dass die jüdische Kultur auch für das jüdische Proletariat eine hohe Bedeutung besaß und nicht einfach durch den Klassenbegriff ersetzt werden konnte. Sie vertraten deshalb innerhalb der Sozialdemokratie im Russischen Reich die Forderung nach interner Autonomie und nahmen dafür sogar einen zeitweiligen Bruch mit der russischen Organisation in Kauf. Politisch entwickelten sie die Konzeption einer kulturellen, nicht-territorialen, sondern personalen Autonomie der Juden innerhalb der jeweiligen Gesellschaft und traten für eine Föderation von autonomen, nicht an ein Territorium gebundenen Nationalitäten im Russischen Reich ein.36 In all diesen Spielarten drückte sich ein neues Selbstverständnis der Juden in Polen (im Russischen Reich und im Habsburgerreich) aus. Trotz aller politischen, geistigen und religiösen Unterschiede und Gegensätzlichkeiten verstanden sich die meisten als Teil einer spezifisch ostjüdischen Kultur und Nationalität. Ende des 19. Jahrhunderts sprachen jüdische Repräsentanten aus Osteuropa ganz selbstverständlich von »Ostjuden«. Selbstverständlich war dies eine Konstruktion, um die Besonderheiten der jüdischen Geschichte und Kultur in Osteuropa zu betonen und um sich von den »Westjuden« und ihren Konzeptionen abzugrenzen. Gerade im Zionismus spielte diese AuseinanderSimon Dubnows Meistererzählung. Geschichte, Gedächtnis und jüdische nationale Identität in der osteuropäischen Diaspora, unveröffentl. Dissertation Universität Bonn 2003. 36 Vgl. Zimmerman, Joshua D., Poles, Jews, and the Politics of Nationality. The Bund and the Polish Socialist Party in Late Tsarist Russia, 1892–1914, Madison 2004; Pickhan, Gertrud, »Gegen den Strom«. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918–1939, Stuttgart/München 2001, hier 34–69; Marten-Finnis, Susanne/Valencia, Heather, Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Wilna und Berlin 1880–1930, Köln usw. 1999; Peled, Yoav, Class and Ethnicity in the Pale. The Political Economy of Jewish Workers’ Nationalism in Late Imperial Russia, New York 1989; Frankel, Jonathan, Prophecy and Politics. Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862–1917, Cambridge 1981; Heller, Klaus, Revolutionärer Sozialismus und nationale Frage. Das Problem des Nationalismus bei russischen und jüdischen Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären im Russischen Reich bis zur Revolution 1905–1907, Frankfurt a. M. usw. 1977; Levin, Nora, While Messias Tarried. Jewish Socialist Movements, 1871–1917, New York 1977; Tobias, Henry J., The Jewish Bund in Russia. From Its Origins to 1905, Stanford 1972; Mendelsohn, Ezra, Class Struggle in the Pale. The Formative Years of the Jewish Workers’ Movement in Tsarist Russia, Cambridge 1970. Hier gab es Querverbindungen zu den Überlegungen der »Austro-Marxisten«.

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setzung eine wichtige Rolle.37 Eine Zuspitzung dieses Verständnisses im Begriff des »kollektiven Individuums« oder des Ostjuden als »in sich abgeschlossene Kulturpersönlichkeit« vernachlässigt zwar die Differenzierungen und Fragmentierungen der Lebenswelten.38 Dennoch ist dieses Selbstverständnis, zu den Ostjuden zu gehören, für Generationen leitend gewesen – wir finden es in der belletristischen Literatur oder in Autobiographien ebenso wie in den Erinnerungen von Überlebenden der Nazi-Zeit.39 Eine Folge dieses neuen Selbstverständnisses waren Bemühungen, die Geschichte und Kultur der Juden in Osteuropa systematisch zu erforschen. Auf der Suche nach dem »Volk« entstand unter jüdischen Intellektuellen eine breite Bewegung für die jiddische Sprache. Bedeutende Dichter – Mendele Mojcher Sforim (1836–1917), Isaak Lejb Perez (1852–1915), Scholem Alejchem (1859–1916) und viele andere – verfassten ihre Texte in Jiddisch und machten damit deutlich, dass sie für das Volk schrieben und die Probleme des Volkes aufgriffen.40 Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die »Jüdische Sprachkonferenz«, die der ehemalige Zionist Nathan Birnbaum (1864–1937) 1908 in Czernowitz organisierte. Um die Zionisten nicht völlig vor den Kopf zu stossen, die das Hebräische als die Sprache der Juden betrachteten, einigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Forderung, das Jiddische als eine der nationalen Sprachen des jüdischen Volkes anzuerkennen.41 Theoretiker des 37 Haumann, Auf dem Weg zu neuen Selbstverständissen, sowie die in Anm. 34 genannten Bände. Zur Konstruktion des »Ost»- und »Westjuden« auch Marten-Finnis/Valencia, Sprachinseln, 105–114; Ost und West. Jüdische Publizistik 1901–1928, hg. v. Andreas Herzog, Leipzig 1996 (der Titel spielt auf die von 1901 bis 1923 erschienene Monatszeitschrift an, in der nachdrücklich die Kultur der Ostjuden thematisiert wurde). 38 M. A. (Mathias Acher, Pseudonym von Nathan Birnbaum), Polnische Juden, in: Der Jude 1 (1916/17), 561–562, hier 561; vgl. Nathan Birnbaum, Was sind Ostjuden? Zur ersten Information, Wien 1916, 15 (auch in: Ost und West, 9–25, hier 25). Zu Dubnows Konzeption des »kollektiven Individuums« vgl. die Titel in Anm. 35. 39 Bei aller berechtigten Kritik an der holistischen Verwendung des Begriffs »Ostjude« (auch durch mich: Geschichte der Ostjuden, 1München 1990, 56, später aber durchaus differenziert) halte ich es deshalb nach wie vor für gerechtfertigt, ihn zu verwenden. Er hat sich im innerjüdischen Sprachgebrauch während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet und bis heute viele wichtige wissenschaftliche Arbeiten beeinflusst, durch die gerade die Lebenswelten der Juden in Osteuropa in ihrer Vielfalt deutlicher geworden sind – insofern hat dieses Konzept seine Tragfähigkeit bewiesen. 40 Den Zusammenhang von Identität und Sprache zeigt Shifra Kuperman eindrucksvoll bei David Einhorn (1886–1973), der in Jiddisch schrieb und sich als Ostjude verstand: David Einhorn. Biographische Skizze, unveröffentl. Lizentiatsarbeit Universität Basel 2001. 41 Fishman, Joshua A., Attracting a Following to High-Culture Functions for a Language of Everyday Life: The Role of the Tshernovits Language Conference in the »Rise of Yiddish«, in: Never Say Die: A Thousand Years of Yiddish in Jewish Life and Letters, hg. v. Joshua

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»Jiddischismus«, der jiddisch geprägten Kultur, übten – wie etwa Simon Dubnow – in ganz Osteuropa Einfluss aus. Dabei wurden durchaus Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen gesehen oder gar Differenzierungen zwischen polnischen und russischen Juden betont, namentlich in ihrer Loyalität zum jeweiligen Gemeinwesen.42 Die Zugehörigkeit zur jüdischen Nation schloss eine mehrkulturelle Identität nicht aus. Die Anerkennung des Jiddischen als eigenständige Sprache – und nicht nur als verunstalteter »Jargon«, wie sie vor allem unter akkulturationswilligen westeuropäischen Juden verstanden wurde – war eine wichtige Bedingung für die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Erforschung jüdischen Lebens und jüdischer kultureller Praxis. Gruppen in Warschau wie in St. Petersburg machten sich auf, jüdische Volkslieder und Gedichte, Legenden und Witze, Amulette und Trachten, Volksmalerei und Kunsthandwerk, Sitten und Bräuche zu sammeln. Hier zeigt sich, dass bei allen Unterschieden, ob man sich für die Unabhängigkeit Polens oder für die politische Entwicklung Russlands einsetzte, ein grenzüberschreitendes Verständnis der Gemeinsamkeit (ost-) jüdischer Kultur vorhanden war. Als organisatorisches Zentrum der Forschungen entstand die »Jüdische Historisch-Ethnographische Gesellschaft«, die 1908 – aufbauend auf Vorläufer-Einrichtungen – in St. Petersburg gebildet und im wesentlichen von Baron Horace Günzburg (Naphtali Herz Ginzburg, 1833–1909), dem wohlhabenden langjährigen Vorsteher der Petersburger jüdischen Gemeinde, finanziert wurde. Sie brachte eine Zeitschrift und Publikationen heraus, gründete ein Archiv sowie ein Museum und entsandte ethnographische Expeditionen unter der Leitung des Volkskundlers und Dichters An-skij (Schlojme Zejnvil Rappoport, 1863–1920), der sich als ein Mensch zwischen den Welten verstand und von wechselseitigen kulturellen Einflüssen ausging. An-skij gab dann 1919 den Anstoß für eine entsprechende Gesellschaft in Wilna, während er in Warschau zunächst keinen Erfolg hatte. Doch auch die dortige Sammlungs- und Forschungstätigkeit blieb ungebrochen. Noch in den 1920er Jahren wurden das A. Fishman, The Hague 1981, 369–394. Die »Sprachenfrage« im russisch-jüdischen Kontext (in dem aber auch viele Persönlichkeiten auftraten, die die polnisch-jüdische Debatte beeinflussten) einschliesslich der Konferenz von Czernowitz und ihren Folgen behandelt Claudia Nys in ihrer Dissertation: »Von zweifachem Feuer die Seele entbrannt«. Zum Selbstverständnis der jüdischen Intelligencija im Spiegel der russischsprachig-jüdischen Literatur 1881–1922, Universität Potsdam 1998, Marburg 2001 (nur als Mikrofiche-Ausgabe). Zur Entwicklung in der Bukowina: Häusler, Wolfgang, Zwischen Wien und Czernowitz. Die Emanzipation des habsburgischen »Ostjudentums« und der Antisemitismus, in: Identitätenwandel und nationale Mobilisierung in Regionen ethnischer Diversität. Ein regionaler Vergleich zwischen Westpreußen und Galizien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, hg. v. Ralph Schattkowsky u. Michael G. Müller, Marburg 2004, 63–87. 42 Vgl. etwa Nys, »Von zweifachem Feuer«, 244–245.

Juden in Polen während des 19. Jahrhunderts 

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Jiddische Wissenschaftliche Institut (YIVO) mit Hauptsitz in Wilna und das Institut für Judaistische Wissenschaften in Warschau gegründet.43 Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit: Auch wenn sich die meisten Juden in Osteuropa in ihrem neu gewonnenen Selbstverständnis als eine Nation verstanden,44 die sich nicht entlang den Grenzen der osteuropäischen Staaten definierte, als Menschen, die sich aufgrund ihrer Geschichte, Tradition, Religion und Kultur als zusammengehörig empfanden, bildeten sie keine monolithische Einheit, keinen geschlossenen Block. Ihre Lebenswelten waren keineswegs gleichartig.45 Sie standen in vielfältigen Beziehungsnetzen, gehörten unterschiedlichen sozialen Gruppen an, orientierten sich in verschiedenen religiösen, geistigen oder politischen Zusammenhängen.46 Auch die Nationsvorstellungen deckten sich bei den einzelnen Richtungen nicht vollständig. Die Konzeption der nicht-territorialen, kulturell-personalen Nation, die sich in eine bestehende 43 Gottesman, Itzik Nakhmen, Defining the Yiddish Nation. The Jewish Folklorists of Poland, Detroit 2003. Vgl. Leben im russischen Schtetl. Auf den Spuren von An-ski. Jüdische Sammlungen des Staatlichen Ethnographischen Museums in Sankt Petersburg. Katalog zu einer Ausstellung, Köln/Frankfurt a. M. 1993; An-sky, Semyon, The Jewish Artistic Heritage. An Album, Moscow 1994; Werberger, Annette, Grenzgänge, Zwischenwelten, Dritte – Der jüdische Schriftsteller und Ethnograph S. Anskij, in: transversal 5 (2004), 62–79. Zu den Instituten in Wilna und Warschau vgl. die Aufsätze von Anke Hillbrenner, Heidemarie Petersen und Maria Dold sowie den Anhang in: Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa. Wilna 1918–1939, hg. v. Marina Dmitrieva u. Heidemarie Petersen, Wiesbaden 2004, 147–206. 44 Aufgrund des damaligen Selbstverständnisses bietet es sich an, den Nationsbegriff beizubehalten, da politische Ziele eingeschlossen waren und damit eine Unterscheidung zu Begriffen wie »Volk« oder »ethnische Gruppe« naheliegt. Vgl. zur Begrifflichkeit der in Anm. 10 genannte Titel sowie Estel, Bernd, Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion, Wiesbaden 2002. In Deutschland etwa stellte die Mehrheit der Juden keine politischen Forderungen nach Autonomie, sondern erklärte sich der Staatsnation und zugleich dem jüdischen »Stamm« als ethnischer Gruppe zugehörig. Vgl. Rahden, Till van, »Germans of the Jewish Stamm«. Visions of Community between Nationalism and Particularism, 1850 to 1933, in: German History from the Margins, 1800 to the Present, hg. v. Mark Roseman, Nils Roemer u. Neil Gregor, Bloomington 2004. Ausführlich wird Daniel Wildmann in seiner Basler Dissertation über nationaljüdische Turner in Deutschland zwischen 1895 und 1921 darauf eingehen. Zusammen mit Peter Haber und Erik Petry war er auch Mitarbeiter des an der Universität Basel durchgeführten und vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojektes über »Nation und jüdische Identität« (2000–2003). Ein Sammelband mit den Forschungsergebnissen erscheint in Kürze. [Inzwischen: Peter Haber, Erik Petri, Daniel Wildmann: Jüdische Identität und Nation. Fallbeispiele aus Mitteleuropa. Köln usw. 2006; Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900. Tübingen 2009.] 45 Vgl. Anm. 9 und 28. 46 Vgl. Hödl, Klaus, Vom »Text« zur »Performanz«. Unveröffentl. Manuskript, Graz 2005. Siehe auch den von ihm hg. Band »Jenseits des Nationalen»: transversal 5/1 (2004).

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Gesellschaft integrieren kann, nationale und transnationale Perspektiven in sich vereinigt, weist jedenfalls weit über das 19. Jahrhundert hinaus und ist bis heute aktuell.47 Aleksander Lessers Gemälde spiegelt eine historische Situation 1861 und drückt zugleich eine Utopie aus.

47 Vgl. Brenner, Michael, Abschied von der Universalgeschichte: Ein Plädoyer für die Diversifizierung der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), 118–124. Dabei kann durchaus an Dubnows Überlegungen angeknüpft werden.

Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen Ostjuden im 19. Jahrhundert*

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts residierte auf einem Hügel Lublins Jakob Isaak, genannt »der Seher von Lublin«. Er war ein Zaddik der Chassidim, ein »Gerechter« in der Bewegung der Frommen, die sich seit etwa 1730 im damaligen Königreich Polen ausgebildet hatte. Als er von den Feldzügen Napoleons gegen Preußen, dann gegen Russland hörte, gelangte er zu der festen Überzeugung, jener sei der von Ezechiel (Kap. 38–39) prophezeite Gog, der aus dem Lande Magog heranziehen und einen verheerenden Angriff gegen Israel führen werde. Dieser Krieg mit all seinem Leid gehe dem Kommen des Messias voraus. Die Hoffnung, dass das Ende der Bedrückung nahe sei, fand großen Anklang unter den Juden Osteuropas. Der Seher von Lublin verband sich mit zwei anderen berühmten Zaddikim, mit Israel, dem Maggid – dem Prediger – von Kozienice, und mit Menachem Mendel von Rymanów. Sie alle glaubten, aufgrund ihrer Gaben hätten ihre Gebete magische Kräfte. Deshalb kamen sie überein, an einem bestimmten Tag durch gemeinsame Gebete diese Kräfte zu konzentrieren und mit ihnen Gott zu »zwingen«, jetzt den Erlöser zu senden. Unmittelbar bevor sie diese Absicht ausführen konnten, starben sie 1815 kurz hintereinander. Die Gläubigen interpretierten dies so, dass Gott sie bestraft habe, weil sie ihn unter Druck hatten setzen wollen. Ohnehin war die Sichtweise der drei Zaddikim nicht unwidersprochen geblieben. So hatte sich einer der Schüler des Sehers von Lublin, der von ihm eigentlich als Nachfolger ausersehene Jakob Isaak von Przysucha, genannt der »heilige Jude«, strikt dagegen gewandt und dafür sogar den Bruch mit seinem Lehrer in Kauf genommen. Für ihn war die persönliche Umkehr im Innern des Einzelnen die Voraussetzung der Erlösung.1 * Erstpublikation in: Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Hg. von Heiko Haumann. Köln, Weimar, Wien 2003, S. 309–337. 1 Roman Vishniac hat 1939 das Haus des »Sehers von Lublin« photographiert, das dann von den Nazis zerstört wurde: Roman Vishniac: Verschwundene Welt. München, Wien 1996, Abb. 110, vgl. S. 206. Zu den historischen Vorgängen Simon Dubnow: Geschichte des Chassidismus. 2. Bd., Königstein 1982, S. 76–81, 232–236, 243–253, vgl. 202, 209, 263–270 (auch der »heilige Jude« starb übrigens 1814). Zu den genannten Zaddikim vgl. Tzvi Rabinowicz: Chassidic Rebbes. From the Baal Shem Tov to Modern Times. Southfield/Mich. 1990; Chajim Bloch: Chassidische Geschichten. Wiesbaden 1996, S. 145–158, 217–220 (in diesem Band findet sich eine weitere Geschichte, die das aktivistische Denken zum Ausdruck bringt: Rabbi Meir von Przemyschlany [1787–1858] äußerte den Wunsch, der Messias solle nicht kommen, wenn er »Leid und Not über die

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In diesem Konflikt spiegeln sich messianistische Hoffnungen ebenso wie Orientierungssuche in einer Umbruchzeit. Die chassidischen Zaddikim der napoleonischen Zeit standen im Zwiespalt zwischen aktivistischem Herbeizwingen der Erlösung und Aufforderung zur inneren Umkehr. Sie repräsentieren damit zwei Wege, mit der grundlegenden Erschütterung jüdischer Existenz in der Diaspora, im Exil, fertigzuwerden, wie sie seit dem 17. Jahrhundert im Siedlungszentrum des osteuropäischen Judentums, im Königreich Polen-Litauen, spürbar geworden war. Lange Zeit fühlten sich die Juden dort verhältnismäßig sicher. Die Ausschreitungen und Diskriminierungen erschienen punktueller und letztlich eher erträglich zu sein als in Westeuropa, wo Verfolgungen, Ermordungen und Vertreibungen seit dem Mittelalter an der Tagesordnung waren. 1648, als anlässlich des Kosaken- und Bauernaufstandes unter Führung Bogdan Chmel’nickijs eine furchtbare Mord- und Plünderungswelle die Ukraine und Polen überschwemmte, hatten die Juden jedoch erkennen müssen, wie gefährdet ihre Lage auch in diesem Gebiet war.2 Wie so oft nach derartigen Katastrophen, fanden eschatologisch-messianistische Hoffnungen Anklang. Die traumatischen Erfahrungen schienen vielen bevorstehende Umwälzungen, ja die Erlösung anzuzeigen.3 So traf Mitte des 17. Jahrhunderts die Botschaft auf empfängliche Herzen, dass sich Sabbatai Zwi aus Smyrna zum Messias und den 18. Juni 1666 zum Datum sowie Konstantinopel zum Ort der Erlösung erklärt habe. Allerdings: Statt die Welt erlösen zu können, wurde Sabbatai Zwi verhaftet. Um sein Leben und das seiner Anhänger zu retten, trat er zum Islam über und starb 1676 in der Verbannung. Sein Leben und sein Scheitern legten die Polarisierung offen, die sich im Judentum angekündigt hatte.4 Welt bringen« wolle: S. 246–248, Zitat S. 248). Dichterisch gestaltet wurde die im Text geschilderte Geschichte von Martin Buber: Gog und Magog. Eine chassidische Chronik. Gerlingen 1993; vgl. ders.: Die chassidischen Bücher. Berlin 1931, S. 471–499, 522–530 (ich gehe hier auf die Problematik der Buberschen Chassidismus-Interpretation nicht ein); ebenso von Samuel Lewin: Chassidische Legende. München 1989. Eine »Gegengeschichte« innerhalb des Chassidismus bildet etwa »Das Gebet um den Messias«, in dem Baal Schem Tow verhindert, dass Gott um die Entsendung des Messias gebeten wird: Das verzauberte Pferd. Erzählungen aus der Welt des Chassidismus Hg. von Ludwig Wächter. Leipzig 1988, S. 26–28. 2 Als Übersicht H. Haumann: Geschichte der Ostjuden. 5. Aufl. München 1999 (mit weiteren Literaturangaben). 3 Chmel’nickijs Name wurde gedeutet als »die Wehen des Messias kommen über die Welt« (Chabhle maschiad jabko’u le’olam): Kurt Schubert: Messianismus. Hoffnung für die Glaubenden, Utopie für die Zweifler. In: Eden – Zion – Utopia. Zur Geschichte der Zukunft im Judentum. Hg. von Werner Hanak. Wien 1999, S. 83–95, hier S. 93. 4 Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Frankfurt/M. 1992; vgl. Heiko Haumann: Erlösung und Verstörung. Zu Gershom Scholems »Sabbatai Zwi«. In: ZeitSchrift für Kultur, Politik, Kirche (Reformatio) 43 (1994) S. 187–193.

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Die althergebrachte rabbinische Ordnung war gestört, das Verständnis von Gläubigkeit in eine neue Richtung gelenkt worden. Ein Teil der Juden versuchte, eben diese Ordnung durch vertiefte Gelehrsamkeit und Rückbesinnung auf die Grundlagen wieder herzustellen. Gerade im Polen nach 1648 zogen jedoch auch manche die Folgerung, man müsse auf den Erfahrungen aufbauen, den Weg gegen den Rabbinismus weiterverfolgen, um doch noch die Erlösung zu erreichen. Eine Richtung wollte die Revolution im Innern des Menschen vollbringen. Dazu zählte der Chassidismus. In jedem Einzelnen stecke die Erlösung. Deshalb müsse man zu sich selbst finden. Das Böse dürfe man nicht mit der Sünde beantworten. Ohne aber auch vor der Sünde Furcht zu haben, solle man sich bemühen, Gutes zu tun und auf diese Weise Gott näherzukommen. Er sei mit allen Menschen in Liebe verbunden, so dass man das Vergnügen an Gott nicht weltabgewandt, sondern in der Irdischkeit und in einer lebensbejahenden Frömmigkeit finde. Diese Lehre stieß auf ungeheure Resonanz unter der jüdischen Bevölkerung.5 Fast zeitgleich entfaltete sich jedoch eine andere Richtung. Sie scharte sich um den polnischen Juden Jakob Frank, der sich 1755 als Messias bezeichnete. Aufbauend auf älteren Interpretationen der Kabbala und den Lehren Sabbatai Zwis ging er den Weg der Grenzüberschreitung weiter und trieb damit den Bruch mit der herkömmlichen Welt des Judentums voran.6 »Erlösung durch

5 Dubnow: Geschichte; Karl E. Grözinger: Die Hasidim und der Hasidismus. In: Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Hg. von Michael Brocke. Frankfurt a. M. 1983, S. 131–153; Raphael Mahler: Hasidism and the Jewish Enlightenment. Their Confrontation in Galicia and Poland in the First Half of the Nineteenth Century. Philadelphia 1985; Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw. Hg. von Michael Brocke. Reinbek 1989; Essential Papers on Hasidism. Origins to Present. Hg. von Gershon David Hundert. New York, London 1991; Jacob Katz: Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne. München 2002, bes. S. 232–245; Haumann: Geschichte, S. 53–60; vgl. auch S. A. Horodecky: Religiöse Strömungen im Judentum. Mit besonderer Berücksichtigung des Chassidismus. Bern 1920; Lazar Gulkowitsch: Das kulturhistorische Bild des Chassidismus. Tartu 1938; David Assaf: Der königliche Hof und seine Mitglieder: Ein kleiner Staat im Staate. In: Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Hg. von Gabriele Kohlbauer-Fritz. Wien 2000, S. 48–56. 6 Heiko Haumann: Der »wahre Jakob«. Frankistischer Messianismus und religiöse Toleranz in Polen. In: Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg. Hg. von Michael Erbe u. a. Mannheim 1996, S. 441–460 (mit weiterer Literatur). Rekonstruiert haben die Geschichte der Frankschen Bewegung Jörg K. Hoensch: Der »Polackenfürst von Offenbach«. Jakób Józef Frank und seine Sekte der Frankisten. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 42 (1990) S. 229–244; Jan Doktór: Jakób Frank i jego nauka. Warszawa 1991; Klaus Samuel Davidowicz: Jakob Frank, der Messias aus dem Ghetto. Frankfurt a. M. usw. 1998.

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Sünde« lautete der Kern der Frankschen Lehre.7 Die Sünde erhielt eine heilige Funktion. »(...) wer in die tiefsten Tiefen gesunken war, schien der Berufendste, das Licht zu schauen.»8 Die radikale Übertretung der religiösen Gesetze, die praktizierte Unreinheit werde das Böse von Innen her sprengen und den Menschen zur Heiligkeit reinigen. Damit rechtfertigten die Frankisten ihre Lebensführung, die nicht nur wegen der Missachtung religiöser Rituale, sondern namentlich wegen bekannt gewordener sexueller Orgien Abwehr und Abscheu bei den Zeitgenossen erregte. Die sexuelle Ekstase sollte die religiöse vorbereiten, durch das »Tor der Unzucht« trete man in die »Hallen der Heiligkeit« ein.9 Immer mehr schälte sich heraus, dass letztlich, wenngleich verschwommen, die Befreiung von allen Autoritäten angestrebt wurde, zunächst von der Religion, der Lehre, dann überhaupt von der geistigen und politischen Welt. Die Forderung nach Emanzipation begnügte sich nicht mehr mit einer rein rechtlichen Gleichstellung. Auch wenn die Praxis der Frankisten häufig sehr wenig von umfassender Emanzipation verspüren ließ, forderte die Bewegung die bisherige – jüdische wie nichtjüdische – Ordnung heraus.10 Der Dichter Schalom Asch sah diese Zusammenhänge, als er 1908 am Schluss seiner Tragödie »Sabbatai Zewi« Frauen und Männer einen Vers singen ließ, der für den Frankismus noch stärker galt: »Zerreißet die Bänder, zerschneidet den Brustlatz, Gestorben das Gesetz und tot das Wort, Frei das Verbotne, das Verschloßne geöffnet ... (...) Wir gehen in ein Land, wo der Mensch Gott ist Und des Menschen Wille Gebot.»11 7 Gershom Scholem: Judaica 5. Erlösung durch Sünde, Hg. von Michael Brocke, Frankfurt a. M. 1992. 8 Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1980, S. 349. 9 Simon Dubnow: Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von den Uranfängen bis zur Gegenwart. Bd. 7. Berlin 1928, S. 197. 10 Scholem: Erlösung, S. 107–116; Haumann, »Jakob«, S. 450–451. Vgl. auch die eindringliche Analyse von Ekaterina Emeliantseva: Die Wehles. »Häretische« Bildungselite zwischen jüdischer Tradition und frankistischer Mystik. Zur Geschichte der frankistischen Bewegung in Böhmen 1700–1849. Unveröffentl. Magisterarbeit, Universität Freiburg i. Br. 1999. 11 Schalom Asch: Sabbatai Zewi. Tragödie in drei Akten (sechs Bildern) mit einem Vorspiel und einem Nachspiel. Berlin 1908, S. 122, vgl. 103, 110. Wie tief die Nachwirkungen gingen, zeigte sich in Julian Stryjkowskis Erzählung »Asrils Traum«, in dem folgendes Lied gesungen wird: »Warum, warum / stürzt die Seele / vom höchsten Gipfel / in den tiefsten Abgrund? / Weil nur die gestürzte Seele / aufsteigen kann. / Weil nur die gestürzte Seele /

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Die frankistische Bewegung wurde von allen Seiten erbittert bekämpft und bis in unser Jahrhundert totgeschwiegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen.12 Ihre exemplarische Bedeutung ist aber gar nicht zu überschätzen. An ihr lässt sich mehreres deutlich machen: Drastisch belegt sie die Krise des jüdischen Selbstverständnisses in Osteuropa, speziell im polnisch-russischen Raum,13 die Brüchigkeit der überkommenen jüdischen Gesellschaft. Die bisherige Ordnung bot für viele Juden keine Antwort mehr auf die existentiellen Fragen, die rabbinische Lehre konnte nicht mehr durchweg überzeugen, um die drängenden Probleme zu lösen, die überlieferten Rituale und Bräuche schienen leer geworden zu sein. Die Franksche Lehre radikalisierte eine vorher ansatzweise immer vorhandene Linie im Judentum, sich durch eigene Kraft aus den Fesseln der Tradition zu befreien, nicht passiv auf Lösungen zu warten, auch nicht passiv die Ankunft des Messias zu erwarten, sondern sie durch eigenes Handeln zu erzwingen, also den Prozess der Erlösung aktiv zu bestreiten.14 Mit dem Frankismus setzte die Wende zum Aktivismus ein. Diese strahlte auch in den Chassidismus aus, wie die Geschichte von den drei Zaddikim gezeigt hat. Insofern haben die beiden extremen Pole oder alternativen Wege des Ostjudentums – der mystische, die Revolution im Innern des Menschen suchende Chassidismus und der nach außen gewendete, Tabus brechende und Grenzen überschreitende Frankismus – vom Ausgangspunkt und von der wechselseitigen Wirkung her sehr viel miteinander zu tun. Unmittelbar führte die Konfrontation – zusammen mit anderen Gründen – sicher zu einem Abschließen, ja zu einer Erstarrung des Chassidismus, doch indirekt gab sie vielfältige Anstöße, die zur Erneuerung des Chassidismus als Volksbewegung beitrugen.15 Aber nicht nur diese beiden Wege – Aktivismus und Innerlichkeit – hingen miteinander zusammen. Die Krise des jüdischen Selbstverständnisses und

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aufsteigen kann.« Julian Stryjkowski: Asrils Traum. An den Weiden ... unsere Harfen. Zwei Erzählungen. Frankfurt a. M. 1995, S. 129, 139. Abraham G. Duker: Polish Frankism’s Duration. From Cabbalistic Judaism to Roman Catholicism and from Jewishness to Polishness. A Preliminary Investigation. In: Jewish Social Studies 25 (1963) S. 287–333; vgl. Haumann: »Jakob«, S. 456–460. Im Folgenden konzentriere ich mich auf diesen Raum, ohne auf regionale Besonderheiten einzugehen. Haumann: »Jakob«, S. 450–451; zur Tradition s. Israel Jacob Yuval: Magie und Kabbala unter den Juden im Deutschland des ausgehenden Mittelalters. In: Judentum im deutschen Sprachraum. Hg. von Karl E. Grözinger. Frankfurt a. M. 1991, S. 173–189, hier bes. S. 181–184; ein Beispiel bei Scholem: Mystik, S. 382. Wie Anm. 5. Zur Entwicklung im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert vgl. François Guesnet: Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln usw. 1998.

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speziell der Frankismus öffneten weiterhin den Weg zur jüdischen Aufklärung – der Haskala –, zum Reformjudentum, zur Assimilation, zu Verbindungen mit dem polnischen Messianismus – repräsentiert durch Adam Mickiewicz –16, zur Säkularisierung, zur Abwendung von der Religion, hin zum Sozialismus, zum Nationaljudentum und besonders zum Zionismus. Auf diese Beziehung machte im übrigen als einer der ersten der in Weißrussland geborene Zionist Salman Rubaschow aufmerksam, der in Freiburg i.Br. studierte und später als Salman Shazar Staatspräsident von Israel wurde.17 Das lange Zeit herrschende Bild von den Ostjuden im 19. Jahrhundert sah diese als eine mehr oder weniger dumpfe Masse strenggläubiger Menschen – orthodoxer oder chassidischer Ausprägung –, die die Städte bevölkerten und sich allein schon durch ihr Äußeres scharf von der nichtjüdischen Umgebung abhoben: die Männer durch den Kaftan und die Pelzmütze, durch die Schläfenlocken und den Bart, gegebenenfalls durch den Gebetsmantel, die verheirateten Frauen durch ihre Perücke und das Kopftuch. Sie lebten, so das Bild, vor sich hin, beschäftigten sich mit Handel und Kleinhandwerk, lehnten alle Einflüsse von außen ab. Die Kreise, die die Haskala vorantrieben, blieben ebenso schwach wie die Anhänger der Akkulturation und Assimilation. Unter dem Eindruck der Pogrome in Russland vor allem seit 1881, seit der Ermordung des Zaren Alexander II., habe sich, da jede Hoffnung auf eine erfolgreiche Assimilation zerstoben sei, die Rückbesinnung auf das ursprüngliche Judentum noch mehr 16 Heiko Haumann: »Das Erhabenste der Menschlichkeit.« Adam Mickiewicz und der jüdisch-polnische Messianismus. In: Fenster zur Geschichte. 20 Quellen – 20 Interpretationen. Festschrift für Markus Mattmüller. Hg. von Bernard Degen u. a. Basel 1992, S. 247–259. 17 Hoensch: »Polackenfürst«, S. 243; Scholem: Erlösung, S. 20–21; ders.: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Ausgabe Frankfurt a. M. 1997, S. 96–102. Selbst zu Theodor Herzls Roman »Altneuland« (1902), in dem er seine Überlegungen zur Organisation des zukünftigen Gemeinwesens vorstellte, sind Linien von Sabbatai Zwi her zu ziehen (Scholem: Erlösung, S. 137–138, aus dem Nachwort Michael Brockes). Der englische Zionist Israel Zangwill beschäftigte sich in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Roman mit dem »Baron von Offenbach«, Jakob Frank (Herbert Tauber: Nachwort. In: Israel Zangwill: Der König der Schnorrer. Roman. München 1994, S. 219–253, hier S. 245). Noch zu untersuchen ist in diesem Zusammenhang, ob über Armand Lévy, den Sekretär des vom Frankismus beeinflußten Adam Mickiewicz, frankistische Ideen zu Moses Hess vermittelt wurden, mit dem Lévy gerade in der Entstehungszeit von »Rom und Jerusalem. Die letzte Nationalitätenfrage« (1862) eng befreundet war; dazu Samuel Scheps: Adam Mickiewicz. Ses affinités juives. Paris 1964; ders.: Armand Lévy. Compagnon de Mickiewicz, révolutionnaire romantique. London 1977. Vgl. insgesamt hier und im Folgenden Heiko Haumann: Zionismus und die Krise jüdischen Selbstverständnisses. Tradition und Veränderung im Judentum. In: Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus. Hg. von Heiko Haumann. Weinheim 1998, S. 9–64.

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verstärkt. Allerdings sei dann auch eine jüdisch-sozialistische Arbeiterbewegung entstanden, um die verarmten Schichten zu verteidigen und – nach dem Scheitern der Assimilation und der als ungenügend empfundenen religiösen Erwartung des Messias – die Auflösung aller religiösen, nationalen und Klassenunterschiede im Sozialismus anzustreben. Zugleich hätten mehr und mehr Juden den einzigen Ausweg in einer »Selbst-Emanzipation« und im Zionismus gesehen, in der Bildung eines Judenstaates in Palästina, wo man dann eine ideale Gesellschaft aufbauen wollte. Gerade aus Osteuropa kamen die aktivsten Streiter für den Zionismus, die Anhängerschaft sei aber begrenzt geblieben, weil die Masse der jüdischen Bevölkerung die Sicherheit der durch Religion und Tradition vorgeschriebenen Rituale und der überlieferten Lebensweise vorgezogen habe. Wir könnten uns mit diesem Bild zufriedengeben: Nach dem Aufschwung der Hoffnungen im Chassidismus und im Frankismus erstarrte das Ostjudentum, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts fanden lediglich Teile zu Formen des säkularisierten Messianismus in Sozialismus und Zionismus, die ihre Wurzeln nicht zuletzt im Frankismus hatten. Der Kreis hätte sich geschlossen.18 Dieses Bild ist gewiss nicht völlig falsch. Doch es trifft nur einen Teil der wesentlich vielschichtigeren Wirklichkeiten und erklärt vor allem die Entwicklung nur vordergründig. Unter der – scheinbar über weite Bereiche recht statischen – Oberfläche entfaltete sich eine Dynamik, die die angeblich so geordnete Lebenswelt der Individuen aus den Fugen brachte. Was sich hier im einzelnen abspielte, soll exemplarisch an einigen Beispielen verdeutlicht werden. Hintergrund ist der radikale sozialökonomische Strukturwandel in Osteuropa, der auch die ostjüdische Bevölkerung erschütterte.19 18 Dieses Bild ist stark von Simon Dubnow, aber auch von der bundistischen und zionistischen Geschichtsschreibung bestimmt worden. 19 Zur ersten Übersicht Jürgen Hensel: Der Wandel in den ökonomischen Funktionen der Juden in Kongreßpolen zwischen 1815 und 1862. In: Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Gotthold Rhode. Marburg 1989, S. 153–161; Heiko Haumann: Wandlungen in den ökonomischen Funktionen der Juden in Kongreßpolen zwischen 1863 und 1914. Ebd., S. 163–179; ders.: Geschichte, S. 95 ff.; Teresa Andlauer: Hindernisse des Wandels. Juden in Österreichisch-Galizien und im Russischen Reich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Aufbruch der Gesellschaft im verordneten Staat. Rußland in der Spätphase des Zarenreiches. Hg. von Heiko Haumann und Stefan Plaggenborg. Frankfurt a. M. 1994, S. 71–97; dies.: Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozeß Galiziens (1867–1914). Frankfurt a. M. usw. 2001; Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hg. von Stefi Jersch-Wenzel u. a. Köln usw. 2000. Zu den Veränderungen im Alltag vgl. meinen Versuch: Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930. In: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Hg. von Nada Boškovska u. a. Köln usw. 2002, S. 323–348.

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Juden hatten über Jahrhunderte in Polen fast monopolartig die zentrale Funktion eines Mittlers zwischen Stadt und Land eingenommen. Als Schankwirte, Krämer, Händler, Hausierer, Pächter und Verwalter von Landgütern verbanden sie in einem Wirtschaftskreislauf adlige Gutsbesitzer, Bauern, ländliche oder städtische Handwerker, Großkaufleute und Unternehmer. Durch diese Funktionen waren sie allerdings auch in die sozialen Konflikte zwischen Bauern und Gutsadel geraten. Vollends zerstört wurde ihre Stellung durch die politischen Veränderungen aufgrund der Teilungen Polens zwischen 1772 und 1815 sowie durch eine schwere Agrarkrise zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Dies führte dazu, dass durch massive administrative Maßnahmen mehr und mehr Juden vom Land vertrieben wurden. Sie mussten sich einen neuen Platz in der Gesellschaft suchen. Zwar blieben sie in vielfacher Hinsicht Mittler, aber sie hatten im entstehenden Kapitalismus nicht mehr das Monopol darauf. Die Macht des Marktes verstärkte sich, neben die innerjüdischen Konkurrenten traten in wachsendem Maße nichtjüdische, und das bedeutete zugleich: die antisemitische Gegnerschaft gewann neue Dimensionen. Damit stellte sich wiederum – wie schon einmal im 18. Jahrhundert – die Frage nach dem Selbstverständnis der Jüdinnen und Juden. Die vom Land vertriebenen Juden strömten in die Städte, trafen dort auf harte Konkurrenz und mussten sich zunehmend als »Luftmenschen« durchschlagen: ohne Beruf und Einkommen, nur von der Spekulation, von der Gelegenheit, von der »Luft« lebend, von der man – wie Scholem Alejchem dies unnachahmlich ausdrückte – leicht eine »Erkältung« bekam.20 Nicht zufällig fand dieser Begriff des »Luftmenschen« in der sozialökonomischen Umbruchphase breite Verwendung und schlug sich auch rasch in der jiddischen Literatur nieder: bei Scholem Alejchem, bei Mendele Mojcher Sforim – er verwendete vermutlich zum ersten Mal öffentlich den Begriff, nämlich 1865 in seiner Erzählung »Wunschring« –21, bei Jehuda Leib Perez und vielen anderen.22 Anders 20 Scholem-Alejchem: Menachem Mendel, der Spekulant. München 1968, S. 12. Vgl. auch Stryjkowski: Asrils Traum, S. 59: »Ich lebe von der Luft. Ich gehe auf die Straße hinaus und fange ein Geschäft aus der Luft ein. (…) Das ganze Volk lebt von der Luft.« 21 Mendele Moicher Sfurim: Der Wunschring. In: ders.: Fischke der Krumme und Der Wunschring. Zwei Romane. Olten 1961, S. 161–461. Das Buch beginnt mit einer Charakteristik der Juden »Schnorringens»: »Kläglich genug, wie sie leben und sich mit der Luft begnügen« (S. 163). Kurz darauf fällt auch der Begriff des »Luftmenschen« (S. 163/164). Vgl. dazu den Beitrag von Desanka Schwara in diesem Band, hier vor allem S. 91–96 mit Anm. 59–72. 22 Vgl. meine Hinweise in: Haumann: Geschichte, S. 101–103, 121, 170. Der Begriff ist selbst in die Märchenerzählung eingegangen: »Jascha, der Luftmensch«. In: Ostjüdische Märchen. Hg. von Claus Stephani. München 1998, S. 220–222 (S. 220: »Diese Luftmenschen besaßen nur die Luft, in der sie sich bewegten»).

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als die berufsmäßigen Bettler hatten die »Luftmenschen« keinen festen Platz in der jüdischen Gesellschaft. Sie verarbeiteten ihr schweres Leben mit bissigen Witzen, die ihnen einen Hauch scheinbarer Leichtigkeit verliehen.23 Von Ausnahmen abgesehen, waren sie – im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung – keineswegs krimineller als andere Schichten.24 Der ökonomische Verdrängungsprozess war insgesamt von einer unvorstellbaren Verelendung begleitet.25 Nur wenigen gelang der Aufstieg zu großen Unternehmern und Bankiers. Die einsetzende Industrialisierung gab dem internen Konkurrenzkampf und der Pauperisierung noch eine neue Wendung: Zahlreiche traditionelle Handwerkerberufe verloren an Bedeutung. Diejenigen, die sich halten konnten, lebten meist am untersten Ende des Existenzminimums. Ein Teil der Handwerker ging in die Fabrik – diese Möglichkeit war jedoch beschränkt –,26 ein anderer wurde zum Kleinhändler oder eben zum »Luftmenschen«. In vielen Städten Osteuropas wuchs im 19. Jahrhundert der Anteil der

23 Desanka Schwara: Humor und Toleranz. Ostjüdische Anekdoten als historische Quelle. Köln usw. 1996 (2. Aufl. 2001), z. B. S. 34–39, 101–107. Humor in diesem Sinn, die Funktion des Lachens als (therapeutische) Befreiung bis hin zur Konstruktion einer »Gegenwelt«, zeichnet auch die jüdische belletristische Literatur aus, auf die später eingegangen wird. Die scheinbare Leichtigkeit hat Marc Chagall mehrfach in Bildern zwischen 1914 und 1922 ausgedrückt, die einen über den Dächern von Vitebsk schwebenden Juden, einen Stock in der Hand und einen Rucksack über der Schulter, darstellen. Hannah Arendt übertrug diesen Begriff, als sie auf jene intellektuellen »Luftmenschen des westlichen Judentums« hinwies, welche trotz ökonomischer Absicherung keinen Platz in der jüdischen wie nichtjüdischen Gesellschaft fänden: Hannah Arendt: Die Krise des Zionismus. Essays & Kommentare 2. Hg. von E. Geisel u. K. Bittermann. Berlin 1989, S. 64. Zum Wortgebrauch bei den Zionisten vgl. Haumann: Geschichte, S. 103 Anm. 6. 24 Vgl. die ausführlichen Untersuchungen in diesem Band. 25 Die wachsende Armut und soziale Polarisierung gehen auch aus den jüdischen Presseorganen hervor, die im Rahmen des Forschungsprojektes durchgesehen wurden (Peter Bollag hat etwa »Ha-Cefira« 1862–1880 ausgewertet), ebenso aus Briefwechseln zwischen Juden, die nach den USA ausgewandert waren, und ihren in Osteuropa zurückgebliebenen Verwandten (Peter Bollag hat verschiedene Bestände im YIVO-Institut New York sowie in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem gesichtet). Neben Autobiographien wären auch diese Korrespondenzen im Blick auf das jeweilige Selbstverständnis zu analysieren. 26 Über die Struktur der Betriebe, die im Besitz jüdischer Unternehmer waren, sowie über deren Arbeitsorganisation und Arbeitskräfteverteilung geben die Akten der Fabrikinspektion Aufschluß: Staatsarchiv Warschau, Starzy Inspektor Fabryczny Gubernii Warszawskiej, bes. Nr. 189, 322, 564, 810, 862, 903, 985, 1334 A, 1339, 1413, 1418–1421; Staatsarchiv Lodz, Starzy Inspektor Fabryczny Gubernii Piotrkowskiej 1883–1891, 1891–1914, bes. Nr. 2313–2314, 2883 ff. Vgl. Haumann: Geschichte, S. 118–120; ders.: Wandlungen, S. 169–179; Hensel: Wandel, S. 160.

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Juden ohne feste Beschäftigung auf über 50 Prozent an.27 Bei der von Jan Bloch angeregten »Börsendenkschrift« – Untersuchungen im Russischen Reich, die in den achtziger Jahren durchgeführt wurden – konnte lediglich bei 44 Prozent der Haushalte überhaupt die Art des Broterwerbs ermittelt werden.28 Der Handel wurde zur wichtigsten Erwerbsquelle, warf aber häufig nur einen äußerst geringen Verdienst ab. Dennoch meinten die Händler überwiegend, sich »irgendwie« durchschlagen zu können, und wählten nicht, wie viele Handwerker oder auch Facharbeiter, die keine Perspektive mehr sahen, die Auswanderung – im übrigen auch einer der Wege des Ostjudentums im 19. Jahrhundert. Zwischen den 1890er Jahren und 1914 emigrierten über eine Million Jüdinnen und Juden aus dem Russischen Reich. Die Mehrzahl ging über Österreich und Deutschland, auch über England, in die USA, ein Teil nach Südamerika, ein Teil blieb in den Durchgangsländern, ein kleiner Teil zunächst wählte Palästina.29 Nicht alle Erwartungen erfüllten sich. Manche kamen wieder nach Osteuropa zurück; nach der Jahrhundertwende sollen es nach allerdings umstrittenen Berechnungen 15 bis 20 Prozent gewesen sein.30 Joseph 27 Haumann: Wandlungen S. 176. Vgl. Elisabeth Sperling: Der Wandel des jüdischen Sozialwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Rußland und Russisch-Polen. In: Juden in Ostmitteleuropa, S. 233–239; Heinz-Dietrich Löwe: Von »Mildtätigkeit« zur »Sozialpolitik«. Jüdische Selbsthilfe in Rußland 1860–1917. In: Aufbruch der Gesellschaft, S. 98–118. 28 Jan Bloch war einer der einflussreichsten Unternehmer des Russischen Reiches und setzte sich auch nach seiner Konversion zum Christentum für eine Verbesserung der Lage der Juden ein. Dazu Guesnet: Juden. 29 Vgl. als exemplarische Untersuchungen Jack Wertheimer: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany. New York, Oxford 1987; Dieter Schonebohm: Ostjuden in London. Der Jewish Chronicle und die Arbeiterbewegung der jüdischen Immigranten im Londoner East End, 1881–1900. Frankfurt a. M. usw. 1987; Gershon Shafir: Land, Labor and the Origins of the Israeli-Palestinian Conflict 1882–1914. Cambridge usw. 1989; Klaus Hödl: »Vom Shtetl an die Lower East Side«. Galizische Juden in New York. Wien usw. 1991; ders., Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien usw. 1994; Ruth Gay: Unfinished People. Eastern European Jews Encounter America. New York, London 1996; Patrick Kury: »Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!« Ostjudenmigration nach Basel 1890–1930. Basel, Frankfurt a.  M. 1998; Karin Huser Bugmann: Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880–1939. Zürich 1998; Almut Meyer: »... der Osten Europas schüttet sie aus ...« Zur Migration osteuropäischer Juden bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. In: Zwischen Ost und West, S. 21–31. 30 Jonathan D. Sarna: The Myth of No Return. Jewish Return Migration to Eastern Europe, 1881–1914. In: Labor Migration in the Atlantic Economies. The European and North American Working Class During the Period of Industrialization. Hg. von Dirk Hoerder. Westport/Conn., London 1985, S. 423–434; dagegen: Ralph Melville: Jüdische, polnische und russische Massenauswanderung: Zwischen definitiver Emigration und grenzüber-

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Roth sagte dazu: »Viele kehren zurück. Noch mehr bleiben unterwegs. Die Ostjuden haben nirgends eine Heimat, aber Gräber auf jedem Friedhof.«31 So wie in der beruflichen Umschichtung und im materiellen Verelendungsprozess ungeheuer viel im Fluss war, so befand sich ein hoher Anteil der ostjüdischen Bevölkerung häufig auf Wanderschaft: auf der Suche nach einer neuen Existenz in einem anderen Ort, auf dem Weg in die Emigration oder auf der Flucht vor Pogromen und administrativen Maßnahmen. Dies galt vor allem für die »Litwaken«, russische Juden, deren Existenz durch Ausschreitungen zerstört war oder die im Gefolge der verschärften judenfeindlichen Gesetze des Zarenstaates nach 1881 aus Gebieten außerhalb des »Ansiedlungsrayons« ausgewiesen wurden und über Litauen – daher der Name – nach Polen kamen.32 Wie sehr sich die jüdische Gesellschaft in einer sich immer weiter verschärfenden Krise befand, zeigte sich daran, dass selbst die diskriminierten und verachteten polnischen Ostjuden ablehnend auf die russischen Ostjuden reagierten, weil sich auf sie besonders viele Vorurteile richteten, sie für »Russen« statt für »Polen« gehalten und deshalb oft für das Scheitern einer polnisch-jüdischen Annäherung, für die wachsende Judenfeindschaft verantwortlich gemacht wurden. In der zweiten Generation scheint dann aber eine Integration gelungen zu sein.33 Hinter diesen dramatischen gesellschaftlichen Bewegungen verbargen sich Millionen von Einzelschicksalen. Sie führten auch zu eher unmerklichen Veränderungen in den Einstellungen und Verhaltensweisen der Individuen. Deutlich wird dies etwa in der Rolle der Frau.34 Der Typus der traditionellen ostjüdischen Familie folgte zwar einer mutterrechtlichen Grundorganisation: Jude ist – nach dem herrschenden Verständnis –, wer von einer jüdischen Mutter abstammt; nach der Heirat lebte die junge Familie in der Regel für einige Zeit bei den Eltern der Frau. Dennoch war die patriarchalische Rollenverteilung charakteristisch. Der Vater bestimmte den Gang des Familienlebens, das sich äußerlich nach den Regeln jüdischer Frömmigkeit richtete. Er hatte sich Gott über den Dienst in der Synagoge und über das Studium der Schrift zu nähern,

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schreitender Migration auf Zeit. In: Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 3/2. Hg. von Gottfried Schramm. Stuttgart 1992, S. 1041–1055. Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft (1927/1937). In: ders.: Werke. Hg. Hermann Kesten. 3. Bd. Köln 1976, S. 293–369, hier S. 298. Ausführlich dazu Guesnet: Juden. Als Beispiel: Michał Strzemski: Das abgebrochene Gespräch. Erinnerungen. Leipzig 1985, S. 86. Hier folge ich Monica Rüthers: Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Köln usw. 1996; dies.: Lebenszusammenhang und Weltbild einer großbürgerlichen jüdischen Großmutter aus Brest in Litauen. In: Archiv für Sozialgeschichte 34 (1994) S. 157–197. Vgl. ihren Beitrag in diesem Band.

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seine religiöse Gelehrsamkeit war wichtiger als beruflicher Erfolg. Deshalb ging der Knabe ab dem vierten Lebensjahr in die religiös geprägte Schule, während dies für Mädchen in der Regel nicht für nötig gehalten wurde. Sie durften dafür eher eine weltliche Bildung erhalten. Die Pflicht der Frau bestand darin, das Haus zum Zentrum des frommen Lebens zu machen. Sie musste darum nicht unbedingt am Synagogengottesdienst teilnehmen (und blieb, wenn sie zu bestimmten Gelegenheiten doch kam, räumlich von den Männern getrennt, um sie nicht abzulenken). In der Praxis bedeutete dies alles eine Unterordnung der Frau unter den Mann.35 Allerdings wurde das dadurch ausgeglichen, dass die Frau im Geschäft mithalf oder dieses gar weitgehend selbständig führte, weil der Mann dazu gar nicht fähig war oder nur über den heiligen Schriften brütete. Dadurch konnte sie in manchen Fällen eine beherrschende Stellung in der Familie einnehmen.36 Auch in den berühmten ostjüdischen Witzen – einer hochinteressanten Quelle – kommt die zumindest gleichwertige oder gleichstarke Stellung zum Ausdruck.37 Nun gingen die Zeiteinflüsse keineswegs an diesem Familienmodell vorüber. Industrialisierung, Kapitalismus, bürgerliche Gesellschaft hinterließen auch bei den Ostjuden ihre Spuren. Um überleben zu können, musste zumindest in weiten Teilen des Judentums weltliches Wissen zur Kenntnis genommen werden. Die Frauen waren hier zunächst überlegen, weil sie vielfach schon eine weltliche Bildung und eine größere Praxiserfahrung besaßen. Dies hatte ihre Frömmigkeit nicht beeinträchtigt: Der Geist war ja eben kein Teil der Aufgaben weiblicher Frömmigkeit. Im Gegenteil achteten sie normalerweise darauf, dass die Männer dem Ideal der Frommen nacheiferten. Als nun mehr und mehr Männer sich weltliches Wissen aneigneten,38 war dieses Ideal, die religiöse Gelehrsamkeit, unmittelbar berührt. Sie mussten es aufgeben, wenn sie ihre weltliche Bildung vorantreiben wollten. Anders als die Mehrzahl der Frauen lösten sie sich meist rasch von der überlieferten Religiosität, erklärten 35 Vgl. allgemein – neben Rüthers – The Jewish Family. Myths and Reality. Hg. von Steven M. Cohen und Paula E. Hyman. New York, London 1996; Jüdische Kultur und Weiblichkeit in der Moderne. Hg. von Inge Stephan u. a. Köln 1994. 36 Beispiele: Pauline Wengeroff: Memoiren einer Großmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert. 2 Bde., hier Bd. 2. Berlin 1910, S. 91–92; Shmerya Levin: Kindheit im Exil. Berlin 1931, S. 89; Israel Josua Singer: Von einer Welt, die nicht mehr ist. Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1993, S. 26–32; Isaac Bashevis Singer: Eine Kindheit in Warschau. Ravensburg 1981, S. 39–44; Esther Kreitmann: Deborah – Narren tanzen im Ghetto. Frankfurt a. M. 1984, S. 6–7, 10–16 u. ö.; Bella Chagall: Erste Begegnung. Reinbek 1971, S. 89–90. Vgl. Rüthers: Tewjes Töchter, S. 87–94; Hödl: Bettler, S. 50–54. 37 Schwara: Humor, S. 93–96, 111–115. 38 Als Beispiel: Wengeroff: Memoiren, S. 91, 114.

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die weltliche Bildung zum Zeichen des Fortschritts, ja zwangen – zur eigenen Rechtfertigung, zur Beruhigung des schlechten Gewissens – in manchen Fällen ihre Frauen dazu, ebenfalls religiöse Praktiken einzustellen. Damit einher ging, dass mit der Verbürgerlichung der Geschäftstätigkeit die Frau dort immer mehr in den Hintergrund treten musste. Sie verlor somit grundlegende Positionen und Funktionen in der Familie und in ihrer Geschlechterrolle.39 Natürlich galt dies nur begrenzt für die große Masse der armen ostjüdischen Familien, eher für die mittleren und oberen Schichten. Dennoch kann darin ein weiteres Zeichen für die Krise des Ostjudentums im 19. Jahrhundert gesehen werden, das weit über die unmittelbar Betroffenen hinaus registriert wurde. Auch in vielen chassidischen Familien wurde die strenge Frömmigkeit nur noch äußerlich eingehalten, während hinter dieser Fassade die »Zersetzungserscheinungen« durch die Anforderungen der Lebensweise voranschritten. Einen besonders drastischen Hinweis gaben Prostitution und »Mädchenhandel«. In manchen Fällen bedienten sich die Zuhälter und Mädchenhändler der Formen traditioneller Kultur, um an ihr Ziel zu gelangen: Sie trugen einem Vater, der sich oft noch in materieller Not befand, über einen Heiratsvermittler, den Schadchen, ihren Ehewunsch vor und ließen sich auch nach religiösem Ritus – aber wohlweislich nicht zivilrechtlich – trauen. War die junge Frau dann erst einmal aus dem Elternhaus und der jeweiligen Umgebung entfernt, gab es für sie ein böses Erwachen.40 Schon 1865 prangerte Mendele Mojcher Sforim in seinem »Wunschring«, leicht verschlüsselt, ein derartiges Verhalten an.41 Der Mädchenhandel wurde vor allem in Galizien – mit Verbindungen namentlich nach Südamerika – bekannt und von Bertha Pappenheim seit Beginn des 20.  Jahrhunderts offensiv in die Öffentlichkeit getragen, um antisemitischen Ausfällen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dies war auch unbedingt notwendig, denn die aufgebauschte, mit vielen antijüdischen Klischees versehene Berichterstattung zog zahlreiche Denunziationen gegen angeblich jüdische Mädchenhändler nach sich, die sich häufig als Falschmeldungen entpuppten.42 Bertha Pappenheim sah die Wurzeln des Elends in den sozialen Bedingungen, in der Verelendung, aber auch in der minderwertigen Stellung der Frau im Judentum, die jetzt angesichts der nachlassenden Bindungskräfte 39 Rüthers: Tewjes Töchter, S. 212–234. 40 Hödl: Bettler, S. 69. 41 Sfurim: Der Wunschring, S. 338–357. 42 Hödl: Bettler, S. 74. Sabine Strebel hat in ihrer unveröffentlichten Lizentiatsarbeit – »›... alles Schöne und Gute versprochen ...‹ Mädchenhandel in der Schweiz im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts« (Universität Basel 1998) – herausgefunden, dass sich alle im Untersuchungszeitraum bekannt gewordenen Anzeigen gegen »Juden« als Mädchenhändler als nicht beweisbar oder offensichtlich falsch erwiesen.

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von Religion und traditioneller Kultur besonders nachteilig hervortrete. Ein neues Selbstbewusstsein sei vonnöten, dem Zionismus könne hier eine wichtige Aufgabe zufallen.43 Wie reagierten Frauen auf diese Neudefinition ihrer Rolle? Wie schufen sie sich neue Handlungsspielräume? Ein Teil brach aus den Fesseln dieser Rolle aus. Über ihre – weltliche – Lektüre hatten sie etwa völlig andere Vorstellungen von Liebe und Ehe, als sie im traditionell jüdischen Haus galten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehren sich die Quellen, dass Mädchen aus streng religiösem Haus wie aus Familien, die einen Übergang wie den eben geschilderten mitmachten, sich nicht nur ihre Partner selbst auswählten, sondern sogar ihre Eltern verließen, um zu studieren, um sich ihre Emanzipation anderswo zu suchen.44 In einem Fall aus Krakau ließen Eltern nach ihren verschwundenen Töchtern suchen, während diese dann gar einen Prozess führten, um selbständig leben und doch einen Versorgungsanspruch gegenüber den Eltern haben zu können.45 Viele gingen in sozialistische Gruppen, wie ein Blick auf die revolutionäre Bewegung in Russland zeigt.46 Für die Frauen der Unterschicht bildete die Lohnarbeit einen gewissen Ausweg, um unabhängig sein zu können. Oft war dies jedoch mit Verelendung verbunden, zumal es viel zu wenig Stellen gab.47 Bei den »verbürgerlichten« jüdischen Familien fällt auf, dass die Quellen in wachsendem Maße von Unpässlichkeiten, Krankheiten, seelischen Empfindlichkeiten sprechen. Auch Scholem Alejchems »Tewje der Milchmann« schildert das: »›Es gibt‹, sagt er, ›in Jehupetz Leute, die erst vor kurzem ohne Stiefel herumgelaufen sind, die erst gestern Makler, Lehrer und Diener waren und die heute eigene Häuschen besitzen und deren Frauen bereits mit dem

43 Bertha Pappenheim, die Anna O.: Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel – Galizien. Hg. von Helga Heubach. Freiburg i. Br. 1992; Sabine Strebel: «... aus dem Gan Eden, dem Paradiese Frankfurt nach Gehinnom, der Hölle Galizien gekommen ...«. In: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. «... in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« Hg. von Heiko Haumann u. a. Basel usw. 1997, S. 69–73; Hödl: Bettler, S. 67–79, 232–236. Einen vielfältigen Einblick in die Umbruchsituation gibt Desanka Schwara: »Ojfn weg schtejt a bojm«. Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongresspolen, Litauen und Russland 1881–1939. Köln usw. 1999. 44 Ein Dokument des versuchten Ausbruchs bildet der autobiographische Roman Esther Kreitmanns. Vgl. Maria Kłańska: Aus dem Schtetl in die Welt. 1772 bis 1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien 1994, z. B. S. 99–100, 241 ff. 45 Staatsarchiv Krakau, 75/3090/pr/10. 46 Beate Fieseler: Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890–1917. Eine kollektive Biographie. Stuttgart 1995, S. 85–109, 214–245. 47 Guesnet: Juden

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Magen zu tun haben und in die ausländischen Bäder reisen ...‹.«48 Die Mutter Bella Chagalls fuhr jedes Jahr nach Marienbad, und die Mutter Jehudo Epsteins empfand es wie viele andere als Zeichen der Vornehmheit, möglichst zahlreiche Medikamente einzunehmen.49 Das Kränkeln und – wenn man es sich leisten konnte – Zur-Kur-Fahren wurde, in Anlehnung an das Verhalten nichtjüdischer bürgerlicher Frauen, geradezu Mode: ein Zeichen, dass die Frauen eine neue Rolle, die sie ausfüllte, nicht gefunden hatten, dass sie nach Zuneigung und Aufmerksamkeit suchten, nachdem die Männer in ihre neue dominante Rolle hineingewachsen waren, die sie stärker als vorher von den Frauen trennte. Manche fuhren gegen Ende des Jahrhunderts gar nach Wien »zu den großen Ärzten«, die auch seelische Gebrechen heilen konnten. So verwundert es nicht, wenn wir unter den Patientinnen und Schülerinnen Sigmund Freuds und anderer Psychoanalytiker auffallend viele Ostjüdinnen treffen.50 Eine dritte Strategie richtete sich auf die Armenpflege, die öffentliche Wohltätigkeit als Ersatz für den Funktionsverlust, wiederum ähnlich wie bei den nichtjüdischen bürgerlichen Frauen. Diese Sozialfürsorge ging über die traditionelle jüdische Wohltätigkeit hinaus, die alle Juden verpflichtete, ärmere und benachteiligte Menschen zu unterstützen – privat etwa durch Verköstigung oder organisiert durch Vereine und Bruderschaften, die chevrot. Jetzt sollte die Hilfe »zur Arbeit erziehen«, Bildung vermitteln – so wurden nun Schulen eingerichtet und unterhalten.51 Auch hier wird wieder deutlich, wie stark das Ostjudentum in Bewegung geraten war und wie sehr es unter der Oberfläche brodelte. So wurde 1880 in der wichtigsten Zeitschrift der jüdischen Assimilationsanhänger in Polen, »Izraelita«, von einer chevra kadiša – einer Beerdigungsbruderschaft, die zugleich eine zentrale Stellung in der Gemeinde einnahm – berichtet, sie habe sich als eine Vereinigung von »Rüpeln, Dummköpfen, Frechlingen und Zechprellern« zum heimlichen Herren der Gemeinde gemacht und dabei die Bruderschaft für eigene, egoistische Interessen genutzt. Auch die einbezahlten Gelder, eigentlich für wohltätige Zwecke gedacht, seien in Form einer Darlehenskasse den ganz profanen materiellen Wünschen der Mitglieder zugute gekommen. Delikater48 Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Hg. von Hans Marquardt. Leipzig 1984, S. 38. 49 Chagall: Begegnung, S. 7; Jehudo Epstein: Mein Weg von Ost nach West. Stuttgart 1925, S.  164; s. auch Wengeroff: Memoiren, S. 127, 163, 201. Vgl. Rüthers: Tewjes Töchter, S. 243–249. 50 Sabina Spielrein: Tagebuch einer heimlichen Symmetrie. Sabina Spielrein zwischen Jung und Freud. Hg. von Aldo Carotenuto, Freiburg i. Br. 1986; Kłańska: Schtetl, S. 99–100, 340–346, 440 u. ö. (Helene Deutsch); Rüthers: Tewjes Töchter, S. 243–249; Hödl: Bettler, S. 123–124. 51 Wie Anm. 27.

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weise waren es dann – von den Assimilierten nicht eben geschätzte – Chassidim, die die Gemeindemitglieder auf ihre Seite brachten, eine eigene chevra kadiša gründeten und die alte Vereinigung entmachteten. Dieses extreme, aber keineswegs untypische Beispiel veranschaulicht, dass in vielen Fällen die traditionellen Gemeindestrukturen erstarrt und eine Oligarchie zum eigenen Vorteil schaltete und waltete, dass oft dann nicht von Reformkräften, sondern von den Chassidim der Anstoß zur Erneuerung ausging.52 Sechs Jahre später schrieb derselbe Korrespondent der Zeitung über eine in Warschau geplante »Gesellschaft für gegenseitige Krankenhilfe«. Vordergründig die Tradition der Bruderschaft zur Krankenpflege, des Bikur Cholim, fortsetzend, unterscheide sie sich dennoch grundsätzlich von dieser: Die Zielsetzung einer gegenseitigen Hilfeleistung bedeute, dass nur die Mitglieder der Gesellschaft in den Genuss der Pflege kämen und nicht wie früher eine allgemeine Wohltätigkeit geleistet werde. Dies bevorzuge die Reichen und sei deshalb abzulehnen.53 In der Kritik ging der Autor offenkundig zu weit, aber deutlich wird, dass die Gesellschaft – ebenso wie die genannten Funktionen weiblicher Wohltätigkeit – Audruck einer neuen Tendenz waren: Die Verarmung der jüdischen Gemeinschaft hatte derartige Formen angenommen, dass die herkömmlichen Mittel der Wohltätigkeit nicht mehr ausreichten. Der Zweck der Wohltätigkeit musste deshalb sein, zur Selbsthilfe anzuregen. Neben die Bereiche, die sich auf die Behebung unmittelbarer Not richteten – Krankenpflege, Waisenkinder, Begräbnis, Aussteuer, Bekleidung –, traten nun Schulen, Weiterbildungskurse vor allem in technischen Fertigkeiten, aber auch zur Betätigung in der Landwirtschaft und überhaupt berufsorientierte Vereinigungen, Kreditbeschaffungsgesellschaften und nicht zuletzt kulturelle Organisationen. Dabei übernahmen viele der neuen chevrot das bürgerliche Gedankengut der nichtjüdischen Umgebung und verbanden die Wohltätigkeit mit einem Leistungsanspruch: Man musste sich durch Arbeit nützlich machen und schliesslich auch Erfolge vorweisen, sonst verlor man die Berechtigung auf Unterstützung. Damit wandelten sich die traditionellen jüdischen Vorstellungen von Solidarität. Als Gegengewicht dazu gründeten sich chevrot unter den armen Juden, vor allem in den Industriebezirken, in denen unter dem Einfluss sozialistischen Gedankengutes die Solidarität in einem neuen Sinn großgeschrieben wurde. Später gingen häufig Gewerkschaften aus ihnen hervor. Hervorzuheben ist, dass trotz des bürgerlichen Leistungsbegriffs und der inneren Streitigkeiten die so52 Izraelita 15 (1880), Nr. 4 (11./23.1.1880), S. 31, Bericht von Herman Neumanowicz. 53 Izraelita 21 (1886), Nr. 36/37 (5./17.9.1886), S. 292, Bericht von Herman Neumanowicz (Hinweis von François Guesnet auf beide Vorgänge; vgl. ders.: Juden, S. 361–363, 436–437).

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ziale Verpflichtung nach wie vor als »gemeinsame Sache der Judenheit eines Ortes« verstanden wurde.54 Ein weiteres Beispiel mag die Veränderung jüdischer Lebenswelten aufgrund der radikalen sozialökonomischen Prozesse verdeutlichen. Seit 1885 mussten auch in Polen und im Ansiedlungsrayon die Lehrer der Chederschulen eine Konzession beantragen. Die damit verbundenen Bedingungen konnten sich viele dieser armen melamdim nicht leisten, und sie führten ihre Schulen illegal weiter. Da ihr Schulgeld niedriger war als das in den konzessionierten chadarim, hatten sie mehr Schüler. Es kam zu harten Konkurrenzkämpfen, in denen die konzessionierten Lehrer auch nicht vor einer Einschaltung der zaristischen Behörden und vor Denunziationen zurückschreckten. Allerdings blieben viele Schulen unentdeckt, weil »die Geheimen sie nicht preisgeben, da es sich um fromme geistliche Leute handelt«.55 Die zaristische Verwaltung war hilflos. Letztlich scheiterten – jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – alle Versuche der Behörden wie der reformorientierten, assimilierten Juden, Schulen zum Erfolg zu verhelfen, die entsprechend den staatlichen Lehrplänen unterrichteten. In Warschau gab es zum Beispiel 1892 fünfzehn öffentliche jüdische Schulen mit sage und schreibe 826 Schülerinnen und Schülern, hingegen 529 chadarim mit 26.186 Kindern. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich dieses Verhältnis nur unwesentlich verändert.56 Die Krise des traditionellen Selbstverständnisses und die Suche nach neuen Orientierungen schlugen sich auch, wie bereits mehrfach angedeutet, in der belletristischen Literatur nieder. Bei der Rekonstruktion jüdischen Lebens stellt diese eine einzigartige Quelle dar.57 Die verschiedenen jüdischen Autoren, selbst

54 Das zeigt eindringlich Guesnet: Juden. 55 Staatsarchiv Lodz, Akta Policmajstra Łodzi, Nr. 1543, Anonymer Brief eines Melameden, vermutlich Juli/August 1902 (Hinweis von François Guesnet). 56 Guesnet: Juden, S. 59–60; Andlauer: Hindernisse, S. 88–89; M. J. Adamczyk: La jeunesse juive dans des écoles secondaires en Galicie autrichienne 1848–1914. In: Revue des Etudes Juives 156 (1997) S. 173–189. Vgl. Paweł Samuś: Łódź an der Jahrhundertwende – Stadt der Polen, Deutschen und Juden. In: Zwischen Abgrenzung und Assimilation – Deutsche, Polen und Juden. Schauplätze ihres Zusammenlebens von der Zeit der Aufklärung bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Hg. von Robert Maier und Georg Stöber. Hannover 1996, S. 159–174. Zu Lodz vgl. Polen, Deutsche und Juden in Lodz 1820–1939. Eine schwierige Nachbarschaft. Hg. von Jürgen Hensel. Osnabrück 1999. 57 Im Folgenden stütze ich mich teilweise auf Vorarbeiten, die Peter Bollag im Rahmen unseres Forschungsprojektes geleistet und dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. Selbstverständlich können hier nur einige Hinweise gegeben werden.

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auf dem Weg zu einer neuen Identität,58 setzten sich intensiv mit den Umbrüchen in der Gesellschaft wie in der jüdischen Gemeinschaft auseinander und reflektierten vielfach die alternativen Strategien, damit fertig zu werden. Auf diese Weise liefern sie auch wertvolle Informationen über die jeweiligen Lebenswelten, die – im Kontext betrachtet – unschätzbare Aufschlüsse über den Wandel der Verhältnisse sowie des Denkens und Handelns vermitteln.59 Charakteristisch vor allem für die frühen Autoren ist, dass sie über ihre Texte anstreben, sich in Einklang mit ihrer Lesergemeinde zu setzen. Daraus lässt sich schließen, dass sie an deren Lebensumständen und Erfahrungen anknüpfen müssen. Die »klassischen« ostjüdischen Dichter – Mendele Mojcher Sforim (1836–1917), Jizchak (Isaac) Leib Perez (1852–1915), Scholem Alejchem (1859–1916) – suchten dabei die Nähe zum Alltag im Schtetl. Andere hingegen, die wie Karl Emil Franzos (1848–1904) den Weg zur Akkulturation oder gar Assimilation als angemessen ansahen, wollten die Leser gewinnen, dem in ihrer Sicht unerträglichen, muffigen Ghetto zu entfliehen.60 Eine Sonderstellung nimmt Anskij (Schlojme Zejnvil Rappoport, 1863–1920) ein, der nicht nur mit seinen Dichtungen berühmt wurde, sondern auch als ethnographischer Forscher jüdisches Leben dokumentierte.61 Zugleich repräsentiert er eine Richtung, die die jüdische Tradition mit der russischen Kultur verbinden wollte.62 Spätere Schriftsteller, für die als Beispiele Schalom Asch (1881–1957), die Brüder Israel Joshua und Isaac Bashevis Singer (1883–1944 bzw. 1904–1991), David Bergelson (1884–1952), Pinhas Kahanowitsch »Der Nister« (1884–1950) oder Samuel Joseph Agnon (1888–1970) stehen, beschreiben die ostjüdische Welt des 19. Jahrhunderts, deren Ausläufer sie noch kennengelernt hatten, bereits aus der Distanz, wenngleich keineswegs neutral. Chaim Grade (1910–1982), der sich vom religiösen Judentum gelöst hatte, wollte dennoch in seinen späteren 58 Vgl. allgemein: Gershon Shaked: Die Macht der Identität. Essays über jüdische Schriftsteller. Frankfurt a. M. 1986 (Nachdruck 1992). 59 Zur Nutzung belletristischer Literatur als historischer Quelle vgl. Rüthers: Tewjes Töchter, S. 30–37. 60 Bezeichnenderweise schrieb Franzos nicht in Jiddisch, sondern in der Bildungssprache Deutsch. Vgl. Kenneth H. Ober: Die Ghettogeschichte. Entstehung und Entwicklung einer Gattung. Göttingen 2001, S. 66–72 (mit weiterer Literatur). 61 Am bekanntesten ist: An-Ski: Der Dibbuk. Dramatische Legende in vier Bildern. Hg. von Horst Bienek. Frankfurt a. M. 1989. Zu den ethnographischen Forschungen Semyon Ansky: The Jewish Artistic Heritage. An Album. Moscow 1994; Leben im russischen Schtetl. Auf den Spuren von An-Ski. Jüdische Sammlungen des Staatlichen Ethnographischen Museums in Sankt Petersburg (Ausstellungskatalog). Köln, Frankfurt a. M. 1993. 62 Dazu Claudia Nys: »Von zweifachem Feuer die Seele entbrannt«. Zum Selbstverständnis der jüdischen Intelligencija im Spiegel der russischsprachig-jüdischen Literatur 1881– 1922. Unveröffentl. Diss., Univ. Potsdam 1998.

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Werken den Alltag der Juden von Wilna mit ihrer Armut, ihrer Religiosität und ihrer Auseinandersetzung mit den neuen Bedingungen rekonstruieren.63 Einige vermitteln ihre eigene Überzeugung als neue Orientierung. Selig Schachnowitz (1874–1952) etwa setzt auf die Kraft des Glaubens.64 David Einhorn (1886– 1973) fällt als Jiddisch schreibender Lyriker aus dem Rahmen. Anders als die meisten jüdischen Autoren drückte er eine naturverbundene Sehnsucht aus, sah zugleich den Dichter als Propheten in einer Welt des Übergangs und befand sich selbst immer auf der Suche.65 Julian Stryjkowski (1905–1998), der für sich zunächst den Weg zum Kommunismus gegangen war, sich aber seit 1939 allmählich davon zu lösen begann, schildert die jüdische Gesellschaft Galiziens in ihrer ganzen Vielfalt und mit ihren Orientierungsalternativen.66 Exemplarisch sollen einige Problemkreise der jüdischen Literatur skizziert werden, die bei der Lektüre auffallen. Ein wichtiges Themenfeld sind die Geschlechterbeziehungen. Aufklärerische und romantische Vorstellungen herrschen vor. So wird der Mangel an Zärtlichkeit bei Liebes- und Ehepaaren häufig der religiösen Lebensweise zugeschrieben. Ausbrüche aus der strengen Sittlichkeit vollziehen sich – im übrigen eher in den industrialisierten Städten als auf dem Land – in den Unterschichten oder in Beziehungen zwischen Jüdinnen und Christen, seltener zwischen Juden 63 Dazu Sandra Studer: Erinnerungen an Vilna, 1918–1939. Die jüdische Lebenswelt in den literarischen Werken Chaim Grades. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 2002. Eher von außen nähert sich trotz (zu dieser Zeit) Identifikation mit dem Ostjudentum José Orabuena (eigentlich Hans Sochaczewer, 1892–1978): Groß ist deine Treue. Roman des jüdischen Wilna. Freiburg usw. 1981. Dazu Michael Garleff: Jüdische Autoren aus Litauen. In: Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Hg. von Hans Henning Hahn und Jens Stüben. Frankfurt a. M. usw. 2000, S. 173–205, hier S. 180–189; Andreas Heinecke: Das Ostjudentum im Werk von José Orabuena. Frankfurt a. M. 1990. 64 Selig Schachnowitz: Skizzen aus Litthauen. Frankfurt a. M. 1911; ders.: Luftmenschen. Roman aus der Gegenwart. Frankfurt a. M. 5672 – 1912. Der aus Litauen stammende Schachnowitz war zeitweise in der jüdischen Gemeinde von Endingen (Schweiz) tätig. Vgl. Ober: Ghettogeschichte, S. 98–100; Garleff: Jüdische Autoren aus Litauen, S. 189–191. 65 Shifra Kuperman: David Einhorn. Biographische Skizze. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Basel 2001 (die Autorin konnte Einhorns Nachlass bis 1917 auswerten, der sich 1996 in einem Depot der Schweizerischen Nationalbank fand). 66 Julian Stryjkowski: Stimmen in der Finsternis. Berlin 1963; ders.: Asrils Traum. An den Weiden ... unsere Harfen. Zwei Erzählungen. Frankfurt a. M. 1995; ders.: Austeria. Frankfurt a. M. 1968; ders.: Echo. Berlin 1995. »Austeria« als historische Quelle für die Situation der Juden im Ersten Weltkrieg nutzt intensiv Frank Michael Schuster: Die Lebenswelten osteuropäischer Juden während des Ersten Weltkrieges. Die Juden in den Gebieten Litauens, Kongresspolens, Galiziens und der Bukowina 1914 bis 1919. Unveröffentl. Diss., Univ. Basel 2002 [jetzt ders.: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919). Köln usw. 2004].

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und Christinnen.67 Aufgezeigt wird der Widerspruch zwischen arrangierten, erzwungenen Heiraten und dem Ideal der romantischen Liebe. Die Funktion des Heiratsvermittlers, des Schadchens, wird überwiegend kritisch dargestellt, als ein Kuhhandel, der auf die Gefühle der »Partien« keine Rücksicht nimmt. Doch auch bei der unmittelbaren Werbung der Eltern stehen ökonomische Gründe großenteils im Vordergrund. Die auf diese Weise verheirateten junge Frauen sterben frühzeitig an »gebrochenem Herzen«. Scharf kritisieren manche Autoren deshalb die Ver-Dinglichung der jüdischen Ehe, die Verheiratung als Geschäft, die die Menschen als Waren handelt.68 Ebenso wird die überlieferte Rollenverteilung in der Ehe in Frage gestellt: Der Ehemann soll, entsprechend den neuen ökonomischen Zuständen, der »Ernährer« der Familie sein. Das Ideal des »Lerners«, des religiös-geistigen Gelehrten, das oft mit Lebensuntüchtigkeit einher ging und der Frau die entscheidende wirtschaftliche Funktion in der Familie zuschrieb, tritt dahinter zurück.69

67 Der Wandel der Sexualität zeigt sich häufig in den Texten, die in den folgenden Anmerkungen zitiert werden. Zu den konfessionsübergreifenden Liebesbeziehungen, die als unmissverständliche Hinweise auf die gesellschaftlichen Umbrüche verstanden werden, vgl. etwa Isaak Leib Perez: Eine Buße. In: ders.: Der Prozess mit dem Wind. Jiddische Geschichten und Skizzen. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1988, S. 147–159; Karl Emil Franzos: Die Juden von Barnow. Geschichten. Reinbek 1990 (mehrere Erzählungen); ders: Judith Trachtenberg. Erzählung. Hg. von Günter Creutzburg. Berlin 1987 (dazu Florian Krobb: »Auf Fluch und Lüge baut sich kein Glück auf»: Karl Emil Franzos’s Novel Judith Trachtenberg and the Question of Jewish Assimilation. In: The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective. Hg. von Ritchie Robertson und Edward Timms. Edinburgh 1994, S. 84–93; Petra Ernst: Christlich-jüdische Liebesbeziehungen als Motiv deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920. In: Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaften des österreichischen Judentums. Hg. von Klaus Hödl. Innsbruck usw. 2000, S. 209–242, hier S. 217–221). 68 Dies wird vor allem in mehreren Erzählungen Scholem Alejchems (etwa »Unterwegs nach Heissin») und Perez’ deutlich (z. B. »Kein Glück») oder auch bei Samuel Joseph Agnon: Eine einfache Geschichte. Frankfurt a. M. 1987. Der Widerspruch zwischen den überlieferten Formen und neuen Wegen der Geschlechterbeziehungen kommt etwa in Scholem Alejchems »Tewje«, in Mendele Mojcher Sforims »Wunschring« oder in seinem »Fischke der Lahme« zum Ausdruck. Die neue Zeit wird dann bei den späteren Schriftstellern sichtbar, wenn die Frauen aus ihrer herkömmlichen Rolle ausbrechen und sich allgemein das Frauenbild verändert hat. Vgl. Schalom Asch: Mottke der Dieb. München 1987; Isaac B. Singer: Das Landgut. München 1981; ders.: Das Erbe. München 1983; ders.: Die Familie Moschkat. München 1986; Kreitmann: Deborah; David Bergelson: Leben ohne Frühling. Berlin 2000. 69 Etwa Jizchok Lejb Perez: Adam und Eva. Novellen. München 1919 (mehrere Erzählungen). Beide Auffassungen finden sich in: Pinhas Kahanowitsch genannt Der Nister: Die Brüder Maschber. Das jiddische Epos. Frankfurt a. M. o. J.

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Das Erziehungswesen ist ein weiterer Bereich, der im Zentrum des Interesses steht. Das traditionelle Schulsystem wird, bei aller Liebe zu den dort vermittelten jüdischen Werten, kritisiert. Es sei den neuen Rahmenbedingungen nicht gewachsen und von der Anwendung körperlicher Gewalt seitens unfähiger Lehrer, der melamdim, geprägt. Einige Autoren machen für diese Entwicklung die sich vergrößernde Armut verantwortlich, die die Entfremdung zwischen Eltern und Kindern verstärke und jene dazu zwinge, deren Erziehung fast vollständig in die Hände der melamdim zu legen.70 Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wird der religiöse,71 soziale und ökonomische Wandel thematisiert, insbesondere die soziale Polarisierung zwischen den wenigen Reichen und den immer zahlreicher werden Armen. Nicht die Religiosität, der Grad der Gelehrsamkeit, zeigt nun den Status an, sondern der ökonomische Erfolg. Damit nehmen der Druck des Geldes und des Marktes, Neid und Konkurrenz zu.72 Sie bedrohen den jüdischen Zusammenhalt und nicht zuletzt auch das Familienleben. Gerade aus diesen Problemen erwachsen neue, unterschiedliche Wertvorstellungen, Lebensstile und Zukunftsentwürfe, die zu heftigen inneren Konflikten führen.73 Damit einher geht auch Gewalt. War sie ursprünglich, vielleicht abgesehen von den Strafen im cheder, hauptsächlich verbunden mit dem Verhalten von Nichtjuden gegenüber Juden, wird sie zunehmend auch zu einem innerjüdischen Problem. Gegen Diebstahl reicht nicht mehr, wie bisher, die soziale Kontrolle im Schtetl.74 In den unübersichtlichen Städten greift er um sich, und selbst Morde sind nicht mehr selten. In der Regel werden sie den elenden Verhältnissen, dem verdorbenen Milieu städtischer Unterschichten, zur Last gelegt.75 Eine 70 Dies wird mehrfach von Mendele Mojcher Sforim (etwa in »Schloimale») oder Schalom Asch (z. B. in »Mottke der Dieb») thematisiert. Vgl. auch Karl Emil Franzos: Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten. Frankfurt a. M. 1988, S. 40. Zur Gewalt in der Familie etwa Israel Joshua Singer: Die Brüder Aschkenasi. München, Wien 1986, S. 121. 71 Etwa die Kämpfe zwischen Chassidim und Misnagdim (z. B. Franzos: Der Pojaz, S. 44/45; immer wieder macht Franzos die Chassidim auch für verhängnisvolle Folgen von Unwissenheit und Fanatismus verantwortlich) oder auch die Auseinandersetzungen zwischen chassidischen Richtungen (z. B. Perez: Chassidische Geschichten. Wien, Berlin 1917, S. 54 ff.). Die Belebung des Chassidismus seit Ende des 19. Jahrhunderts schildert Isaac B. Singer in seinen Werken. 72 Dies greift vor allem Scholem Alejchem auf. Vgl. auch Kahanowitsch: Die Brüder Maschber, und die Werke der Brüder Singer. 73 Eindrucksvoll belegen das die Werke des Nisters, der Brüder Singer oder Stryjkowskis. 74 Diese zeigt sich mit ihrem großen Druck, den sie für den Einzelnen bedeutete, in fast allen hier herangezogenen Werken. 75 Vgl. Mendele Mojcher Sforim: Wunschring; Asch: Mottke der Dieb; Isaac B. Singer: Der Zauberer von Lublin. Reinbek 1979; Kahanowitsch: Die Brüder Maschber. Die jüdische

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besondere Spielart jüdischer Gewalt sind die chapper, die Rekrutenfänger, die im Auftrag der Gemeinden das Kontingent jüdischer Rekruten für die Armee sicherstellen – also auch ein Ausfluss der grundlegenden Veränderungen während des 19. Jahrhunderts.76 Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden tauchen – abgesehen von Liebesbindungen oder von der Anstellung eines Schabbes-goj für die Erledigung von Arbeiten, die Juden an Ruhetagen verboten sind – weniger im persönlichen Bereich als im geschäftlichen auf.77 Manchen Verhaltensweisen von Christen, etwa ihren Trinkgewohnheiten, fühlen sich Juden überlegen.78 Zur Sprache kommt die wachsende Judenfeindschaft, die manchmal als »Krankheit« bezeichnet, aber auch als politisches Ventil interpretiert wird. Immer wieder ist von behördlichen Eingriffen und Schikanen die Rede, bei der Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage, bei der Schul- und Militärpflicht, bei der Kleiderordnung, den Steuern, der Selbstverwaltung.79 Die Lektüre der jüdischen belletristischen Literatur vertieft und differenziert somit den durch andere Quellen gewonnenen Eindruck, dass das Leben innerhalb der jüdischen Gemeinschaft keineswegs eine Idylle war. Konflikte, Streit, Neid, Hass und Gewalt gab es auch hier. Die Solidarität untereinander bröckelte oft, obwohl die Grundüberzeugung von der gemeinsamen sozialen Verpflichtung bewusst blieb. Daraus entstand dann der Anlauf, sie unter neuen Vorzeichen und in veränderten Formen wieder zu beleben. Dies weist schon darauf hin, dass es trotz der Auflösungstendenzen und Richtungsunterschieden immer noch – oder vielleicht sogar: wieder neu erstarkte – Bande der Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit gab. Gegen-

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Unterwelt in Odessa beschreibt Isaac Babel (1894–1941): Werke. Erster Band. Hg. von Fritz Mierau. Berlin 1973, S. 149–215. Etwa Mendele Moicher Sfurim: Die Fahrten Binjamins des Dritten. 2. Aufl. Olten 1983, S. 102–116. Das lässt sich in fast allen der zitierten Werke zeigen. Vgl. nur Perez: Chassidische Geschichten, S. 161 ff.; Scholem Alejchem: Eine Hochzeit ohne Musikanten. In: ders.: Eisenbahngeschichten. Hg. von Gernot Jonas. Frankfurt a. M. 1995, S. 108–115. All dies kommt wiederum, wenngleich mit unterschiedlichen Akzenten, in den meisten Werken zum Ausdruck. In Franzos’ Bildungsroman »Der Pojaz« akzeptiert die Hauptperson die Kleiderordnung und beginnt damit den Aufbruch aus dem Ghetto (S. 275). Beispiele für gewaltsame Ausschreitungen gegen Juden oder deren Drohung: Scholem Alejchem: Ein Pessach im Dorf. In: Jiddische Erzählungen von Mendele Mojcher Sforim, Jizchak Lejb Perez, Scholem Alejchem. Hg. von Neo Nadelmann. Zürich 1984, S. 310–325; ders.: Eine Hochzeit ohne Musikanten; zur Einschätzung als »Krankheit« etwa Mendele Mojcher Sforims »Der Wunschring« und »Schloimale«. Vgl. auch Magdalena Opalski, Israel Bartal: Poles and Jews. A Failed Brotherhood. Hanover, London 1992.

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über der zaristischen Bürokratie gelang es, die eigenen Lebensformen, zu denen der traditionelle cheder gehörte, zu bewahren und den Verfolgungen und Diskriminierungen zu widerstehen. Dies galt weit über den schulischen oder wohltätigen Bereich hinaus. 1822 waren für Polen der Kahal als Gemeindeorganisation ebenso wie die chevrot, die Vereinigungen oder Bruderschaften, abgeschafft worden (1844 dann im gesamten Russischen Reich). Später wurde auch die jüdische Tracht im Alltag – außer für religiöse Zwecke – verboten. Wiederum konnten all diese Bestimmungen letztlich nicht durchgesetzt werden, obwohl es in Einzelfällen zu schlimmen Strafen für Juden kam. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten autonome jüdische Organisationen illegal nach wie vor – mit stillschweigender Duldung der Behörden, aber auch gegen sie. Die meisten Juden lebten weiterhin eigenständig und entwickelten ihre eigenen internen Rechtsvorstellungen. Dieser unter großen Schwierigkeiten verteidigte hohe Grad an Autonomie und Selbstbehauptung trug wesentlich zu Solidarität und Selbstbewusstsein bei, die – bei allen Problemen und Streitigkeiten – die jüdische Lebenswelt in Osteuropa bis in unser Jahrhundert auszeichneten.80 Das Wissen um die lange Tradition der Selbstverwaltung, zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert gipfelnd in einer höchsten Vertretung im Königreich PolenLitauen – dem »Judenreichstag« –, mag diese Haltung ebenso verstärkt haben wie die Anerkennung des Jiddischen als eigenständige Sprache oder die Erfolge im nationalen Ausgleich in der Bukowina 1910.81

80 Dies belegt eindrücklich Guesnet, Juden. Assaf: Der königliche Hof, S. 40, weist darauf hin, dass auch der Zaddik-Hof »als eine autarke, autonome jüdische Enklave« betrachtet werden kann, als »eine Art Miniaturstaat, der unabhängig von äußeren Faktoren zu funktionieren und auf diese Weise nicht nur den Platz der alten jüdischen Gemeinde, sondern auch die Stelle der ihn umgebenden größeren politischen Einheit einzunehmen schien.« Zu einem besonderen Aspekt Theodore R. Wecks: Zwischen zwei Feinden: Polnischjüdische Beziehungen und die russischen Behörden zwischen 1863 und 1914. Hg. vom Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur. Leipzig 1998. 81 Vgl. Susanne Marten-Finnis, Heather Valencia: Sprachinseln: Jiddische Pressestimmen in London, Wilna und Berlin, 1880–1930. Köln usw. 1999; Michael John, Albert Lichtblau: Mythos »deutsche Kultur«. Jüdische Gemeinden in Galizien und der Bukowina. Zur unterschiedlichen Ausformung kultureller Identität. In: Studien zur Geschichte der Juden in Österreich. Hg. von Martha Keil und Eleonore Lappin. Bodenheim 1997, S. 81–121, hier bes. S. 108–109; Trude Maurer: Eintracht der Nationalitäten in der Bukowina? Überprüfung eines Mythos. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001) S. 180–191; Martin Broszat: Von der Kulturnation zur Volksgruppe. Die nationale Stellung der Juden in der Bukowina im 19. und 20. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 200 (1965) S. 572–605, hier bes. S. 594–595.

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Bei der Durchsicht autobiographischer Quellen, anderer Selbstzeugnisse sowie jüdischer Belletristik, die auch als Selbstzeugnis gelesen werden kann,82 sticht ins Auge, dass eine Reihe von Männern, die sich aus der traditionellen Rolle gelöst und in ein bürgerliches Fortschrittsverständnis vorgestoßen war, aufgrund der Pogrome und der offen gezeigten Judenfeindschaft weiter Kreise in Ost- und Westeuropa eine Wende vornahm und versuchte, sich auf die Wurzeln des Judentums zurückzubesinnen, ohne das Erreichte gleich wieder aufzugeben. Auch diejenigen, die sich nach wie vor in die bestehende Gesellschaft integrieren wollten, verstanden sich bewusst als Angehörige einer eigenen, eben jüdischen Kultur. Andere – gerade auch Frauen – begrüßten das Aufkommen des Zionismus als Zeichen, dass ein neuer Weg zum Kern des Judentums beschritten wurde.83 Obgleich sich hier auch die Übernahme nationalistischen Gedankengutes aus der nichtjüdischen Umwelt niederschlug, war doch das Bestreben unverkennbar, herauszubekommen, was denn nun das eigentlich Jüdische sei. Für dieses Motiv spricht nicht zuletzt, dass der aktive Einsatz für das Ziel, in Palästina einen Judenstaat zu errichten, auf einen verhältnismäßig kleinen, wenngleich höchst tatkräftigen Kreis beschränkt blieb. Viel mehr Resonanz fand die Idee, eine Lösung in dem Land zu finden, in dem man lebte, sich hier als autonome Gemeinschaft zu formieren, die Gleichberechtigung mit anderen Ethnien zu erlangen und gemeinsam eine angemessene Staats- und Gesellschaftsform aufzubauen. Nationaljüdische Gruppierungen erhielten deshalb beachtlichen Zuspruch, ebenso wie jüdisch-autonomistische Gruppierungen in der Arbeiterbewegung, die über den Klassenkampf letztlich eine internationalistische Lösung auch der »Judenfrage« anstrebten. Nicht zufällig fand die Gründungsversammlung des jüdischen Arbeiter-»Bundes« im selben Jahr wie der Erste Zionistenkongress 1897 statt.84 82 Ein Selbstzeugnis wird hier als Bestandteil der Quellengruppe »Ego-Dokumente« verstanden, in dem die Person des Verfassers bzw. der Verfasserin »selbst handelnd oder leidend in Erscheinung« tritt oder »explizit auf sich selbst Bezug« nimmt: Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994) S. 462– 471, Zitat S. 463; Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? In: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlass seines 65. Geburtstages. Hg. von Bea Lundt und Helma Reimöller. Köln usw. 1992, S. 417–450. 83 Vgl. Rüthers: Tewjes Töchter, S. 233–234, 255–258 (auch zum Folgenden). 84 Haumann: Zionismus, S. 21–31 (und weitere Beiträge in diesem Band); kürzer schon ders.: Judentum und Zionismus. In: Zionistenkongress, S. 2–21, hier S. 6–11; Gillian Cavarero: Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland. Ebd., S. 91–95; 100 Jahre Zionismus – 100 Jahre »Bund«. Gedächtnis und Neuorientierung an der Wende des 20./21. Jahrhunderts. Jüdische Antworten auf das 19. Jahrhundert. Basel

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Hierin kommt zum Ausdruck, dass sich ein Bewusstsein einer eigenen ostjüdischen »Kulturpersönlichkeit« gebildet hatte, obwohl man selbstverständlich von gemeinsamen Wurzeln aller Juden ausging und die messianische Erlösungsidee durchaus lebendig blieb.85 Aber man wollte mehrheitlich eigentlich die Erlösung – religiös oder weltlich – dort, wo man lebte. Hier ist die Linie zu den Anfängen im 18. Jahrhundert deutlich zu spüren: Der Chassidismus hatte die Revolution im Innern des Menschen zum Ziel, in jedem stecke die Erlösung selbst, und der Frankismus setzte geradezu zum Dogma, dass die Erlösung im Exil – also eben nicht in Palästina – stattfinden werde und durch aktives Handeln angestrebt werden müsse.86 Das also schälte sich schrittweise heraus: ein neues, spezifisch ostjüdisches Selbstverständnis, ein neues Selbstbewusstsein quer zu allen religiösen und politischen Gruppierungen, das in der Tradition stand, in der gemeinsamen Erinnerung, und sich ihr bewusst war, aber sich auch den Widersprüchen der 1997 [= Judaica 53 (1997) H. 1–2]; Zionism and its Jewish Opponents. Hg. von Haim Avni und Gideon Shimoni. Jerusalem 1990; Leonard Bloom: The Bund and the Zionist Movement in the Early Years. In: Judaism. Journal of the American Jewish Congress (1984) S. 479–484; Catherine Schott: Die Anfänge der zionistischen Bewegung in Kongresspolen 1897–1900. In: Scripta Judaica Cracoviensia 1 (2002) S. 81–111. Vgl. auch Leila P. Everett: The Rise of Jewish National Politics in Galicia, 1905–1907. In: Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia. Hg. von Andrei S. Markovits und Frank E. Sysyn. Cambridge, Mass. 1982, S. 149–177; Iaroslav Isaievych: Galicia and the Problems of National Identity. In: The Habsburg Legacy, S. 37–45. 85 Der Begriff stammt von Nathan Birnbaum: M. A. (vermutlich Mathias Acher, Pseudonym von Birnbaum): »Polnische Juden«. In: Der Jude 1 (1916/17) S. 561–562, hier S. 561. Vgl. Nathan Birnbaum: Was sind Ostjuden? Zur ersten Information. Wien 1916, bes. S. 15; auch seine Rede am 1. Zionistenkongreß: Zionisten-Congress in Basel (29., 30. und 31. August 1897). Officielles Protocoll. Wien 1898, S. 82–94. Zu Birnbaum s. Kerstin Griese: Kulturzionismus und die Bedeutung des Ostjudentums. Unveröffentl. Magisterarbeit, Univ. Düsseldorf 1997. Birnbaum hat sich in zahlreichen Schriften mit dem Problem des Ostjudentums beschäftigt. Die Geschichte des Begriffs »Ostjude« muss noch geschrieben werden. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass er aus dem innerjüdischem Sprachgebrauch heraus entstanden ist. Dass der Ostjude dann als Klischee in der antisemitischen Agitation eine wichtige Rolle spielte, sollte nicht dazu führen, auf die Bezeichnung zu verzichten. Vgl. Trude Maurer: Ostjuden in Deutschland 1918–1933. Hamburg 1986, S. 11– 16. Nur die Sichtweise der Außenwahrnehmung schildert Ludger Heid: »Der Ostjude«. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps und Joachim Schlör. München 1995, S. 241–251. 86 Zu Franks Exil-Dogma Gershon Scholem: Der Nihilismus als religiöses Phänomen. In: ders.: Judaica 4. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1984, S. 129–188, hier S. 181; Haumann: »Jakob«, S. 446, 453 mit Anm. 30. Zu Versuchen, ihn mit der Wiederherstellung eines jüdischen Staates in Palästina in Verbindung zu bringen, vgl. Duker: Polish Frankism’s Duration, S. 309 mit Anm. 123.

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neuen Zeit stellte, sich also keineswegs als homogen verstand und die heftigen inneren Konflikte nicht überdeckte.87 Über den Weg, ostjüdische Lebenswelten zu rekonstruieren, eröffnen sich somit neue Perspektiven – etwa auf das gleichberechtigte Zusammenleben verschiedener Nationalitäten und »Kulturpersönlichkeiten« oder auf eine neue kulturelle Mittlerfunktion der Juden, nicht zuletzt aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit.88 Es lohnt sich, ihnen weiter nachzugehen, selbst wenn sich derzeit häufig die Fragen nur durch Fragen beantworten lassen.89

87 Guesnet: Juden; Haumann: Geschichte, S. 161–162. 88 Vgl. dazu das Kapitel »Regionen im Porträt« in diesem Band; Desanka Schwara: Sprache und Identität: Disparate Gefühle der Zugehörigkeit. In: Jüdische Identitäten, S. 141–169; Haumann: Kommunikation, S. 344–345; sowie für die Zwischenkriegszeit Chone Shmeruk: Hebrew – Yiddish – Polish: A Trilingual Jewish Culture. In: The Jews of Poland Between Two World Wars. Hg. von Yisrael Gutman u. a. Hanover, London 1989, S. 285– 311. 89 Das dialogische Prinzip gehört zur jüdischen Tradition und hat sich etwa in einem bekannten Witz niedergeschlagen: »›Wie geht’s Ihnen?‹ wird der kleine Lehrer Mendel Fass in Prag [der Ort kann wechseln] gefragt. ›Nu, wie soll’s mir gehen?‹ antwortet er trübselig. ›Was macht Ihre Frau?‹ – ›Nu, was soll sie machen?‹ – ›Und Ihre Kinder? Gesund?‹ – ›Wie sollen sie nicht gesund sein?‹ – ›Verdienen Sie jetzt wenigstens was?‹ – ›Nu, was soll ich schon verdienen?‹ – ›Jetzt sagen Sie mir aber eines, Herr Fass! Warum antworten die Juden, wenn sie befragt werden, immer wieder mit einer Frage?‹ – Mendel Fass denkt nach. Endlich spricht er: ›Nu, warum sollen sie nicht antworten mit einer Frage?‹« Zitiert in: Schwara, Humor, S. 160. Ein schönes Beispiel für das dialogische Prinzip in der jiddischen Sprache (dazu: Marten-Finnis/Valencia: Sprachinseln) und für die Bedeutung von »Geschichten« in den Dialogen sind auch die »aisnbangeschichtess« von Scholem Alejchem: Eisenbahngeschichten. Hg. Gernot Jonas, Frankfurt/M. 1995; dazu Almut Bonhage: Jüdische Eigenart im osteuropäischen Schtetl: Scholem Alejchems »aisnbangeschichtess«, in: Haumann, Zionistenkongress, S. 64–68.

Kommunikation im Schtetl Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930 *

»Die kleine Stadt liegt mitten im Flachland, von keinem Berg, von keinem Wald, keinem Fluß begrenzt. Sie läuft in die Ebene aus. Sie fängt mit kleinen Hütten an und hört mit ihnen auf. Die Häuser lösen die Hütten ab. Da beginnen die Straßen. Eine läuft von Süden nach Norden, die andere von Osten nach Westen. Im Kreuzungspunkt liegt der Marktplatz. Am äußersten Ende der Nord-Süd-Straße liegt der Bahnhof. Einmal im Tag kommt ein Personenzug. (…) Den Weg zur Bahn legt man zu Fuß in 15 Minuten zurück. Wenn es regnet, muß man einen Wagen nehmen, weil die Straße schlecht geschottert ist und im Wasser steht. (…) Die acht Droschkenkutscher sind Juden. Es sind fromme Juden, die ihre Bärte nicht schneiden lassen, aber keine allzu langen Röcke tragen wie ihre Glaubensgenossen. Ihren Beruf können sie in kurzen Joppen besser ausüben. Am Sabbat fahren sie nicht. Am Sabbat hat auch niemand etwas bei der Bahn zu suchen. Die Stadt hat 18000 Einwohner, von denen 15000 Juden sind. Unter den 3000 Christen sind etwa 100 Händler und Kaufleute, ferner 100 Beamte, einer Notar, einer Bezirksarzt und acht Polizisten. (…) Von den 15000 Juden leben 8000 vom Handel. Sie sind kleine Krämer, größere Krämer und große Krämer. Die anderen 7000 Juden sind kleine Handwerker, Arbeiter, Wasserträger, Gelehrte, Kultusbeamte, Synagogendiener, Lehrer, Schreiber, Thoraschreiber, Tallesweber, Ärzte, Advokaten, Beamte, Bettler und verschämte Arme, die von der öffentlichen Wohltätigkeit leben, Totengräber, Beschneider und Grabsteinhauer. Die Stadt hat zwei Kirchen, eine Synagoge und etwa 40 kleine Bethäuser. Die Juden beten täglich dreimal. Sie müßten sechsmal den Weg zur Synagoge und nach Hause oder in den Laden zurücklegen, wenn sie nicht so viele Bethäuser hätten, in denen man übrigens nicht nur betet, sondern auch jüdische Wissenschaft lernt. Es gibt jüdische Gelehrte, die von fünf Uhr früh bis zwölf Uhr nachts im Bethaus studieren (…). Ihre Familie, das Haus, die Kinder versorgen die Frauen, die einen kleinen Handel mit Kukuruz im Sommer, mit Naphta im Winter, mit Essiggurken und Bohnen und Backwerk betreiben. Die Händler und die andern im Leben stehenden Juden beten sehr schnell und haben noch * Erstpublikation in: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Hg. von Nada Boškovska u. a. Köln usw. 2002, S. 323–348. [Hier wird die ausführlichere Fassung des ursprünglichen Entwurfs abgedruckt, die seinerzeit gekürzt werden musste.]

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hie und da Zeit, Neuigkeiten zu besprechen und die Politik der großen Welt und die Politik der kleinen.»1 Was Joseph Roth (1894–1939) hier 1927 beschreibt, ist Brody, ein ostgalizisches Städtchen, in dem er aufgewachsen war. Ende des 16. Jahrhunderts gegründet, erhielt es 1584 das Magdeburger Stadtrecht. Im 17. Jahrhundert wurde die Stadt mit Befestigungsbauten umgeben und auch eine Synagoge im Renaissancestil errichtet. Von Anfang an lebten hier Juden, Polen und Ukrainer zusammen, durchaus gemischt in den einzelnen Strassen. Ihr wechselseitiges Verhältnis, ihre Rechte und ihre Selbstverwaltung waren genau geregelt. Vereinzelt kamen noch Armenier – ökonomisch zunächst die bedeutendste Gruppe –, Tataren und Roma hinzu, immer wieder auch Kaufleute aus anderen Ländern, die vorübergehend Liegenschaften erwarben. Die jüdische Bevölkerung konnte sich, vor allem nach der Übersiedlung der meisten Armenier nach Lemberg um die Mitte des 18. Jahrhunderts, mehr und mehr ausdehnen. 1785 stellten sie mit 86 Prozent der Einwohnerschaft den höchsten Anteil in einer galizischen Stadt. Kurz zuvor, 1779, hatte Brody den Status einer freien Handelsstadt erhalten. Ihre Kaufleute konnten in der Habsburgermonarchie und im Zarenreich uneingeschränkt und zollfrei Handel betreiben, und über sie wurde im wesentlichen der Handel zwischen beiden Ländern abgewickelt. Dies bedeutete einen ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung. Brody war Stapelplatz für Pelze, Seide, Leder und Edelsteine. Industrieanlagen, Dampfsägen, Mühlen, Spiritusbrennereien, Flachsspinnereien schossen aus dem Boden. Von Lemberg aus führte eine Eisenbahnlinie hierher.2 Neben dem offiziellen Handel spielte 1 Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft [1927/1937], in: ders., Werke, hg. v. Hermann Kesten, 3. Bd., Köln 1976, S. 291–369, hier S. 306–307. Als Kukuruz wurde, aus den slawischen Sprachen übernommen, in Österreich der Mais bezeichnet, Naphta steht für Erdöl. Bei den Einwohnerzahlen hat Roth die Verhältnisse gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor Augen, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatten sie sich erheblich verändert (s. Anm. 6). Vgl. Maria Kłańska, Österreich und Polen im Leben und Schaffen Joseph Roths, in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego MCXCV, 1996, Prace Historyczne Z. 121, S. 539–565. – Mit Carsten Goehrke verbindet mich eine langjährige Freundschaft, für die dieser Beitrag ein kleines Zeichen sein soll. Unsere Zusammenarbeit hat den Aufbau des Faches Osteuropäische Geschichte in Basel wesentlich erleichtert. Mich persönlich hat Carsten Goehrke immer wieder zu Längsschnitten und neuen Darstellungsformen ermutigt. 2 Halina Petryschyn: Die Judenviertel in der Stadtplanung und Stadtentwicklung Ostgaliziens mit besonderer Berücksichtigung der Zeit vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Juden in der Stadt, hg. von Fritz Mayrhofer und Ferdinand Opll, Linz 1999, S. 221–295, hier S. 235–239, 251–252, 259–260, 265, 274–275. Befremdlich wirkt allerdings an diesem sehr interessanten Artikel, wie die Massaker an Juden während des Aufstandes unter Führung Bohdan Chmel’nyc’kyjs 1648 heruntergespielt werden (S. 241–242). Vgl. Tadeusz Lutman, Studja nad dziejami handlu Brodów w latach 1773–

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der Schmuggel im Grenzgebiet eine wichtige Rolle – Schmuggel mit Waren, aber auch Schmuggel mit Menschen: Deserteure der zaristischen Armee, Mädchen, die in die Fremde verkauft wurden, jüdische Flüchtlinge.3 Doch nicht nur die Wirtschaft bestimmte die Stadt. Brody war auch ein Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und zugleich ein Zentrum der Chassidim, der Bewegung der »Frommen«. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es mindestens drei Synagogen und über 100 »Schtibl«, Bethäuser und Beträume.4 Im Umland stellten die Juden ebenfalls einen hohen Bevölkerungsanteil und waren in erheblichem Masse in der Landwirtschaft tätig.5 Nach der Aufhebung der Vorrechte 1880 ging es ökonomisch mit Brody bergab. Damals lebten rund 15300 Juden in der Stadt, 76 Prozent der Bevölkerung. Bis 1910 sank dieser Anteil auf etwa 67 Prozent. Und nach dem Ersten Weltkrieg war von der ehemaligen Grösse nichts mehr zu spüren. »Verfallen wie in Brody« wurde geradezu ein sprichwörtlicher Ausdruck.6 Werfen wir noch einen Blick auf eine weitere literarische Schilderung eines Schtetls, aus der Feder eines anderen jüdischen Reisenden, nämlich Alfred Döblins (1878–1957). Wie Roth bewegt er sich »auf der Scheidelinie zwischen dokumentierender Faktizität und utopischer Fiktion«, nähert sich den Verhältnissen allerdings im Unterschied zu jenem eher »von aussen«.7 Döblin fährt mit dem Zug 1924 von Lemberg nach Drohobycz, dem ostgalizischen Erdölzentrum am Karpatenrand. Auch hier leben Polen, Ukrainer und Juden zusammen, nicht zuletzt jüdische Proletarier. Wie in Brody stellen die Juden die Mehrheit

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1880, Lwów 1937; Sergei Kravtsov, Die Juden der Grenz- und Freihandelsstadt Brody, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 7, 1995, H. 27, S. 16–19; Teresa Andlauer, Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867–1914), Frankfurt a. M. 2001, S. 38–59, 70–71. Joseph Roth hat diese Situation in einer anderen Erzählung gestaltet: Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters, Köln 1977. Petryschyn, Judenviertel, S. 260. Dazu Heiko Haumann, Juden in der ländlichen Gesellschaft Polens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Schneider. Hg. v. Andrea Löw u. a. Frankfurt a. M./New York 2004, S. 35–58. Verena Dohrn, Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa, Frankfurt a. M. 1993, S. 92. Einwohnerzahlen in: Lutman, Studja, S. 125; Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie, hg. v. Albert Lichtblau, Wien usw. 1999, S. 169. Zur Verarmung der jüdischen Bevölkerung vgl. Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Stefi Jersch-Wenzel u. a., Köln usw. 2000. Vgl. Irmgard Wirtz, »Wenn der liebe Gott nach Lemberg käme, er ginge zu Fuss»: Jüdische Literatur aus Galizien, in: Reiz und Fremde jüdischer Kultur. 150 Jahre jüdische Gemeinden im Kanton Bern, hg. v. Georg Eisner, Rupert Moser, Bern usw. 2000, S. 71–86, Zitat S. 73, S. 77–78 die Rezension Döblins durch Roth.

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der Einwohnerschaft. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckten Erdölvorkommen haben dem Schtetl zwar Industrie, technischen Fortschritt und Reichtum gebracht, zugleich aber die traditionelle Sozialstruktur zerstört, Bindungen zerrissen, viele Handwerker und Händler ins Elend gestürzt.8 »Ein menschenreicher Bahnhof (…). Was kommen für Häuser! Es ist ein Dorf, eine lange morastige Straße; tief herabhängende Schindeldächer, kleine Holzhäuser, manche mit Mörtelbewurf, getüncht und gefärbt, mit bläulichen, gelben, rosa Farben bemalt. Viele grüne Vordächer werden von Holzpfeilern getragen; die sind rund zu Säulen geschnitzt, einige haben primitive Ornamentik. (…) Ein viereckiger weiter Marktplatz. Buden und Tische, Pferde, Gespann, Fiakerrreihen. Und alles in Lehm und Unrat von Stroh, Schutt, Abfällen versinkend. Eine Linie Tische hat im Mist ausgelegt bunte Tuchballen. In Buden hängen Kopftücher, Wäschestücke. Dahinter schwatzen und rufen Händler und Händlerinnen, Juden, nur Juden, mit deutschen Namen. Händler in weichen Mützen, schmutzigen Kleidern diskutieren in Gruppen auf dem Platz, vor den einstöckigen Häusern. Gebückte Alte in entsetzlich zerrissenen Kaftanen, schmierig, mit lumpigen Hosen, aufgeplatzten Stiefeln suchen am Boden in dem Unrat mit Stöcken. Einer hat einen langen gelbweißen Bart, trägt einen durchlöcherten steifen Hut mit halbabgerissener Krempe, murmelt, spielt mit den dicken Fingern, bettelt. Und dann bettelt, aus dem Gedränge am Platz hervortretend, eine ältere, sehr häßliche, schielende Frau mit unordentlichen Haaren. Und dann eine jüngere (…). Und dann ein barfüßiger Junge. Und dann ein Mann im Schlapphut (…). Alle murmeln jiddisch: ›Gebt mir was‹, ›Seid gesund‹. (…) Unterwärts des Marktes aber (…) gibt es Gassen. Es wird entsetzlich. Wer diese Gassen und ›Häuser‹ nicht gesehen hat, weiß nicht, was Elend heißt. Sind nicht Häuser, sondern Häuserreste, Buden, Scheunen, Hütten. Bretterbelegte Fenster, glaslose Fenster. Häuser ohne geschlossenes Dach – verfallene Baracken, dichtgedrängt eine neben der anderen; manche mit Kellern, die ausgemauert sind, aber wie Höhlen erscheinen. Jedes Loch übervöl-

8 Andlauer, Jüdische Bevölkerung, S. 205–224; Petryschyn, Judenviertel, S. 252, 255–256, 261, 278–279. Der Verfall der alten jüdischen Gesellschaft Drohobyczs spiegelt sich auch in den Erzählungen von Bruno Schulz (1982–1942), dessen Vater hier einen Seidenladen betrieb. Räumlicher Bezugspunkt ist immer wieder der im folgenden erwähnte zentrale Ringplatz: Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, hg. v. Mikolaj Dutsch, München 2000. Einen Eindruck von den Ölförderungsanlagen in dieser Gegend vermittelt – mit Abbildungen – Martin Pollack, Im galizischen Pennsylvanien, in: Juden in Österreich. Gestern – Heute. Hg. v. Institut für Geschichte der Juden in Österreich, St. Pölten 2001, S. 52–56.

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kert. Schrecklich leuchtet inmitten dieses Jammers ein mächtiges, frisch geweißtes Haus. Ist das ihr Zwing-Uri? Es ist die Synagoge.«9 Die Klischees in diesen Wahrnehmungen sollen hier nicht interpretiert werden.10 Beide Autoren vermitteln aber doch mit ihren subjektiven Eindrücken und Stilisierungen wichtige Hinweise. Von einer Schtetl-Idylle kann keine Rede sein. Es gibt viel Elend. Beruflich überwiegen die Händler, doch daneben steht ein breites Spektrum weiterer Tätigkeiten. Roth erwähnt noch die besondere Rolle der Frau im Geschäftsleben. Bezeichnend ist die Eigenschaft, Neuigkeiten zu besprechen, miteinander zu diskutieren, vor allem im Bahnhof, auf dem Marktplatz, in der Synagoge. Das Schtetl ist die typische räumliche Umwelt der Juden in Osteuropa. In ihnen konzentriert sich jüdisches Leben. So rief ein Reisender in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus: »Juden, Juden und nochmals Juden – wohin ich mich auch umdrehe, ich bin im Königreich der Juden.»11 Diese kleinen Städte konnten sich historisch dadurch entfalten, dass die jeweiligen Herrscher Juden Privilegien zur freien Religionsausübung und zur Selbstverwaltung gewährten. 9 Alfred Döblin, Reise in Polen, München 1987, S. 229–231. Weitere Beschreibungen z. B. in: Petryschyn, Judenviertel, S. 253–254; Israel J. Singer, Von einer Welt, die nicht mehr ist. Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1993, S. 7–10 (Singer, 1883–1944, im Schtetl Biłgoraj an der polnischen Grenze zu Österreich geboren, beschreibt hier Leoncin bei Warschau, wo um die Jahrhundertwende rund 200 jüdische Einwohner lebten); Alexander Granach, Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens, München/Zürich 1990, S. 67–75 (der berühmte Schauspieler, 1890-1945, der ursprünglich Jesaja Szajko Gronach hiess, wurde im galizischen Dorf Werbowitz/Wierzbowce/Werbiwici geboren und blickt in seinen erstmals 1945 veröffentlichten Erinnerungen zurück auf die nahegelegene Bezirkshauptstadt Horodenka, in die die Familie umzog); Manès Sperber, Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene … Bd. 1, Frankfurt a. M. 1993, S. 20–32 (1905–1984, in Zabłotów /Galizien geboren); vgl. Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, 5. Aufl. München 1999, S. 60–62. Rachel Ertel, Le Shtetl. La bourgade juive de Pologne de la tradition à la modernité, Paris 1982, stellt exemplarisch die Struktur dreier Schtetl dar (S. 107–145, 211–294, Statistik S. 113): Zdzięcioł (jiddisch Zetl) in Weissrussland südlich von Nowogródek (1921 rund 3000 Einwohner, davon 77 % Juden), Belchatów in Zentralpolen südlich von Łódź (6250 Einwohner, 60 % Juden) und Sącz (Santz) in Galizien südlich von Tarnów (26300 Einwohner, 34 % Juden). 10 Vgl. zum Umgang mit fiktionalen Texten als historischen Quellen Monica Rüthers, Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert, Köln usw. 1996, S. 30–37. Sprachpragmatische Verfahren sind dabei sehr hilfreich: Martin Schaffner, Fragemethodik und Antwortspiel. Die Enquête von Lord Devon in Skibbereen, 10. September 1844, in: Historische Anthropologie 6,1998, S. 55–75, hier bes. S. 62, 64–65, 70–71. Zu gegenwärtigen Schtetl-Klischees s. Michael Daxner, Schtetl-Faszination, in: Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, hg. v. Hans Henning Jahn, Jens Stüben, Frankfurt a. M. usw. 2000, S. 161–171. 11 Zitiert in: Petryschyn, Judenviertel, S. 254.

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Hier bewahrten und entwickelten sie, weitgehend ohne Eingriffe von aussen, ihre eigenständige Kultur. Die Einwohnerzahl reicht von unter 1000 bis zu 20000, manchmal auch noch mehr12, der Charakter von dörflich bis ausgeprägt städtisch. Ein wichtiges Kennzeichen ist, dass die Jüdinnen und Juden zwar die Mehrheit der Bevölkerung stellen, in der Regel aber Christen ebenfalls vertreten sind. Ein Schtetl kann eine Kleinstadt für sich sein, aber auch ein deutlich erkennbares Viertel innerhalb einer Stadt.13 Im 19. Jahrhundert sind durch die sich wandelnden Herrschaftsverhältnisse, durch die Veränderungen der Agrarstruktur und die einsetzende Industrialisierung mit ihren sozialen »Umschichtungen« sowie durch neue geistige Strömungen die Lebenswelten in Bewegung geraten. Viele Juden wandern ab, in die Grossstädte oder gar ins Ausland. Die Konflikte mit dem nichtjüdischen Umfeld verschärfen sich, nicht zuletzt wegen der zunehmenden ökonomischen Konkurrenz und der sich verbreitenden nationalistisch-ausgrenzenden Ideen. Das traditionelle Selbstverständnis ist in eine Krise geraten, neue Orientierungsmöglichkeiten müssen erprobt werden.14 12 In BerdyČev, dem »Jerusalem Wolhyniens«, lebten 1899 50 000 Juden, 80 % der Einwohnerschaft (Sokolievka/Justingrad. A Century of Struggle and Suffering in a Ukrainian Shtetl, As Recounted by Survivors to Its Scattered Descendants, ed. by Leo Miller, Diana F. Miller, New York 1983, S. 75). Die Verbundenheit mit ihrem Schtetl, der Stolz auf ihr Judentum führten zu solch liebevollen Bezeichnungen, so wie Brody als das »Jerusalem (Ost-)Galiziens« und Rzeszów als das »Jerusalem (West-)Galiziens«, Wilna als das »Jerusalem Litauens« galt (vgl. Haumann, Geschichte, S. 61, 75). Ich lasse dahingestellt, inwieweit sich darin die Erwartung ausdrückte, die Erlösung werde sich hier und nicht unbedingt in Erez Israel vollziehen. 13 Historisch liesse sich das von den Privilegien für jüdische Gemeinden in Städten herleiten, bis hin zu »de non tolerandis Christianis« – im Gegenzug für die Privilegien »de non tolerandis Judaeis« – etwa für Kazimierz, der Vorstadt Krakaus (1568), für die jüdische Gemeinde in Posen (1633) oder für alle jüdischen Gemeinden Litauens (1645). Ich konzentriere mich in diesem Beitrag auf die Kleinstädte aufgrund der Übersichtlichkeit, zumal es mir auch um räumliche Bezugspunkte für Kommunikation geht. Sie spielen eine wichtige Rolle, selbst wenn fromme Juden vielleicht aufgrund ihrer Exil-Vorstellungen ihren Aufenthalt nur als vorübergehend betrachteten: »›Mein Schtetl‹, das sind die Leute, die darin wohnen, nicht der Ort, die Gebäude oder die Straßen« (Mark Zborowski, Elizabeth Herzog, Das Schtetl. Die untergangene Welt der osteuropäischen Juden, München 1991, S. 44, vgl. 180). 14 Einführend Haumann, Geschichte. Vgl. ders., Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert (Ms. [im vorliegenden Band enthalten]); Zborowski, Herzog, Schtetl; Ertel; Shtetl; die Beiträge von Catherine Schott und Stefanie Middendorf in: Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. »... in Basel habe ich den Judenstaat gegründet«, hg. v. Heiko Haumann in Zusammenarbeit mit Peter Haber u.a., Basel usw. 1997, S. 51–57, 58–63; Eva Hoffman. Im Schtetl. Die Welt der polnischen Juden, Wien 2000 (am Beispiel von Brańsk südwestlich von Białystok). Strukturgeschichtliche Darstellungen zur früheren Geschichte: Gershon David Hundert, The Jews in a Polish Private Town. The Case of Opatów in the Eighteenth Century, Baltimore/London 1992; David E.

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Sehen wir uns im Anschluss an Roth und Döblin einmal genauer im Schtetl um.15 Unser Weg beginnt am Bahnhof. Seitdem einige der Schtetl in Galizien, in Russisch-Polen und im russischen »Ansiedlungsrayon«16 während der zweiten Fishman, Russia’s First Modern Jews. The Jews of Shklov, New York/London 1995. Vgl.: Die Memoiren des Moses Wasserzug, hg. v. Stefi Jersch-Wenzel, Leipzig 1999. Die teilweise dramatischen Veränderungen der Schtetl-Welt, die Herausforderungen, die an ihre Bewohner gestellt wurden, aber auch die Rückbesinnung auf sie bei manch einem von denen, die sich bereits aus ihr entfernt hatten, sind der zentrale Gegenstand der zeitgenössischen jüdischen Literatur. Vgl. Eugenia Prokopówna, The Image of the Shtetl in Polish Literature, in: Polin 4, 1989, S. 129–142; Dan Miron, The Literary Image of the Shtetl, in: Jewish Social Studies 1/3, 1995, S. 1–43; Evrei v Rossii. Istorija i kul’tura. Sbornik naučnych trudov, otvet. red. D. A. El’jaŠevič, Sankt-Peterburg 1995; Claudia Nys: »Von zweifachem Feuer die Seele entbrannt«. Zum Selbstverständnis der jüdischen Intelligencija im Spiegel der russischsprachigjüdischen Literatur 1881–1922. Unveröffentl. Diss., Potsdam 1998. Die Expeditionen der 1908 gegründeten »Jüdischen Historisch-Ethnographischen Gesellschaft« unter der Leitung An-skijs (Slojme Zejnvil Aronovič Rapoport, 1863–1920) in die Schtetl sind ein weiteres Zeichen für die Suche nach der jüdischen Kultur. Vgl. Semyon An-sky, The Jewish Artistic Heritage. An Album, Moscow 1994; Leben im russischen Schtetl. Auf den Spuren von AnSki. Jüdische Sammlungen des Staatlichen Ethnographischen Museums in Sankt Petersburg. (Ausstellungskatalog), Köln/Frankfurt a. M. 1993. An-skis berühmtes Drama »Der Dibbuk« ist eine Frucht dieser Forschungen. 15 Alla Sokolowa, Architectural Space of the Shtetl-Street-House. Jewish Homes in the Shtetls of Eastern-Podolia, in: TrumaH 7, 1998, S. 35–85. Vgl. Petryschyn, Judenviertel; Tomasz Gąsowski, Jewish Communities in Autonomous Galicia: Their Size and Distribution, in: The Jews in Poland. Vol. 1, ed. by Andrzej K. Paluch, Cracow 1992, S. 205–221; Olga Goldberg-Mulkiewicz, Itineraria miasteczek żydowskich, ebd., S. 387–396. Auch Ukrainer, Polen und Armenier wohnten häufig in gesonderten Vierteln mit eigenen Marktplätzen. Die Armenier behielten z. B. in Brody im Unterschied zu den Juden ihre territoriale Geschlossenheit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts bei (Petryschyn, Judenviertel, S. 238). S. dazu Christophe von Werdt, Halyč-Wolhynien – Rotreußen – Galizien: Im Überlappungsgebiet der Kulturen und Völker, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46, 1998, S. 69–99. Weitere Schilderungen: Sokolievka, S. 22–28 (Stadtplan S.  26; Sokolievka – jiddisch Sokelifke, polnisch Sokołówka – liegt bei Uman in der Ukraine); Joachim Schoenfeld, Jewish Life in Galicia under the Austro-Hungarian Empire and in the Reborn Poland 1898–1939. Shtetl Memoirs, Hoboken, N. J. 1985, S. 2–7; Pinhas Kahanowitsch genannt Der Nister, Die Brüder Maschber. Das jiddische Epos, Berlin 1995, S. 11–12 (Berdyčev, vgl. Anm. 12), 63–64. S. Armin A. Wallas, Kindheit in Galizien. Das galizische Judentum im Spiegel der Autobiographien von Minna Lachs und Manès Sperber, in: Sprachkunst 24/1, 1993, S. 19–40; Dietlind Hüchtker, Subjekt in der Geschichte? Emanzipation und Selbstbehauptung, Flucht und Verfolgung in der Autobiographie von Minna Lachs (1907–1993), in: Normsetzung und -überschreitung. Geschlecht in der Geschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Carmen Scheide, Natali Stegmann, Bochum 1999, S. 151–167. 16 Der Ansiedlungsrayon (čerta osedlosti) wurde formell 1804 durch das «Statut für die Juden» (poloŽenie dlja evreev) erlassen und umfasst einen breiten Gürtel von Litauen bis

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Hälfte des 19. Jahrhunderts an das Eisenbahnnetz angeschlossen worden waren, diente der Zug für die jüdischen Händler als unentbehrliches Fortbewegungsmittel. Dort trafen sie auf andere Händler, auf Besucher von Märkten, auf Bauern der Umgebung. In der überfüllten Dritten Klasse unterhielten sie sich lebhaft über die Geschehnisse in der Region, über Bekannte und Verwandte, über die Marktpreise und besondere Angebote, aber auch – wenn jemand Bescheid wusste oder dies zumindest vorgab – über die Vorgänge in der grossen weiten Welt. Vor allem erzählten sie sich Geschichten – alle mussten etwas beitragen, jeder suchte den anderen zu übertreffen.17 Ein Geschäft durch eine Geschichte vorzubereiten, eine Meinung durch eine Geschichte auszudrücken, sich die Zeit durch eine Geschichte zu vertreiben oder durch sie zu belehren, kennzeichnete die jüdische Gesprächskultur, ging vielleicht auf die rabbinische Tradition zurück. In der Regel war hier die jüdische Welt unter sich, doch es blieb nicht aus, dass hin und wieder ein bekannter Bauer oder eine Bäuerin dabei sass und vielleicht auch einen Kommentar beisteuerte. Vermutlich tauschte man sich am ehesten über die Marktsituation und – vorsichtig – über tatsächliche Vorfälle aus, während sich die Art zu erzählen deutlich unterschieden haben dürfte.18 Am Bahnhof angekommen, tauchen die Ausgestiegenen in pulsierendes Leben ein. Auf dem Bahnsteig drängeln diejenigen, die einsteigen oder jemanden abholen wollen. Lastträger wollen sich eine Kleinigkeit verdienen. Im und vor dem Bahnhof warten einige, die auf Neuigkeiten aus sind oder einen Bekannten zu erspähen hoffen. Die Fuhrleute preisen ihren Wagen an. Im Gefährt oder zu Fuss geht es dann meist eine lange, gerade Strasse ins Schtetl hinein.19 Oft gibt zum Schwarzen Meer. Er ging zurück auf Massnahmen Katharinas II. 1791, die mit Siedlungsvorschriften für die Juden unliebsame Konkurrenten der Moskauer Kaufleute von der Zuwanderung abhalten wollte. Bis auf Ausnahmen durften Juden ausserhalb dieses Rayons nicht wohnen. Während des Ersten Weltkrieges fielen schliesslich die Grenzen des Rayons (vgl. Haumann, Geschichte, S. 80–82). 17 Scholem Alejchem hat bezeichnenderweise diesen Typus aufgegriffen: Eisenbahngeschichten / aisnbangeschichteß, hg. v. Gernot Jonas, Frankfurt a. M. 1995. Vgl. Almut Bonhage, Jüdische Eigenart im osteuropäischen Schtetl: Scholem Alejchems »aisnbangeschichtess«, in: Der Erste Zionistenkongress, S. 64–68. – Interessanterweise unterhalten sich in Scholem Alejchems Geschichten nur Männer. Frauen kommen inerhalb der Geschichten vor, ansonsten tauchen sie lediglich in der Rahmenhandlung auf (s. etwa S. 91). S. auch Singer, Welt, S. 73–81. 18 Dies zu untersuchen, wäre eine interessante Forschungsaufgabe. 19 Einen schönen Eindruck einen solchen Strasse bietet Isidor Kaufmanns (1853–1921) undatiertes, nach 1903 entstandes Ölgemälde »Freitagabend in Brody«. Sie läuft hier auf die palastartige »Grosse Synagoge« aus dem 17. Jahrhundert zu, eine Anzahl chassidischer Juden befindet sich auf dem Wege dorthin: Rabbiner, Bocher, Talmudschüler. Bilder des Wiener Malers Isidor Kaufmann 1853–1921, hg. v. G. Tobias Natter (Austellungskatalog), Wien 1995, S. 287 (schwarz-weiss auch in: Als hätten wir dazugehört, S. 184), vgl.

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es zur Hauptstrasse noch eine oder mehrere Parallelstrassen, die eine oder andere Querachse, und daneben ein Gewirr schmaler Gassen und Winkel. Die Häuser oder Hütten stehen dicht aneinandergedrängt, oft verschachtelt, manchmal aber auch wie mächtige Einzelhöfe erbaut. Verwendet werden örtliche Baumaterialien, vergleichbar den Höfen und Hütten der christlichen Bauern in der Nachbarschaft. Ebenso ähneln sich die überwiegend einfachen Verzierungen an Balken, Fensterrahmen oder Türen. Die charakteristische Konstruktion der Häuser drückt Offenheit aus, auch gegenüber den »Fremden»:20 Das »Gesicht« des Hauses ist der Strasse zugewandt, und die Tür führt unmittelbar in den grössten Raum, der vielfach zugleich als Geschäft oder als Schenke dient. Den ganzen Tag über können somit Besucher – Juden wie Nichtjuden – kommen, um etwas zu kaufen oder zu verkaufen, um sich nach etwas zu erkundigen oder um einfach einen Schwatz zu halten. An den Hauptraum schliessen sich, meist hintereinander, weitere Zimmer an, die sich möglicherweise im Obergeschoss fortsetzen: ein Arbeitsraum – vor allem für die zahlreichen handwerklichen Berufe –, eine Küche – die sich hin und wieder auch in der Ecke eines der grösseren Zimmer befinden kann –, eine Scheune oder Lagerstätte, ein Betraum, je nach sozialem Stand und Familiengrösse Schlafplätze, häufig auch Wohnungen anderer Familien. Hier, jenseits des Eingangsraumes, vollzieht sich die interne Kommunikation21 – innerhalb der Familie und zwischen den Familien in einem Haus. Soweit vorhanden, ist auf der Veranda oder auf der über eine Treppe zugänglichen Galerie ein verglaster Teil abgetrennt, der als Sukka, als Laubhütte, während des entsprechenden Festes im Herbst genutzt wird. Von der Hauptstrasse leicht zugänglich, jedoch oft durch einen Häuserring abgeschirmt, liegt der Marktplatz.22 Keine Schilderung des Schtetl-Lebens S. 24, 26, 32–35, 200–201, 286, 289, 290–291, insbesondere zu Details aus der Synagoge. Das Bild ist nicht »realistisch«, wie die hinzugefügte Kuppel der Synagoge erkennen lässt; ebenso stimmt die Perspektive nicht genau mit der Architektur überein (vgl. den Stadtplan in: Petryschyn, Judenviertel, S. 274–275). Kaufmann wollte hier auch die chassidische Prägung des Schtetls hervorheben, nicht den assimilierten Teil. 20 Vgl. Sokolowa, Space, S. 83. 21 Ich verzichte hier auf eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kommunikationstheorien. Vgl. einführend Denis McQuail, Sven Windahl, Communication Models for the Study of Mass Communication, London/New York 1981; Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, 8. Aufl. München 1994. Im Mittelpunkt steht die unmittelbare kommunikative Interaktion zwischen Personen. 22 Abbildungen typischer Schtetl-Marktplätze etwa in: Als hätten wir dazugehört, S. 177 (Brody), 197 (Kolomea), 263 (Sereth); Stefan Kieniwicz, Jews in Jarmolince, in: Polin 4, 1989, S. 311–312 (10 Fotos zwischen S. 310 und 311); Alter Kacyzne, Poylin. Eine untergegangene jüdische Welt, hg. v. Marek Web, Berlin 2000, S. 35 ff.; Die jüdische Welt von gestern 1860–1938. Text- und Bild-Zeugnisse aus Mitteleuropa, hg. v. Rachel Salamander,

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kommt ohne ihn aus. Wie der Bahnhof ist er ein Umschlagplatz für Nachrichten und Neuigkeiten, für zufällige und verabredete Treffen, für eine Unterhaltung. Jüdische Händler wie Bäuerinnen und Bauern aus dem Umland halten ihre Waren feil. Städtische und ländliche Produkte werden ausgetauscht. Die Käufer, Juden und Nichtjuden, laufen herum, stossen und rempeln sich, betasten die Auslagen, feilschen um die Preise. »Da war ein Gedränge und Gerenne, Gepuffe und Geschwitze, als ob die Welt unterginge.«23 Ein wenig entfernt vom Marktplatz steht die Synagoge. Manchmal erhebt sie sich als Wehrbau auf einem Hügel über dem Schtetl, gegenüber der entfernten katholischen Kirche24, oder sie liegt eher geduckt wie das ganze Viertel im Schatten der Kathedrale. Orthodoxe Kirchen finden sich auch innerhalb des Schtetls. Die Synagoge ist – ebenso wie das Bethaus – ein Zentrum der Begegnung. Die Gläubigen wenden sich hier zu Gott, sie lernen durch das Studium der alten Schriften und im Disput, zugleich tauschen sie untereinander alltägliche Erlebnisse aus oder besprechen, welche Preise sie am Markttag nehmen und bezahlen wollen. In den stark vom Chassidismus geprägten Schtetln findet sich ausserdem im Zentrum der Hof des Zaddiks, des »Gerechten«, der als Mittler zwischen dem Menschen und Gott wirkt.25 Ein weiterer fester Treffpunkt ist das Bad, die Mikwe. Gemäß den religiösen Verpflichtungen müssen sich hier Frauen und Männer – in unterschiedlicher Weise und zu genau vorgeschriebenen Zwecken – reinigen.26 In den Schtetln, München 1998, S. 60–63, 81 (verschiedene Schtetl); Roman Vishniac, Verschwundene Welt, München/Wien 1983, S. 145 (Lask, südwestlich von Łódź) 23 Granach, Mensch, S. 71. Vgl. z. B. Minna Lachs, Warum schaust du zurück? Erinnerungen 1907–1941, Wien usw. 1986, S. 168 (Trembowla nahe Tarnopol, dazu die kritische Reflexion von Hüchtker, Subjekt, S. 164–165); Singer, Welt, S. 235–239; ders., Josche Kalb. Roman, Wien 1999, S. 147–152; Mendele Mojcher Sforim, Fischke der Lahme. Bettlerroman [1869/88], Leipzig 1978, S. 19–20; Anna Bolecka, Der weiße Stein. Roman, Berlin 1998, S. 51–55. 24 Dies gilt namentlich für diejenigen Gebiete, die mit der Union von Lublin 1569 zum polnischen Reichsteil geschlagen worden waren (das südliche Weissrussland, die Ukraine, Podlachien, Wolhynien, Podolien). Die polnischen Magnaten, die diese nun kolonisieren wollten, zogen zahlreiche Juden als Pächter und Verwalter ins Land, die damit in eine besondere Konfliktsituation gerieten. 25 Vgl. z. B. die Beschreibung bei Roth, Juden, S. 307; Singer, Josche Kalb, S. 7 ff., 21 ff. Zur Preisabsprache: Gerhard Bauer, Manfred Klein, Das alte Litauen. Dörfliches Leben zwischen 1861 und 1914, Köln usw. 1998, S. 276–277 (zum litauischen Schtetl s. S. 269– 284). 26 Vgl. z. B. Mary Antin, Vom Ghetto ins Land der Verheissung, 2. Aufl., Stuttgart 1913, S. 115–118; Jehudo Epstein, Mein Weg von Ost nach West. Erinnerungen, Stuttgart 1925, S.  115–116; Pauline Wengeroff, Memoiren einer Grossmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1919, Bd. 2,

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die an einem Fluss liegen, sind dort Abschnitte zum Baden zugeteilt, für Frauen und Männer getrennt.27 Haus, Bahnhof, Marktplatz, Synagoge und Bad bilden somit in ganz verschiedenartigen Funktionen räumliche Bezugspunkte für Kommunikation. Stellen wir uns vor, dass wir auf unserem Rundgang durch das Schtetl jemandem begegnen, der uns vom dortigen Leben erzählt – zum Beispiel in Brody Adele von Mises, geborene Landau (1858–1937).28 Sie gehört zur jüdischen Oberschicht. In ihren Erinnerungen erzählt sie von der Organisation ihres Haushaltes und insbesondere von ihren Aktivitäten in der Wohlfahrtspflege. Den vor allem nach 1880 verarmten Juden musste geholfen werden. Das zeigte sich schon äusserlich: »Da gab es keine verschlossenen Türen, in die man sich durch Klingeln Eingang verschaffen mußte. Tür und Tor standen weit offen, jedermann hatte zu jedermann jederzeit Zutritt.« Es ging darum, den Verstorbenen ein angemessenes Begräbnis zu ermöglichen, den Kranken oder armen Kindern mit Eingemachtem eine Erquickung zu verschaffen, Wöchnerinnen durch eine Suppe zu stärken, Holzkohle für die Strassenhändlerinnen bereitzustellen, damit sie sich am »Feuertopf« ihre Füsse wärmen konnten, Wäsche und Kleider für die Waisenkinder anzufertigen, Geisteskranke, die »Meschuggene« – die in der Regel in ihren Familien lebten –, zu unterstützen, die Kranken im Spital zu versorgen, ihnen auch über die erste schwere Zeit nach der Entlassung hinwegzuhelfen, den Kindern in der Talmud-Tora-Schule – von der Gemeinde für die Armen unterhalten – eine dicke Suppe zu schicken, an Pessach die armen Leute mit Kartoffeln zu beliefern, und um viele andere kleine, aber lebenswichtige Tätigkeiten. Die Reichen standen in der Pflicht.29 Berlin 1910, hier Bd. 2, S. 70; Bella Chagall, Brennende Lichter, Reinbek 1969, S. 21–33 (Hinweis von Monica Rüthers). 27 Antin, Ghetto, S. 113–113; Shmarya Levin, Kindheit im Exil, Berlin 1931, S. 28–29, 83–84. 28 Auszüge ihrer Erinnerungen in: Als hätten wir dazugehört, S. 169–192, die folgenden Zitate S. 170–171. Adele von Mises war die Mutter der beiden berühmten Wissenschaftler Ludwig und Richard von Mises (1881–1973, 1883–1953). – Dagmar Günther, »And now for something completely different«. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 272, 2001, S. 25–61, warnt zu Recht davor, die Selbstzeugnisse als unmittelbare Wirklichkeitsschilderung zu nutzen. Sie sind Konstruktionen wie andere Quellen auch, allerdings als lebensgeschichtliche Perspektiven von Akteuren ernstzunehmen. Vgl. Michaela Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000. Aus der grossen Zahl von Selbstzeugnissen habe ich einige mehr oder weniger zufällig ausgewählt, so zufällig, wie wir Menschen beim Besuch des Schtetls getroffen hätten. 29 So verbot der Rabbiner anlässlich einer Teuerung ausdrücklich, wie von den Stadtvätern gewünscht, den Genuss von Reis und Bohnen an Pessach, wie es nach jüdischem Recht bei Hungersnöten möglich sei: Eine Hungersnot herrsche nur dann, wenn die betreffenden Lebensmittel überhaupt nicht mehr zu beschaffen seien. »Wenn sie nur auch noch so teuer

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Kommunikation findet hier nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft statt: in der Familie, in der unmittelbaren Beziehung im Haus oder an der Tür, weiterhin in den wohltätigen Vereinen. Dasselbe ergibt sich bei anderen Kommunikationsorten, die Adele von Mises erwähnt, namentlich bei den jüdischen Festen und Feiertagen. Anlass für Kontakte waren die »Schalchemunis« (Schlachmones), die Gaben an Kinder, an die Klezmorim30, an den Rabbiner und die Gemeindeangestellten, an die »Belfer«, die Gehilfen der Lehrer, an diejenigen, die aus irgendeinem Grund sammelten, und wer sonst noch alles in Frage kam. Wenn zwischen Purim und Pessach die Mazze gebacken wurden, trafen sich am Backhaus nicht nur die Frauen, sondern auch eine Anzahl Helfer und Helferinnen, deren Trinkgeld fast ihr einziger Verdienst im ganzen Jahr war. Zusätzliche Kontakte werden demnach hauptsächlich durch die Pflicht des Schenkens veranlasst. Dabei hat sich eine regelrechte »Geschenksprache« entwickelt, die Dank und Respekt, aber auch eine soziale Rangordnung ausdrücken kann.31 Kinder begegnen sich darüber hinaus in der jüdischen Schule wie beim Spiel,32 Frauen beim Einkaufen, auf der Frauenempore in der Synagoge, beim gemeinsamen Kochen, Stricken und Nähen.33

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wären, dürfe man sie nicht durch unerlaubte, bloss billigere, ersetzen. Er war nicht geneigt, den reichen Leuten ihre Pflichten zu erleichtern oder zu verbilligen und erreichte natürlich seinen Zweck« (S. 176). Zur Rolle der Wohltätigkeit in weiblichen Lebensentwürfen vgl. Rüthers, Tewjes Töchter, bes. S. 253–255; Haumann, Weg. Auf andere weibliche Reaktionen komme ich noch zu sprechen. Die Musikanten waren nicht immer Juden, in Szatmár nordöstlich von Debrecen spielten z. B. »Zigeuner« bei Hochzeiten oder Purim auf; beide Gruppen fühlten sich im Wesen verwandt: Berl Edelstein, Schabbatnachmittage im Obstgarten. Zerbrochene Welten meiner chassidischen Kindheit, Wien usw. 1999, S. 33 (geboren 1926). Levin, Kindheit, S. 186–187; Wengeroff, Memoiren I, S. 35–36. Sokolievka, S. 35–38. Vgl. Rüthers, Tewjes Töchter, S. 95–101; Desanka Schwara, »Ojfn weg schtejt a bojm«. Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongreßpolen, Litauen und Rußland 1881–1939, Köln usw. 1999, S. 299–310. Das konfessionsübergreifende Spiel war danach eher die Ausnahme. Im Dorf dürfte das anders gewesen sein. Sperber, Wasserträger, S. 13–17, berichtet vom Spiel mit einem polnischen Mädchen, das er geheim hielt, obwohl es nicht ausdrücklich verboten war. Zu Spielen auch Singer, Welt, S. 37–47, dabei S. 44–46 zu Kämpfen mit nichtjüdischen Jugendgruppen. Auf Wohltätigkeit wird in vielen Selbstzeugnissen eingegangen, s. nur Faye Schulman, Die Schreie meines Volkes in mir. Wie ich als jüdische Partisanin den Holocaust überlebte, München 1998, S. 31–32, 40–41 (geboren 1923 als Fagel Lazebnik in Lenin, einem polnischen Ort an der Slutsch unmittelbar an der Grenze zur Sowjetunion – der Name leitet sich von der Tochter Lena eines polnischen Adligen ab). Vgl. etwa Singer, Josche Kalb, S. 277; Julian Stryjkowski, Stimmen in der Finsternis, Berlin 1963, S. 339–351.

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Gelegenheit zu flüchtigen Kontakten mit Christen bot für Adele von Mises lediglich der Aufenthalt im nahegelegenen Dorf Podhorce während der Sommerfrische. Hier kam sie wohl hin und wieder mit armen polnischen Bauern ins Gespräch, besuchte allerdings nie ihre Kirche, und hörte von den reichen ruthenischen Bauern im Nachbardorf. Die wenigen in Podhorce wohnenden Juden hatten hingegen viel mit den Christen zu tun: Sie verkaufen ihnen Waren des täglichen Bedarfs und bedienten sie im Wirtshaus, dem Mittelpunkt des Dorfes. Die Schenke war einer der wichtigsten Orte der Kommunikation zwischen Juden und Christen – im Dorf, an der Landstrasse, aber auch im Schtetl. Adele von Mises geht darauf nicht ein, obwohl sie das Wirtshaus in Podhorce ausführlich beschreibt: Hat sie in Brody aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung damit nichts zu tun gehabt? Auch sonst schildert sie keine Zusammenkünfte mit Christen. Vermutlich wurden in den Häusern ihrer Eltern und Verwandten durchaus zumindest geschäftliche Besprechungen auch mit Christen geführt. Möglicherweise will sie uns bewusst nur das »Jüdische« aus ihrer Kindheit weitergeben.34 Ganz im jüdischen Milieu bleibt auch »Marta Müller«, die wir in einem Schtetl nahe Krakau treffen.35 Sie wurde hier 1903 in einer chassidischen Kaufmannsfamilie geboren und erzählt uns, wie sie in einem Umfeld aufwuchs, das sich im Umbruch befand. So hatte sie nicht nur die Möglichkeit, die Mädchen 34 Nicht auszuschliessen ist natürlich, dass sie in den unveröffentlichten Teilen ihrer Erinnerungen darauf eingeht. Zur Bedeutung der Schenke im Agrarbereich Polens vgl. Haumann, Juden in der ländlichen Gesellschaft. In Erinnerungen wie literarischen Verarbeitungen ist die Schenke immer wieder ein Ort der friedlichen oder konflikthaltigen Begegnung zwischen Juden und Christen. Vgl. etwa: Josef Burg, Ein verspätetes Echo. A farschpetikter echo, München 1999, S. 21–45 (Kartenspiel zwischen seinem Vater, einem Flösser, und einem Gutsherrn; Burg wurde 1912 im Schtetl Wischnitz/Bukowina geboren und lebt in Czernowitz). Auch Chaim Weizmanns Vater war Holz-«Transportierer« und Flösser: ders., Memoiren. Das Werden des Staates Israel, Zürich 1953, S. 16–19. Weizmann wurde 1874 in Motol (Motyli) bei Pinsk geboren, in dem 4–500 weissrussische und 200 jüdische Familien lebten (Faye Schulmans Vater stammte auch von dort und war sogar mit ihm verwandt: Schulman, Schreie, S. 37). Er schreibt im übrigen: »In Pinsk wie in Motol hatte ich keinen Kontakt mit Andersgläubigen« (S. 40), von ihnen hätten sie »abgesondert« gelebt und seien räumlich wie geistig getrennt gewesen, nicht zuletzt durch die »Welt von Erinnerungen und Schicksalen« (S. 21). Aus dem Zusammenhang geht aber hervor, dass es doch Kontakte gab, z. B. beim Flössen. Vgl. auch Mark Verstandig, I rest my case, 2. Aufl. Melbourne 1997, S. 2 ff. (zu Mielec in Westgalizien nordöstlich von Tarnów). 35 Schwara, Kindheit, S. 104, 117, 120–126, 129, 137–138, 140, 143–145, 153–157, 160– 172, 178, 180–182, 184–192, 195–199, 201–202, 207–209 (das von ihr ausgewertete Tagebuch 1917–1925 ist anonymisiert; deshalb steht der Name hier in Anführungszeichen). Schwara analysiert in ihrem Buch weitere Selbstzeugnisse. Vgl. auch Alina Cała, The Social Consciouness of Young Jews in Interwar Poland, in: Polin 8, 1994, S. 42–63.

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im Unterschied zu Knaben neben dem Besuch einer weltlichen Schule üblicherweise offenstand, um eine weltliche Bildung zu erhalten – nämlich bei einer Privatlehrerin Unterricht zu nehmen –, sondern sie konnte musizieren, an Tanzveranstaltungen und Theateraufführungen teilnehmen, ja sie kleidete sich auch »modern« und machte sogar Bekanntschaften mit nicht-chassidischen jungen Männern. Dies wurde im Schtetl misstrauisch beobachtet, die soziale Kontrolle war ausgesprochen intensiv.36 Die Eltern, vor allem der Vater, reagierten auf ihnen zugetragene Anschuldigungen, Marta achte die religiösen Gebote nicht streng genug, gegenüber ihrer Tochter empört mit Verboten. Marta versuchte sich zunächst dagegen aufzulehnen, stellte dann aber doch die Liebe zu den Eltern höher als das Bestreben, aus der Enge auszubrechen. Die Werbung eines »Daitsch« – eines sich an der jüdischen Aufklärung orientierenden Juden – wies sie vorsichtig zurück, der Vater lehnte den trotzdem vorgebrachten Heiratsantrag brüsk ab. Marta heiratete einen Chassiden, den die Eltern über den Schadchen, den Vermittler, ausgewählt hatten – im übrigen nachdem mehrere Partien gescheitert waren, weil Marta als zu »fortschrittlich« galt. Auf der anderen Seite zeigt das Beispiel, dass den Jugendlichen selbst in dem streng überwachten Milieu viele Freiheiten blieben und sie die Grenzen ihres Tun erproben konnten. Marta provozierte ihre Umgebung etwa damit, dass sie mit einem jungen Mann länger, als es der Sitte entsprach, spazieren ging oder sich mit ihm allein in ihrem Zimmer aufhielt. Jedenfalls wird deutlich, dass die jüdische Gemeinschaft, bei aller Solidarität nach aussen, keine homogene Einheit ist. Wir finden hier Sympathien und Antipathien, persönliche Streitigkeiten, Generationenkonflikte, unterschiedliche religiöse wie weltliche Strömungen und Bewegungen, soziale und wirtschaftliche Interessengegensätze.37 Von vielfältigen weiteren Begegnungsmöglichkeiten berichtet uns Joachim Schoenfeld in Śniatyń, einem Schtetl mit rund 18000 Einwohnern an der 36 Vgl. Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 176–179; Dennis L. Gaffin, Being Jewish in Tsarist Russia: Indecency, Ostracism, and Yiddishkayt in Oral History, in: International Journal of Oral History 7/1, 1986, S. 19–42 (»Harry Rostein« [Pseudonym], geboren 1894 in Nieswicz im Gouvernement Minsk). 37 Vgl. z. B. Lucille W. Brown, Stephen M. Berk, Fathers and Sons: Hasidim, Orthodoxy, and Haskalah – A View From Eastern Europe, in: Oral History Review 1977, S. 17–32, so S. 23–26 zu einem innerfamiliären Konflikt und einer unerwünschten Liebesbeziehung. Zur literarischen Verarbeitung der inneren Gegensätze s. etwa die Werke von Isaac Bashevis Singer und Julian Stryjkowski. Weibliche Versuche, aus den Konventionen auszubrechen, schildert etwa die Schwester der Gebrüder Singer (1891–1954, geboren in Biłgoraj): Esther Kreitmann, Deborah – Narren tanzen im Ghetto,Frankfurt a. M. 1984; eine literarische Verarbeitung: David Bergelson, Leben ohne Frühling. Roman, Berlin 2000 (jiddisch 1913: Noch alemen, deutsch 1923 u. ö. unter dem Titel: Das Ende vom Lied)

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Grenze zwischen Galizien und der Bukowina, wo er 1895 geboren wurde.38 Er macht darauf aufmerksam, dass das Schtetl nicht von der Welt abgeschlossen war. Hin und wieder zog eine Seiltänzer- oder Akrobatengruppe durch das Schtetl, ein Karussell wurde für ein paar Tage aufgebaut, ein Drehorgelmann beglückte mit seinen Melodien, wandernde Musiker gaben traditionelle und neue Lieder zum Besten, ein Huzule aus den Karpaten liess seinen Bären tanzen, eine jiddische Theatergemeinschaft führte spannende Stücke auf – allerdings stellte der polnische nationale Turnverein den einzigen geeigneten Raum nicht zur Verfügung. Einmal kam sogar Scholem Alejchem (Šalom Rabinovič, 1859–1916) und las aus seinen Werken. Nutzten die Schtetl-Bewohner die Gelegenheit, um mit den Gästen ins Gespräch zu kommen? Schoenfeld ist das nicht mehr in Erinnerung. Vermutlich war man eher zurückhaltend und vorsichtig: Die Eltern erlaubten den Kindern nicht, einen Wanderzirkus zu besuchen, der sein grosses Zelt aufgeschlagen hatte, weil es zu gefährlich sei und sie die Tiere doch schon bei ihrem Weg durch die Stadt gesehen hätten. Die Luftmenschen39 des Schtetls, die sich um ihren Verdienst gebracht sahen, wenn der Zirkus vorzeitig Śniatyń verlassen sollte, dachten sich dann allerdings einen erfolgreichen Trick aus, um das Zelt doch zu füllen. Anlass zur Kommunikation, auch über die konfessionellen Grenzen hinaus, gaben hingegen aussergewöhnliche Vorfälle, die Schoenfeld noch im Gedächtnis sind: der Pogrom in KiŠinev 1905, die Dreyfus-Affäre in Frankreich oder die Anklage in Kiev 1911 gegen Mendel Bejlis wegen eines angeblichen Ritualmordes. Die nichtjüdische Bevölkerung war in ihrer Meinung gespalten, doch gab es gut begründete Argumente gegen die Anschuldigung, die auf breite Resonanz stiessen. Schoenfeld erwähnt in diesem Zusammenhang, dass trotz eines antisemitischen Lehrers die Beziehungen zwischen den jüdischen und christlichen Schülern freundschaftlich gewesen seien. Man habe sich besucht, gemeinsam Hausaufgaben gemacht und an den Festtagen gegenseitig Geschenke gebracht, vor allem kulinarische Spezialitäten. Er selbst fuhr oft mit dem Fahrrad zu einem christlichen Kollegen in der Nähe des Schtetls.40 Allerdings zählt er auch verschiedene Gelegenheiten 38 Schoenfeld, Life, S. 11–15, 110–117. 39 Haumann, Geschichte, S. 101–103; Desanka Schwara, »Luftmenschen« – Leidtragende des Verarmungsprozesses in Osteuropa im 19. Jahrhundert, in: Juden und Armut, S. 149– 165. 40 Vgl. Soma Morgenstern, In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Galizien, Lüneburg 1995, S. 91–92; Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente, 4. Aufl. Heidelberg 1986, S. 20–24; Als hätten wir dazugehört, S. 256–257 (Prive Friedjung, 1902–?, Zadowa/ Bukowina); Schulman, Schreie, S. 30–35. – Offenlassen muss ich in diesem Beitrag, inwieweit Juden nicht nur ökonomische Mittler, sondern auch Kulturvermittler waren. In der Schenke sowie durch jüdische Hausierer und Händler drangen Nachrichten, Bräuche oder

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auf, bei denen – oft betrunkene – Christen antijüdische Klischees zur Mobilisierung von Gewalt gegen Juden nutzten.41 In Kolomea (Kolomyja), ein Schtetl am Pruth, das vom Handel mit Erdöl und landwirtschaftlichen sowie hausindustriellen Produkten lebte, stossen wir auf Samson Tyndel (1878–1955), der rückblickend aus seinem Leben erzählt.42 Für ihn steht die Begegnung mit der christlichen Welt ganz im Mittelpunkt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte er sich in ein christlichen Mädchen, in Sophie verliebt. Das war in der damaligen Zeit aussergewöhnlich, und so erfuhr er geballt die Ablehnung von Juden wie Christen. Besonders haften geblieben ist ihm die bösartige Feindseligkeit, die ihm von christlicher Seite entgegenschlug. Sämtliche antisemitischen Klischees wurden hervorgeholt. Seine erste Erfahrung damit hatte er im übrigen bereits in der vierten Volksschulklasse gemacht, als sein Lehrer beim Auftauchen jüdischer Honoratioren bei einem Schulfest äusserte. »Was hat dieses Ungeziefer bei unserer Feier zu suchen?« Schon damals also gehörte es zur Strategie von Antisemiten, Juden nicht nur zu entwürdigen, sondern auch zu entmenschlichen – damit wurde verbal der Boden bereitet, sie nicht mehr als Menschen zu behandeln und letztlich zu vernichten.43 technische Errungenschaften aus den Städten in die Kleinstädte und Dörfer vor, umgekehrt kamen ländliche Einflüsse in die Städte. Vgl. Haumann, Geschichte, S. 62; Christoph Daxelmüller, Kulturvermittlung und Gütermobilität. Anmerkungen zur Bedeutung des jüdischen Handels für die ländliche und kleinstädtische Kultur, in: Wandel der Volkskultur in Europa. Festschrift für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag, hg. v. Nils-Arvid Bringéus u. a. Band 1, Münster 1988, S. 233–253. Ebenso klammere ich Gewalt als Kommunikationsform aus. Beide Bereiche bedürfen noch der umfassenden Untersuchung. 41 Vor allem an Ostern lag offenbar eine bedrohliche Spannung in der Luft: Singer, Welt, S. 50–55, 225–226. Dazu gehörten auch Bräuche, bei denen »der Jude« als Drohmaske erschien oder als Werkzeug des Teufels auftrat – er galt somit als Vertreter einer »anderen« Welt, der aber nach traditionellen Vorstellungen zugleich für die Erhaltung der »eigenen« Welt notwendig war. Vgl. Aleksander Hertz, The Jews in Polish Culture, Evanston/ Il. 1988, S. 72–75, 198–202; Alina Cała, The Image of the Jew in Polish Folk Culture, Jerusalem 1995, S. 15–21, 22–52, 152–183 (mit Abb. 13, 14, 17, 18, 20, 21, 23–25, 27); Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 122–123, 192–193; Maria Kłańska, Aus dem Schtetl in die Welt. 1772–1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache, Wien usw. 1994, S. 201 ff. Sabine Ullmann folgert aus ihren Untersuchungen im schwäbischen Raum, dass die ritualisierte Konzentration des religiös bedingten Konflikts auf bestimmte Zeiten und Orte »eher zu einer Kanalisierung des vorhandenen Aggressionspotentials führten als zu seiner Eskalation« (Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999, hier S. 470). 42 Als hätten wir dazugehört, S. 193–207, nachfolgendes Zitat S. 195. Zur Erdölindustrie in Kolomea vgl. die Erinnerungen von Arnold Friedmann (1890–1943), ebd., S. 221–226. 43 Der alltägliche Antisemitismus taucht in zahlreichen Selbstzeugnissen auf, vgl. z. B. Schulman, Schreie, S. 47–48.

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Sophie war die Tochter der benachbarten Tischlerfamilie. Als sie sich zu Weihnachten keinen Christbaum leisten konnte, spendete ihn Samson Tyndels Vater. Die beiden Familien kamen gut miteinander aus, die jungen Leute sahen sich häufig. Vor allem Sophies Tante säte Zwietracht mit hasserfüllten Berichten über Hostienschändungen und den Raub von Christenkindern durch Juden, um diese für Pessach zu schlachten. Ein Verwandter Sophies förderte hingegen die aufkeimende Liebe zwischen Sophie und Samson. Es gab keine geschlossenen Fronten. Samson führt auch Beispiele an, dass seinerzeit Ehen zwischen Juden und Christen von der jüdischen Gemeinschaft zwar nicht gebilligt, aber immerhin toleriert wurden. In den Grossstädten war dies ebenfalls zu beobachten: Namentlich Juden aus der Oberschicht, die sich in die sie umgebende Gesellschaft integrieren wollten, konvertierten hier häufiger.44 Für strenggläubige Juden galten allerdings diejenigen, die ihren Glauben wechselten oder sich von ihm lösten, nach wie vor als tot.45 So traute sich Samson gar nicht, seinen Eltern und insbesondere seiner Mutter, die an sich immer Verständnis für ihn hatte, seine Liebe zu gestehen. Er fürchtete die entschiedene Ablehnung, an erster Stelle aber tiefes Leid für sie. Sophie sah dies übrigens, jedenfalls nach Samsons Darstellung, ähnlich, und so verzichteten die beiden auf eine Erfüllung ihrer Liebe. Samson heiratete ein jüdisches Mädchen, das ihm ein Rabbiner ausgesucht hatte.46 Samson Tyndel bestätigt zunächst einmal, dass es Kommunikationsorte zwischen Juden und Christen im Schtetl selbst gab. Wie selbstverständlich helfen sich die Familien gegenseitig nachbarschaftlich, wenn es nötig ist, die Kinder treffen sich ungezwungen, Freundschaften, ja Liebesbeziehungen sind möglich.47 Ruth Katz, die wir im Schtetl Wizajny im nordöstlichen Russisch-Polen 44 Vgl. Haumann, Geschichte, S. 118, 120. In Warschau konvertierten zwischen 1800 und 1903 insgesamt 1796 Juden: Todd M. Endelman, Jewish Converts in Nineteenth-Century Warsaw. A Quantitative Analysis, in: Jewish Social Studies 4, 1997, S. 28–59, hiere S. 37. 45 So erzählt Salomea Genin, dass ihre Mutter Scheindl von deren Vater in Lemberg für tot erklärt wurde, als sie gegen seinen Willen den jüdischen Sozialisten Avram Genin heiratete (Scheindl und Salomea. Von Lemberg nach Berlin. Frankfurt a. M. 1992, hier S. 62). Vgl. das erwähnte Verhalten von Marta. 46 Nach der Nazi-Herrschaft, die Samson Tyndel in Czernowitz überlebte, und nach dem Tod seiner Frau traf er sich noch einmal mit Sophie. Diesmal verhinderte deren baldiger Tod ein gemeinsames Leben. 47 Sexuelle Beziehungen und Heiraten bleiben allerdings noch Ausnahmen. Vgl. Orla-Bukowska: Shtetl Communities, S. 110. In der Belletristik werden sie allerdings häufig thematisiert, s. etwa Petra Ernst, Christlich-jüdische Liebesbeziehungen als Motiv in deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920, in: Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaften des österreichischen Judentums, hg, v. Klaus Hödl, Innsbruck usw. 2000, S. 209–242.

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treffen, wo sie um 1900 geboren wurde, erzählt uns, dass die einheimischen Bauern »sehr freundlich (waren), wenn sie nicht gereizt wurden«. Nach einem Brand hätten sie grosszügig mit Nahrungsmitteln und Kleidern geholfen. Vor allem Frauen besuchten sich gegenseitig, erzählten sich Geschichten, führten gemeinsam kleinere Tätigkeiten durch oder tauschten Rezepte aus. Ebenso kamen sie an Festtagen – etwa bei Hochzeiten und Geburten – zusammen.48 Ob sich bei den Gesprächen zwischen den Frauen die andere Rolle, das andere Idealbild des Mannes auswirkte? Im traditionellen jüdischen Verständnis war die wichtigste Aufgabe des Mannes, ein Gelehrter im religiösen Sinn zu sein. Den Lebensunterhalt der Familie musste er nicht unbedingt sicherstellen, diese Pflicht fiel häufig der Frau zu. Ruth Katz fasst dies kurz und bündig zusammen: »Meine Mutter war der Boss.« Allerdings begannen sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Wertvorstellungen zu lockern und brachten teilweise das Selbstverständnis der Frauen ins Wanken. Hier müssten wir einmal genauer nachfragen.49 Begegnungen finden des weiteren, wie wir erfahren haben, in den staatlichen Schulen statt. Anfangs schickten Juden vorwiegend ihre Töchter dorthin, während die Söhne die traditionellen jüdischen Schulen, den Cheder und gegebenenfalls die Jeschiwa, besuchen sollten. Gerade in Galizien begann sich dies in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ändern, während in den von Russland beherrschten Gebieten der jüdische Widerstand gegen Eingriffe in ihre Lebenswelt länger anhielt und die staatlichen Schulen boykottiert wur48 Jewish Grandmothers. Hg. von Sydelle Kramer und Jenny Masur. Boston 1976, S. 141, vgl. 93 (Mollie Linker, Hilfe durch eine polnische Frau); Singer, Welt, S. 226–229; Weizmann, Memoiren, S. 19 («friedliche und duldsame Beziehungen«, gutes Verhältnis zwischen Vater und seinen Arbeitern); Orla-Bukowska, Shtetl Communities, S. 103–108; Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 269–270; Knobel Fluek, Erinnerungen, S. 63 (vgl. 97), 66–71; Waclaw Wierzbieniec, Z dziejów gminy Żydowskiej w Rzeszówie (od XVI do XX wieku), in: Prace Historyczno-Archivalne. T. III, Rzeszow 1995, S. 79–90 (obwohl die jüdische Gemeinde eine fest abgegrenzte Gemeinschaft mit deutlich unterschiedenen kulturellen Verhaltensweisen darstellte, gab es doch zahlreiche gute persönliche Kontakte zwischen Juden und Christen). 49 Jewish Grandmothers, S. 143. Vgl. Haumann, Geschichte, S. 126, 131–132; Rüthers: Tewjes Töchter; Ruth Berger, Frauen in der ostjüdischen Volkserzählung, in: Aschkenas 8, 1998, S. 381–423; Susan A. Glenn, Daughters of the Shtetl. Life and Labor in the Immigrant Generation, Ithaca/London 1990, S. 8–49 («A Girl Wasn’t Much«. Jewish Womanhood in Eastern Europe). Zur dominierenden Stellung der Ehefrau auch Singer, Welt, S. 26 ff.; Kreitmann, S. 6, und Singer, Welt, S. 155 (bei beiden wird dieselbe Szene geschildert, in der bei Kreitmann der Vater, bei Singer die Mutter für das Mädchen eine Perspektive ausserhalb der Ehe ausschloss); Schulman, Schreie, S. 40–44. S. auch die bereits erwähnten weiblichen Reaktionen.

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den.50 In Brody übrigens wurde seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der jüdischen, von der Baron de Hirsch-Stiftung finanzierten Schule weltliches Wissen nach staatlichem Lehrplan und in deutscher Sprache unterrichtet. Dies erleichterte den Übergang auf das dortige deutschsprachige Kronprinz Rudolf-Gymnasium. Vielfach war trotzdem hartnäckiger Widerstand der Eltern zu überwinden. Schliesslich boten Vereine – nicht zuletzt die Feuerwehr – sowie die politische Entwicklung mit der Bildung und Betätigung von Parteien, mit Wahlkämpfen und mit der Diskussion über anstehende Probleme Gelegenheit zur Kommunikation. Allerdings konnten in der erregten Atmosphäre antisemitische Einstellungen auch leicht in Gewalt umschlagen.51 In Monasterzyska begegnen wir Hans Kimmel (1889–1970).52 In diesem Schtetl in Ostgalizien, nahe Buczacz, mit seiner typischen Architektur lebten zu Beginn des 20. Jahrhunderts 4000 Einwohner, davon 3000 Juden, 700 Polen und 300 Ruthenen. Kimmel erzählt uns von der Bedeutung des Marktplatzes, wo es alles zu kaufen gab, was benötigt wurde, und wo die Bauern der Umgebung neben den Juden ihre Waren anboten. Er beschreibt die stille Feiertagsstimmung am Schabbat, die auch von den Christen respektiert wurde, so wie die Juden die Gottesdienste der Katholiken und Unierten achteten. Die Beziehungen zwischen den drei Glaubensrichtungen liessen nach seiner Meinung nichts zu wünschen übrig, trotz einiger antisemitischer Tendenzen bei den Christen. Die Ruthenen wählten hier sogar bei den ersten Parlamentswahlen nach allgemeinem Wahlrecht 1907 den jüdischen Kandidaten. Lydia Harnik (1909–1998), die wir in ihrem Geburtsort Sereth in der Bukowina sehen, er50 Vgl. Orla-Bukowska: Shtetl Communities, S. 99–101; Sándor Holbok, Jüdische Kindheit zwischen Tradition und Assimilation, in: Die jüdische Familie in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Sabine Hödl, Martha Keil, Berlin/Bodenheim 1999, S. 123–140; Shaul Stampfer, Gender Differentiation and Education of the Jewish Woman in Nineteenth-Century Eastern Europe, in: Polin 7, 1992, S. 63–87; Andlauer, Bevölkerung, S. 99–113, 128–136; François Guesnet, Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel, Köln usw. 1998, S. 59–60, 103, 139–143, 233–235; Haumann, Weg. Als Beispiel: Sokolievka, S. 51–53; Edelstein, Schabbatnachmittage, S. 45–47 (er war der einzige jüdische Schüler in der Volksschule); Weizmann, Memoiren, S.  19–20; Singer, Welt, S. 16–25, 56–72, 96–107, 185–192; Granach, Mensch, S. 38, 41–56; Sperber, Wasserträger, S. 14–17, 67; Knobel Fluek: Erinnerungen, S. 25; Jewish Grandmothers, S. 2–7 («Fannie Shapiro« [Pseudonym], ein Dorf in Weissrussland); alle hier und später zitierten Berichte sind zeitlich im Jahrzehnt vor dem oder im Ersten Weltkrieg angesiedelt. 51 So Alfred Marill (1886–1954, Kolomea): Als hätten wir dazugehört, S. 208–216, hier S. 208–209, 213; vgl. Schoenfeld, Life, S. 118–127; Ertel, Shtetl, S. 229–242; Hoffman, Schtetl, S. 214–229. Zum Rahmen vgl. Haumann, Geschichte, S. 150–162, 170–173. Auf Kommunikation im Rahmen der Verwaltung gehe ich hier nicht ein. 52 Als hätten wir dazugehört, S. 217–220.

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wähnt ihren Grossvater, einen Landwirt mit 200 Hektar Ackerland, der für seine Knechte an den unierten Feiertagen Festmahle ausrichtete und dessen bester Freund deren Pope war.53 Das in der Regel gute Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen und Ethnien, das teilweise bis zu einer freundschaftlichen Verbundenheit gehen konnte, wird auch durch andere Erinnerungen bestätigt. Andererseits sind Ängste vorhanden, Misstrauen, Feindschaft, Hass treten auf. Die Dialektik des Vertrauten, das zugleich fremd ist, wird spürbar.54 Zunehmend verliessen Juden das Schtetl, um auszuwandern – nach Wien, nach Deutschland, in die USA.55 Viele unserer Gesprächspartner haben, wenn sie die Begegnung mit Christen schilderten, einen besonderen Aspekt wie selbstverständlich erwähnt, näm53 Als hätten wir dazugehört, S. 261–266, hier 262, 264. Die beiden diskutierten besonders gerne über religiöse Fragen. Dies war offenbar kein Einzelfall. Berl Edelstein berichtet von seinem Vater, der als Rabbiner in Berek bei Szatmár mit dem Pfarrer der Reformierten Kirche befreundet war: Schabbatnachmittage, S. 19–20. Tobiasz Albin Kac erzählt von einem Pater, der die den Jesuiten gehörende Mühle verwaltete und den Juden viel Gutes tat (Ort meiner jungen Jahre. Ein Israeli erinnert sich, Leipzig 1998, S. 53; Kac wurde 1912 in Nowy Sącz geboren). Ein antisemitischer Pfarrer wurde in der Schule vom Direktor daran gehindert, einen jüdischen Schüler zu Unrecht zu bestrafen (S. 75). Faye Schulman erzählt, wie Juden und Christen zusammen des 50jährige Priesterjubiläum des Popen feierten, die Juden schenkten ihm ein wertvolles Buch (S. 24, vgl. 27/28). Josef Burg gestaltet in seiner Erzählung »Makowej« die Rettung einer jüdischen Gemeinde in den Karpaten (Ispas) vor einem Pogrom durch den gleichnamigen unierten Priester (Ein verspätetes Echo, S. 149– 177). Vgl. zu weiteren, quasi selbstverständlichen interkonfessionellen Beziehungen Morgenstern: In einer anderen Zeit, S. 84; Orla-Bukowska, Shtetl Communities, S. 108–110, 112; Cała, The Image, S. 135–149; Schwara, Kindheit, S. 287–298. 54 Dazu Hoffman, Schtetl, S. 61 ff., 134 ff., 153, 161–162, 167 ff., 195 ff., 240 ff.; Haumann, Geschichte, S. 36–37, 170, 217–219. Zu vergleichbaren Formen bei den Landjuden im alemannischen Raum vgl. ders., »Lieber ’n alter Jud verrecke als e Tröpfle Schnaps verschütte.« Juden im bäuerlichen Milieu des Schwarzwaldes zu Beginn des Nationalsozialismus, in: Menora 3, 1992, S. 143–152, hier S. 151. Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940, Hamburg 2000, belegt dies in differenzierter Analyse. 55 Vgl. Klaus Hödl, »Vom Shtetl an die Lower East Side«. Galizische Juden in New York, Wien usw.1991; ders., Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien, Wien usw. 1994; Jack Wertheimer, Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York/Oxford 1987; Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986; Dieter Schonebohm, Ostjuden in London. Der Jewish Chronicle und die Arbeiterbewegung der jüdischen Immigranten im Londoner East End, 1881–1900, Frankfurt a. M. usw. 1987; Glenn, Daughters; Ruth Gay, Unfinished People. Eastern European Jews Encounter America, New York/London 1996; Patrick Kury, »Man akzeptierte uns nicht, man tolerierte uns!« Ostjudenmigration nach Basel 1890–1930, Basel/Frankfurt a. M. 1998; Karin Huser Bugmann, Schtetl an der Sihl. Einwanderung, Leben und Alltag der Ostjuden in Zürich 1880–1939, Zürich 1998.

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lich die Fähigkeit der Juden zum Sprachwechsel. Untereinander sprachen sie Jiddisch – mit deutlichen regionalen Unterschieden. Darauf mussten sich alle, die die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung erreichen wollten – Sozialisten wie Zionisten – in ihren Publikationen einstellen. Zugleich war und blieb Hebräisch die Sprache des religiösen Kultes und der jüdischen Gelehrsamkeit. Als Sprache der allgemeinen Bildung galt vielen Deutsch. Mit den christlichen Nachbarn, mit den Bauern auf dem Marktplatz oder bei der Feldarbeit, mit dem Geschäftskunden verständigten sie sich, nach Bedarf, in Polnisch, Ukrainisch, Russisch oder Deutsch. Je mehr jüdische Kinder in staatliche Schulen gingen, desto besser eigneten sie sich vorherrschende Umgangssprache an. In Galizien war dies manchmal kompliziert: Wenn eine jüdische Familie umzog, bedeutete das oft für die Kinder, dass sie in der Schule Polnisch statt Ukrainisch sprechen mussten oder umgekehrt. Hin und wieder hatten sie eine dieser Sprachen bereits durch ihre Amme oder ein Dienstmädchen kennengelernt. Ebenso bot der Schabbes-goj, der die am Schabbat verbotenen Arbeiten verrichtete, oder der nichtjüdische Nachbar, der die Lebensmittel und Gegenstände, die an Pessach aus der Wohnung entfernt werden mussten, erwarb und von dem man sie nach dem Fest wieder zurückkaufte, Gelegenheit zur interkulturellen Kommunikation. Der Sprachwechsel erleichterte es den Juden, sich in den verschiedensten Situationen zurechtzufinden, wies ihnen aber auch eine Sonderstellung in der ansonsten sprachlich geschlossenen Umgebung zu.56 56 Als Beispiele Morgenstern, Zeit, S. 86, vgl. 36–43; Sperber, Wasserträger, S. 57–58, 66; Singer, Welt, S. 49–50; Schoenfeld, Life, S. 8; Lachs, Warum, S. 15–18; Orla-Bukowska, Shtetl Communities, S. 101–103, 111; Jewish Grandmothers, S. 3 («Fannie Shapiro«, Weissrussland), 21 («Sarah Rothman«, Ukraine), 33–34 (Rose Soskin, Semiatycze, Gouv. Grodno), S. 127 (Ida Richter, Kleck bei Minsk: Russisch, Hebräisch und Jiddisch durch Privatlehrer, da die Kinder nicht in die staatliche Schule gingen), S. 140 (Ruth Katz, Wizajny, Russisch-Polen, Wojewodschaft Suwałki); Schulman, Schreie, S. 25; Knobel Fluek, Erinnerungen, S. 62, 65; Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 121–122; Kłańska, Schtetl, S. 222–239 (mit weiteren Begegnungsformen). Vgl. Susanne Marten-Finnis, Heather Valencia, Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Wilna und Berlin 1880–1930. Köln usw. 1999; Gabriele Kohlbauer-Fritz, Yiddish as an Expression of Jewish Cultural Identity in Galicia and Vienna, in: Polin 12, 1999, S. 164–176; Desanka Schwara, Sprache und Identität: Disparate Gefühle der Zugehörigkeit, in: Jüdische Identitäten, S. 141–169. Zur Bedeutung der Sprache für die Kommunikation s. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., Frankfurt a. M. 1988; Boris A. Uspenskij, Semiotik der Geschichte, Wien 1991. Die Mehrsprachigkeit wurde etwa von An-skij, dem Historiker Simon Dubnow oder der Sozialwissenschaftlerin Sara Rabinovič als integraler Bestandteil der jüdischen Kultur in Russland verstanden, sie stiessen damit aber auch auf Widerspruch (vgl. Nys, »Von zweifachem Feuer die Seele entbrannt»). Auf die Bedeutung der Medien für die Kommunikation der jüdischen Bevölkerung gehe ich hier nicht näher darauf ein.

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In den Erinnerungen der Akteure wird ein Kommunikationsort ausgespart, den es zumindest in einigen Schtetln gegeben hat. Die wachsende Verarmung weiter Kreise der jüdischen Bevölkerung sowie die allmähliche Auflösung traditioneller Bindungen und Wertvorstellungen brachten es mit sich, dass sogar »Mädchenhändler« oft leichtes Spiel hatten. Manchmal trugen diese, herkömmliche kulturelle Formen nutzend, einem Vater über den Schadchen ihren Ehewunsch vor und ließen sich nach religiösem Ritus – aber wohlweislich nicht zivilrechtlich – trauen. War die junge Frau dann erst einmal aus dem Elternhaus und der jeweiligen Umgebung entfernt, gab es für sie ein böses Erwachen. Sie wurde im Ausland zur Prostitution gezwungen, fand sich gelegentlich aber auch in einem Bordell wieder, das eine Jüdin oder ein Jude in einem Schtetl für nichtjüdische Besucher eingerichtet hatten. Israel J. Singer schildert uns, wie in einem ukrainischen Schtetl die Juden nach der Sünde suchen, die für eine verheerende Seuche verantwortlich sei, und sie zunächst darin zu finden glauben, dass im Freudenhaus eine »einzige Jüdin (...), eine junge Fremde« beschäftigt ist. Der Besitzer, ein Jude aus Podolien, weigert sich anfänglich, weil »die Schweine« wenigstens eine Jüdin verlangen würden und weil das Mädchen eine Waise sei. Als ihm der Rabbiner aber damit doht, dass man ihn nach dem Tod seiner Eltern nicht Kaddisch sagen lassen werde, gibt er nach.57 Unsere fiktiven Gänge durch einige Schtetl, bei denen wir mit manchen ihrer ehemaligen Bewohner in Beziehung getreten sind, haben uns vertiefte Einblicke ermöglicht, die eine Beschränkung auf den Blick »von aussen« nicht erlaubt hätte. Die Kommunikationsverhältnisse im Schtetl haben auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an sich. Es gab zentrale Begegnungsorte: den Bahnhof, den Marktplatz, die Synagoge, das Bad, die Schenke, ebenso das Haus mit seinem Geschäftsraum. Hier trafen sich Juden mit anderen Juden wie mit »Fremden«. Die Fähigkeit der meisten Juden zum Sprachwechsel begünstigte den Kontakt. Zu beobachten war, wie sich nicht nur die äusseren Rahmenbedingungen veränderten, sondern wie auch die internen formellen und in-

57 Singer, Josche Kalb, S. 179–180. Offen spricht darüber »Harry Rostein»: Gaffin, Being Jewish, S. 27 ff. Zu den Zusammenhängen: Bertha Pappenheim, die Anna O., Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel – Galizien. Hg. v. Helga Heubach, Freiburg/Brsg. 1992; Sabine Strebel, »... aus dem Gan Eden, dem Paradiese Frankfurt nach Gehinnom, der Hölle Galizien gekommen ...«, in: Der Erste Zionistenkongress, S. 69–73; Hödl, Bettler, S. 67–79, 232–236; Schwara, Kindheit, S. 338–358. Dass das Thema durchaus schon früher bewusst war, zeigt die Geschichte von Baal Schem Tow, der einmal eine junge Jüdin vor der Prostitution in einem Bordell gerettet haben soll: Chajim Bloch, Chassidische Geschichten, Wiesbaden 1996, S. 24–26 (zuerst 1929). Eine besondere Untersuchung wäre auch für den Umgang mit Aussenseitern nötig, vgl. z. B. Singer, Welt, S. 193–222.

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formellen Beziehungen – das gesamte Kommunikationsgefüge – in Bewegung gerieten. Die Bewohner der Schtetl mussten ihren Platz neu bestimmen. Das galt für die innerjüdische Gemeinschaft wie für die Kommunikation mit Nichtjuden, für die die Dialektik von vertraut und fremd charakteristisch war. Selbst wer sich im Guten mit Christen verbunden fühlte, konnte manchmal eine Irritation nicht verschweigen. Unterschwellig klang auch dort eine Spannung mit, wo keine offenen antisemitischen Tendenzen zu spüren waren, eine Furcht, dass nach wie vor wirksame judenfeindliche Klischees, von den Kirchen genährt, in gewalttätige Aktionen umschlagen könnten. Konkrete Erfahrungen in Krisenzeiten, selbst erlebt oder durch andere mitgeteilt, bestätigten diese Ahnung. Eine weitere Störung des Kommunikationsgefüges ergab sich offenbar dann, wenn jemand von der einen in die andere Welt vorzustossen suchte: Eine christlich-jüdische Liebesbeziehung brachte die Ordnung durcheinander, die Suche nach einer auskömmlichen Existenz liess Juden und Christen zu ökonomischen Konkurrenten werden, ein selbstbewusster jüdischer Sozialist oder Zionist drang in nichtjüdische Bereiche vor und erregte damit Befremden, nicht zuletzt in seinem bisherigen jüdischen Umfeld. Mit anderen Worten: die gewissermassen selbstverständliche Kommunikation innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wie zwischen Juden und Christen funktionierte solange, wie das überkommene Gleichgewicht nicht aus den Fugen geriet. Dazu gehörten offensichtlich auch sorgfältig getrennte Welten, die zugleich durch formell geregelte Beziehungen – etwa die Einbeziehung von Christen in rituell-religiöse Handlungen der Juden – wie auf informelle Weise durch gegenseitige Achtung und viele Kontakte verbunden sein mochten.58 Das hohe Mass an Autonomie im Schtetl bedeutete nicht nur weitgehende Selbstverwaltung, sondern zugleich eine kollektive Verantwortlichkeit, wie sie 58 Hier lässt sich eine Linie zu früheren Lebensformen unter völlig anderen Bedingungen ziehen: Die Ordnung der jüdischen Gemeinde Krakaus von 1595 betont die getrennten Bereiche und zielt bei den Interaktionen »nicht auf eine wie auch immer geartete ›Integration‹ in den sozialen und kulturellen Raum der christlichen Gesellschaft, sondern auf eine friedliche Koexistenz« (Heidemarie Petersen, Jüdisches Selbstverständnis im städtischen Kontext: Die Gemeindeordnung der Krakauer Juden aus dem Jahre 1595, in: Krakau, Prag und Wien. Funktionen von Metropolen im frühmodernen Staat, hg. v. Marina Dmitrieva, Karen Lambrecht, Stuttgart 2000, S. 131–141, hier 141. – Der Gleichgewichtszustand im Städtchen zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen betont auch in literarischer Verarbeitung Bolecka, Stein, S. 51–55; vgl. Zborowski, Herzog, Schtetl, S. 49. Für südwestdeutsche Landjudengemeinden bestätigen den labilen Gleichgewichtszustand als Vorbedingung für ein auskömmliches Zusammenleben Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien usw. 1999; Ullmann, Nachbarschaft; Baumann, Zerstörte Nachbarschaften.

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sich etwa in der Wohltätigkeit ausdrückte. Trotz aller internen Streitigkeiten und unterschiedlichen Anschauungen galt die soziale Verpflichtung als gemeinsame Sache der Juden des Schtetl. Der Solidarität entsprach das starke Zusammengehörigkeitsgefühl.59 Untrennbar eingebunden in diese Lebensform war Kommunikation im Sinn von Mitteilung und Erfahrung wie von Kontrolle. Der Kampf um die Autonomie, um die Bewahrung der eigenen Kultur gegen die Versuche, sie zu »zivilisieren«, beinhaltete insofern auch klar abgegrenzte Kommunikationsräume. Wirtschaftliche, soziale und demographische Veränderungen machten ebenso neue Kommunikationsregeln notwendig wie Wandlungen in den Einstellungen. Vielfach gelang es, einen neuen Gleichgewichtszustand zu erreichen – manchmal jedoch zerbrach das Gefüge.

59 Vgl. Guesnet, Juden, S. 334–446; Haumann, Geschichte, S. 84, 161.

Juden in der ländlichen Gesellschaft Galiziens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts* »Unser Vater war zuerst Kaufmann, dann Gutspächter, dann Gutsverwalter. Er ist ein Landwirt und kein Raw.« Dies erklärte der älteste Sohn des jüdischen Verwalters Morgenstern seinen Brüdern, obwohl sein Vater aus einer altehrwürdigen chassidischen Familie stammte, als Gelehrter galt und gemeinhin als Raw angeredet wurde.1 Die Familie lebte damals in Dobropole in Ostgalizien, südlich von Tarnopol, und das dörfliche Umfeld bestimmte ihr Dasein.2 Dennoch charakterisierte Soma Morgenstern, der jüngste, 1890 geborene Sohn, in seinen Erinnerungen einen der Mitarbeiter seines Vaters: »Obwohl ein Jude, war er […] der verbauerteste von allen Ökonomen, die ich je in meiner Kindheit kannte.«3 Hier schwingt die Vorstellung mit, Juden seien eigentlich keine Bauern, sondern Städter – und eben diese beherrscht auch die allgemeine Meinung bis heute.4 Deshalb brauche man sich eigentlich mit den Juden im Dorf, in *

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Erstpublikation in: Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Schneider. Hg. von Andrea Löw, Kerstin Robusch und Stefanie Walter. Frankfurt a. M., New York 2004, S. 36–58. Soma Morgenstern, In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Galizien. Lüneburg 1995, S. 25. Morgenstern hat die Erfahrungen in der ostgalizischen Welt jüdischer Gutsbesitzer und Verwalter, zusammen mit polnischen und ruthenischen Bauern, in seiner dreibändigen Romantrilogie »Funken im Abgrund« verarbeitet, die eine eigene Analyse verdient (Soma Morgenstern, Der Sohn des verlorenen Sohnes; Idyll im Exil; Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes; alle Lüneburg 1996). Vgl. Helmut Altrichter, Rückkehr als Erinnerung. Zu den Memoiren Soma Morgensterns, in: Hans-Jürgen Bömelburg/Beate Eschment (Hg.), »Der Fremde im Dorf«. Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte. Rex Rexheuser zum 65. Geburtstag. Lüneburg 1998, S. 211–230. Auch Raphaela Kitzmantel, »Trost für unser Volk spenden.« Soma Morgenstern – Leben und Schreiben im Schatten der Geschichte, in: Gabriele Kohlbauer-Fritz (Hg.), Zwischen Ost und West. Galizische Juden und Wien. Wien 2000, S. 75–80. Morgenstern, Zeit, S. 124. Joachim Schlör, Juden sind Städter – Ein Stereotyp und seine Bedeutungen, in: Fritz Mayrhofer/Ferdinand Oppl (Hg.), Juden in der Stadt. Linz 1999, S. 341–364; ders., Der Urbantyp, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. München, Zürich 1995, S. 229–240. Dieses Stereotyp, das durch die Statistik belegt zu werden schien, konnte leicht – unterlegt mit Großstadtfeindschaft – antisemitisch genutzt werden. Vgl. Peter-Heinz Seraphim, Das Judentum im osteuropäischen Raum. Essen 1938, S. 427: »Der Jude auf dem Lande war von vornherein ein auf dem Lande wohnender Städter. […] Während jedes andere Volk mit dem Lande, auf dem es lebt, also mit der Scholle verbunden ist […], ist der Jude, der an sich überall ein ›Fremder‹ ist, innerlich nicht irgendwie bedeutsam an der Umwelt als solcher interessiert.«

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der ländlichen Gesellschaft, nicht zu beschäftigen. Viele Erinnerungen sprechen dagegen, ebenso die rekonstruierte Geschichte, und es wird Zeit, dass sich die Historikerinnen und Historiker diesem Thema zuwenden. Hinde Rosenblatt, 1870 im ostgalizischen Radymno (Redim) nahe Przemyśl geboren, erzählt noch unmittelbarer als Soma Morgenstern, wie bei ihnen zu Hause »eine Landwirtschaft geführt wurde«. »Wir hatten, nahe der Stadt, eigene Felder, hielten einige Kühe, fügten von Zeit zu Zeit ein Kälbchen hinzu und zogen es auf. Ich hatte die Wirtschaft lieb […].«5 Dem Vater gehörte ein Gut, und er war durch den Getreideverkauf reich geworden. Wie die Durchsicht zahlreicher Autobiographien und literarischer Verarbeitungen jüdischen Lebens in Galizien zeigt, betrieben daneben jüdische Fuhrleute, Handwerker, Schankwirte, Krämer und Hausierer, die im Dorf oder in einem Schtetl wohnten, häufig eine kleine Landwirtschaft oder hatten zumindest einen großen Garten und hielten sich Kleinvieh, bis hin zur Ziege, die in vielen Geschichten eine wichtige Rolle spielt.6 Verbreitet waren auch der Obstanbau und der Handel mit Früchten.7 Daneben gab es eine Anzahl jüdischer Bauern. So berichtet Alexander Granach in seinen Aufzeichnungen: »In unserem Dorf Werbiwizi [in Ostgalizien, nördlich von Kolomea] lebten ungefähr hundertundfünfzig ukrainische Familien und unter ihnen vier jüdische. Alle lebten vom Ackerbau. Die Juden hatten nebenbei noch kleine Kramläden, und einer von ihnen hatte die Dorfschenke vom Gutsbesitzer gepachtet.«8 Im »goldenen Zeitalter« der Juden in Polen, in der Periode vor 1648, wurden diese rechtlich kaum diskriminiert, und sie lebten in größerer Zahl als später auf dem Land, wo sie in der Regel auch Grundbesitz erwerben durften. Nach der Union von Lublin 1569 zwischen Polen und Litauen gingen die polnischen 5 Hinde Bergner, In den langen Winternächten … Familienerinnerungen aus einem Städtel in Galizien (1870–1900). Salzburg, Wien 1995, S. 26, vgl. S. 32–34, S. 57. Ähnlich, wenngleich später, Toby Knobel Fluek, Erinnerungen an mein polnisches Dorf 1930– 1949. München 1990, S. 15 ff. (Bauernhof in Czernica, Ostgalizien). 6 Ein Teil der Selbstzeugnisse wird im Folgenden erwähnt. Einige habe ich behandelt in meinem Beitrag: Heiko Haumann, Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930, in: Nada Boškovska u. a. (Hg.), Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Zürich 2002, S. 323–348. 7 Als ein Beispiel: A. M. Fuchs, My shtetl, Jezierna, in: Shemot. The Jewish Genealogical Society of Great Britain 10 (2002), S. 21–23. 8 Alexander Granach, Da geht ein Mensch. Roman eines Lebens. München, Zürich 1990, S. 15, vgl. ff. (Granach wurde 1890 geboren.) Hier und im Folgenden Bernard D. Weinryb, Neueste Wirtschaftsgeschichte der Juden in Rußland und Polen. Von der 1. polnischen Teilung bis zum Tode Alexanders II. (1772–1881). 2. Aufl. Hildesheim, New York 1972, S. 156–218. Vgl. auch: Jerzy Tomaszewski (Hg.), Najnowsze dzieje Żydów w Polsce w zarycie (do 1950 roku). Warszawa 1993, S. 37, S. 81, S. 94, S. 167–168.

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Magnaten zur Kolonisierung der südöstlichen Gebiete über – also gerade in Galizien und in der Ukraine –, und Juden waren dabei als Pächter und Verwalter der Riesengüter ihre Mittelsmänner. Im Konfliktfall gerieten sie deshalb nicht selten zwischen alle Fronten. Nach den Teilungen Polens setzten dann Bestrebungen ein, die Juden wieder vom Land zu vertreiben. Diese wurden durch antijüdische, von den christlichen Kirchen gepflegte Klischees unterstützt, die besagten, dass die Juden die Bauern verderben würden. Durchaus spielte auch die wirtschaftliche Konkurrenz in Agrarkrisen seit Ende des 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Trotz aller antijüdischen Gesetze und Aktionen konnte das Ziel nicht vollständig erreicht werden. Es blieb eine Anzahl »Ackerjuden«,9 wenngleich zahlreiche Juden in die Städte gezogen waren. Nach und nach mussten die Bestimmungen wieder gelockert werden; in Galizien waren die Juden seit 1867 rechtlich den Nichtjuden gleichgestellt. Dennoch kehrte sich die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in den Städten nicht mehr um. In Galizien lebten 1900 immerhin noch rund 30 Prozent der Juden auf dem Land.10 Vor allem im Osten Galiziens trat die Stellung der Juden im Agrarbereich besonders hervor, zumal hier die Möglichkeiten zum Grunderwerb verhältnismäßig günstig waren. Die adlige Gutswirtschaft war nicht nur durch den Rückgang des Getreideexports seit Ende des 18. Jahrhunderts angeschlagen, sondern geriet nach dem Wegfall der bäuerlichen Fronarbeit 1848 in zusätzliche Schwierigkeiten. Die Ausdehnung der Propination – des Monopols auf Erzeugung und Ausschank alkoholischer Getränke auf den eigenen Gütern – reichte immer weniger aus, um die Verluste aufzufangen. Juden, die seit langem 9 Martin Pollack, Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Frankfurt am Main, Leipzig 2001, S. 183, vgl. S. 149–150. Die Karaiten, die in der Gegend von Halicz lebten, waren überwiegend Bauern, gerade auch im Obstanbau (S. 121–122). 10 In Russisch-Polen waren es lediglich noch 13,5 Prozent. Vgl. als Überblick Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden. 5. Aufl., München 1999 (auch im Folgenden). Speziell zur »Vorgeschichte« Jacob Goldberg, Die jüdischen Gutspächter in Polen-Litauen und die Bauern im 17. und 18. Jahrhundert, in: Manfred Alexander u. a. (Hg.), Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas. Festschrift für Günther Stökl zum 75. Geburtstag. Stuttgart 1991, S. 13–21; Antoni Podraza, Żydzi i wieś w dawnej Rzeczypospolitej, in: Andrzej LinkLenczowski/Tomasz Polański (Hg.), Żydzi w dawnej Rzeczypospolitej. Materiały z konferencji »Autonomia Żydów w Rzeczypospolitej Szlacheckiej«. Międzywydziełowy Zakład Historii i Kultury Żydów w Polsce. Uniwersytet Jagiellonski 22–26 IX 1986. Wrocław u. a. 1991, S. 237–256. – Auf die Motive der Aufklärer in Staat und Gesellschaft, Juden dadurch zu »verbessern«, indem man sie zu »produktiven« Bauern zu machen suchte, gehe ich hier ebensowenig ein wie auf das antisemitische Klischee, ein Jude könne kein Bauer sein, und auf die Bedeutung, die der jüdische Bauer als Pionier und Kolonisator im Zionismus einnahm.

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als Pächter und Verwalter der Güter oder als Kreditgeber der Adligen und als Großhändler tätig waren, kauften in vielen Fällen den verschuldeten Grundbesitz auf. Hinzu kam, dass Juden, die in der Stadt lebten, nach ihrer rechtlichen Gleichstellung im Jahr 1867 im Grunderwerb eine geeignete Geldanlage und eine Verbesserung ihres sozialen Prestiges sahen. Nach der Jahrhundertwende finden sich auch ehemalige Schankwirte und Kleinhändler in den Registern, die sich auf diesem Wege eine Aufstiegsmöglichkeit erhofften. 1912 besaßen 561 Juden beim Tabulargroßgrundbesitz eine Gesamtfläche von 342.148 Hektar, was einem Anteil von 22 Prozent an den Landeignern und 16 Prozent der Fläche entsprach. Diese Situation verstärkte antisemitische Regungen unter den sozial absteigenden Adligen, andererseits aber mussten so manche polnischen Magnaten ihre antijüdischen Gefühle unterdrücken, um ihre neuen Standesgenossen nicht als Bündnispartner gegen die aufstrebende ukrainische Elite zu verlieren. Die jüdischen Großgrundbesitzer sorgten vielfach für eine tiefgreifende Modernisierung der Wirtschaft. Bei einem Großteil der Fälle ging sie einher mit der Errichtung von Fabriken – Sägewerken, Brennereien, Mühlen und Ziegeleien vor allem.11 Beachtlich blieb auch der Anteil jüdischer Pächter: 1910 betrug er in Galizien 50 und in der Bukowina 60,2 Prozent.12 Auf der anderen Seite ging allerdings der Stellenwert der jüdischen Schankwirte zurück, die traditionell die jüdische Mittlerfunktion im Beziehungsgeflecht zwischen Adel, Bauern und Städtern repräsentiert hatten, wie sie jahrhundertelang für Polen typisch war.13 Die Schenke bildete den kommunikativen Mittelpunkt des Adelsgutes, in dem die Bauern nicht nur Alkohol, sondern zahlreiche Produkte des täglichen Bedarfs kaufen konnten. Darüber hinaus vermittelte der Schankwirt geschäftliche Beziehungen zwischen Bauern und Kleinhändlern der Region oder der Städte. Auf diese Weise entwickelte sich häufig ein Vertrauensverhältnis zwischen Wirt und Bauer, und jener übernahm 11 Z. B. Morgenstern, Zeit, S. 44. Ausführlich zu diesen Entwicklungen hier und im Folgenden Teresa Andlauer, Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867–1914). Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 135–141 sowie S. 254–260; Tomasz Gąsowski, From Austeria to the Manor: Jewish Landowners in Autonomous Galicia, in: Polin 12 (1999), S. 120–136. Vgl. dessen Analyse der Berufsstruktur der Juden in Galizien: ders., Między gettem a światem. Dylematy ideowe Żydów galicyjskich na przełomie XIX i XX wieku.. Kraków 1996, S. 33–51. 12 Albert Lichtblau (Hg.), Als hätten wir dazugehört. Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie. Wien u.a. 1999, S. 67 (nach der offiziellen österreichischen Statistik). 13 Vgl. zur Entstehungsgeschichte: Hillel Levine, Gentry, Jews, and Serfs: The Rise of Polish Vodka, in: Review. A Journal of the Fernand Braudel Center for the Study of Economics, Historical Systems, and Civilizations 4 (1980), S. 223–250.

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dann auch die Erledigung nichtkommerzieller Aufträge, von Behördengängen oder Schriftverkehr. Nicht zuletzt war die Dorfschenke die Nachrichtenbörse, an der Informationen zwischen Stadt und Land ausgetauscht wurden.14 Jetzt verloren zahlreiche jüdische Schankpächter ihre Konzession. Die Pachtpreise waren in den vergangenen Jahrzehnten erheblich angestiegen, um den Grundbesitzern die ausbleibenden Gewinne aus anderen Bereichen auszugleichen. 1889 übernahm dann der Staat das Propinationsmonopol – allerdings mit einer Übergangszeit bis 1910 – und vergab die Schankpacht oft an Nichtjuden. Dabei kam es zu merkwürdigen Konstellationen. Stanisław Wyspiański lässt in seinem berühmtem Drama »Die Hochzeit«, das 1901 in Krakau uraufgeführt wurde, beispielsweise einen Pfarrer auftreten, der über die Konzession für die Dorfschenke verfügt. Er hat sie zu einem Wucherpreis an einen Juden verpachtet. Dieser steht aber selbstverständlich nach wie vor als »Blutsauger« und Bauernverderber am Pranger.15 Pikanterweise versuchte seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts der katholische Priester Stanisław Stojałowski als Führer der damaligen Bauernbewegung in Galizien, mit solchen Mitteln die Bauern zu mobilisieren und den Staat zu einer weiteren Zurückdrängung der Juden aus dem Schankgewerbe, ja überhaupt aus der ländlichen Gesellschaft zu drängen. Die späteren Bauernparteien verfolgten eine ähnliche Linie, wenngleich bei ihnen antisemitische Tendenzen einen geringeren Stellenwert hatten. Während der westgalizischen Bauernunruhen von 1898 entlud sich der Unmut jedoch nicht zufällig in Ausschreitungen gegen jüdische Dorfwirtschaften. Letztlich ging es um die Ausschaltung der Konkurrenz: Nichtjüdische Bauern strebten zunehmend danach, die Schenken zu pachten. Die jüdischen Schankwirte, einschließlich ihrer Angehörigen immerhin eine Gruppe von etwa 70.000 14 Nicht zufällig ist sie zum Gegenstand zahlreicher literarischer Verarbeitungen geworden. Vgl. Magdalena Opalski, The Jewish Tavern-Keeper and His Tavern in Nineteenth-Century Polish Literature. Jerusalem 1986. Besonders bekannt wurde Joseph Roths Schilderung der beherrschenden Stellung einer Schenke in Ost-Galizien, an der Grenze zwischen dem Habsburger und dem Zarenreich: Joseph Roth, Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters. Köln 1977, hier z. B. S. 26ff. 15 Stanislaw Wyspianski, Die Hochzeit. Drama in drei Akten. Frankfurt am Main 1992, S. 71–76 (1. Akt, 28.–30. Szene). Ereignis und Personen des Stückes sind tatsächlichen Verhältnissen nachgebildet. – Der Vorwurf der Bauernverderberei war selbstverständlich nicht nur in Galizien verbreitet. Ein schöner Hinweis findet sich im Artikel »Die Trunksucht in Russland als soziale Frage« in der Beilage zu Nr. 63 des Memeler Dampfbootes, »Memeler und Grenz-Zeitung«, 15.3.1882: »Man hat auch die Juden beschuldigt, dass sie die Bauern zum Trunke verleiteten, das ist jedoch nicht richtig. Zum Beweise mag dienen, dass in den 10 Großrussischen Gouvernements, woselbst den Juden der Verkauf von Getränken nicht erlaubt ist, ja woselbst sie gar nicht einmal wohnen dürfen, das Uebel am furchtbarsten grassiert.«

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Personen, machte nachdrücklich auf die Verschlechterung ihrer Situation aufmerksam – bis hin zu Massendemonstrationen in Wien –, aufhalten konnten sie die Entwicklung aber nicht. Um 1900 stellten sie trotzdem noch ungefähr 83 Prozent der Beschäftigten in der Alkoholproduktion und im Gastgewerbe.16 Insgesamt arbeiteten 1900 in der Land- und Forstwirtschaft 19 Prozent der erwerbstätigen Juden, mit rückläufiger Tendenz.17 Um ihren Einfluss in 16 Vgl. zu den hier geschilderten Vorgängen Andlauer, Bevölkerung, S. 258–259, zu jüdischen Unternehmern in Alkoholbrennereien, die um 1900 einen Anteil von 40% ausmachten, S. 186–188; Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa. Wiesbaden 1981, S. 60ff.; ders., Rural Anti-Semitism in Galicia before World War I, in: Chimen Abramsky u.a. (Hg.), The Jews in Poland. Oxford 1986, S. 97–105; John-Paul Himka, Ukrainian-Jewish Antagonism in the Galician Countryside during the Late Nineteenth Century, in: Peter J. Potichnyj/Howard Aster (Hg.), Ukrainian-Jewish Relations in Historical Perspective. Edmonton 1988, S. 111–158; Kerstin S. Jobst, Die antisemitischen Bauernunruhen im westlichen Galizien 1898 – Stojałowski und die polnischen Sozialdemokraten, in: Robert Maier/Georg Stöber (Hg.), Zwischen Abgrenzung und Assimilation – Deutsche, Polen und Juden. Schauplätze ihres Zusammenlebens von der Zeit der Aufklärung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Hannover 1996, S. 139–149; Claudia Kraft, Die jüdische Frage im Spiegel der Presseorgane und Parteiprogramme der galizischen Bauernbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 45 (1996), S. 381–409; Keely Stauter-Halsted, The Nation in the Village. The Genesis of Peasant National Identity in Austrian Poland, 1848–1914. Ithaca, London 2001; Kai Struve, Die galizischen Bauern und nationale Identitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Unveröffentl. Dissertation, Freie Universität Berlin 2002, hier bes. Kap. 6 und 9; ders., Gentry, Jews, and Peasants: Jews as »Others« in the Formation of Modern Polish Nation in Rural Galicia during the Second Half of the Nineteenth Century, erscheint in: Pieter Judson/Nancy Wingfield (Hg.), Creating the Other in the Habsburg Monarchy: The Origins, Dynamics and Legacy of Nationalism and Ethnic Enmity. (Ich danke Kai Struve für die Überlassung der Manuskripte). Vgl. auch Leila P. Everett, The Rise of Jewish National Politics in Galicia, 1905–1907, in: Andrei S. Markovits/Frank E. Sysyn (Hg.), Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia. Cambridge/Mass. 1982, S. 149– 177; Iaroslav Isaievych, Galicia and Problems of National Identity, in: Ritchie Robertson/ Edward Timms (Hg.), The Habsburg Legacy. National Identity in Historical Perspective. Edinburgh 1994, S. 37–45; Piotr Wróbel, The Jews of Galicia under Austrian-Polish Rule, 1869–1918, in: Austrian History Yearbook 25 (1994), S. 97–138; zu einem besonderen Aspekt Dietlind Hüchtker, Der ›Mythos Galizien‹. Versuch einer Historisierung, in: Michael G. Müller/Rolf Petri (Hg.), Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen. Marburg 2002, S. 81–107. Zur Geschichte nach 1918: Edward D. Wynot, The Polish Peasant Movement and the Jews, 1918–1939, in: Yisrael Gutman u. a. (Hg.), The Jews in Poland Between Two World Wars. Hanover, London 1989, S. 36–55. 17 Andlauer, Bevölkerung, S. 283. Nach anderen Berechnungen 14%; damit waren 2% aller Beschäftigten in diesem Sektor Juden: John-Paul Himka, Dimensions of a Triangle: PolishUkrainian-Jewish Relations in Austrian Galicia, in: Polin 12 (1999), S. 25–48, hier S. 28.

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der ländlichen Gesellschaft einschätzen zu können, müssen wir über diesen unmittelbaren Tätigkeitsbereich hinausblicken. Abgesehen von den jüdischen Schankwirten, Handwerkern und Kleinhändlern auf dem Lande sowie deren Nebenerwerbslandwirtschaft nahmen Juden eine wichtige Position in Industriezweigen ein, die mit dem Agrarbereich in engen Beziehungen standen. Dazu gehörten zum Beispiel die Nahrungsmittel- und die Mühlenindustrie – um 1900 machten sie in diesen beiden Branchen etwa die Hälfte der Unternehmer aus – oder die Holzindustrie, in der sie 18 Prozent der Beschäftigten und 60 Prozent der Großunternehmer stellten. Im Agrarhandel selbst setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Strukturwandel ein, nicht zuletzt aufgrund des sich ausweitenden Eisenbahnnetzes. Bis dahin hatten ihn die jüdischen Schankwirte sowie die zahlreichen Kleinhändler und »Dorfgeher« fest in der Hand gehabt. Nun mussten diese sich mit immer geringeren Verdiensten zufrieden geben und gerieten mehr und mehr in Abhängigkeit von Großhändlern. Viele Märkte büßten an Attraktivität ein, weil sie fernab der Eisenbahnlinien lagen. Zudem wuchs die Konkurrenz von Seiten nichtjüdischer Händler und Genossenschaften. Um ein gewisses Gegengewicht zu schaffen, gründeten

Leider geht Himka auf die ländlichen Verhältnisse nur oberflächlich ein und sieht vorwiegend die Antagonismen. Im übrigen wurden auch diese Juden, nach dem gegenwärtigen Forschungsstand zu schließen, in der Regel nicht als »Bauern« wahrgenommen, möglicherweise sahen sie sich oft selbst nicht so. Über diese Wahrnehmungsbilder sind noch weitere Forschungen notwendig. Ich danke Kai Struve für eine intensive Diskussion dieser Frage (vgl. seine in Anm. 16 zitierten Arbeiten). Am Beispiel des Schtetls Jaśliska, südwestlich von Przemyśl nahe der Grenze zur Slowakei gelegen, geht auch Rosa Lehmann auf diese Problematik ein: Rosa Lehmann, Symbiosis and Ambivalence. Poles and Jews in a Small Galician Town. New York u. a. 2001, S. 47–48 (1870 gaben 25% der dortigen männlichen Juden die Landwirtschaft als Hauptbeschäftigung an, dies entsprach nicht der allgemeinen Wahrnehmung.) – Interessant ist ein Blick in die Zukunft: 1931 waren in der Republik Polen 4,3% der Juden in der Landwirtschaft tätig – ein erstaunlich hoher Prozentsatz (Jacob Lestchinsky, The Industrial and Social Structure of the Jewish Population of Interbellum Poland, in: YIVO Annual of Jewish Social Science 9 [1956/57], S. 243–269, hier S. 248). In der Wojewodschaft Krakau betrug dieser Anteil sogar 7,4%. 1933 wurde ein Jüdischer Bauernverband mit einer eigenen Zeitschrift – Der jüdische Bauer – gegründet, es folgten jüdische landwirtschaftliche Genossenschaften. Dies nutzten antisemitische Kreise zu einer aggressiven Hetze. Hieß es sonst, Juden könnten keine Bauern sein, weil sie die körperliche Arbeit scheuten (vgl. Anm. 4), so wurde nun vor der »Verjudung« des Bauernstandes und der Kolonisierung Polens durch die Juden gewarnt (Viktoria Pollmann, Untermieter im christlichen Haus: Die Kirche und die ›jüdische Frage‹ in Polen an Hand der Bistumspresse der Metropolie Krakau 1926–1939. Wiesbaden 2001).

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Juden nach der Jahrhundertwende Kreditgenossenschaften, denen auch christliche Bauern angehörten.18 Die Stellung der Juden in der ländlichen Gesellschaft Polens wandelte sich somit strukturell tiefgreifend. In einem zweiten Schritt möchte ich fragen, wie sich Juden und Christen unter diesen Bedingungen begegneten. Auch diese Entwicklung ist bislang kaum erforscht worden, weil es auf den ersten Blick scheint, als hätten die beiden Bevölkerungsgruppen – abgesehen von den geschäftlichen Beziehungen – mehr oder weniger scharf getrennt voneinander gelebt. Sicher gab es derartige Trennungen, allein schon aufgrund des religiösen Lebens oder durch die autonome Verwaltung jüdischer Angelegenheiten seitens der Gemeinde und der eigenständigen Gemeinschaften, der Chewrot. Trotz aller Verbote hatten die Juden diese Autonomie bewahren können – ein wichtiger Grund für ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein.19 Daneben finden sich aber durchaus Orte der Begegnung, und an erster Stelle steht hier der Marktplatz im Schtetl.20 In den Kleinstädten auf dem Land wohnten die Juden in der Regel in einem bestimmten Viertel oder zumindest in einer besonderen Gasse, auch wenn dies keineswegs immer auf ein Ghetto 18 Andlauer, Bevölkerung, S. 185–193, S. 243–250, vgl. S. 265–275. Im Warenhandel nahmen jüdische Selbständige 1900 einen Anteil von 91,2% (Ostgalizien) bzw. 81% (Westgalizien) ein: Lichtblau, Lebensgeschichten, S. 67. Vgl. Klaus Hödl, Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien u.a. 1994, S. 19–22; Pollack, Galizien, S. 25–26. Zum Vergleich mit Russisch-Polen: Heiko Haumann, Wandlungen in den ökonomischen Funktionen der Juden in Kongreßpolen zwischen 1863 und 1914, in: Gotthold Rhode (Hg.), Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Marburg 1989, S. 163–179, hier S. 166. Für die Zwischenkriegszeit: Jerzy Tomaszewski, The Role of Jews in Polish Commerce, 1918–1939, in: Gutman u.a. (Hg.), The Jews, S. 141–157. 19 Dazu ausführlich für Kongresspolen François Guesnet, Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln u.a. 1998, bes. Teil IV und VI. 20 Eine Einführung in die Struktur des Schtetls an drei Beispielen bietet Rachel Ertel, Le Shtetl. La bourgade juive de Pologne de la tradition à la modernité. Paris 1982, bes. S. 106–145, S. 211–294. Vgl. Fotografien vom Jahrmarkt in Jarmolince (Podolien): Stefan Kieniewicz, Jews in Jarmolince, in: Polin 4 (1989), S. 311–312. Eine bildliche Vorstellung geben die gemalten Erinnerungen Ilex Bellers an sein Heimatdorf Grodzisko nahe Rzeszów: Ilex Beller, Das Leben im Schtetl. Ein jüdisches Dorf in 80 Bildern. Tecklenburg 1989. Auf die Beziehungen im Schtetl gehe ich in einem anderen Beitrag näher ein: Haumann, Kommunikation. Hier skizziere ich nur einige mir wesentlich erscheinende Punkte, einige Überschneidungen sind dabei nicht zu vermeiden. Vgl. auch Samuel D.Kassow, Community and Identity in the Interwar Shtetl, in: Gutman (Hg.), The Jews, S. 198–220; ders., Communal and Social Change in the Polish Shtetl 1900–1939, in: Ronald Dotterer u. a. (Hg.), Jewish Settlement and Community in the Modern Western World. Selinsgrove u. a. 1991, S. 56–92.

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zurückging. Dies bot sich an, um einen kurzen Weg zur Synagoge zu haben und die sonstigen Einrichtungen des Gemeinschaftslebens leichter nutzen zu können. Vereinzelt hatten Juden auch Häuser außerhalb dieses Quartiers erworben, dessen Zentrum meist eben jener Marktplatz bildete. Hier boten Juden und Bauern aus der umliegenden Gegend ihre Waren feil.21 Händler wie Kunden kommunizierten nicht nur im Kauf, sondern auch im Gespräch miteinander.22 Angeboten wurden – neben handwerklichen Gütern oder aus den größeren Städten gelieferten Erzeugnissen – Produkte aus der Nebenerwerbslandwirtschaft: Geflügel, Eier, Milch, Brot, Gemüse, Kartoffeln. Im Dorf gab es manchmal ebenfalls einen eigenen jüdischen Siedlungsteil mit Markt. So lebte die jüdische Bevölkerung zwar eher am Rande, aber doch keineswegs völlig getrennt von den anderen Bewohnern. Jüdische und christliche Frauen trafen sich vor allem auf der Straße oder im Kramladen und tauschten Informationen und Meinungen aus. Die Bedeutung dieser Kommunikationsebene ist bisher

21 Alla Sokolowa, Architectural Space of the Shtetl-Street-House. Jewish Homes in the Shtetls of Eastern-Podolia, in: TrumaH 7 (1998), S. 35–85; Halina Petryschyn, Die Judenviertel in der Stadtplanung und Stadtentwicklung Ostgaliziens mit besonderer Berücksichtigung der Zeit vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Mayrhofer/Opll (Hg.), Juden in der Stadt, S. 221–295. Auch Ukrainer, Polen und Armenier wohnten häufig in gesonderten Vierteln mit eigenen Marktplätzen. Befremdlich ist an diesem sehr interessanten Artikel, wie über die Herrschaft Bohdan Chmel’nyc’kyjs berichtet wird: Die verschiedenen Ethnien seien »teilweise aufgelöst, teilweise umgewandelt« worden; »auf diese Weise bildete sich in der Ukraine ethnisch eine völlig homogene Bevölkerung heraus. Massenmorden in Form von Pogromen waren die Juden nur bei plötzlichen Kriegsausbrüchen nur in wenigen Orten ausgesetzt. Alle anderen konnten rechtzeitig über die Weichsel in den Westen nach Polen flüchten. Bei der Flucht aus den gefährdeten Gebieten um die Weichsel brachen verschiedene Infektionskrankheiten aus, denen mehr als 100.000 Menschen zum Opfer fielen« (S. 241–242). Die bisherige Forschung gewichtet die Massaker wesentlich stärker. 22 Mark Zborowski/Elizabeth Herzog, Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden. München 1991, S. 44–49. Das Buch, 1952 im Original erschienen, beruht auf einzigartigen Aussagen von emigrierten Juden sowie auf der Auswertung archivalisch gesammelter Lebensgeschichten. Der Quellenwert wird leider dadurch vermindert, dass die Gesprächspartner nicht mit Herkunftsort und zeitlichem Bezugspunkt vorgestellt werden. Dass Mark Zborowski (1908–1990), selbst aus einem Schtetl stammend, eine dubiose Karriere als Mitglied des stalinistischen Geheimdienstes hinter sich und sich dabei an der Ausspionierung Trockijs sowie namentlich Leo Sedovs – dessen Sohn – beteiligt hatte, sei hier nur am Rande erwähnt (Peter Huber, Stalins Schatten in die Schweiz. Schweizer Kommunisten in Moskau: Verteidiger und Gefangene der Komintern. Zürich 1994, S. 326, S. 350, S. 355, S. 450, S. 459). Vgl. zu verschiedenen Aspekten Annamaria OrlaBukowska, Shtetl Communities: Another Image, in: Polin 8 (1994), S. 89–113. Auch sie bezieht sich auf zahlreiche Erinnerungen. Ebenfalls: Lucette Valensi/ Nathan Wachtel, Jewish Memoirs. Berkeley u. a. 1991.

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überhaupt noch nicht gewürdigt, geschweige denn erforscht worden.23 Hin und wieder gingen Kontakte aus beruflicher Zusammenarbeit hervor.24 Kinder aus jüdischen und christlichen Familien konnten sich in der Schule oder beim Spiel treffen.Darüber wird aber nur selten berichtet. Das mag daran liegen, dass die meisten Juden zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Söhne in die religiöse Schule – den Cheder – schickten; die allgemeine Schulpflicht konnte nur allmählich durchgesetzt werden. Deshalb fanden sich die Kinder unterschiedlicher Konfessionen auch nicht so leicht zum Spiel zusammen.25 Bei Mädchen, die eher in die weltliche Schule gehen durften, war dies möglicherweise häufiger der Fall. In Galizien, wo die Schulpflicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts eher griff, und überhaupt im Dorf, wo Juden und Christen enger zusammenlebten als in der Stadt mit ihren verschiedenen Quar23 Granach, Mensch, S. 17–19, S. 68–75; Orla-Bukowska, Shtetl, S. 112. Hochinteressant wäre ein Vergleich mit dem Landjudentum in Westeuropa, etwa im deutschsprachigen Raum: Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940. Hamburg 2000. Das gilt auch für die folgenden Begegnungsorte. Vgl. weiterhin Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969 (Neuausgabe 1999); Klaus Guth (Hg.), Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800–1942). Ein historisch-topographisches Handbuch. Bamberg 1988; Landjudentum im Süddeutschenund Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des Jüdischen Museums Hohenems vom 9. bis 11. April 1991, veranstaltet vom Vorarlberger Landesarchiv. Dornbirn 1992; Monika Richarz/Reinhard Rürup (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Tübingen 1997. Für die schweizerischen Landgemeinden steht eine systematische Untersuchung noch aus; Alexandra Binnenkade arbeitet an einer Dissertation über Lengnau. Julius H. Schoeps sieht den wichtigsten Unterschied zwischen Schtetljuden und westlichen Dorfjuden darin, dass im Westen das Judentum weniger als Religion denn als Brauchtum gelebt worden sei: Julius H.Schoeps, Das osteuropäische »Schtetl«. Lebensumstände, Bräuche und Befindlichkeiten, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 52 (2000), 2, S. 160–166, hier bes. S. 162–163. 24 Das wird z. B. von Flößern berichtet. Vgl. etwa: Josef Burg, Ein verspätetes Echo. A farschpetikter echo. München 1999, S. 21–45 (Kartenspiel zwischen seinem Vater, einem Flößer, und einem Gutsherrn; Burg wurde 1912 im Schtetl Wischnitz/Bukowina geboren und lebt in Czernowitz). Auch Chaim Weizmanns Vater war Holz-»Transportierer« und Flößer: Chaim Weizmann, Memoiren. Das Werden des Staates Israel. Zürich 1953, S. 16–19. Weizmann wurde 1874 in Motol (Motyli) bei Pinsk geboren. Zwar betont er, die Welten der Juden und Andersgläubigen seien streng getrennt gewesen (S. 21, S. 40), aus dem Zusammenhang geht aber hervor, dass es beim Flößen und bei anderen Gelegenheiten doch Kontakte gab. Auch wenn es sich hier um ein Beispiel aus Weißrussland handelt, dürfte es bezeichnend sein. Ebenfalls zu Kontakten: Mark Verstandig, I rest my case. 2. Aufl., Melbourne 1997, S. 2 ff. (zu Mielec in Westgalizien nordöstlich von Tarnów). 25 Desanka Schwara, »Ojfn weg schtejt a bojm«. Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongreßpolen, Litauen und Rußland 1881–1939. Köln u. a. 1999, S. 299–310. Danach war das konfessionsübergreifende Spiel eher die Ausnahme; allerdings werden vorwiegend städtische Verhältnisse behandelt.

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tieren, scheint der Kontakt leichter gewesen zu sein.26 Soma Morgenstern etwa erinnert sich – es muss um die Zeit der Jahrhundertwende gewesen sein –, dass die sechs oder sieben jüdischen Schuljungen nach dem Unterricht mit den anderen Kindern spielten. »Wie man sich denken kann, unter Bauernkindern wurde von den Jungens viel gerauft. Aber sie waren persönlich gruppiert, nicht nach Nationalitäten.« Nur ein einziges Mal sei es zu einer Formierung der Mehrheit der christlichen Jungen gegen sie gekommen; interessanterweise schloss sich ihnen aber als Anführer ein aus der Stadt vorübergehend zugezogener christlicher Raufbold an.27 Morgenstern schreibt, er habe im Dorf Dobropole, in dem er vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr wohnte, die glücklichsten Jahre seiner Kindheit verbracht. Der Gutshof, den sein Vater verwaltete, war nicht vom Dorf getrennt, sondern integriert. Hier wuchs seine Liebe zur Landschaft, die sich ihm derart einprägte, dass er sie auch als alter Mann mit den Augen seiner Kindheit sah. »Hier war ich der Bevölkerung so nahe, als gehörte ich zu ihnen. Ich lernte ihre Sprache und, wie es sich gezeigt hat, auch ihre Sitten und manche Unsitten.«28 Wichtig ist nicht zuletzt der Hinweis, dass die jüdischen Kinder nicht nur ihre Umgangssprache, das Jiddische, lernten und dazu ein wenig Hebräisch für die religiöse Praxis, sondern auch die Sprache ihrer Umgebung. Morgenstern musste aufgrund der Stellenwechsel seines Vaters mehrere Volksschulen besuchen, in denen einmal nur Polnisch, ein andermal nur Ukrainisch gesprochen wurde. Dies bereitete ihm keine Schwierigkeiten, weil er von seiner ukrainischen Amme bereits ihre Sprache gelernt hatte. Außerdem beherrschte Morgenstern das Deutsche, denn sein Vater war – wie die meisten Juden – der Ansicht, dass

26 Orla-Bukowska, Shtetl, S. 99–101. Vgl. Granach, Mensch, S. 38, S. 41–56; Manès Sperber, Die Wasserträger Gottes. All das Vergangene ... Bd. 1, Frankfurt am Main 1993, S. 14–17, S. 67 (Sperber wurde 1905 in Zabłotów, Ostgalizien, geboren); Knobel Fluek, Erinnerungen, S. 25; Joachim Schoenfeld, Jewish Life in Galicia under the Austro-Hungarian Empire and in the Reborn Poland 1898–1939. Shtetl Memoirs. Hoboken/N. J. 1985, S. 11–15, S. 110–117 (Śniatyń); Sydelle Kramer/Jenny Masur (Hg.), Jewish Grandmothers. Boston 1976, S. 2–7 (»Fannie Shapiro« [Pseudonym], ein Dorf in Weißrussland); Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente. 4. Aufl., Heidelberg 1986, S. 20–24; Lichtblau, Lebensgeschichten, S. 256–257 (Prive Friedjung, 1902–?, Zadowa/Bukowina). Alle hier und später zitierten Berichte sind zeitlich im Jahrzehnt vor dem oder im Ersten Weltkrieg angesiedelt. Die im Folgenden in Anführungszeichen gesetzten Namen sind Pseudonyme. 27 Morgenstern, Zeit, S. 91. 28 Ebd., S. 92.

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man ohne Deutsch kein gebildeter Mensch sein könne.29 Die Fähigkeit zum Sprachwechsel war für die Ostjuden aufgrund ihrer Lebensumstände notwendig und erleichterte es ihnen, sich in den verschiedensten Situationen zurechtzufinden; zugleich verschaffte sie ihnen eine Sonderstellung in der ansonsten sprachlich weitgehend homogenen Umgebung.30 In seinen Erinnerungen macht Morgenstern auf eine weitere Möglichkeit zur Begegnung aufmerksam: die Beschäftigung nichtjüdischer Arbeitskräfte in jüdischen Haushalten. Neben der Amme konnte dies ein Dienstmädchen, der männliche oder weibliche »Schabbes-goj«31 oder ein Landarbeiter zur Bewirtschaftung der Felder sein. Daneben gab es vielfältige Formen der Nachbarschaftshilfe.32 29 Ebd., S. 86, vgl. auch S. 36–43; Sperber, Wasserträger, S. 57–58; Orla-Bukowska, Shtetl, S. 111. Vgl. Kramer/Masur, Grandmothers, S. 3 und S. 21 (»Sarah Rothman«, Ukraine) sowie S. 33–34 (Rose Soskin, Semiatycze, Gouv. Grodno) und S. 127 (Ida Richter, Kleck bei Minsk: Russisch, Hebräisch und Jiddisch durch Privatlehrer, da die Kinder nicht in die staatliche Schule gingen), S. 140 (Ruth Katz, Wizajny, Russisch-Polen). 30 Vgl. aus einem anderen Blickwinkel Susanne Marten-Finnis/Heather Valencia, Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Wilna und Berlin 1880–1930. Köln u. a. 1999; Gabriele Kohlbauer-Fritz, Yiddish as an Expression of Jewish Cultural Identity in Galicia and Vienna, in: Polin 12 (1999), S. 164–176; Desanka Schwara, Sprache und Identität. Disparate Gefühle der Zugehörigkeit, in: Klaus Hödl (Hg.), Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaft des österreichischen Judentums. Innsbruck u. a. 2000, S.  141–169. Chone Shmeruk spricht für die Juden in Polen nach 1918 von einer trilingualen Polykultur: Chone Shmeruk, Hebrew – Yiddish – Polish: A Trilingual Jewish Culture, in: Gutman (Hg.), The Jews, S. 285–311, hier bes. S. 304–309. Inwieweit die sprachliche Sonderstellung eine Integration von Juden in die jeweilige (nichtjüdische) Nationalbewegung erschwert hat, wäre gerade im Verhältnis zu den christlichen Bauern noch zu untersuchen. Dass sich der Assimilations- oder Akkulturationswille nicht zuletzt in der Sprachwahl ausdrückte, zeigt sich in Galizien deutlich. Vgl. Jerzy Holzer, Zur Frage der Akkulturation der Juden in Galizien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 37 (1989), S. 217–227; ders., Die galizischen Juden, Deutschtum und Polentum, in: Maier/Stöber (Hg.), Abgrenzung, S. 125–137; Michael John/Albert Lichtblau, Mythos »deutsche Kultur«. Jüdische Gemeinden in Galizien und der Bukowina. Zur unterschiedlichen Ausformung kultureller Identität, in: Martha Keil/Eleonore Lappin (Hg.), Studien zur Geschichte der Juden in Österreich. Bodenheim 1997, S. 81–121. Zur Bildungssituation in Galizien vgl. Svjatoslav Pacholkiv, Emanzipation durch Bildung. Entwicklung und gesellschaftliche Rolle der ukrainischen Intelligenz im habsburgischen Galizien (1890–1914). Wien, München 2002. 31 Eine nichtjüdische Person, welche am Schabbat die den Juden verbotenen Tätigkeiten verrichtete. 32 Orla-Bukowska, Shtetl, S. 101–103; Sperber, Wasserträger, S. 66; Knobel Fluek, Erinnerungen, S. 62, S. 65. Vgl. Maria Kłańska, Aus dem Schtetl in die Welt. 1772–1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien u.a. 1994, S. 222–239 (mit weiteren Begegnungsformen); Zborowski/Herzog, Schtetl, S. 121–122.

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In der Regel beteiligten sich die Juden im Dorf oder in der Kleinstadt auch an der kommunalen Verwaltung. Sie nahmen durchaus Ämter wahr. Sehr oft lebten Juden und Christen Haus an Haus, manchmal sogar unter einem Dach zusammen. Kontakte blieben ebensowenig aus wie Streitigkeiten, Sympathien und Abneigungen. Vor allem Frauen luden sich gegenseitig ein, namentlich im Winter, wenn nicht so viel Arbeit anfiel, erzählten sich Geschichten, tauschten die Spezialitäten ihrer Küche aus – wie das auch an Feiertagen üblich war, allerdings wegen der für die Juden gültigen Verpflichtung zum koscheren Essen vielfach auf Schwierigkeiten stieß –, verabredeten gegenseitige Hilfeleistungen oder führten gemeinsam kleinere Tätigkeiten durch. Ebenso wurden Einladungen zu Festtagen – etwa Hochzeiten und Geburten – ausgesprochen.33 Freundschaften scheinen also gar nicht so selten gewesen zu sein, während sexuelle Beziehungen und Heiraten eher eine Ausnahme bildeten.34 33 Orla-Bukowska, Shtetl, S. 103–108; Zborowski/Herzog, Schtetl, S. 269–270; Knobel Fluek, Erinnerungen, S. 63 (vgl. S. 97), S. 66–71; Kramer/Masur, Grandmothers, S. 93, S. 141; Wacław Wierzbieniec, Z dziejów gminy żydowskiej w Rzeszowie (od XVI do XX wieku), in: Prace Historyczno-Archivalne. Bd. III, Rzeszów 1995, S. 79–90 (obwohl die jüdische Gemeinde eine fest abgegrenzte Gemeinschaft mit deutlich unterschiedenen kulturellen Verhaltensweisen darstellte, gab es doch zahlreiche gute persönliche Kontakte zwischen Juden und Christen). Vgl. für süddeutsche »Judendörfer« Baumann, Nachbarschaften; Beate Bechtold-Comforty, Jüdische und christliche Frauen auf dem Dorf – kulturelle Kontakte, soziale Konflikte?, in: Peter Fassl (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte. Stuttgart 2000, S. 257–268; Heiko Haumann, Wege zur Geschichte der Juden am Oberrhein, in: Allmende 13 (1993), H.  36/37, S. 6–26, hier bes. S. 12. Auf die Bedeutung einer spezifischen Frauenöffentlichkeit im Dorf und daraus resultierenden eigenen »Räumen« weist Regina Schulte hin: Regina Schulte, Bevor das Gerede zum Tratsch wird, in: Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Frankfurt am Main, New York 1992, S. 67–73. (Den Hinweis verdanke ich Dietlind Hüchtker.) – Wenn die Kommunikation zwischen jüdischen und nichtjüdischen Frauen genauer untersucht werden soll, ist auch danach zu fragen, inwieweit sich die andere Rolle, das andere Idealbild des Mannes auswirkte: Im traditionellen jüdischen Verständnis war die wichtigste Aufgabe des Mannes, ein Gelehrter im religiösen Sinn zu sein. Die Sicherstellung des Lebensunterhaltes der Familie trat dahinter zurück und fiel häufig der Frau zu. Im behandelten Zeitraum hatten sich diese Wertvorstellungen zu lockern begonnen, waren aber noch spürbar (und wo sich bereits Änderungen durchgesetzt hatten, war das Selbstverständnis der Frauen ins Wanken geraten). Vgl. Haumann, Geschichte, S. 126, S. 131–132; Monica Rüthers, Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Köln u.a. 1996; Ruth Berger, Frauen in der ostjüdischen Volkserzählung, in: Aschkenas 8 (1998), S. 381–423. 34 Orla-Bukowska, Shtetl, S. 110; Lichtblau, Lebensgeschichten, S. 193–207 (Samson Tyndel, 1878–1955, Kolomea). Vgl. Petra Ernst, Christlich-jüdische Liebesbeziehungen als Motiv in deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920, in: Hödl (Hg.), Identitäten, S. 209–242.

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Trotz aller antisemitischer Tendenzen innerhalb der christlichen Kirchen und unter zahlreichen Priestern wird immer wieder auch von einem guten religiösen Miteinander berichtet. Der Rabbiner oder der chassidische Zaddik war ein gefragter Ratgeber. Juden wie Christen achteten wechselseitig ihre Bräuche, Rituale und Feiertage. Am Sonntag blieben die jüdischen Geschäfte zwar geöffnet, doch hatten die christlichen Bauern dagegen nichts einzuwenden, da sie hier noch manche notwendigen Bedarfsartikel erwerben konnten. An der Prozession zum Herrgottstag (Fronleichnam) oder zum Besuch des Bischofs beteiligten sich offenbar häufig auch Juden unter Führung ihres Rabbiners.35 Soma Morgenstern sang im Chor zu Ehren eines Bischofsbesuches mit, und die Juden des Dorfes waren diesem unter Führung ihres Rabbiners mit Brot, Salz und der Tora entgegengeschritten. Ausgewählte Sänger erhielten ein Bildchen geschenkt, Soma zu seiner Bestürzung eine Madonna. Der verteilende Priester wurde auf seine Gedankenlosigkeit aufmerksam gemacht und ersetzte lächelnd die Madonna durch Moses.36 Noch viel zu wenig wissen wir über wechselseitige kulturelle Beeinflussungen. Gelegentlich werden gemeinsame magische Vorstellungen und Praktiken geschildert. In Ostgalizien und Wolhynien zündeten offenbar christliche Bauersfrauen, wenn sie die Märkte in den Kleinstädten besuchten, nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Synagoge Kerzen an.37 Nichtjüdische Bauern blickten anscheinend aber auch mit einer gewissen Verachtung auf Juden herab, weil deren Normen von den ihrigen abwichen und körperliche Arbeit für sie anscheinend keinen derart hohen Stellenwert besaß; eine Anzahl sprichwörtlicher Redewendungen zeugt davon. Umgekehrt galt aber das gleiche: Juden konnten nur schwer verstehen, dass die nichtjüdischen Bauern die Erfordernisse der landwirtschaftlichen Tätigkeit über religiöse Gebote stellten; auch kulturell fühlten sie sich ihnen überlegen. Bestätigt wird jedoch ebenfalls, dass beide Seiten unterhalb dieser Ebene überwiegend freundlich, in einzelnen Fällen sogar freundschaftlich miteinander kommunizierten und dass ein »Nahverhältnis« bestand, das sich aus der Mittlerfunktion der Juden im ökonomischen wie kulturellen Bereich ergab. Misstrauen und Ängste blieben aufgrund des unterschiedlichen »kulturellen Habitus« bestehen. Sie schlugen sich auch in Bräuchen nieder, in denen die Figur des »Juden« eine beliebte Drohmaske gewesen zu sein scheint. Teilweise trat dieser zusammen mit dem Teufel auf, ja erschien 35 Orla-Bukowska, Shtetl, S. 108–110; Alina Cała, The Image of the Jew in Polish Folk Culture. Jerusalem 1995, S. 141–149; Beller, Leben, S. 74–75; Lichtblau, Lebensgeschichten, S. 217–220 (Hans Kimmel, 1889–1970, Monasterzyska), S. 261–266 (Lydia Harnik, 1909–1998, Sereth); Burg, Echo, S. 149–177. 36 Morgenstern, Zeit, S. 84. 37 Orla-Bukowska, Shtetl, S. 112; Cała, Image, S. 135–141; Schwara, Kindheit, S. 287–298.

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überhaupt als dessen Werkzeug – somit als Vertreter einer »anderen« Welt, der aber nach traditionellen Vorstellungen zugleich für die Erhaltung der »eigenen« Welt notwendig war.38 Die Beziehungen zwischen Juden und Christen in der ländlichen Gesellschaft Galiziens können als »vertraut und fremd zugleich« charakterisiert werden.39 Morgensterns Erinnerung, er sei der Dorfbevölkerung so nahe gewesen, als habe er zu ihnen gehört, drückt diese Ambivalenz präzise aus: Es gab Situationen, in denen sich die Juden völlig integriert und akzeptiert fühlen konnten – doch es war keine sichere Integration. Immer bestand die Gefahr, dass die Nähe wieder in Ferne, in Fremdheit umzuschlug. Den wirtschaftlichen Hintergrund für dieses dialektische Verhältnis bildete das Aufeinandertreffen von »moralischer Ökonomie«, der Existenzsicherung gemäß überlieferten Normen, und profitorientiertem Kapitalismus. Zwei Arten von Rationalität stießen zusammen.40 Darüber hinaus beruhte die Ambivalenz von Nähe und Distanz möglicherweise auf einem labilen Gleichgewicht zwischen beiden Bevölkerungsgruppen. Als Vorbedingungen für ein auskömmliches Zusammenleben musste ein relativ starker jüdischer Anteil an der Einwohnerschaft oder zumindest ein dichtes Beziehungsgeflecht gegeben sein, das Gelegenheiten für formelle und informelle Begegnungen bot und manchmal sogar ein enges Vertrauensverhältnis gestattete.41 38 Aleksander Hertz, The Jews in Polish Culture. Evanston/Il. 1988, S. 72–75, S. 198–202; Cała, Image, S. 15–21, S. 22–52, S. 152–183 (mit Abb. 13, 14, 17, 18, 20, 21, 23–25, 27). Vgl. Zborowski/Herzog, Schtetl, S. 122–123, S. 192–193; Kłańska, Schtetl, S. 201ff.; Gerhard Bauer/Manfred Klein, Das alte Litauen. Dörfliches Leben zwischen 1861 und 1914. Köln u.a. 1998, S. 264–289. 39 Vgl. Heiko Haumann, »Lieber ’n alter Jud verrecke als e Tröpfle Schnaps verschütte.« Juden im bäuerlichen Milieu des Schwarzwaldes zu Beginn des Nationalsozialismus, in: Menora 3 (1992), S. 143–152, hier S. 151; Haumann, Wege. Baumann, Nachbarschaften, bestätigt dies in differenzierter Analyse. Die Ambivalenz der Beziehungen zwischen Konflikt und kooperativer Symbiose zeigt ebenfalls Lehmann, Symbiosis. 40 Keineswegs handelten die Juden rational, die Bauern jedoch uneinsichtig nach dem Herkommen, wie es vielfach dargestellt wird. Die jeweiligen handlungsleitenden Faktoren müssen im Einzelfall bestimmt werden. Vgl. zum Konzept der »begrenzten Rationalität« von Bauern Andreas Suter, Neue Forschungen und Perspektiven zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz (1500–1800), in: Werner Troßbach/Clemens Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven. Stuttgart 1998, S. 73–91, hier S. 80–86. 41 Vgl. Zborowski/Herzog, Schtetl, S. 49. Anhand der Verhältnisse in süddeutschen »Judendörfern« vertritt diese These Baumann, Nachbarschaften. Für die frühneuzeitliche Dorfgesellschaft hat Claudia Ulbrich ebenfalls einen Gleichgewichtszustand festgestellt: Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen

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Das labile Gleichgewicht zwischen Juden und Nichtjuden in den Dörfern Galiziens begann seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brüchig zu werden, seitdem der organisierte Antisemitismus als politisches Mittel eingesetzt wurde, das Dorf in eine langanhaltende Strukturkrise geriet, die Bauern selbst nach neuen Einkommensquellen strebten und dabei auf Juden als ökonomische Konkurrenten trafen, aber auch die Juden sich neu einrichten mussten.42 Die gesellschaftlichen Konflikte spitzten sich zu. Das galt für die sozialen Gegensätze43 ebenso wie für die Versuche, gerade auf dem Land die jeweilige Bevölkerungsgruppe für nationale Interessen zu mobilisieren. In wirtschaftlich schwierigen Situationen gelang es zunehmend, den nationalen Gegner – und das hieß ganz besonders: »den Juden« – dafür verantwortlich zu machen und gegen ihn aufzuhetzen. Systematische judenfeindliche Propaganda drang in die Dörfer vor, bis hin zu Boykotts und gewalttätigen Ausschreitungen. Auf der anderen Seite gingen viele Juden aus diesen Auseinandersetzungen mit einem gestärktem Selbstbewusstsein hervor. Jedenfalls mussten die Menschen in der ländlichen Gesellschaft ihren jeweiligen Platz und die Grundlage für wechselseitige Begegnungen neu bestimmen. Vermutlich veränderten sich die Beziehungen im Dorf und in der Kleinstadt dadurch nicht schlagartig.44 Vorstellbar ist durchaus, dass unter den veränderten Bedingungen quer zu den ethnischen Bevölkerungskreisen neue Gruppierungen entstanden. Vertiefter, als es hier in dieser ersten Skizze möglich war, müssten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wien u.a. 1999, z. B. S. 260 (Formen innerdörflicher Konfliktregulierung, die auf intimen Kenntnissen der Machtverhältnisse und Beziehungsnetze beruhten und somit Kontakte zwischen jüdischen und christlichen NachbarInnen voraussetzten.). Vgl. ebd., S. 264–288, wo von Kooperationen, Arbeits- und Geschäftsbeziehungen, aber auch von Nachbarschaftshilfe, Tischgemeinschaften und engeren persönlichen Bindungen gerade zwischen Frauen die Rede ist; all dies erforderte einen »gemeinsamen Ehrcode«, der notfalls auch mittels weltlicher Gerichte durchgesetzt wurde (S. 287). Ein wichtiger Faktor ist weiterhin das Verhältnis zwischen jüdischer Gemeinde und Dorfgemeinde (vgl. ebd., S. 289–302). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999. Auf das labile Gleichgewicht im Schtetl gehe ich ebenfalls näher ein in Haumann, Kommunikation. 42 Heiko Haumann, Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert, in: Heiko Haumann (Hg.), Luftmenschen und rebellische Töchter: Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2003, S. 309–337. 43 Morgenstern berichtet von Streiks der Landarbeiter: Morgenstern, Zeit, S. 156–161. 44 Baumann, Nachbarschaften, sieht für Süddeutschland einen langen Prozess, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte und sich nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigte. Lehmann betont, dass sich unter den neuen Verhältnissen im 20. Jahrhundert die Bindungen zwischen Juden und Nichtjuden in Jaśliska eher verstärkten, die Ambivalenz der Beziehungen jedoch blieb.

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dazu die Verhältnisse jüdischer und nichtjüdischer Lebenswelten – verstanden als Schnittstelle von Akteuren und Strukturbedingungen – zueinander untersucht werden. Anhand einzelner Lebensläufe wären Gefühle, Einstellungen, Wahrnehmungsformen sowie Denk- und Verhaltensweisen in Wechselwirkung mit den jeweiligen materiellen und symbolischen Strukturen herauszuarbeiten. Über die Vernetzung der Lebenswelten könnten interkulturelle Beziehungen, Zusammenhänge und Mechanismen bestimmt sowie die persönlichen Ebenen mit übergreifend gesellschaftlichen verbunden werden. Nachzugehen wäre dabei auch den noch offenen Fragen, die etwa auf die Wirtschaftsweisen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen und deren Innovationspotential abzielen, auf Konfliktregelungen im Dorf, auf das Bewusstsein der jüdischen Bauern im Unterschied zu anderen jüdischen Berufsgruppen, auf die Prägung von Einstellungen durch eine Nebenerwerbslandwirtschaft, auf die Verbundenheit der Menschen mit ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt und ihre daraus hervorgehende Haltung gegenüber Ideologien, die von außen an sie herangetragen wurden, weiterhin auf geschlechtsspezifische Beziehungsfelder45 und auf die Orte der Begegnung. Auf diese Weise könnten wir uns der Stellung der Juden in der ländlichen Gesellschaft und der Dynamik, der sie unterlag, ein Stück weiter annähern. Quellen- und Literaturverzeichnis Abramsky, Chimen u.a. (Hg.), The Jews in Poland. Oxford 1986. Altrichter, Helmut, Rückkehr als Erinnerung. Zu den Memoiren Soma Morgensterns, in: Hans-Jürgen Bömelburg/Beate Eschment (Hg.), »Der Fremde im Dorf«. Überlegungen zum Eigenen und zum Fremden in der Geschichte. Rex Rexheuser zum 65. Geburtstag. Lüneburg 1998, S. 211–230. Andlauer, Teresa, Die jüdische Bevölkerung im Modernisierungsprozess Galiziens (1867– 1914). Frankfurt am Main u. a. 2001. Bauer, Gerhard/Klein, Manfred, Das alte Litauen. Dörfliches Leben zwischen 1861 und 1914. Köln u.a. 1998. Baumann, Ulrich, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940. Hamburg 2000. Bechtold-Comforty, Beate, Jüdische und christliche Frauen auf dem Dorf – kulturelle Kontakte, soziale Konflikte?, in: Peter Fassl (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte. Stuttgart 2000, S. 257–268. Beller, Ilex, Das Leben im Schtetl. Ein jüdisches Dorf in 80 Bildern. Tecklenburg 1989. Berger, Ruth, Frauen in der ostjüdischen Volkserzählung, in: Aschkenas 8 (1998), S. 381–423. Bergner, Hinde, In den langen Winternächten … Familienerinnerungen aus einem Städtel in Galizien (1870–1900). Salzburg, Wien 1995. Buber, Martin, Begegnung. Autobiographische Fragmente. 4. Aufl., Heidelberg 1986. 45 Vgl. Anm. 33.

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Juden in der ländlichen Gesellschaft Galiziens

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Schtetl und Judendorf Grenzüberschreitende Kulturen und das Bewusstsein der Autonomie*

»Das Haus meiner Familie stand in einem großen Hof, zusammen mit drei weiteren Wohnhäusern sowie unserer kleinen Fabrik. Es gab auch einen großen Garten, der an einen Hügel grenzte. Fliederbüsche wuchsen dort, sie blühten im Mai hell- und dunkellila und weiß. Eine Fülle von Farben und Gerüchen. Auf dem Hügel befand sich der russisch-orthodoxe Friedhof, der von einem Holzzaun umgeben war. Wir Kinder entfernten einige Nägel, drückten die losen Bretter auseinander und schlüpften hindurch, um die prächtigen Grabsteine, die Blumen, die vergoldeten Kreuze zu bewundern. (...) Mein Liebstes im Garten war der Birnbaum. Ein großer Baum, auf den wir gern kletterten, Abramele – mein Bruder – und ich, später auch Rochele und Ziporka. (...) Eines Frühlingstages, als der Baum in voller Blüte stand, wachten wir nach einer stürmischen Nacht am Morgen auf und der ganze Baum war schwarz. Ein Blitz hatte ihn getroffen. Der Anblick war schauerlich. Ein rabenschwarzer Baum im Herzen eines grünen Gartens. Der Baum, den ich so liebte, wurde zu einem verkohlten Denkmal. Lange träumte ich von dunklen Gespenstern, die aus den verbrannten Zweigen hervorkamen.«1 So beginnt Chasia Bornstein-Bielicka ihre Erinnerungen an ihr Zuhause in Grodno im damaligen Polen, wo sie 1921 als Tochter der Familie Bielicki geboren wurde. Die Kindheit wirkt wie eine Idylle, nur der vom Blitz getroffene schwarze Baum – ihr Lieblingsbaum – bringt ein beunruhigendes Element in die Erzählung. Auf den russisch-orthodoxen Friedhof schleichen sich die Kinder neugierig und ohne Furcht. Auch im weiteren Verlauf der Schilderung erscheint das Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung als weitgehend friedlich und harmonisch. Zwar klingt hin und wieder die Furcht vor antisemitischen Ausschreitungen an, aber im Alltagsleben begegnet Chasia christlichen Bauern, die der Familie ihre Produkte ins Haus bringen, den polnischen Freundinnen ihrer Mutter oder der weißrussischen

* Erstpublikation in: Osteuropa 58 (2008) H. 8–10, S. 147–164 [auf der Grundlage der Entwurfsfassung leicht verändert]. 1 Chasia Bornstein-Bielicka: Mein Weg als Widerstandskämpferin. Aus dem Hebräischen von Orna Keren-Carmel. Hg. von Heiko Haumann. München 2008 (i. Dr.; ich zitiere aus der Entwurfsfassung des Textes).

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Nachbarsfamilie, mit deren Kindern sie zusammen aufwächst. Die Tür ihres Hauses steht tagsüber immer offen.2 Der Großvater väterlicherseits hatte einen Bauernhof besessen, der Großvater mütterlicherseits war Schmied gewesen. Chasias Eltern führten eine kleine Fabrik, die leichte Getränke, Limonade und Sodawasser herstellte. Später musste der Vater bei der Konkurrenz arbeiten, die Mutter eröffnete einen bescheidenen Lebensmittelladen. Der Vater diente in der Synagoge als Chasan, als Vorbeter und Vorsänger, sowie als Sprecher der Gemeinde. Zugleich waren die Familienmitglieder mehr oder weniger in der zionistischen Bewegung aktiv. Der Vater bevorzugte die allgemeine Richtung, während sich die Kinder für die sozialistische Seite begeisterten. Chasia wurde wie ihr Bruder Mitglied beim Haschomer Hazair (»Der junge Wächter»), der zionistischen Jugendbewegung mit linkssozialistischem Gedankengut. Eine Tante gehörte gar den Kommunisten an. Während der 1930er und 1940er Jahre erlebte Chasia den wachsenden Antisemitismus in Polen, dann die wechselnde deutsche und sowjetische Besetzung Grodnos. Sie betätigte sich in der Untergrundbewegung und wurde nach der Liquidierung des Ghettos von Grodno in der Widerstandsbewegung im Ghetto von Białystok aktiv. Als polnisches Mädchen getarnt, hielt sie die Verbindung zwischen der »arischen Seite« und dem Ghetto aufrecht.3 Sie nahm am GhettoAufstand teil und arbeitete nach dessen Niederschlagung für die Partisanenbewegung in den Wäldern der Umgebung. Nach Kriegsende – außer ihr hatte niemand aus ihrer Familie die Schoa überlebt – eröffnete Frau Bielicka in Polen ein Kinder- und Erziehungsheim und versuchte, überlebende jüdische Kinder aufzuspüren. Aufgrund der antisemitischen Vorfälle in Polen entschloss sie sich, zusammen mit den Kindern 1946/47 illegal nach Palästina auszuwandern. Ihre Erinnerungen stehen unter dem »Leitmotiv«4: Die Deutschen haben in der Schoa ihre Familie und ihre Heimat vernichtet, und die Polen haben letztlich nichts getan, um sich mit den Juden zu solidarisieren oder ihnen zumindest nach Kriegsende einen Neuanfang in der Heimat zu ermöglichen. Von diesem 2 Vgl. Heiko Haumann: Kommunikation im Schtetl. Eine Annäherung an jüdisches Leben in Osteuropa zwischen 1850 und 1930, in: Nada Boškovska u.a. (Hg.): Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas. Köln usw. 2002, S. 323–348, hier S. 329–330, 332. 3 Mit »arischer Seite« bezeichnete man damals im allgemeinen Sprachgebrauch den »nichtjüdischen« Teil der Stadt. 4 Achim Hahn: Narrative Pragmatik und Beispielhermeneutik. Zur soziologischen Beschreibung biographischer Situationen, in: Gerd Jüttemann, Hans Thomae (Hg.): Biographische Methoden in den Humanwissenschaften. Weinheim, Basel 1999, S. 259–283, hier S. 276–277.

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katastrophalen Einschnitt und ihrem späteren Leben aus, dem sie – nicht zuletzt mit der Sorge für die überlebenden Kinder – einen neuen Sinn gegeben hat, blickt sie auf ihr Schicksal zurück.5 Dieser Blick bestimmt auch ihre Erinnerung an das Schtetl, an das jüdische Leben in Grodno. In vergleichbarer Weise gilt dies für die meisten Erinnerungen von Jüdinnen und Juden, die nach der Schoa über das Leben im Schtetl verfasst worden sind. Bei der Auswertung dieser Selbstzeugnisse ist zu berücksichtigen, inwieweit die Sichtweise aufgrund einer späteren Sinnkonstruktion das Bild des Schtetl in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Voranzeichen der Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges könnten beispielsweise gegenüber anderen Entwicklungen, die vielleicht in der Kindheit als viel wichtiger empfunden wurden, stärker hervorgehoben worden sein, oder die Verhältnisse im Schtetl könnten mehr, als es beim nostalgischen Rückblick im Alter ohnehin zu erwarten wäre, idyllisiert werden, um sie von den traumatischen Erlebnissen in den 1940er Jahren abzusetzen.6 Ein Vergleich mit Schilderungen, die vor der Schoa geschrieben wurden, und mit Forschungen, die auf zeitgenössischen Quellen fußen, erleichtert es, die Erinnerungen einzuordnen. Das Schtetl war die typische räumliche Umwelt der Juden in Osteuropa. In der Regel handelte es sich um ein kleines Städtchen, aber auch ein Dorf oder ein Viertel in einer großen Stadt konnten als Schtetl verstanden werden. Kennzeichnend war, dass Jüdinnen und Juden die Mehrheit der Bevölkerung stellten, nichtjüdische Gruppen aber auch vertreten waren. Es bestand eine dichte jüdische Infrastruktur und Selbstverwaltung. Die zentralen Begegnungsorte – das Haus, der Marktplatz, die Synagoge, das Bad, der Bahnhof, die Straße – hatten für Männer und Frauen, aber auch im Verhältnis zu Nichtjuden, unterschiedliche Bedeutungen. Im 19. Jahrhundert hatte sich ein Gleichgewicht, ein selbstverständliches Kommunikationsgefüge innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sowie zwischen Juden und Nichtjuden herausgebildet. Dazu gehörten klar geregelte Kontakt- und Abgrenzungszonen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen Störungen des Gleichgewichts zu. Das hing in erster Linie mit dem Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen: den demographischen Veränderungen, den wirtschaftlichen und sozialen Umschichtungen, den politischen Zuspitzungen nicht zuletzt durch 5 Zum theoretischen Ansatz Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen, in: Brigitte Hilmer u. a. (Hg.): Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Weilerswist 2006, S. 42–54. 6 David G. Roskies: The Shtetl in Jewish Collective Memory, in: ders: The Jewish Search for a Usable Past. Bloomington 1999, S. 41–66. – Ders.: The Shtetl as Imagined Community, in: Gennady Estraikh, Mikhail Krutikov (Hg.): The Shtetl: Image and Reality. Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish. Oxford 2000, S. 4–22.

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nationalistische Bewegungen. Der Kampf um Autonomie, um Erhaltung der Selbstverwaltung und um Bewahrung der Kultur der Jüdinnen und Juden gegen die Versuche, sie zu »zivilisieren«, aber auch das Bemühen, in kollektiver Verantwortlichkeit der wachsenden Armut entgegenzuwirken, erforderten ein hohes Maß an Solidarität im Schtetl. Trotz aller internen Streitigkeiten und unterschiedlichen Anschauungen scheint dies grundsätzlich gewährleistet gewesen zu sein. Und doch wurden nun, als die Menschen im Schtetl ihren Platz in der Gesellschaft neu bestimmen mussten, die Konflikte offenkundiger und die Labilität des inneren Gefüges sichtbarer. Übliche nachbarschaftliche Auseinandersetzungen erhielten nun oft seitens der Christen eine antisemitische Note. Grenzüberschreitungen wurden häufiger und brachten die Ordnung durcheinander: Eine christlich-jüdische Liebesbeziehung hob die traditionellen Trennlinien auf und stieß zu neuen Horizonten vor; ein selbstbewusster jüdischer Zionist oder Sozialist drang in nichtjüdische Bereiche vor und erregte damit Befremden, nicht zuletzt in seinem bisherigen jüdischen Umfeld.7 Eine weitere Möglichkeit, den Blick auf das osteuropäische Schtetl zu schärfen, besteht im Vergleich mit westeuropäischen Verhältnissen, im vorliegenden Fall mit Orten in Südwestdeutschland, im Elsass und in der Nordwestschweiz. Sie hatten eine eigene jüdische Synagogen-Gemeinde und werden deshalb als »Judendörfer« bezeichnet.8 Das Judendorf

Im Unterschied zum Schtetl stellten Juden im Judendorf in der Regel lediglich eine Minderheit innerhalb der Ortsbevölkerung. Als erstrangige historische Quellen gelten Jacob Picards Erzählungen, mit denen er seine Kenntnisse jüdischen Lebens in der oberrheinischen Region literarisch verarbeitete und die

7 Diese knapp zusammengefassten Charakteristika sind das Ergebnis einer ersten Auswertung von ausgewählten Selbstzeugnissen und von Forschungen zum Schtetl in Osteuropa: Haumann, Kommunikation [Fn. 2]. – Ders: Juden in der ländlichen Gesellschaft Galiziens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Andrea Löw u. a. (Hg.): Deutsche – Juden – Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert. Festschrift für Hubert Schneider. Frankfurt, New York 2004, S. 35–56. – John D. Klier: What Exactly Was a Shtetl? In: Estraikh/Krutikov, The Shtetl [Fn. 6], S. 23–35. – Antony Polonsky (Hg.) The Shtetl: Myth and Reality Oxford 2004 [= Polin. Studies in Polish Jewry 17]. – Polin 4/1990 und 8/1994. – East European Jewish Affairs 37,3/2007. – Steven T. Katz (Hg): The Shtetl. New Evaluations. New York 2007. 8 Definiert nach: Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 21999, S. 17 Anm. 2.

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erstmals in den 1930er Jahren erschienen. Er wird als »Dichter des deutschen (oder süddeutschen) Landjudentums« bezeichnet.9 Schauen wir uns zwei Beispiele an. Die Erzählung »Die alte Lehre« spielt in einem oberelsässischen Judendorf nicht weit von der Grenze zu Basel zur Zeit des Kaisers Napoleon III. Der christliche Bürgermeister des Ortes, der Maire, sorgt dafür, dass der ärmste Jude, ein Friseur, in der Synagoge dazu aufgerufen wird, den Segensspruch zur Tora zu sagen. Dies war ihm bisher versagt worden, weil er nicht wie die anderen für einen guten Zweck Geld spenden kann. Der Parnes, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, verspricht daraufhin dem Bürgermeister, seinem Freund, »dass fürderhin immer an diesem Tag der dritte Aufruf den ärmsten Mann in der Gemeinde« treffen solle. Die Ehre, den Segensspruch zu sagen, werde von einem anderen gekauft, und auch die Spende werde von anderen übernommen, »deren Namen nie einer erfahren« dürfe.10 Deutlich wird in dieser Geschichte, dass innerhalb der jüdischen Gemeinde ein erhebliches soziales Gefälle herrscht. Dieses wirkt sich sogar auf den religiösen Dienst in der Synagoge aus, der derart erstarrt und formalisiert ist, dass es eines Anstoßes von außen bedarf, um eine Änderung zu erreichen. Nachdem sie aber akzeptiert ist, wird sie dauerhaft eingeführt: Ein neuer Brauch, ein Minhag, ist begründet und ergänzt die Halacha, die die Lebensführung nach den religiösen Gesetzen regelt. Der Umgang unter den Juden sowie zwischen Juden und Christen im Dorf wird als ungezwungen geschildert, auch sprachlich gibt es keine Probleme. Der Maire wird als »eine fremde und doch vertraute Gestalt« für die Juden geschildert.11 Es gibt eine allen gemeinsame Grundlage der wechselseitigen Beziehung, man kennt die Bräuche der jeweils anderen, obwohl man sich in der Regel nicht in der Kirche oder in der Synagoge besucht. Diese interessante Verbindung thematisiert Picard auch in der Erzählung »Das Los«. In ihr macht ein jüdischer Hausierer in der Zeit der Französischen Revolution sein Glück durch ein Los. Dieses Glück schreiben er und alle anderen, die davon hören, der Fügung Gottes zu, weil er am Schabbat auf einem Schwarzwaldhof, wo er übernachten musste, die Gebote beachtet hat. Die Begegnung mit der Bauersfamilie steht im Zentrum der Erzählung. »Man 9 Jacob Picard. 1883–1967. Dichter des deutschen Landjudentums. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der ehemaligen Synagoge Sulzburg. Erarbeitet von Manfred Bosch und Jost Grosspietsch. Hg. vom Kulturamt der Stadt Freiburg. Freiburg i. Br. 1992. – Jacob Picard (1883–1967). Dichter des süddeutschen Landjudentums. Leben und Werk. Zur Lesereise 2005/2006. Hg. vom Freundeskreis Jacob Picard im Forum Allmende e. V. Freiburg i. Br. 2005. Aus beiden Heften stammen auch die folgenden Informationen. 10 Jacob Picard: Werke. Hg. von Manfred Bosch. Bd. 1. Erzählungen aus dem Landjudentum. Literarische Essays. Konstanz 1991, S. 78–88, Zitat S. 87. 11 Ebd., S. 84.

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brauchte sich ja gegenseitig«, so charakterisiert Picard das Verhältnis zwischen jüdischem Hausierer und christlichem Bauer. Dieser hat ebenso wie seine Frau »die Gemeinsamkeit der Herkunft ihres eigenen Glaubens und des Gastes mehr im Gefühl als im Bewusstsein« und empfindet die »Scheu einfacher Menschen vor den geheimen Bräuchen des anderen, seinem und ihrem Gott zu dienen«. Dem Juden jedenfalls wird, als er allein bleibt wegen seiner religiösen Pflichten, »wohl und feierlich zumut (…) unter den Fremden und doch Vertrauten«.12 Wieder finden wir hier die Betonung einer gemeinsamen Grundlage zwischen Juden und Christen auf dem Land – den Glauben an Gott – und der wechselseitigen Abhängigkeit in einer Beziehung zwischen fremd und vertraut. »Vertraut und fremd zugleich« kann als Leitmotiv über Picards Schilderung des Zusammenlebens von Juden und Christen stehen. Vielleicht haben wir damit auch den Schlüssel zum Verständnis der Verhältnisse im Judendorf wie im Schtetl.13 Picards Sprache wirkt idyllisch, manchmal fast märchenhaft. Das Vertrauen auf Gott wird hervorgehoben, ebenso das Vertrauen zwischen Juden und Christen. Diese Idylle, die hier trotz aller Hinweise auf soziale Konflikte vor unseren Augen entsteht, hat es so gewiss nicht gegeben. Ist die Beschreibung deshalb falsch, sind Picards Erzählungen als historische Quelle wertlos? Der Dichter wollte in der Zeit der Bedrückung durch die Nationalsozialisten ein Gegenbild in die Erinnerung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland rufen und damit zugleich deren Selbstbewusstsein stärken. Deshalb betonte er vermutlich die »guten« Elemente in den Beziehungen und in den früheren Lebensbedingungen der Juden. Die Darstellung durfte aber nicht unrealistisch sein, sonst hätte sie keine Anerkennung gefunden und ihren Zweck verfehlt. Insofern können wir davon ausgehen, dass Picards Erzählungen zwar einseitig sind, aber doch wesentliche Punkte treffen. Das lässt sich überprüfen, indem wir die Verdichtung jüdischen Lebens, wie sie in Picards Geschichten erkennbar wird, in den Kontext anderer Quellen und Forschungen zu drei Judendörfern stellen: Sulzburg, Gailingen und Lengnau. In Sulzburg, einem Städtchen am Anfang eines Tales, das sich von der oberrhei12 Ebd., S. 11–27, Zitate 12, 17. 13 Ich habe diese Charakteristik bereits, bevor ich Picards Erzählungen kennenlernte, aus den sozialökonomischen Beziehungen abgeleitet: »Lieber ’n alter Jud verrecke als e Tröpfle Schnaps verschütte.« Juden im bäuerlichen Milieu des Schwarzwaldes zu Beginn des Nationalsozialismus, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 3/1992, S. 143– 152, hier S. 150–151. Im Schwarzwald zeigte sich die relative Vertrautheit zwischen Juden und Christen auch darin, dass viele Bauern selbst dann noch lieber beim jüdischen als beim christlichen Viehhändler kauften, als es die Nazis eigentlich schon verboten hatten (vgl. ebd., S. 143–146, 148). – Vgl. Alexandra Binnenkade u. a.: Vertraut und fremd zugleich. Jüdisch-christliche Nachbarschaften in Warschau – Lengnau – Lemberg. Köln usw. 2009.

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nischen Ebene in den Schwarzwald hineinzieht, stellten die Juden 1875 einen Anteil von 25 Prozent an der Bevölkerung. Wie überall in der Region ging er zurück, nachdem die Gewährung der rechtlichen Gleichstellung – im Elsass 1791, in Baden 1862, in der Schweiz 1866 – zu einer allmählichen Abwanderung in die größeren Städte geführt hatte. Beruflich waren die Landjuden, so auch in Sulzburg, vorwiegend Vieh-, Pferde-, Getreide-, Wein- und Textilhändler sowie Hausierer, teilweise mit einem landwirtschaftlichen Nebengewerbe. Auf diese Weise gab es vielfältige geschäftliche und private Kontakte mit der christlichen Bevölkerung. Man lebte im Ort nicht isoliert voneinander, zumal die Juden und Christen keineswegs in getrennten Vierteln wohnten. Neben den beruflichen Beziehungen fanden Begegnungen in der Nachbarschaft, auf der Straße oder im Laden statt. Man besuchte sich gegenseitig, lud sich zu Feiern wie Hochzeiten, Taufen oder Geburtstagen ein, beteiligte sich gemeinsam am politischen Leben oder an Aktivitäten in Vereinen. Zwar blieben manche Vereine konfessionell getrennt, andere nahmen jedoch ohne weiteres Mitglieder unterschiedlicher Bekenntnisse auf.14 Juden beschäftigten häufig christliche Dienstmädchen und selbstverständlich den »Schabbes-Goj«, der am Schabbat diejenigen häuslichen Arbeiten verrichtete, die Juden an diesem Tag verboten waren. Christliche Kinder hatten keine Bedenken, ihren jüdischen Kameraden die Schultaschen zu tragen.15 Dass im selbstverständlichen Kontakt immer auch der Konflikt angelegt war, ist an einigen Beispielen fassbar. So fuhr der »Judebauer«, der neben dem evangelischen Pfarrhaus wohnte, absichtlich möglichst am Sonntagmorgen, wenn in der Kirche der Gottesdienst begann, den Mist auf seine Felder. Mehrfach kam es auch zu Liebesbeziehungen, die nicht immer glücklich endeten: Als der jüdische Zahnarzt Bloch die Tochter des christlichen Hirschenwirtes heiraten wollte, scheiterte dieser Wunsch am entschiedenen Nein des Wirtes. Eine Ehe zwischen einer Jüdin und einem Christen geriet in die politischen Wirrungen: Der Bruder des Mannes wurde später Ortsgruppenleiter der NSDAP. Deshalb legte man nach 1933 dem Ehemann die Scheidung nahe, die dann auch vollzogen wurde.16 Während einige Pfarrer – wie der katholische Geistliche Ludwig 14 Ulrich Baumann: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940. Hamburg 2000, passim. – Vgl. Beate Bechtold-Comforty: Jüdische und christliche Frauen auf dem Dorf – kulturelle Kontakte, soziale Konflikte? In: Peter Fassl (Hg.): Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte. Stuttgart 2000, S. 257–268. 15 Jüdisches Leben in Sulzburg 1900–1940. Eine Materialsammlung. Hg. vom Freundeskreis der ehemaligen Synagoge Sulzburg e. V. Sulzburg 2005, S. 125, 278. 16 Ebd., S. 134, 286, 287. Was nach der Scheidung mit der jüdischen Frau geschah, wird nicht berichtet.

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Friedrich Haaß (1832–1899) – den konfessionellen Frieden suchten, schürten andere – zum Beispiel der evangelische Pfarrer Karl Deßecker (1885–1954) – den Gegensatz.17 Vielleicht noch stärker wirkte sich das unterschiedliche Wirtschaftsverhalten aus. Die christlichen Bauern und Handwerker folgten meist noch bis in das 20. Jahrhundert hinein den – wenngleich vielfältig gebrochenen – Vorstellungen einer »moralischen Ökonomie«, bei denen die Existenzsicherung und die Produktion nach überlieferten Normen und Ehrbegriffen im Vordergrund standen.18 Hingegen waren die jüdischen Händler viel stärker in den kapitalistischen Wirtschaftskreislauf eingebunden. Sie mussten Profit erzielen, wenn sie überleben wollten. Dieses Denken war den Bauern in der Regel fremd. Das Vertrauen, das sie den Händlern entgegenbrachten, ging deshalb oft einher mit dem – durch die religiöse Tradition vertieften – Misstrauen, Juden seien von Natur aus »geldgierig« und »wucherisch»; man müsse aufpassen, ob sie nicht doch betrügen wollten. Auch dass die Juden Nachrichten aus den Großstädten, aus der Politik, von neuen technischen Errungenschaften oder von den Modetrends im Ort verkündeten, machte sie unheimlich.19 Obwohl die Mischung zwischen vertraut und fremd besondere Züge aufweist, sind die Konflikte zwischen Juden und Christen nicht außergewöhnlich. Sie unterscheiden sich nicht grundsätzlich von den Konflikten innerhalb einer Konfessionsgruppe.20 Judenfeindliche Gruppierungen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Fuß zu fassen suchten, fanden in Sulzburg, trotz vereinzelter Ausschreitungen, kaum Resonanz. Auch die NSDAP kam hier nur langsam voran.21 Nach 1933 gelang es dann durch eine Kombination aus gewaltsamen Aktionen, neuen gesetzlichen Vorschriften und Druck auf Geschäftsleute, Amtspersonen, Vereinsvorstände und Privatpersonen, nach und nach eine Trennlinie 17 Baumann, Zerstörte Nachbarschaften [Fn. 14], S. 68, 159, 214, 296 (zu Haaß), 213–214, 293 (zu Deßecker). 18 Zum Begriff der »moralischen Ökonomie« Edward P. Thompson: Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. von Dieter Groh. Frankfurt a. M. usw. 1980. 19 Haumann, »Lieber ’n alter Jud« [Fn. 13], S. 150. 20 Baumann, Zerstörte Nachbarschaften [Fn. 14], S. 83–95. Der Autor hat die Beleidigungsfälle vor Schiedsgerichten in verschiedenen badischen Landgemeinden zwischen ca. 1890 und ca. 1940 untersucht. Danach gab es keine überdurchschnittlich hohen Konfliktfälle zwischen Juden und Christen, sondern ein »normales« Neben- und Miteinander. – Ähnlich Michaela Schmölz-Häberlein: Zwischen Integration und Ausgrenzung: Juden in der oberrheinischen Kleinstadt Emmendingen 1680–1800, in: Rolf Kießling, Sabine Ullmann (Hg.): Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit. Berlin 1999, S. 363–397, hier S. 384–385. 21 In anderen Judendörfern waren die verschiedenen judenfeindlichen Bewegungen allerdings sehr stark. Dazu Baumann, Zerstörte Nachbarschaften [Fn. 14].

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zwischen Juden und Christen im Ort durchzusetzen, bis die Juden dann nicht nur diskriminiert, sondern verfolgt und ermordet wurden.22 In Gailingen am Hochrhein waren die Verhältnisse grundsätzlich ähnlich. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten hier Juden und Christen einen ungefähr gleich großen Anteil an der Bevölkerung, für kurze Zeit überstieg der jüdische sogar den christlichen. Von 1870 bis 1884 war ein jüdischer Bürgermeister, Leopold Guggenheim, auch mit den Stimmen katholischer Einwohner gewählt worden. Wie gut das Verhältnis war, lässt sich daran ablesen, dass bei der Wahl der Gemeinderäte, auch nachdem der jüdische Bevölkerungsanteil stark zurückgegangen war, immer wieder überproportional viele Juden berufen wurden.23 Christen und Juden trafen sich in gemeinsamen Vereinen, das »Gailinger Jiddisch« stand in einer engen Wechselbeziehung mit dem »Gailinger Alemannisch«, ein Großteil der Juden galt wegen ihres Modebewusstseins und ihrer villenartigen Häuser als besonders »bürgerlich«. War deshalb Gailingen ein Musterfall für eine Assimilation der Juden, deren kulturelle Eigenständigkeit höchstens auf die Konfession beschränkt blieb? Der Schein trügt. Die jüdischen Einwohner hatten durchaus auch ihre eigenen Vereine, und das »bürgerliche« Verhalten in Mode und Architektur, bedingt durch weit ins Ausland reichende Geschäftstätigkeit, stieß gerade bei der noch überwiegend bäuerlichen Bevölkerung auf Unverständnis, galt als protzig und »modern«, eben als fremd.24 Offenbar waren auch hier, trotz aller Nähe, die christlich-jüdischen Beziehungen ambivalent. Es kam zu einer kulturellen Begegnung mit gegenseitiger Beeinflussung, durch die etwas Neues entstand. Man kann von einer grenzüberschreitenden Kultur sprechen. Das Grenzgängertum zwischen verschiedenen Welten scheint im Übrigen typisch für das Leben von Juden in ganz unterschiedlichen Gesellschaften zu sein.25 Die Ambivalenz in Gailingen kann etwa mit Vorfällen während des jüdischen Purim-Festes verdeutlicht werden. Am 28. Februar 1839 zogen die Juden 22 Diesen Prozess zeichnet Baumann, Zerstörte Nachbarschaften [Fn. 14], S. 224–245, nach. 23 Heiko Haumann: Juden in Gailingen: Selbstbewusstsein und Nachbarschaft, in: Franz Götz (Hg.): Gailingen. Geschichte einer Hochrhein-Gemeinde. Gailingen, Tübingen 2004, S. 499–511, hier S. 499–501. Dort auch weitere Beiträge. 24 Haumann, Juden in Gailingen [Fn. 23], S. 505–506. 25 Christoph Daxelmüller verwendet den Begriff »Zwischenkultur»: Zwischen »minhag« und Bürostuhl. Konstitutiven des jüdischen Alltags im 19. und 20. Jahrhundert, in: Frömmigkeit – Lenz Kriss-Rettenbeck zum 70. Geburtstag. München 1993, S. 195–214, hier S. 204. Julia Richers fasst diesen »Zwischen-Zustand«, der Grenzüberschreitungen einschloss, mit dem Begriff der »Liminalität«: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert. Köln usw. 2009. Peter Haber hat das Beispiel eines »marginal man« untersucht (Zwischen jüdischer Tradition und Wissenschaft. Der ungarische Orientalist Ignác Goldziher (1850–1921). Köln usw. 2006, hier bes. S. 230–235).

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maskiert und mit viel Lärm zu Fuß und mit Wagen durch den Ort und störten damit nach Ansicht des katholischen Pfarrers die christliche Bevölkerung in ihrer fastenzeitlichen Stille. Noch schlimmer war etwas anderes: Die Juden verspotteten die katholische Religion. Jüdinnen verkleideten sich als Nonnen mit Jungfrauenkränzchen, ein als Kapuziner maskierter Jude sagte mit Rosenkranz und Kerze das »Vaterunser« auf, und weitere Masken ließen es an Verhöhnungen und Anzüglichkeiten – selbst gegenüber dem Pfarrer – nicht fehlen.26 Hier zeigt sich, dass die jüdischen Einwohner Elemente des christlichen Karnevals sowie der alemannischen Fastnacht aufgegriffen hatten und diese mit den Purim-Traditionen verbanden.27 Die Juden, die damals rechtlich den Christen noch nicht gleichgestellt waren, strebten keineswegs danach, nicht anstößig aufzufallen, sich den bevorrechtigten Bürgern zu unterwerfen und ruhig unter sich zu bleiben. Im Gegenteil: sie traten selbstbewusst und offensiv auf. Damit nicht genug – sie wagten es sogar, die privilegierte Religion und ihre Träger, im Grunde die Macht im Dorf, offen zu kritisieren. 1906 wollte der Ortspfarrer verhindern, dass der Purim-Umzug am Palmsonntag durchgeführt wurde. Der Gemeinderat gab dem zunächst nach, musste seine Entscheidung jedoch wieder ändern, als die jüdische Gemeinde und eine Reihe katholischer Bürger, die sich mit ihr solidarisierte, mit Nachdruck protestierten.28 Noch für 1937 sind Purim-Feiern in Gailingen überliefert, gegen die offenbar nicht eingeschritten wurde.29 Ein ähnliches Selbstbewusstsein offenbarte sich bei vielen Gelegenheiten.30 Trotz zahlreicher Konflikte genossen die Juden in der Regel die Wertschätzung und Anerkennung ihrer christlichen Nachbarn, bis in das »Dritte Reich« hinein. Davon zeugen etwa die Errichtung eines jüdischen Krankenhauses 1891/92, das auch Angehörigen anderer Konfessionen offen stand, und der Bau eines 26 Herbert Berner: Gailinger Purim – jüdische Fasnacht im Hegau. Ein Beitrag zum jüdischen Gemeindeleben und zur Emanzipation der Juden in Baden, in: ders.: »Das Hegöw, ein kleines, aber über die Massen wol erbauen fruchtbar Ländlein«. Ausgewählte Aufsätze. Festgabe zu seinem 70. Geburtstag. Hrsg. von Franz Götz. Sigmaringen 1991, S. 470–502, hier S. 490–491. 27 Dazu ausführlich Berner, Gailinger Purim, passim. 28 Ebd., S. 497. 29 Privatarchiv Mathilde Richter-Hasgall, Basel. 30 Dieses Selbstbewusstsein zeigte sich selbstverständlich nicht nur in Gailingen, sondern ebenso in anderen Judendörfern und in früheren Zeiten. Vgl. dazu auch Günther Mohr: »Neben, mit undt bey Catholischen.« Jüdische Lebenswelten in der Markgrafschaft BadenBaden 1648–1771. Köln usw. 2011. – Claudia Ulbrich: Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Wien usw. 1999. – Sabine Ullmann: Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750. Göttingen 1999. – Schmölz-Häberlein, Zwischen Integration [Fn. 20].

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Heimes »für israelitische Sieche und arme Greise«, das 1898 eingeweiht wurde. Zahlreiche private Quellen bestätigen, dass bis in das 20. Jahrhundert hinein die uneigennützige Wohltätigkeit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als höchster Wert galt. Die soziale Verpflichtung empfand man als kollektive Verantwortung. Zwar konnte es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern unterschiedlicher religiöser und politischer Richtungen kommen: etwa der Reformorientierung und der Orthodoxie oder des Zionismus und der Idee, in einer nichtjüdischen Partei wie den Deutschen Demokraten und den Sozialdemokraten mitzuarbeiten. Die Solidarität hielt jedoch die jüdische Bevölkerung zusammen und förderte ihr Zusammengehörigkeitsgefühl.31 Dies war auch für das osteuropäische Schtetl charakteristisch.32 Lengnau im aargauischen Surbtal war das einzige Judendorf neben dem benachbarten Endingen, in denen sich Jüdinnen und Juden zwischen 1776 und 1879 in der Schweiz niederlassen durften.33 Hier waren auf den ersten Blick die Konflikte zwischen Christen und Juden im 19. Jahrhundert wesentlich schärfer als in Südbaden. Die Juden nahmen 1850 mit 40 Prozent ebenfalls einen hohen Anteil an der Bevölkerung ein und gingen im Wesentlichen der Hausiererei und dem Viehhandel nach. Als 1862 der kantonale Große Rat die rechtliche Emanzipation der Juden beschloss, regte sich jedoch erheblicher Widerstand bei den christlichen Einwohnern, gerade auch im katholischen Surbtal. Es kam zu einer regelrechten Volksbewegung, bei der die »Judenfrage« eine Stellvertreterrolle für politische Kämpfe spielte. Alle nur möglichen Klischees von den Juden als Christusmörder, die Bauern verderbende Wucherer und geldgierige Händler wurden an die Wand gemalt. In einer Volksabstimmung lehnte schließlich eine überwältigende Mehrheit die Emanzipation ab. Nur jeweils ein christlicher Dorfbewohner stimmte in Endingen und Lengnau für seine jüdischen Nachbarn. Erst der Druck von eidgenössischen Bundesbehörden erzwang bis 1877/79 die juristische Gleichstellung der Juden auch im Aargau.34 Schauen wir genauer auf die jüdisch-christlichen Beziehungen, blicken nicht »von oben« auf scheinbar festgefügte Strukturen, sondern nehmen die Perspektive der Akteure ein, entdecken wir auch hier jüdisches Selbstbewusstsein. Die Vertreter der jüdischen Bevölkerung bestanden auf den kulturellen Differenzen, 31 Privatarchiv Mathilde Richter-Hasgall. 32 François Guesnet: Polnische Juden im 19. Jahrhundert. Lebensbedingungen, Rechtsnormen und Organisation im Wandel. Köln usw. 1998, S. 334–446. 33 Dies bedeutet nicht, dass sich Jüdinnen und Juden nicht auch vereinzelt in anderen Ortschaften niederlassen konnten. Aber es entstanden keine weiteren Judendörfer. – Claude Kupfer, Ralph Weingarten: Zwischen Ausgrenzung und Integration. Geschichte und Gegenwart der Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Zürich 1999, hier bes. S. 33–46. 34 Vgl. mit Nachweisen Haumann, Juden in Gailingen [Fn. 23], S. 500 mit Anm. 8.

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von denen die »andere Seite« durchaus wusste und die sie respektierte. Keineswegs waren die Juden aus der dörflichen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Konfliktlinien im Dorf gingen häufig nicht entlang der religiösen Unterschiede, sondern entlang der sozialen Verhältnisse und politischen Ansichten. Vielfältige Begegnungen waren die Regel, Spannungen bestanden eher zwischen Protestanten und Katholiken als zwischen Juden und Christen. So hielten die Juden auch am Sonntag ihre Häuser offen und saßen mit den Christen in den Wirtshäusern, um Informationen auszutauschen und Geschäfte abzuschließen. Überwiegend handelte es sich um ein Miteinander der beiden Bevölkerungsgruppen. Judenfeindliche Klischees wurden dann hervorgeholt und ausgespielt, wenn es um die Durchsetzung bestimmter Interessen ging. Allerdings durften herkömmliche Grenzen nicht überschritten, das dörfliche Gleichgewichtsgefüge nicht verletzt werden. Die Auseinandersetzungen um die rechtliche Gleichstellung der Juden nahmen derart heftige Formen an – bis hin zur Gewaltanwendung –, weil sie stellvertretend für den »Kulturkampf« zwischen Katholiken Protestanten, aber auch zwischen Konservativen und Liberalen um das Ausmaß der Volksrechte ausgetragen wurden. Nicht zuletzt standen aber auch sehr konkrete, alteingebürgerte lokale Interessen auf dem Spiel, etwa Fragen des Bodenbesitzes, der an das Bürgerrecht gebunden war.35 Das Schtetl

Die Bedeutung des lokalen Gleichgewichtsgefüges, der Kontakt- und Abgrenzungszonen verbindet das Judendorf mit dem Schtetl ebenso wie die Dialektik von vertraut und fremd oder die innere Solidarität der jüdischen Gemeinschaft. Auch in Osteuropa konnte eine Störung der inneren Ordnung nicht nur von Einzelnen oder Gruppen innerhalb eines Ortes ausgehen, sondern ebenso von Vorgängen, die von außen das Schtetl beeinflussten. Diese Vorgänge zogen die Beziehungen zwischen Juden und Christen in Mitleidenschaft und wirkten sich zugleich auf die jüdische Gemeinschaft aus. Ein Beispiel bildet die Zuwanderung der Litwaken in das zum Zarenreich gehörende Polen seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, vor allem seit den 1880er Jahren.36 Fast die Hälfte des Zu35 Alexandra Binnenkade: KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau. Köln usw. 2009. 36 Guesnet, Polnische Juden [Fn. 32], S. 61–80. – François Guesnet: »Wir müssen Warschau unbedingt russisch machen.« Die Mythologisierung der russisch-jüdischen Zuwanderung ins Königreich Polen zu Beginn unseres Jahrhunderts am Beispiel eines polnischen Trivialromans, in: Eva Behring u. a. (Hg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas. Stuttgart 1999, S. 99–116.

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wachses der jüdischen Bevölkerung in Russisch-Polen ging auf diese Migration zurück. Allein zwischen 1893 und 1910 umfasste sie 250 000 Personen. Bei den Litwaken handelte es sich um Juden aus Russland, die ursprünglich in Litauen gelebt hatten oder über diese Region weitergezogen waren. Sie unterschieden sich von den Juden in Polen durch einen anderen Dialekt des Jiddischen, durch den Gebrauch des Russischen außerhalb der jüdischen Gesellschaft und durch eine anfangs scharfe Abgrenzung von ihrer christlichen Umgebung. In der Regel standen sie der in Polen weit verbreiteten religiösen Strömung des Chassidismus ablehnend gegenüber. Obwohl sie durch ihre Tätigkeiten für die polnische Wirtschaft durchaus einen Aufschwung brachten, stießen sie in der polnischen Öffentlichkeit auf Misstrauen und Feindseligkeit. Verantwortlich dafür war die Furcht polnischer Nationalisten vor einer jüdischen »Überfremdung« und einer wachsenden Russifizierung. Schnell galten die Litwaken als Schuldige dafür, dass die zaristische Unterdrückung der polnischen Nation nicht nachließ und dass sich sowohl ein Nationaljudentum als auch ein internationalistischer Sozialismus in Polen verbreitete. Diese Vorwürfe wurden dann von Nationalisten bald auf alle Juden in Polen übertragen. Das stieß bei diesen durchaus auf erhebliche Resonanz. Die Litwaken wurden vielfach zu »Sündenböcken« für die gescheiterte jüdisch-polnische Symbiose gemacht. Viele Juden standen selbst in der zweiten Jahrhunderthälfte noch unter dem Eindruck verhältnismäßig guter Beziehungen zwischen Juden und Christen in Polen. Hatten sie nicht die entscheidende ökonomische Funktion als Mittler zwischen Stadt und Land inne?37 Waren sie nicht in den Aufständen seit 1794 gegen die zarische Besatzungsmacht ausdrücklich als Teil der polnischen Nation gewürdigt worden? Hatte sich das nicht erst am 2. März 1861 bei der öffentlichen »Verbrüderung« anlässlich der Beisetzung von fünf Polen – darunter einem Juden –, die während einer Demonstration für die Freiheit Polens von russischen Soldaten erschossen worden waren, nachdrücklich dokumentiert?38 Sie sahen nicht, dass sie längst, auch ohne die Litwaken, in das Visier polnisch-nationalistischer Bewegungen geraten waren. Deshalb glaubten sie, die Litwaken hätten die sich verstärkende Judenfeindschaft in der polnischen Öffentlichkeit hervorgerufen. Hinzu kam, dass manche Litwaken zu ökonomischen Konkurrenten der eingesessenen Juden wurden und die Chassidim sie zudem als religiös indifferent verachteten. Erst in der zweiten Generation 37 Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. München 51999, S. 35–37, 44, 59–67, 73, 95–99, 104–109, 161–162. 38 Heiko Haumann: Jüdische Nation – Polnische Nation? Zur gesellschaftlichen Orientierung von Juden in Polen während des 19. Jahrhunderts, in: Gabriella Gelardini (Hg.): Kontexte der Schrift. Bd. 1: Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft. Ekkehard W. Stegemann zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2005, S. 442–457.

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glichen sich die Gegensätze aus, und die Litwaken wurden ein integraler Teil der jüdischen Gesellschaft. Zunächst aber hatte sich die Zuwanderung auch im Schtetl konfliktverschärfend ausgewirkt. Ein immer wieder gern zitiertes Beispiel für einen Ort, an dem sich Juden mit Nichtjuden trafen, ist die dörfliche Schenke. Sie hatte im osteuropäischen Schtetl eine wesentlich größere Bedeutung als die »Judenwirtschaft« im alemannischen Judendorf.39 In Osteuropa war die Schenke ein Ort der zentralen Mittlerfunktion von Juden im Wirtschaftskreislauf. Die adligen Gutsherren hatten ihnen den Betrieb der Schenken verpachtet und erzielten dadurch oft hohe Einnahmen. Zugleich wurden hier wichtige Geschäfte vereinbart, Nachrichten ausgetauscht und Alltagsangelegenheiten besprochen. Adam Mickiewicz (1798–1855) hat dem jüdischen Schankwirt in seinem Epos Pan Tadeusz von 1834 in der Person Jankiels ein Denkmal gesetzt.40 Fast in jedem literarischen Text, der im osteuropäischen Siedlungsraum der jüdischen Bevölkerung spielt, nimmt die Schenke einen bedeutenden Platz ein.41 In Konfliktfällen wurde von Adligen wie von katholischen Geistlichen mit der Schenke argumentiert, um Juden zu beschuldigen, sie würden Bauern zum Trunk verleiten und sie finanziell wie gesundheitlich ruinieren. Oft verbanden sie dies mit der Anklage, in der Schenke wären Verabredungen für Ritualmorde oder andere schändliche Dinge getroffen worden. Häufig war eine derartige Denunziation auch eine Gelegenheit für Bauern oder andere Gäste, sich aus der Verschuldung beim Schankwirt zu befreien, oder für weitere Interessenten an der Ausschankpacht, lästige Konkurrenz loszuwerden.42 Begegnungen zwischen Juden und Nichtjuden beschränkten sich nicht auf Geschäfte, den Informationsaustausch, die Beschäftigung eines »Schabbes39 Jüdisches Leben in Sulzburg [Fn. 15], S. 106–110; Baumann, Zerstörte Nachbarschaften [Fn. 14], S. 101–103; Heiko Haumann (Hg.): Acht Jahrhunderte Juden in Basel. 200 Jahre Israelitische Gemeinde Basel. Basel 2005, S. 61–62, 69–71, 88, 120–121. – Susanne Bennewitz: Basler Juden – französische Bürger. Migration und Alltag einer jüdischen Gemeinde im frühen 19. Jahrhundert. Basel 2008, S. 86–103. 40 Adam Mickiewcz: Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen. Nachdichtung von Walter Panitz. Berlin (DDR) 1955. – Uwe Liszkowski: »Politökonomie des Wodkas«. Die jüdische Schenke im polnischen Feudalismus, in: Annelore Engel-Braunschmidt, Eckhard Hübner (Hg.): Jüdische Welten in Osteuropa. Frankfurt/M. usw. 2005, S. 141–153. 41 Ein schönes Beispiel: Leon Kruczkowski: Rebell und Bauer. Roman. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius. Frankfurt/M. 31983, S. 80–84. 42 Ein eindringliches Beispiel aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gibt Yvonne Kleinmann: »Blasphemie« wider den katholischen Glauben? Der Fall eines jüdischen Schankwirts in Polen 1726, in: Dan Diner (Hg.): Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte. Göttingen 2005, S. 37–66. – Haumann, Juden in der ländlichen Gesellschaft [Fn. 7], S. 38–40.

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Gojs« oder einer christlichen Hausmagd. Kinder unterschiedlicher Konfession trafen sich in der Schule – soweit jüdische Eltern bereit waren, ihre Söhne und Töchter eine religionsübergreifende besuchen zu lassen – oder beim Spiel.43 Soma Morgenstern (1896–1976), Sohn eines jüdischen Gutsverwalters in Ostgalizien, erinnert sich an die Spiele nach Unterrichtsschluss. Diese »waren persönlich gruppiert, nicht nach Nationalitäten«.44 Wie weit die Integration und der gegenseitige Respekt gehen konnten, zeigt sein folgendes Beispiel: Als der Bischof einmal seinen Besuch ankündigte, wurde er nicht nur von den Honoratioren des Ortes – selbstverständlich auch den jüdischen – begrüßt, sondern auch der Schulchor sang ihm ein frommes Lied. Somas Vater hatte ihm als einem der besten Sänger erlaubt mitzusingen, obwohl es ein christliches Lied war. Zur Belohnung erhielt er vom Bischof ein Bildchen geschenkt. Zu seinem Schrecken sah er, dass darauf die Jungfrau Maria abgebildet war. Sein Schrecken stand ihm offenbar so im Gesicht geschrieben, dass der Bischof und sein Gefolge aufmerksam wurden. Die Ursache war schnell erkannt, und problemlos tauschte der Bischof das Bildchen mit einem Schmunzeln um: Soma hielt nun Moses in den Händen.45 Darüber hinaus entstanden Freundschaften, und es kam auch zu Liebesbeziehungen – trotz aller Abgrenzungen, die es schwer machten, sich zu treffen und zu sprechen. Dass sie häufiger waren, als auf den ersten Blick zu vermuten ist, und im Laufe der Zeit auch zunahmen, dass sie zugleich das geregelte Kommunikationsgefüge zwischen Juden und Christen erschütterten, kann aus der Thematisierung in der belletristischen Literatur geschlossen werden.46 Aber auch in autobiographischen Zeugnissen taucht dieses Problem immer wieder auf.47 Doch nicht nur christlich-jüdische Liebesbeziehungen rührten an den Grundfesten der Gemeinschaft. Ein 1903 geborenes jüdisches Mädchen, Tochter einer chassidischen Kaufmannsfamilie in einem Schtetl nahe Krakau, berichtet in 43 Haumann, Juden in der ländlichen Gesellschaft [Fn. 7], S. 45–46. Dass dies nicht selbstverständlich war, betont Desanka Schwara: »Ojfn weg schtejt a bojm«. Jüdische Kindheit und Jugend in Galizien, Kongresspolen, Litauen und Russland 1881–1939. Köln usw. 1999, S. 299–310. 44 Soma Morgenstern: In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Galizien. Lüneburg 1995, S. 91. 45 Ebd., S. 84. 46 Petra Ernst: Christlich-jüdische Liebesbeziehungen als Motiv in deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920, in: Klaus Hödl (Hg.): Jüdische Identitäten. Einblicke in die Bewusstseinslandschaft des österreichischen Judentums. Innsbruck usw. 2000, S. 209–242. Auch in jiddischen Volksliedern taucht das Motiv der unglücklichen Liebe eines jüdischen Mädchens zu einem Christen – oft ein russischer Soldat – erstaunlich häufig auf; vgl. Karl E. Grözinger (Hg.): Klesmer, Klassik, jüdisches Lied. Jüdische Musikkultur in Osteuropa. Wiesbaden 2004, S. 127, 135. 47 Haumann, Kommunikation [Fn. 2], S. 338–340.

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ihrem zwischen 1917 und 1925 geführten Tagebuch, wie ihre Bekanntschaften mit nicht-chassidischen jungen Männern misstrauisch beobachtet wurden. Als ein »Daitsch«, ein Jude der sich an der jüdischen Aufklärung, der Haskala, orientierte, um sie warb, wies ihr Vater dies schroff zurück. Mehrere Partien scheiterten, weil sie, die Tochter aus chassidischem Haus, als zu »fortschrittlich« galt. Schließlich heiratete sie einen jungen Mann, den ihre Eltern in traditioneller Weise über den Schadchen, den Vermittler, ausgewählt hatten.48 Früher waren es vor allem soziale Unterschiede, die eine Heirat erschweren konnten. Scholem Alejchem (1859–1916) etwa problematisierte dies in seinem Roman Tewje, der Milchmann. Eine von Tewjes Töchtern hat sich in einen armen Schneidergesellen verliebt, der um ihre Hand anhält. Vater und Mutter sind zunächst höchst erschrocken, und Tewjes Frau ruft aus: »Wie kommt in unsere Familie (…) ein Schneider? In unserer Familie (…) gab es Lehrer, Vorbeter, Schuldiener, Angestellte der Beerdigungsbrüderschaft und sonstige arme Leute, aber, Gott behüte, weder Schneider noch Schuster.«49 Je mehr sich die jüdische Gesellschaft differenzierte, desto stärker traten auch Gegensätze wegen unterschiedlicher religiöser oder politischer Überzeugungen auf. Religiös Orthodoxe, Chassidim, Haskala-Anhänger, Assimilierte, Zionisten, Nationaljuden, Sozialisten, Kommunisten – und alle noch einmal in zahlreiche Untergruppen aufgeteilt – standen sich oft unversöhnlich im Schtetl gegenüber. Die Spannungen, die innerhalb der jüdischen Gemeinde und in den Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden vermehrt auftraten, gingen somit häufig quer durch beide Bevölkerungsgruppen. Juden und Nichtjuden waren keineswegs homogene Einheiten. Ein jüdischer Kommunist konnte mit einem nichtjüdischen Kommunisten befreundet sein und wurde von Juden wie Nichtjuden mit anderer Weltanschauung entschieden abgelehnt. Diese Widerstreitigkeiten wirkten sich nicht nur auf politische Bündnisse, Bekanntschaften, Freundschaften oder Liebesbeziehungen aus, sie konnten eine Familie auch zerreißen. Autobiographische Erinnerungen zeugen ebenso davon wie literarische Verarbeitungen.50

48 Zum Tagebuch: Schwara, »Ojfn weg« [Fn. 43], S. 104, 117, 120–126, 129, 137 f., 140, 143–145, 153–157, 160–172, 178, 180–182, 184–192, 195–199, 201 f., 207–209. 49 Scholem Alejchem: Tewje, der Milchmann. Leipzig 1984, S. 68–69. 50 Hinweise auf autobiographische Materialien bei Haumann, Kommunikation [Fn. 2], passim. Als literarische Verarbeitungen nenne ich nur die Werke von Pinhas Kahanowitsch, genannt Der Nister (1884–1950), Julian Stryjkowski (1905–1996), David Bergelson (1884–1952), Joseph Roth (1894–1939), Esther Kreitmann (1891–1954) sowie ihrer Brüder Israel Joschua Singer (1893–1944) und Isaac Bashevis Singer (1904–1991).

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Nicht zuletzt spiegeln Wandlungen in der Rolle der Frau, wie sehr sich die Rahmenbedingungen veränderten und dass es darum ging, neue Plätze und Funktionen in der Gesellschaft zu finden. Nach dem Ideal der traditionellen jüdischen Familie war die Frau für das Haus sowie für die Weitergabe der Religion und der überlieferten Bräuche an die Kinder zuständig. Darüber hinaus musste sie in vielen Fällen für den Lebensunterhalt sorgen, weil der Mann zu wenig verdiente oder religiös gelehrten Studien nachging. In der Praxis führte sie dann das Geschäft und nahm eine starke Stellung in der Familie ein. Mit dem Aufkommen bürgerlich-kapitalistischer Vorstellungen änderte sich dies vielfach. Die Frauen verloren grundlegende Funktionen im Geschäft und in der Familie. Ein Teil der Jüdinnen suchte sich eine neue Rolle: Sie wählten sich ihre Partner selbst, verließen das Elternhaus oder auch den Ehemann, schlossen sich politischen Gruppierungen an, suchten sich eine Arbeitsstelle in der Fabrik, engagierten sich in neuen Formen der Wohltätigkeit. Manchmal scheiterten sie und gerieten ins Elend. Vielfach gelang es aber auch, in der Familie und in der Ehe neue Grundlagen für das Selbstverständnis zu schaffen.51 In seiner Eisenbahngeschichte Nummer Vierzehn von 1903 Man soll nie zu gutmütig sein! reflektierte Scholem Alejchem diesen Wandel.52 Der Gesprächspartner des Erzählers hat ein Waisenmädchen, die Tochter seiner Schwägerin, in seine Familie aufgenommen. Als er sie nach seinen althergebrachten Vorstellungen verheiraten will, weigert sie sich, denn sie hat sich in den Sohn seines verstorbenen Bruders, den er als Sohn angenommen hat, verliebt. Er wiederum lehnt die Legalisierung dieser Beziehung ab. Die beiden Liebenden fliehen, werden gefasst, fliehen wieder und heiraten in der Fremde. Sie hoffen auf eine Versöhnung, als ihnen ein Sohn geboren wird. Der Erzähler bleibt jedoch unerbittlich. Daraufhin verlässt ihn auch seine Frau. Die traditionelle Welt ist aus den Fugen geraten. Dennoch: trotz aller Zerfallserscheinungen der jüdischen Gemeinschaft, trotz aller Spannungen und Zerwürfnisse blieb eine Grundsolidarität bestehen, die sich mit dem Wunsch nach Autonomie verband. In vielen Quellen wird berichtet, dass sich Jüdinnen und Juden dem Wunsch nach »Zivilisierung« verweigerten. Ein Konfliktpunkt war dabei die im Russischen Reich geltende Vorschrift, im Alltag ihre traditionelle Tracht abzulegen und »europäische Kleidung« zu tragen. Reformorientierte Juden begrüßten dieses Gebot und nutzten es für ihren Kampf gegen Chassidim und orthodoxe Juden. Es kam zu hefti51 Monica Rüthers: Tewjes Töchter. Lebensentwürfe ostjüdischer Frauen im 19. Jahrhundert. Köln usw. 1996. – Als Überblick Haumann, Geschichte [Fn. 37], S. 125–132. – Haumann, Kommunikation [Fn. 2], S. 340–341, 345 mit Anm. 57. Siehe auch Anm. 45–50. 52 Scholem Alejchem: Eisenbahngeschichten/aisnbangeschichtess. Hg. von Gernot Jonas. Frankfurt/M. 1995, S. 172–184.

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gen innerjüdischen Auseinandersetzungen, doch letztlich blieb die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung bei ihrer traditionellen Kleidung. Pauline Wengeroff (1833–1916) schildert in ihren Memoiren einer Großmutter einen Vorfall, der sich 1845 in Brest-Litovsk, also im »Ansiedlungsrayon« ereignete: Ein Gendarm hat auf dem Marktplatz einer Jüdin die Perücke vom Kopf gerissen und zwingt sie, die vorgeschriebene Haube aufzusetzen. Kurz darauf schneidet er einem Juden nicht nur die langen Schöße des Kaftans ab, sondern auch die Schläfenlocken; ebenso reißt er ihm die Kopfbedeckung herunter.53 Für die betroffenen Juden stellt diese Maßnahme eine ungeheure Demütigung und Erniedrigung dar. Der Polizist gibt sie dem Spott der umstehenden, vermutlich christlichen Marktbesucher preis. Zugleich werden ihre durch Religion und Brauch geprägten Vorstellungen, wie sich ein frommer Jude und eine verheiratete Jüdin zu kleiden haben, in den Schmutz gezogen. Trotz ihrer Angst vor einer Wiederholung und der angedrohten Strafgelder dürften beide so bald wie möglich ihr ursprüngliches Aussehen wiederhergestellt haben. Zwar galt den Behörden jene Bekleidungsvorschrift im Bedarfsfall als Mittel, um die jüdische Bevölkerung unter Druck zu setzen, aber die geringe Höhe der eingezogenen Strafgelder und weitere Belege machen deutlich, dass man sich vor Ort darüber im Klaren war, die Verfügung nicht durchsetzen zu können. Viele Behördenvertreter ließen offenbar auch die jüdische Gemeinde wissen, wenn eine Razzia bevorstand oder ein unnachsichtiger Polizist das Schtetl aufsuchen wollte.54 Die Kleidung war ein wichtiges Element, um sichtbar zu machen, dass man zur jüdischen Gemeinschaft gehörte. Wer sich »zivilisiert« kleidete, fiel aus dieser Gemeinschaft heraus.55 Wenn reformorientierte Juden die Politik der Regierung unterstützten, stellten sie sich zunächst einmal gegen die Grundsolidarität aller Juden. Ebenso konnten die unterschiedlichen Konzepte innerhalb der jüdischen Bevölkerung, welcher Platz in der Gesellschaft eingenommen werden könne, nachdem die alte Ordnung auseinandergefallen war, zum Zerbrechen des gemeinschaftlichen Selbstverständnisses führen.56 Allerdings sollte sich dann zeigen, dass man doch – trotz aller Differenzen – gegen judenfeindliche Aktivitäten zusammenstand, vor allem nachdem klar geworden war, dass die Machthaber ihr Versprechen, die Diskriminierung der Juden werde ein Ende haben, wenn sie sich assimilierten und »zivilisierten«, nicht einhielten. 53 Pauline Wengeroff: Memoiren einer Großmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert. Bd. 1. Berlin 1908, S. 208–209. 54 Guesnet, Polnische Juden [Fn. 32], S. 193–201. 55 Ein drastisches Beispiel bietet: Guesnet, Polnische Juden [Fn. 32], S. 212–218. 56 Heiko Haumann: Auf dem Weg zu neuen Selbstverständnissen: Ostjuden im 19. Jahrhundert, in: Heiko Haumann (Hg.): Luftmenschen und rebellische Töchter. Zum Wandel ostjüdischer Lebenswelten im 19. Jahrhundert. Köln usw. 2003, S. 309–337.

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Dass sich offenbar die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung den Kleidervorschriften nicht fügte, hat letztlich mit dem Bewusstsein ihrer Autonomie zu tun. Die Juden versuchten, die internen Angelegenheiten selbst zu regeln, durch das Rechtsurteil des Rabbiners, durch einen Beschluss der Gemeinschaft, vertreten durch den Gemeindevorstand oder durch die Leitung einer Institution, die über Autorität verfügte. Ein weiteres Beispiel sind die jüdischen Schulen. Mit zahlreichen Maßnahmen versuchte die zarische Regierung seit den 1880er Jahren, die traditionelle jüdische Grundschule, den Cheder, zugunsten der staatlichen Schule zurückzudrängen und eine einheitliche Ausbildung der Lehrer zur Pflicht zu machen. Auch diese Bemühungen scheiterten bis zum Ersten Weltkrieg: Da die jüdischen Lehrer in den meisten Fällen nicht das Geld hatten, ihre Ausbildung zu bezahlen, unterliefen sie die Vorschriften und unterrichteten heimlich – und die Mehrheit der Eltern gab ihre Kinder, gedeckt von den Rabbinern, weiterhin in die Chedarim, ohne dass die Behörden letztlich dagegen einschreiten konnten. 1892 gab es in Warschau 15 öffentliche jüdische Schulen mit 826 Schülerinnen und Schülern, hingegen 529 Chedarim mit 26 186 Kindern. Bis zum Ersten Weltkrieg änderte sich das nicht grundsätzlich, danach begann sich die Tendenz umzukehren.57 Die Angebote im neuen Staat – dies dürfte mehr oder weniger für alle Staaten Osteuropas in der Zwischenkriegszeit gelten – waren nun trotz aller judenfeindlichen Tendenzen derart attraktiv, dass es immer mehr Juden für notwendig hielten, sich eine weltliche Bildung anzueignen. Die traditionellen jüdischen Einrichtungen, darunter auch der Cheder, verloren an Bedeutung. Das Polnische verdrängte allmählich das Jiddische als Umgangssprache. Ebenso nahm die Zahl der frommen Juden stetig ab. Dennoch erhielt sich das Bewusstsein autonomer Kultur und Gemeinschaften beim größten Teil der Juden. Zwar wurde in der neuen Republik Polen die jüdische Autonomie auf religiöse Fragen begrenzt. Doch während sich die religiös orientierten Kräfte überwiegend damit zufrieden gaben, strebten vor allem Mitglieder des jüdischen Arbeiterbundes und der linken Zionisten danach, mit ihren Entscheidungen und Aktivitäten auch die politische Autonomie zu bewahren.58 Gerade unter den Jugendlichen verbreitete sich die Vorstellung einer polnisch-jüdischen Identität.59 57 Guesnet, Polnische Juden [Fn. 32], S. 59–60; Haumann, Selbstverständnis [Fn. 56], S. 327. 58 Als Beispiel für die Nachkriegsentwicklung: Beate Kosmala: Juden und Deutsche im polnischen Haus. Tomaszów Mazowiecki 1914–1939. Berlin 2001. 59 Katrin Steffen: Jüdische Polonität: Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918–1939. Göttingen 2004. – Alina Cała: The Social Consciousness of Young Jews in Interwar Poland, in: Polin 8/1994, S. 42–65, hier bes. S. 138.

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Schtetl und Judendorf

Wie früher im Schtetl war das ausgeprägte jüdische Selbstverständnis kein Hinderungsgrund für intensive Kontakte zu den nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen. Die Juden arbeiteten im Stadtrat sowie in zahlreichen Vereinen und Verbänden mit, teilweise entwickelten sich enge Freundschaften. Aber sie bildeten auch selbstbewusst eigene Organisationen, wenn die Konkurrenz oder eine christliche Abwehrhaltung dies notwendig machte. In den 1930er Jahren wurden die Juden zunehmend isoliert, wenngleich die Arbeiterschaft und die polnischen sozialistischen Parteien ihre Solidarität demonstrierten, auch bei gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. Die polnische Nationaldemokratie gab hingegen 1939 die Losung aus: »Der größte Feind außen – der Deutsche! Der größte Feind im Innern – der Jude!«60 Deutlich wird: Die jüdische Bevölkerung befand sich nach wie vor in einem labilen Kommunikationsgefüge mit nichtjüdischen Gruppen, das als »vertraut und fremd zugleich« bezeichnet werden kann. Immer noch übte sie ein hohes Maß an – durchaus nicht konfliktfreier – Selbstverwaltung aus, pflegte ein intensives Gemeindeleben und zeigte ein starkes Selbstbewusstsein.61 Bewusstsein der Autonomie

Dieses Bewusstsein der Autonomie, der Selbstverwaltung und der eigenständigen Kultur62, gründet im Schtetl und im Judendorf in der jüdischen Tradition.63 Im Mittelalter besaß die jüdische Gemeinde – der Kahal oder die Kehilla – das Recht, nicht nur ihre religiösen, sondern auch ihre juristischen und politischen Angelegenheiten selbst zu regeln. Dieses Recht setzte sich in überlokalen und überregionalen Versammlungen fort. Den Höhepunkt bildete im Königreich Polen-Litauen der »Judenreichstag«, der als gemeinsame Vertretung der vom König nicht zuletzt zur Organisation der Steuereintreibung geschaffenen vier 60 Zu Tomaszów Mazowiecki Kosmala: Juden [Fn. 58]. 61 Shimon Redlich: Together and Apart in Brzezany. Poles, Jews and Ukrainians, 1919–1945. Bloomington 2002. – David Rechter: A Nationalism of Small Things: Jewish Autonomy in Late Habsburg Austria, in: Leo Baeck Institute. Year Book 52/2007 S. 87–109. 62 Michael C. Steinlauf, Antony Polonsky (Hg.): Focusing on Jewish Popular Culture in Poland and its Afterlife [= Polin. Studies in Polish Jewry 16/2003]. 63 Das Vorbild der »tradierten frühneuzeitlichen kollektiven Organisationsformen« für autonome Assoziationen gerade der Juden betont auch Stefan Rohdewald: Phasen beschleunigten Wandels: Polock im 15., 17. und 19. Jahrhundert, in: Carsten Goehrke, Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Städte im östlichen Europa. Zur Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Zürich 2006, S. 135–167, hier S. 159. – Rainer Lindner: Städtische Modernisierung im südlichen Zarenreich: Ekaterinoslav und Žitomir, 1860–1914, in: ebd., S. 281–316, hier S. 304–308.

Grenzüberschreitende Kulturen und das Bewusstsein der Autonomie 

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jüdischen »Länder« 1581 zum ersten Mal in Lublin zusammengetreten war.64 Seit 1623 für die beiden Reichsteile Polen und Litauen getrennt, bestanden die »Judenreichstage« bis 1764 und wurden kurz vor der Zerschlagung des Reiches noch einmal belebt.65 Gewiss gab es auch anderswo »Judenlandtage« und ähnliche Institutionen, aber sie erreichten keine derartige Bedeutung wie in Polen-Litauen.66 1822 schaffte die zarische Regierung für das Königreich Polen den Kahal sowie alle traditionellen jüdischen Vereinigungen ab und setzte die staatlich kontrollierte Synagogalaufsicht an ihre Stelle. 1844 wurde diese Bestimmung auf das gesamte Russische Reich ausgedehnt. Ebenso wie in anderen Staaten Osteuropas, in denen die Gemeinderechte eingeschränkt, wenngleich nicht abgeschafft wurden, gingen die Verbote ins Leere. Die alten Einrichtungen bestanden informell weiter, die neue Synagogalaufsicht übernahm illegal die früheren Funktionen, oder es wurden – häufig wohltätige – Vereine und Organisationen gegründet, die die Kahal-Aufgaben wahrnahmen. In der Regel holte man dazu gar keine behördliche Genehmigung ein, nannte sich einfach »Minjan« – nach den erforderlichen zehn Männern, die eine religiöse Gemeinschaft bildeten – und tagte im Bethaus. Die Behörden duldeten diese Praxis widerwillig oder auch wohlwollend. Verhindern konnten sie sie jedenfalls nicht, bestenfalls hin und wieder eine Razzia durchführen, um auf diese Weise Straf-, möglicherweise auch Bestechungsgelder einzutreiben.67 Diese Organisationsformen bildeten dann die Grundlage für Genossenschaften, gewerkschaftliche Gruppen oder Bildungsvereine – nicht zuletzt zur handwerklichen und landwirtschaftlichen Weiterbildung –, schließlich auch für Parteien. Gerade die soziale Verpflichtung schweißte die jüdische Gemeinschaft immer wieder zusammen, trotz aller Gegensätze. 64 Der Begriff »Länder« bezeichnet hier nicht nur die Territorien, sondern auch die dortigen Vertretungen. Die vier jüdischen Länder entsprachen den Provinzen Großpolen, Kleinpolen, Masowien und Wolhynien. Hinzu kamen die Länder im litauischen Reichsteil, Litauen und Weißrussland, die ebenfalls in einem gemeinsamen jüdischen Sejm vertreten waren. 65 Haumann, Geschichte [Fn. 37], S. 24, 29–30, 43, 69. – Als lokales Beispiel: Heidemarie Petersen: Die Rechtsstellung der Judengemeinden von Krakau und Prag um 1500. Beispiele jüdischer Existenz in Ostmitteleuropa, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46/1997, S. 63–77. 66 Michael A. Meyer, Michael Brenner (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 1. Mordechai Breuer, Michael Graetz: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 187–200. 67 Guesnet, Polnische Juden [Fn. 32], S. 223–250. – Verena Dohrn: Die jüdische Gemeinde (»kehilla«) und die Stadt unter russischem Recht, in: Engel-Braunschmidt/Hübner, Jüdische Welten [Fn. 40], S. 65–84.

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Schtetl und Judendorf

In den Lebenswelten der Juden gab es gewiss häufig mehrere Orte der Zugehörigkeit, die das Selbstverständnis prägten. Die »Fremdheit« in den gesellschaftlichen Verhältnissen konnte zwar in der Regel nicht überwunden werden, aber die »Vertrautheit« in persönlichen und ökonomischen Beziehungen mit Nichtjuden erlaubte es immer wieder, traditionelle Grenzen zu überschreiten. Dies blieb auch so, nachdem die herausragende Stellung der Juden als Mittler zwischen Stadt und Land verloren gegangen war. Mit Witz und Humor – in Purim-Umzügen, Anekdoten und Erzählungen – versuchten die Juden, ihre Stellung in der Gesellschaft und ihr Selbstverständnis zu reflektieren.68 Aufgrund des hohen Bevölkerungsanteils und der sozialen wie wirtschaftlichen Funktionen waren im Schtetl die Einschnitte noch stärker spürbar als im Judendorf. Deshalb prägte sich im Schtetl das Bewusstsein der Autonomie und der damit verbundenen kollektiven Verantwortung besonders intensiv aus und bildete für die meisten Juden das Verbindende. Doch auch im Judendorf verschwand es keineswegs. Für einen Vergleich der Lebenswelten von Juden in Ost- und Westeuropa sollte diese Gemeinsamkeit stärker als bisher in Betracht gezogen werden. Das Bewusstsein der Autonomie war das Ergebnis langer Erfahrungen der Geschichte. Zu ihnen gehörte der immer wieder neue Druck von außen, aus der nichtjüdischen Gesellschaft, die Juden als »die anderen« zu betrachten, sie gewissermaßen auch dann zu Juden zu machen, wenn sie sich aus religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen aus der jüdischen Gemeinschaft lösen wollten. Grenzüberschreitungen wurden dadurch erschwert. Hätte es diesen Druck nicht gegeben, der häufig eine existentielle Bedrohung darstellte, wäre das Band der Zugehörigkeit nicht so fest gewesen, hätten Autonomie, jüdisches Selbstbewusstsein, Solidarität nicht einen so hohen Stellenwert besessen. In Osteuropa kam die Armut dazu, der die Juden in größerem Ausmaß als in Westeuropa ausgesetzt waren – der »Luftmensch« wurde zum Symbol jüdischen Lebens.69 Außerdem bestanden vielfältigere Möglichkeiten als im westlichen Judendorf, sich politisch zu engagieren. Entsprechend fielen hier die Vorstellungen von Autonomie und Selbstverwaltung konkreter und deutlicher aus. Chasia Bornstein-Bielicka gewinnt nicht zuletzt aus dieser Erfahrung der Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit im Schtetl die Kraft, sich bei ih68 Vgl. Desanka Schwara: Humor und Toleranz. Ostjüdische Anekdoten als historische Quelle. Köln usw. 22001. 69 Desanka Schwara: Luftmenschen – Ein Leben in Armut, in: Haumann, Luftmenschen [Fn. 56], S. 71–222. – Dies: »Luftmenschen« – Leidtragende des Verarmungsprozesses in Osteuropa im 19. Jahrhundert, in: Stefi Jersch-Wenzel u. a. (Hg.): Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Köln usw. 2000, S. 149–165.

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rer linksozialistisch-zionistischen Orientierung zu öffnen für Bündnisse mit nichtjüdischen Organisationen, sich für Ziele einzusetzen, die nicht aus der jüdischen Tradition stammen. Sie überschreitet die traditionellen kulturellen Grenzen. Zugleich gibt ihr die Grundsicherheit, vielleicht sogar Geborgenheit in der Schtetl-Gemeinschaft die Kraft, alle Schicksalsschläge zu überstehen, für ihr Überleben ebenso zu kämpfen wie für das Leben anderer. Dies macht die innere Wahrheit ihrer Erinnerungen an ihr Schtetl aus.

Juden in Gailingen Selbstbewusstsein und Nachbarschaft*

Am 2. Dezember 1945 trafen sich in Singen 500 Mitarbeiter Antifaschistischer Komitees aus dem Regierungsbezirk Konstanz. Auch Gailingen war vertreten. Vielfach wurde in den Lageberichten beklagt, dass die Erneuerung der Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« zu langsam vorangehe, oft noch die alten Nazis in den wichtigsten Aemtern säßen. Der Kommunist Karl Bittel aus Überlingen erwähnte Gailingen als Beispiel, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht geändert habe: Hier würden die Juden noch genauso behandelt wie zuvor. Das ließ Gailingens Bürgermeister Josef Ruh nicht auf sich sitzen. Ihn selbst hätten die Nazis 1933 aus dem Amt entlassen. Von den überlebenden Gailinger Juden sei bislang noch keiner zurückgekehrt. Jetzt lebten polnische Juden, ehemalige Zwangsarbeiter, im Ort. An ihren Verhältnissen habe sich tatsächlich nichts geändert – aber er habe getan, was er könne, um ihnen eine halbwegs gute Unterbringung zur Verfügung zu stellen, Einrichtungsgegenstände, vor allem Betten, zu beschaffen und ihre Ernährung zu verbessern. Diese Juden wollten im übrigen nicht wieder in ihre Heimat, ins Ghetto, zurück.1 In dieser Episode wird etwas von dem Stellenwert deutlich, den die Gailinger Juden im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit einnahmen: Dieser Ort hatte zeitweise den höchsten Anteil von Juden an der Bevölkerung innerhalb Südwestdeutschlands – 1858 betrug er 50,35 Prozent.2 Gailingen war die * Erstpublikation in: Gailingen. Geschichte einer Hochrhein-Gemeinde. Hg. von Franz Götz. Gailingen, Tübingen 2004, S. 499–511. 1 Den Hinweis auf dieses Treffen verdanke ich Edgar Wolfrum; die Darstellung fußt auf einem Protokoll der französischen Militärregierung (Edgar Wolfrum, Peter Fäßler, Reinhard Grohnert: Krisenjahre und Aufbruchzeit. Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945–1949. München 1996, S. 121). Zu Ruh, der 1928 als Zentrumsmitglied, aber gegen den Willen seiner Partei, von Christen und Juden zum Bürgermeister gewählt und acht Wochen nach dem Machtantritt Hitlers am 30.1.1933 nicht zuletzt wegen seiner toleranten Haltung gegenüber den Juden entlassen worden war, vgl. Die Gailinger Juden. Materialien zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Gailingen aus ihrer Blütezeit und den Jahren der gewaltsamen Auflösung. Hrsg. von Eckhardt Friedrich und Dagmar SchmiederFriedrich. Konstanz 1981, S. 55–64; Regina Schmid: Verlorene Heimat. Gailingen – ein Dorf und seine jüdische Gemeinde in der Weimarer Zeit. Konstanz 1988, S. 146–148, 154–157. – Zur Geschichte der Gailinger Juden siehe im einzelnen die entsprechenden Beiträge in diesem Band. 2 Aus dem Ortsbereisungsprotokoll vom 12.9.1878, zitiert in: Die Gailinger Juden, S. 22.

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»größte jüdische Landgemeinde Badens und vielleicht ganz Deutschlands«.3 Über lange Zeit bestand eine friedliche, gute Nachbarschaft mit Nichtjuden. Dass auch hier die Nationalsozialisten immer stärker geworden waren und die Juden dasselbe Schicksal erlitten hatten wie überall in deren Herrschaftsbereich, wurde deshalb oft als überraschend empfunden. Trotz vielfältiger Bemühungen, die nicht verkleinert werden sollen, knüpfte man nach 1945 nicht nahtlos an die nachbarschaftliche Einstellung an. Häufig herrschte auch in Gailingen der Versuch vor, die Vergangenheit des »Judendorfes« zu verschweigen und zu verdrängen; hin und wieder wurden sogar antijüdische Klischeevorstellungen deutlich.4 1990 erwarb das Haus der Geschichte Baden-Württemberg das Spendenbuch der jüdischen Gemeinde Gailingens, das zur Finanzierung des gegen Ende des 19.  Jahrhunderts errichteten jüdischen Krankenhauses angelegt worden war. 1938 hatten es die Nazis nach dem Novemberpogrom in Besitz genommen. Eine recht unbefangene Haltung gegenüber diesem Erinnerungsstück und gegenüber der Geschichte legten dann die Gailinger Narren an den Tag, als sie das Buch Anfang der fünfziger Jahre als Requisit an Fastnacht benutzten.5 Das zwiespältige Verhältnis zur Vergangenheit kam schließlich noch einmal im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den Abriss jüdischer Bürgerhäuser Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre zum Vorschein. Unbestritten blieb dabei allerdings, dass Gailingen eine Besonderheit gewesen war. So beschwor der Dichter Bruno Epple die »bewundernswerte Symbiose von Christen und Juden« vor 1933, die »Enklave der Toleranz«. Mit der Erhaltung der Zeugnisse jüdischen Lebens könne die Identität der Gemeinde bewahrt und die »Einzigartigkeit der eigenen beispielhaften und beispielgebenden Geschichte« gezeigt werden, in der die Juden »nicht Andere, sondern Eigene« gewesen seien.6 3 Franz Hundsnurscher, Gerhard Taddey: Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Stuttgart 1968, S. 98. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Gailingen die drittgrößte Judengemeinde Badens überhaupt nach Mannheim und Karlsruhe. Vgl. Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1987, S. 178. Eine knappe Charakteristik Gailingens auch in Joachim Hahn: Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg. Stuttgart 1988, S. 303–305. 4 Vgl. die Zusammenstellung von Thomas Warndorf: Gailingen am Hochrhein. Beiträge zur soziokulturellen Geschichte eines Judendorfes. Konstanz 1985, S. 16. 5 Mitteilung aus dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart, am 12.10.1990. 6 Bruno Epples »Sätze für Gailingen« sind abgedruckt im »Singener Wochenblatt« vom 26.8.1992. Vgl. zu den Auseinandersetzungen Heiko Haumann: Wege zur Geschichte der Juden am Oberrhein. In: Allmende 13, 1993, Nr. 36/37, S. 6–26, hier besonders S. 8–16. Allgemein zu diesen Problemen auch Monika Richarz: Luftaufnahme – oder die Schwie-

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Juden in Gailingen

Vieles von dem, was sich in Gailingen abspielte, galt selbstverständlich auch in anderen »Judendörfern«. Manche Besonderheiten, die lokalhistorisch Interessierte herausarbeiten, lösen sich rasch auf, wenn man die Geschichte der Land- und Kleinstadtjuden vergleichend betrachtet. Aber es bleibt doch genug Auffälliges an Gailingen übrig. Der hohe Bevölkerungsanteil der Juden bedingte, zusammen mit deren Stellung in Diessenhofen, eine beträchtliche Wirtschaftskraft, die teilweise die Rücksichtnahme ihnen gegenüber selbst noch in den ersten Jahren des »Dritten Reiches« unter dem nationalsozialistischen Bürgermeister Friedrich Hermann erklärt.7 Doch sie wurden keineswegs nur widerwillig aus ökonomischen Gründen geduldet. Ein Vergleich mit den beiden »Judendörfern« Endingen und Lengnau im aargauischen Surbtal macht dies deutlich. Auch hier nahmen die Juden 1850 mit 40 Prozent einen hohen Anteil an der Bevölkerung ein und gingen im Wesentlichen der Hausiererei und dem Viehhandel nach. Als 1862 der kantonale Große Rat die rechtliche Emanzipation der Juden beschloss, regte sich jedoch erheblicher Widerstand bei den christlichen Einwohnern, gerade auch im katholischen Surbtal. Es kam zu einer regelrechten Volksbewegung, bei der die »Judenfrage« eine Stellvertreterrolle für den Kampf zwischen Katholiken und Liberalen spielte. Alle nur möglichen Klischees von den Juden als Christusmörder, die Bauern verderbende Wucherer und geldgierige Händler wurden an die Wand gemalt. In einer Volksabstimmung lehnte schließlich eine überwältigende Mehrheit die Emanzipation ab. Nur jeweils ein christlicher Dorfbewohner stimmte in Endingen und Lengnau für seine jüdischen Nachbarn. Erst der Druck von eidgenössischen Bundesbehörden erzwang bis 1877 die juristische Gleichstellung der Juden auch im Aargau. Zu dieser Zeit begann bereits deren – allerdings auch ökonomisch motivierte – Auswanderung in die Städte.8 rigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, 1991, H. 8, S. 27–33. 7 Die Gailinger Juden, S. 64–67; Haumann: Wege, S. 13. 8 Christophe Seiler, Andreas Steigmeier: Geschichte des Aargaus. Illustrierter Überblick von der Urzeit bis zur Gegenwart. Aarau 1991, S. 111–112; Karl Weibel: Endingen. Bilder aus vergangenen Zeiten. Endingen 1991, bes. S. 153–171; Robert Uri Kaufmann: Jüdische und christliche Viehhändler in der Schweiz 1780–1930. Zürich 1988, hier S. 142–143; ders.: Swiss Jewry: From the »Jewish Village« to the City 1780–1930. In: Leo Baeck Institute Year Book 30, 1985, S. 283–299; ders.: Die Emanzipation der Juden in der Schweiz im europäischen Vergleich 1800–1880. In: Mundo multa miracula. Festschrift für Hans Conrad Peyer. Hrsg. von Hans Berger u. a. Zürich 1992, S. 199–206, 249–251; Thomas Armbruster: Die jüdischen Dörfer von Lengnau und Endingen. In: Landjudentum im Süddeutschen- und Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des Jüdischen Museums Hohenems vom 9. bis 11. April 1991, veranstaltet vom Vorarlberger Landesarchiv. Dornbirn 1992, S. 38–86; Dieter Thommen: Das Jiddische (»Jüdisch-Deutsche«) im

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Selbst wenn man berücksichtigt, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in der Schweiz Juden fast ausschliesslich in den beiden Surbtaler Dörfern leben mussten und insofern zu ihrer Umwelt einzigartige Beziehungen bestanden, bleiben die anders gelagerten Verhältnisse in Gailingen doch erstaunlich. Auch hier war die christliche Einwohnerschaft überwiegend katholisch, so dass man zumindest im badischen »Kulturkampf« eine antijüdische Wendung hätte erwarten könne. Als in Freiburg 1862 mit dem Gesetz zur »bürgerlichen Gleichstellung« Juden endlich wieder das Bürgerrecht erwerben konnten, protestierten nicht nur zahlreiche Kaufleute, Handwerker und Gewerbetreibende, die die wirtschaftliche Konkurrenz fürchteten, sondern besonders heftig auch katholische Kreise. Bei ihnen verband sich der traditionell vorhandene, religiös begründete Antijudaismus mit der Absicht, über antisemitische Äußerungen und den Appell an verbreitete Vorurteile Unterstützung in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus zu erhalten.9 In der Tat war der »Kulturkampf« auch in Gailingen spürbar, es gab Konflikte zwischen den beiden Konfessionen über die Auswirkungen, die die Vereinigung der Schulen mit sich brachten, und auch der ökonomische Aufstieg jüdischer Familien dürfte bei ihren christlichen Nachbarn, die im Wesentlichen arm blieben, nicht unbedingt wohlwollend beobachtet worden sein. Und dennoch: 1870 wurde der jüdische Kaufmann Leopold Guggenheim mit 193 gegen 132 Stimmen zum Bürgermeister gewählt, der katholische Gegenkandidat hatte das Nachsehen. Dieser gewann offenbar durchaus die Stimmen der »ultramontanen« Katholiken, doch eine antisemitische Kampagne lässt sich aus den bisher bekannt gewordenen Quellen nicht nachweisen. Hingegen müssen angesichts der konfessionellen Verteilung der Wahlberechtigten viele Katholiken für Guggenheim gestimmt haben. Nach Ablauf seiner Amtszeit wurde er wiedergewählt und starb 1884 noch im Amte. Ein weiteres Indiz im WahlverhalSurbtal und im Bodenseekreis. Ebd., S. 87–91. Allgemein: Florence Guggenheim-Grünberg: Die Juden in der Schweiz. Zürich 1961; Augusta Weldler-Steinberg: Geschichte der Juden in der Schweiz vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation, bearbeitet und ergänzt durch Florence Guggenheim-Grünberg. Band 1. Zürich 1966, Band 2. Zürich 1970. Vgl. auch Martin Leuenberger: Ein kurzer Sommer des Asyls. Juden aus dem Elsass als Flüchtlinge in Baselland. In: Baselbieter Heimatbuch 20, 1995, S. 65–78; ders.: Frei und gleich ... und fremd. Flüchtlinge im Baselbiet zwischen 1830 und 1880. Liestal 1996, S. 179–313. 9 Gabriele Blod: Die Entstehung der israelitischen Gemeinde Freiburg 1849–1871. Freiburg 1988; Heiko Haumann: Juden in Freiburg i. Br. von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart: Assimilation, Antisemitismus, Suche nach Identität. In: Landjudentum, S. 155–162; vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in: Geschichte der Stadt Freiburg i. Br. Hrsg. von Heiko Haumann und Hans Schadek. Band 3. Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992.

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Juden in Gailingen

ten der Gailinger bestätigt das gewonnene Bild. Bis 1900 bestimmten sie ihre Gemeinderäte konfessionell getrennt nach einem Proporz von vier christlichen und vier jüdischen Männern. 1904 entschieden alle Wahlberechtigten gemeinsam über die Kandidaten. Inzwischen war der jüdische Bevölkerungsanteil stark zurückgegangen – er betrug noch etwas mehr als ein Drittel –, das Zusammenleben mit den Nichtjuden gestaltete sich auch jetzt keineswegs nur harmonisch, immer wieder waren Spannungen und Konflikte festzustellen. Trotzdem wurden erneut vier christliche und vier jüdische Personen gewählt. Zwar gaben die Katholiken vorrangig ihren Glaubensgenossen die Stimme: Als erster Jude kam Simon Rothschild auf den vierten Platz der Liste. Aber sie setzten doch nicht ihre Mehrheit ein, um die jüdischen Kandidaten durchfallen zu lassen oder auch nur in die Minderheit zu bringen.10 Der Dorf- und Kleinstadtjude ist mehrfach als Typus dem großtädtischen Juden gegenübergestellt worden.11 Er sei religiöser gewesen, weniger im Sinne einer hingebungsvollen Frömmigkeit, sondern einer Pflichterfüllung. Während den detaillierten Vorschriften der Halacha nicht immer streng nachgekommen wurde, folgte der Dorfjude dem Minhag, dem überlieferten Brauch. Er stellte ihn nicht in Frage, war aber bereit, eine neue Tradition zu schaffen.12 Jacob Picard, der »Dichter des deutschen Landjudentums«,13 hat in seiner Erzählung »Die alte Lehre« ein schönes Beispiel dafür gegeben. In einer Gemeinde des 10 Warndorf: Gailingen, S. 95–98; Die Gailinger Juden, S. 21–53. Simon Rothschild stiftete 1900 eine Nachbildung des Gemeindewappens, die heute noch zu sehen ist. Auch in der Weimarer Zeit wurden immer Juden, hauptsächlich als Sozialdemokraten und Demokraten, in den Gemeinderat gewählt. Aus ihren Reihen kam regelmäßig der BürgermeisterStellvertreter (Schmid: Verlorene Heimat, S. 124–157). 11 Werner J. Cahnman: Der Dorf- und Kleinstadtjude als Typus. In: Zeitschrift für Volkskunde 70, 1974, S. 169–193 (erweiterte Fassung: Village and Small-Town Jews in Germany. A Typological Study. In: Leo Baeck Institute Year Book19, 1974, S. 107–130). 12 Vgl. Christoph Daxelmüller: Zwischen Steitl und Stadt. Die Bedingungen von Tradition und Veränderung in der jüdischen Alltagskultur Mittel- und Osteuropas. In: Wandel der Alltagskultur seit dem Mittelalter. Hrsg. von Günter Wiegelmann. Münster 1987, S. 201– 221, bes. S. 213–221; ders.: Zwischen »minhag« und Bürostuhl. Konstitutiven des jüdischen Alltags im 19. und 20. Jahrhundert. In: Frömmigkeit – Lenz Kriss-Rettenbeck zum 70. Geburtstag. München 1993, S. 195–214, hier bes. S. 202–203. Er verweist dabei u. a. auf die Studie von Jeschajahu Awiad-Wolfsberg: Minhag und Halacha. In: Leo Baeck Institute Bulletin 1, 1957, S. 27–30. – Zur religiösen Entwicklung in Gailingen vgl. Gisela Roming: Religiosität und Bildung in jüdischen Landgemeinden. In: Jüdisches Leben im Bodenseeraum. Hrsg. von Abraham P. Kustermann und D. R. Bauer. Ostfildern 1994, S. 91–108. Vgl. auch den Beitrag von Gisela Roming in diesem Buch, S. 291 ff. Ihr habe ich für viele Hinweise zu danken. 13 Jacob Picard. 1883–1967. Dichter des deutschen Landjudentums. Hrsg. von Manfred Bosch und Jost Grosspietsch. Freiburg i. Br. 1992.

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Oberelsass war es – wie wohl meistens in den »Judendörfern« – üblich, an den Feiertagen diejenigen, die den Segensspruch zur Tora sprechen durften, nach der sozialökonomischen Rangordnung, nach der Höhe ihrer Wohltätigkeitsspende aufzurufen. Den Armen blieb daher diese Ehre versagt. An Simchat Tora, dem Fest der Gesetzesfreude, ereignete es sich nun, dass der – christliche – Bürgermeister des Ortes die Synagoge während des Gottesdienstes betrat und für den Barbier Moischele spendete, der selbst dazu nicht in der Lage war, damit er auch aufgerufen werde. »Fest steht aber, dass fürderhin immer an diesem Tag der dritte Aufruf den ärmsten Mann in der Gemeinde traf; ihm wurde die Ehre von einem, der es konnte, gekauft, wie auch das, was er spendete, von den anderen, deren Name nie einer erfahren durfte, übernommen wurde.«14 Ein neuer Minhag war geboren. Diese Geschichte zeigt zugleich eine weitere Besonderheit des Landjudentums: die enge Nachbarschaft zu den Christen, die es sogar mit sich brachte, dass die Juden eine Lehre von einem Christen annahmen. Zwar waren die Juden fest in ihre Familie, in ein oft über weite Entfernungen reichendes verwandtschaftliches Netz und in ihre Gemeinde eingebunden, verleugneten ihr Judentum nicht, aber im Alltag kamen sie immer wieder in dichte Beziehungen zu den christlichen Dorfbewohnern: als Hausierer und Händler jeglicher Art – namentlich für Vieh und Pferde, Textilien und Altwaren –, seit der Emanzipation zunehmend auch als Besitzer von Ladengeschäften, manchmal verbunden mit einer kleinen Landwirtschaft, weniger als Handwerker, hin und wieder als Fabrikanten; dann aber auch, und dies betraf in erster Linie die Frauen, bei vielen Treffen im täglichen Leben; schließlich über das christliche Dienstmädchen oder in der Schule, zumindest in Baden, wo 1876 die konfessionelle Gemeinschaftsschule zur Pflicht gemacht wurde. In vielem ähnelte die Lebensweise der Juden denen der christlichen Bauern. Die großstädtischen Juden, die eher assimilationswillig waren, schauten deshalb häufig etwas von oben herab auf diese Verhältnisse: Die Dorfjuden galten als rückständig, ungebildet, traditionsverhaftet. Allerdings schlug oft auch das »schlechte Gewissen« – die Erinnerung an die Herkunft und an die Wurzeln des Judentums, die man auf dem Weg des bürgerlichen Erfolges zu verdrängen suchte.15 In Wirklichkeit war der Ge14 Jacob Picard: Werke. Hrsg. von Manfred Bosch. 2 Bde. Konstanz 1991, hier Bd. 1, S. 78– 88. 15 Monika Richarz: Die Entdeckung der Landjuden. Stand und Probleme ihrer Erforschung am Beispiel Südwestdeutschlands. In: Landjudentum, S. 11–21, hier S. 11. Siehe auch Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Die Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Frankfurt a. M. 1986, S. 48–51. Monika Richarz liefert in ihren Untersuchungen zahlreiche Beispiele für die in meinem Beitrag angesprochenen Punkte, ich nenne nur: Emancipation and Continuity. Jews in the Rural Economy.

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gensatz nicht unbedingt so scharf und ist schon gar nicht pauschal in Begriffen wie konservativ und liberal, religiös und weltlich zu fassen. Immer wieder wird berichtet, dass die Landjuden ein städtisches Element in die Dörfer trugen. Das lag wohl weniger daran, dass die Vorfahren eines Teils von ihnen früher einmal Städter gewesen und von dort vertrieben worden waren,16 sondern an ihrer Funktion als Mittler zwischen Stadt und Land. Gerade die Händler tauschten nicht nur ländliche gegen städtische Erzeugnisse, sondern brachten auch Informationen über Ereignisse, Leben und Kultur in den Städten mit in die Dörfer.17 Ein Vergleich mit den Lebenswelten der Ostjuden wäre in dieser Hinsicht höchst aufschlussreich.18 Jacob Picard trifft das entscheidende Kennzeichen, als er in seiner Erzählung »Das Los« einen jüdischen Hausierer, der im tiefen Winter nicht rechtzeitig vor Sabbatbeginn nach Hause kommt und deshalb bei Bauern im Schwarzwald übernachten muss, als den »jüdischen Mann unter den Fremden und doch Vertrauten« beschreibt.19 Vertraut und fremd zugleich waren die Juden im Dorf. Sie wurden in der Regel geachtet, hin und wieder kam es gar zu freundschaftlichen Bindungen mit Christen; sie regelten für die nichtjüdischen Bauern oft mehr als nur Geschäfte, bürokratische und juristische, ja familiäre Angelegenheiten in

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In: Revolution and Evolution. 1848 in German-Jewish History. Hrsg. von Werner E. Mosse, Arnold Paucker und Reinhard Rürup. Tübingen 1981, S. 95–115; Landjuden – ein bürgerliches Element im Dorf? In: Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich. Hrsg. von Wolfgang Jacobeit, Josef Mooser und Bo Strath. Berlin 1990, S. 181–190; Viehhandel und Landjuden im 19. Jahrhundert. Eine symbiotische Beziehung in Südwestdeutschland. In: Menora. Jahrbuch für deutschjüdische Geschichte 1, 1990, S. 66–88; Die soziale Stellung der jüdischen Händler auf dem Lande am Beispiel Südwestdeutschlands. In: Jüdische Unternehmer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Wener E. Mosse und Hans Pohl. Stuttgart 1992 (= Zeitschrift für Unternehmensgeschichte Beiheft 64), S. 271–283. Dasselbe gilt für die bahnbrechende Studie von Utz Jeggle: Judendörfer in Württemberg. Tübingen 1969. Zum Forschungsstand vgl. Trude Maurer: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780–1933). Neuere Forschungen und offene Fragen. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 4. Sonderheft. Tübingen 1992, bes. S. 70–84. Viele Anregungen, auch für das Folgende, verdanke ich Ulrich Baumann, vgl. seine Dissertation: Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940. Hamburg 2000 (mit zahlreichen Hinweisen zu Gailingen). So Cahnman: Der Dorf- und Kleinstadtjude, S. 191. Dies betont auch Daxelmüller: Zwischen »minhag« und Bürostuhl, S. 203 (mit Hinweis auf Spezialforschungen). Vgl. einführend Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 5. Aufl. München 1999. Picard: Werke. Bd. 1, S. 11–27, hier S. 17 (vgl. S. 84: in der bereits erwähnten Geschichte erscheint der christliche Bürgermeister in der Synagoge als »eine fremde und doch vertraute Gestalt»).

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der Stadt etwa; ihr durch Religionsgesetze bestimmtes Verhalten war anerkannt. Und doch ging keine vollständige Integration vonstatten, blieb eine Distanz. Die »Scheu einfacher Menschen vor den geheimen Bräuchen des anderen«20 ließ, selbst wenn man diese Bräuche weitgehend miterlebte, ein unbewusstes Misstrauen, ob denn dabei wirklich alles mit rechten Dingen zugehe, nicht überwinden, zumal die in den christlichen Kirchen weit verbreiteten antijüdischen Klischees nachwirkten. Darüber hinaus machten die Marktkenntnisse und das ökonomische Verhalten die jüdischen Händler den christlichen Bauern unheimlich. Der – wenngleich vielfältig gebrochenen – »moralischen Ökonomie« des Dorfes stand die Wirtschaftsweise der Existenzsicherung, die wenigstens scheinbar überlieferten Normen folgte, näher als die profitorientierte kapitalistische Wirtschaft. Insofern konnten die Juden als Eindringlinge, die in gewisser Weise außerhalb der Dorfgemeinschaft lebten, empfunden werden. Im Konfliktfall griffen dann leicht die stereotypen Vorwürfe, Juden seien »geldgierig« und »wucherisch«, sie seien darauf aus, die Bauern »auszusaugen«. Vor diesem Hintergrund war es möglich, selbst vertraute Bekannte zu judenfeindlichen Aktionen zu mobilisieren.21 Sehen wir uns einige Orte genauer an, an denen Gailinger Juden lebten und Handlungsspielräume entfalten konnten. Sehr deutlich wird dabei, dass die jüdische Bevölkerung nicht isoliert war, sondern in einem engen Wechselverhältnis mit ihrer nichtjüdischen Umwelt stand. Von einer Assimilation, einer Anpassung an diese bei weitgehender Aufgabe der eigenen Kultur, kann keine Rede sein. Statt dessen vollzog sich ein Prozess der Akkulturation, einer gegenseitigen Beeinflussung von Kulturen, der zu neuen, eigenständigen kulturellen Formen führte.22 Dieser Prozess kann auch als »Zwischenkultur« bezeichnet werden.23 20 Picard: Werke. Bd. 1, S. 17. 21 Vgl. Heiko Haumann: »Lieber ’n alter Jud verrecke als e Tröpfle Schnaps verschütte.« Juden im bäuerlichen Milieu des Schwarzwaldes zu Beginn des Nationalsozialismus. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 3, 1992, S. 143–152. In ähnlicher Richtung argumentiert teilweise Cahnman: Der Dorf- und Kleinstadtjude, S. 188–191. Vgl. Leuenberger: Ein kurzer Sommer. Es wäre interessant, einmal das Bild der Dorfjuden in literarischen Texten zu analysieren, neben Picard etwa bei Berthold Auerbach, Johann Peter Hebel (Hinweise bei Cahnman: Der Dorf- und Kleinstadtjude, S. 183, 185, 188–190) oder auch – mit antijüdischem Zungenschlag – bei Jeremias Gotthelf (dazu Kaufmann: Jüdische und christliche Viehhändler, S. 126–128, 137–139). Dass die Fremdheit die Vertrautheit überdecken konnte, zeigten anscheinend die Verhältnisse in Endingen und Lengnau (dies bedarf allerdings noch eingehender Erforschung). – Zu den Klischees und Stereotypen s. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. 22 Vgl. Maurer: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit, bes. S. 167–179. 23 Daxelmüller: Zwischen »minhag« und Bürostuhl, S. 204.

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Kultur wird dabei verstanden als umfassender Begriff für menschliche Lebensbereiche und für die Beziehungen zwischen Individuen wie zwischen Individuen und Strukturen,24 »als Medium historischer Lebenspraxis und Auseinandersetzung insgesamt«.25 Als Beispiel sticht in Gailingen ganz besonders das jährliche Purim-Fest, die »jüdische Fastnacht« ins Auge. Purim feiert man seit altersher zur Erinnerung an die Errettung der persischen Juden vor ihrer Ausrottung, wie es im Buch Esther niedergeschrieben steht. Zugleich soll damit immer wieder bewusst werden, dass Gott in ausweglosen Situationen helfen kann, wenn man nur den Glauben nicht verliert. Im Zentrum des Festes steht die Verlesung der Megilla, des auf einer kunstvoll geschmückten Rolle geschriebenen Buches Esther. Zahlreiche Bräuche und Theaterstücke kreisen um den persischen König Ahasver und seine Frau Esther, um deren Vater Mordechai und dessen Gegner Haman, den Vertrauten des Königs, der aus nichtigem Anlass alle Juden umbringen lassen will. Esther erreicht es jedoch beim König, dass Haman in Ungnade fällt, selbst aufgehängt wird, Mordechai sein Nachfolger wird und die Juden Rache an all ihren Feinden nehmen können. Man feiert mit viel Lärm und in ausgelassener Stimmung. In Maskierungen und Spielen kommt es zu einer »ver-rückten Verdrehung der Welt«.26 Purim-Belustigungen, die Entwicklung und Funktion der Narrengestalt, die Tradition der Commedia dell‘ arte, römischer, venezianischer wie rheinischer Karneval haben sich im Laufe der Geschichte wechselseitig beeinflusst, ohne dass dies im einzelnen schon befriedigend erforscht wäre. Mehrfach entstanden Spannungen, wenn Purim in die katholische Fastenzeit fiel und der Pfarrer deshalb versuchte, das Fest verbieten zu lassen. Dies war auch in Gailingen der Fall. Noch 1906 wollte der Ortspfarrer verhindern, dass die Juden am Palmsonntag ihren Faschingsumzug durchführten. Der Gemeinderat gab dem zunächst nach, liess sich jedoch auf Druck der jüdischen Gemeinde und einer Reihe katholischer Bürger, die sich mit ihr solidarisierten, wieder umstimmen.27 Einen etwas anders 24 Heiko Haumann, Martin Schaffner: Überlegungen zur Arbeit mit dem Kulturbegriff in den Geschichtswissenschaften. In: uni nova. Mitteilungen aus der Universität Basel H. 70, 1994, S. 18–21 (vgl. das gesamte Heft). 25 Editorial der HerausgeberInnen in: Historische Anthropologie 1, 1993, H. 1, S. 1–2. 26 Christoph Daxelmüller: Ester und die Ministerkrisen: Wandlungen des Esterstoffes in jüdisch-deutschen und jiddischen Purimspielen. In. Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments. 1. Teil: Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert. Hrsg. von Franz Link. Berlin 1989, S. 431–463, Zitat S. 458. 27 Herbert Berner: Gailinger Purim – jüdische Fasnacht im Hegau. Ein Beitrag zum jüdischen Gemeindelben und zur Emanzipation der Juden in Baden (zuerst 1984). In: ders.: »Das Hegöw, ein kleines, aber über die Massen wol erbauen fruchtbar Ländlein«. Ausgewählte Aufsätze. Festgabe zu seinem 70. Geburtstag. Hrsg. von Franz Götz. Sigmaringen 1991,

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gelagerten Zusammenstoß mit dem katholischen Pfarrer gab es 1839. Durch ihn erfahren wir zum erstenmal ausführlicher vom Gailinger Purimfest, das damals am 28. Februar gefeiert wurde. Die Juden zogen offenbar maskiert und mit viel Lärm zu Fuß und mit Wagen durch den Ort und störten damit nach Pfarrer Georges Ansicht die christliche Bevölkerung in ihrer fastenzeitlichen Stille. Noch schlimmer war allerdings etwas anderes: Die Juden verspotteten die katholische Religion. Jüdinnen verkleideten sich als Nonnen mit Jungfrauenkränzchen, ein als Kapuziner maskierter Jude sagte mit Rosenkranz und Kerze das »Vaterunser« auf, und weitere Masken ließen es an Verhöhnungen und Anzüglichkeiten – selbst gegenüber dem Pfarrer – nicht fehlen.28 Dieser Vorfall ist in vielfacher Hinsicht bezeichnend. Als Erstes fällt auf, dass die Juden, die doch rechtlich den Christen noch nicht gleichgestellt waren, keineswegs danach strebten, ja nicht anstößig aufzufallen, sich den bevorrechtigten Bürgern zu unterwerfen, ruhig unter sich zu bleiben. Im Gegenteil: sie traten selbstbewusst und offensiv auf. Damit nicht genug – sie wagten es sogar, die privilegierte Religion und ihre Träger, im Grunde die Macht im Dorf, offen zu kritisieren. Das gegenseitige Verhältnis war bislang immer wieder von heftigen Spannungen geprägt gewesen. In den sechziger und siebziger Jahren des 18.  Jahrhunderts hatte die Gemeinde Gailingen dagegen protestiert, dass die Juden Schranken und »Schlagbäume« um ihre Häuser errichten und damit sogar Straßen absperren, somit »als ohnehin geschwore[n] feinde[n] unserer Religion« die Ausübung des katholischen Glaubens – etwa bei Prozessionen – stören wollten.29 1819 konnte ebenfalls noch von keiner Integration die Rede sein, als sich der Gailinger Gemeinderat in einer Petition gegen die Gewährung des OrtsbürS. 470–502, hier S. 497 (Berner macht sich dabei die Argumentation Pfarrer Grafs anlässlich eines ähnlichen Konfliktfalles 1895 zu eigen, die Juden hätten ihre Wünsche »durch mehr oder minder sanften Wink mit dem Geldbeutel und dem Hinweis auf die von ihnen gewährten Arbeitsmöglichkeiten« erreicht; aus den zitierten Quellen geht dies nicht hervor). Berner berichtet auch über die Geschichte des Purim-Festes und seiner Bräuche sowie seiner Parallelen zur Fastnacht (S. 470–479). 28 Berner: Gailinger Purim, S. 490–491. 1836 sollen die Juden sogar die Fronleichnamsprozession verunglimpft haben, was diese allerdings bestritten. 29 Generallandesarchiv Karlsruhe, 229/31148. Hier handelte es sich um ein »kulturelles Missverständnis«. Mit den Schranken und »Schlagbäumen« war die Bildung eines Eruw gemeint, mit dem die Juden die strengen Sabbatbestimmungen etwas erleichterten, indem innerhalb der neu markierten Grenzen privater und öffentlicher Raum verschmolzen. Noch im 20. Jahrhundert gab es einen solchen Eruw in Gailingen, der mit Drähten hergestellt wurde, die Beauftragte der jüdischen Gemeinde vor Sabbatbeginn abschreiten mussten. Verantwortlich dafür war der Verein »Sabbat-Hüter« (Chewras Schaumre Hoeruw Gailingen, Schreiben in: Archiv des Leo Baeck Institute New York, Gailingen Jewish Community Collection, A 15/7 AR 2431.18). Den Hinweis verdanke ich Ulrich Baumann.

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gerrechtes an die Juden aussprach.30 Doch diese reagierten darauf durchaus nicht demütig. Wenige Jahre später – 1825 – beschwerten sie sich über die ihnen von der Grundherrschaft abverlangten Schutzgelder.31 Dieses Selbstbewusstsein blieb anscheinend erhalten und bis ins »Dritte Reich« hinein charakteristisch.32 Vielleicht rührte es daher, dass die Gailinger Juden allmählich doch Wertschätzung und Anerkennung ihrer christlichen Nachbarn genossen, trotz aller feindseligen Elemente, die auch hier hin und wieder aufschienen. Pfarrer George, 1839 ein erbitterter Gegner der Juden, nahm 1847 an der Einweihung der jüdischen Schule teil und hielt – als Schulinspektor – in der Synagoge »eine alle Herzen der Anwesenden ergreifende Abschiedsrede«.33 Die Folgen der wechselseitigen Wahrnehmung wären jedenfalls einmal näher zu untersuchen. Weiterhin zeigten die Ereignisse von 1839, dass sich die Juden bei ihren Purim-Spielen nicht nur kritisch mit sich selbst beschäftigten,34 sondern – dies war im übrigen kein Einzelfall35 – das Element des Narrenrechtes und des Karnevals aufgriffen, die Zustände der Umwelt, die Machtverhältnisse zu kritisieren und in der Maskerade umzukehren. Hiermit hatten sie sich von der ursprünglichen Tradition des Esther-Spiels entfernt, andere Traditionen waren eingeflossen. Am wenigsten spielten dabei jedoch Vorbilder aus der örtlichen katholischen Fastnacht eine Rolle. In »organisierter« Form ist sie im Hegau ohnehin erst seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Vorher gab es zwar durchaus schon einige Fastnachtsbräuche – namentlich Charivari-Sitten und Auftritte einzelner besonderer Figuren –, aber derartige Umzüge mit Gruppen, wie sie die Juden veranstalteten, waren nicht üblich. Sie sind wohl ebenso wie die Bildung eines Narrenkomitees im 1889 gegründeten jüdischen Narrenvereins »Fidelitas«, dem der Synagogenrat am letzten Sabbat vor Purim während des Morgengottesdiens30 Berner: Gailinger Purim, S. 489–490. 31 Generallandesarchiv Karlsruhe, 229/31150. Vgl. zu beiden Vorgängen Warndorf: Gailingen, S. 69–74. 32 Vgl. Berty Friesländer: Jiskor – zu deutsch: »Zum Gedenken« an Gailingen. In: Hegau 15/16, 1970/71, S. 450–453, hier S. 452; Schmid: Verlorene Heimat, S. 158–190; Baumann: Zerstörte Nachbarschaften, S. 184–186. 33 Berner: Gailinger Purim, S. 492 (Zitat aus: Der Schweizerische Courier Nr. 34 vom 27.4.1847). 34 Dies ist ein Wesenszug des ostjüdischen Witzes, vgl. Desanka Schwara: Humor und Toleranz. Ostjüdische Anekdoten als historische Quelle. Köln u. a. 1996. 35 Vgl. Karl Heinz Burmeister: Hohenemser Purim, eine jüdische Fasnacht im Jahre 1811. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 105, 1987, S. 131–137 (Konflikte wegen der Störung der katholischen Fastenzeit, wegen Tragens einer Uniform als Maske sowie wegen angeblicher Majestätsbeleidigung; anders als in Gailingen kam es zu antisemitischen Äusserungen und sogar Tätlichkeiten); Berner: Gailinger Purim, S. 491 Anm. 115, erwähnt einen Vorfall in Basel 1834.

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tes sämtliche Funktionen übertrug, und der Wahl eines Prinzen Karneval auf Einflüsse von außerhalb zurückzuführen. Die Gründung eines eigenen Vereins stellte im Übrigen eine Ausnahme dar.36 Dennoch war die Gailinger »Judenfastnacht« keineswegs eine bloße Nachahmung des rheinischen Karnevals.37 Abgesehen davon, dass dieser ausgesprochen produktiv weiterentwickelt wurde, mischte sich jenes Element zumindest später mit Einwirkungen der alemannischen Fastnacht, so bei einigen Narrensprüchen.38 Darüber hinaus blieb die Purim-Tradition lebendig: Bei den Umzügen gab es Wagen und Darstellungen, die sich auf das Buch Esther bezogen, bei den Esssitten, Geschenken und Sammlungen für wohltätige Zwecke spielten die überlieferten Bräuche eine Rolle.39 Noch für 1937 sind Purim-Feiern in Gailingen überliefert, gegen die offenbar auch nicht eingeschritten wurde. Vom Herkommen wich man auch diesmal nicht ab, und so wurden wie immer Purim-Spiele aufgeführt. Ein solches – kurzes – Stück trugen zwei Kinder vor: »A.: Purim ist heute, / Ihr liebe Leute. / Und da will ich kleiner Mann / Auch sagen, was ich kann. / Ich stelle König Achaschwerosch vor, / Der dem Hamann leihte sein Ohr. / Aber Mordechai trat ihm entgegen / Und ward Isroel zum Segen. B.: Jetzt komm ich in den Saal, / Ich Esther; wo ist mein Gemahl? A.: Wo bleibst Du so lange? / Es war mir schon bange. B.: Zum Friseur Kurz hab ich gemusst / Und hab mit Fortuna so lange geschmust, / Musste mir meine Locken frisieren, / Denn ich will Dir imponieren. A.: Und ich bin beim Rabbiner gewesen, / Der hat gerade die Megille gelesen. / Er sprach zu mir: ich habe ne Bitt, / Stell mir den Alemmor in die Mitt. / Doch dafür brauch ich nicht zu agieren, / dass tut die Kille ihm gern spendieren. / Doch nun senk ich mein Szepter zu Dir, / Du meine Königin für und für. A. + B.: In der Stadt Schuchau ist es gewesen, / So haben wirs in der Megille gelesen. / Nun sind wir unsres Wissens bar, / Auf Wiedersehen nächstes Jahr.«40 36 Berner: Gailinger Purim, S. 495–496, 498, 500–501. Weniger stark scheinen die Einflüsse des rheinischen Karnevals in anderen »Judendörfern« gewesen zu sein, vgl. Jacob Picards Schilderung von Wangen in seiner »Erinnerung eigenen Lebens«, in: Werke. Bd. 2, S. 171–257, hier S. 205–207. Juden in anderen Gemeinden, die nicht nur Purim feiern und die sich assimilieren wollten, schlossen sich oft den – bis 1933 überkonfessionellen – Narrenzünften und Karnevalsgesellschaften an; vgl. Geschichte der Stadt Freiburg i. Br. Bd. 3: Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart. Hrsg. von Heiko Haumann und Hans Schadek. Stuttgart 1992, S. 291, 327. 37 Vgl. Daxelmüller: Zwischen »minhag« und Bürostuhl, S. 204–205. 38 Berner: Gailinger Purim, S. 502. 39 Berner: Gailinger Purim, S. 498–501. 40 Privatarchiv Mathilde Richter-Hasgall, Basel. Alemmor (Almemor) ist eine Art Kanzel, ein abgesonderter, umgrenzter Platz normalerweise in der Mitte der Synagoge, von dem aus die

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So griff das Gailinger Purim-Fest verschiedene kulturelle Einflüsse auf, die sich im Laufe der Zeit vermutlich auch veränderten, und prägte daraus eine eigenständige Form. Die Juden nutzten dabei ihre starke Stellung im Dorf und die Möglichkeiten, die sich ihnen durch ihre Verbindungen über weite Entfernungen boten, um gerade an Purim gegenüber den christlichen Nachbarn ihre Meinung deutlich zu machen und ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Dies ist vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstaunlich, als die jüdische Gemeinde streng orthodox eingestellt war, sich noch in minderrechtlichen Verhältnissen befand und die »Judenfrage« in Baden immer wieder zu Auseinandersetzungen führte.41 Auch andere Spielräume sind damit verbunden, dass die jüdischen Händler weit herumkamen. Wie in einigen sonstigen »Judendörfern»42 wird in Berichten häufig das besondere Modebewusstsein jüdischer Frauen hervorgehoben, das anscheinend seine Wirkung auf Christinnen und Christen nicht verfehlte. Gailingen erhielt den Beinamen »Klein-Paris«, der Ortsname selbst wurde französisch verballhornt zu »Gelagee«. 1865 beobachteten schweizerische Besucher während eines Sabbats in Gailingen: »Nachmittags wimmelt es von geputzten Juden auf den Strassen (...). Unter den Mädchen sehen wir fast nur Schönheiten, darunter zwei Königinnen (...). Der Kleiderluxus dieser Hebräerinnen ist grossartig; ihre Sucht zu glänzen, zeigt sich in jedem Schritt und Tritt.»43 Und im OrtsbereiTora vorgelesen wird. Bei der Renovation der Gailinger Synagoge in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts war der Almemor nach vorn verlegt worden; dies ist im Zusammenhang mit den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxen und Liberalen unter den dortigen Juden zu sehen (auch dazu findet viel Material im genannten Privatarchiv; vgl. Anm. 54). Kille steht für Kehilla, die jüdische Gemeinde. Die übrigen Namen und Begriffe sind aus dem Text zum Gailinger Purim-Fest zu erschliessen. – Zum Purim in der Weimarer Zeit s. Schmid: Verlorene Heimat, S. 57–66. 41 Vgl. nur Berner: Gailinger Purim, S. 489–490; Rürup: Emanzipation, S. 46–92; Rainer Wirtz: »Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Skandale«. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden 1815–1848. Frankfurt a. M. u. a. 1981, z. B. S. 60–87. 42 Beeindruckend für Rexingen: Beate Bechtold-Comforty: Soziale und kulturelle Beziehungen jüdischer und katholischer Frauen auf dem Land zwischen 1900 und 1933. Unveröffentliche Magisterarbeit. Universität Tübingen 1988; vgl. dies.: Jüdische Frauen auf dem Dorf – zwischen Eigenständigkeit und Integration. In: Sozialwissenschaftliche Informationen 18, 1989, Nr. 3, S. 157–162, hier bes. S. 160–162; dies.: Spätzle und Tscholent. Aspekte schwäbisch-jüdischer Esskultur. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte 3, 1992, S. 121–142. Beispiele auch bei Jeggle: Judendörfer. 43 Zitiert von Berner: Gailinger Purim, S. 493 (hier auch der Hinweis auf »Gelagee»). Die Erinnerung an »Klein-Paris« tauchte noch bei den Befragungen auf, die Marita Müller 1989 im Rahmen des von mir im Auftrag des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg betreuten Forschungsprojektes »Ortsgeschichtliche Grundlagen für die Erfassung der Kul-

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sungsprotokoll vom 26. Juni 1882 heißt es, bezogen auf die jüdische Einwohnerschaft: »Eine Anzahl stattlich aussehender Gebäude, vielfach mit modernen Ladeneinrichtungen und Geschäftsauslagen versehen, zahlreiche städtisch aufgeputzte Mädchen, unbeschäftigt auf den Straßen und vor den Häusern, neugierig und kokett zugleich sich vordrängend, und anderes mehr, geben dem Dorf ein halb städtischen Anstrich und äußerlich wenigstens tritt die Eigenschaft einer hauptsächlich ackerbautreibenden Landgemeinde sehr zurück.«44 Die Jüdinnen mit ihrer andersartigen, eleganten Kleidung wurden als Fremdkörper wahrgenommen, aber auch als »trend setters«.45 Ebenso wie die städtischen Häuser oder andere für das Dorf ungewöhnliche Einrichtungen – etwa das jüdische Altersheim oder das jüdische Krankenhaus – spiegelte die Mode wider, dass die Juden hier als »Vorkämpfer der Modernität« auftraten.46 Gerade diejenigen, die in der Gesellschaft, in der sie lebten, aufstrebten, zeigten dies öffentlich, weil sie unter Erfolgszwang standen, um sich behaupten zu können.47 Dabei wurde sicher, wie sich auch an weiteren Beispielen zeigt, viel vom bürgerlichen Lebensstil übernommen.48 Doch bedeutete dies keineswegs, jedenfalls nicht durchgängig und ohne weiteres, eine vollkommene Anpassung an etwas Neues, eine Verdrängung des jüdischen Alltags. Im Grunde fand wieder ein Prozess der Akkulturation statt. Geschäftsleute, die bei ihren Reisen sich mit vielfältigen Eindrücken auseinandersetzen und oft Kompromisse in ihrer Lebensweise eingehen mussten, um ihre christlichen Partner nicht zu verärgern, und Frauen, die weniger stark als Männer in die rein religiöse Gelehrsamkeit und Bildung eingebunden waren, konnten sich am ehesten der nichtjüdischen Welt gegenüber öffnen. Der Platz der jüdischen Frau, ihre religiöse Pflicht, war zwar die Führung des Hauses, aber ganz anders als bei der christlich-bürgerlichen Frau. Da Haus und Betrieb bis weit in das 19. Jahrhundert hinein bei den Juden eine Einheit bildeten, half die Frau auch selbstverständlich im Geschäft mit. Während der Abwesenheit des Mannes oder bei dessen Unfähigkeit – sei

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turdenkmäler in Gailingen« durchführte; vgl. ihren Beitrag in diesem Band. Berty Friesländer-Bloch erinnerte sich, dass sie mit ihrer »Mame«, »der ›Pariserin‹, wie sie allgemein genannt wurde«, Einkäufe tätigte (Es war einmal! Eine jontefdige Reminiszenz aus dem alten Gailingen. In: Hegau 11, 1966, S. 93–103, hier S. 95, vgl. 97, 102). Zitiert in: Die Gailinger Juden, S. 29. Diese Aussage wirft im übrigen ein bezeichnendes Licht auf das Weltbild des Beobachters, denn die jüdischen Mädchen waren überwiegend berufstätig. Marion A. Kaplan: The Making of the Jewish Middle Class. Women, Family, and Identity in Imperial Germany. New York 1991, S. 32. Cahnman: Der Dorf- und Kleinstadtjude, S. 191. Dazu ausführlich Shulamit Volkov: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München 1990. Vgl. Richarz: Landjuden.

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es durch Vertiefung in das Tora-Studium oder durch Krankheit – musste sie die gesamte Lebensgestaltung der Familie übernehmen. Ebenso war sie bei einem Verlust des Partners in der Regel wirtschaftlich unabhängiger als die christliche Frau.49 Die in der bürgerlichen Welt dem Mann und der Frau zugewiesenen Bereiche waren bei den Juden nicht derart scharf getrennt. Dies ermöglichte ihr ein völlig anderes Auftreten nach außen, in der Öffentlichkeit, musste allerdings von der noch bäuerlich geprägten Umwelt als besonders auffällig erfahren werden.50 Das alles sind Beispiele für die kulturelle Begegnung zwischen Juden sowie von Juden und Christen in Gailingen, die zugleich auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hinweisen. Man kann die Ebenen dieser Begegnung abstufen: vom Individuum und von der Familie über die Geselligkeit und das Vereinsleben bis hin zu wirtschaftlichen und politischen Beziehungen. Dabei wäre jeweils noch der Blick zu richten auf die unterschiedlichen Bereiche von Mann und Frau, der einzelnen Generationen und der Angehörigen verschiedener Schichten.51 In der Familie und im individuellen Verhalten trafen Tradition – etwa hinsichtlich der Stellung der Frau – und neue Lebensführung aufgrund der veränderten Verhältnisse aufeinander. Hier müssten die sich wandelnden Einstellungen zur Sexualität, zum Heiratsverhalten und zur erwünschten Kinderzahl, aber auch zur Funktion des Hauses und der Hausarbeit näher geklärt werden. Dass dabei die Haltung zur Religion unmittelbar betroffen ist, versteht sich von selbst. Desgleichen sind die Orte vertiefter zu analysieren, an denen sich Männer und Frauen, Juden und Christen treffen konnten – gemeinsam oder abgesondert: 49 Vgl. Gisela Roming: Die demographische Entwicklung der jüdischen Gemeinden Gailingen und Randegg zwischen Schutzherrschaft und Emanzipation. In: Landjudentum, S. 92–101, hier S. 94–95. Zur kritischen Analyse der Lebensverhältnisse s. dies.: Haushalt und Familie auf dem Lande im Spiegel sübbadischer Nachlassakten. In: Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Hrsg. von Monika Richarz und Reinhard Rürup. Tübingen 1997, S. 269–291. Ein Beispiel für die Rolle der Tradition unter veränderten Verhältnisse ist die Art der Chaliza-Scheidung; eine derartige Verpflichtung vom 31.10.1928 habe ich zitiert in: Wege, S. 11–12. 50 Vgl. – neben Kaplan – Monika Richarz: In Familie, Handel und Salon. Jüdische Frauen vor und nach der Emanzipation. In: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte. Hrsg. von Karin Hausen und Heide Wunder. Frankfurt a. M. u.a. 1993, S. 57–66, hier bes. S. 60– 61,  63–65; Paula E. Hyman: Jüdische Familie und kulturelle Kontinuität im Elsass des 19. Jahrhunderts. In: Jüdisches Leben auf dem Land, S. 249–267, hier bes. S. 261–267. Auch: Julius Carlebach: Family Structure and the Position of Jewish Women. In: Revolution and Evolution. 1848 in German-Jewish History. Ed. by Werner A. Mosse, Arnold Paucker and Reinhard Rürup. Tübingen 1981, S. 157–187 (Comment von Marion Kaplan: S. 189–203). 51 Hier folge ich wieder Überlegungen aus Gesprächen mit Ulrich Baumann; vgl. auch seine Dissertation (s. Anm. 15).

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die Mikwe – das Ritualbad –, der jüdische Frauenverein, die Chewra Kadischa – die Bestattungsgesellschaft –, der jüdische Theaterverein »Juno«, der jüdische Männergesangverein und der jüdische Damenchor, der »Verein für Rasenspiele« mit überwiegend jüdischen Mitgliedern, der jüdische Kultur- und Literaturverein »Ikuliv«, der Gailinger Kriegerverein – dessen Präsidenten häufig Juden waren, so Heinrich E. Harburger, Ludwig Rothschild oder Kalman Heilbronn –, sonstige Vereine, die Synagoge und das Gemeindehaus, die Schule, die Tanzstunde und die Bälle, die Straße und das Ladengeschäft, die Arbeitsstelle. Nicht zuletzt kommt dabei der Sprache eine erhebliche Bedeutung zu. Unterhielt man sich zu Hause, untereinander, anders als mit Geschäftspartnern? Die Forschungen zur Sprache der Viehhändler und zum »Gailinger Jiddisch« geben hier erste Aufschlüsse.52 Den Ausgangspunkt für die weitere Arbeit stellt somit die Lebenswelt eines Menschen dar, in der sich individuelles Denken, Fühlen und Verhalten mit strukturellen Einflüssen trifft. Sie existiert nicht isoliert, sondern steht in Kommunikation mit anderen Lebenswelten, so dass Schritt für Schritt ein Beziehungsgeflecht von Individuen und Strukturen sichtbar wird. Über das Netz der Verbindungen von Verwandten und Bekannten strahlen Gegebenheiten anderer Gemeinden und struktureller Verhältnisse nach Gailingen hinein. Innerhalb dieses Geflechts ist etwa die Rolle der christlichen Dienstmädchen in jüdischen Familien genauer zu untersuchen. Nach vielen Zeugnissen wurden sie im Allgemeinen sehr gut behandelt und waren mit ihrer Stellung zufrieden. Dennoch scheint dies das Bild der Juden in der nichtjüdischen Welt nicht wesentlich verändert zu haben. Im Gegenteil: die gängigen Vorurteile, von der Nazi-Propaganda noch geschürt, haben sich bei einigen Gailingern über 1945 hinaus erhalten. Offenbar kam es zu keiner »Aufklärung«. Dies könnte daran liegen, dass die meisten Gailinger Mädchen nach Diessenhofen in die Fabriken gingen – die aber auch in jüdischem Besitz waren – und die Hausangestellten in der Regel aus – ärmeren – württembergischen Dörfern kamen. Anscheinend ist über die Erfahrungen weder zu Hause noch in Gailingen selbst viel gesprochen

52 Vgl. Kaufmann: Jüdische und christliche Viehhändler; Thommen: Das Jiddische; Florence Guggenheim-Grünberg: Gailinger Jiddisch. Göttigen 1961; auch Berner: Gailinger Purim, S. 487; vgl. verschiedene Beiträge in diesem Band. – Zu den Vereinen und Treffpunkten auch Schmid: Verlorene Heimat, S. 49–57; Friesländer: Jiskor, S. 451, zum Sprachaustausch S. 452; zu Einkäufen bei Bauersfrauen dies.: Es war einmal, S. 94–98. Zur »Heiligen Bruderschaft«, der Bestattungsgesellschaft: Zum 250-jährigen Jubiläum der Chewro Kadischo Gailingen. Diessenhofen 1926. Zur Schule und zu weiteren Beziehungsfeldern s. Schmid: Verlorene Heimat, S. 67–68, 111–123

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worden – die Kommunikation scheint verhältnismäßig schwach ausgebildet gewesen zu sein.53 Die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert teilweise drastisch verändernde Sozialstruktur muss des Weiteren in Beziehung gesetzt werden zur Migration, zur Zu- und vor allem dann zur Abwanderung aus dem Dorf in die Stadt. In Gailingen vollzogen prozentual weniger Juden diesen Schritt als in anderen jüdischen Landgemeinden – auch das gibt hinsichtlich ihrer besonderen Stellung in der Gemeinde zu denken. Den Ausschlag für den Wegzug gab neben der Agrarkrise, die auch die wirtschaftliche Tätigkeit vieler Juden einschränkte, und neben Hoffnungen auf bessere berufliche und Ausbildungsmöglichkeiten in der Stadt die Erwartung gerade liberal denkender Juden, in Konstanz mehr Gleichgesinnte zu finden. Immer wieder hatte es Konflikte mit den Orthodoxen gegeben. Hier wäre zu fragen, wie die »Krise des Judentums« im 19. Jahrhundert, die den Kern der Religiosität, Selbstverständnis, Normen, Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen erfasste, auch in einem »Judendorf« wie Gailingen spürbar wurde. Und welche Auswirkungen hatte die Abwanderung auf die Orte der Begegnung und auf die Handlungsspielräume, auf das Fühlen, Denken und Handeln der Zurückbleibenden wie der Weggezogenen? Wie gestaltete sich das Innenleben der jüdischen Gemeinde? In welcher Weise antwortete sie auf die Herausforderungen durch die gesellschaftlichen Wandlungen, aber auch auf neue Strömungen im Judentum wie den Zionismus oder auf zuwandernde Ostjuden?54 Gailingen ist ein Musterfall zur Erforschung dieses vielschichtigen und komplizierten Gefüges. Aufgrund der besonderen, herausgehobenen Stellung dieses »Judendorfes« im alemannischen Raum mit seinen Zeugnissen im Orts53 Vgl. den Beitrag von Marita Müller. S. auch Jeggle: Judendörfer, etwa S. 224–225; Cahnman: Der Dorf- und Kleinstadtjude, S. 188–189. 54 Warndorf: Gailingen, S. 75–81, 92, 132 (Anm. 15); Schmid: Verlorene Heimat, S. 18–19, 36–42; Uri Kaufmann: Landjudentum und Emanzipation 1831 bis 1850: Ein Gegensatz? In: Landjudentum, S. 102–113, hier S. 110–111; s. auch den Beitrag von Marita Müller. – Vgl. insgesamt die offenen Fragen in Haumann: Wege, bes. S. 20–22 (heranzuziehen sind die bereits vorliegenden und teilweise in meinem Aufsatz zitierten Lokalstudien). Einige dieser Fragen sind untersucht von Alice Goldstein: Aspects of Change in a Nineteenth-Century German Village. In: Journal of Family History 9, 1984, S. 145–157; dies.: Determinations of Change and Response among Jews and Catholics in a NineteenthCentury German Village. New York 1984; dies.: Some Demographic Characteristics of Village Jews in Germany: Nonnenweier, 1800–1931. In: Modern Jewish Fertility. Ed. by Paul Ritterband. Leiden 1981, S. 112–143; dies.: Urbanization in Baden, Germany. Focus on the Jews, 1825–1925. In: Social Science History 8, 1984, S. 43–66; auch Steven M. Lowenstein: The Rural Community and the Urbanization of German Jewry. In: Central European History 13, 1980, S. 218–236.

Selbstbewusstsein und Nachbarschaft 

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bild, in der Architektur, in der Sprache, in den schriftlichen wie mündlichen Überlieferungen ist die Erinnerung an das dortige Leben von Juden und Nichtjuden weit über die Lokalgeschichte hinaus von erstrangiger Bedeutung, um uns die Vergangenheit gegenwärtig zu machen und Kraft für die Gestaltung der Zukunft zu schöpfen.

Juden in Freiburg i. Br. von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart Assimilation, Antisemitismus, Suche nach Identität*

Als das Ehepaar Lazarus und Hendel Leser 1865 aus Altdorf bei Ettenheim in der Rheinebene nach Freiburg zog, folgte es einem Muster, das für viele Landjuden in der damaligen Zeit galt. Seit 1424 hatten Juden in der Breisgau­ Hauptstadt kein Bürgerrecht erlangen können. Sie siedelten im Umland, waren aber oft geschäftlich mit Freiburg verbunden, hielten sich dort manchmal auch länger auf. 1809 ließ der Gemeinderat immerhin eine israelitische Wirtschaft zu, in der die Juden koscher essen konnten.1 Als 1862 endlich das Gesetz zur »bürgerlichen Gleichstellung« der Juden erlassen wurde, erhob sich unter zahlreichen Kaufleuten, Handwerkern und Gewerbetreibenden sowie in katholischen Kreisen der Stadt heftiger Protest. Man wollte keine gleichberechtigten jüdischen Bürger in Freiburg, weil man die wirtschaftliche Konkurrenz fürchtete. In der Kirche und vor allem im politischen Katholizismus verband sich die traditionell vorhandene Abneigung, ja Bekämpfung der Juden mit der Absicht, über antisemitische Äußerungen und den Appell an verbreitete

* Erstpublikation in: Landjudentum im Süddeutschen- und Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des Jüdischen Museums Hohenems vom 9. bis 11. April 1991, veranstaltet vom Vorarlberger Landesarchiv. Dornbirn 1992, S. 155–162. 1 Stadtarchiv Freiburg, C 1 Judensachen 1 B, Nr. 13, 17, 24; C 1 Gemeindevermögen 57, Nr. 2; E 1 A, Rent-Rechnung der Hauptstadt Freiburg, Beilagen zur Rent-Kasse, Einnahme 1835/36, Nr. 232 (Pachtbedingungen vom 21. August 1835). – Ich zitiere im folgenden nur die notwendigsten Belege. Weitere Nachweise finden sich in den angegebenen Veröffentlichungen sowie in: Geschichte der Stadt Freiburg i. Br. Hg. von Heiko Haumann und Hans Schadek. Bd. 3. Von der badischen Herrschaft bis zur Gegenwart. Stuttgart 1992. [Ausnahmsweise nenne ich einige Arbeiten, die inzwischen hier angesprochene Vorgänge wesentlich vertieft haben: David Maier: Geburtsort Freiburg. Erinnerungen eines deutsch-jüdischen Engländers (= Stadt und Geschichte 18). Freiburg i. Br. 2001; Andrea Brucher-Lembach: … wie Hunde auf ein Stück Brot. Die Arisierung und der Versuch der Wiedergutmachung in Freiburg (= Alltag & Provinz 12). Bremgarten 2004; Kathrin Clausing: Leben auf Abruf. Zur Geschichte der Freiburger Juden im Nationalsozialismus (= Veröffentlichungen aus dem Archiv der Stadt Freiburg i. Br. 37). Freiburg i. Br. 2005; Christina Eckert: Ziviler Widerstand. Hilfe für verfolgte Juden in Freiburg 1940–1945. Unveröffentl. Magisterarbeit, Freiburg i. Br. 2006; Julia Franziska Maria Böcker: »Auf! Hedad, Hedad! Unsre Bahn ist frei.« Zionistische Lebenswelten in der Stadt Freiburg 1897–1933. Unveröffentl. Magisterarbeit, Freiburg i. Br. 2011.]

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Vorurteile Unterstützung in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus zu erhalten.2 Dennoch wagte eine Reihe Juden den Schritt von einer Umlandgemeinde in die Stadt Freiburg, wenn sie über das benötigte Einkaufsgeld in das Bürgerrecht und über den erforderlichen Vermögensnachweis verfügten. Lazarus Leser gehörte zu ihnen. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte er sich zu einem angesehenen Kaufmann für Manufaktur- oder »Ellenwaren« emporgearbeitet. Seine Leidenschaft für Antiquitäten veranlaßte ihn oft zu ausgedehnten Suchreisen. Dann führte seine Frau das Geschäft. Sie mußte sich viele Vorgänge auswendig behalten, denn sie konnte nur hebräische Buchstaben lesen und schreiben. Lazarus und Hendel Leser waren fromme Juden. Das hinderte sie nicht, sich in die deutsche Gesellschaft integrieren zu wollen und ihren Kindern eine bessere Bildung zu verschaffen. So schickten sie ihre Tochter Jeanette schon vor dem Umzug in eine Freiburger Schule. Leser, der sich in der Stadt bessere Geschäftsbedingungen erhoffte, mietete zunächst einen Raum, kaufte jedoch bald ein Haus im Zentrum, in dem er ein Herrenkonfektionsgeschäft einrichtete. Er war ein rühriges Mitglied der Israelitischen Gemeinde, die am 11. Januar 1865, ein Jahr nach dem Gründungsbeschluß, ihren Synagogenrat gewählt hatte. Aktiv beteiligte er sich an der Suche nach Wegen, um die religiösen Bedürfnisse der Freiburger Juden zufriedenzustellen. Nicht ohne Widerstände in der Stadt überwinden zu müssen, konnte am 23. September 1870 eine Synagoge eingeweiht, kurz darauf auch ein eigener Friedhof eröffnet werden. Ebenso war es möglich, den Religionsunterricht für jüdische Schüler befriedigend zu regeln. Das Ehepaar Leser lebte streng religiös. Dasselbe galt für ihren Schwiegersohn, den Lederhändler Moses (Moritz) Mayer aus Sulzburg, der – unter Vermittlung des dortigen Rabbiners – 1871 Jeanette geheiratet hatte. In der Stadt waren die Familien trotzdem hoch angesehen. Sogar mit dem Erzbischof hatten sie guten Kontakt. Diese Integration in Freiburg, die sich auch in der Übernahme öffentlicher Aufgaben ausdrückte, verstärkte die Tendenz zur Assimilation. Religiös wirkte sich das schließlich dergestalt aus, daß sich der 1873 geborene Max Mayer, der das Ledergeschäft von seinem Vater übernahm, dem Reformjudentum zugehörig fühlte. Dieses war ohnehin für die Israelitische Gemeinde kennzeichnend. Durch seine Frau Olga, die er 1906 heiratete, verstärkte sich die liberale Haltung in der Mayerschen Familie. So wurden die religiösen Vorschriften nicht mehr ganz so streng befolgt. Am Samstagvormittag 2 Ausführlich zu diesen Vorgängen: Gabriele Blod: Die Entstehung der israelitischen Gemeinde Freiburg 1849–1871 (= Stadt und Geschichte. Neue Reihe des Stadtarchivs Freiburg i. Br. 12). Freiburg 1988.

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war das Geschäft geöffnet, Max Mayer vermied es allerdings, wenn möglich, im Laden anwesend zu sein. An hohen jüdischen Feiertagen blieb der Laden nach wie vor geschlossen. Die Familie betrachtete Freiburg und den Schwarzwald als ihre Heimat, fühlte sich wohl in der Umgebung und »nicht als Fremdlinge und Feinde im katholischen Lebenskreis« – wie es Max Mayer einmal ausdrückte –, ohne jedoch ihr Judentum aufzugeben. Das galt als selbstverständlich, ebenso selbstverständlich im übrigen wie antisemitische Äußerungen und Vorkommnisse, die immer wieder festzustellen waren und bekämpft, aber nicht dramatisiert wurden: Damit gedachte man leben zu können. Sein Heimatgefühl veranlaßte Max Mayer, als Patriot in den Ersten Weltkrieg zu ziehen – und erfuhr durch die »Judenzählung« die erste Erschütterung seiner bislang bruchlosen Identität als Deutscher jüdischen Glaubens – und sich für seine Vaterstadt zu engagieren. Als Sozialdemokrat wurde er 1911 zum ersten Mal in den Bürgerausschuß gewählt, dem er bis 1933 angehörte. Auch sonst war er als geachtete Persönlichkeit aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Mit großem Einsatz bemühte er sich dann, in Freiburg den Aufstieg der Nazis aufzuhalten. Am 20. März 1933 wurde er, wie alle Freiburger Stadträte und Stadtverordneten der SPD, »in Schutzhaft genommen«. Nach seiner Entlassung mußte er erleben, wie auch sein Geschäft am 1. April 1933 unter Boykott gestellt wurde. Notgedrungen legte er seine Ämter nieder. Christliche Bekannte zogen sich von ihm und von seiner Familie zurück. Menschen, denen er vertraut hatte, wagten oft kaum noch einen Gruß. Schlagartig wurde ihm bewußt, wie brüchig die Integration der Juden gewesen war. Sein Sohn Hans, der seinen Beruf als Optiker nicht mehr ausüben konnte, wanderte 1934 nach Italien, später in die USA aus. Tochter Lotte, der ihr Beruf als Juristin ebenfalls verwehrt wurde, ging 1934 eine »Mischehe« mit dem Philologen Dr. Ernst August Paepcke ein und war dadurch gegenüber der NS-Rassenpolitik anfangs verhältnismäßig geschützt. Gegen Kriegsende mußte sie jedoch untertauchen und überlebte das »Dritte Reich« versteckt in einem Kloster bei Freiburg. Max Mayer war gezwungen, 1935 sein Ledergeschäft zu verkaufen und 1939 jegliche Berufstätigkeit aufzugeben. Nachdem die Nazis am 10. November 1938 die Freiburger Synagoge in Brand gesteckt hatten, verschleppten sie Mayer wie die meisten männlichen Juden der Stadt in das KZ Dachau. Hier reifte sein Entschluß, nun doch die Auswanderung zu betreiben. Viele bürokratische Schwierigkeiten waren zu überwinden, zahlreiche Willkürakte hinzunehmen, bis das Ehepaar in letzter Minute, am 1. September 1939, fast mittellos in die Schweiz ausreisen durfte. 1941 ging es weiter in die USA. 1947 erhielten Olga und Max Mayer die amerikanische Staatsbürgerschaft. Sie wollten nicht mehr nach Deutschland zurück. »Heimat ist keine Sache, die sich heute verlie-

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ren und morgen wieder gewinnen läßt, um sie vielleicht übermorgen abermals zu verlieren«, schrieb Max Mayer. Mehrfach besuchten sie aber doch das geliebte Freiburg. 1960 starb Olga Mayer in New York. Lotte Paepcke holte ihren Vater nun nach Freiburg zurück, wo er zwei Jahre später verschied und auf dem Friedhof der Israelitischen Gemeinde begraben wurde. Durch die Geschehnisse im »Dritten Reich « rückte für Max Mayer das Judentum von einer eher nebensächlichen Selbstverständlichkeit in das Zentrum seiner Existenz. 1938 schrieb er seinem Enkel Peter Paepcke, als dieser, um ihn zu schützen, evangelisch getauft wurde: »Mein Judesein ist (...) meine Trutzburg geworden.« Nur so konnte er dem Druck der Nazis, den Demütigungen, der versuchten Entwürdigung widerstehen. Insofern nimmt es nicht wunder, daß er nach 1945 auf der Notwendigkeit der Erinnerung bestand und sich gegen das Vergessen wandte. »Wenn es aber einen gültigen Maßstab für die Echtheit meines früheren Deutschseins gibt, so ist es meine Trauer um den Verlust an Glauben an die hohen Werte, deren Besitz und Pflege den Deutschen anvertraut war. (...) Die schönen Worte von der Kultur, vom Weltgewissen, von der Humanität, von der Menschenwürde kann ich nicht mehr hören.« Lotte Paepcke dachte ähnlich. Sie, die heute als Schriftstellerin und Publizistin in Freiburg und Karlsruhe lebt, verarbeitete ihre Erinnerung literarisch, immer auf der Suche nach der Identität, nach der Würde des Ich, und immer in Angst, daß der Haß auf alles »Fremde« erneut aufflammen könne.3 Das Schicksal der Familie Leser-Mayer spiegelt die Geschichte der Juden in Freiburg seit dem Emanzipationsgesetz von 1862 in wichtigen Teilen wider. Trotz antijüdischer Vorbehalte in einigen Kreisen der Stadt fühlten sich die meisten, nach Überwindung von Anpassungsschwierigkeiten, hier schnell wohl. Die Zahl der Einwohner jüdischer Religion stieg rasch an. 1871 waren es 333 oder 1,34 Prozent der Gesamtbevölkerung, 1890 schon 999 oder 2 Prozent, 1925 schließlich 1399 oder 1,55 Prozent.4 Der erste Rabbiner der Israe3 Bei der Schilderung dieses Lebensweges stütze ich mich auf meine eigenen Beiträge in: Rolf Böhme, Heiko Haumann: Das Schicksal der Freiburger Juden am Beispiel des Kaufmanns Max Mayer und die Ereignisse des 9./10. November 1938. ln der Vergangenheit liegt die Kraft für die Zukunft (= Stadt und Geschichte. Neue Reihe des Stadtarchivs Freiburg i. Br. 13). Freiburg 1989, Zitate S. 23, 62, 46, 25. [Eine überarbeitete Fassung: »Heimat ist keine Sache, die sich heute gewinnen und morgen wieder verlieren lässt ...« Der Lebensweg des Freiburger Kaufmanns Max Mayer (1873–1962), wieder abgedruckt in: Heiko Haumann: Schicksale. Menschen in der Geschichte. Ein Lesebuch. Köln usw. 2012.] Vgl. Lotte Paepcke: Gesammelte Werke. (Bislang drei Bände:) Ein kleiner Händler, der mein Vater war. – Unter einem fremden Stern (»Ich wurde vergessen»), mit einem Nachwort »Über die menschliche Würde und das Jude-sein«. – Gesammelte Gedichte. Moos, Baden-Baden 1989. [Lotte Paepcke ist im Jahr 2000 gestorben.] 4 Angaben aus dem jeweiligen Freiburger Adreßkalender bzw. Einwohnerbuch.

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litischen Gemeinde, Adolf Lewin, traf vermutlich die überwiegende Meinung, als er 1890 ausführte: »So ist die Fremde uns zur Heimat geworden. So fühlen wir uns nicht als Fremde – werden auch nicht als solche angesehen – denn ein Gefühl der Liebe umschlingt uns alle und unsere andersgläubigen Mitbürger, das Band der Liebe zu Fürst und Vaterland, zu unserer schönen Mutterstadt.«5 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spaltete sich die Gemeinde. Die Orthodoxen, zu denen dann auch die zuwandernden Ostjuden stießen, hielten nun ihren Gottesdienst in einem gesonderten Betsaal ab, während die liberalen Reformjuden, die vorherrschende Richtung, in der Synagoge blieben.6 Sie waren es auch in erster Linie, die eine Assimilation befürworteten. Daß es noch Antisemitismus gab, registrierte man durchaus. So blieb auch in Freiburg die judenfeindliche Agitation der Konservativen verschiedener Schattierung nicht ohne Resonanz. Sogar die liberale »Freiburger Zeitung« meinte 1890, sich der aufgeputschten Stimmung nicht entziehen zu können, und schrieb »ein gut Stück« des Antisemitismus »auf das Kerbholz der Juden« selbst wegen ihres angeblich wucherischen Verhaltens gegenüber der Landbevölkerung. Aktiv trat übrigens in dieser Zeit die Sozialdemokratie gegen die Antisemiten auf.7 Im Zentrum und in katholischen Kreisen waren hingegen immer wieder antijüdische Zungenschläge zu hören.8 Für eine zumindest unterschwellig verbreitete Einstellung ist ein Erlebnis Jakob Wassermanns bezeichnend, der sich Mitte der neunziger Jahre in Freiburg als Schreiber in einer Kanzlei verdingte. Als sein Chef zufällig erfuhr, daß er Jude war – »sein Gesicht veränderte sich erschreckend« –, schikanierte er ihn so lange, bis er einen Vorwand erhielt, ihn fristlos zu entlas-

5 Adolf Lewin: Predigt gehalten zur Erinnerung an das fünfundzwanzigjährige Bestehen der israelitischen Gemeinde am 18. Januar in der Synagoge zu Freiburg i. Br. Freiburg 1890, S. 6. 6 Joachim Hahn: Synagogen in Baden-Württemberg, Stuttgart 1988, S. 26; ders.: Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg. Stuttgart 1988, S. 176–179, hier bes. S. 177. 7 Freiburger Zeitung Nr. 155 vom 6. Juli 1890; Generallandesarchiv Karlsruhe, 236/17241. Vgl. Michael Anthony Riff: The Government of Baden against Antisemitism. Political Expediency or Principle? In: Leo Baeck Institute: Yearbock 32 (1987) S. 119–134, hier S. 121, 126/127; Stefan Philipp Wolf: Konservativismus im liberalen Baden. Studien zur badischen Innen-, Kirchen- und Agrarpolitik sowie zur süddeutschen Parteiengeschichte 1860–1893. Karlsruhe 1990, S. 354–360. 8 Hinweise in verschiedenen Beiträgen zur Geschichte der Stadt Freiburg. – Zum Hintergrund sowie zur Verbindung mit dem Kulturkampf gegen den mit dem Judentum identifizierten Liberalismus und mit der innerkirchlich-autoritären Entwicklung des Katholizismus vgl. Hermann Greive: Theologie und Ideologie. Katholizismus und Judentum in Deutschland und Österreich 1918–1935. Heidelberg 1967, S. 19 ff.

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sen.9 Gewiß äußerte sich der Antisemitismus in Freiburg im allgemeinen nicht offen­-aggressiv. Die Ausprägung eines (fundamentalistisch-)katholischen, eines (sozial-)liberalen und eines sozialdemokratischen »Milieus«, die sich teilweise heftig bekämpften, zugleich aber vielfältig miteinander verflochten waren, bestimmte ein vorwiegend gemäßigtes politisches Klima. Trotzdem: als »kultureller Code« – als symbolisches Erkennungsmerkmal für alle, die für eine starke Nation und einen autoritären Staat eintraten – wurde der Antisemitismus auch hier vielfach akzeptiert.10 Um den Vorurteilen zu begegnen und zugleich die Anpassung an die nichtjüdische Umgebung zu fördern, bildeten ich in Freiburg nicht nur seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts verschiedene wohltätige und kulturelle Vereine, um die Jahrhundertwende eine Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und nach dem Ersten Weltkrieg eine Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, sondern auch 1885 ein Verein zur Förderung des Handwerks und der technischen Berufsarten sowie kurz darauf ein Verein zur Förderung der Bodenkultur unter den Israeliten.11 Die Wandlung in der Berufsstruktur der Freiburger Einwohner jüdischen Glaubens ging allerding langsam vonstatten. Vor dem Ersten Weltkrieg waren sie – wie zur Zeit der Gemeindegründung – im Handelssektor, daneben zunehmend auch als Unternehmer und Bankiers bei weitem überrepräsentiert. Erst allmählich begann sich das Bild in den zwanziger Jahren zu verändern. Die freien Berufe wurden von immer mehr Juden begehrt – Rechtsanwälte, Ärzte, Wissenschaftler, Künstler –; vor allem die jüngere Generation strebte aus den traditionellen Sparten weg, hin zu technischen Berufen besonders. Wieweit sich diese Tendenz durchgesetzt hätte, läßt sich nicht sagen – sie wurde 1933 abgebrochen.12 Die voranschreitende Integration von Juden in Freiburg während Kaiserreich und Weimarer Republik drückte sich nach außen sichtbar darin aus, daß eine Reihe von ihnen als Geschäftsleute ein hohes Ansehen besaß und als Poli9 Jakob Wasserman: Mein Weg als Deutscher und Jude. Hg. von Rudolf Wolff. Berlin 1987, S. 45 (Zitat) – 46. 10 Shulamit Volkov: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, bes. S. 13–36. Zu den »Milieus« in Freiburg vgl. die Geschichte der Stadt. 11 Vgl. die Hinweise in: Stadtarchiv Freiburg, M 2/127 a; Juden in Baden, 1809–1984. 175 Jahre Oberrat der Israeliten Badens. Hg. vom Oberrat der Israeliten Badens. Karlsruhe 1984, S. 49, 52 (Jael Paulus), 158 (Marie Salaba); Franz Hundsnurscher, Gerhard Taddey: Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Stuttgart 1968, S. 92; Freiburger Adreßkalender bzw. Einwohnerbuch in den verschiedenen Fassungen. 12 Nachweise in der Geschichte der Stadt Freiburg i. Br.; die Angaben beruhen großenteils auf eigenen Berechnungen.

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tiker, teilweise in herausragender Position, allgemein geschätzt wurde. Stärker als auf dem Land schien in der Stadt die »Fremdheit« in der Gesellschaft, die den Juden bei aller persönlichen Anerkennung anhaftete, zu schwinden. Das geschilderte Beispiel der Familie Mayer ist hier durchaus repräsentativ. Bei anderen führte die Assimilationstendenz sogar dazu, daß sie den jüdischen Glauben aufgaben. So war eine ehemals jüdische Familie im Freiburger Vereinsleben besonders aktiv und spielte gegen Ende der zwanziger Jahre eine spektakuläre Rolle in der Fastnacht.13 Gerade hier deuteten sich allerdings auch Anzeichen an, daß die Integration labil geblieben war: Trotz der Konversion sahen viele Freiburger die Familie nach wie vor als Juden an, und die Nazis konnten unter Berufung auf die »jüdische Vergangenheit« den Fastnachtsverein leicht gleichschalten. Ähnliches zeigt sich bei den Studenten: Während ein kleiner Teil ohne Probleme in demokratische und sozialistische Organisationen integriert wurde, mußten diejenigen assimilationswilligen jüdischen Studenten, die gut »deutschvaterländisch« gesonnen waren, eigene Korporationen gründen, da sie in die traditionellen schlagenden Verbindungen nicht aufgenommen wurden. Immer wieder kam es zu Diskriminierungen, denen die Universitätsbehörden und die Mehrzahl der Hochschullehrer nur halbherzig entgegentraten.14 Gegen den Nationalismus der Antisemiten setzten die Zionisten statt der Assimilation den jüdischen Nationalismus. Kurz nach dem Ersten Zionistischen Kongreß in Basel 1897 entstand in Freiburg eine Ortsgruppe, 1907 auch eine Studentenverbindung. Neben anderen studierten hier Kurt Blumenfeld, der spätere Präsident der Zionistischen Vereinigung, und Salmon Rubascheff, der als Schneur Zalman Shazar erster Kultur- und Erziehungsminister, von 1963 bis 1973 sogar Staatspräsident Israels wurde. Ein Freiburger Fabrikant, Konrad Goldmann, richtete von 1919 bis 1925 in der Nähe auf einem Bauernhof eine landwirtschaftliche Hachschara für Chaluzim ein, eine »Ertüchtigungs«-Schule für auswanderungsbereite »Pioniere«, die dann den Kern eines 1927 gegründeten Kibbuz im Jordan-Tal stellten.15 Daneben gab es eine zahlenmäßig ebenfalls nicht sehr bedeutende Richtung unter den Freiburger Juden – namentlich unter 13 Berthold Hamelmann: Helau und Heil Hitler. Alltagsgeschichte der Fasnacht 1919–1939 am Beispiel der Stadt Freiburg (= Alltag & Provinz 2). Eggingen 1989, bes. S. 220–243 (mehrere Familien). 14 Wolfgang Kreutzberger: Studenten und Politik 1918–1933. Der Fall Freiburg im Breisgau (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 2). Göttingen 1972, S. 94–97, 123, 173. 15 Vgl. Juden in Baden, S. 115 (Hans Georg Zier): Hundsnurscher, Taddey: Die jüdischen Gemeinden, S. 92; Ulrich Tromm: Der Markenhof bei Freiburg im Breisgau als zionistisches Auswandererlehrgut 1919–1925. ln: Juden in Deutschland. Redaktion: Arbeitskreis Regionalgeschichte Freiburg (= Geschichtswerkstatt 15). Hamburg 1988, S. 23–32; Hinweise von Ruben Frankenstein, dem ich herzlich danke.

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den Ostjuden –, die ihre Identität in einer Besinnung auf die Wurzeln und das Wesen des Judentums suchte, unbeeinflußt von Assimilation oder Zionismus. Man kann also von einer bunten Vielfalt im Leben der Juden sprechen. Die Erweiterung von Synagoge und Friedhof in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre oder die Existenz mehrerer Geschäfte, die für koschere Ernährung sorgten, machen deutlich, daß insgesamt ein Aufschwung zu beobachten war.16 Ab 1933 zeigte sich jedoch, daß letztlich die Integration nicht gelungen, nicht tief genug gegangen war. Der Schulprofessor Ferdinand Gutheim meinte noch 1931, es seien »in der Hauptsache doch Ortsfremde«, die »eine antisemitische Welle« in die Stadt »geleitet« hätten, während »die alteingesessene Bürgerschaft (...) nichts vom Judenhaß« wisse. Bald erwies sich allerdings, daß auch zahlreiche Freiburger die judenfeindliche Nazi-Politik mittrugen oder sie zumindest tolerierten. Boykottierung, Entrechtung und Verfolgung vollzogen sich hier im wesentlichen wie anderswo.17 Unmittelbar nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und nach deren ersten antijüdischen Aktionen im März und April 1933 hatten sich einige der Freiburger Juden zur Auswanderung entschlossen. Bei der Volkszählung am 16. Juni 1933 wurden 1138 Juden, 1,15 Prozent der Gesamtbevölkerung, erfaßt. In den folgenden Jahren wanderten rund 300 aus, so daß 1939 noch etwa 800 Juden in Freiburg lebten.18 Das war eine erstaunliche Zahl, bedenkt man die vielen Verbote, Einschränkungen, beruflichen Benachteiligungen, Beleidigungen, Demütigungen, Denunziationen, Isolierungen. Doch wer konnte sich vorstellen, was noch kommen werde? Die meisten vertrauten darauf, daß der Schrecken bald vorüber sei, daß die vorangegangene Integration auch durch die Nazis nicht zerstört werden könne. Immerhin besann man sich stärker als zuvor auf den eigenen Gruppenzusammenhalt. Das Gemeindeleben erfuhr eine intensivere Beteiligung, die Beschäftigung mit jüdischer Tradition und Kultur nahm zu. Ein ehemaliger Bankdirektor stellte, mangels anderer Möglichkeiten, seine Villa für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung. Das bewußte Judesein wurde zur Grundbedingung des Standhaltens und des Bewahrens der Würde. 16 Stadtarchiv Freiburg, C 4/I/16/10, C 4/III/20/8, M 2/127 a (Angaben von ehemaligen jüdischen Bürgern Freiburgs). 17 Vgl. dazu – auch im folgenden – genauer die Ausführungen in der Geschichte der Stadt Freiburg und in meinen in Anm. 3 genannten Beiträgen. Das Zitat: Ferdinand Gutheim: Die Juden in Freiburg i. B. ln: Israelitisches Gemeindeblatt. Offizielles Organ der israelitischen Gemeinden Mannheim und Ludwigshafen – Badisches Gemeindeblatt Nr. 8 vom 14. August 1931, S. 6–10, hier S. 10. 18 Zahlen nach den Amtlichen Einwohnerbüchern sowie nach Schätzungen. Vgl. Berent Schwineköper, Franz Laubenberger: Geschichte und Schicksal der Freiburger Juden. Aus Anlaß des 100jährigen Bestehens der israelitischen Gemeinde in Freiburg (=  Freiburger Stadthefte 6). Freiburg 1963, S. 13.

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Das Niederbrennen der Synagoge am Morgen des 10. November 1938 und die anschließende demütigende Behandlung von 137 männlichen Freiburger Juden im KZ Dachau überzeugten – zusammen mit dem Verlust der materiellen Basis aufgrund der Berufsbeschränkungen sowie der »Entjudung« und »Arisierung« der Wirtschaft – einen Großteil der jüdischen Einwohner davon, daß sie ihre Heimat in Deutschland verloren hatten. Mit Nachdruck betrieben sie nun ihre Emigration. Doch für manche kam dieser Ausweg zu spät. Sie fanden kein Land, das sie aufnehmen wollte, verfügten nicht über ausreichend Mittel, konnten keine Bürgschaften beibringen – wie sie etwa für die USA erforderlich waren – oder erhielten ihr Visum nicht mehr, bevor die Nazis die Auswanderung unmöglich machten.19 Der ehemalige Kaufmann Ignatz Reichmann, um noch einmal ein Beispiel zu nennen, flüchtete illegal in die Schweiz, da ihm das Geld für eine reguläre Auswanderung fehlte – es mußten ja eine »Reichsfluchtsteuer« und ein Beitrag zur »Sühneleistung« für das Attentat Grynszpans, das den Vorwand für die Pogrome im November 1938 geliefert hatte, gezahlt werden. Die Schweizer schoben Reichmann wieder nach Deutschland ab. Erneut floh er, diesmal nach Belgien, wohin ihm seine Frau und eine Tochter folgten. Die Überfahrt nach England war organisiert; dort befand sich bereits eine Tochter. Doch die Familie erreichte wegen einer krankheitsbedingten Behinderung das Schiff nicht rechtzeitig. Sie wurde dann, nachdem die Nazis Belgien besetzt hatten, aufgegriffen und in Auschwitz ermordet.20 Fast alle Juden, die in Freiburg geblieben waren, deportierten die Nazis am 22. und 23. Oktober 1940 im Zusammenhang mit dem Versuch, Baden, die Pfalz und das Saarland »judenrein« zu machen und die mögliche Einrichtung eines »Judenstaates« auf Madagaskar vorzubereiten, nach Gurs in den Pyrenäen und in einige kleinere Lager in Südfrankreich. Die Namen von 360 Personen ließen sich rekonstruieren.21 Schon in diesen Lagern starben viele der Verschleppten. Die meisten anderen fanden dann in den Vernichtungslagern im Osten den Tod. Nur wenige überlebten. Aus Freiburg gingen noch einige Transporte mit Juden nach Theresienstadt; lediglich ein Teil von ihnen konnte gerettet werden.22 19 Wie Anmerkung 17. 20 Stadtarchiv Freiburg, M 2/127 a (Mitteilung einer Tochter). 21 Liste der am 22. Oktober 1940 aus Freiburg deponierten jüdischen Bürger, zusammengestellt von Stefanie Steiert, veröffentlicht vom Presse- und Informationsamt der Stadt Freiburg i. Br. (Stadtarchiv Freiburg, M 2/127 a). Zum Zusammenhang: Jacob Toury: Die Entstehungsgeschichte des Austreibungsbefehls gegen die Juden der Saarpfalz und Badens (22./23. Oktober 1940 – Camp de Gurs). in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte Tel Aviv 15 (1986) S. 431–464. Weitere Hinweise wie Anm. 17. 22 Stadtarchiv Freiburg, D. So. Generalia 138.

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Etliche Freiburger fanden den Mut, Juden zu verstecken und damit zu retten. Andere verhalfen Bedrohten zur Flucht oder versuchten, ihnen im Rahmen ihrer amtlichen Möglichkeiten beizustehen. Bis in die Justiz und in die Gestapo reichte das Netz der Hilfsbereiten. Die Mehrzahl hingegen übte bestenfalls »Kritik in tiefem Schweigen«, wie es Max Mayer anläßlich seines Abtransportes nach Dachau durchaus wohltuend empfand. Die Gewaltakte gegen die Juden waren nicht populär – vielleicht eine Nachwirkung des politischen Klimas, das die spezifisch Freiburger »Milieus« ausgeformt hatten. In der Regel schloß man allerdings auch hier die Augen und meinte: »Eigentlich habe ich nichts gesehen.»23 Trotz des ihnen zugefügten Leides entschlossen sich diejenigen Juden, die in Freiburg überlebt hatten oder nach Kriegsende hierher kamen, erneut eine Gemeinde zu gründen. Am 24. Dezember 1945 vollzogen 22 männliche Juden diesen Schritt. Ihre Religion konnten sie nur unter großen Schwierigkeiten ausüben. Nicht nur die Synagoge hatten die Nazis zerstört, auch Betsaal und Verwaltungsgebäude waren beim Luftangriff am 22. November 1944 ausgebrannt. Die Gemeindemitglieder mußten sich zunächst mit Räumen in Wohnhäusern behelfen. Den geschändeten Friedhof gab die Stadt der Gemeinde zurück und ließ dort auch eine Leichenhalle und ein Wärterhaus errichten, als Gegenleistung dafür, daß der frühere Synagogenplatz in ihrem Eigentum blieb. Man wollte hier einen Parkplatz anlegen. Anregungen, eine Gedenktafel anzubringen, wurden erst 1962 verwirklicht. 1987 konnte schließlich auch eine neue Synagoge eingeweiht werden. Die Israelitische Gemeinde in Freiburg, deren Einzugsbereich bis Offenburg im Norden und Weil am Rhein im Süden reicht, umfaßt inzwischen rund 250 Mitglieder. Die meisten von ihnen stammen aus Osteuropa. Eine Kontinuität zur früheren Gemeinde besteht im Grunde nicht mehr. Allerdings bemüht man sich um Kontakte zu den ehemaligen jüdischen Bürgern Freiburgs, die seit einiger Zeit von der Stadt regelmäßig eingeladen werden. Hier hat endlich, nach langer Verdrängung der Geschehnisse während des »Dritten Reiches«, ein Prozeß der offenen Aufarbeitung, der bewußten Erinnerung eingesetzt. So ist zu hoffen, daß daraus Kraft für die Gestaltung einer besseren Zukunft erwächst.24

23 Beispiele wie Anm. 17, das Zitat Mayers in Böhme, Haumann: Das Schicksal, S. 15. Vgl. »Eigentlich habe ich nichts gesehen ...«. Beiträge zu Geschichte und Alltag in Südbaden im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Heiko Haumann und Thomas Schnabel (= Alltag & Provinz 1). Freiburg 1987, bes. S. 125–142 (Teresa Andlauer u. a. zur – verdrängten – Geschichte der Judenverfolgung in Freiburg). 24 Stadtarchiv Freiburg, C 5/2470, 2471, 4355. Einzelheiten und weitere Nachweise wiederum in der Geschichte der Stadt Freiburg.

Von der Gründung einer neuen Gemeinde bis zur Stabilisierung jüdischen Lebens Juden in Basel während des 19. Jahrhunderts*

Am 29. Januar 1800 erhielt Leopold Levi (Levy) aus Niederhagenthal das Basler Niederlassungsrecht.1 Nach vier Jahrhunderten der Verweigerung wurde es damit zum ersten Mal wieder einem Juden erlaubt, seinen dauerhaften Wohnsitz in der Stadt zu nehmen. Der »Judenwirt« Levi hatte bereits seit einiger Zeit ein kleines Gasthaus in der Stadt betrieben und war auch im Handel tätig. Weitere Bewilligungen folgten, so im April 1801 die Niederlassungs- und Gewerbegenehmigung für Mitglieder der Familie Picard ebenfalls aus Niederhagenthal. Joseph Picard gehörte ein wichtiges Handelshaus mit Ladengeschäft in der Freien Strasse, das nach seinem Tod 1811 seine Frau Zere – aus der Rabbinerfamilie Ris – bis 1828 fortführte.2 Ende 1801 wohnten drei jüdische Familien in der Stadt und zwei in der Landschaft. Die Mediationsverfassung von 1803 machte alle erreichten Fortschritte wieder rückgängig. Für die Basler Juden wirkte sich dies allerdings nicht unmittelbar nachteilig aus, da sie, ausgestattet mit dem französischen Bürgerrecht, aufgrund der vertraglichen Bindung der Eidgenossenschaft an Frankreich ihre Rechte behielten. Im Mai 1808 lebten bereits 22 jüdische Familien mit 128 Personen in Basel. Beruflich waren die meisten Tuch-, Uhren- und Juwelenhändler, einige arbeiteten als Häusermakler oder führten ein Ladengeschäft.3 * Erstpublikation in: Acht Jahrhunderte Juden in Basel. 200 Jahre Israelitische Gemeinde Basel. Hg. von Heiko Haumann. Basel 2005, S. 61–85. 1 Achilles Nordmann: Geschichte der Juden in Basel seit dem Ende der zweiten Gemeinde bis zur Einführung der Glaubens- und Gewissensfreiheit. 1397–1875. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde (BZ) 13 (1914) S. 1–190, hier S. 81, 182–183. Die verdienstvolle und noch nicht überholte Studie ist – vor allem in den Nachweisen – nicht immer zuverlässig, aber insgesamt für diesen Beitrag heranzuziehen. Desgleichen: Theodor Nordemann: Zur Geschichte der Juden in Basel. Jubiläumsschrift der Israelitischen Gemeinde Basel aus Anlass des 150jährigen Bestehens 5565–5715, 1805–1955. O. O. u. J. (Basel 1955), S. 45–50. 2 Susanne Bennewitz: Rabbinerfamilie Ris. Die Emanzipation im Familienporträt. In: Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur. Hg. von Manfred Bosch. Eggingen 2001, S. 60–76, hier S. 73–74. 3 Nordmann: Geschichte, S. 87 ff.; vgl. Nordemann: Geschichte, S. 54–55. Von Konflikten nach 1803 berichtet auch: Zur Geschichte der Juden in Basel. In: Baslerische Mittheilungen Nr. 12, 12.6.1830, Nr. 14, 10.7.1830. Eine restriktive Juden-Verordnung vom 27.9.1809 versuchte z. B., deren Handelsfreiheit einzuschränken.

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Die Behörden legten den Juden jedoch viele Hindernisse in den Weg. Deutlich wird dies etwa am Schicksal der Wirtsfamilie Levi. Bereits 1803 wurde Leopold Levis Gesuch um Erneuerung seines Patentes abgelehnt, ebenso die zusammen mit Aron Picard eingereichte Eingabe, eine Wirtschaft ausschliesslich für Glaubensgenossen betreiben zu dürfen. Erst eine französische Intervention veranlasste die Stadt 1804 zum Einlenken.4 Als Leopold Levi 1814 an »Nervenfieber«, also Typhus, starb, nützte der Einfluss Frankreichs nichts mehr. Wegen der Erkrankung war das »Judenwirtshaus an der Huthgass« vom Sanitätsdepartement geschlossen worden, mit dem Argument: »die Juden, welche sich ohnehin zur Mitteilung von Krankheiten eigneten, gingen daselbst ein und aus – hausierten in der Stadt herum und trügen, sozusagen, das Gift von Haus zu Haus«. Das Vorurteil, Juden seien ihrer Natur gemäss von vornherein Krankheitsträger, tritt hier klar hervor. Levis Witwe Mindel Bernheim wollte die Wirtschaft dann weiterführen, um sich und ihre sechs unmündigen Kinder zu ernähren. Der Kleine Rat verweigerte seine Zustimmung ohne Begründung. Als Mindel Bernheim wenige Monate später angezeigt wurde, an einem Samstag Gäste in ihrem Haus mit Wein bewirtet zu haben – vielleicht handelte es sich um eine Schabbatfeier –, verkündete die Regierung die Ausweisung der Familie innerhalb der nächsten 14 Tage. Eine Einsprache des französischen Gesandten in der Schweiz blieb erfolglos.5 Diese Geschichte zeigt exemplarisch, unter welchen Schwierigkeiten sich die Wiederansiedlung von Juden in Basel und die Erlangung gleicher Rechte wie die christliche Bevölkerung vollzogen. Dabei hatte das frühere Niederlassungsverbot nicht bedeutet, dass es keine Juden in Basel gab. Immer wieder zogen Händler durch die Stadt, und auch Flüchtlinge suchten hier Schutz. Vor allem nach dem Einschnitt, den die Judenverfolgungen in Osteuropa im Zusammenhang mit den Kosaken- und Bauernaufständen seit 1648 sowie mit den zahlreichen Kriegen hervorriefen, siedelten sich vermehrt Juden in der Umgebung Basels an – im Sundgau, in Dornach, im Gebiet des Fürstbistums.6 Auch in 4 Nordmann: Geschichte, S. 90–91; Nordemann: Geschichte, S. 46–49. 5 Nordmann: Geschichte, S. 103; Brigitta Gerber: »Nicht aber für den Fall einer etwaigen Verheiratung mit einem Nichtberechtigten!« Arbeits- und Niederlassungsbewilligungen mit Vorbehalten. In: Alder, Barbara u. a.: Geschichten aus der Empore. Auf den Spuren jüdischer Frauen in Basel. Hg. vom Verein Frauenstadtrundgang Basel. Bern 1999, S. 79–95, hier S. 79–85. Vgl. im einzelnen zur damaligen Basler Politik gegenüber den Juden den Beitrag von Susanne Bennewitz in diesem Band. 6 Nordmann: Geschichte, S. 37 ff. Vgl. Günter Boll: Dokumente zur Geschichte der Juden in Vorderösterreich und im Fürstbistum Basel (1526–1578). In: Zeitschrift des BreisgauGeschichtsvereins »Schau-ins-Land« 115 (1996) S. 19–44; Anna C. Fridrich: Juden in Dornach. Zur Geschichte einer Landjudengemeinde im 17. und frühen 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Solothurnische Geschichte 69 (1996) S. 9–40 (seit spätestens 1657 dauer-

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Endingen und Lengnau vergrösserten sich die Judengemeinden.7 So verwundert es nicht, wenn wir zunehmend von Versuchen erfahren, in Basel Fuss zu fassen. Der städtische Kleine Rat reagierte sofort und beschloss mehrfach, »die Juden abzuschaffen«.8 Aus ökonomischen Gründen wurden sie zwischendurch allerdings immer wieder geduldet, etwa um Geschäften während der Messe nachzugehen. Als man in den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts sogar zwei Familien die Niederlassung erlaubte, erhob sich 1643 dagegen heftiger Protest von Basler Bürgern, die die Konkurrenz fürchteten: Die Juden würden »ihnen das Brot augenscheinlich und ungescheucht vor dem Maul abschneiden«; sie seien »schädliche Leuth«, die zudem noch Jesus Christus »auf das gräwlichste lästern, schänden und schmehen« würden.9 Grundsätzlich hielt der Rat am Niederlassungsverbot fest, gestattete aber den Handelsverkehr. So kamen dann aus der Umgebung regelmässig jüdische Pferdehändler, Hausierer und Kaufleute nach Basel. Anstatt von »Ausschaffungen« und einem vollständigen Aufenthaltsverbot lesen wir jetzt von »Bannisierungen«, vorübergehenden Verweisungen aus dem Hoheitsgebiet aufgrund verschiedenartigster Konflikte. Gar nicht froh darüber war im übrigen der Basler Oberstknecht, der oberste Ratsdiener, dessen Einkommen zum grössten Teil aus dem »Leibzoll«, den jeder Jude beim Betreten der Stadt entrichten musste, bestritten wurde. Am engsten gestalteten sich die Beziehungen zu den Juden im elsässischen Sundgau. Da sie unter dem Schutz der französischen Regierung standen, geriet Basel haft ansässig, wurden die Juden 1736 wieder aus Dornach vertrieben); dies.: »... das einem das Guthe zu fliessen solle wie dass Bösse«. Laufen – eine Kleinstadt in der Frühen Neuzeit. Liestal 2002, S. 183–209 (zu den Landjuden in den Vogteien Zwingen, Birseck und Pfeffingen, die 1694 auf Anweisung des Fürstbischofs vertrieben wurden, aber als Händler weiterhin präsent waren). Für einen Gesamtüberblick: Augusta Weldler-Steinberg: Geschichte der Juden in der Schweiz. Vom 16. Jahrhundert bis nach der Emanzipation. Bearb. u. erg. durch Florence Guggenheim-Grünberg. 2 Bde. Zürich 1966, 1970; Florence Guggenheim-Grünberg: Die Juden in der Schweiz. 2. Aufl. Zürich 1976. Zu den Juden im Elsass vgl. hier nur: Juden im Elsass. Hg. vom Jüdischen Museum der Schweiz und dem Schweizerischen Museum für Volkskunde. Basel 1992. Für die Zeit bis 1800 ist auch der Beitrag von Werner Meyer in diesem Band heranzuziehen. 7 Thomas Armbruster: Die jüdischen Dörfer von Endingen und Lengnau. In: Landjudentum im Süddeutschen- und Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des Jüdischen Museums Hohenems vom 9. bis 11. April 1991, veranstaltet vom Vorarlberger Landesarchiv. Dornbirn 1992, S. 38–86. Am Historischen Seminar arbeitet Alexandra Binnenkade an einer Dissertation über die jüdisch-christlichen Beziehungen in Lengnau während des 19. Jahrhunderts. [Inzwischen: dies.: KontaktZonen. Jüdisch-christlicher Alltag in Lengnau. Köln usw. 2009.] 8 Vgl. einige Beispiele in den urkundlichen Beilagen Achilles Nordmanns (S. 165–188), hier S. 168–174. Siehe auch Nordemann: Geschichte, S. 30 ff. 9 Nordmann: Geschichte, S. 39, 169–170 (Zitate).

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mehrmals in aussenpolitische Verwicklungen.10 Möglicherweise hat dies zur relativen Toleranz Basels gegenüber den Juden im 18. Jahrhundert beigetragen. Daneben fassten aber auch aufgeklärte Basler Bürger – wie der Ratsschreiber, Philosoph und Historiker Isaak Iselin (1728–1782) – eine Gleichberechtigung der Juden ins Auge und nahmen Kontakt mit jüdischen Gelehrten auf. Die tiefsitzenden Vorbehalte verschwanden dadurch nicht, wie ein Beschluss vom 31. Dezember 1768 deutlich macht. Während in der Stadt der »freie Handel« gestattet war, wurde er ausserhalb der Stadt und öffentlicher Märkte verboten, weil er wegen »Betrügereien« die Existenz der Bauern gefährde. Ausserdem dürfe nur mit barem Geld gezahlt werden, Schuldverschreibungen seien nicht zulässig. Schon 1762 war der Hausierhandel untersagt worden.11 Dahinter stand, wie so oft, die Konkurrenzfurcht christlicher Kaufleute, die allerdings dem jüdischen Viehhandel kaum etwas entgegensetzen konnten. Derartige Ängste verbanden sich mit traditionellen Vorurteilen, etwa als zwischen 1743 und 1745 Juden wegen einer Viehseuche zurückgewiesen wurden: Ihnen unterstellte man nach wie vor, die Christenheit »verderben« zu wollen. Im 19. Jahrhundert setzte sich dieses Klischee fort. So wurden die Juden in Basel verdächtigt, die Cholera absichtlich verbreitet zu haben.12 Um so mehr ist hervorzuheben, dass sich der Rat Hilfsaktionen für bedrohte Juden nicht verschloss. Dies geschah in Kriegszeiten, in besonderem Masse jedoch während der Französischen Revolution von 1789. Als Reaktion auf die Nachrichten von den Pariser Ereignissen erhoben sich die Bauern im Sundgau, eroberten zahlreiche Schlösser der Adligen und zerstörten sie. Bald richtete sich die Wut aber auch gegen die Juden, die man als Werkzeuge der hohen Herren und als »Wucherer« betrachtete. Mehrere Hundert Juden retteten sich nach Basel und Umgebung, wo sie zwischen zwei und vier Wochen bleiben durften. Die Verpflegungskosten übernahm die Staatskasse. Auch viele Bürger scheinen grosszügige Hilfe geleistet zu haben. Zum Dank, so hiess es in einem Schreiben

10 Nordmann: Geschichte, S. 52 ff. Vgl. Walter Dettwiler: Diskriminierung per Wegzoll. In: Israelitisches Wochenblatt Nr. 18 vom 2.5.1997, S. 23. Zum Pferde- und Viehhandel vgl. Robert Uri Kaufmann: Jüdische und christliche Viehhändler in der Schweiz 1780–1930. Zürich 1988, hier bes. S. 46–58. 11 Nordmann: Geschichte, S. 57–62, 177–178 (Zusammenfassung dieser und weiterer Verordnungen vom 8. September 1790). Das Mandat ist auszugsweise abgedruckt in: Claude Kupfer, Ralph Weingarten: Zwischen Ausgrenzung und Integration. Geschichte und Gegenwart der Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Zürich 1999, S. 37. 12 Vgl. Nordmann: Geschichte, S. 65–66; Othmar Birkner: Die Cholera in Basel und ihre städtebaulichen Folgen. In: Basler Zeitung, Magazin, Nr. 45 vom 8.11.1997, S. 15 (nach: Öffentliche Bibliothek der Universität Basel, Sammelschrift L G II 11, zu 1832).

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des Vertreters der elsässischen Judenschaft, solle an jedem Sabbat in den Synagogen ein besonderes Gebet für das Wohl Basels gesprochen werden.13 Dennoch blieben die grundsätzlichen Aufenthaltsverbote und Handelserschwernisse in Kraft, ja wurden sogar verschärft. Da in Frankreich die Juden durch die Revolution zu vollberechtigten Bürgern geworden waren, stiess dies auf Widerstand der französischen Regierung. Diese drang nachdrücklich auf eine Gleichbehandlung der Juden mit den übrigen französischen Bürgern. 1797 beschloss der Grosse Rat die Aufhebung des Leibzolls, ein Jahr später erfolgte für alle Juden die Abschaffung besonderer Steuern und Abgaben. Dies war bereits eine Massnahme der Helvetischen Republik. Mit ihr begann auch für die Juden in Basel eine neue Epoche.14 Die helvetische Verfassung vom 28. März 1798 brachte, am französischen Vorbild orientiert, die Gleichstellung der Juden, die allerdings nur unvollkommen in die Praxis umgesetzt wurde. Entgegen allen Hoffnungen und erfolgversprechenden Anfängen wurden die Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung letztlich nicht aufgehoben. Wie bei so vielen angestrebten Reformen der Republik kamen Theorie und Praxis nicht zur Deckung. Für die Zukunft wirkten allerdings die Aktivitäten der Vorkämpfer jüdischer Emanzipation nach.15 Durch die »Fremdengesetze« von 1798 und 1800 erlangten immerhin zuwandernde Juden Handels- und Niederlassungsfreiheit mit der Aussicht auf Einbürgerung. Einige aus dem benachbarten Elsass, die in Basel schon immer wieder geschäftlich zu tun gehabt hatten, nutzten diese Neuerung, um sich hier anzusiedeln. 1800 erfolgte dann die erwähnte erste Niederlassungsbewilligung für Leopold Levi. 1805 wurde wahrscheinlich – das genaue Datum ist nicht belegt – eine neue jüdische Gemeinde gegründet. In diesem Jahr beriefen die in Basel lebenden Juden Joseph Meyer (Mayer) als Vorsänger, der zugleich als Schächter amtete.16 13 Nordmann: Geschichte, S. 68–71; Nordemann: Geschichte, S. 40–43. Einige Quellen über diese Vorgänge sind abgedruckt in: André Salvisberg: Revolution in Basel. Ein Lesebuch über Stadt und Landschaft Basel vom Beginn der Französischen Revolution bis zum Ende der Helvetischen Republik 1789–1803. Basel 1998, S. 33–37 (das Buch ist auch zum Folgenden heranzuziehen). Vgl. wieder den Beitrag von Werner Meyer und Quelle 20. 14 Nordmann: Geschichte, S. 71–76. 15 Vgl. allgemein Holger Böning: Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Republik (1798–1803) – Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie. Zürich 1998, S. 236–243; ders.: Die Emanzipationsdebatte in der Helvetischen Republik. In: Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960. Hg. von Aram Mattioli. Zürich 1998, S. 83–110. Die helvetische Verfassung ist auszugsweise abgedruckt in: Kupfer, Weingarten: Ausgrenzung, S. 53. 16 Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Gerichtsarchiv A 234, f. 207: Gerichtsprotokoll von 1817 mit Verweis auf 1805. Meyer klagte 1817 gegen die Gemeinde, weil sie ihn wegen

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Einen eigenen Rabbiner erhielt Basel erst 1885; bis dahin betreute der Rabbiner von Hegenheim – zunächst David Ginzburger (Günzburger, 1745–1824), dann Samuel Hirsch Katzenellenbogen und Moses Aron Levy, ab 1834 schliesslich Moïse Nordmann (1809–1884) – die Gemeinde.17 Als erster Vorsteher wird Marx Picard genannt, in dessen Haus anfänglich die Gottesdienste stattfanden.18 Eine Armenkasse begann 1807 tätig zu werden.19 Weil »ihre Kinder in den hiesigen Schulen kleinen Beleidigungen ausgesetzt wären«, beantragten die Basler Juden, eine eigene »kleine Anstalt« zu errichten. Peter Ochs empfahl als Präsident des Deputatenamtes 1813 deren Zulassung, die der Kleine Rat auch aussprach. Zunächst wurden neun jüdische Knaben von zwei Theologiestudenten in weltlichen Fächern und vom Vorbeter der Synagoge – Peter Ochs sprach vom »Lehrer der hiesigen Juden-Schule« – in Religion unterrichtet. Ob diese »Israeliten Schule« identisch ist mit der vom Basler Pietisten Christian Friedrich Spittler (1782–1867) angeregten »Judenschule«, ist noch nicht geklärt. Über das weitere Schicksal der Schule ist nichts bekannt.20 Öffentliche Gottesdienste, das Einsegnen einer Ehe oder die Beerdigung ihrer Toten in Basel blieben den Juden nach wie vor verwehrt. Die Betzimmer wurden in Privatwohnungen eingerichtet. Mit dem Ausgang der französischen Vorherrschaft in Europa nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 verschlechterte sich die Lage der Juden erneut. In städtischen Behörden ist eine feindselige Einstellung gegenüber der »herumziehenden, lästigen Nation« nicht zu verkennen.21 Zu traditionellen Vorurteilen gesellten sich die Furcht vor ökonomischer Konkurrenz für die christlichen Bürger und die Unterstellung, Juden seien politisch unzuverläs-

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eines Konfliktes mit den jüdischen Metzgern über die Koscher-Frage von seinem Vorsinger-Amt entbunden hatte (vgl. Nordemann: Geschichte, S. 67–68). – Im einzelnen wird Susanne Bennewitz in ihrer Dissertation auf diese Zusammenhänge ebenso eingehen wie auf die folgende Geschichte der Juden in Basel. Nordemann: Geschichte, S. 69, 72, 103; Hinweise von Susanne Bennewitz. Katia Guth-Dreyfus: 175 Jahre Israelitische Gemeinde Basel. In: Basler Stadtbuch 1980. Basel 1981, S. 153–162; Nadia Guth: Synagoge und Juden in Basel. Zürich 1988, S. 29– 35; Nordemann: Geschichte, S. 44 ff.; Nordmann: Geschichte, S. 96 ff. (auch im Folgenden). Zu den einzelnen Gemeindeämtern und -institutionen vgl. Nordemann: Geschichte, S. 64–102. Guth-Dreyfus: 175 Jahre, S. 153–154, 161; Nordemann: Geschichte, S. 112–118. StABS, Erziehung LL 29 (Brief Peter Ochs‘ vom 5.4.1813). Nordmann: Geschichte, S. 98, gibt eine falsche Signatur an (Hinweis von Hermann Wichers). Vgl. Der Verein der Freunde Israels 150 Jahre. Schweizerische Evangelische Judenmission. Stiftung für Kirche und Judentum. Basel 1980 (= Der Freund Israels 143/1980), S. 10. Siehe auch den Beitrag von Susanne Bennewitz in diesem Band. Nordmann: Geschichte, S. 99 ff., Zitat S. 103 (1814). Vgl. hier und im Folgenden den Beitrag von Susanne Bennewitz in diesem Band.

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sig. Darüber hinaus gerieten diese in innenpolitische Auseinandersetzungen zwischen städtischen und kantonalen Instanzen um das Machtgefüge. Auf der anderen Seite zeigte sich, dass die inzwischen auf rund 200 Personen angewachsene jüdische Bevölkerung recht gut integriert war: Sie fand tatkräftige Unterstützung bei ihren christlichen Nachbarn. Dennoch setzten sich die restaurativen Tendenzen durch. Zwar konnte der Versuch, die Juden wieder ganz aus der Stadt zu weisen, durch das Eingreifen des Kantons verhindert werden. Doch mit neuen Gesetzen gewährte ihnen Basel nur noch eine befristete Aufenthaltserlaubnis, und lediglich den ältesten Söhnen wurde das weitere Wohnrecht gestattet.22 Welche Auswirkungen dies auf die jüdischen Familien haben konnte, bekamen etwa die Ulmanns (Uhlmanns) zu spüren. Nach mehrmaligen vergeblichen Anträgen, bei denen das Misstrauen der Behörden gegenüber den Juden offen zutage trat, erhielten Brigitte und Moses Ulmann 1835 die Erlaubnis, eine Wirtschaft zu betreiben. Sie kauften den Gasthof »Zur Kanne« in der Spalenvorstadt 5. Nach dem Tod des Mannes führte seine Frau die Wirtschaft weiter, unterstützt von ihren Töchtern Sophie und Regina. 1857 durften diese das Gasthaus übernehmen, aber nur, solange sie keine »Nichtberechtigten« heirateten, also jemanden, der weder niedergelassen war noch die Genehmigung als Gastwirt besass. Zwei Jahre zuvor war denn auch das Gesuch des Verlobten einer der Töchter, der aus Deutschland stammte, abgelehnt worden, so dass die Heirat nicht zustande kam. Den Töchtern blieb nichts anderes übrig, als unverheiratet zu bleiben.23 Als zwiespältig ist das Wirken der pietistischen Basler Mission zu betrachten. Gewiss wollte sie Gutes tun, wurde dabei jedoch von der Überzeugung geleitet, dass die Juden zu ihrem Heil und im Sinne des göttlichen Erlösungsplanes zum Christentum bekehrt werden müssten. Christian Friedrich Spittler gründete 1820 die »Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden«, der 1830 in den »Verein der Freunde Israels« überging. Für neubekehrte Juden wurde 1842 ein »Proselytenhaus« eingerichtet, das der erst vor kurzem zum Christentum übergetretene David Heman leitete. Dieser Lehrer verstand sich als »Anwalt Israels« und wollte die Sache Israels »vor Gott und innerhalb der Christenheit vertreten«.24 Auch in Palästina erfolgten, verbunden mit wich22 Nordemann: Geschichte, S. 54. Ausführlich wieder Bennewitz. 23 Gerber: Verheiratung, S. 85–93. Zu einem Konflikt um Moses Ulmann 1816 vgl. den Beitrag von Susanne Bennewitz in diesem Band. 24 Der Verein der Freunde Israels, S. 12 (Thomas Willi). David Hemans Sohn Carl Friedrich (1839–1919), Theologe und Philosoph in Basel, unterstützte später den Zionismus, forderte allerdings von den Juden, dass sie die messianische Idee aufgäben. Zwar habe sie das Überleben der jüdischen Nation ermöglicht, bringe aber jetzt nur Leid und Unglück über

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tigen wohltätigen Einrichtungen, Missionierungsversuche. Andererseits trat seit 1838 der ehemalige Lehrer am Basler Missionshaus, Samuel Preiswerk (1799– 1871), Professor für Altes Testament und späterer Basler Münsterpfarrer, für die »Reconstituierung der jüdischen Nation« und ihr Recht auf Israel ein. Im Zusammenhang mit dem Ersten Zionistenkongress von 1897 in Basel sollten die »christlichen Zionisten« noch einmal eine wichtige Rolle spielen.25 Einige jüdische Familien resignierten angesichts der Zustände und verliessen Basel: 1847 finden wir nur noch 11 Familien mit 104 Personen, 0,4 Prozent der Bevölkerung. Während des Revolutionsjahres 1848 erlebten elsässische Juden, die vor Ausschreitungen flüchteten, in Basel und Umgebung erneut Hilfsbereitschaft. Rabbiner Nordmann organisierte in Hegenheim die Verteidigung der Gemeinde und bildete eine Schutzwehr, die die anrückenden Plünderer in die Flucht schlug. In diesen angstvollen Tagen fanden die jüdischen Frauen und Kinder aus Hegenheim Unterkunft in Allschwil. Die dortigen Bewohner stellten sogar eine bewaffnete Truppe auf, um die Hegenheimer zu unterstützen. Ein Grenzkonflikt mit Frankreich wurde dann allerdings vermieden. Die Basler nahmen Flüchtlinge aus Durmenach und benachbarten Orten auf und spendeten grossherzig zugunsten der Geplünderten.26

die Juden. Am schlimmsten seien die polnischen Rabbiner, die den Juden »nur noch zu mauscheln« gestatteten. Statt dessen sollten sie sich »auf diesen Jesum, den grössten Sohn ihres Stammes, besinnen und in seinem Geiste nach dem Kommen der Gottesherrschaft trachten« (Friedrich Heman: Geschichte des jüdischen Volkes seit der Zerstörung Jerusalems. Calw, Stuttgart 1908, Zitate S. 601, 379). 25 Der Erste Zionistenkongress von 1897 – Ursachen, Bedeutung, Aktualität. »... in Basel habe ich den Judenstaat gegründet.« Hg. von Heiko Haumann in Zusammenarbeit mit Peter Haber, Patrick Kury, Kathrin Ringger, Bettina Zeugin. Basel usw. 1997, S. 40, 46, 137, 186 ff.; Nordmann: Geschichte, S. 116–117; Der Verein der Freunde Israels. Vgl. die Beiträge von Susanne Bennewitz und Patrick Kury in diesem Band. Der Geschichte der »Judenmission« in Basel ist noch näher nachzugehen. In der Universitätsbibliothek wird eine Handschrift des Marcus Lombardus von 1573 verwahrt (Aleph E. V. 36), eines Juden aus Venedig, der zum Christentum konvertiert war und nun in Basel lebte. Er forderte die Juden (unmittelbar angesprochen wurden diejenigen in Weil am Rhein) in seinem Sendschreiben auf, den Katechismus und das Neue Testament zu lesen, die er ihnen ins Hebräische drucken lassen wolle – Basel war damals das Zentrum des hebräischen Buchdruckes (s. den Beitrag von Werner Meyer in diesem Band). Wer dann den »richtigen Messias« erkenne, den werde er in die Stadt hinein und taufen lassen sowie den christlichen Glauben lehren (auszugsweise abgedruckt in: Kupfer, Weingarten: Ausgrenzung, S. 22). 26 Schweizerische National-Zeitung, Basel, 18.3.1848 (S. 266), 22.3.1848 (S. 278), 26.3.1848 (S. 292). 1843 hatte Nordmann ein wenig Aufsehen erregt, als er in der Synagoge von Hegenheim eine »initiation religieuse« von zwei Knaben und drei Mädchen vornahm (Archives Israélites de France 1843, S. 190–191). Hinweis von Uri Kaufmann.

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Aber es wurden auch wiederum Vorurteile gegenüber der jüdischen Kultur laut. In der liberalen »Schweizer National-Zeitung« schrieb ein Autor am 5. August 1848, dass die – hier teilweise falsch dargestellten – jüdischen Religionsgesetze »Hass und Verachtung« erzeugten, weil sie den republikanischen Prinzipien der »Freiheit, Gleichheit und Bruderliebe« widersprächen. Deshalb dürfe den Juden erst dann die Gleichberechtigung gewährt werden, wenn sie eine Reform dieser Religionsgesetze, »die mit den Fortschritten der Zeit und mit den Grundgesetzen freier Republiken unvereinbar sind«, vorgenommen hätten. Eine derartige Einstellung war schon in der Zeit der Aufklärung sichtbar geworden, als die Juden gemäss der Ansicht vieler erst einmal »verbessert« und »zivilisiert« werden sollten, bis sie dem angestrebten Menschenbild entsprächen und emanzipiert werden könnten. Die schweizerische Bundesverfassung von 1848 beschränkte denn auch die Freiheitsrechte auf die Bürger christlicher Konfession und enthielt den Juden die Gleichberechtigung sowie die Niederlassungs-, Handels-, Gewerbe- und Glaubensfreiheit vor.27 Insgesamt begann sich jedoch in Basel zu dieser Zeit die Situation allmählich zum Besseren zu wenden. 1847/49 erhielten immerhin alle hier geborenen oder erzogenen Söhne aus jüdischen Familien das Niederlassungsrecht. Die neue hoffnungsvolle Stimmung drückte sich auch darin aus, dass 1849/50 eine Liegenschaft am Heuberg zu einer kleinen Synagoge umgebaut wurde und damit die bisherigen Provisorien von Beträumen in Privatwohnungen oder gemieteten Häusern ein Ende fanden.28 Inzwischen hatte sich auch eine angemessene Infrastruktur innerhalb der jüdischen Gemeinde entfaltet: Neben den verschiedenen Gemeindeämtern und der Armenkasse gab es die »Heilige Vereinigung« der Beerdigungsbruderschaft, die »Chevra Kadischa«, und seit 1834 ist auch ein Frauenverein belegt, der vermutlich schon früher bestanden hatte und als der älteste in der Schweiz gelten kann. Er beteiligte sich 27 Vgl. z. B. Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870. Frankfurt a. M. 1986, S. 70–93; Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Bd. 1: Mordechai Breuer, Michael Graetz: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 314–332; Heiko Haumann: »Wir waren alle ein klein wenig antisemitisch.« Ein Versuch über historische Massstäbe zur Beurteilung von Judengegnerschaft an den Beispielen Karl von Rotteck und Jacob Burckhardt (erscheint 2005 in der Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte). Zur Schweiz Aram Mattioli: »Vaterland der Christen« oder »bürgerlicher Staat«? Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, 1848–1874. In: Die Konstruktion einer Nation. Nation und Nationalisierung in der Schweiz, 18.-20. Jahrhundert. Hg. von Urs Altermatt u. a. Zürich 1998, S. 217–235, hier S. 221–225. 28 Nordemann: Geschichte, S. 64–74. Rabbiner Nordmann hielt eine beeindruckende Predigt, über die der Herausgeber der »Archives Israélites de France«, Samuel Cahen, im Jahresband 1850 berichtete (S. 589–591, Hinweis von Uri Kaufmann)

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aktiv an der Fürsorge, Armen- und Krankenpflege.29 Nicht zuletzt auf ausländischen Druck – neben Frankreich setzten sich jetzt auch Grossbritannien und die USA für die Aufhebungen der Beschränkungen ein – erfolgte dann die rechtliche Emanzipation. Mit der Teilrevision der Bundesverfassung von 1866 wurde nun endlich die vollständige Niederlassungs- und Gewerbefreiheit zugestanden, die neue Bundesverfassung von 1874 bewilligte auch die Glaubensfreiheit. 1870 lebten 503 Juden im Kanton Basel-Stadt, 1,1 Prozent der Bevölkerung.30 Infolge des deutsch-französischen Krieges 1870/71 flohen zahlreiche Juden nach Basel oder wanderten nach hier aus, als das Deutsche Reich das Elsass annektiert hatte. 1872 nahm die Stadt die ersten Juden in das Basler Bürgerrecht auf. Den Anfang machte Salomon Schwob-Dreyfus aus Hegenheim. Im selben Jahr folgten noch 14 Personen. Bald darauf wurde einer der Neubürger, Georg Wolf, als erster Jude in den Grossen Rat gewählt.31 Nun war die Kontinuität der Gemeinde gesichert, die jüdische Bevölkerung wuchs rasch an. Dieser Prozess fiel in eine Phase, als sich das soziale und wirtschaftliche Gefüge Basels insgesamt 29 Katia Guth: Aus der Geschichte des israelitischen Frauenvereins Basel. Festrede anlässlich des 150. Jubiläums am 4. März 1984 (Ms.); Janine Kern: »... in Armut und Unglück mit Rath und That hilfreich beizustehen«. Der Israelitische Frauenverein Basel. In: Alder: Geschichten, S. 45–49; Elisabeth Weingarten-Guggenheim: Die jüdische Frauenbewegung in der Schweiz 1904–2004. In: Jüdische Lebenswelt Schweiz. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG). Hg. von Gabrielle Rosenstein. Zürich 2004, S. 72–85, hier S. 73. Vgl. Sara Janner: Mögen sie Vereine bilden … Frauen und Frauenvereine in Basel im 19. Jahrhundert. Basel 1995 (=  173. Neujahrsblatt der GGG), S. 57–59; zum Zusammenhang Regina Wecker: Bildung und gesellschaftliche Verantwortung. Das soziale Engagement jüdischer Frauen in der Schweiz. In: Krisenwahrnehmungen im Fin de siècle. Jüdische und katholische Bildungseliten in Deutschland und der Schweiz. Hg. von Michael Graetz und Aram Mattioli. Zürich 1997, S. 119–137. 30 Nordmann: Geschichte, S. 120–159; Guth-Dreyfus: 175 Jahre, S. 159–161; Nordemann: Geschichte, S. 56–63. Eine Zusammenfassung der Entwicklung: Aram Mattioli: Die Schweiz und die jüdische Emanzipation 1798–1874. In: Antisemitismus in der Schweiz 1848–1960. Hg. von Aram Mattioli. Zürich 1998, S. 61–82; ders.: Vaterland, hier bes. S. 226–232. Die Angaben zu den Bevölkerungszahlen hier und im Folgenden unterscheiden sich in den verschiedenen Publikationen leicht, stimmen aber in den Tendenzen und Prozentanteilen überein. 31 StABS, Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel, C 1, 4: Einbürgerungen 1910–1954 (ich verdanke diesen Hinweis Mariella Corbo); Nordmann: Geschichte, S. 161. Vgl. Willy Pfister: Die Einbürgerung der Ausländer in der Stadt Basel im 19. Jahrhundert. Basler Bürgerbuch III. Basel 1976, S. 28; Martin Schaffner: Geschichte des politischen Systems von 1833 bis 1905. In: Das politische System Basel-Stadt. Geschichte, Strukturen, Institutionen, Politikbereiche. Hg. von Lukas Burckhardt u. a. Basel, Frankfurt a. M. 1984, S. 37–53, hier S. 51.

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tiefgreifend wandelte.32 Lebten 1880 bereits 830 Juden in Basel, so waren es zwanzig Jahre später 1‘897 und 1910 gar 2‘440. Ihr Anteil an der gesamten Einwohnerschaft stieg in diesem Zeitraum von 1,3 auf 1,8 Prozent. In der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) waren jetzt rund 20 Prozent der Juden organisiert. Diese Zahl blieb lange Zeit stabil. Bis zum Statut von 1907 durften nur Männer der Gemeinde angehören. Ausserdem war die Mitgliedschaft freiwillig und musste beantragt werden, Eintrittsgebühren und Beiträge waren zu leisten.33 Anfänglich kamen die Zuwanderer fast ausschliesslich aus dem Elsass, seit der Gleichstellung dann zusätzlich aus Südwestdeutschland, aus dem Baselbiet und aus Endingen und Lengnau, den beiden Orten im Surbtal, auf die seit 1776 die Niederlassung von Juden in der Schweiz im wesentlichen beschränkt gewesen war. Ausserdem suchte eine Reihe Ostjuden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Zuflucht in Basel. Diese unterschiedliche Herkunft mit den jeweiligen Prägungen, Einstellungen und Verhaltensweisen bildete eine schwierige Grundlage dafür, sich zusammenzufinden, und stellte in den folgenden Jahrzehnten eine ständige Herausforderung dar.34 Die Mehrheit der Berufstätigen war im Handel, namentlich im Textilhandel, beschäftigt. Basel bildete seit dem 18. Jahrhundert ein Zentrum der Seidenbandindustrie und der Seidenverarbeitung. Insofern lag es nahe, dass sich auch jüdische Kaufleute in diesem Bereich engagierten. Daneben waren sie im Handel mit Wolle, Lederwaren, Nahrungsmitteln und Wein vertreten. Zunehmend wurden auch entsprechende Geschäfte eröffnet. Die Seidenindustrie verlor allmählich an Bedeutung. An deren Stelle entfalteten sich neue Industriezweige, insbesondere wuchsen das Baugewerbe und der Dienstleistungssektor. 32 Dazu grundlegend Philipp Sarasin: Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft. Basel 1846–1914. 2. Aufl. Göttingen 1997, speziell zur Bevölkerungsentwicklung S. 29–48; Regina Wecker: Zwischen Ökonomie und Ideologie. Arbeit im Lebenszusammenhang von Frauen im Kanton Basel-Stadt 1870–1910. Zürich 1997. 33 Urs Draeger: Die Israelitische Gemeinde Basel 1880–1933. Soziale Struktur, Organisation und Konflikte einer Einheitsgemeinde. Unveröffentl. Lizentiatsarbeit, Univ. Fribourg 2001, S. 21–24, 47–50. Die Statuten der IGB finden sich in: StABS, IGB-REGa A 1.2, die Aufnahmegesuche – leider nur von 1911 bis 1931 – ebd., A 2.2. Urs Draeger sollte ursprünglich auch einen Beitrag für diesen Band liefern, konnte ihn aber wegen anderer beruflicher Ausrichtung nicht fertig stellen. Ich danke ihm dafür, dass er mir seine Lizentiatsarbeit zur Verfügung gestellt hat. Sie ist auch für die folgenden Ausführungen grundsätzlich heranzuziehen. 34 Darüber arbeitet am Basler Institut für Jüdische Studien Ruth Heinrichs. Bedauerlicherweise war es ihr aus zeitlichen Gründen nicht möglich, einen Beitrag für diesen Band zu verfassen. Eindrucksvolle Erinnerungen an die Zuwanderungen und das Zusammenleben in Basel hat Ralph Weill verfasst: Vom Schabbesgoi zur Schaltuhr. Eine jüdische Familiengeschichte über sechs Generationen im Dreiland am Hochrhein. Zürich 2004.

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Dies kam der traditionellen beruflichen Orientierung der Juden entgegen, da sie jahrhundertelang fast ausschliesslich im Handel oder Geldverleih hatten tätig sein dürfen. Hier war auch am leichtesten das Arbeitsverbot am Schabbat einzuhalten. Vor allem nach der Jahrhundertwende nahm dann die Zahl der Juden in freien Berufen mit akademischer Ausbildung zu. Wechselstuben wurden zu Privatbanken umgewandelt, die teilweise gesamtschweizerische Bedeutung erlangten. Die Ostjuden waren hingegen zunächst vorwiegend im Kleinhandel und Handwerk tätig.35 Genauere Angaben lassen sich über die Berufe der Mitglieder der Israelitischen Gemeinde Basel machen. 1891 wurden 222 Erwerbstätige in der Gemeinde registriert, 1911 waren es 347. Die Zahl der Fabrikanten stieg in dieser Periode von 7,2 auf 10,4 Prozent, die der Handwerker fiel von 7,2 auf 4,9 Prozent. Handwerker arbeiteten im übrigen fast vollständig in den Gewerben, die für die Einhaltung der Religionsgesetze wichtig waren: Metzger, Bäcker und Schneider. 80,2, dann 77,5 Prozent der Erwerbstätigen waren in Handel und Banken beschäftigt. Davon betätigten sich die meisten – 130, später 196 Personen – als Kaufleute überwiegend in der Textil- sowie in der Lebensmittelbranche. Als Vieh- oder Pferdehändler wurden 1891 24 Juden aufgeführt, 1911 32. In den freien Berufen – namentlich Ärzte, Apotheker, Optiker und Rechtsanwälte – vergrösserte sich der Anteil von 2,3 auf 3,2 Prozent. Der Rest verteilte sich auf kleinere Bereiche. Nach dem Ersten Weltkrieg setzten sich diese Tendenzen fort. Grundsätzlich unterschied sich die Berufsstruktur nicht nach den jeweiligen Herkunftsgebieten der jüdischen Zuwanderer.36 Auf dieser Grundlage gestaltete sich die Finanzkraft der Gemeinde günstig. 1891 ging dies im wesentlichen auf ein Drittel der Mitglieder zurück, die den höheren Steuerklassen zugeordnet waren, während zwei Drittel eher niedrige Steuern zahlten. 1911 hatte sich daran nichts entscheidend verändert, die Kluft zwischen Spitzenverdienern und Angehörigen unterer Einkommensstufen scheint sich allerdings vertieft zu haben. Im Vergleich mit der Gesamtbe35 Insgesamt Nordemann: Geschichte, S. 61–63; Nadia Guth Biasini: Die Israelitische Gemeinde in Basel. In: Der Erste Zionistenkongress, S. 181–184; dies.: Synagoge, S. 49–51. Der 1910 erreichte Umfang der jüdischen Bevölkerung Basels erwies sich als recht stabil. 1920 lebten 2’516 Jüdinnen und Juden in Basel (1,8 %), 1930 2’570 (1,7 %), 1941 2’854 (1,7 %) und 1950 2‘604 (1,3 %): Nordemann: Geschichte, S. 63. Erst seitdem geht die Zahl zurück (vgl. den Beitrag von Simon Erlanger in diesem Band). Zu den elsässischen Juden und ihrer Migration vgl. Daniel Gerson: Zwischen Selbstbehauptung und Assimilation: Die elsässischen Juden im 19. Jahrhundert. In: Juden im Elsass, S. 9–13. Zu den Ostjuden vgl. den Beitrag von Patrick Kury in diesem Band. Zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung s. wieder Sarasin: Stadt der Bürger; Wecker: Ökonomie. 36 Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 34–46.

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völkerung Basels waren 1890 bei den jüdischen Einwohnern die unteren Einkommen schwächer und die mittleren bis oberen unter den IGB-Mitgliedern stärker vertreten. 1910 trat diese Tendenz noch schärfer hervor. Der Wohlstand der Gemeindemitglieder hatte sich offenbar schneller vermehrt als derjenige der Gesamtbevölkerung. Wahrscheinlich wirkte sich dabei der Aufschwung des Dienstleistungssektors aus. 37 Mit dem Anwachsen der Israelitischen Gemeinde wurde es notwendig, sich differenzierter zu organisieren. Entsprechend den Aufgaben bildeten sich, 1893 erstmals statuarisch festgelegt, Kommissionen für das Schulwesen, die Armenpflege, das Begräbniswesen sowie den Unterhalt der Gebäude. Später kam die Schächt- und Fleischkommission hinzu.38 Geleitet wurde die IGB von einem durch die Gemeindeversammlung in dreijährigem Rhythmus gewählten Vorstand. Dieser führte die laufenden Geschäfte, kontrollierte den Haushalt sowie die Gemeindeangestellten und vertrat – in der Regel über den Präsidenten – die Gemeinde nach aussen. Während der Aufschwungphase stand Samuel Dreyfus-Neumann 30 Jahre, von 1866 bis 1896, an der Spitze der Gemeinde, sein Neffe Jules Dreyfus-Brodsky repräsentierte sie später ebenso lange, von 1906 bis 1936. Samuels Vater Isaac Dreyfus (1784–1845) war 1812 aus dem elsässischen Sierenz nach Basel gekommen und hatte 1813 ein Geschäft gegründet, aus dem sich die bedeutende und bis heute bestehende Privatbank Dreyfus entwickelte.39 Der Rabbiner gehörte nicht dem Vorstand an. Er war für die Lehre und die Auslegung der Religionsgesetze zuständig, leitete die Religionsschule und unterrichtete auch selbst. Gewählt wurde er von der Gemeindeversammlung, die ihm oft nur Verträge für eine verhältnismässig kurze Laufzeit zubilligte, deren Verlängerung von seiner Kooperationsbereitschaft abhängig gemacht wurde. Bis 1883 hatte der Rabbiner von Hegenheim die Basler Gemeinde mitbetreut. Zuletzt war dies Moïse Nordmann gewesen.40 Jetzt entschloss sich die Gemeinde, einen eigenen Rabbiner anzustellen. Wie den Ausschreibungen und Briefen zu entnehmen ist, suchte sie einen streng religiösen Gelehrten, der kein Fanatiker, hingegen ein guter Redner sein sollte. Basel verstand sich als »konservative Einheitsgemeinde«. Ein Grossteil der Mitglieder orientierte sich an der traditionellen Orthodoxie, doch es gab nach und nach auch reformerisch eingestellte, »liberale« Juden, die den Gottesdienst christlichen Formen annähern wollten. 37 38 39 40

Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 50–53, 54–60. Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 65–66. Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 71–76; vgl. Nordemann: Geschichte, S. 55–56. Vgl. Paula E. Hyman: The Emancipation of the Jews of Alsace. Acculturation and Tradition in the Nineteenth Century. New Haven, London 1991, S. 74–75; Nordemann: Geschichte, S. 72–75.

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Das bezog sich vor allem darauf, ihn feierlich und würdevoll zu gestalten sowie in deutscher Sprache zu predigen. Um die Jahrhundertwende spitzten sich die Konflikte fast bis zur Spaltung zu. Die gegnerischen Gruppen organisierten sich in der orthodoxen »Friedenspartei« und dem liberalen »Verein freisinniger Israeliten Basels«. Wesentliche Änderungen erfolgten jedoch nicht, die allgemeine Einführung deutschsprachiger Gebete etwa wurde abgelehnt.41 Keine Rolle spielten diese Probleme beim ersten Versuch einer Rabbinerwahl 1883. 56 Bewerber hatten sich auf die Ausschreibung gemeldet, vier, die alle zur orthodoxen Richtung gehörten, wurden zu Probepredigten eingeladen. In der Gemeinde waren die Meinungen geteilt zwischen der Befürwortung eines elsässischen und eines deutschen Kandidaten. Als keiner der beiden im ersten Wahlgang das absolute Mehr erhielt, sagte der Vorstand das weitere Wahlverfahren ab, um zusätzliche Spannungen zu vermeiden. Zwei Jahre später fand er in Dr. Arthur Cohn (1862–1926) einen Kandidaten, dessen Wahl die gesamte Gemeinde zustimmte. Cohn verstand sich trotz seiner orthodoxen Überzeugung als Rabbiner einer Einheitsgemeinde und trat immer wieder nachdrücklich für einen Ausgleich der verschiedenen Strömungen ein. Allerdings schuf er sich mit seiner entschieden orthodoxen Haltung nicht nur Freunde.42 Cohn hatte das Berliner Rabbinerseminar von Esriel Hildesheimer (1820–1899) besucht, das sich der Erneuerung der jüdischen Orthodoxie durch eine Verbindung strengster Gesetzestreue mit den Erkenntnissen weltlicher Wissenschaften widmete. Folgerichtig hatte er noch Geschichte und Philologie studiert und 1884 mit Auszeichnung bei Theodor Mommsen promoviert. Als Anhänger der »neoorthodoxen« Richtung43 lehnte er jegliche reformjüdischen Bestrebungen ab und geriet deshalb immer wieder in Konflikt mit Gemeindemitgliedern. Abgesehen von Fragen der Liturgie bezog sich dies auch auf das Verhältnis nach aussen. So bat Cohn 1917 die Behörden, jüdische Soldaten für das Pessachfest von ihrem Dienst zu beurlauben. Der Vorstand, den der Rabbiner gar nicht unterrichtet hatte, war damit nicht einverstanden; er sah keine Probleme beim Militärdienst von Juden. 1907 gründete Cohn den »Schweizer Zentralverein zur Förderung des gesetzestreuen Judentums«, und 1912 hielt er die Eröffnungsrede am ersten Kongress der »Agudas Jisroel« (»Agudat Israel«, Bund Israels), der internationalen Vereinigung orthodoxer Juden. Sie verstand sich als Gegenorganisation zur 41 Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 71–72, 76, 82–88, 92, 95–99. 42 StABS, IGB-REGa C 2.3 (Rabbinat Cohn), B 1.3 (Protokolle der Gemeindeversammlungen), B 2.4 (Protokolle der Vorstandssitzungen); Der Israelit 24 (1883) S. 621, 26 (1885) S. 511; Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 106–110. 43 Dazu Mordechai Breuer: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Frankfurt a. M. 1986.

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zionistischen Bewegung, die Cohn an deren ersten Kongress 1897 in Basel noch unterstützt hatte.44 Nach der Zunahme der jüdischen Bevölkerung und der rechtlichen Sicherung konnte die Gemeinde an den Bau einer grösseren Synagoge denken. An der Ecke Leimen- und Eulerstrasse liess sie nun 1867/68 eine repräsentative Synagoge errichten, die 1892 mit einem Ausbau ihre heutige zweikupplige Gestalt erhielt. Der Kanton beteiligte sich, trotz Befürwortung des Regierungsrates, nicht an den Kosten, da er nur Beiträge an »die Kultusbedürfnisse der reformierten und der katholischen Landeskirche« bestreiten wollte.45 Die Architekten – zunächst Hermann Gauss, auf den dann Paul Reber folgte – wählten eine Verbindung von romanischen Stilelementen in der Fassade mit orientalisch-maurischen in der Kuppel und im Innern. Das galt in der damaligen Zeit als Ausdruck jüdischer Identität: Die alte Heimat war nicht vergessen, aber man suchte doch die Integration in die christliche Gesellschaft. Die Errichtung einer Galerie für eine Orgel – die allerdings nie angeschafft wurde – und der 1900 von den Gemeindemitgliedern gefasste Beschluss, den Chorgesang und eine Kanzel für die in deutscher Sprache zu haltende Predigt einzuführen, lassen Einflüsse des Reformjudentums erkennen, das sich stärker auf die nichtjüdische Umwelt beziehen wollte.46 Leidenschaftlich gegen das Orgelspiel wandte sich Arthur Cohn. Er erreichte schliesslich nach heftigen, emotional geführten Auseinandersetzungen, dass anlässlich von baulichen Veränderungen auf dem Gemeindeareal 1910 die Galerie wieder abgerissen wurde.47 Das Recht auf einen eigenen Friedhof gewährte die Stadt der Israelitischen Gemeinde nach mehreren vergeblichen Gesuchen erst 1902, an der heutigen Theodor-Herzl-Strasse. Vorher mussten die Toten in Hegenheim bestattet werden.48 An der Friedhof-Frage hatten sich erneut die Konflikte innerhalb der Gemeinde entzündet. Mehrfach traten Gemeindemitglieder dafür ein, einen Friedhof auf Basler Boden – in der Stadt oder in unmittelbarer Umgebung – zu suchen. Bemühungen, ein entsprechendes Gelände in Binningen oder Bott44 Nadia Guth Biasini: Arthur Cohn, der Rabbiner der Basler Gemeinde. In: Der Erste Zionistenkongress, S. 168; Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 77–82. Vgl. Arthur Cohn: Von Israels Lehre und Leben. Reden und Aufsätze. Basel 1928. Zur Einstellung Cohns gegenüber dem Zionismus vgl. den Beitrag von Patrick Kury in diesem Band. 45 So in einem Beschluss des Grossen Rates vom 2.12.1889: StABS, Kirchenakten Q1, 21.1.1890. 46 Dazu ausführlich Guth: Synagoge; dies.: Israelitische Gemeinde; Zum Zentenarium der Basler Synagoge. 1868–1968. Eine Festschrift. Hg. von der Israelitischen Gemeinde Basel. Basel 1968. 47 Nordemann: Geschichte, S. 86; Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 90–95. 48 Nordemann: Geschichte, S. 102–112. Vgl. Gil Hüttenmeister, Léa Rogg: Der jüdische Friedhof in Hegenheim. Heidelberg usw., Basel 2004

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mingen zu erwerben, waren gescheitert.49 Als es zu Differenzen mit der Hegenheimer Friedhofsverwaltung kam, weil diese nach Meinung der IGB zu hohe Gebühren verlangte, verstärkten sich die Bemühungen um einen Friedhof in Basel. Im Dezember 1901 griff Achilles Nordmann, einer der Liberalen im Gemeindevorstand und aus Hegenheim stammend, den seit 1896 amtierenden Präsidenten Isaak Dreyfus-Strauss öffentlich scharf an: Er sei persönlich verantwortlich für das Zerwürfnis zwischen den Flügeln in der Gemeinde, wie es sich in der Friedhof-Frage äussere. Dies führte zu einer solchen Verschärfung der Auseinandersetzungen, dass die orthodoxen Vorstandsmitglieder zurücktraten und auch bei der Ersatzwahl im März 1902 nicht kandidierten. Dadurch wurde der neue Vorstand ausschliesslich von Kandidaten des Vereins freisinniger Israeliten gestellt, die Moritz Guggenheim zum Präsidenten wählten. Nach weiteren Turbulenzen beruhigte sich die Stimmung allmählich. Neben dem ausgleichend wirkenden Guggenheim und vielen anderen war dafür der Vizepräsident Salomon Günzburger-Hirsch verantwortlich, der 1903 auch die Präsidentschaft übernahm und 1905 zugunsten von Jules Dreyfus-Brodsky zurücktrat.50 Ihm gelang es, dass sich die verschiedenen Gruppen innerhalb der Gemeinde wieder annäherten. Die organisierten Liberalen verloren mehr und mehr an Anhang und Einfluss. 1914 lehnten schliesslich die beiden libralen Vertreter im Vorstand ihre Wiederwahl ab, da sie keine Möglichkeit sahen, Reformen in ihrem Sinn durchzusetzen. Auf der anderen Seite bemühte sich der Vorstand, die liberalen Gemeindemitglieder nicht vor den Kopf zu stossen.51 Aufgrund der Zuwanderung entwickelte sich das Vereinsleben rege. Zu den bestehenden Zusammenschlüssen traten der 1876 gegründete Synagogenchor, Theater- und Sportvereine, der seit 1866 bestehende Wohltätigkeitsverein der israelitischen Jugend »Espérance«, der 1857 gebildete und ebenfalls wohltätige Männerverein »Chevroh Dowor Tow«, die 1880 entstandene »Union Israélite Chevroh Ez Chajim« (Gesellschaft »Baum des Lebens»), eine akademische Verbindung, zionistische Gruppierungen und Jugendorganisationen. Rabbiner Cohn rief 1895 den Verein »Schomre Thora« ins Leben, der auch das 1899 eingerichtete Lehrhaus (»Bet Hamidrasch») verwaltete, an dem Cohn unterrichtete. Zusätzlich zur Armenkasse standen den Gemeindemitgliedern zahlreiche Einrichtungen zur Verfügung: ein Waisenhaus, ein kleines Spital, die Israelitische Leihkasse, verschiedene Fürsorgeinstitutionen sowie eine 1906 angeregte, aber 49 Nordemann: Geschichte, S. 107–109. Im Binninger Archiv harren noch einschlägige Akten der Auswertung. 50 Günzburger-Hirsch gehörte eine für die Versorgung mit koscherem Fleisch wichtige Importschlachtvieh-Firma: Kaufmann: Viehhändler, S. 84–86. 51 Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 100–104.

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erst später eingerichtete Bibliothek.52 Weiter bestand auch die Religionsschule. Die Namen der Lehrer kennen wir aus den Anfängen der Gemeinde, dann wieder seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Aus einer Einladung zur Öffentlichen Schulprüfung am 2. April 1887 geht hervor, dass die Kinder ihr Können in folgenden Gebieten zeigen mussten: Hebräisch lesen, Gebete und Pentateuch übersetzen, Grammatik, Biblische Geschichte und Religionslehre. Für 1870 ist überliefert, dass auch gelehrt wurde, Jüdisch-Deutsch zu schreiben und zu lesen.53 Die steigende Zahl jüdischer Schülerinnen und Schüler beschäftigte im übrigen auch das staatliche Schulwesen. Der Vorsteher des baselstädtischen Erziehungsdepartementes erkundigte sich in einem Schreiben an den Grossherzoglichen Oberschulrat in Karlsruhe vom 14. Juni 1884 nach dem »Verhalten der Schule gegenüber den Israeliten und ihren Feier- und Festtagen«. Seitdem die israelitische Bevölkerung zahlreicher geworden sei, werde dies in Basel zum Problem. Bisher habe man die Israeliten an den Samstagen »vom Schreiben und Zeichnen dispensiert und am langen Tag [gemeint ist Jom Kippur, der Tag der Sühne und Versöhnung] sowie am Neujahrstag« ganz vom Schulbesuch befreit. Jetzt wünschten die Vorsteher der Gemeinde die Schulfreiheit auszudehnen: »für je die zwei ersten und die zwei letzten Tage des Passah und des Laubhüttenfestes, sowie für zwei Pfingstfeiertage, zusammen also zwölf besondere Feiertage.« Der Erziehungsdirektor wollte nun wissen, womit sich die Israeliten in Baden, »welchem nicht wenige der hier niedergelassenen Familien entstammen, zufrieden geben«. Im weiteren Verlauf kam die Basler Regierung der jüdischen Bevölkerung jedenfalls entgegen. Für 1929 hat sich eine Verordnung erhalten, nach der die »israelitischen Schüler« einen Tag an »Passah (Ostern)«, einen Tag am »Wochenfest (Pfingsten)«, zwei Tage am Neujahrsfest, einen Tag am Versöhnungsfest und zwei Tage am Laubhüttenfest von der Schule befreit wurden. Zusätzlich waren sie an drei Tagen während Pessach und an einem Tag wäh-

52 Nordemann: Geschichte, S. 88, 94–96, 99–102, 112–118; Guth: 175 Jahre, S. 159–161; Draeger: Israelitische Gemeinde, S. 70–71, 79. Zu den Vereinen sind die einschlägigen Festschriften heranzuziehen. Der Verein »Espérance« wurde zunächst als Beerdigungsgesellschaft von jüngeren Männern elsässischer Herkunft gegründet, entfaltete dann aber auch gesellige Aktivitäten. Er spielte in den 1960er Jahren eine wichtige Rolle bei der Gründung des Jüdischen Museums der Schweiz. Vgl. Heidi Brunnschweiler Spoendlin: »Gebt kund von eurem Volkstum, vom Schatz eurer Religion, eurer Überlieferung!« Zur Sammlungs- und Museumsgeschichte des Jüdischen Museums der Schweiz in Basel. In: BZ 103 (2003) S. 149–182, hier S. 171–172, bes. Anm. 51. 53 StABS, Erziehung LL 29; Nordemann: Geschichte, S. 97–98; Guth: 175 Jahre, S. 161– 162.

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rend des Wochenfestes Schawuot »vom Schreiben, Zeichnen und Handarbeiten dispensiert«.54 Blickt man auf das 19. Jahrhundert zurück, so zeigt sich, dass die Entwicklung der jüdischen Gemeinde seit ihrer Gründung 1805 keineswegs geradlinig verlief. Das Leben der Juden gestaltete sich zeitweise ausserordentlich schwierig. Bis zur Jahrhundertmitte warfen ihnen die Behörden immer wieder Steine in den Weg. Danach erfolgte ein rascher Aufschwung, und auch die Organisation der Gemeinde festigte sich bald. Immer wieder erschütterten jedoch innere Konflikte die Gemeinschaft, und judenfeindliche Bestrebungen verschwanden keineswegs.

54 Generallandesarchiv Karlsruhe, 235 Nr. 19717 (Hinweis von Günther Mohr). Der badische Oberschulrat übersandte am 21.6.1884 den einschlägigen Erlass vom 10.7.1877. Den Folgerungen in Basel ist noch nachzugehen. Zu 1929: StABS, Räte und Beamte U 2,3 (Hinweis von Hermann Wichers).

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2011. 177 S. 18 s/w-Abb. Br.

2001. 196 S. 10 s/w-Abb. Br.

ISBN 978-3-412-20802-8

ISBN 978-3-412-10001-8 Bd. 9  |  Frank M. Schuster Zwischen allen Fronten Osteuropäische Juden während des Ersten Welt­k rieges (1914–1919) 2004. 562 S. 16 s/w-Abb. auf 16 Taf. Br.

ST550

ISBN 978-3-412-13704-5

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Heiko Haumann

Hermann Diamanski (1910–1976): Überleben in der K atastrophe Eine deutsche Geschichte zwischen Auschwitz und Sta atssicherheitsdienst

Hermann Diamanskis Leben von 1910 bis 1976 spiegelt deutsche Geschichte im ­ 20. Jahrhundert. Keine »große Persönlichkeit«, sondern ein »einfacher Mann« steht im Mittelpunkt des spannend erzählten Buches. Diamanski, Seemann und Kommunist, ­betätigte sich illegal gegen den Nationalsozialismus und kämpfte im Spanischen ­Bürgerkrieg. Im »Zigeuner­lager« von Auschwitz war er Lagerältester, im Januar 1945 musste er am Todesmarsch nach ­Buchenwald teilnehmen. Nach dem Krieg machte er Karriere in Ostdeutschland, kam jedoch bald in Konflikt mit dem dortigen Apparat und geriet in die Mühlen des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Er flüchtete nach Westdeutschland und arbeitete kurzzeitig für den US-Geheimdienst. Im Auschwitz-Prozess sagte er als Zeuge aus, auf eine Entschädigung als Verfolgter des Nazi-­Regimes musste er lange warten. Auf ungewöhnliche Weise gewährt die Biographie Einblicke in Brennpunkte der ­Geschichte und in die Verflochtenheit von privatem Leben und welt­ politischen Geschehnissen. Aus ­Diamanskis Perspektive erschließen wir seine ­L ebenswelt. Wir nehmen teil an der ­Aufarbeitung der Vergangenheit und ­treten ein in den Dialog mit Akteuren der Geschichte. 2011. 443 S. 56 s/w-Abb. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20787-8

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HEIKO HAUMANN

SCHICKSALE MENSCHEN IN DER GESCHICHTE. EIN LESEBUCH

Wenn der Mensch im Mittelpunkt geschichtswissenschaftlicher Forschung steht, werden erstaunliche Zusammenhänge sichtbar. Zugleich lässt sich auf diese Weise Geschichte spannend erzählen, wie dieses Lesebuch deutlich macht. Heiko Haumann berichtet von Menschen in verschiedenen Regionen Deutschlands, in Russland und in der Sowjetunion, in Polen und in der Schweiz. Sie machen und erleiden Geschichte. Immer nimmt der Verfasser dabei seine Leserinnen und Leser mit auf anregende Entdeckungsreisen in unterschiedliche Lebenswelten, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Im Nachvollzug des Lebens bekannter Persönlichkeiten wie »ganz normaler Menschen« können sich die Leserinnen und Leser besonders eindringlich mit Geschichte auseinandersetzen. 2012. 468 S. 42 S/W ABB. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-20933-9

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