Persönlichkeitsstörungen: Psychotherapie und Pharmakotherapie [1 ed.] 9783896447883, 9783896730121

In unserer bisherigen psychiatrischen Tradition sind Persönlichkeitsstörungen nur wenig Gegenstand von Forschung und The

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German Pages 146 [145] Year 1997

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Persönlichkeitsstörungen: Psychotherapie und Pharmakotherapie [1 ed.]
 9783896447883, 9783896730121

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Peter Hartwich ♦ Steffen Haas Konrad Maurer ♦ Burkhard Pflug (Hrsg.)

Persönlichkeitsstörungen: Psychotherapie und Pharmakotherapie Mit Beiträgen von: Steffen Haas, Peter Hartwich, Jutta Herrlich, Konrad Maurer, Stavros Mentzos, Burkhard Pflug, Christa Rohde-Dachser, Henning Saß, Lilo Süllwold

Verlag Wissenschaft & Praxis

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Persönlichkeitsstörungen: Psychotherapie und Pharmakotherapie : hrsg. von P. Hartwich ... Mit Beiträgen von: St. Haas ... - Sternenfels ; Berlin : Verl. Wiss, und Praxis, 1997 ISBN 3-89673-012-6 NE: Hartwich, Peter [Hrsg.]; Haas, Steffen [Mitverfasser];

ISBN 3-89673-012-6 © Verlag Wissenschaft & Praxis

Dr. Brauner GmbH 1997 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

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Printed in Germany

Inhalt Autoren............................................................................................................... 8 Peter Hartwich

Einführung..........................................................................................................9 Henning Sab ♦ Sabine Herpertz Isabel Houben ♦ Eckhard-Michael Steinmeyer

Zur Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen...............................................11 Einleitung.................................................................................................... 11 Entwicklung von Persönlichkeitsmodellen...............................................12 Die Persönlichkeitsstörungen in den modernen Klassifikationssystemen.............................................................................14 Die Aachener Merkmalsliste für Persönlichkeitsstörungen (AMPS)......19 Analyse der Ähnlichkeitsbeziehungen....................................................21 Vergleich von kategorialen mit dimensionalen Persönlichkeits­ konzepten .................................................................................................. 25 Resümee...................................................................................................... 27 Literatur....................................................................................................... 28 Stavros Mentzos

Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen............................................. 31 Versuch einer psychodynamischen Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen.................................................................... 34 Literatur....................................................................................................... 44 Peter Hartwich

Kreative bildnerische Therapien bei Persönlichkeitsstörungen.................. 45 Kreative Therapien im Verbund mit anderen Behandlungsverfahren ...45 Patienten, die uns herausfordern..............................................................46 Ziele und Grenzen unserer Behandlung..................................................47 Die Ich-Schwäche der Persönlichkeitsstörung liegt zwischen Psychose und Neurose.................................................................... 47 Warum Psychotherapie über ein Medium (dasDritte)?........................... 49 Das kreative Gestalten bietet Schutz und Gefühlsaktivierung zugleich..................................................................... 50 Fallbeispiele................................................................................................51 Der Aspekt des Leidens: Annahme und Aufnahmein sich selbst........... 68 Literatur....................................................................................................... 69

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Inhalt

Christa Rohde-Dachser

Praktische Behandlungsaspekte in der Therapie von Borderline-Störungen.............................................................................. 71 Symptome, die auf eine Borderline-Störung hinweisen.........................71 Die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD 10 (1991) und DSM lll-R (1987) bzw. DSM IV (1994)................... 72 Die „emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus" (F60.31) nach ICD 10 (1991).............................. 72 Die „Borderline-Persönlichkeitsstörung" (301.83) nach DSM lll-R (1987)...................................................................................73 Die „Borderline-Persönlichkeitsstörung" (301.83) nach DSM IV (1994)......................................................................................74 Flucht vor dem Alleinsein, Spaltung und Dissoziation als Abwehr traumatischer Erfahrungen...............................................75 Grundzüge der Borderline-Therapie........................................................ 76 Der Eingangskontrakt........................................................................... 77 Konfrontation mit den pathologischen Abwehrmechanismen des Patienten im Hier und Jetzt.......................................................... 81 Umgang mit Teilobjektbeziehungen..................................................83 Der Umgang mit der Aggression des Patienten................................. 84 Der Umgang mit der Gegenübertragung........................................... 86 Literatur....................................................................................................... 87 Jutta Herrlich ♦ Burkhard Pflug

Soziale Phobien............................................................................................... 89 Was unterscheidet eine soziale Phobie, also eine Störung von Krankheitswert, von solchen offenbar weitverbreiteten Aspekten sozialer Ängste?..........................................................................................90 Gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die die Entwicklung einer sozialen Phobie begünstigen?......................................................... 92 Was ergibt sich aus dem bisher Gesagten für die Therapie?.................. 94 Zusammenfassung......................................................................................98 Literatur....................................................................................................... 98 LiloSüllwold

Kognitive Therapie von Persönlichkeitsstörungen....................................... 99 Literatur..................................................................................................... 106 Steffen Haas

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen....................................... 107 Einleitung.................................................................................................. 107 Biologische Grundlagen bzw. biologisch mitverursachte Störungen im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen............................................ 108

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Inhalt

Konstitutionelle Faktoren bei Persönlichkeitsstörungen................ 109 Psychobiologie der kognitiv-wahrnehmenden Organisation........ 110 Psychobiologie von Impulsivität und Aggressionen....................... 113 Psychobiologie der Affektivität bzw. der Affektinstabilität............ 115 Psychobiologie der Angst sowie der Hemmung............................ 116 Grundsätzliche und methodische Probleme der Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen................................................................. 118 Empfehlungen zum Einsatz von Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen.................................................................. 119 Der Einsatz von verschiedenen Psychopharmakagruppen im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen............................................ 121 Neuroleptika....................................................................................... 121 Antidepressiva..................................................... 123 Tranquilizer......................................................................................... 125 Antikonvulsiva....................................................................................126 Lithium.................................................................................................127 Opiatantagonisten.............................................................................. 127 Antiparkinsonmittel............................................................................ 127 Propranol............................................................................................ 127 Zusammenfassung....................................................................................128 Literatur..................................................................................................... 129 Konrad Maurer

Persönlichkeitsstörungen im Alter............................................................... 131 Literatur..................................................................................................... 141 Peter Hartwich ♦ Burkhard Pflug

Synopsis...........................................................................................................143

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Autoren Haas, Steffen, Dr. med., Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Kranken­ hauses Eichberg, Klosterstr. 4, 65346 Eltville a. Rh. Hartwich, Peter, Prof. Dr. med., Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Städt. Kliniken, Gotenstr. 6-8, 65907 Frankfurt a. M.Höchst

Herrlich, Jutta, Dr., Dipl.-Psych., Klinik für Psychiatrie und Psychothera­ pie II, Klinikum der Universität Frankfurt a. M., Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. Maurer, Konrad, Prof. Dr. med., Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psy­ chotherapie I des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frank­ furt a. M., Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M.

Mentzos, Stavros, Prof. Dr. med. em., Leiter der Klinik für Psychotherapie

und Psychosomatik des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frankfurt a. M., Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. Pflug, Burkhard, Prof. Dr. med., Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psy­ chotherapie II des Zentrums der Psychiatrie, Klinikum der Universität Frank­ furt a. M., Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M. Rohde-Dachser, Christa, Prof. Dr. med., Leiterin des Instituts für Psycho­ analyse im Fachbereich Psychologie der Universität Frankfurt a. M., Senckenberganlage 15, 60054 Frankfurt a. M.

SAß, Henning, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psy­ chotherapie der Medizinischen Fakultät der RWTH Aachen, Pauwelsstr., 52057 Aachen Süllwold, Lilo, Prof. Dr. med., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II,

Klinikum der Universität Frankfurt a. M., Heinrich-Hoffmann-Str. 10, 60528 Frankfurt a. M.

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Peter Hartwich

Einführung In der psychiatrischen und psychotherapeutischen Tradition sind die Per­ sönlichkeitsstörungen weitaus weniger umfangreich und präzis bearbeitet worden als andere Krankheitsbilder, beispielsweise schizophrene und affek­ tive Störungen. Die wissenschaftliche und klinische Behandlung dieses Themas ist erstaunlicherweise wenig intensiv betrieben worden, ganz im Kontrast zu der tatsächlichen Bedeutung. Somit ist es ein Anliegen unseres zweiten Frankfurter Psychiatrie-Sympo­ sions, diese wichtige Thematik in unseren Fachbereichen aufzugreifen und dabei namhafte Wissenschaftler und Kliniker zu Worte kommen zu lassen. Das große Interesse und vor allem das Neue an diesen Beiträgen hat zur vorliegenden Buchveröffentlichung geführt. Hiermit wird dem Anliegen der Fachwelt entsprochen, ein Buch vorzulegen, in dem unterschiedliche dia­ gnostische und therapeutische Zugangswege zur klinisch relevanten Per­ sönlichkeitsstörung dargestellt werden.

Heute kann der Anspruch einer sorgfältigen Definition und Klassifikation besser erfüllt werden als in früheren Zeiten, da uns heute statistische Ver­ fahren und ökonomische Rechenschritte mit Hilfe von Computern zur Ver­ fügung stehen. Das adäquate Vorgehen ist derzeit das clusteranalytische, da hiermit am besten solche psychopathologischen Merkmale gruppiert und getrennt werden können, die sich in bestimmten Persönlichkeitstypen und deren Störungen vergesellschaften. Damit wird es möglich, auf der Grund­ lage einer sorgfältig betriebenen und kundigen Psychopathologie das Funda­ menteinerverläßlichen Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen zu bauen.

Die Basis einer gut operationalisierten Diagnostik schafft die Voraussetzung zum systematischen therapeutischen Handeln. In früheren Zeiten galten die Persönlichkeitsstörungen, die wir Psychopathien, abnorme Entwicklungen, Soziopathien usw. nannten, als kaum behandelbar. Somit war für Menschen mit solchen Störungsmustern vielfach bis heute noch kein allzu großes the­ rapeutisches Engagement zu verzeichnen.

Vom psychodynamischen Zugang her wurden jedoch insbesondere in den letzten Jahreh wegweisende Ansätze vorgelegt. Das psychodynamische Ver­ ständnis und die modifizierte psychoanalytische Behandlung von BorderlinePersönlichkeitsstörungen haben einen wesentlichen Fortschritt eingeleitet. Zu anderen Persönlichkeitsstörungen wurden ebenfalls psychodynamische Modelle entwickelt und psychotherapeutische Behandlungsstrategien daraus abgeleitet. 9

Einführung

Eine Reihe der lerntheoretisch fundierten Therapieverfahren wurden inzwi­ schen als Verhaltenstherapie oder kognitive Therapie auch auf Persönlich­ keitsstörungen übertragen. Es entstehen in diesem Feld präziser definierte und auf die unterschiedlichen Diagnosegruppen der Persönlichkeitsstörun­ gen klarer zugeordnete Behandlungsstrategien. Die Pharmakotherapie wurde weiterentwickelt, womit Abmilderungen von Symptomen möglich wurden und viele Menschen, die unter ihren Persön­ lichkeitsstörungen leiden, Hilfe erfahren. Oftmals können Psychopharmaka den Zugang zu einer psychotherapeutischen Behandlung, ob tiefenpsycho­ logisch oder lerntheoretisch fundiert, verbessern oder manchmal erst mög­ lich machen. Ein wichtiges Feld sind die kreativen bildnerischen Therapieverfahren. Das Wecken und die Entfaltung von eigenen kreativen Aspekten und Kräften in der Psyche der Menschen mit Persönlichkeitsstörung schafft gesunde Ge­ gengewichte und die Auseinandersetzung mit dem Bildnerisch-Stofflichen stellt etwas konkret Faßbares und für Menschen mit Persönlichkeitsstörun­ gen besser Begreifbares dar als die vielen überwiegend auf sprachlichem Wege konzipierten Therapieverfahren.

All die genannten therapeutischen Zugangswege: psychodynamische, ver­ haltenstherapeutische, pharmakotherapeutische und kreativ bildnerische Therapieverfahren stellen heute wesentliche und auch neue Ansätze dar, um Menschen mit Persönlichkeitsstörungen therapeutische Hilfen zu ver­ mitteln. Das gilt nicht nur für junge Menschen und solche mittleren Lebens­ alters, sondern auch für ältere und betagte Menschen, deren Persönlich­ keitseigenschaften mit ihren psychopathologischen Ausformungen im Laufe ihrer Lebensgeschichte sich doch stärker zu wandeln scheinen, als es der herkömmlichen Ansicht über die Dauerhaftigkeit der gestörten Persönlich­ keitszüge entsprach.

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Henning Sab ♦ Sabine Herpertz ♦ Isabel Houben Eckhard-Michael Steinmeyer

Zur Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen * 1. Einleitung Obwohl Persönlichkeitsstörungen in Klinik und Praxis enorme Bedeutung haben, stellten sie bis in die achtziger Jahre hinein ein wissenschaftlich un­ terentwickeltes Gebiet dar. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß die Konzeptionen von Persönlichkeitsstörungen schon seit Anfang des letz­ ten Jahrhunderts vermischt waren mit moralisch wertenden Begriffen wie Minderwertigkeit, Gesellschaftsfeindlichkeit, Charakterdegeneration. Pinel (1809) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Beschäftigung mit abnor­ men Persönlichkeiten. Er versuchte, mit der „Manie sans delir" eine noso­ logische Entität herauszuarbeiten, bei der eine Beeinträchtigung der affekti­ ven Funktionen bei ungestörten Verstandeskräften vorliege. Verursacht sei dies auf der einen Seite durch Erziehungsmängel, auf der anderen Seite durch eine „perverse, zügellose Veranlagung". Die Annahme, daß Persön­ lichkeitsstörungen durch den gemeinsamen Einfluß von einerseits Erzie­ hung, Lebensumständen und intrapsychischer Entwicklungsgeschichte und andererseits endogener, durch Veranlagung vorgegebener Prädisposition, in bestimmten Situationen auf spezifische Art zu reagieren, entstehen, geht bis heute in die Konzepte zur Ätiologie von Persönlichkeitsstörungen ein. Die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungskonzepten hing immer auch mit der Beschreibung und Beurteilung gesellschaftlich abweichenden, auf soziale Schwierigkeiten stoßenden Verhaltens zusammen, was sich in kon­ notativen Begriffen wie Dissozialität, Soziopathie, Anethopathie, Psychopa­ thie zeigt. Auch die deutschsprachige Psychopathielehre war nicht frei von den sozialdarwinistischen Vorstellungen jener Zeit, die sich in der anglo­ amerikanischen „moral-insanity"-Lehre und der französischen Degenerati­ onslehre niederschlugen. So sprachen Koch (1893/1899) von „psycho­ pathischen Minderwertigkeiten" und Ziehen (1905) von konstitutioneller Degeneration. K. Schneider (1923) erkannte die Notwendigkeit soziolo­ gisch neutraler, psychopathologisch orientierter Beschreibungen abwei­ chender Persönlichkeiten. Er bezog auch einige nicht sozial störende Per­ sönlichkeitsstörungen oder - in damaliger Terminologie - Psychopathien in seine Konzeption ein und versuchte, in seiner Monographie über die psy­ * Modifizierte Fassung eines Beitrages in Gross G., Huber G., Morgner J. (Hrsg.): „Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung, Psychose". Schattauer, Stuttgart 1996

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Sab ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

chopathischen Persönlichkeiten einen wertneutralen Standpunkt einzu­ nehmen. Seine Typologie ging zurück auf die 1921 in Köln publizierte Stu­ die über Persönlichkeit und Schicksal eingeschriebener Prostituierter, steht also in deutlichem Bezug zu einer Gruppe, die im sozialen Verhalten von der allgemein gebilligten Norm abweicht (K. Schneider 1921), so daß auch hier das soziologische Kriterium des gesellschaftlichen Störens ein potentiell pejoratives Element darstellt. K. Schneider definierte in seiner Psychopathie­ lehre als abnorme Persönlichkeiten solche Menschen, die aufgrund ihrer Persönlichkeitseigenschaften von einer gedachten Norm abweichen. Psy­ chopathische Persönlichkeiten seien darüber hinaus Menschen, die an ih­ ren abnormen Persönlichkeitseigenschaften leiden oder unter deren Persön­ lichkeitseigenschaften die Gesellschaft leidet. In neuerer Diktion, die auch den Definitionen für Persönlichkeitsstörungen in den heutigen Diagnosesy­ stemen zugrundeliegt, sind Persönlichkeitsstörungen gekennzeichnet durch psychopathologische Auffälligkeiten, die zu subjektivem Leiden und/oder zu Einschränkungen der zwischenmenschlichen oder beruflichen Kompe­ tenz führen, aber z. T. auch durch dissoziales Verhalten, bei dem die Per­ son bewußt dauerhaft von sozialen Regeln abweicht, um bestimmte Ziele für sich zu erreichen, ohne daß sie unter diesem Verhalten sichtbar leidet.

2. Entwicklung von Persönlichkeitsmodellen Die Begriffe Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung werden auch heute noch im allgemeinen Sprachgebrauch wie in der Forschung sehr unter­ schiedlich verstanden. Im psychologischen Sinne bedeutet Persönlichkeit ein Bündel überdauernder Verhaltensdispositionen, die im Sinne von stabi­ len Eigenschaften (traits) dazu führen, daß der einzelne in bestimmten Si­ tuationen relativ spezifisch reagiert. Die Summe der Eigenschaften verlei­ hen der Person ihre Individualität über die Zeit hinweg und sind den situa­ tionsabhängigen Gefühlszuständen (states) übergeordnet. In das Bedeu­ tungsfeld von Persönlichkeit gehören die Begriffe Temperament und Cha­ rakter, wobei Temperament sich eher auf die vitale Antriebsseite und die Emotionalität bezieht, während Charakter die langfristigen Einstellungen, das Wertgefüge und die Normen umfaßt (vgl. Saß 1986). In Hinblick auf die strukturdynamische Konzeption von Janzarik (1959, 1969, 1988) lassen sich die verschiedenen Aspekte von Persönlichkeit in drei Bereiche diffe­ renzieren (vgl. Saß 1987): Die konstitutionell fundierten Temperamentsei­ genschaften, also im oben beschriebenen Sinne Emotionalität, Antrieb und Willen, bilden den dynamischen Aspekt der Persönlichkeit. Das überdau­ ernde Gefüge von Intentionen, Haltungen, Einstellungen zu sozialen Re­ geln, die das Denken von Personen bestimmen und das Handeln leiten, 12

Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

repräsentiert den strukturellen Bereich. Aus dem Zusammenwirken dieser beiden Aspekte ergibt sich der dritte Funktionsbereich von Persönlichkeit, bei dem es um die Handlungs- und Impulskontrolle, das Vermögen und die Bereitschaft zu Empathie, zu Beziehung und Bindung geht. In allen drei ge­ nannten Bereichen können Mängelverfassungen vorliegen. Die Komplexität des Persönlichkeitsbegriffs legt nahe, daß die Abgrenzung der psychiatrisch relevanten Persönlichkeitsstörungen von dem großen Be­ reich, in dem normale Persönlichkeit variiert, schwierig ist. Die Abwei­ chung des Persönlichkeitsmusters von der gedachten Norm kann sowohl die Zusammensetzung als auch den Ausprägungsgrad von Persönlichkeits­ zügen betreffen, wobei der Übergang zwischen Persönlichkeit und Persön­ lichkeitsstörung fließend ist. In Psychiatrie und Psychologie gibt es unter­ schiedliche konzeptionelle Zugangswege zur Ordnung und Beschreibung der Persönlichkeitsstörungen. Das psychiatrische Klassifikationsinteresse ist darauf gerichtet, die Persönlichkeitsstörungen nach nosologischen, typolo­ gischen und charakterologischen Gesichtspunkten einzuteilen. Die einzel­ nen Persönlichkeitsstörungen sollen kategorial als differente Einheiten von­ einander, aber auch vom Normalen abgegrenzt werden.

Tiefenpsychologische und psychodynamische Ansätze wie die psychoana­ lytische Persönlichkeitstheorie von Freud und seinen Schülern wollen da­ gegen eine strikte Klassifizierung vermeiden und gehen davon aus, daß für jeden einzelnen Patienten ein spezifisches Störungsmuster erkennbar wird, wenn die lebensgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse und Einflüsse auf die Ich-Entwicklung nachvollzogen werden. Daraus weiterentwickelt sind in­ terpersonelle und soziodynamische Ansätze in der Klinischen Psychologie, die den zwischenmenschlich-interaktiven Anteil an der Persönlichkeitsent­ wicklung und damit gegebenenfalls auch an der Ausbildung von Persön­ lichkeitsstörungen stärker betonen, ferner die biosozialen Lerntheorien, die von biologischen, von intrapsychischen und auch von umgebungsspezifi­ schen, sozialen Einflüssen auf die Persönlichkeitsentwicklung ausgehen (vgl. Fiedler 1995). Die Differentielle Psychologie versteht Persönlichkeit als ein Bündel von Eigenschaftsausprägungen, die sich jeweils auf einem meßbaren Punkt zwi­ schen den beiden Endpolen einer Dimension abbilden lassen. In der testpsychologischen Diagnostik wird der quantitative Ausprägungsgrad je­ der dieser Merkmalsdimensionen z. B. durch Persönlichkeitsfragebögen er­ faßt. Je nach Anzahl der angenommenen Dimensionen ergibt sich ein mehr oder weniger differenziertes „Persönlichkeitsprofil", das ein Individuum zeitlich überdauernd beschreiben soll. Tabelle 1 zeigt eine Auswahl dimen­ sionaler Persönlichkeitsmodelle. Eysenck's Persönlichkeitsmodell z. B. er­ faßt Persönlichkeit auf den drei Dimensionen Extraversion (Geselligkeit,

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SAß ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

Aktivität), Neurotizismus (Emotionale Instabilität) und Psychotizismus (Im­ pulsivität, Aggressivität, Härte) (Eysenck 1987, Eysenck & Eysenck 1985). Auf Fiske (1949) geht ein Persönlichkeitsmodell zurück, das 5 Dimensionen enthält, die im anglo-amerikanischen Sprachraum als „Big Five"-Persönlichkeitsfaktoren bezeichnet werden. Dieser Ansatz wurde in jüngerer Zeit von Costa & McCrae (1990) aufgenommen, die diese fünf faktorenanalytisch aus einer Fülle von Persönlichkeitsbeschreibungen extrahierten Dimensio­ nen benennen als Extraversion (gesprächig, gesellig, sicher auftretend), Neurotizismus (ängstlich, empfindlich, zu Schuldgefühlen neigend), Ver­ träglichkeit (einfühlsam, warm, wirkt sympathisch), Gewissenhaftigkeit (pro­ duktiv, ethisch zuverlässig) und Offenheit für Erfahrungen (rebellisch, non­ konformistisch, intellektuell). Cloninger (1987, 1993) schließlich geht in seinem psychobiologischen Persönlichkeitsmodell von 4 Dimensionen aus, die er als Temperaments- und 3 Dimensionen, die er als Charakterfaktoren bezeichnet. Die Ausprägungen auf den Temperamentsdimensionen seien seiner Auffassung nach überwiegend von biologischen Prädispositionen abhängig, auf den Charakterdimensionen hingegen bilde sich die individu­ elle Lerngeschichte ab.

Tabelle 1: Klassische und moderne dimensionale Persönlichkeitskonzepte Eysenck (1952, 1970*)

Neurotizismus Extraversion Psychotizismus*

Costa & McCrae „Big Five" (1990)

Extraversion Verträglichkeit Gewissenhaftigkeit Neurotizismus Offenheit für Erfahrungen

Cloninger (1987, 1993*) Psychobiologisches Modell Streben nach Neuem Schadensvermeidung Belohnungs­ abhängigkeit Beharrlichkeit Selbstbezogenheit* Kooperativität* Selbsttranszendenz*

3. Die Persönlichkeitsstörungen in den modernen Klassifikationssystemen In der operationalisierten Diagnostik wird als neutraler Oberbegriff für die Beschreibung aller behandlungsbedürftigen Abweichungen der Persönlich­ keitsentwicklung der Begriff Persönlichkeitsstörung verwandt und löst damit 14

Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

mehr oder weniger theoriebeladene, wertende Bezeichnungen ab. Die De­ finition der Persönlichkeitsstörungen in der modernen Diagnostik geht auf K. Schneider zurück, wenn sie das Leiden der betroffenen Person und/oder die Beeinträchtigung der sozialen Kompetenz aufgreift. Diese beiden Ele­ mente der Definition finden sich in ICD-10 und DSM-Ill-R wieder, wenn es etwa in DSM-Ill-R heißt: Eine Persönlichkeitsstörung kann dann diagnosti­ ziert werden, wenn Persönlichkeitszüge „unflexibel und wenig angepaßt" sind und „zu wesentlichen Beeinträchtigungen in der sozialen Anpassung oder in der beruflichen Leistungsfähigkeit oder zu subjektiven Beschwer­ den" führen. Tabelle 2 zeigt die allgemeinen Kriterien für eine Persönlich­ keitsstörung aus DSM-IV. Tabelle 2: Allgemeine diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung (DSM-IV)

A. Ein überdauerndes Muster von innerem Erleben, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht. Dieses Muster manifestiert sich in mindestens 2 der folgenden Bereiche: 1) Kognition (also die Art, sich selbst, andere Menschen und Ereignisse wahrzunehmen und zu interpretieren), 2) Affektivität (also die Variationsbreite, die Intensität, die Labilität und die Angemessenheit emotionaler Reaktionen), 3) Gestaltung zwischenmenschlicher emotionaler Reaktionen, 4) Impulskontrolle. B. Das überdauernde Muster ist flexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen.

C. Das überdauernde Muster führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Lei­ den oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. D. Das Muster ist stabil und langdauernd, und sein Beginn ist zumindest bis in die Adoleszenz oder ins frühe Erwachsenenalter zurückzuverfol­ gen.

E. Das überdauernde Muster läßt sich nicht besser als Manifestation oder Folge einer anderen psychischen Störung erklären. F. Das überdauernde Muster geht nicht auf die direkte körperliche Wir­ kung einer Substanz (z. B. Droge, Medikament) oder eines medizini­ schen Krankheitsfaktors (z. B. Hirnverletzung) zurück.

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SAß ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

Sowohl die klassischen als auch die modernen Klassifikationsansätze sind kategorial konstruiert. Die Diagnosestellung sowohl in ICD-10 als auch in DSM-Ill-R bzw. DSM-IV erfolgt jedoch nach dem typologischen bzw. Proto­ typenmodell anstelle einer strikten Zuordnung zu eindeutigen nosologi­ schen Kategorien (vgl. Saß 1986). Hierzu wird in Form von Merkmalskata­ logen eine Reihe von Verhaltensmerkmalen als Kriterien aufgelistet, die insgesamt eine „idealtypische" Beschreibung der jeweiligen Persönlich­ keitsstörung darstellen soll. Die Diagnose darf nur dann gestellt werden, wenn die Person aus dieser Liste von Kriterien eine vorgegebene Mindest­ zahl erfüllt. Es wird jedoch kein spezifisches Muster vorgeschrieben, so daß zwei Personen dieselbe Diagnose erhalten können, obwohl sie unterschied­ liche Kombinationen von Kriterien aufweisen. Dieser polythetische Algo­ rithmus trägt einerseits der Komplexität des Persönlichkeitskonstrukts Rech­ nung, führt aber andererseits zu einer gewissen Randunschärfe, da jeder Einzelfall nur in Hinblick auf seine Ähnlichkeit mit dem theoretisch ange­ nommenen Prototypen beurteilt wird. Gleichzeitig können Überlappungen entstehen, denn zum einen tauchen gleichlautende Kriterien in den Merk­ malslisten verschiedener Persönlichkeitsstörungen auf, zum anderen kommt es vor, daß die Personen einzelne Kriterien für verschiedene Persönlich­ keitsstörungen, aber nicht die jeweils geforderte Mindestzahl, erfüllen. Oder die Person weist die geforderte Mindestzahl von Kriterien für ver­ schiedene Persönlichkeitsstörungen auf, so daß per definitionem mehrere Diagnosen gestellt werden müssen. Kategoriale Klassifikationsansätze gehen auf das somatische Krankheitsmo­ dell zurück, nach dem aufgrund des vorliegenden Symptombildes vonein­ ander abgrenzbare Krankheitsentitäten diagnostizierbar sind. Der Patient, der sich aufgrund seiner Symptome in ärztliche Behandlung begibt und ei­ ne Diagnose erhält, ist demnach krank und bedarf der Behandlung und Pflege. Bei den Persönlichkeitsstörungen führt dieses Modell zu Schwierig­ keiten, denn zum einen leidet der Patient meist nicht unter seiner Persön­ lichkeit, sondern eher unter den Folgeproblemen, die sich aus seinen Ver­ haltensweisen ergeben. Zum anderen ist der Übergang zur Normalität flie­ ßend, d. h. die Alltagsfunktionen sind nicht zwangsläufig so beeinträchtigt, daß die Person sich in Behandlung begeben muß, obwohl sie die Kriterien einer oder mehrerer Persönlichkeitsstörungen erfüllt. Das gleichzeitige Vor­ liegen verschiedener abgegrenzter Krankheitseinheiten wird Komorbidität genannt, obwohl im Persönlichkeitsstörungsbereich „Gemeinsames Vor­ kommen" gerade wegen des ungeklärten Morbiditätsstatus begrifflich vor­ zuziehen wäre. Dieses in der Diagnostikforschung allgemein akzeptierte Phänomen führt bei den Persönlichkeitsstörungen, deren Kriterien sich teilweise überschneiden, zu erheblichen praktischen Problemen. Es stellt sich die Frage, ob die in den Kriterien vorgegebenen Merkmalsbeschrei­ 16

Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

bungen und die sogenannten „cut-offs", also die Schwellenwerte für die Diagnosestellung, eine reliable und valide Zuordnung erlauben, oder ob die Konzepte nicht vielmehr zu heterogen sind, als daß klare Abgrenzun­ gen vorgenommen werden können (vgl. Saß 1986, Herpertz et al. 1994). Ein zusätzliches Problem bilden terminologische und konzeptionelle Un­ terschiede zwischen den Klassifikationssystemen. Die in Tabelle 3 gezeigte Gegenüberstellung der Persönlichkeitsstörungsklassifikation gemäß DSMIV, ICD-10 und der traditionellen Differentialtypologie macht deutlich, daß sich einige der schon von Kurt Schneider, Kretschmer und Kraepelin be­ schriebenen Typen von Persönlichkeitsstörungen in den Kategorien von DSM-IV und ICD-10 wiederfinden und daß es auch zwischen den beiden modernen Klassifikationssystemen Entsprechungen gibt; daneben bestehen aber auch konzeptionelle, terminologische und kriterielle Unterschiede. So sind in der ICD-10 die schizotypische und die narzißtische Persönlichkeits­ störung des DSM-IV nicht enthalten, Kriterien der narzißtischen Persönlich­ keitsstörung finden sich stattdessen beim paranoiden Typus.

Tabelle 3: Klassische Typologie von Persönlichkeitsstörungen und modernen Klassifikationssystemen

Kraepelin, Kretschmer K. Schneider, ICD-9

DSM-IV

ICD-10

Fanatisch Schizoid

Paranoid Schizoid

0

0

Explosibel Gemütsarm Stimmungslabil

Geltungsbedürftig

Dissozial Emotional instabil - Borderline Typ - impulsiver Typ Histrionisch

0

0

Selbstunsicher Willenlos Zwanghaft

Selbstunsicher Dependent Anankastisch

Histrionisch Narzißtisch Selbstunsicher Dependent Zwanghaft (Passiv-aggressiv)* (Depressiv)*

0

0

0

0

0

0

Depressiv Asthenisch Hyperthym Zyklothym

Paranoid Schizoid Schizotypisch Antisozial Borderline

* vorgeschlagene Forschungskriterien

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SAß ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

Auf der anderen Seite enthält ICD-10 eine emotional-instabile Persönlich­ keitsstörung, die in einen impulsiven Typus und einen Borderline-Typus unterteilt ist. Letzterer findet sich als eigenständige Persönlichkeitsstörung in DSM-IV. Aufgrund von unterschiedlich hohen Schwellenwerten, also der für die Diagnosestellung nötigen Mindestzahl von Kriterien, sind auch die Prävalenzraten verschieden, je nachdem, nach welchem System die Dia­ gnose gestellt wurde. Sie fallen zur Zeit noch deutlich höher aus, wenn gemäß der ICD-10 diagnostiziert wird, allerdings ist zu erwarten, daß sich bei systematischer Anwendung der ICD-10-Forschungskriterien, die höhere cut-off-Werte aufweisen, und der Kriterien aus dem neuen DSM-IV die Prä­ valenzraten annähern.

Die genannten Unterschiede zwischen den Diagnosesystemen beeinträch­ tigen die Vergleichbarkeit von Studien über Persönlichkeitsstörungen, er­ schweren aber auch die klinische Diagnostik. In der diagnostischen Praxis werden - wenn überhaupt anhand der Kriterienkataloge diagnostiziert wird inzwischen vier Klassifikationssysteme benutzt: ICD-9 oder schon ICD-10, DSM-Ill-R oder DSM-IV, das in seiner deutschen Version soeben erschienen ist. Für Forschungsprojekte werden standardisierte Interviews wie z. B. das IPDE (Loränger 1994) oder SCID (Spitzer & Williams 1985) angeboten, die die Reliabilität der Diagnosen erhöhen sollen, in der klinischen Praxis aber zu zeitaufwendig und zu schwierig zu handhaben sind. Der Vorteil, daß die modernen Klassifikationssysteme den zum Zeitpunkt der jeweiligen Überarbeitung gültigen Forschungsstand integrieren, kann sich also hin­ sichtlich der Vergleichbarkeit auch nachteilig auswirken.

Mit der Vielfalt der Klassifikationssysteme, aber auch mit weiter bestehen­ den Unterschieden in der Anwendung hängt zusammen, daß die Präva­ lenzraten inkonsistent sind. Nachdem die ersten Klassifikationssysteme er­ schienen sind, war die Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen in verschiedenen klinischen Untersuchungen relativ hoch (50 - 80 %) (Mellsop et al. 1982), in neueren Studien liegt sie bei 20 - 30 % (Herpertz et al. 1994). Erste Ergebnisse zur Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung liegen zwischen 3 und 10 % (Maier et al. 1992). Diese Zahlen sind im Vergleich zu den in der früheren Persönlichkeitsdia­ gnostik gewohnten Werten relativ hoch. Hinzu kommt das Problem der Überlappung: In der Mehrzahl der Studien zu Persönlichkeitsstörungen er­ halten mindestens 50 % der Personen, die eine Persönlichkeitsstörung auf­ weisen, mehr als eine Diagnose. Hier stellt sich erneut die Frage nach der Eignung der in den Klassifikationssystemen vorgegebenen Ein- und Aus­ schlußkriterien, der Reliabilität der Diagnosen und ihrer Validität.

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Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

3. Die Aachener Merkmalsliste für Persönlichkeitsstörungen (AMPS) Um mit der Vielfalt der Klassifikationssysteme umzugehen, wurde von der Aachener Arbeitsgruppe eine Merkmalsliste entwickelt, die die Persönlich­ keitsstörungskriterien aus ICD-10 und DSM-Ill-R (bzw. inzwischen DSM-IV) integriert und eine klinisch praktikable Diagnostik erlaubt (Saß & Mende 1990, Saß et al. 1992, 1995b, 1995c, Herpertz et al. 1994). Der Untersu­ cher beantwortet anhand von Informationen aus klinischer Untersuchung, Anamnese, Fremdanamnese und Verhaltensbeobachtung insgesamt 124 Items, 58 aus DSM-Ill-R, 36 aus ICD-10 und 30 Items für die subaffektiven Persönlichkeitsstörungen nach Kretschmer, Kraepelin und K. Schneider. Die Items sind nach inhaltlichen Bereichen wie soziale Beziehungsgestaltung, Affektivität, Motivation, Antriebssteuerung, Selbstwert, Körperbild etc. und nicht nach diagnostischer Zusammengehörigkeit gegliedert, was zu einer Reduktion des halo-Effekts führen soll (Saß et al. 1995a). Gleichzeitig wird der Ausprägungsgrad jedes Items nach „leicht - mittel - schwer" gewichtet. Im Vergleich zu langdauernden und verzweigten, (halb)standardisierten und exakt durchstrukturierten Interviews, wie sie etwa mit SCID (Spitzer & Williams 1985) oder IPDE von Loranger (1994) vorliegen, wird bei der An­ wendung der Merkmalsliste die Untersuchungssituation nicht in gleicher Weise verfremdet, trotzdem werden eine vergleichbar hohe Interrater-Relia­ bilität und gute Werte für die interne Konsistenz erzielt (Herpertz et al. 1994). Mit der Aachener Merkmalsliste für Persönlichkeitsstörungen wurden un­ abhängig von der Einweisungsdiagnose 389 konsekutiv in die Aachener Psychiatrische Klinik aufgenommene Patienten untersucht. Dies geschah im Sinne des multiaxialen Formats von DSM-Ill-R, das fordert, daß die Persön­ lichkeitsstörungsdiagnostik auf Achse II durchzuführen ist, auch wenn eine psychische Störung wie eine affektive Störung oder Schizophrenie auf Achse I diagnostiziert wurde.

Der Abbildung 1 ist die Anzahl der aufgetretenen Persönlichkeitsstörungen gemäß ICD-10 (ca. 31 %) und gemäß DSM-Ill-R (ca. 23 %) zu entnehmen. Diese Zahlen belegen, daß die Einschlußkriterien für die Vergabe der Dia­ gnose einer Persönlichkeitsstörung in der ICD-10 etwas weiter gefaßt sind. Gleichzeitig ergibt sich, daß von den etwa 30 % der Patienten, die über­ haupt eine Persönlichkeitsstörungsdiagnose nach ICD-10 erhielten, über die Hälfte zwei oder mehr Diagnosen bekommen haben. Ein ähnliches Verhältnis zeigt sich bei DSM-Ill-R, obwohl hier die Gesamtzahl der Persön­ lichkeitsstörungsdiagnosen und der Mehrfachdiagnosen geringer war.

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Abbildung

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1: Häufigkeiten von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen bei einer Stichprobe von 389 konsekutiv aufgenommenen psychiatrischen Patienten

Anzahl

Sab ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

In Abbildung 2 sind die Häufigkeiten der einzelnen Persönlichkeitsstörun­ gen aufgeführt, wie sie in der Gruppe von klinischen Patienten, von denen die meisten eine Achse I-Diagnose nach DSM-Ill-R aufwiesen, diagnostiziert wurden. Erkennbar sind deutliche Unterschiede in den Auftretenshäufigkei­ ten der einzelnen korrespondierenden Formen von Persönlichkeitsstörun­ gen nach ICD-10 und DSM-Ill-R. Besonders deutlich wird dies bei der dependenten Persönlichkeitsstörung, die nach ICD-10 mehr als doppelt so häufig, und bei der selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung, die nach ICD10 sogar 4 mal so häufig diagnostiziert wurde. Dies läßt sowohl auf Diffe­ renzen in den zugrundeliegenden Konzeptionen wie auch in den Ein­ schlußkriterien und unterschiedliche cut-offs zwischen den beiden Syste­ men schließen. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß in ICD-10 die schizotypische Persönlichkeitsstörung, wie sie in DSM-Ill-R beschrieben ist, nicht als Persönlichkeitsstörung registriert, sondern zu den schizophrenen Störungen der Achse I gerechnet wird.

4. Analyse der Ähnlichkeitsbeziehungen Die geschilderten Überschneidungs- und Überlappungsprobleme legen na­ he, daß in den Klassifikationssystemen möglicherweise von zu vielen ein­ zelnen Typen von Persönlichkeitsstörungen ausgegangen wird. Es wurden daher verschiedene Versuche unternommen zu prüfen, ob die Vielzahl von Persönlichkeitsstörungskategorien gerechtfertigt ist und welche Ähnlich­ keitsbeziehungen zwischen ihnen bestehen (Widiger 1987, Morey 1988, Herpertz et al. 1994, Saß et al. 1995c). DSM-Ill-R faßt die einzelnen Persönlichkeitsstörungen unter theoretischen und klinischen Gesichtspunkten zu 3 übergeordneten Clustern zusammen. Cluster A enthält die paranoide, die schizoide und die schizotypische Per­ sönlichkeitsstörung - also die Gruppe von Personen, die sich im klinischen Erscheinungsbild durch exzentrisch-sonderbares Verhalten auszeichnet. Clu­ ster B faßt die emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen zusammen und enthält die narzißtische, die histrionische, die Borderline- und die anti­ soziale Persönlichkeitsstörung. Cluster C umfaßt mit der zwanghaften, der selbstunsicheren, der dependenten und der passiv-aggressiven Persönlich­ keitsstörung solche Personen, die sich im Verhalten ängstlich-vermeidend geben. Die so vorgenommenen übergeordneten Einteilungen beruhen weit­ gehend auf klinischen Annahmen und auf beobachtbaren Ähnlichkeiten zwischen den jeweils einem Cluster zugeordneten Persönlichkeitsstörungen. Demgegenüber wird im folgenden gezeigt, welche Ähnlichkeitsbeziehungen sich mit Hilfe einer hierarchischen Clusteranalyse zwischen den DSM-Ill-RPersönlichkeitsstörungen aus unseren mit der AMPS erhobenen Itemwerten der 389 Patienten finden lassen. Die Ergebnisse sind in Abb. 3 dargestellt.

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Abbildung 2: Prävalenzmarke (%) von Persönlichkeitsstörungen bei einer Stichprobe von 389 konsekutiv aufgenommenen psychiatrischen Patienten

Sab ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

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DSM-Ill-R-Persönlichkeitsstörungsdiagnosen an 389 Patienten

Abbildung 3: Hierarchische Clusterlösung (average linkage) über die

Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

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Sab ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

Es kam zu einer mathematisch fundierten Clusterlösung, die drei überge­ ordnete Gruppen von Persönlichkeitsstörungen erkennen läßt. Vergleicht man diese mit der theoretischen Gruppierung, die DSM-Ill-R für die Persön­ lichkeitsstörungen vornimmt, so bestehen weitgehende Übereinstimmun­ gen, aber auch einige Abweichungen. Das erste Cluster ist weitgehend identisch mit dem DSM-Ill-R-Cl uster A, den exzentrischen Persönlichkeits­ störungen und enthält die schizotypische, die paranoide, die zwanghafte und die schizoide Persönlichkeitsstörung. Das zweite empirisch gebildete Cluster enthält die dependente und die selbstunsichere Persönlichkeitsstö­ rung. Diese finden sich im DSM-Ill-R in Cluster C wieder, das die ängstli­ chen Persönlichkeitsstörungen enthält. Das dritte aus unseren Daten extra­ hierte Cluster umfaßt die emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen aus dem Cluster B im DSM-Ill-R, also die narzißtische, die histrionische, die Borderline, die antisoziale und zusätzlich die passiv-aggressive Persönlich­ keitsstörung. Es fanden sich allerdings auch zwei Abweichungen: zum ei­ nen weist die zwanghafte Persönlichkeitsstörung, die in DSM-Ill-R der Gruppe C, den ängstlichen, furchtsamen Persönlichkeitsstörungen angehört, nach unseren Ergebnissen größere Ähnlichkeit zu den exzentrischen Per­ sönlichkeitsstörungen in Cluster A auf. Dieser Befund läßt sich so interpre­ tieren, daß zwischen der paranoiden und der zwanghaften Persönlichkeit gewisse charakterologische und temperamentmäßige Ähnlichkeiten in Hin­ blick auf eine hohe Rigidität und eine geringe Ein- und Umstellfähigkeit be­ stehen. Ähnliche Befunde zur Zuordnung der zwanghaften Persönlichkeits­ störung zeigten sich auch in anderen Studien (Widiger 1987, Morey 1988).

Als zweite Abweichung von der konzeptuellen Gliederung in DSM-Ill-R er­ gab sich, daß die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, die in DSM-Ill-R dem Cluster C, also den ängstlichen, furchtsamen Persönlichkeitsstörungen zugeordnet wurde, nach unserer Studie eher den emotional instabilen Per­ sönlichkeitsstörungen ähnlich ist. Aus klinischer Sicht ist auch dieses Er­ gebnis nicht unplausibel, denn Menschen mit einer passiv-aggressiven Per­ sönlichkeitsstörung sind zwar nach außen hin durch Zurückhaltung und Vermeidung gekennzeichnet, weisen aber auch erhebliche aggressive und impulsive Konflikte auf. Gerade diese Diskrepanz zwischen innerem Erle­ ben und äußerlichem Verhalten läßt möglicherweise die Nähe zu den ebenfalls spannungsvollen emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen verständlich werden.

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Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

5. Vergleich von kategorialen mit dimensionalen Persönlichkeitskonzepten Eine andere Möglichkeit zur Prüfung der Ähnlichkeitsbeziehungen zwi­ schen den Persönlichkeitsstörungen und einen ersten Ansatz zur externen Validierung der den Diagnosen zugrundeliegenden Kriterienlisten bieten die innerhalb der differentiellen Psychologie eingeführten dimensionalen, faktorenanalytisch gewonnenen Persönlichkeitsbeschreibungen.

Grundannahme faktorenanalytischer Persönlichkeitsmodelle ist, daß sich die gesamte Variationsbreite von Persönlichkeitsmerkmalen durch faktorenana­ lytische Reduktion auf einigen wenigen Dimensionen abbilden läßt. Geht man davon aus, daß bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen die Per­ sönlichkeitseigenschaften zwar klinisch bedeutsam ausgeprägt sind, die Strukturder Persönlichkeitsdimensionen sich jedoch von gesunden Personen nicht unterscheidet, so sollte sich dies übereinstimmend in den Werten auf den mit Persönlichkeitsfragebögen erhobenen Dimensionen wiederfinden lassen.

In einer 1994 an der Aachener Psychiatrischen Klinik durchgeführten Unter­ suchung an 168 konsekutiv aufgenommenen Patienten mit verschiedenen psychischen Störungen wurde zusätzlich zur Persönlichkeitsstörungsdia­ gnostik, die mit der AMPS durchgeführt wurde, den Patienten der SechsFaktoren-Test (SFT) von Zerssen (1994) vorgelegt. Der SFT enthält neben den oben beschriebenen „big-five"-Persönlichkeitsdimensionen eine Skala „Frömmigkeit", mit der konventionelle Religiosität und Werteorientierung erfaßt werden sollen. In die an dieser Stichprobe berechnete hierarchische Clusteranalyse gingen jetzt zusätzlich zu den Summenwerten der aus DSMIll-R stammenden Kriterien auch die Summenwerte auf den mit dem SFT erhobenen Persönlichkeitsdimensionen ein (vgl. Abb. 4). Zunächst zeigen sich ähnlich wie in der Voruntersuchung drei übergeord­ nete Cluster von Persönlichkeitsstörungen. Die Zusammenfassung der Per­ sönlichkeitsstörungen mit den aus dem SFT gewonnenen Persönlichkeits­ dimensionen ergibt in dieser Stichprobe jedoch etwas andere Clusterstruk­ turen. So gruppieren sich hier die Dimensionen Extraversion und Offenheit für Erfahrungen inhaltlich plausibel in einem Cluster zusammen mit der histrionischen Persönlichkeitsstörung. Das zweite gefundene Cluster enthält die Borderline-, die narzißtische, die antisoziale und die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung, die hohe Ähnlichkeit mit der Dimension Aggressivi­ tät zeigen. Allerdings sind, abweichend von den vorangegangenen Unter­ suchungen, in diesem Cluster auch die paranoide, die schizotypische und die schizoide Persönlichkeitsstörung zu finden. Ein drittes Cluster enthält die dependente und die selbstunsichere Persönlichkeitsstörung mit großer

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Q. ® ■- « >O C-------- Of

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Abbildung 4: Hierarchische Clusterlösung (average linkage) über die DSM-Ill-R-Persönlichkeitsstörungsdiagnosen und die SFT-Persönlichkeitsdimensionen an 168 Patienten

EXTRAVERSION

Sab ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

Zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Ähnlichkeit zum Faktor Neurotizismus sowie die zwanghafte Persönlich­ keitsstörung, die erwartungsgemäß große Ähnlichkeit zur Persönlichkeits­ dimension Gewissenhaftigkeit aufweist. Insgesamt ließen sich die Persön­ lichkeitsdimensionen inhaltlich begründbar in die Persönlichkeitsstörungs­ gruppierungen integrieren.

6. Resümee Durch die Einführung der operationalisierten Klassifikationssysteme konnte zwar die Reliabilität von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen in den letzten Jahren verbessert werden, die zur Zeit gebräuchliche Vielfalt von Klassifika­ tionssystemen (ICD-9, ICD-10, DSM-Ill, DSM-Ill-R und demnächst DSM-IV) führt jedoch zu schwerwiegenden diagnostischen Problemen, z. B. hohe Prävalenzunterschiede in verschiedenen Studien und Überlappungen zwi­ schen den Persönlichkeitsstörungsdiagnosen (Herpertz et al. 1994). Offen­ bar sind die theoretischen Konzepte, auf denen die Persönlichkeitsstö­ rungskriterien aufbauen, noch zu zahlreich und zu heterogen. Versuche einer Reduktion der den einzelnen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen zu­ grundeliegenden Konstrukte befassen sich mit der Analyse der Ähnlich­ keitsbeziehungen zwischen den verschiedenen in den Klassifikationssyste­ men beschriebenen Persönlichkeitsstörungstypen (Saß et al. 1995c). In unseren Untersuchungen ergaben sich mit Hilfe der hierarchischen Clu­ steranalyse empirische Hinweise auf eine übergeordnete Gruppierung der Persönlichkeitsstörungen aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Ähnlich­ keiten. Diese stimmen weitgehend mit den aus theoretischen Überlegungen entstandenen Gruppierungen in DSM-Ill-R sowie mit den Ergebnissen aus anderen Studien (Widiger 1987, Morey 1988) überein. Darüber hinaus las­ sen sich die in der Zusammenhangsanalyse zwischen den Persönlichkeits­ störungen und den „big five'z-Persönlichkeitsfaktoren gefundenen Ähnlich­ keitsbeziehungen als Hinweis auf die Validität der mit der Aachener Merk­ malsliste erhobenen Persönlichkeitsdiagnosen im DSM-Ill-R-System werten.

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SAß ♦ Herpertz ♦ Houben ♦ Steinmeyer

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Stavros Mentzos

Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen Ein wissenschaftlicher Erfahrungsaustausch über Persönlichkeitsstörungen scheint mir besonders dazu geeignet zu sein, um jene im Stichwort dieser Tagung enthaltene Absicht, nämlich „Brücken zu schlagen", zu verwirkli­ chen. Ich bin Herrn Kollegen Saß dankbar für seine dichte und übersichtli­ che Einführung, welche meine Darstellung erleichtert, insbesondere auch dadurch, daß er viele der zur Thematik gehörenden Grundbegriffe be­ schrieben und definiert hat. Die zunehmende Gewichtigkeit der die Persön­ lichkeitsstörungen betreffenden diagnostischen Kategorien, besonders in den letzten Entwicklungen des DSM-IV und ICD-10, sind sicher zu begrü­ ßen, weil dadurch die angehenden aber auch die alterfahrenen Psychiater zusätzlich motiviert werden, ihre Diagnostik nicht nur auf dem Gebiet der Psychosen und Neurosen, sondern auch innerhalb dieses vernachlässigten großen dazwischenliegenden Bereiches zu präzisieren. Diese nicht-psycho­ tischen aber auch noch nicht- neurotischen Störungen wurden früher vor­ wiegend als Borderline eingeordnet, was aber dazu führte, daß qualitativ heterogene und auch in der Schwere sehr unterschiedliche Störungen mehr aus Verlegenheit in denselben „Topf" hineingeworfen wurden. Die Diagno­ stik und Klassifikation nach DSM oder ICD implizieren freilich auch gewis­ se Gefahren, auf die weiter unten eingegangen wird. Zunächst bieten sie jedoch aber einen Bezugsrahmen, innerhalb dessen verschiedene Störun­ gen deskriptiv differenziert eingeordnet werden können. Die Psychoanalyse hat sich von Anfang an für diese Störungen interessiert. Ohne auf die Geschichte dieser Bemühungen näher einzugehen, möchte ich hier nur an einige der psychoanalytischen Versuche einer Charakterty­ pologie kurz erinnern (eine sowohl differenzierte aber auch gut zusammen­ fassende Darstellung findet man bei Fiedler 1994, Seite 42 - 66). Siegmund Freud hat schon 1908 in seiner Arbeit über „Charakter- und Analerotik" die Eigenarten des Zwangscharakters (Ordnungsliebe, Sparsamkeit und Eigen­ sinn) als Abwehr psychosexueller Bedürfnisse beschrieben. Wilhelm Reich beschrieb systematischer die Charakterbildung als Ausdruck von Triebab­ wehr durch das Ich. Aus der jüngeren Zeit sind z. B. die Arbeiten von Ko­ hut (1971, 1977) und Rudolf (1993) über die Narzißmusstörungen und auf der anderen Seite die Konzeptualisierung der Persönlichkeitsstörungen als Objektbeziehungsstörungen (so etwa Kernberg 1975, 1984) zu erwähnen. S. Freud hatte schon davor seine Charaktertypologie innerhalb des Struk­ turmodells von Ich-Es-Über-Ich dargestellt: Je nachdem, ob die Person sich vorwiegend am Es oder am Über-Ich oder am Ich orientiert, entstünden 31

MENTZOS

jeweils der „erotische", der „zwanghafte" und schließlich der „narzißtische" Charakter (1924). Die Diskussion über die Problematik einer Abgrenzung zwischen Symptomneurosen und sogenannten Charakterneurosen (siehe z. B. Hoffmann 1984) ist in der letzten Zeit erneut aktualisiert worden, nachdem die Nützlichkeit des Hauptunterscheidungskriteriums (Symptom­ neurosen seien ich-syntone, Charakterneurosen seien ich-syntone Störun­ gen) aufgrund der häufigen Abweichungen von dieser Regel hinterfragt werden mußte. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Tatsache, daß die „Störungen" der Klassifikationssysteme offensichtlich keine sich ausschließenden Kategorien sind, sondern vielmehr miteinander kombinierbare Dimensionen, auf de­ nen eine bestimmte Person (quantitativ unterschiedlich) vertreten werden kann (Saß sprach hier von polythetischen Algorithmen), d. h. die erkrankte Person könne „etwas" vom Schizoiden und „etwas" vom Paranoiden und „etwas" von einer anderen Dimension bieten. Das führt aber gleichzeitig dazu, daß man sich zu fragen beginnt, ob eine auf diese Weise notwendi­ gerweise relativierte deskriptive Beschreibung einen Sinn habe. Dies ist ei­ ner der Gründe, warum viele Psychoanalytiker sehr abgeneigt sind, solche Diagnosen zu stellen und, warum sie auf ihren alten Terminologien behar­ ren. Ich bin allerdings damit nicht einverstanden. Mir scheint es doch sehr nützlich, das inzwischen entwickelte differenzierte begriffliche Instrumenta­ rium zu benutzen, und zwar schon aus dem Grund, weil dadurch die Auf­ merksamkeit auf bestimmte wichtige Elemente des Charakters, der Emotio­ nalität und der Motivation gelenkt wird. Allerdings unter der Voraussetzung, daß man sich gleichzeitig Gedanken über die Psychodynamik bzw. über eine differentielle Psychodynamik macht. Mit ihrer Hilfe ergibt sich nämlich die Möglichkeit, viele der oben schon kurz angedeuteten Schwierigkeiten einfacher zu lösen.

Betrachtet man die einzelnen Persönlichkeitsstörungen nicht als getrennte nosologische Einheiten, sondern vielmehr als verschiedene Abwehr-, Schutzund Kompensationsmechanismen, so erkennt man nicht nur die phänome­ nalen Unterschiede, sondern auch die implizierten gemeinsamen oder ähn­ lichen „Funktionen". Man entdeckt nicht nur Trennungen und Differenzie­ rungen, sondern auch Verbindungen und Gemeinsames. Die funktionelle Betrachtung ermöglicht auch die, wenn man so will, „positive" Seite dieser Formationen zu entdecken. Man beginnt bei diesen sogenannten patholo­ gischen Erscheinungen doch auch die implizierten „Kompetenzen" zu er­ kennen. Es ist bezeichnend, daß auch innerhalb der modernen kognitiven Therapie das Wort Kompetenz in diesem Zusammenhang immer häufiger auftaucht. Diesen Gesichtspunkt unterstreiche ich besonders. Es war mir von Anfang an, also schon in den 70iger Jahren ein großes Anliegen, im 32

Psychodynamik

der

Persönlichkeitsstörungen

Symptom - und im Charakterzug - auch die positive Ich-Leistung zu erken­ nen (vgl. Mentzos 1982). Fiedler (1994) geht sogar soweit, daß er sich die Frage stellt, ob nicht einige der Merkmale, die wir z. B. der dissozialen Per­ sönlichkeit zuordnen, zu vielen unserer Politikern, auch vom positiven Lei­ stungsaspekt her gesehen, passen würden! Die Geschmeidigkeit, die Angst­ freiheit, die Leichtigkeit, mit der Schläge „unter der Gürtellinie" in Empfang genommen und wieder zurückgegeben werden, die Dickhäutigkeit, eine gewisse Gewissenlosigkeit usw. wären Merkmale, welche zum Begriff der dissozialen Persönlichkeitsstörung gehören, die aber die Arbeit des Politi­ kers in seinem Alltagsbetrieb sehr erleichtern würden. Dies alles ist sicher übertrieben, man könnte sich auch eine Gesellschaft vorstellen, wo auch ohne solche „Kompetenzen" der Betrieb funktionieren kann. Ich erwähne nur dieses extreme Beispiel, um die Notwendigkeit zu unterstreichen, Sym­ ptome und Charakterzüge auch im Bezug auf ihre zweckdienlichen Funk­ tionalität zu betrachten, wenn es sich bei diesen „Vorteilen" freilich auch mehr um „sekundäre Gewinne" handelt. Noch mehr dürfte uns hier der primäre Krankheitsgewinn des Symptoms oder des Charakterzugs interes­ sieren, also seine defensive, seine Schutz- und seine kompensatorische Funktion. Dies macht eigentlich das Kernstück der psychodynamischen Be­ trachtung aus.

Im folgenden versuche ich, die auf diese Weise definierte Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen in einigen ihrer Grundzüge und innerhalb ei­ nes bestimmten Bezugsrahmens zu beschreiben, der gleichzeitig eine psy­ chodynamische Klassifikation dieser Störungen ermöglicht. Das Vorhaben ist sicher etwas gewagt, weil ich dabei noch keine statistische Absicherung und keine Operationalisierung bieten kann. Dadurch könnte auch die Re­ liabilität, der auf diese Weise gestellten psychodynamischen Diagnosen unbefriedigend sein. Auf der anderen Seite aber erlaube ich mir die Be­ hauptung, daß eine hohe Reliabilität im strengen, engeren Sinne zwar wün­ schenswert ist, aber keine Garantie für Wissenschaftlichkeit bietet. Es ist zwar durchaus möglich, durch Einschränkung und Formalisierung unserer Begriffe eine hohe Reliabilität, eine hohe Übereinstimmung unserer Dia­ gnosen zu erreichen, allerdings eine Übereinstimmung, die sich auf banale, unwesentliche und oberflächliche Merkmale und Feststellungen bezieht, und somit letztlich auch relativ nutzlos ist. Wenn wir z. B. in der Depressi­ ons-Diagnostik alle ätiologischen und psychodynamischen Überlegungen und diesbezüglichen Feststellungen heraushalten, um uns auf die zeitlich formale Charakteristika der Minor und Major Depression, also der einmali­ gen oder sich wiederholenden, der unipolaren oder bipolaren affektiven Störungen zu beschränken, so ist es so, wie wenn wir auf die Unterschei­ dung zwischen Tischen und Türen gemäß ihrer Funktion verzichten und uns darauf beschränken, von runden oder viereckigen Gegenständen zu

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Mentzos

sprechen, die entweder groß oder klein sind oder aus Metall oder aus Holz bestehen! Solche Einordnungen sind nutzlos, wenn dadurch wichtige Ge­ sichtspunkte vernachlässigt werden. Ich will damit nicht behaupten, daß die Bemühungen von DSM und ICD durch Formalisierung einen nach Möglichkeit großen Konsensus weltweit zu erreichen nutzlos sei. Viele ver­ gleichende Untersuchungen werden erst dadurch möglich. Meine Befürch­ tung ist nur, daß in der Praxis eine sich ausschließlich darauf beschränken­ de Diagnostik sehr mangelhaft ist. Die psychodynamische Betrachtung soll also diese Lücke füllen und eine sich darauf basierende Klassifikation er­ möglichen, deren Analogien und Homologien zu der deskriptiven Klassifi­ kation, auch die letztere sinnvoller machen.

Versuch einer psychodynamischen Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen Bei diesem Versuch geht es um eine Extrapolation der von uns früher vor­ geschlagenen psychodynamischen Klassifikation der Psychosen auch auf die Persönlichkeitsstörungen. Diese Klassifikation hat sowohl bei vielen in der Klinik tätigen Kollegen als auch bei psychoanalytisch orientierten Psy­ chiatern, welche Psychosen ambulant behandeln, große Zustimmung ge­ funden, weil sie sich offensichtlich zum Verständnis der Psychodynamik der Psychosen nützlich erwiesen hat. Es war nun zu prüfen, ob die Anwen­ dung desselben Modells bei den Persönlichkeitsstörungen eine ebenfalls übersichtliche und differenzierte Erfassung ihrer Psychodynamik ermöglicht. Zu diesem Versuch wurde ich nachträglich auch durch die Tatsache ermun­ tert und bestätigt, daß die in diesem Modell berücksichtigten Dimensionen und Bipolaritäten auch von Autoren und Therapeuten, welche von anderen theoretischen und Erfahrungsvoraussetzungen ausgehen, benutzt werden, so etwa z. B. von Millon, einem der Schöpfer des DSM. Ein solches Zusam­ mentreffen von Konzeptualisierungsversuchen dürfte nicht zufällig sein und könnte in gewisser Hinsicht als eine Art gegenseitiger Validierung gelten.

Dieses Modell verhält sich neutral in Bezug auf die Frage der Somato- oder Psychogenese oder vielmehr ermöglicht es prinzipiell eine sinnvolle Inte­ gration der vermuteten biologischen und psychosozialen Faktoren. Die zu­ grunde liegende Annahme besagt, daß gewisse elementare, anthropolo­ gisch vorgegebene „normale" Bipolaritäten, insbesondere diejenigen zwi­ schen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen, unter der Einwir­ kung ungünstiger biologischer und psychosozialer Faktoren, sich zu unlös­ baren Grundkonflikten, zu unlösbaren Dilemmata entwickeln. Betrachten wir zunächst die Schizophrenie. Der schizophrene Patient wird in der Per­ son nicht so sehr als ein in Bezug auf seine Ich-Funktionen gestörter, als ein

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Psychodynamik

der

Persönlichkeitsstörungen

Ich-schwacher Mensch empfunden, sondern vielmehr als jemand, der in unlösbaren Antinomien, in Grunddilemmata verfangen ist, und der entwe­ der mit einer Extremisierung (zurückziehen in den Selbst- oder Objektpol) oder mit anderen pathologischen Kompromißlösungen reagiert. Bezeich­ nenderweise lassen sich alle in der Psychiatrie der letzten 150 Jahre her­ ausgearbeiteten psychotischen Syndrome in sinnvoller Weise auf einer Achse einordnen, an deren einem Ende der Autismus (totaler Rückzug zum Selbstpol) und am anderen Ende die Fusion, (das totale Eingehen in das Ob­ jekt, in den Objektpol) steht. Bei den affektiven Psychosen verhält es sich analog: Die beiden extremen Positionen heißen hier Manie und Depression. Bei der Manie kommt es zu einer selbstbezogenen, künstlichen Aufblähung des Selbst (bei gleichzeiti­ ger Verwerfung des Über-Ichs und des Realitätsprinzips sowie der sozialen Ordnung); bei der Depression findet eine Selbstentwertung, eine Selbstver­ kleinerung, eine totale Unterwerfung unter das Objekt statt. Die schizoaffektiven Psychosen werden innerhalb dieses Modells aus einer Kombination der schizophrenen und der affektiv-psychotischen Dynamik verstanden (vgl. Abbildung 1). Die für den Schizophrenen charakteristische Unfähigkeit das Selbst vom Nicht-Selbst zu unterscheiden, beruht nicht auf einer primä­ ren Funktionsstörung, sondern sie resultiert aus diesen pathologischen Pseudolösungen des Grundkonfliktes, aus der defensiven Bewegung also, welche zum Mißglücken der normalerweise zu erwartenden Integration der Selbst- und Objektaspekte führt: Der Patient „löst" das Problem entweder dadurch, daß er im psychotischen, narzißtischen Rückzug das Objekt eli­ miniert oder umgekehrt, indem er den Unterschied zwischen Selbst und Objekt mittels der Fusion zum Verschwinden bringt oder drittens, durch die dazwischen liegenden Quasi-Kompromisse, die sowohl Beziehung als auch Distanzierung beinhalten (so z. B. im Verfolgungswahn bzw. überhaupt in der paranoiden Distanzierung vom Objekt bei gleichzeitiger Bezugnahme).

Die psychodynamische Klassifikation psychotischer Syndrome erfolgt hier mit Hilfe dieser zwei Kriterien: Art des Grundkonfliktes, (also Selbstidentität versus Bindung, Selbstwertigkeit versus Objektwertigkeit und drittens Kom­ bination beider bei den schizoaffektiven Psychosen). Zweites Unterschei­ dungskriterium: Selbstbezogenheit oder Objektbezogenheit der Abwehr und der Kompensationsmechanismen. Es geht um die Art der psychoti­ schen Pseudolösung des Grundkonfliktes.

35

Mentzos

Selbst-Pol

C-|

A Schizophrenie (I)

Katatonie

h i z

Verfolgungswahn

°

Halluzination (als Externalisierung)

f f e k t

Autismus

Affekt. Psychose

Manie

/ /Persönlichkeits-

T Borderline (II)

/ Schizotypal Borderline

/ /

/

/

/

/

Störungen (III) z. B. narzißtische

/

Neurose (IV)

Hypoch. Zwangs­ neurose

/ / Misch—L--------------------------------------------- B' zustand

e

Beziehungswahn Liebeswahn

s y

Halluzination ' (als Wunscherfüllung)

Ekstase

Fusion

° s e n

/ / „objekt/ nahes" Depression/ Borderline P. / |

/ c

z. B. abhängige, labile

z. B. Phobie Hysterie Neurotische Depression

Objekt-Pol 1

A' Abbildung 1: Selbst- versus Objektbezogenheit der Abwehr und Kompensa­ tion bei den verschiedenen Organisationsstufen: (I - IV)

In Bezug auf eine weiterführende Differenzierung auf einer dritten Dimen­ sion (C-C.), nämlich diejenigen der Expansion, Überstimmulation versus Unterstimmulation, Restriktion, verweise ich auf meine Ausführungen an anderer Stelle (Mentzos 1996 und 1996a). - Diese für die Unterscheidung von produktiven und Minussymptomatik wichtige Achse wird hier, bei den Persönlichkeitsstörungen zunächst noch nicht berücksichtigt, sie könnte aber in der Zukunft zu einer noch besseren Differenzierung auch dieser Störungen beitragen. Nun ist es erstaunlich (oder auch nicht, wenn man sowohl Psychosen als auch Persönlichkeitsstörungen als „Antworten" auf dieselben Grundkonflik­ te - wenn auch auf verschiedenen Organisationsstufen - betrachtet), daß mit Hilfe dieser zwei Kriterien bzw. innerhalb eines Koordinatensystems,

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Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen

welches die zwei Dimensionen berücksichtigt, auch die Persönlichkeitsstö­ rungen sich in sinnvoller Weise einordnen lassen: Es gibt Persönlichkeits­ störungen die mehr mit der Problematik der Selbstidentität, der Selbstob­ jektdifferenzierung, der Nähe-Distanz, der Angst vor Kontakt aber auch der Angst vor Objektlosigkeit usw. in Zusammenhang stehen. Und es gibt an­ dere Persönlichkeitsstörungen, bei denen mehr die Selbstwertregulation, die Selbstwertigkeit versus Objektwertigkeit usw. im Vordergrund ihrer Dy­ namik stehen. Inner-halb dieser zwei Gruppen lassen sich wiederum solche Persönlichkeitsstörungen, die mehr selbstbezogen sind (z. B. schizoide oder hyperthyme) von solchen, die mehr objektbezogen sind (z. B. dependente und depressive) unterscheiden. Die Besonderheiten dieser Störungen zei­ gen sich hier in Charakterzügen (Traits) und nicht in Symptomen (wie bei den Psychosen). Die Abbildung 2 verdeutlicht das eben Dargestellte. Auf die Einführung der dritten Dimension bzw. Achse (Expansion, Überstimmulation versus Restriktion, Unterstimmulation) die eine noch größere Diffe­ renzierung erlauben würde, wird hier wie gesagt zunächst verzichtet. Um noch einmal die Grundannahme dieses Modells zu erläutern: Inner­ halb einer normalen Entwicklung werden die erwähnten Bipolaritäten bzw. vorläufig gegensätzlichen Tendenzen in einem ständigen dialektischen Pro­ zeß immer wieder integriert. In Bezug auf das erste Dilemma bedeutet dies: Ich existiere als unabhängige, autonome Persönlichkeit und trotzdem kann ich den anderen sowohl als selbständige Person wahrnehmen und respek­ tieren, als auch gleichzeitig mich mit ihm verbinden und sogar in gewissem Ausmaß von ihm auch freiwillig abhängig machen. In Bezug auf das zweite Dilemma heißt es: Auch wenn ich gelegentlich Fehler mache und auch wenn ich Mangelhaftigkeiten habe, bin ich mir meines eigenen, selbständigen Wertes bewußt. Ich schätze und respektiere mich selbst; und gleichzeitig bin ich in der Lage, auch den anderen trotz seiner Fehler und seiner Mangelhaf­ tigkeiten in seinem Wert zu akzeptieren und zu bestätigen.

Die normale Entwicklung, welche zu diesen integrativen Grundeinstellun­ gen führt, kann nun gestört werden und zwar, sowohl durch den Einfluß früherer ungünstiger, negativer Erfahrungsbeziehungen bzw. eines ungün­ stigen psychosozialen Umfeldes, als auch durch gewisse ungünstige oder bloß auch nur gefährdende biologische Voraussetzungen. Letzteres erklärt, warum ein Teil der beobachtbaren Varianz offensichtlich durch biologi­ sche, zum großen Teil auch hereditäre Faktoren zu erklären ist. Auf der an­ deren Seite unterstreicht die, auch bei eineiigen Zwillingen zu beobachten­ de Diskordanz, die Bedeutung des zuerst genannten psychosozialen Fakto­ renkomplexes. Dies gilt freilich gleichermaßen sowohl für die Psychosen als auch für die Persönlichkeitsstörungen.

37

Mentzos

1------------------------------------------------------ 1----i „Dilemma" im Bereich [ [ Selbst-Objektdifferenzierung । i bzw. । [ Selbstautonomie ]

„Dilemma" im Bereich Selbstwertigkeit bzw. Selbstwertregulation

i [ i [

Selbstpol r Dissoziale P. Aggressiv sadistische P.

Schizotypale P. Schizoide P.

P

Narzißtische P. (i. e. Sinn)

S Y

Paranoide P.

C H O

N

E Passiv-aggressive P. Zwanghafte P.

Zyklothyme P.

Borderline i. e. Sinn

U R

B

E

Masoc listischselbstschäd. P. I

Phobische (Vermeidungs-) P. Histrionische (Hysterische) P.

Depressive P.

Selbstunsichere P. Abhängige P.

Objekt-Pol

Abbildung 2: Psychodynamische Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen nach der Art des „Dilemmas“ (B-B.) und nach der Art der Abwehr Selbst- oder Objektbezogenheit( A-A.) 38

O s

s

N

Hyperthyme P.

E N

Psychodynamik

der

Persönlichkeitsstörungen

Angesichts solcher interessanter Analogien tut sich (trotz der unbestreitba­ ren Tatsache des qualitativen Unterschiedes zwischen Psychosen und Per­ sönlichkeitsstörungen) die alte Frage auf, ob nicht eine Psychose, die Ab­ wehr bzw. Kompensation eines ähnlichen oder desselben Grundkonfliktes darstellt, wie bei den Persönlichkeitsstörungen, wenn auch auf einer tiefe­ ren Organisationsstufe. Das nicht so häufige, aber dafür für die Theorie be­ sonders relevante Phänomen des „Syndromwechsels" würde dafür spre­ chen (vgl. Mentzos 1992). Gemeint ist die Tatsache, daß nicht selten eine psychosomatische oder eine zwangsneurotische Symptomatik von einer Psychose ersetzt wird (oder oft sogar mit ihr alterniert), so daß ein wieder­ holter Wechsel zwischen beiden stattfindet. Auch nicht-psychoanalytische Autoren beginnen sich angesichts solcher und ähnlicher Verläufe zu fragen, ob nicht die Psychose nur eine der dekompensierten Persönlichkeitsstörung ähnliche Abwehr sei (Fiedler 1994). Dafür spricht auch die Tatsache der häufigen Komorbiditäten, der mehrfachen „Erkrankungen". Ich will das Gemeinte mit einem klinischen Beispiel erläutern:

Eine Kollegin bringt in die Supervisionsgruppe den Fall einer Patientin zur Diskussion. Diese Patientin suchte psychotherapeutische Hilfe, weil sie Angst hatte, sie könnte wieder, wie vor 4 Jahren, psychotisch werden. Damals trennte sie sich nach sehr langen inneren und äußeren „Kämpfen" von ihrer Mutter, mit der sie bis dahin zusammengelebt hatte. In der Zeit davor habe sie in dieser intensiven ambivalenten Beziehung (sie war Einzelkind und hatte früh ihren Vater verloren) sehr gelitten. Trotzdem, als es ihr mit 22 Jahren gelungen war, sich zu distanzieren, entwickelte sie die Psychose und kam in die Klinik. Sie mußte mit Psychopharmaka behandelt werden. Nachher kam es zu einer relativen Stabilisierung. Jetzt aber stand sie vor einer neuen Entscheidung, sie beabsichtige mit jemandem zusammenzuziehen und auch aus beruflichen Gründen in eine andere Stadt umzuziehen. Sie habe Angst, sie würde wieder aus dem Gleichgewicht kommen. Diese von der Patientin geschilderte Angst, entsprach sehr wahrscheinlich einer tatsächlichen Gefährdung. Es ist nämlich weder selten noch verwun­ derlich, daß Psychosen sowohl durch Trennungen als auch durch größere Nähe auftreten. In der älteren psychiatrischen Literatur sprach man z. B. von „Verlobungspsychosen". Auf der anderen Seite kennen wir die Psycho­ sen, die bei einem ersten längeren Urlaub, Entfernung oder Trennung von der Familie bei jungen Menschen auftreten, bei denen eine Ablösung noch nicht stattgefunden hat. Diese Beobachtungen fügen sich zwanglos in unser Psychosenmodell: Es geht ja um die Nähe-Distanz-Problematik, um die brüchige Selbst-Nichtselbst-Differenzierung, um die Angst, sowohl vor der Fusion als auch vor der Objektlosigkeit. 39

Mentzos

Nun schildert die Kollegin in der Supervisionsgruppe weiter, daß es bemer­ kenswert sei, daß die Patientin zwar jetzt, zum jetzigen Zeitpunkt zwar nicht psychotisch sei, daß sie aber trotzdem ein auffälliges Bild bietet. Sie ist eine gutaussehende und attraktive Frau, die auf der einen Seite über die­ se, ihre diffuse Angst spricht, auf der anderen Seite jedoch dann im Laufe des Interviews zunehmend selbstbewußt, fast arrogant, verächtlich wirkt und kaltschnäuzig berichtet, was sie alles mit vielen ihren Mitmenschen anstelle, wie sie sie manipuliere. Im nächsten Gespräch wirkt sie wiederum anders, wechselnd, launisch, „histrionisch" (hysterisch). Und dann erfährt man, daß sie zwischen dem 12. und dem 18. Lebensjahr mit einem offen­ sichtlich nur phantasierten Doppelgänger gleichsam zusammengelebt hätte, jemanden der offenbar der „böse" Anteil von ihr war. Es entsteht allmählich der Eindruck, daß es sich dabei um ein regelrechtes Multiple-Persönlichkeits-Syndrom gehandelt hat. Sie erlebte sich damals auf der einen Seite als das gehorsame, brave und gute und auf der anderen Seite, zu anderen Zei­ ten, als das aufsässige Kind, das oft geschimpft, zeitweise dann aber mit einer piepsigen, kindlichen Stimme gesprochen hat. Über diese Person berichtete die Patientin dann in der 3. Person. Nach dieser Zeit habe sie einige Jahre ziemlich zurückgezogen gelebt, habe den Kontakt zu anderen Menschen systematisch vermieden, bis sie dann mit 22 Jahren auch psychotisch wurde.

Man kommt hier diagnostisch nicht mit weniger als 5 oder 6 Diagnosen zu­ recht: Sukzessiv, z. T. aber auch simultan, litt die Patientin an einer multi­ plen Persönlichkeit, an einer regelrecht paranoid-halluzinatorischen Psy­ chose, an einer schizoiden Persönlichkeitsstörung, an einer narzißtischen Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Zügen, aber auch an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung. Ist es überhaupt eben hier sinnvoll das Vor­ liegen mehrerer unabhängiger „Störungen" anzunehmen, wie die klassifikatorischen Systeme suggerieren? Die Annahme des Vorliegens mehrerer Er­ krankungen erscheint mir nicht nur unwahrscheinlich, sondern auch unsin­ nig. Versucht man aber den Fall psychodynamisch zu verstehen, so läßt sich diese Vielfalt einfacher und sinnvoller begreifen. Es handelt sich um verschiedene Modi der Abwehr und Kompensation, um verschiedene Me­ chanismen oder „Verteidigungslinien", welche der Patient oder die Patien­ tin, je nach den zu jeweiligen Zeitpunkten zur Verfügung stehenden Mög­ lichkeiten und, je nach Schwere der aktuellen Belastung und Traumatisie­ rung, automatisch einsetzt. Die letzte und vom adaptativen Gesichtspunkt aus ungünstigste „Verteidigungslinie" ist freilich diejenige der Psychose.

Die ätiologische Frage bleibt auch bei einer solchen Betrachtung relativ of­ fen: Es ist wahrscheinlich, daß die jeweilige Aktualisierung und Beibehal­ tung eines dieser Abwehr- und Kompensationsmodi für kürzere oder längere Zeit, sowohl psychosoziale als auch biologische Bedingungen oder „Ursa­ 40

Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen

chen" als Voraussetzung hat. Die Fokussierung auf die skizzierten Grund­ konflikte erscheint mir trotzdem unabdingbar, weil nur dadurch die Beson­ derheiten der psychotischen, der Borderline- und der Persönlichkeitsstö­ rungen am besten erklärt werden können. Anders als bei den hirnorgani­ schen Erkrankungen ist hier nicht eine gravierende, elementare, körperliche Dysfunktion oder Ausfall das Maßgebende. Die hier beobachtbaren Auffäl­ ligkeiten im Erleben und Verhalten zeigen sich zum großen Teil um die zwei großen Grunddilemmata und ihre späteren Variationen zentriert. Au­ ßerhalb dieser Bereiche sind Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, aber auch Borderlinestörungen und sogar zum großen Teil psychotischen Stö­ rungen, oft zu erstaunlich guten Leistungen in der Lage. Zwar läßt sich, be­ sonders bei den Psychosen im akuten Stadium oder im ungünstig chronisch verlaufenden Fall oft eine ubiquitäre Ausweitung der Auffälligkeiten und der Störungen, auch außerhalb der genannten „konfliktuösen" Bereiche feststellen. Dennoch gilt dies nur partiell und außerdem läßt sich diese Ge­ neralisierung der Funktionsstörung nicht nur durch die primär vorgegebe­ nen biologischen Vulnerabilitäten, sondern auch durch sekundäre psycho­ somatische Beeinträchtigung neuronaler Strukturen erklären.

Es läßt sich also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen, daß alle dis­ kutierten Störungen schließlich auf einer kleinen Anzahl von Grunddilem­ mata und ihren Variationen beruhen, welche sich aus den normalen Bipo­ laritäten unter ungünstigen Bedingungen entwickeln. Während aber deren Anzahl, auch wenn man die im Laufe der Entwicklung entstehenden Varia­ tionen berücksichtigt, relativ klein ist, muß man davon ausgehen, daß die Reaktionen darauf, also die vielfältigen Abwehr- und Kompensationsme­ chanismen, die Pseudolösungen, die Modi der „Verarbeitung" viel zahlrei­ cher sind. Es gibt ganz wenige Grundkonflikte und sehr viele Modi ihrer Verarbeitung. Die Anzahl der Letzteren erhöht sich auch dadurch, daß auf verschiedenen Entwicklungsstufen bzw. Organisationsebenen diese Ab­ wehr- und Kompensationsmechanismen eine jeweils andere Gestalt an­ nehmen und eine jeweils andere Struktur aufweisen. Schon bei der Berück­ sichtigung einiger allgemeiner Merkmale und Dimensionen (Selbstbezogen­ heit versus Objektbezogenheit, Expansion versus Restriktion, Passivität ver­ sus Aktivität und dies alles entweder auf einem psychotischen oder einem Borderline oder einer Persönlichkeitsstörung oder einem Neurose-Organisa­ tionsniveau) kommt man auf eine große Vielfalt. Die daraus resultierenden klinischen Bilder verdoppeln sich oder verdreifachen sich, wenn man be­ rücksichtigt, daß im konkreten Fall mehr das eine oder das andere Dilemma oder Kombinationen von beiden in Frage kommen. Hinzu treten dann zu­ sätzliche Besonderheiten der konkret beobachtbaren Modi: so gehören z. B. zwar schizoide, paranoide, antisoziale, hyperthyme, narzißtische Persönlich­ keitsstörungen alle zu den selbstbezogenen Abwehr- und Kompensations­ 41

Mentzos

mustern. Untereinander unterscheiden sie sich jedoch wiederum nicht nur dadurch, daß sie sich mehr auf die Identitäts-Fusion oder wiederum auf die Selbstwertigkeit-Objektwertigkeit beziehen, sondern auch im Hinblick auf die sich automatisch entwickelnden „Techniken" der Abwehr und Kom­ pensation. Ich will dies abschließend am Beispiel der im geschilderten ka­ suistischen Fall sukzessiv aufgetretenen Persönlichkeits- bzw. psychoti­ schen Störungen exemplifizieren (siehe Näheres bei Mentzos 1996).

Bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung z. B. handelt es sich um eine schützende Abwehr von „Gefahren" mittels des Rückzugs. Der Unterschied zu dem Modus der „vermeidenden Persönlichkeitsstörung" besteht darin, daß die schizoide Haltung offensichtlich eine bei weitem tiefergehende „Festlegung" auf eine selbstzentrierte Pseudolösung des Gegensatzes zwi­ schen Selbst und Objekt impliziert. Die Patientin, um die es hier ging, hatte allerdings nur zeitweise in ihrem Leben (und innerhalb der Übertragung während ihrer Therapie) diese schizoide Zurückgezogenheit geboten. Zu anderen Zeiten überwog eine Überheblichkeit und Kaltschnäuzigkeit sowie Verachtung, die mehr an die Modi der narzißtischen (im engeren Sinne) oder der antisozialen Persönlichkeitsstörung erinnert. Psychodynamisch betrachtet impliziert das „Narzißtische", jene übertriebene Idealisierung des eigenen Selbst durch die, nach Kernberg (als Alternativ-"Lösung") Instabili­ tät des Borderlines, wenn auch auf pathologischer Weise vermieden bzw. überwunden wird. Dazu möchte ich hinzufügen, daß diese „Überwindung" auf Kosten der zwar instabilen und problematischen, aber immerhin vor­ handenen Objektbezogenheit des Borderlines und zugunsten einer, das Objekt verachtenden Rigidität in der Nähe des Selbstpols, zustandekommt. Im Verlauf erfolgreicher psychoanalytischer Behandlungen kommt es zu einer Milderung dieser defensiven Überidealisierung des eigenen Selbst, sowie der damit zusammenhängenden Größenphantasien. Gleichzeitig wird es deutlich, daß diese Selbstüberschätzung und diese Verachtung des Objektes nur der defensiven Kompensierung von - darunter in Wirklichkeit herrschenden, halbbewußten - Minderwertigkeitsgefühlen dient. Zu ande­ ren Zeiten machte sich bei der Patientin eine berechnende, die anderen manipulierende, etwas gehässig ausbeuterische Haltung bemerkbar, also Bestandteile des Modus der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Wie an anderen Stellen (Mentzos 1991, S. 122 ff. und Mentzos 1996a) ausführli­ cher dargelegt, besteht der psychodynamische Kern dieser Störung darin, daß im Rahmen einer extremen selbstbezogenen Pseudolösung das „Böse" vom Betreffenden als zum eigenen Selbst gehörige und als solches auch bejaht wird. Dies wird freilich erst bei den ausgeprägten, in rigider Weise konstant festgelegten, antisozialen Persönlichkeitsstörungen deutlich. Aber auch in solchen weniger ausgeprägten Fällen, wie dem Vorliegenden, läßt

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Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen

sich diese Art einer gleichsam primitiven Identifikation mit dem Angreifer herausarbeiten.

Die Anteile einer hysterischen (histrionischen) Persönlichkeitsstörung wie Launenhaftigkeit, dramatisierende Theatralik, Emotionalisierung usw., wa­ ren zwar ebenfalls in gewissem Umfang durchgehend anwesend, jedoch zeitweise standen sie mehr im Vordergrund im Leben dieser Frau. Der psy­ chodynamische Kern des hysterischen bzw. histrionischen Abwehr- und Kompensationsmodus scheint in der unbewußten Inszenierung mit dem Ziel anders zu erscheinen, sich anders zu erleben als man ist, zu sein (siehe Näheres bei Mentzos 1980, 1996).(1)

Die Komorbiditäten-Liste ist aber damit noch lange nicht erschöpft. Auch wenn man weitere Erwägungen in Bezug auf zeitweise vorhandene Persön­ lichkeitszüge (z. B. paranoiden) bei dieser Patientin unberücksichtigt läßt, so ist man aufgrund der zeitweise gebotenen Symptomatik gezwungen, auf der Achse I des DSM (entsprechend auch beim ICD) zumindest zwei syndromale diagnostische Feststellungen zu machen, also zwei klinische Syn­ drome zu diagnostizieren: • multiple Persönlichkeit, • paranoid-halluzinatorische Psychose.

Ich brauche in diesem Referat, welches sich mit der Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen beschäftigt, nicht näher auf die Psychodynamik dieser zwei Syndrome eingehen. Dennoch ist es offensichtlich, daß auch hier die Berücksichtigung der oben dargestellten Dimensionen (Art des Grunddilemmas, Selbst- versus Ojektbezogenheit der Abwehr, expansive versus restriktive, aktive versus passive, defensive Verarbeitung) ähnliche Differenzierungen und Klassifikation ermöglichen, wenn auch hier auf ei­ ner eindeutig tieferen Organisationsstufe: dies macht ja auch den eindeuti­ gen und unbestreitbaren qualitativen Unterschied zwischen Persönlich(1)Das Ersetzen von „hysterisch" durch „histrionisch" in den letzten Auflagen von DSM und ICD entsprach dem Versuch, diese Kategorie von begrifflichen Konnotationen mit Sexualität und weiblichem Geschlecht (Hystera = Gebärmutter) von Anfang an auszuschließen. Unglücklicherweise sind aber die Schöpfer der neuen Bezeichnung „vom Regen in die Traufe geraten": „Histrionisch" leitet sich zwar aus dem Lateini­ schen Histrione, und dort aus dem Griechischen Oistros, der Emotionen heftig aus­ drückende Schauspieler ab. Dennoch denselben Terminus benutzt die somatische Medizin zur Benennung des geschlecht-spezifisch weiblichen Hormons (Estrogen)! Diese meine etymologische, kritische Bemerkung sollte allerdings nicht als ein Ar­ gument für die erneute „Resexualisierung" der Hysterie verstanden werden: Ich blei­ be bei meiner, vor mehreren Jahren herausgearbeiteten These, wonach der hysteri­ sche Modus der Verarbeitung bei verschiedenen und nicht nur bei ödipalen Konflik­ ten (sogar bei äußeren Belastungen!) mobilisiert werden kann.

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Mentzos

keitsstörungen und Psychose aus. Mir ging es auch nicht darum nachzu­ weisen, daß Psychosen schwere Formen von Persönlichkeitsstörungen, ge­ schweige von Neurosen seien. Es besteht tatsächlich ein qualitativer Unter­ schied. Und trotzdem zeigen die deutlichen Homologien in der Psychody­ namik (wenn auch auf unterschiedlichem Organisationsniveau) als auch die Übergänge und die sogenannten Komorbiditäten, daß es sinnvoll ist, alle hier direkt oder indirekt angesprochenen, sogenannten „Störungen" (also Psychosen, Borderline-Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Neurosen) in erster Linie als Abwehr- und Kompensationsmodi, als „Verteidigungslinien" zu begreifen, welche je nach vorhandenen psychosozialen und biologi­ schen Gegebenheiten aufgegeben oder wiedergewonnen werden. Dies scheint auch für jene oft ziemlich rigide, unveränderbar und „stabil" er­ scheinenden „Verteidigungslinien", nämlich die Persönlichkeitsstörungen Gültigkeit zu haben.

Literatur Fiedler, P. (1994): Persönlichkeitsstörungen. Beltz-Psychologie-Verlags-Union, Wein­ heim Freud, S. (1908): Charakter und Analerotik. GW, Bd. 10, S. 203 - 209, S. Fischer, Frankfurt/Main Freud, S. (1924): Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. GW, Bd. 13, S. 363 368 Kernberg, O. (1975): Borderline conditions and pathological narcissmn. Aronson, New York (Deutsch: Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. Suhrkamp, Frankfurt/Main

Kernberg, O. (1991): Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose, Behand­ lungsstrategien. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart

Kohut, H. (1971): The Analysis of the Self. Intern. Univ. Press, New York. (Deutsch: Narzißmus, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1973). Kohut, H. (1977): The Restoration of the Self. Intern. Univ. Press, New York. (Deutsch: Die Heilung des Selbst. Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1979) Mentzos, S. (1982): Neurotische Konfliktverarbeitung. S. Fischer, Frankfurt/Main

Mentzos, S. (1992): Psychose und Konflikt. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen

Mentzos, S. (1996): Affektualisierung innerhalb der hysterischen Inszenierung. In: Seid­ ler, G.H. (Hrsg.): Hysterie. Ferdinand Enke Verlag Reich, W. (1933): Charakteranalyse. Techniken und Grundlagen. Selbstverlag, Berlin

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Peter Hartwich

Kreative bildnerische Therapien bei Persönlichkeitsstörungen Die Therapie der Persönlichkeitsstörungen war in der Tradition unserer psychiatrischen Versorgung wenig gewichtet. Noch vor wenigen Jahren gal­ ten Psychopathien, abnorme Persönlichkeitsstörungen, Soziopathien und dissoziative Störungen, wie die Menschen, für die die Symptome der Per­ sönlichkeitsstörung charakteristisch sind, genannt wurden, als kaum behan­ delbar. Heute stehen wir auf dem Boden einer operationalisierten Diagno­ stik und haben eine ganze Reihe von Zugangswegen zur Verfügung, die erweitert und ergänzt werden sollten. Neben den tiefenpsychologischen, den lerntheoretisch orientierten und den pharmakologischen Behandlungs­ ansätzen soll eine Therapierichtung vorgestellt werden, die sich auf das Kreative im Menschen und das Bildnerisch-Stoffliche besinnt.

1. Kreative Therapien im Verbund mit anderen Behandlungsverfahren Die hier dargelegten bildnerischen kreativen psychotherapeutischen Be­ handlungsansätze wurden in einer Vielzahl klinischer Behandlungsfälle er­ probt. Sie stellen zu den psychodynamischen, verhaltenstherapeutischen und pharmakotherapeutischen Ansätzen keine konkurrierenden Verfahren dar, im Gegenteil: sie sollen sie ergänzen. Bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen sollte es nicht darum ge­ hen, einem einzelnen therapeutischen Zugangsweg den Vorzug zu geben, sondern alle therapeutischen Möglichkeiten so zu einem Angebot zusam­ menzusetzen, daß für den einzelnen Patienten die Hilfe tatsächlich wirk­ sam wird. Dabei ist jedoch herauszufinden, welches Vorgehen für den Ein­ zelfall jeweils angemessen ist, im Sinne einer Gewichtung für die jeweilige Persönlichkeitsstörung, ob paranoid, schizoid oder histrionisch. Bei der zwanghaften Persönlichkeitsstörung kann die Verhaltenstherapie, bei der histrionischen und Borderline-Persönlichkeitsstörung kann die modifizierte analytische und bei der schizoiden und paranoiden können es zunächst Psychopharmaka sein, die das jeweilige Schwergewicht in einem zusam­ mengesetzten Behandlungskonzept ausmachen.

In dem vorliegenden Beitrag legen wir im Verbund mit den genannten Ver­ fahren das Hauptaugenmerk auf die kreativen Ansätze. Es soll dabei nicht 45

Hartwich

eine Übersicht oder Aufzählung der kreativen Behandlungsmöglichkeiten und der dazugehörigen Verfahren vorgelegt werden, da eine solche Rei­ hung kaum das Wesentliche des therapeutischen Vorgehens vermitteln kann. Statt dessen soll auf das „Wie" solcher Behandlungen eingegangen werden. Unsere Erfahrungen sollen durch Therapiebeispiele illustriert und dadurch besser vermittelbar werden. Anhand einiger Abbildungen möge dem Leser die aktive Teilnahme an einigen Beispielen kreativer Prozesse gelingen.

2. Patienten, die uns herausfordern In vielen unserer Kliniken, in denen wir pflichtgemäß dem Versorgungsauf­ trag von sektorisierten Bevölkerungszuordnungen nachkommen müssen und wollen, können wir uns die Patienten nicht auswählen. Somit findet sich in den Pflichtversorgungskliniken eine höhere Anzahl von Persönlich­ keitsstörungen ein. Wir wenden uns all denen zu, die den Weg zu uns fin­ den, ob freiwillig oder unfreiwillig. Es sind die dissozialen, häufig ohne fe­ sten Wohnsitz, als Obdachlose mit somatischen und psychischen Sekundär­ erkrankungen, die schizoiden oder paranoiden nach einem harten Suizid­ versuch, die histrionischen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, weil es in der ambulanten Therapie nicht mehr geht. Bei diesen kranken Menschen erwächst die Herausforderung, innerhalb der kurzen Zeit von Wochen und manchmal Monaten Behandlungsansätze zu finden, die bei diesen Störungen wirksam sind.

ICD 10: F 60 spezifische Persönlichkeitsstörungen

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• paranoide

• Borderline

• schizoide

• histrionisch

• dissoziale

• anankastisch

• emotional instabile impulsiver Typ

• ängstlich, vermeidend • abhängig (asthenisch)

Kreative

bildnerische

Therapien bei Persönlichkeitsstörungen

ICD 10: F 62

• andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung • andauernde Persönlichkeitsänderung nach psychischer Erkrankung

3. Ziele und Grenzen unserer Behandlung Wenn im klinischen Bereich akut dekompensierte Patienten stationär auf­ genommen werden, geht es im ersten Schritt um die Rekompensation. Da­ nach wird bald deutlich, daß solche Menschen, bei denen sich genetische Disposition, frühe Störung und spätere Fehlentwicklung ungünstig mitein­ ander verknüpft haben, dem psychotherapeutischen Gespräch wenig zu­ gänglich sind. Der Grund ist ihre mangelnde Introspektionsfähigkeit. Bei einer Reihe von Persönlichkeitsstörungen besteht eine hohe Innenverletz­ lichkeit, die offensichtlich mit einem rigiden Festhalten an ihren Haltungen und Abwehrstrukturen verbunden ist. Das gilt für schizoide, sensitive, paranoide und Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

Grenzen der Behandlung • hohe Innenverletzlichkeit

• rigides Festhalten an Haltungen und Abwehrstrukturen

4. Die Ich-Schwäche der Persönlichkeitsstörung liegt zwischen Psychose und Neurose Für die Behandlung und Einschätzung der Indikation für einzelne Therapie­ verfahren ist die Überprüfung ihrer Ich-Stärke bzw. Ich-Schwäche von ent­ scheidender Bedeutung.

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Hartwich

Ich-Schwäche der Persönlichkeitsstörung

PSYCHOSE • Zusammenbruch der Ich-Grenze • Desintegration und Zerfall des Ich-Erlebens

NEUROSE • relativ stabile Ich-Grenzen • Verstärkung der Abwehrmechanismen

• Paraintegrationskonstrukte

PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG • unterschiedliche Ausprägung der Ich-Schwäche • Angst vor Vernichtung, aber kein Zerfall

• Desintegration, allenfalls kurzzeitig

Wenn wir die Ich-Schwäche der Persönlichkeitsstörungen mit der bei Psy­ chosen und Neurosen vergleichen, so ist beispielsweise der akut schizo­ phren Erkrankte vom Zusammenbruch seiner Ich-Grenzen bedroht. Er ist dem Zerfall seines bisher einheitlichen und selbstverständlichen IchErlebens ausgesetzt. Es kommt zur Desintegration seines somatopsychischen Integrals (Hartwich 1996). Da ihm eine vollständige Reintegra­ tion während der Psychose oft nicht möglich ist, bildet er, um sich zu schützen, teilweise Hilfsmöglichkeiten aus in Form von Halfuzinationen, paranoiden Symptomen, Symbolerstarrungen und anderen psychotischen Verhaltensweisen, die wir Paraintegrationskonstrukte nennen.

Der Patient, der an einer neurotischen Entwicklung leidet, hat demgegenüber in der Regel stabile Ich-Grenzen. Er leidet nicht an der Fragmentierung und Auflösung seines Ich-Erlebens, da er zu seinem Schutz verstärkt Abwehr­ mechanismen ausbilden kann. Allerdings beharrt er auf diesen und leidet häufig darunter, wie es beispielsweise bei Zwangssymptomen deutlich ist. 48

Kreative

bildnerische

Therapien bei Persönlichkeitsstörungen

Bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen gibt es hinsichtlich der IchSchwäche sehr unterschiedlich gelagerte Ausprägungen. Sie können mit Angst vor Bedrohung oder gar Vernichtung einhergehen, führen aber in der Regel nicht zum Zerfall und auch nicht zu einem längeren und schwerwie­ genden Desintegrationserleben. Das gilt für paranoide, schizoide und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, sowie für den impulsiven Typ der emo­ tional instabilen Persönlichkeitsstörung. Demgegenüber scheinen Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung eine ungewöhnlich starke Ich-Abgrenzung zu haben, die im ICD 10 als „dickfelliges Unbeteiligtsein gegen­ über den Gefühlen anderer und Mangel an Empathie" charakterisiert wird. Die histrionische Persönlichkeitsstörung, die von einem dramaturgischen Effekt zum anderen lebt und sich in die verschiedenen Rollen hineinbegibt und gelegentlich verliert, ist hinsichtlich ihrer Ich-Stärke bzw. Ich-Schwäche nicht fixierbar.

Die genannten Charakterisierungen der einzelnen Erkrankungstypen kön­ nen beim derzeitigen Stand der Erforschung der Persönlichkeitsstörungen nur als polarisierte klinische Beschreibungen dargelegt werden. In der Pra­ xis, wo uns die Vielgestaltigkeit der Persönlichkeitszüge des einzelnen Menschen begegnet, finden wir auch eine Reihe von Übergängen. Diese dürfen aber nicht zur diagnostischen Unschärfe gegenüber Neurosen und Psychosen verleiten.

5. Warum Psychotherapie über ein Medium (das Dritte)? Die auf Cesprächsbasis beruhenden Psychotherapieverfahren sind hinsicht­ lich des Effektes der psychotherapeutischen Einflußnahme bei den genann­ ten stationär zu behandelnden schwereren Störungen oft weniger befriedi­ gend. Symptome und Haltungen, die sich vielfach in der Beziehung zu den Mitmenschen manifestieren, können sjch dabei als außerordentlich hinder­ lich erweisen. Infolgedessen halten wir es für erforderlich, etwas Drittes ein­ zubringen, ein Medium, das stofflich ist und an dem konkret mit den Hän­ den durch Gestalten am Gegenstand psychotherapeutisch gearbeitet wer­ den kann. Für das therapeutische Anliegen ist es wesentlich, daß die Bear­ beitung des Gegenstandes nicht primär zweckgebunden ist, sondern Raum und Möglichkeit für Kreatives anbietet. Das zusätzlich Kreative, das sich am Objekt manifestiert, kann im Schaffen von Skulpturen, Plastiken, Bildern, auch Computerbildern, sowie Musik, dem eigenen Körper in der Bewe­ gungstherapie und weiteren Medien liegen. Hinsichtlich der Definition „Kreativität" lehnen wir uns an Guilford an: Hier steht das Schöpferische, das sich in Tätigkeiten wie Entdecken, Entwerfen, Erfinden entfaltet, als Hauptmerkmal, welches sich mit konstruktiv-ordnenden Eigenschaften paart. 49

Hartwich

Warum Psychotherapie über ein Medium (das Dritte)?

• das Kreative = Schöpferisches plus Konstruktiv-Ordnendes

• konkret durch Handlungen am Gegenstand

- Plastiken, Skulpturen - Malerei, Computerbilder - Musik, Körpertherapie

6. Das kreative Gestalten bietet Schutz und Gefühlsaktivierung zugleich Das Malen von Bildern in der Psychotherapie hat C. G. Jung auch bei Psy­ chosen systematisch gefördert. Psychopathologische Erlebnisinhalte und Traumgestaltungen wurden von Patienten in selbst gemalten Bildern an­ schaulich. Die Wirkungsweise des bildnerischen Gestaltens hat Jung in fol­ gender Weise charakterisiert: Das gemalte Bild der Patienten schiebe sich vor die bedrohlichen Affekte der Psychose und schütze den Betreffenden damit. Er meint damit, daß in der herkömmlichen Maltherapie bei schizo­ phren Erkrankten die gemalte Konkretheit des Psychoseerlebens sich in der Darstellung festlegt. Damit bekommt das Bild eine schützende und stabili­ sierende Funktion. Die mit dem psychotischen Erleben oft überstarken und damit unaushaltbaren Gefühlsintensitäten werden gewissermaßen stofflich eingebunden, dann zu etwas Betrachtbarem, zu etwas Drittem.

Das kreative Gestalten bietet Schutz und Befreiung • bildnerisches Gestalten des Schizophrenen - schützt vor überstarken Affekten

• bei Neurosekranken wird Aktivierung und Freilegung der emotionalen Seite bewirkt. • bei Persönlichkeitsstörungen - Schutz und Befreiung - Aktivierung kreativer Kräfte

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Kreative bildnerische Therapien bei Persönlichkeitsstörungen

Nach unserer Erfahrung kann es neben der erwünschten Schutzfunktion auch gelegentlich zur Reaktivierung psychotischen Erlebens kommen, wel­ ches durch das Bild gewissermaßen „losgetreten" wird. Der Versuch des an Schizophrenie Erkrankten, das Unaushaltbare in seinem Erleben in etwas Stoffliches zu fixieren, ist in der ihm eigentümlichen Symbolik in Malerei und Plastik gelegen; diese gerinnt zu einem konkreten „Es ist so". Beson­ ders eindrucksvolle Beispiele sind hierzu von Pinzhorn publiziert worden.

Das therapeutische bildnerische Gestalten bei Neurosepatienten ist hinge­ gen in der Regel auf die Aktivierung und Freilegung von unbewußt geblie­ benen emotionalen Anteilen angelegt. Der Abwehr von Gefühlen soll durch Farben und Formen entgegengewirkt werden. Abwehr als Schutz soll eher aufgegeben werden. Die dann aufkommenden intensiven Gefühlsla­ dungen sollen zur Integration kommen. Für Persönlichkeitsstörungen ist es wichtig, zu betonen, daß im Rahmen des bildnerischen Gestaltens sowohl Schutz als auch Befreiung in jeweils angemessener Ausgewogenheit vereint werden mit der Aktivierung kreativer Kräfte.

7. Fallbeispiele 1. Beispiel: Eine 43jährige Patientin A. mit der ICD-Diagnose F 62.0, an­ dauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung wird kurz charak­ terisiert. Eine lang anhaltende Traumatisierung hatte sich in den Jahren der Pubertät ereignet. In den letzten 20 bis 25 Jahren bestanden sozialer Rück­ zug, Gefühl der Leere und Hoffnungslosigkeit, sehr ernste Suizidversuche, häufiges Gefühl des Bedrohtseins, ihr Mißtrauen gegenüber anderen Men­ schen ging gelegentlich in paranoide Auslenkungen über. Die Einweisung erfolgte wegen Suizidalität. In der stationären psychothera­ peutischen Behandlung ist neben anderen Verfahren die angebotene Maltherapie im Sinne des freien Malens mit Farben, Pinsel und Papier zu­ nächst nicht möglich. Die Patientin hatte Angst, sich zu sehr zu öffnen und verletzbar zu machen. Erst nach einigen Wochen getraute sie sich, einige ihrer Empfindungen, die sie nicht aussprechen konnte, in mehreren Colla­ gen darzustellen. Sie klebte Ausgeschnittenes aus Illustrierten auf ihre Weise zusammen.

In den Psychotherapiesitzungen konnte das Bild weiter bearbeitet werden. Inhaltlich kamen dabei die folgenden Aspekte zum Ausdruck (Bild 1): Die Welt um sie herum ist gefährliches Feuer, das sie erreicht und verbrennt. Sie hat sich die Maske eines Clowns vorgesetzt, damit niemand ihr leiden­ des Gesicht sehen kann und der Schmerz des Brennens nicht erkannt wird. 51

Hartwich

Im Bild kann sie offenlegen, wie sie sich den Mitmenschen gegenüber im­ mer verstellt. Es kann bearbeitet werden, welche Komplikationen sich im­ mer wieder ergeben, wenn ihr Partner und ihre Freunde nicht richtig er­ kennen können, was sie fühlt; d. h. ihre Mimik gibt dem Gesprächspartner falsche Signale, so daß seine Reaktionen unpassend sind und sie sich un­ verstanden und angegriffen fühlt, ohne zunächst die Zusammenhänge er­ kennen zu können. Formal sind die folgenden Charakteristika des Bildes zu beschreiben: Ein freies Malen mit eigener Färb- und Formgebung ist nicht möglich. Sie be­ dient sich statt dessen gestalterischer Hilfsmittel, die nicht zu viel öffnen und preisgeben. Sie befreit sich durch intensiven Ausdruck ihrer Befind­ lichkeit in einer kreativen und geordneten Bilddarstellung. Öffnen und Zu­ lassen von Gefühlen werden auf diese Weise möglich bei gleichzeitigem Schutz im Rahmen der Collagengestaltung.

2. Beispiel: Eine 46jährige Patientin B. mit schizoider Persönlichkeitsstö­ rung und Spätanorexie kommt zur stationären Behandlung. Diese erfolgt wegen Gewichtsverlust, Autoaggressivität und Suizidalität. Sie lebte in den letzten Jahren zurückgezogen, einzelgängerisch, eckt leicht durch egozen­ trisches Verhalten an, ist hochbegabt und extrem intellektualisierend und rationalisierend. Eine hohe Innenverletzlichkeit ist gepaart mit autoaggressi­ ven Impulsen und Todessehnsucht. Zwischen sich und der Außenwelt erlebt sie eine feste Mauer mit einem Gitter (Bild 2). Sie bedauert und wünscht es zugleich. Sie braucht die Mau­ er, da sie sich sprachlos fühlt; diesen Zustand stellt sie in der Zeichnung so dar, daß man ihr die Zunge herausgerissen und aufgespießt habe (Bild 3).

Ein weiteres Beispiel für den Versuch des Ablegens ihrer autoaggressiven Impulse ist die Zeichnung eines jungen Mädchens, welches sie selbst dar­ stellt (Bild 4). Sie legt Hand an sich. Sie ist über viele Wochen hinweg hoch suizidal. Alle Bilder dieser Serie - es sind mehrere 100 - werden im schizoiden Dünnstrich mit feinem spitzen Bleistift gezeichnet, hauchzart, aber prägnant.

Sie produziert fast täglich mehrere Zeichnungen, legt sie dem Therapeuten zunächst wortlos vor. Ihre hohen autoaggressiven Ladungen können in eine bildhafte Form nach außen gebracht werden. Dieses wird zum Medium, das Patientin und Therapeut als gemeinsames Drittes anschauen können. Das ein oder andere kann allmählich und vorsichtig zur Sprache gebracht werden. In der Darstellung werden ihre gefährlichen Gefühlsimpulse kon­ kret, für sie selber greifbar und für andere verstehbar. Sie versucht, ihr Erle­ ben mit dem Therapeuten zu teilen und es gelingt ihr, über den Zeitraum von mehreren Monaten es allmählich kreativ und konstruktiv zu bearbeiten. 52

Bild 1 —►

Bild 2 —►

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Bild 6

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Bild 7 64

Kreative

bildnerische

Therapien bei Persönlichkeitsstöruncen

3. Beispiel: Eine 42jährige Patientin C. mit narzißtischer Persönlichkeitsstö­ rung wird nach schwerem Suizidversuch zunächst auf einer internistischen Intensivstation entgiftet und wegen schon lang bestehender und ihrer wei­ terhin anhaltenden hohen Suizidalität in unsere Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie verlegt. In der analytisch orientierten Psychotherapie wer­ den Träume bearbeitet. Eines Nachts träumt sie von einem Kristall. Sie denkt häufig an das Traumbild und sucht sich schließlich einen realen kri­ stallinen Stein, den sie in einer Plastik verarbeitet.

Zwei Reibeisen werden verfremdet und nach außen hin mit Acrylglasschei­ ben abgedeckt (Bild 5). Vier Flügelschrauben spannen den Kristall empfind­ lich zwischen die Reibeisen ein. Der Kristall stellt ein Symbol dar, das Reinheit und Klarheit des Geistes meint, hier aber gleichzeitig Durchsich­ tigkeit, Starre, Unbeugsamkeit, Kantigkeit darstellt, wobei er leicht durch Erhöhung des äußeren Druckes zersplittern kann. Das angefügte Laufrad, das ihre kreisförmigen Gedanken- und Handlungswiederholungen darstellt, soll zunächst zeigen: „Ich funktioniere nur äußerlich und lenke mich da­ durch von mir selber ab" (Bild 6).

In einem nächsten Therapieabschnitt nimmt sie sich vor, eine Spiegelglas­ scheibe zu zertrümmern und danach die Bruchstücke in Gips einzubetten (Bild 7). Die Darstellung eines derartig scharfkantigen und aggressiven Re­ liefs dürfte einzigartig sein. Darüber hinaus spiegelt sich der Betrachter sel­ ber auch noch bruchstückhaft. Als prospektiv positiv können jedoch der Rahmen und der haltende Gips angesehen werden. Als nächstes bearbeitet sie Speckstein und später auch Marmor in unserer Marmorprojektgruppe. Sie geht aggressiv mit dem Widerstand um. Das Formbare beginnt, der Stein fügt sich ihrem Willen, bis er bricht. Der Stein ist nicht mehr durchsichtig wie Kristall und Glas, sondern er bringt von sich aus Dichte, Form, Struktur und Maserung. In einem nächsten Schritt kommt die Patientin zu einer Wachsmasse, die ebenfalls einem nächtlich geträumten Ereignis entspricht. Allmählich und im Material sichtbar erfolgt eine Wandlung, die mit einer Veränderung von Befindlichkeit und Verhalten korreliert. In der kreativen Therapie der Persönlichkeitsstörungen wird das Schöpferi­ sche provoziert und die Symbolkraft der Gestaltungen genutzt. Die Verwen­ dung der Materialien stellt etwas Drittes dar, was in vielen psychotherapeu­ tischen Verfahren, z. B. in der klassischen Analyse, so nicht vorkommt. „Die Materialien schieben sich zwischen den Patienten und seinen Thera­ peuten" (Biniek). Die taktilen Sinnesreize in den Bewegungen des Schaffens kommen hinzu. Je härter die Materialien, desto mehr Widerstand setzen sie dem Patienten entgegen, je formbarer, desto mehr eigene Struktur muß aufgebracht werden.

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Hartwich

Materialien

• Collagen aus vorhandenen Bildelementen in eigener Zusammensetzung • feiner Bleistift ohne Strichmodulation • Computer mit Struktur, Regeln, vorgegebenen Werkzeugen • Plastiken:

Kristall Metall Glas Stein, Speckstein, Marmor Wachs

Die Prozesse des Schaffens und Bildnerns sind das Entscheidende, nicht das Endprodukt, was uns als Ergebnis gezeigt wird. Wesentlich ist, daß wir bei Persönlichkeitsstörungen in der Therapie weni­ ger strukturierend vorgehen als bei Psychosen. Demgegenüber sind wir im Verwenden von Deutungen bei Persönlichkeitsstörungen vorsichtiger als bei Neurosen. Während wir bei Neurosen Strukturveränderungen anstre­ ben, versuchen wir bei Psychosen die Struktur wiederherzustellen und die Bedingungen zu berücksichtigen, die zu psychotischen Rückfällen führen können. Bei Persönlichkeitsstörungen erfolgt ein stärkeres Belassen der Struktur; wir legen mehr Gewicht auf die Rekompensation und möchten ihnen helfen, mit sich zu leben.

8. Der Aspekt des Leidens: Annahme und Aufnahme in sich selbst Ein Aspekt, der den drei Beispielen gemeinsam ist, soll herausgestellt wer­ den: Es sind vielfach sehr leidvolle Darstellungen. In der begrenzten statio­ nären Psychotherapie der vorgestellten Persönlichkeitsstörungen ging es u.a. um Darstellung und Ausdruck des persönlichen Leidens. Der in der Therapie entscheidende nächste Schritt wird vorbereitet: die Annahme des Leidens. Die Aufnahme des Leidens in sich selbst und die Verarbeitung der Tatsache, daß das Leid ein Bestandteil von sich selbst ist, kann, wenn es gelingt, ein wesentliches Therapieergebnis sein. Der Weg geht über die An­ regung ihrer schöpferischen Seite, die im Rahmen der Psychotherapie sich an Objekten manifestiert und in der Symbolbearbeitung den intrapsychi­ schen Heilungsprozeß weiterbringt. Somit wird für eine Reihe von schwie­ rig zu therapierenden Persönlichkeitsstörungen ein Weiterkommen mög-

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Kreative

bildnerische

Therapien bei Persönlichkeitsstörungen

lieh. Es werden Kompensationen und Entwicklungen erreicht, die allein beim klassischen psychoanalytischen Vorgehen oder allein bei verhaltens­ therapeutischen oder pharmakotherapeutischen Verfahren vermutlich so und speziell bei diesen Patienten nicht gegangen wären. Inwieweit die Ein­ zelfalldarstellungen und ihre Therapieeffekte generalisierbar sind, hängt vom einzelnen Patienten mit seiner individuellen Persönlichkeitsstörung ab, vom Therapeuten, der Interesse und Selbsterfahrung mit solchen Medien haben sollte und von den Materialien und ihren Verarbeitungsmöglichkeiten in einem geeigneten Umraum.

Der Aspekt des Leidens Annahme und Aufnahme in sich selbst

- als Teil von sich - als Teil der Welt

Literatur Biniek, E. (1992): Psychotherapie mit gestalterischen Mitteln. 2. Aufl., Wiss. Buchgesell­ schaft, Darmstadt

Guilford, J. P. (1973): Kreativität. In: Ulmann, G. (Hrsg.): Kreativitätsforschung. Kiepen­ heuer & Witsch, Köln Hartwich, P. (1971): Farbuntersuchungen in Malereien Schizophrener. Z. Psychother. Med. Psychol. 2: 64 - 73 Hartwich, P. (1993): Videospiegelung in der Behandlung schizophrener Psychosen. In: Ronge, J. et al. (Hrsg.): Perspektiven des Videos in der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Berlin-Heidelberg

Hartwich, P., Brandecker, R. (1994): Maltherapie an Bildschirm und Computer bei psy­ chotischen Erkrankungen. In: Ronge, J. (Hrsg.): Videounterstütztes Arbeiten in der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie. Verlag Wissenschaft & Praxis, Ludwigsburg-Berlin Hartwich, P. (1996): Praktische psychotherapeutische Vorgehensweisen bei schizophre­ nen und schizoaffektiven Psychosen. In: Hartwich, P., Haas, S. (Hrsg.): Pharma­ kotherapie und Psychotherapie bei Psychosen. Verlag Wissenschaft & Praxis, Sternenfels-Berlin

Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10). Hrsg. H. Dilling et al. Hu­ ber, Bern 1991 Jung, C. G. (1985): Die Schizophrenie (erstmals erschienen 1958). In: GW Bd 3, S. 295 312, 3. Aufl., Walter, Olten

Prinzhorn, H. (1923): Bildnerei der Geisteskranken. 2. Aufl., Springer, Berlin

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Christa Rohde-Dachser

Praktische Behandlungsaspekte in der Therapie von Borderiine-Störungen Borderline-Behandlungen gelten als schwierig, und sehr oft sind sie dies auch. In diesem Aufsatz möchte ich auf einige dieser Schwierigkeiten ein­ gehen, ihre Hintergründe darstellen und zeigen, wie mit ihnen therapeu­ tisch umgegangen werden kann. Dazu ist es allerdings notwendig, zunächst ein Vorverständnis darüber herzustellen, was man unter einer BorderlineStörung überhaupt versteht. Ich möchte zu diesem Zweck als erstes die wichtigsten Merkmale dieser Störung beschreiben, um anschließend auf die therapeutischen Probleme einzugehen, die sich daraus ergeben.

I. Symptome, die auf eine Borderline-Störung hinweisen Es gibt bestimmte Symptome, die auf eine Borderline-Störung hinweisen, auch wenn jedes dieser Symptome allein nicht ausreicht, um die Diagnose zu rechtfertigen (hierzu bereits Kernberg 1967, 1975). Dazu gehören vor allem selbstverstümmelnde Verhaltensweisen, Suizidversuche und wieder­ kehrende Impulshandlungen, die zumindest potentiell selbstschädigenden Charakter haben. Hinzu kommen insbesondere in Krisensituationen häufi­ ger auch Zwangssymptome, die in Wahnbildungen übergehen können, flüchtige oder ausgestanzte Wahnvorstellungen und kurzfristige psychoti­ sche Dekompensationen. Diese wenigen hier aufgeführten Symptome lassen bereits erkennen, daß es sich bei Borderline-Patienten in aller Regel um Menschen handelt, die ihre Aggressivität nicht nur nach außen richten, sondern in einer selbstzerstöre­ rischen Weise auch immer wieder gegen sich selbst. Dabei kann insbeson­ dere die wiederkehrende Selbstverstümmelung (vor allem durch Schneiden, Kratzen oder andere Formen der Hautverletzung) oft suchtartige Formen annehmen. Die Neigung, unter Streßsituationen mit Wahnbildungen oder auch mit einer kurzfristigen psychotischen Dekompensation zu reagieren, deutet außerdem darauf hin, daß der wiederkehrende Verlust der Reali­ tätsprüfung offenbar nicht nur als Ausdruck einer allgemeinen Ichschwäche beschrieben werden kann. Borderline-Patienten weichen offenbar manch­ mal unbewußt eher in eine Psychose aus, als sich mit andrängenden Kon­ flikten zu konfrontieren. Gemeinsam ist den beschriebenen Erlebens- und Verhaltensweisen außerdem, daß sie auf krankheitsüberdauernde Charak­ terzüge hinweisen. Dies führt zur Vorstellung einer Borderline-Persönlich71

Rohde-Dachser

keitsstörung, wie sie sowohl im ICD 10(1991) als auch im DSM 11l-R (1987) bzw. DSM IV (1994) beschrieben wird.

II. Die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD 10 (1991) und DSM 11l-R (1987) bzw. DSM IV (1994) 1. Die „emotional instabile Persönlichkeitsstörung, BorderlineTypus" (F60.31) nach ICD 10 (1991) Im ICD 10 wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung als „emotional insta­ bile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus" (F60.31) aufgeführt. Es han­ delt sich dabei um eine Persönlichkeitsstörung mit der Tendenz, die eige­ nen Impulse auszuagieren, ohne die damit verbundenen Konsequenzen zu berücksichtigen. Die Stimmung wirkt wechselnd und von Launen geprägt. Weitere Persönlichkeitszüge sind die mangelnde Fähigkeit zur Vorauspla­ nung und intensive Ärgerreaktionen, die besonders dann zum Ausbruch kommen, wenn impulsive Handlungen von anderen kritisiert oder behin­ dert werden. Das Selbstbild ist bei dieser Persönlichkeitsstörung unklar und gestört. Das gleiche gilt auch für die Geschlechtsidentität. Die Objektbe­ ziehungen sind ebenso intensiv wie unbeständig. Es kommt deshalb oft zu emotionalen Krisen mit Suiziddrohungen oder selbstschädigenden Hand­ lungen. Selbstschädigende Handlungen können aber auch ohne solche Auslöser auftreten (vgl. ICD 10, S. 215).

Neben dieser - aus meiner Sicht nicht unbedingt einfühlsamen - Beschrei­ bung der „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus" im ICD 10 gibt es eine ausführlichere und, wie ich glaube, auch zutreffen­ dere Beschreibung der Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM 11l-R bzw. DSM IV. Ich zitiere hier beide Varianten, weil die Auflistung der Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung im DSM auch der jeweiligen diagnostischen Bedeutung Rechnung trägt, die einzelne Kriterien für diese Diagnose haben (dazu u. a. Gunderson u. Zanarini 1987). Der Vergleich zwischen der Dia­ gnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung im DSM lll-R, das erstmals im Jahre 1987 erschienen ist, und der Beschreibung der gleichen Diagnose im DSM IV (1994) läßt deshalb auch mögliche Veränderungen in der klini­ schen Sicht der Borderline-Persönlichkeitsstörung erkennen, die auch für die Borderline-Therapie von Bedeutung sein können. Ich möchte unter die­ sen Gesichtspunkten zunächst die Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Definition des DSM lll-R (1987) betrachten.

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Praktische Behandlungsaspekte

in derTherapie von

Borderline-Störungen

2. Die „Borderline-Persönlichkeitsstörung" (301.83) nach DSM lll-R (1987) Im DSM lll-R (1987) wird die Borderline-Persönlichkeitsstörung wie folgt beschrieben: „Ein durchgängiges Muster von Instabilität im Bereich der Stimmung, der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Selbstbildes. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter, und die Störung manifestiert sich in den ver­ schiedensten Lebensbereichen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: 1. Ein Muster von instabilen, aber intensiven zwischenmenschlichen Be­ ziehungen, das sich durch einen Wechsel zwischen den beiden Extre­ men der Überidealisierung und Abwertung auszeichnet;

2. Impulsivität bei mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Aktivi­ täten, z. B. Celdausgeben, Sexualität, Substanzmißbrauch, Ladendieb­ stahl, rücksichtsloses Fahren und Freßanfälle (außer Suizid oder Selbstverstümmelung, siehe dazu [5]);

3. Instabilität im affektiven Bereich, z. B. ausgeprägte Stimmungsände­ rungen von der Grundstimmung zu Depression, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Zustände gewöhnlich einige Stunden oder, in sel­ tenen Fällen, länger als einige Tage andauern; 4. Übermäßige starke Wut oder Unfähigkeit, die Wut zu kontrollieren, z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut oder Prügeleien; 5. Wiederholte Suiziddrohungen, -andeutungen oder -versuche oder an­ dere selbstverstümmelnde Verhaltensweisen; 6. Ausgeprägte und andauernde Identitätsstörung, die sich in Form von Unsicherheit in mindestens zwei der folgenden Lebensbereiche mani­ festiert: dem Selbstbild, der sexuellen Orientierung, den langfristigen Zielen oder Berufswünschen, in der Art der Freunde oder Partner oder in den persönlichen Wertvorstellungen;

7. Chronisches Gefühl der Leere oder Langeweile;

8. Verzweifeltes Bemühen, ein reales oder imaginäres Alleinsein zu ver­ hindern (außer Suizid oder Selbstverstümmelung, siehe dazu [5])." (Zitiert nach der deutschen Bearbeitung des DSM lll-R von Wittchen, Saß, Zaudig u. Koehler, 1984, S. 419 f.) In dieser Aufzählung wird, ebenso wie übrigens später im DSM IV, die Borderline-Persönlichkeitsstörung zunächst ganz allgemein durch eine In­ stabilität im Bereich der Stimmung, der zwischenmenschlichen Beziehun­

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Rohde-Dachser

gen und des Selbstbildes definiert. In der anschließenden Auflistung der verschiedenen, für die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung be­ deutsamen Kriterien wird dem Muster von instabilen, gleichzeitig aber in­ tensiven zwischenmenschlichen Beziehungen die größte Bedeutung zuge­ messen (Kriterium 1). Dem folgt als Kriterium 2 die Neigung zu impulsi­ vem, selbstschädigendem Handeln. Das Bemühen der Borderline-Patienten, die Erfahrung des Alleinseins zu vermeiden, steht ganz am Ende der Krite­ rien I iste. Mögliche psychotische oder dissoziative Reaktionen werden über­ haupt nicht erwähnt.

3. Die „Borderline-Persönlichkeitsstörung" (301.83) nach DSM IV (1994) Im DSM IV (1994) lautet die Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung dann wie folgt: „Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Bezie­ hungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivi­ tät. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedensten Lebensbereichen. Mindestens 5 der folgenden Kriteri­ en müssen erfüllt sein:

1. verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstver­ letzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. 2. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Bezie­ hungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Ideali­ sierung und Entwertung gekennzeichnet ist.

3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbst­ bildes oder der Selbstwahrnehmung. 4. Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Berei­ chen (Celdausgaben, Sexualität, Substanzmißbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Freßanfälle"). Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die im Kriterium 5 ent­ halten sind. 5. Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.

oder

6. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stim­ mung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). 74

Praktische Behandlungsaspekte

in derTherapie von

Borderline-Störungen

7. Chronische Cefühle von Leere. 8. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kon­ trollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).

9. Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellun­ gen oder schwere dissoziative Symptome." (Zitiert nach der deutschen Bearbeitung des DSM IV von Saß, Wittchen u. Zaudig, 1996, S. 739). In dieser Aufzählung des DSM IV ist die Unfähigkeit der BorderlinePatienten, allein zu sein (und sei es nur in ihrer Vorstellung) in der Krite­ rien I iste von Platz 8 auf Platz 1 gerückt. Danach folgen (in dieser Reihung) „Instabile und intensive Objektbeziehungen", „Identitätsstörung", „Impul­ sivität" und „Suizidalität und selbstverstümmelndes Verhalten". Offenbar ist in diese Veränderung der Kriterienliste die klinische Erfahrung eingegan­ gen, daß Borderline-Patienten dazu gezwungen sind, sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln an bedeutsame Objekte zu klammern, die für sie eine lebensrettende Funktion besitzen. Erweitert wird diese Liste un­ ter Punkt 9 um das Kriterium einer möglichen, durch Streß verursachten paranoiden oder schweren dissoziativen Reaktion. Damit wird auch der ätiologischen Hypothese Rechnung getragen, nach der die bei BorderlinePatienten häufigen (in der Regel streßinduzierten) paranoiden und dissozia­ tiven Reaktionen auf traumatische Kindheitserfahrungen zurückzuführen sind, die vor allem mit der Erfahrung körperlichen und/oder sexuellen Miß­ brauchs Zusammenhängen (Herman, Perry u. van der Kolk 1989; Stone 1990; Herman 1992). Einschlägige Untersuchungen insbesondere in den USA haben gezeigt, daß Jungen und Mädchen dabei gleichermaßen der Erfahrung körperlicher Mißhandlung ausgesetzt sind, daß sexueller Miß­ brauch bei Mädchen aber etwa zwei- bis dreimal häufiger vorkommt als bei Jungen (vgl. dazu Herman, Perry u. van der Kolk 1989). Dies könnte unter anderem auch den deutlichen Frauenüberhang unter den BorderlinePersönlichkeitsstörungen erklären.

4. Flucht vor dem Alleinsein, Spaltung und Dissoziation als Abwehr traumatischer Erfahrungen Für das Thema dieses Aufsatzes, der sich mit praktischen Aspekten der Borderline-Therapie befaßt, ist diese veränderte Sicht der Borderline-Persönlichkeitsstörung in mehrerer Hinsicht von Bedeutung. Im Zentrum der Borderline-Persönlichkeitsstörung - so kann man aus dem DSM IV (1994) un­ schwer ersehen - steht die Angst des Patienten vor dem Alleinsein. Es han­ delt sich dabei um eine Angst, die allenfalls bedingt mit der Angst vor dem

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Rohde-Dachser

Verlassenwerden vergleichbar ist, wie man ihr vor allem bei depressiven Patienten begegnet. Borderiine-Patienten schildern immer wieder, daß die Vorstellung des Alleinseins bei ihnen mit der Angst verbunden ist, in die­ sem Zustand von massiven, traumatischen Gefühlen überschwemmt zu werden, die nicht mehr steuerbar sind und mit dem Gefühl psychischer Vernichtung einhergehen. Diese Gefühle entstammen unbewußten Phanta­ sien, die sich um furchterregende innere Objekte ranken (dazu Hirsch 1987; Sachsse 1994). Sachsse, der viele Patientinnen mit Selbstverstümme­ lungen behandelt hat, beschreibt eindrücklich, wie diese Patientinnen ihm ihre Angst vor dem Alleinsein schilderten. Eine Patientin bezeichnete dieses Gefühl in der Therapie einmal als „Grauen" (Sachsse 1994, S. 103). Sachsse selber spricht von einem Gefühl der Selbstauflösung und Fraktionierung, das Panik auslöst (a. a. O.). In diesem Zusammenhang bekommt die Selbst­ beschädigung eine rettende Funktion, wie ein Antidepressivum, das die Er­ innerung und das damit verbundene Gefühl des Vernichtetwerdens aufhebt (Rohde-Dachser 1994).

So gesehen, kann man die Borderline-Persönlichkeitsstörung auch als Aus­ druck einer tiefgreifenden Ich-Störung verstehen, in der die Angst vor furchterregenden, zerstörerischen Introjekten so überwältigend ist, daß die Patienten alles tun, um der Konfrontation mit ihnen zu entgehen. BorderIine-Patienten spalten deshalb ihre innere Realität, indem sie die „guten" und die „bösen" inneren Objekte scharf voneinander trennen. Dies ist not­ wendig, weil bei ihnen fast immer die Phantasie besteht, daß bei einem Zu­ sammentreffen der internalisierten „guten" und „bösen" Objeke das interna­ lisierte böse Objekt im Kampf mit dem guten Objekt den Sieg davontragen könnte. Das, was dann zurückbleibt, ist in der Phantasie der BorderlinePatienten eine Welt, in der alles Gute ausgelöscht ist. Auf der Ebene der archaischen Phantasie entspricht dies einer apokalyptischen Vorstellung, nach der es auf der Welt nichts mehr gibt außer vergifteter Nahrung, was gleichbedeutend ist mit Vernichtung und psychischem Tod. Die Frage, was geschehen muß, um diese Spaltung der internalisierten Ob­ jekte in „gut" und „böse" aufzuheben, steht auch im Zentrum der Borderline-Therapie, der ich mich nunmehr zuwenden möchte.

III. Grundzüge der Borderline-Therapie Eine Borderline-Therapie sollte grundsätzlich erst dann begonnen werden, wenn der Therapeut sich in der Lage fühlt, mit dem Patienten eine konstante therapeutische Beziehung einzugehen, die diesem die Sicherheit verleiht, auch in Krisensituationen jederzeit auf eine verläßliche Beziehungsfigur zu­

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Praktische Behandlungsaspekte in der Therapie von Borderline-Störungen

rückgreifen zu können. Der Therapeut übernimmt auf diese Weise gleich­ zeitig eine Schutzfunktion gegen die gefürchteten Introjekte des Patienten.

Borderline-Patienten sind auf eine solche stabile Struktur auch noch aus ei­ ner Reihe anderer Gründe angewiesen. Viele Untersuchungen zeigen, daß Borderline-Patienten in stabilen äußeren Strukturen relativ gut funktionieren können, während sie in unstrukturierten psychologischen Testsituationen (zum Beispiel dem Rorschach-Test) unerwartet schnell Reaktionen zeigen, die sich kaum von denen schizophrener Patienten unterscheiden (vgl. dazu Rohde-Dachser 1995, S. 66 f.). Man sollte deshalb für die Borderline-Therapie prinzipiell auch kein psychotherapeutisches Setting wählen, das stark regressionsfördernd wirkt und von daher die ohnehin prekären Ich-Strukturen des Patienten weiter zu schwächen droht. Eine Psychoanalyse im klassischen Sinne ist bei Borderline-Patienten aus diesem Grunde kontrain­ diziert. Kernberg (1975, 1989) empfiehlt statt dessen eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie, die in der Regel im Sitzen stattfindet. Das Vis-ävis des Therapeuten verleiht dem Patienten eine gewisse Sicherheit und wirkt von daher entängstigend, anders als eine Therapie im Liegen, bei der Borderline-Patienten oft so stark regredieren, daß sie diese Entwicklung selbst nicht mehr steuern können und in dieser Situation dann häufiger so­ gar eine Übertragungspsychose entwickeln. Kernberg hat für die analytisch-orientierte Psychotherapie von BorderlinePatienten relativ klare Empfehlungen erarbeitet. Dazu gehören insbesondere 1. die Notwendigkeit eines klaren Eingangskontrakts;

2. die Konfrontation des Patienten mit seinen pathologischen Abwehrme­ chanismen im Hier und Jetzt; 3. die Notwendigkeit, die Teilobjektbeziehungen des Patienten zu über­ brücken;

4. ein adäquater Umgang mit seiner Aggression und

5. ein sich auch auf negative Gefühle einlassender Umgang mit der the­ rapeutischen Gegenübertragung.

Über diese Charakteristika der Borderi ine-Therapie möchte ich im folgen­ den sprechen.

1. Der Eingangskontrakt Der wichtigste Teil der Borderiine-Therapie ist nach meiner Erfahrung der Eingangskontrakt (vgl. dazu insbesondere auch Kemberg 1989). Zum Ein­ gangskontrakt gehören klare Vereinbarungen über die Behandlungsziele, über das Setting und über die Häufigkeit und Dauer der Sitzungen. Hinzu kommen die Einbeziehung früherer Therapieerfahrungen, über die der Pa­ 77

Rohde-Dachser

tient berichtet, die Abklärung seiner Erwartungen an den Therapeuten, die Antizipation des Umgangs mit zukünftigen Enttäuschungen des Patienten, die Voraussage von vermutlichen Behandlungskomplikationen und die Vereinbarung entsprechender Präventivmaßnahmen. Borderline-Therapien, die ohne einen klaren Eingangskontrakt begonnen wurden, nehmen oft einen Verlauf, in dem es für den Therapeuten nicht mehr möglich ist, die therapeutische Beziehung zu beeinflussen, geschwei­ ge denn, sie zu beenden, weil der Patient ihm die Kontrolle darüber längst aus der Hand genommen hat. Trotzdem kommt es in der BorderlineTherapie immer wieder zu solchen Entwicklungen. Aus diesem Grunde ist es notwendig, mit dem Patienten von vornherein klare Vereinbarungen zu treffen, die für beide Beteiligten einen für die Dauer der Therapie verbindli­ chen Rahmen schaffen. Eine solche Vereinbarung gilt zunächst dem Ziel der Behandlung.

Oft können Borderline-Patienten im Erstgespräch ihr Behandlungsziel nicht klar formulieren. Therapeut und Patient können dann vereinbaren, sich zu­ nächst in mehreren Gesprächen über ein mögliches Ziel der Behandlung klar zu werden. Vielleicht kann dieses Behandlungsziel auch nach mehre­ ren Gesprächen zunächst nur vorläufig definiert werden. Vereinbart werden muß dann aber, wann die Frage erneut aufgegriffen werden soll. Spontan begonnene Behandlungen entwickeln sich demgegenüber oft eher ungün­ stig. Die Behandlung verläuft dann zunächst mit einer, nach kurzer Zeit mit zwei therapeutischen Sitzungen pro Woche. Wenn es dem Patienten unter dieser Therapie dann schlechter geht, was früher oder später der Fall sein wird, wird die Stundenfrequenz auf drei Sitzungen pro Woche erhöht. Da­ bei ist oft weder dem Therapeuten noch dem Patienten wirklich klar, wor­ auf die Therapie eigentlich abzielt - wenn man von vagen Formulierungen des Patienten, wie: „Es soll mir besser gehen!", einmal absieht. Deutlich ist nur, daß die begonnene Therapie nicht mehr abgebrochen werden kann, weil der Patient allein beim Gedanken daran suizidal wird und den Thera­ peuten mit dieser Drohung immer erneut unter Druck setzt.

Deshalb ist die Vereinbarung klarer Therapieziele bereits vor Beginn der Therapie ganz besonders wichtig. Dies gilt im übrigen auch dann, wenn die Behandlung in einer Klinik stattfindet und die Behandlungsdauer von daher von vornherein auf eine bestimmte Zeit begrenzt ist. In einem solchen Fall ist außerdem auch das unvermeidliche Ende der Therapie von Anfang an mit zu thematisieren. Daß ein Eingangskontrakt auch Setting, Häufigkeit und Dauer der Sitzun­ gen einschließen sollte, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Bei der Verein­ barung der Sitzungsfrequenz muß bedacht werden, daß Borderline-

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Praktische Behandluncsaspekte in derTherapie von Borderline-Störungen

Patienten auf eine höhere Stundenfrequenz oft eher negativ reagieren. Dies gilt auch dann, wenn sie selber es waren, die auf eine solche Erhöhung drängten. Das mit der Stundenerhöhung verbundene größere Näheangebot des Therapeuten löst beim Patienten oft einen regressiven Sog aus, der sich früher oder später verselbständigt. Die in der Borderiine-Therapie evozier­ ten Gefühle müssen aber steuerbar bleiben, und zwar für Patient und The­ rapeut gleichermaßen. Manchmal kann dies dazu führen, daß eine Borderline-Therapie am Anfang nur alle vier oder sechs Wochen stattfindet. Ver­ änderungen des vereinbarten Settings sollten, bevor sie stattfinden, beson­ ders sorgfältig bedacht und mit dem Patienten besprochen werden. Ein klar vereinbartes Setting ist Voraussetzung für das Gelingen einer BorderlineTherapie. Seine Einhaltung durch den Therapeuten vermittelt dem Patien­ ten gleichzeitig indirekt einen Beweis für dessen Nicht-Verführbarkeit.

Mit dem Patienten sollte auch bereits während der ersten Gespräche auf mögliche frühere Therapieerfahrungen eingegangen werden. BorderlinePatienten haben sehr oft bereits eine oder mehrere Psychotherapien hinter sich, oder sie waren bereits einmal oder mehrmals auf einer psychiatrischen Station. In diesem Falle sollte der Patient genauer darüber befragt werden, wie es jeweils zu einer solchen Psychotherapie oder zu einem solchen psychiatrischen Aufenthalt gekommen ist, und ob es ihm nach einer sol­ chen Therapie besser oder schlechter erging. Es kann durchaus sein, daß eine frühere Therapie zum Beispiel abgebrochen wurde, weil der Patient psychotisch dekompensierte, oder weil es zwischen Therapeut und Patient zu einer sexuellen Beziehung gekommen war.

Das Diagnostische Interview für Borderline-Patienten (DIB) von Gunderson, Kolb u. Austin (1981) bzw. später Gunderson und Zanarini (1992) umfaßt bekanntlich insgesamt etwa 120 Fragen. Untersuchungen haben gezeigt, daß sechs von diesen 120 Fragen in der Lage waren, Borderline-Patienten mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit von anderen Patientengruppen zu unterscheiden. Eine dieser Fragen war, ob es dem Patienten nach einer Psychotherapie schlechter ergangen war als vorher. Patienten, die diese Frage bejahten, waren mit hoher Wahrscheinlichkeit unter die Kategorie der Borderline-Störungen einzuordnen. Sehr oft handelt es sich dabei um Therapien, die mit einem zu großen Näheangebot verbunden waren, oder auch um Therapien, die den Patienten so früh mit vergangenen traumati­ schen Erfahrungen konfrontieren, daß er dieser Anforderung noch nicht gewachsen ist. Leider sind es auch häufig Therapien, die am Agieren des Therapeuten scheitern. Borderline-Patienten, die mit einer sexuellen Miß­ brauchserfahrung in die Therapie kommen, versuchen häufiger als andere Patienten, auch in der Beziehung zum Psychotherapeuten ihre traumatische Mißbrauchserfahrung zu reinszenieren - nunmehr mit dem Psychothera­

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Rohde-Dachser

peuten in der Täterrolle. Die Reinszenierung geschieht mit dem unbewuß­ ten Ziel, diesmal einen anderen Ausgang herbeizuführen. Immer wieder kommt es dabei aber auch zu einer katastrophalen Wiederholung. Borderiine-Patienten beginnen ihre Therapie sehr oft mit einer Idealisierung des Therapeuten, die mit ganz unrealistischen Erwartungen verbunden ist. Auch diese Erwartungen sollten bereits im Rahmen des Eingangskontraktes angesprochen werden. Borderline-Patienten tendieren dazu, die anfängli­ che Idealisierung des Therapeuten sehr bald in Entwertung zu verkehren, sobald sich herausstellt, daß der Therapeut nicht in der Lage ist, die an ihn gestellten Erwartungen zu erfüllen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Patient latent die Überzeugung hegt, der Therapeut sei allmächtig und könnte ihn von daher jederzeit von seinem Leiden erlösen, wenn er dies nur wirklich wollte. Leider ist es so, daß manchmal auch der Therapeut ins­ geheim dieser Überzeugung aufsitzt. Wenn das Leiden des Patienten dann trotzdem immer weiter besteht, wird der Patient früher oder später damit beginnen, stärkere Signale des Leidens auszusenden. Manchmal eskaliert diese Entwicklung bis hin zum SuizidVersuch. Dahinter steht der unbewußte Appell: „Nun setze Deine Macht doch endlich ein und rette mich!", während der Therapeut angesichts die­ ser Zuspitzung immer stärker das Gefühl hat, mit leeren Händen dazustehen. Bei der Vereinbarung des Eingangskontrakts sollte deshalb auch zur Sprache kommen, was in einer Therapie grundsätzlich möglich ist und was nicht. Angesprochen werden sollte auch, wie Therapeut und Patient mit den Ent­ täuschungen umgehen werden, die der Patient in der geplanten Therapie unweigerlich erfahren wird. Wenn eine Patientin zu ihrem Therapeuten im Erstgespräch sagt: „Sie sind meine einzige Hoffnung!", dann wird mit einer solchen Erwartung bereits der nächsten Enttäuschung der Weg gebahnt. Die Antwort des Therapeuten müßte an dieser Stelle dann eigentlich sein: „Ich werde mich sicherlich bemühen, Sie nicht zu enttäuschen. Was aber wird geschehen, wenn mir dies trotzdem nicht immer gelingt? Wenn Sie auf die­ se Weise vielleicht mit mir etwas wieder erleben, was Sie in anderen The­ rapien schon an den Rand des Suizids geführt hat?" Es ist besser, diese Möglichkeiten früh zu thematisieren, anstatt abzuwarten, bis der Patient unerwartet von der ersten massiven Enttäuschung überrollt wird.

Schließlich geht es im Eingangskontrakt auch um die Voraussage möglicher therapeutischer Komplikationen und um die Überlegung, wie mit diesen Komplikationen, sollten sie tatsächlich auftreten, umgegangen werden kann. Eine Psychotherapie soll den Patienten näher an jene unbewußten Konflikte heranführen, die er bisher mit Hilfe der ihm zur Verfügung ste­ henden Abwehr sorgfältig vermieden hat. Patienten reagieren in der Therapie 80

Praktische Behandluncsaspekte in

der Therapie von

Borderline-Störungen

auf diese „Gefahr" regelmäßig zunächst mit einer Verstärkung ihrer Abwehr. In der Borderline-Therapie handelt es sich dabei allerdings oft um Abwehr­ mechanismen, die selbstschädigend sind oder die Realitätsprüfung des Pa­ tienten in Mitleidenschaft ziehen (z. B. suizidales Handeln, erneutes Abglei­ ten in Sucht oder psychotische Dekompensation). Manchmal kann es auch sein, daß mit dem Nachlassen der Abwehr zunächst ganz unkontrollierte Mordimpulse an die Oberfläche drängen.

Wenn es für solche möglichen Komplikationen schon in der Anamnese Anhaltspunkte gibt, sollte bereits zu Beginn der Therapie mit dem Patienten vereinbart werden, was in einem solchen Fall geschehen soll. Der Patient kann sich beispielsweise verpflichten, unter bestimmten Bedingungen wäh­ rend der Therapie Medikamente einzunehmen oder sich einer stationären Behandlung zu unterziehen. Sollte es während der Borderline-Therapie dann etwa zu einer psychotischen Krise kommen, kann dies von beiden Beteiligten als eine, wenn auch unangenehme, Begleiterscheinung der The­ rapie verstanden werden, für die rechtzeitig Vorsorge getroffen worden ist. Dies ist etwas ganz anderes, als wenn der Therapeut während der Border­ line-Therapie unverhofft vor der Situation steht, einem Patienten Neurolep­ tika verschreiben zu müssen. Der Patient sagt in diesem Fall dann leicht: „Ich habe es ja immer gewußt, ich bin psychotisch! Und Sie wußten es auch, haben es mir aber verschwiegen." Die unheilvolle Spirale, die damit in Gang gesetzt wird, kann vermieden werden, wenn sich Therapeut und Patient von Anfang an auf solche Komplikationen einstellen.

2. Konfrontation mit den pathologischen Abwehrmechanismen des Patienten im Hier und Jetzt Für Kernberg besteht die Borderline-Therapie vor allem in der Konfrontation des Patienten mit seinen pathologischen Abwehrmechanismen, und zwar im Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung (Kernberg 1975, 1989). Zu den bevorzugten Abwehrmechanismen von Borderline-Patienten gehö­ ren insbesondere: • Spaltung;

• Projektion und projektive Identifizierung;

• primitive Idealisierung; • Verleugnung;

• Omnipotenz und Entwertung der Objekte; und • eine spezifische Form der Ich-Regression, die häufig wichtige IchFunktionen mit in ihren Sog zieht (dazu auch Rohde-Dachser 1995).

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Rohde-Dachser

Der Hauptabwehrmechanismus der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist die Spaltung. Die anderen hier aufgeführten Abwehrmechanismen haben in erster Linie die Aufgabe, diese Spaltungsoperationen zu unterstützen und aufrechtzuerhalten. Spaltung heißt aber immer auch, daß der Patient die Realität in einer jeweils spezifischen Verzerrung wahrnimmt, und zwar entweder „ganz gut" oder „ganz böse". Für Kernberg ist es deshalb beson­ ders wichtig, den Patienten im Hier und Jetzt mit den Widersprüchen zu konfrontieren, die mit der Spaltung einhergehen. Borderline-Patienten kön­ nen zum Beispiel ihre Beziehungspersonen so widersprüchlich schildern, daß sich der Therapeut kein realistisches Bild von ihnen machen kann. Ein Patient kann etwa seine Mütter zunächst als eine „ganz gute Mutter" be­ schreiben, um fünf Minuten später von ihr zu sagen, daß sie ihn nie ver­ standen habe. Der Therapeut sollte den Patienten mit einem solchen Wi­ derspruch konfrontieren, etwa mit den Worten: „Ich höre, wie Sie Ihre Mut­ ter schildern. Für mich sind diese Schilderungen aber so widersprüchlich, daß ich sie noch nicht richtig verstanden habe. Sie stellen kurz hintereinan­ der fest, daß Sie eine ganz gute Mutter hatten, und daß Ihre Mutter Sie nie verstanden hat. Dann wieder beschreiben Sie, daß Sie eine glückliche Kindheit hatten. Bitte, erklären Sie mir doch, wie dies zusammenpaßt." Mit dieser Aufforderung wird der Patient mit seiner Spaltung konfrontiert. Er muß sich auf diese Weise mit den Widersprüchen, die er bisher negiert hat, auseinandersetzen und sich auch den Konflikten stellen, die dabei sichtbar werden.

Die Notwendigkeit einer solchen Konfrontation gilt auch für die anderen borderlinetypischen Abwehrmechanismen, die oben beschrieben wurden. Projektion und projektive Identifizierung dienen dazu, inkompatible Per­ sönlichkeitsanteile nach draußen zu projizieren. Sie ermöglichen auf diese Weise gleichzeitig die Aufrechterhaltung der Spaltung, weil alles, was der gespaltenen Realität widerspricht, durch die Projektion entsprechend verla­ gert werden kann. Die projektive Identifizierung ist zudem an durchlässige Ich-Grenzen gebunden; sie geht deshalb immer mit einer Minderung der Realitätsprüfung einher. Im Rahmen der projektiven Identifizierung unter­ liegt die Wahrnehmung dessen, was innerhalb und was außerhalb der Per­ son geschieht, einer ständigen Veränderung, so daß es keinen sicheren Standort gibt, der hier eine Orientierung liefern könnte. Der Abwehrme­ chanismus der primitiven Idealisierung wird eingesetzt, um die Idealisie­ rung einer Person aufrechtzuerhalten, der gleichzeitig auch die Aggressio­ nen des Patienten gelten. Die primitive Idealisierung soll diese Aggression überdecken. Sie bewirkt auf diese Weise eine fortlaufende Verzerrung der Realität, gerade auch dem Therapeuten gegenüber, dessen Idealisierung in diesem Zusammenhang oft ganz unrealistische Ausmaße annimmt. Auch der für Borderline-Patienten typische Wechsel zwischen Omnipotenz und

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Praktische Behandlungsaspekte in derTherapie von Borderline-Störungen

Entwertung der Objekte ist ein Abwehrmechnismus, der auf Vermeidung der Realität ausgerichtet ist. Ähnlich führt die Verleugnung dazu, daß der Patient die Folgen seiner Handlungen nicht zur Kenntnis nimmt und des­ halb auch die inneren Warnsignale nicht beachtet, die auf die selbstschädi­ genden Konsequenzen des eigenen Tuns verweisen.

Bei der Ich-Regression handelt es sich um ein borderline-spezifisches Ab­ wehrmanöver, in dem der Patient bestimmte Ich-Funktionen (vor allem Denken, Wahrnehmung und Realitätsprüfung) zeitweise suspendiert, um auf diese Weise die Verleugnung der (inneren wie äußeren) Realität auf­ recht erhalten zu können. Auch psychotische Dekompensationen, die bei Borderline-Patienten häufiger sind, können in der Regel als eine solche Form der Abwehr verstanden werden. Das plötzliche Aussetzen der Denk­ funktion bei einem Patienten kann dann leicht wie eine schizophrene Denkstörung anmuten, während es sich in Wirklichkeit um ein, wenn auch psychosenahes, Abwehrmanöver gegen unerträgliche Konflikte handelt. Es bedarf deshalb auch hier einer möglichst frühzeitigen Konfrontation des Patienten mit der Abwehrbedeutung dieses Verhaltens. Deutungen, die zu­ rück in die Genese führen, sind in der Borderline-Therapie demgegenüber eher ineffektiv und können zur weiteren Verwirrung des Patienten beitragen.

3. Umgang mit Teilobjektbeziehungen Spaltung führt zu einem Fortbestehen von Selbst- und Objektrepräsentan­ zen, die die Realität nur unscharf widerspiegeln. Die Selbst- und Objektre­ präsentanzen erscheinen statt dessen wechselnd in einer „ganz guten" und einer „ganz bösen" Qualität, ohne die Zulassung von Zwischentönen. Dies spiegelt sich auch in der therapeutischen Beziehung wider. Oft kommt es zum Beispiel vor, daß Patienten ihren Therapeuten in einer Stunde hoch­ gradig idealisieren, nach dem Motto: „Sie sind der Einzige, der mir helfen kann!", und: „Wenn ich Sie nicht hätte, müßte ich zugrunde gehen!" In der nächsten Stunde kommt der Patient dann und sagt ohne Übergang: „Ich weiß gar nicht, warum ich noch zur Therapie komme. Ich habe den Ein­ druck, Sie können mir nicht helfen. Alles ist umsonst!" Dabei wirkt er ver­ zweifelt, suizidal. Wenn so etwas in der Therapie häufiger vorkommt, ist dies ein Hinweis darauf, daß es dem Patienten nicht möglich ist, diese un­ terschiedlichen Urteile zu integrieren. Das bedeutet, daß es der Therapeut stellvertretend für den Patienten tun muß. Er muß sich zu diesem Zweck zunächst selbst innerlich aus der ihm angetragenen Teil-Objektbeziehung lösen und sozusagen einen Schritt zurücktreten, um aus dieser neuen Posi­ tion heraus die letzten Sitzungen vor sich Revue passieren zu lassen. Dabei wird er nach Widersprüchen suchen, die sichtbar werden, wenn man die einzelnen Sitzungen miteinander vergleicht. Der Therapeut kann dann dem 83

Rohde-Dachser

Patienten vielleicht sagen: „Mir fällt auf, daß Sie letzte Stunde das und das über mich gesagt haben, und heute sagen Sie genau das Gegenteil von mir. Ich kann das für mich nicht zusammenbringen. Bitte, erklären Sie mir, wie Sie selbst diese Widersprüche sehen." In solchen Interpretationen ist das Wort „und" besonders wichtig, weil darin zwei Sichtweisen miteinander integriert werden, die der Patient bisher nur im Sinne eines „entwederoder" erleben konnte. In der Borderline-Therapie ist es von daher kontrain­ diziert, sich ausschließlich empathisch in die jeweiligen TeilobjektBeziehungen des Patienten einzufühlen. Der Therapeut würde auf diese Weise nur die Abwehr der Spaltung mit vollziehen, anstatt den Patienten mit ihr zu konfrontieren. Eine solche Therapie kann dann oft lange dauern und doch zu keinem fruchtbaren Ergebnis führen.

4. Der Umgang mit der Aggression des Patienten Zu den besonderen Schwierigkeiten der Borderline-Therapie gehört der Umgang mit der Aggression des Patienten. Borderline-Patienten haben grundsätzlich Mühe, ihre Affekte adäquat zu beschreiben. Oft ist der Aus­ druck „Ärger" die einzige Qualität, die ihnen dafür zur Verfügung steht. Dann wird es in der Borderline-Therapie darum gehen, dem Patienten zu­ nächst zu einer differenzierteren Affektwahrnehmung zu verhelfen, mit de­ ren Hilfe es ihm allmählich möglich ist, neben dem bereits vertrauten Ärger auch andere Gefühle wahrzunehmen.

Oft nimmt die Aggression bei Borderline-Patienten aber auch ganz archa­ ische Formen an. Die Patienten haben dann häufig das Gefühl, den Thera­ peuten vor diesen Aggressionen bewahren zu müssen, um ihn als schutz­ gebendes Gegenüber zu erhalten. Aggression wird von Borderline-Patien­ ten insofern immer als konflikthaft erlebt. Der Therapeut sollte in seinen Interventionen deshalb auch auf die Konflikthaftigkeit dieser Aggression hinweisen. Borderline-Patienten weichen diesem Konflikt häufig dadurch aus, daß sie Aggression und Schuldgefühle abwechselnd erleben. Eine Inte­ gration dieser Erlebensweisen ist aber sehr oft möglich, wenn der Therapeut die Aggression des Patienten als Teil eines Konfliktes interpretiert, in dem es neben dem Wunsch nach Zerstörung auch den Wunsch nach Wieder­ gutmachung gibt. Wenn in der Borderline-Therapie zusammen mit der Aggression erstmals auch Schuldgefühle auftauchen, können diese allerdings so erdrückend sein, daß der Patient vor ihnen zutiefst erschrickt. Dies geschieht vor allem dann, wenn er plötzlich erkennt, daß er an dem Objekt, das er liebt (einem Kind oder Partner zum Beispiel), auch auf vielfache Weise schuldig gewor­ den ist. Diese Erkenntnis kann unvermittelt ein so sadistisches und verurtei­ 84

Praktische Behandluncsaspekte

in derTherapie von

Borderline-Störungen

lendes Über-Ich auf den Plan rufen, daß der Patient nur mehr mit Suizid­ ideen reagieren kann. Wenn dies geschieht, sollte man mit dem Patienten durchaus über den Ernst der Situation sprechen, aber auch betonen, daß eine solche Krise nicht von Dauer ist, und daß es Möglichkeiten der Wie­ dergutmachung gibt, die der Patient selber sich oft nicht zugestehen kann. Manchmal entwickeln Haß und Wut in der Borderline-Therapie aber auch eine Therapieresistenz, die die Vermutung nahelegt, daß es dabei nicht nur um Schuld und Wiedergutmachung geht. Nach Kernberg läßt sich insbe­ sondere der Haß der Borderline-Patienten auch als „gebundene Wut" ver­ stehen (Kernberg 1992). Damit rückt die icherhaltende Funktion des Hasses in den Vordergrund. Frei flottierende Wut ohne klar konturiertes Ziel und ohne erkennbare Ursache ist ähnlich schwer zu ertragen wie frei flottieren­ de, „namenlose" Angst. Die Bündelung der Wut in gerichteten Haß hat dann eine ähnlich ich-strukturierende Funktion wie die Überführung frei flottierender Angst in Furcht, so wie dies im Rahmen einer Phobie ge­ schieht. Von phobischen Patienten wissen wir aber auch, daß sie auf unsere Frage nach dem Grund ihrer Angst immer nur ein Ersatzgefühl beschreiben können, nämlich ihre phobische Furcht (Mentzos 1982). Ähnlich können uns auch Borderline-Patienten oft keine zutreffende Antwort für den Grund ihres Hasses liefern. Ihre Begründungen sind statt dessen nachträgliche Schöpfungen, die in erster Linie der Rationalisierung des Affektes dienen sollen. In solchen Fällen ist es sinnlos, nach der jeweils konkreten Ursache des Haß-Affekts zu forschen, denn der Haß hat hier keine solche Ursache. Er bezieht seinen Stellenwert vielmehr aus seiner Rolle für die Aufrechter­ haltung der Ich-Struktur des Patienten.

Wut und Haß können auch die Funktion eines Deckaffekts übernehmen, der dazu dient, einen anderen, konflikthafteren Affekt und die daran ge­ koppelte Beziehungsvorstellung zu überlagern. Der konflikthafte Affekt (Sehnsucht zum Beispiel) wird dann für einen kurzen Augenblick erlebt, aber nur, um als Triggeraffekt für die Wut zu dienen (Krause 1990). Dieser Wut-Affekt muß dann solange festgehalten werden, bis die „Gefahr" vor­ über ist. Auf ähnliche Weise kann die Wut auch dazu eingesetzt werden, um die psychische Grenze zwischen dem eigenen Ich und einem bedeut­ samen Anderen aufrechtzuerhalten. Wütendes Wegdrehen von der Mutter ist bereits bei Säuglingen ein Mittel, sich gegen das unerwünschte Über­ springen von Affekten zu schützen (Krause 1984). Borderline-Patienten be­ finden sich wegen ihrer labilen Ich-Grenzen häufig in der Gefahr einer sol­ chen „primären Identifizierung" (Krause) mit einem nahen Objekt. Der Wutaffekt kann bei diesen Patienten dann häufig auch eine distanzregulie­ rende Funktion übernehmen. Er dient sozusagen als Reizschutz gegenüber der Gefahr der Ich-Diffusion. 85

Rohde-Dachser

Grundsätzlich garantieren Wut und Haß darüber hinaus oft ein Gefühl der Lebendigkeit, das als Bollwerk gegen die Erfahrung von Leere, Erstarrung und psychischem Tod dienen kann (dazu u. a. Rohde-Dachser 1989). Der therapeutische Umgang mit der Borderline-Aggression sollte auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Am schwierigsten zu thematisieren ist nach meiner Erfahrung, daß Border­ line-Patienten latent auch mit der Rolle des Täters identifiziert sind, dem sie als Kind hilflos ausgeliefert waren. Kindheitstraumatisierungen sind aber immer dadurch charakterisiert, daß das Kind zusammen mit der traumati­ schen Erfahrung auch eine Beziehung internalisiert hat, in der es Opfer und Täter gibt. Die Aggression von Borderline-Patienten, die immer wieder als eines der hervorstechendsten Merkmale der Borderline-Störung beschrie­ ben wird, ist vor diesem Hintergrund sehr oft identisch mit der unbewußt übernommenen Aggression des Täters, den der Patient auf der bewußten Ebene verabscheut und verachtet. In der Therapie dauert es dann oft lange Zeit, bis der Patient auch diese, für ihn selbst bis dahin oft unverständliche Aggression als Teil seiner Persönlichkeit zu akzeptieren lernt.

5. Der Umgang mit der Gegenübertragung Ob eine Borderline-Therapie erfolgreich ist, hängt schließlich davon ab, wie der Therapeut mit seiner eigenen Gegenübertragung umgeht. Der Ge­ genübertragung kommt in der Borderline-Therapie eine besondere Rolle zu. Typische Formen der Gegenübertragung sind hier insbesondere • eine stark fluktuierende Gegenübertragung; • eine zunehmend aggressive Gegenübertragung; • das Gefühl des Schwimmens oder Denkblockaden;

• zunehmende Somnolenz oder Leeregefühle.

Grundsätzlich ist die Gegenübertragung in der Borderline-Therapie unge­ wöhnlich starken Schwankungen ausgesetzt. Diese Schwankungen ähneln den Objektbeziehungen der Patienten, die auf ganz ähnliche Weise zwi­ schen Idealisierung und Entwertung hin- und herpendeln. Derart schwan­ kende Gegenübertragungen deuten darauf hin, daß der Patient den thera­ peutischen Raum benutzt, um dort Beziehungserfahrungen seiner Kindheit zu inszenieren, die sich der Verbalisierung entziehen und deshalb in der therapeutischen Beziehung zunächst auf szenische Darstellung angewiesen sind. Dabei weist der Patient dem Therapeuten - in der Regel wechselnd jeweils eine der für diese Beziehungserfahrung bedeutsamen Rollen zu, während der Patient selber aus der jeweils entgegengesetzten Rolle heraus agiert. Der Therapeut muß diese Rollen übernehmen, er hat gar keine an­ 86

Praktische Behandlungsaspekte in derTherapie von Borderline-Störungen

dere Wahl. Was er von diesem Vorgang bewußt erlebt, ist lediglich ein zu­ nehmender Ärger, die Neigung, den Patienten zu kritisieren, das Aufsteigen eines plötzlichen Gefühls von Hoffnungslosigkeit, etc. Sandler (1976) spricht in diesem Zusammenhang auch von der unbewußten Bereitschaft des Analytikers zur Rollenübernahme, die eine solche Inszenierung über­ haupt erst ermöglicht. Wenn man das von Habermas erstmals eingeführte Bühnengleichnis benutzt (dazu auch Thomä und Kächele 1985), dann wechselt der Therapeut darin immer wieder von der Bühne, auf der er zu­ sammen mit dem Patienten die ihm jeweils angesonnene Rolle spielt, hin­ über in den Zuschauerraum, um von dort aus die auf der Bühne inszenierte Beziehung zu betrachten, zu verstehen und zu deuten. Daß dies gerade in der Bordeline-Therapie nicht immer leicht ist, weil die Patienten oft hart­ näckig an ihrer vorgefaßten Beziehungsdefinition festhalten, braucht nicht besonders betont zu werden. Aus diesem Grunde sollten auch erfahrene Psychotherapeuten während einer Borderline-Therapie zumindest gelegentlich für die eigene Rolle, die sie darin spielen, eine Supervision in Anspruch nehmen. Dies kann dem Therapeuten auch die notwendige Sicherheit verleihen, um sich den nega­ tiven Übertragungen des Patienten zu stellen. Ich glaube, daß unter diesen Bedingungen trotz aller der in diesem Aufsatz beschriebenen Schwierigkei­ ten eine Borderline-Therapie aussichtsreich genug ist, um sie immer wieder zu versuchen.

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Rohde-Dachser

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Jutta Herrlich ♦ Burkard Pflug

Soziale Phobien Angst hat evolutionäre Relevanz für das Überleben einer Spezies. In sozia­ len Zusammenschlüssen sind die Artgenossen ebenfalls wichtig fürs Über­ leben. Die Angst vor ihnen und ihre Beobachtung als Quelle potentieller Gefahr teilt der Mensch daher mit zahlreichen anderen Lebewesen. Aus dem Ausdrucksverhalten unserer Mitmenschen schließen wir, wie eine soziale Begegnung sich entwickeln wird, bedrohlich oder entspannt. Unse­ re Artgenossen sind damit also Ausgangspunkt für potentielle Gefahr und können heftige Bedrohungsgefühle evozieren.

Zu den Formen agonistischer Aggression (zielt auf eine Fitness-Reduktion des Verlierers) gehört z. B. das sog. Drohstarren, das bei Tieren als Aus­ druck unmittelbarer Bedrohung Aggressionen auslösen kann oder den So­ zialpartner zum Rückzug ohne Kampf bewegt.

Das Unbehagen, das viele von uns beim anhaltenden Angestarrtwerden empfinden, scheint dem vergleichbar und stellt eine relevante Auslösesitua­ tion für soziale Ängste dar. Es kann als evolutionäres Relikt angesehen wer­ den, dessen biologische Relevanz noch erkennbar ist. Wohl jeder kennt soziale Situationen, in denen es ihm unangenehm ist, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Der Eindruck, beobachtet zu werden und der kritischen Bewertung anderer ausgesetzt zu sein, löst indi­ viduell unterschiedliches Unbehagen in vielen von uns aus. Ähnliches gilt für die Vorstellung während eines Bewerbungsgespräches durch Erröten, einen deutlichen Tremor der Hände, starkes Schwitzen, Arti­ kulationsstörungen o. ä. aufzufallen.

Damit ist ein wesentlicher Themenbereich sozialer Ängste benannt: Fehlschlag-, Kritik- und Beachtungsangst.

Um einen anderen Aspekt der Angstauslösung in sozialen Situationen han­ delt es sich, wenn man z. B. in einer Gesprächsrunde unvorhergesehener­ weise aufgefordert wird, seine kritische Meinung zu einem Thema zu ver­ treten oder Kontakt zu Unbekannten initiieren soll.

Dieser zweite Themenbereich betrifft also

Angst und Hemmung vor zwischenmenschlichem Kontakt.

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Herrlich ♦ Pflug

Was unterscheidet eine soziale Phobie, also eine Störung von Krankheitswert, von solchen offenbar weitver­ breiteten Aspekten sozialer Ängste ? Die meisten von uns erleben Situationen - wie die gerade beschriebenen als unbehaglich. Überwiegend sind wir jedoch in der Lage sie zu bewälti­ gen und fühlen uns nicht nachhaltig beeinträchtigt. Wir versuchen auch nicht, sie systematisch zu vermeiden.

Anders die Phobiker. Vermeidungsverhalten und Angstantizipation behin­ dern in erheblichem Ausmaß die allgemeinen sozialen Aktivitäten, die be­ rufliche Leistungsfähigkeit und die Alltagsbewältigung. Die soziale Phobie kann demnach als eine Extremvariante sozialer Angst aufgefaßt werden. Es sind die Intensität der erlebten Angst, die sich bis zur Panik steigern kann, die Starrheit der Reaktionsmuster, die ausgelöst wer­ den, das Ausmaß der Vermeidung und der Grad der Beeinträchtigung in der Alltagsbewältigung, die als wesentliche Faktoren die Phobien von kli­ nisch nicht relevanten, normalen sozialen Ängsten unterscheiden. Diese Aspekte haben Eingang gefunden in das Diagnostische und Statistische Ma­ nual psychischer Störungen DSM IV.

Diagnosekriterien nach DSM IV*: A) Erhebliche und anhaltende Angst vor einer oder mehreren sozialen oder Leistungssituationen (performance situations), in denen eine Person nicht vertrauten Menschen oder möglichen prüfenden Blikken anderer ausgesetzt ist. Die Person fürchtet, daß sie sich in einer Weise verhalten könnte (oder Angstsymptome zeigen könnte), die demütigend oder peinlich sein könnte. B) Die Konfrontation mit einer phobischen Situation ruft in nahezu gleichbleibender Weise Angst hervor, die auch das Ausmaß situati­ onsgebundener oder situationsvorauslaufender Panikattacken an­ nehmen kann.

C) Die Person erkennt, daß ihre Angst übertrieben oder unvernünftig ist.

D) Die phobischen sozialen oder Leistungssituation(en) wird (werden) vermieden oder nur unter intensiver Angst oder Leiden (distress) durchgestanden.

Übersetzung der Ref.

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Soziale Phobien

E)

Das Vermeidungsverhalten, die Angstantizipation oder das Leiden in der phobischen oder Leistungssituation beeinträchtigt in signifi­ kanter Weise den Alltag, die berufliche (akademische) Leistungsfä­ higkeit, die sozialen Aktivitäten oder Beziehungen oder es verur­ sacht ausgeprägten Leidensdruck.

F)

Bei Personen unter 18 Jahren besteht die Symptomatik länger als 6 Monate.

Die Tatsache, daß soziale Ängste in gewissem Maße "normal" sind, ist ver­ bunden mit der Gefahr der Trivialisierung sozialer Phobien und deren Be­ handlungsbedürftigkeit. Die zum Teil erheblichen Konsequenzen für die persönliche, berufliche und soziale Entwicklung werden dabei übersehen. Diese beträchtlichen Folgen ergeben sich u. a. aus dem frühen Störungsbe­ ginn in der Pubertät, der in den meisten Fällen zu Defiziten in der Entwick­ lung sozialer Kompetenz führt. Die Epidemiological Catchment Area Study des National Institut of Mental Health (NIMH) erfaßte als erste Untersuchung die sozialen Phobien als ge­ sonderte Störungskategorie. Dieser Erhebung an 20.000 Amerikanern zu­ folge liegt das mittlere Alter bei Beginn sozialer Phobien bei 15.5 Jahren, im Gegensatz dazu beginnen Agoraphobien im Mittel mit 27 Jahren. Aus dem frühen Störungsbeginn ergibt sich als weiteres Problem - ähnlich wie bei der Dysthymie - , daß die Symptomatik als Ausdruck der persönli­ chen Wesensart mißverstanden und nicht als therapierbare Störung angese­ hen wird. Die Betroffenen sprechen nicht über ihre Ängste und versuchen, deren Auswirkung zu verbergen. Die Umgebung ahnt von den Schwierig­ keiten nichts. Dies gilt auch für nahe Angehörige.

Eine Behandlung wird in der Mehrzahl der Fälle erst dann aufgesucht, wenn es zu sekundären Komplikationen kommt. So suchten 33 % der so­ zialen Phobiker - nach der o. g. Erhebung - erstmals wegen emotionaler Probleme eine Behandlung auf. Die Störung bestand bei Inanspruchnahme einer Therapie - nach unter­ schiedlichen Untersuchungen - bereits zwischen 10 und 19.5 Jahren (Reinecker 1993., Marks und Gelder 1966).

Alkohol- (18,8 %) und Tablettenmißbrauch (13 %) sind nach Ergebnissen der National Comorbidity Survey (Kessler et al. 1994) neben der Major De­ pression (16,6 %) die häufigsten psychiatrischen Begleitstörungen sozialer Phobien, sieht man von anderen Angststörungen ab. In 75 % der untersuch­ ten Fälle ging die soziale Phobie anderen Störungen zeitlich voraus. - Nur 31 % der sozialen Phobiker haben keine andere psychiatrische Diagnose.

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Herrlich ♦ Pflug

Im Falle eines 32jährigen Studenten finden sich sowohl die Aspekte des frühen Störungsbeginns, der Selbstmedikation mit Alkohol, als auch des Verdeckens der Symptomatik und die Anspruchnahme einer Therapie nach Komplikation.

Er kommt auf Drängen der Eltern in ambulante psychiatrisch-psycho­ logische Behandlung, nachdem es im Rahmen der Vorbereitung auf ein mündlich zu haltendes Referat zu massiven Arbeitsstörungen und einer de­ pressiven Dekompensation mit Antriebsstörungen und weitreichenden Insuffizienzängsten gekommen war. Die Exploration zur Vorgeschichte er­ gab, daß der Proband etwa im Alter von 11-12 Jahren zunächst in der Schule massive Ängste vor öffentlichem Sprechen entwickelt hatte. Bei Demonstrationen vor der Klasse steigerten sich die Ängste bis zur Panik. Mit den Jahren kam es zu einer Generalisation auf alle Situationen, die eine Meinungsäußerung im Beisein anderer erforderlich machten. Ausgenom­ men blieben nur einige wenige gute Freunde und die Lebensgefährtin. Un­ ter dem Druck einer Situation bevorzugte Herr J. anderen kritiklos zuzu­ stimmen, um sich nicht weiter exponieren zu müssen. Bereits während der Schulzeit, die mit großen Mühen bewältigt wurde, versucht er zeitweise, durch Alkohol- und Drogenmißbrauch, Hemmungen zu überwinden. Im Studium eskalierten die Ängste vor allem in Seminaren, die eine mündliche Beteiligung erforderten. Das Halten von Referaten versuchte er durch Aus­ reden oder das Angebot zusätzliche schriftliche Arbeiten abzugeben, zu umgehen. Da dies auf Dauer nicht zu realisieren war und mündliche Prü­ fungen sich nicht dauerhaft umgehen ließen, hatte Herr J. bereits 2x das Studienfach gewechselt, immer in der Hoffnung, mündlichen Leistungen ausweichen zu können. Als dies auch im neuen Studienfach nicht durch­ zuhalten war, kam es zur Dekompensation. An dieser Kasuistik läßt sich auch erkennen, daß die Behinderungen durch soziale Phobien sich allmählich entwickeln und die Diagnose durch die Komorbidität mit anderen Störungen erschwert sein kann.

Gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die die Entwicklung einer sozialen Phobie begünstigen? Diese Frage nach der Verbindung zwischen klinisch relevanten sozialen Phobien und Persönlichkeitseigenschaften ist anhand der vorliegenden em­ pirischen Daten bisher nicht zu beantworten. Ausgangspunkt entsprechender Überlegungen ist die Tatsache, daß schüch­ terne und selbstunsichere Menschen in ihrem beobachtbaren Sozialverhal­ ten Ähnlichkeiten mit Sozial-Phobikern aufweisen. Sie reagieren im sozia­ len Kontakt nervös, scheinen in Gegenwart anderer zu leiden und äußern

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Soziale Phobien

kaum eine eigene Meinung. Auch die Sensitivität gegenüber Kritik und Ab­ lehnung sowie der Möglichkeit etwas falsch zu machen, scheint in beiden Gruppen gleich. Es hat sich jedoch in unterschiedlichen Untersuchungen in gleichsinniger Weise gezeigt, daß sich zwar zwischen 20 % und 40 % der Jugendlichen und Heranwachsenden als schüchtern einstufen, die Präva­ lenz für soziale Phobien beträgt dagegen lediglich 2 %. Auch wenn man annimmt, daß ein Teil der Untersuchten soziale Ängste in subklinischer Ausprägung aufweist, läßt sich bisher nicht klären, welche potenzierenden bzw. protektiven Faktoren die Entwicklung hin zur Phobie beeinflussen.

Es ist für die Ausbildung von Phobien allgemein inzwischen unstrittig, daß eine Korrelation besteht zwischen Besonderheiten autonomer Reaktions­ muster und der Wahrscheinlichkeit, eine Angststörung zu entwickeln (Auto­ nome Reaktionen beeinflussen die „Konditionierbarkeit"). Die autonomen Reaktionsmuster schüchterner Kinder bzw. Jugendlicher und solchen mit der Diagnose sozialer Phobie unterscheiden sich nicht voneinander. Pro­ spektive Studien hierzu fehlen noch.

Eine erste Zwillingsuntersuchung (Kendler et al 1992) bezüglich sozialer Phobien spricht für einen signifikanten, wenn auch moderaten genetischen Einflußfaktor für die Ausbildung von Phobien von 30 %. Er ist nach unse­ rem derzeitigen Wissensstand am ehesten als biologische Vulnerabilität für Angststörungen aufzufassen. Für die sozialen Phobien speziell liegen hierzu bisher nur wenige empiri­ sche Untersuchungen vor. Entwicklungspsychologisch plausibel ist das Er­ gebnis einer Untersuchung von Kashani und Orvaschel (1990), daß Angst­ störungen sowohl im Alter von 8, 12 und 17 Jahren die am häufigsten be­ richtete Störungskategorie war. Art und Inhalt variierten. Der Anteil inter­ personeller Themen, sozialer Ängste und Befürchtungen hinsichtlich der persönlichen Adäquatheit nahmen mit dem Alter zu.

Die Verhaltensähnlichkeiten zwischen introvertierten, selbstunsicheren, schüchternen Menschen als Normvarianten der Persönlichkeit einerseits und eine starke Überlappung der Kriterien für die Diagnose einer selbstun­ sicheren Persönlichkeitsstörung oder einer Avoidant Personality Disorder (DSM III R) führen zu der noch offenen Frage, ob soziale Phobien eine Mit­ telstellung einnehmen, mit den Gemeinsamkeiten: früher Beginn und star­ re, fehlangepaßte Reaktionsweisen. Wir wollen uns hier auf die Feststellung beschränken, daß komorbide Per­ sönlichkeitsstörungen bei Patienten mit Angststörungen mit stärkerer Aus­ prägung der Psychopathologie und schlechterem Behandlungsergebnis kor­ relieren.

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Herrlich ♦ Pflug

Was ergibt sich aus dem bisher Gesagten für die Therapie? Soziale Phobien sind eine ernst zu nehmende Störung, deren Lebenszeit­ prävalenz nach dem NCS (DSM III R) 13,3 %, die 1-Jahres Prävalenz 7,9 % beträgt. Unbehandelt ist der Verlauf zumindest bei den stärkeren Ausprä­ gungsgraden chronifizierend (Hazen und Stein 1995). Sie führt bei einem Drittel der Betroffenen zu starken Beeinträchtigungen im Alltag. Das Aus­ maß dieser Beeinträchtigung ist ein wesentliches Kriterium der Behandlungs­ bedürftigkeit.

In der Therapie sozialer Phobien haben sich verhaltenstherapeutisch-kogni­ tive Behandlungsstrategien als sehr effektiv erwiesen. Sie gehen alle von einem "Drei-Komponenten-Modell" der Angst aus. Demnach manifestiert sich Angst körperlich, kognitv-emotional und auf der Verhaltensebene. Wechselwirkungen dieser Aspekte bestimmen das Störungsbild. Die Modi­ fikation der Angstreaktion kann bei jeder der drei Komponenten ansetzen, worauf wir im Zusammenhang mit einer Gruppenbehandlung für soziale Phobien noch eingehen werden. Die in der Akutbehandlung von Angststörungen allgemein eingesetzten Pharmaka (wie z. B. Beta-Blocker, Benzodiazepine, MAO-Hemmer, trizy­ klische Antidepressiva und Serotonin Reuptake Hemmer) weisen hohe un­ mittelbare Responseraten auf. Nebenwirkungen, zu kurze Behandlungs­ dauer, vor allem aber hohe Rückfallraten nach Absetzen (mit Ausnahme trizyklischer Antidepressiva) lassen ihre Indikation jedoch insgesamt pro­ blematisch erscheinen (Unland und Wittchen 1994).

Für die pharmakologische Behandlung von sozialen Phobien gibt es bisher nur wenige Studien mit relativ geringen Fallzahlen, so daß weitreichende Schlußfolgerungen aus den Befunden u. E. bisher nicht abzuleiten sind. Ei­ ne Bevorzugung von Serotonin Reuptake Hemmern, wie sie aus ersten Be­ funden einer möglichen Überempfindlichkeit (supersensitivity) des serotonergen Systems (entweder 5 HT 2 oder 5 HT 1c ) abgeleitet werden könnte, bedarf ebenfalls der weiteren Überprüfung. Auch der empirische Nachweis einer Überlegenheit der Kombination von Pharmakotherapie und Verhaltenstherapie bei sozialen Phobien steht noch aus.

Dennoch ist es nach unserer Erfahrung oft sinnvoll, eine pharmakologische Behandlung ins Therapiekonzept zu integrieren. Dies gilt vor allem initial, und vor allem dann, wenn deutlich depressive Symptome eine Rolle spie­ len. Die Pharmakotherapie muß dann ausreichend lang durchgeführt wer­ den. Primäres Behandlungsziel muß jedoch immer die Aufhebung der Vermeidung sein. 94

Soziale Phobien

Ein Beispiel dafür, daß im Einzelfall eine rein pharmakologische Behand­ lung mit der Ermutigung sich angstauslösenden Situationen auszusetzen, auch erfolgreich sein kann, ist ein beim Erstkontakt 22jähriger Student.

Herr K. kam wegen der hypochondrischen Befürchtung an Krebs zu leiden zur Behandlung. Diese Angst bestand seit 6 Jahren, ohne daß er sich ent­ sprechenden Untersuchungen unterzogen hätte. 4 Wochen vor der psych­ iatrischen Konsultation habe er schließlich einen Internisten aufgesucht, der nach eingehender Diagnostik seine Bedenken zerstreut habe. Was jetzt noch seinen Tag bestimme und seine Freiräume erheblich einenge, sei die Angst vor Erbrechen in der Öffentlichkeit, wenn er etwas vorhabe (Arzt­ besuch, Verabredungen etc.) oder gefordert sei (Klausuren). Er frühstücke deshalb nicht und lege alle wichtigen Termine auf den Vormittag. Auch vor Klausuren esse er nichts. In der Öffentlichkeit und im Beisein anderer esse er ohnehin nichts mehr, sei sozial wenig aktiv. Lediglich wenn er sich am Abend mit Freunden zum Bier treffe, könne er sich relativ entspannt verhal­ ten. Die Exploration der Vorgeschichte fördert allmählich zutage, daß Herr K. die Befürchtung des öffentlichen Erbrechens etwa seit seinem 12. Le­ bensjahr kennt. Faktisch übel geworden sei ihm bisher noch nie, und er habe ebensowenig erbrochen. Neben der Veränderung seiner Eßgewohn­ heiten sei es allmählich zu sozialen Einschränkungen aufgrund dieser Be­ fürchtungen gekommen. Er habe sich dann eine Strategie entwickelt, wie er in Situationen, denen er nicht ausweichen konnte, seine Ängste zumindest zeitweise umgehen konnte. Er dachte sich in eine andere Person hinein, die keine sozialen Ängste kennt. Dieses Copingverhalten führte u. a. dazu, daß sowohl Eltern als auch Freunden über nahezu 10 Jahre die Symptomatik verborgen blieb. Unter 50 mg Trimipramin und der Instruktion, nicht zu vermeiden, erweiterte Herr K. schrittweise seine persönlichen Freiräume. Nach etwa 4 Wochen der Behandlung begann er regelmäßig zu frühstükken, unabhängig davon, was er an diesem Tag für Pläne hatte. Nach insge­ samt 2jähriger medikamentöser Behandlung besteht kein Vermeidungsver­ halten mehr und die sozialen Beziehungen haben sich normalisiert. In den meisten Fällen genügt eine pharmakologische Behandlung alleine nicht. Der frühe Störungsbeginn führt bei den meisten Betroffenen zu er­ heblichen sozialen Defiziten, weil sozial angemessenes Verhalten für kriti­ sche Situationen nicht entwickelt wurde und das Vermeidungsverhalten ausgeprägt ist.

Wie bereits erwähnt, haben sich für diese Störungen verhaltenstherapeu­ tisch-kognitive Behandlungsstrategien bewährt. Sie haben drei wesentliche Ansatzpunkte:

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Herrlich ♦ Pflug

• Aufhebung der Vermeidung durch Exposition in vivo (mit und ohne Entspannung), • Verbesserung der sozialen Kompetenz durch Erwerb sozialer Fertigkeiten (z. B. Fähigkeit, Forderungen stellen zu können; Fähigkeit, nein zu sagen oder andere angemessen zu kritisieren, lernen Kontakte herzustellen), • Korrektur dysfunktionaler Überzeugungen hinsichtlich der eigenen Per­ son, der Bedeutung negativer Bewertung, der Überbewertung überzo­ gener Leistungseinstellung, inadäquate Selbstabwertung, Selbstkritik oder extreme Vorsicht.

Zwei zentrale kognitive Komponenten sozialer Phobien sind die Erwartung negativer Bewertung durch andere und die Erwartung, abgelehnt zu wer­ den. Für den langfristigen Therapieeffekt scheint wesentlich, wie nachhaltig die Angstreduktion für beide Aspekte gelingt. Wir möchten daher abschließend auf ein inzwischen evaluiertes kognitivbehaviorales Gruppen-Behandlungsprogramm für soziale Phobien einge­ hen, das von Heimberg und Hope entwickelt wurde (Heimberg et al. 1995). Die Behandlung umfaßt 12 Sitzungen, in der Regel mit jeweils 6 Patienten. Es geht von der zentralen Annahme aus, daß es bei vorhandener Vulnerabi­ lität für Angststörungen durch Umwelteinflüsse zu einer Sensibilisierung hinsichtlich bedrohlicher Aspekte eines sozialen Gegenübers kommen kann. Dazu kann gehören, daß ein ängstliches Elternteil als Modell fungiert, durch Erziehungseinflüsse die Bedeutung der Meinung anderer überbetont wird, perfektionistische Verhaltensstandards gesetzt werden oder eine über­ protektive soziale Isolierung soziale Kontakte verhindert. So kann es zu biographisch erworbenen Überzeugungen kommen wie • ein soziales Gegenüber ist bedrohlich für die Selbstsicherheit oder den sozialen Rang; • die einzig effektive Weise negative Konsequenzen zu vermeiden ist, sich unanfechtbar zu verhalten, eigene Bedürfnisse nicht durchzusetzen;

• ich verfüge nicht über die Fähigkeiten mich in erwarteter Weise zu ver­ halten.

Solche oder ähnliche Überzeugungen unterhalten dann soziale Ängste.

Die Therapie hat 6 wesentliche Komponenten: 1. Die Entwicklung eines kognitiv-behavioralen Modells für das Ver­ ständnis sozialer Phobien.

2. Erwerb von Fähigkeiten zur Identifizierung, Analyse und rationalen Diskussion problematischer Kognitionen durch strukturierte Übungen. 96

Soziale Phobien

3. Exposition angstauslösender Situationen in der Gruppe. 4. Modifikation kognitiver Prozesse (Umstrukturierung) mit dem Ziel der Vermittlung von Strategien zur Eigenkontrolle fehlangepaßten Denkens vor, während und nach Exposition. 5. Festlegung von Hausaufgaben für in vivo Exposition

6. Vermittlung von selbst anzuwendenden Umstrukturierungsstrategien für die Hausaufgaben.

Untersuchungen zur Effektivität dieses Vorgehens, das kognitive Umstruktu­ rierungsstrategien mit Exposition kombiniert, haben die Überlegenheit die­ ses Vorgehens gegenüber anderen Verfahren gezeigt. Nach einer 12wöchigen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung zeigten sich bedeutsame Besserungen bei 75 % der Patienten. Dem stand eine Responserate von 40 % bei sozialen Phobikern gegenüber, die im gleichen Setting lediglich Informationen über relevante Inhalte zur Aufrecht­ erhaltung von Angst, effektive Formen der Kommunikation erhalten hatten. Bei einem follow-up nach 6 Monaten erwiesen sich 81 % der VT-Gruppe deutlich gebessert, aber nur 47 % der anderen Gruppe. Bei Nachuntersu­ chungen nach 4.5 - 6.2 Jahren (allerdings nur noch 19 der ursprünglich 40 Patienten) betrug die Responserate der VT-Gruppe 89 %, die der anderen Gruppe 44 %.

Gelernter et al. (1991) verglichen die Behandlungsergebnisse einer VTGruppe der o. g. Art mit den Ergebnissen einer Behandlung mit Phenelzin, Alprazolam und unter Placebo. 65 soziale Phobiker wurden über 12 Wo­ chen behandelt. Die Gruppe mit Pharmaka erhielt zusätzlich die Instrukti­ on, phobische Situationen von sich aus aufzusuchen. Es fanden sich keine signifikanten Unterschiede in der Responserate zwischen den Behand­ lungsgruppen, mit Ausnahme der Placebogruppe. Die unter Phenelzinbehandlung erzielten Fortschritte waren im 2-Monats follow-up stabil geblie­ ben, die Alprazolam-Gruppe hatte sich deutlich wieder verschlechtert. Die VT-Gruppe hatte leichte, aber nicht signifikante Verbesserungen gegenüber dem Behandlungsende erreicht.

Die Effekte einer insgesamt längeren Behandlungsdauer sowohl für VT als auch für Phenelzin gegenüber einer Informationsgruppe über Angst und unter Placebo untersucht eine Studie von Liebowitz und Heimberg. Danach sollen die Behandlungsbedingungen, auf die die Patienten nach 12 Wo­ chen angesprochen haben, über ein halbes Jahr weitergeführt werden. Ein Erstes follow-up erfolgt nach weiteren 6 Monaten. Ergebnisse sind unseres Wissens noch nicht publiziert. Der Nachweis einer Überlegenheit durch die Kombination von Phenelzin und VT steht noch aus. 97

Herrlich ♦ Pflug

Zusammenfassung Soziale Phobien • werden in der klinischen Praxis oft übersehen. • Sie sind nicht selten. Lebenszeitprävalenz beträgt 13,3 %. • Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer (60 : 40). • Sie beginnen meist in der Pubertät (im Mittel 15.5 Jahre).

• Sie verlaufen unbehandelt chronisch und führen bei etwa einem Drittel der Betroffenen zu massiven Beeinträchtigungen. • Sie weisen eine hohe Komorbiditätsrate für Alkohol- und Tablettenmiß­ brauch sowie Major Depression auf. • Sie sind durch kognitiv-verhaltenstherapeutische Strategien effektiv zu behandeln. • Psychopharmaka sind im Einzelfall indiziert, vor allem initial, bei de­ pressiver Begleitsymptomatik. • Die pharmakologische Behandlung muß ausreichend lange erfolgen. Primäres Therapieziel bleibt aber die Aufhebung der Vermeidung.

Literatur Gelernter, C., Uhde, T., Cimbolic, P. et al. (1991): Pharmacotherapy versus cognitive therapy for the treatment of social phobia. Arch Gen Psychiatry 48: 938 - 945 Hazen, A. , Stein, M. (1995): Clinical Phenomenology and Comorbidity. In: Stein, M. (Ed.) Social Phobia. Clinical and Research Perspectives. American Psychiatric Press: 3-41, Washington Heimberg, R., Juster, H., Hope, D., Mattia, J. (1995): Cognitive behavioral group treat­ ment: description, case presentation, and empirical support, in: Stein, M. (1995) (Ed.) Social Phobia. Clinical and Research Perspectives. American Psychiatric Press: 293 - 321, Washington Kashani, J., Orvaschel, H. (1990): A community study of anxiety in children and adole­ scents. Am J Psychiatry 147: 313 - 318 Kendler, K., Neal, M., Kessler et al. (1992): The genetic epidemiology of phobias in women : the interrelationship of agoraphobia, situational phobia and simple phobia. Arch Gen Psychiatry 49: 273 - 281 Kessler, R., Me Konagle, K., Zhao, S. et al (1994): Lifetime and 12-month prevalence of DSM III R psychiatric disorders in the United States. Results from the National Comorbidity Survey. Arch Gen Psychiatry 51:8-19 Marks, I., Gelder, M. (1966): Different Ages of onset in varieties of phobia. Am J Psych­ iatry 123: 218 - 221 Reinecker, H. (1993): Phobien. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle Unland und Wittchen (1994): Psychotherapie bei Panikstörungen und Agoraphobie: sind kognitiv-behaviorale Verfahren wirklich überlegen? Report Psychol 2: 18-31

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Lilo Süllwold

Kognitive Therapie von Persönlichkeitsstörungen Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung - es gibt keine Trennung von Verhal­ tenstherapie und Kognitiver Therapie, sondern es handelt sich eher um Ak­ zentuierungen des Vorgehens, das auf das offene Verhalten oder auf menta­ le Prozesse gerichtet sein kann. Die Weiterentwicklung in Theorie und Pra­ xis hat dazu geführt, mehr von „psychologisch begründeten Therapieverfah­ ren" zu sprechen. Ein Vorschlag, den wir schon vor einiger Zeit machten.

1. Persönlichkeitsstörungen werden prototypisch diagnostiziert. Von eini­ gen Forschern wird demgegenüber ein dimensionales Konzept vorgezogen (Hare 1970). Angestrebt wird eine Verbindung (Fiedler 1995). Kritische Einwände sind immer wieder bezüglich einiger Aspekte der Diagnostik an­ hand von prototypischen Merkmalskombinationen erhoben worden. So werden z. B. die einzelnen Aspekte nicht hinsichtlich ihres wahrscheinlich unterschiedlichen Gewichtes für die Diagnose unterschieden. Becker (1995) weist daraufhin, daß zwischen einer „paranoiden Persönlichkeitsstörung", die Angst hat, mißtrauisch ist und sich bedroht fühlt, und einer Variante, die feindselig-aggressiv ist, ein bedeutsamer Unterschied besteht. Saß (Saß et. al. 1995) hat die subaffektiven Störungen der Typologie, wie sie in den Klassifikationssytemen DSM IV und ICD 10 enthalten sind, hinzugefügt. Vernachlässigt wurde u. E. auch die fanatische Variante, die Kurt Schneider (1950) so prägnant beschrieben hatte. Merkmale der „schizotypischen Per­ sönlichkeitsstörung" lassen zur Zeit noch durchaus offen, ob es sich um Persönlichkeitszüge handelt oder vielmehr um schwächer ausgeprägte Symptome des sogenannten Schizophreniespektrums. Mit anderen Worten - Persönlichkeitsvarianten und pathologische Abweichungen sind bisher noch nicht eindeutig genug unterscheidbar. Insgesamt hat die Diagnostik noch nicht den Standard erreicht, der z. B. für Psychosen gültig ist. Unter psychologischem Aspekt stellt sich die Frage, ob es berechtigt ist, für die Extremvarianten normalverteilter Persönlichkeitsmerkmale (nach dem di­ mensionalen Konzept) die Etikettierung „gestört" vorzunehmen.

Bornstein (1993) beschreibt dependente Persönlichkeiten, die bei gut ent­ wickelten sozialen Fähigkeiten zu besonders tragfähigen und stabilen Be­ ziehungen in der Lage sind. Intelligente Hysteriker, die durch gekonnte Selbstdarstellung beeindrucken, bevölkern nicht nur die aktuelle PopMusik-Scene, sondern haben ebenso in der Politik eine Funktion, wobei die Neigung zur Dramatik verhängnisvolle Folgen haben kann. Unechtheit und 99

SÜLLWOLD

das bekannte Affekt-Pumpen spielen bei massenhysterischen Erscheinun­ gen, die auch gegenwärtig zu beobachten sind, eine Rolle. Viele andere Beispiele ließen sich finden. Saß hat auf den von Angst und Schuldgefühlen freien Helden und Revolutionär hingewiesen. Eine weniger auffällige, sozi­ al nützliche Persönlichkeitsvariante ist der Anankast, auf den man sich z. B. in der Labormedizin verlassen kann. Das Fazit: Es muß noch etwas hinzukommen, wenn aus der extremen Dis­ position „Psychopathie" wird, der u. E. bessere Begriff für den klinischen Fall. Es ist unlogisch, daß die Persönlichkeitsartung selbst die klinisch rele­ vante Störung sein soll. Zu diesem Problem gibt es empirische Lösungsansätze. Es wurden korrela­ tive Beziehungen zwischen durch Tests erfaßten Persönlichkeitsmerkmalen mit Psychopathie-Diagnosen gefunden. Nach einer Zusammenstellung von Fiedler ergaben sich folgende Zusammenhänge: Eine faktorenanalytisch gewonnene Persönlichkeitsdimension, die global als „Sozialverträglichkeit" bezeichnet werden kann, war mit ihrer negativen Ausprägung (die Dimen­ sion ist polar) mit allen DSM IV Diagnosen korreliert, mit Ausnahme der „dependenten Persönlichkeitsstörung". Die Verhaltensbeschreibungen reiz­ bar, schroff, streitsüchtig, rücksichtslos waren demnach mit Persönlichkeits­ störungen assoziiert. Zudem fand sich, mit Ausnahme der anankastischen Persönlichkeitsstörung, eine gering ausgeprägte Gewissenhaftigkeit. Erst das Hinzutreten dieser sozialnegativen Verhaltensdispositionen läßt demnach sehr wahrscheinlich aus extremen „traits" die Persönlichkeitsstö­ rung im klinischen Sinne werden. Hinzu kommen situative Bedingungen, die zu krisenhaften Zuspitzungen beitragen können.

Eine Stütze für die Annahme, daß weitere Merkmale relevant sind, liefern einige Prognose-Kriterien, die empirisch bestätigt werden konnten. Als ungünstig haben sich erwiesen: fehlende oder gering entwickelte sozia­ le Fertigkeiten („skills"), ein Mangel an zwischenmenschlicher Sensibilität. Günstig z. B. für die Prognose dissozialer Störungen sind: Ängste, Depres­ sionen, Ansätze zu Schuldgefühlen und zur Reflektion von Verhaltenskon­ sequenzen. Zum langfristigen Verlauf sind nur wenige Daten erhoben wor­ den. Persönlichkeitseigenarten sind prinzipiell langfristig stabil, mit Verän­ derungstrends in bestimmten Lebensphasen. Für die dissoziale Persönlich­ keitsstörung ist eine Spätreifung nach dem 40. Lebensjahr bekannt (Hare).

2. Für eine Behandlungsprognose reicht nach unserem derzeitigen Kennt­ nisstand die Diagnose allein nicht aus. Eine umfassende Persönlichkeitsdia­ gnostik erscheint im Einzelfall erforderlich.

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Kognitive Therapie von Persönlichkeitsstörungen

Wie ist überhaupt der Stand des Wissens bezüglich der Aussichten von Psychotherapie? Es liegen vorwiegend nur Einzelfallberichte vor. Vergleiche zwischen verhaltenstherapeutisch behandelten klinischen Gruppen und solchen die unbehandelt blieben oder nur unspezifisch betreut wurden, sind nur bei drei Kategorien verfügbar: Borderiine-PS; Selbstunsichere PS; Dissoziale PS. Auf diese Varianten sollen sich unsere weiteren Ausführungen demzufolge beziehen. Zunächst ist jedoch zu fragen, welche Veränderungen überhaupt zu erwarten sind, wenn eine Indikation für eine verhaltenstherapeutische Behandlung gestellt wird. Wie sich bestätigt hat, haben Individuen mit der Diagnose einer PS mehr Anpassungsdefizite in Beruf und Familie; mehr Normverstöße; benötigen mehr medizinische Behandlungen; neigen zu Substanzmißbräuchen; machen mehrSuizidversuche.

Die Grundannahme einer psychotherapeutischen Beeinflussung ist, daß die Verringerung fehlangepaßter, unflexibler Verhaltensmuster einen mittelba­ ren Einfluß auf die Persönlichkeitsstörung hat. Diese ist damit nicht das di­ rekte Ziel der Intervention. Verschiedene Therapeuten stimmen darin über­ ein, daß es notwendig ist, einen Fokus zu bilden. Im Falle der Verhaltens­ therapie heißt es, daß ein komplexes Problem in mehrere Teilbereiche auf­ gegliedert wird. 3. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung, Selbstunsicherheit und Dissoziali­ tät: Linehan (1993) hat ein Konzept entwickelt, das hinsichtlich der Effekti­ vität empirisch bestätigt werden konnte (Linehan et al. 1991; 1994). Einige Schwerpunkte des Programmes, das auf einer Analyse der zentralen Stö­ rungen aufgebaut ist, sollen skizziert werden.

Das erste Problem beim Aufbau einer Beziehung ist für die Autorin das Vorkommen von Suizidversuchen und parasuizidalen Handlungen (Selbst­ beschädigungen). Suizidvorstellungen und indirekte Androhungen haben die Funktion u. a. als Ausweg aus allen Krisen zu dienen. Dies wird als „maladaptives Problemlosen" aufgefaßt. Durch die Vielzahl der Krisen, durch physisches Unbehagen, Schlafstörungen, ständige Arbeits- und Be­ ziehungsstörungen, kann keine Lebensfreude aufkommen. Die habituellen dysfunktionalen Verhaltensmuster bedingen ihrerseits Streß. Selbstschädigungen haben die Funktion, Beruhigung und Spannungsreduk­ tion zu bewirken, sie lenken von anhaltenden negativen Affekten und Pro­ blemsituationen ab, es wird Aufmerksamkeit erregt oder die Flucht aus ei­ ner Situation, das Beenden einer Beziehung, möglich. Die parasuizidalen Handlungen werden negativ verstärkt, weil sie z. B. Entlastung von Gefüh­ len der Panik, intensivem Ärger, Scham o. a. bewirken.

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SÜLLWOLD

Es wird ein Kontrakt mit dem Patienten geschlossen, daß Hilfe nur gegeben werden kann, wenn Suizidversuche oder Selbstverletzungen in der Zeit der Behandlung unterlassen werden, diese werden nicht toleriert. Das generelle Ziel ist der Aufbau eines mehr zufriedenstellenden Lebens und ein Ersetzen der „maladaptiven Problemlösung" durch ein angepaßtes Bewältigungsver­ halten. Zu Beginn des Arbeitsbündnisses werden gezielt die Stärken des Pa­ tienten gesucht. Bei der Analyse des Problemverhaltens wird ein erklären­ der didaktischer Teil (z. B.: welche Funktion haben Emotionen) mit den einzelnen Schritten' der Intervention kombiniert. Die Verhaltensanalyse führt zur Beobachtung der Verhaltenskette: Die auslösenden Bedingungen; das unangepaßte Reaktionsmuster; die verstärkenden Konsequenzen; Ziel­ definitionen (in Übereinstimmung mit dem Wertsystem des Patienten); Lö­ sungsalternativen; Monitoring des eigenen Verhaltens; Verhaltensprobe in der Realität. Kognitive Interventionen werden mit dem offenen Verhalten verknüpft. Einige Beispiele aus Teilprogrammen sollen (verkürzt) dargestellt werden, weil sie zentrale Störungen betreffen. Diese sind, nach diesem Konzept: • Mangelnde Emotionsregulierung • Mangelnde Toleranz gegenüber Distress • Erhöhte Vulnerabilität (übermäßige Sensitivität gegenüber emotionalen Stimuli, überstarke und nur langsam abflauende Reaktionen). Als Folge dessen ist eine extreme emotionale Labilität anzusehen, die eine Erfahrung von Identität verhindert. Die fehlerhafte Emotionsregulierung und Impulskontrolle führt zu chaotischen Beziehungen. Intensive Affekte engen die Aufmerksamkeit ein, führen zu kognitiven Verzerrungen und bewirken dysfunktionale Handlungen, um den schmerzvollen Affekt loszuwerden.

Es entsteht ein Zirkel, die kognitiven Verzerrungen aktivieren wiederum emo­ tionale Zustände, deren Nachhaltigkeit einen durchdringenden Effekt hat. Das Detailprogramm verbesserter Emotionsregulierung umfaßt folgende Teilschritte: • Selbstbeobachtung und Beschreibung laufender Emotionen (= Distan­ zierung). • Unangenehme Emotionen ablaufen lassen (= Erfahrung des Abklingens). • Abbau von Vermeidungsreaktionen (= Aushalten von Distress als Teil normaler Lebensbelastung). • Funktionen von Emotionen verstehen (= andere beeinflussen oder kon­ trollieren?).

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Kognitive Therapie von Persönlichkeitsstörungen

• Negative Emotionen verändern (= dem Affekt gegenläufige Handlungen ausführen, Rückwirkungen erfahren).

• Steigern positiver Emotionen (= Herausfinden, welche Situationen oder Aktivitäten dies bewirken können). • Unangemessene Handlungen hemmen (= Umzentrieren der Aufmerk­ samkeit, dem Affekt nachfolgende Bilder und Gedanken hemmen). • Sich-Organisieren zu einer koordinierten Handlung (= nicht stimmungs­ abhängig auf ein externes Ziel gerichtet). • Ärger (= dysfunktionale Gedanken erkennen, die den Ärger erzeugen, Bewertung der Situation ändern). • Modulation von Emotionen üben (= Selbstregulation physiologischen „arousals" erlernen).

Übungsteile zur Verbesserung der interpersonellen Kompetenz und Selbst­ achtung sind ein weiterer wichtiger Teil, der kurz skizziert werden soll:

• Ausführen höflicher, temperierter Verhaltensweisen. • Keine Attacken. • Keine manipulativen Äußerungen (z. B. Drohungen). • Nicht moralisieren und bewerten.

• Zuhören und Interesse zeigen. • Gefühle und Standpunkte anderer akzeptieren. • Um Humor bemüht sein.

Zur Verbesserung der Selbstachtung: • Fairness in der Selbstbeurteilung (und der Beurteilung anderer). • Kein entschuldigendes Verhalten. • Festhalten an eigener Wertorientierung. • Neinsagen lernen.

• Wahrhaftig verhalten (keine Hilflosigkeit vorgeben, übertreiben, lügen).

Der yerhaltenstherapeutische Teil wird auch in Gruppen, mit Hilfe des Rol­ lenspiels und anderen Techniken, durchgeführt.

Beck (Beck und Freeman 1993) richtet den Fokus der kognitiven Therapie auf das für Borderline-Patienten typische dichotome Denken, das Wirklich­ keitsverzerrungen zur Folge hat, die wiederum extreme emotionale Reak­ tionen auslösen. Die Schrittedes Programmes zur Korrektur enthalten z. B. die folgenden Details: 103

SÜLLWOLD

• Anleitung zum Aufdecken und Erkennen stereotyper Interpretations­ muster. • Systematische Überprüfung von Annahmen (kognitive Verzerrungen).

• Übertragung extremer Bewertungen auf eine Skala und dimensionale Begriffe anstelle entweder-oder; Engel oder Teufel usw. • Überprüfen von Erklärungen für das Verhalten anderer (Alternativen). • Die Bedeutung von Situationen oder Ereignissen auf einer Skala ordnen und gewichten (alles oder nichts als Schema korrigieren).

Während das Vorgehen von Linehan ein sehr komplexes Programm um­ faßt, berührt der von Beck ausgearbeitete Fokus der Intervention auch an­ dere Störungen und kann gut mit verhaltenstherapeutischen Programmen kombiniert werden. Für die Behandlung der „Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung" (SPS) haben sich ebenfalls Verhaltenstherapieprogramme bewährt, die mit direk­ ten Instruktionen arbeiten, mit Lernen am Modell, Rollenspiel, Verhaltens­ einübung und Rückmeldung, usw. (Fiedler). Beck hat ein kognitives Therapiekonzept entwickelt, das eine wichtige Er­ gänzung der Beeinflussung des offenen Verhaltens darstellt. Er geht dabei von folgenden zentralen Merkmalen der SPS aus:

• Selbstablehnung. • Erwartung zwischenmenschlicher Ablehnung und Kritik. • Vermeidungsverhalten (Rückzug trotz Wunsches nach Beziehungen).

• Fehleinschätzungen im Bereich sozialer Kommunikation. • Unterwürfiges Verhalten. • Fassade aus Angst vor Ablehnung.

Aus dem Therapieprogramm können nur einige Details dargestellt werden. Typische Fehleinschätzungen, die zu korrigieren sind, betreffen z. B. die Erwartung positiver Reaktionen von bedeutungslosen Personen, neutrale Reaktionen werden für Ablehnung gehalten. Für die Selbstbeurteilung sind keine Kriterien vorhanden, daher völlige Abhängigkeit vom Urteil anderer. In Beziehungen wirkt das dysfunktionale Muster „wenn ich nicht tue was er oder sie will, werde ich abgelehnt" destruktiv. Eine verbesserte Selbstbe­ hauptung in Beziehungen und die Fähigkeit zur angemessenen Durchset­ zung eigener Vorstellungen kann erst von dem selbstunsicheren Individu­ um erwartet werden, wenn die beschriebenen Fehlannahmen korrigiert sind. Bewertungskriterien zur Selbstbeurteilung zu entwickeln, gehört auch im Normalfall zur sozialen Reife.

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Kognitive Therapie von Persönlichkeitsstörungen

Verhaltenstherapie von dissozialen Störungen, die dritte von uns angespro­ chene Kategorie, wird in der Regel in geschlossenen Einrichtungen durch­ geführt, die unmittelbare Verhaltenskonsequenzen im Sinne eines Thera­ pieprogrammes steuern können (Hare). Wenn es sich um ambulante Be­ handlungen handeln kann, dann sind dies Individuen mit dissozialen Ten­ denzen, die zu ständigen Schwierigkeiten führen, jedoch keine Schwerkri­ minellen.

Das Konzept von Beck geht auch hier von bestimmten zentralen Merkma­ len aus. Eine Rolle spielen u. a. ichbezogene kognitive Verzerrungen, die Abhängigkeit des Verhaltens anderer vom eigenen Verhalten wird nicht er­ kannt, Bedürfnisse anderer werden in die eigenen Erwägungen überhaupt nicht einbezogen. Negative Einstellungen, dichotomes Denken im Sinne des Alles-Oder-Nichts tragen zur Verzerrung der Realität bei. Diese man­ gelhaft ausgebildeten kognitiven Prozesse bewirken eine schlechte Impuls­ kontrolle. Der Ansatz der kognitiven Therapie zielt auf eine „kognitive Ent­ wicklung", die im langfristigen Eigen interesse liegt (es gibt keine morali­ schen Appelle o. ä., die vermutlich wirkungslos blieben). Elemente, die in der Therapie angestrebt werden, sind z. B.: • Nicht nur Unmittelbares, sondern auch Mögliches berücksichtigen. • Mehr Zeit für Schlußfolgerungen nehmen. • Sichtweise erweitern, Informationen aufnehmen. • Alternative Lösungsmöglichkeiten vorstellen und erproben. • Selbstwahrnehmung auf Kontingenzen zwischen eigenem Verhalten und Umweltreaktionen lenken.

• Verhaltenskonsequenzen systematisch vorstellen. • Wahrnehmen und Einbeziehen der Bedürfnisse anderer (Erkennen, daß Meinungen anderer nicht ohne Einfluß sind). • Erkennen, daß Beachtung von Ordnungsregeln im langfristigen Eigenin­ teresse liegt. Das allgemeine Ziel ist, mit dem Patienten die Effektivität von dessen bishe­ rigen Strategien zu überprüfen und diesem eine erfolgreichere zu vermit­ teln. Es wird eine überlegtere Denk- und Handlungsweise angestrebt.

Diese realistische Beschränkung des Therapiezieles ist eine - nach meiner Ansicht - charakteristische Orientierung der Verhaltenstherapie. Insgesamt ist die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen noch ein Experimentier­ feld und keine Routine in der Behandlung.

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Süllwold

Literatur Beck, A. T., Freeman, A. (1993): Kognitive Therapie der Persönlichkeitsstörungen. Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim Becker, P. (1995): Seelische Gesundheit und Verhaltenskontrolle. Hogrefe, Göttingen Bern Toronto Seattle

Bornstein, R. F. (1993): The dependent personality. Guilford Press, New York

Fiedler, P. (1995): Persönlichkeitsstörungen, 2. Aufl., Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim • Linehan, M. M. (1993): Cognitive Behavioral Treatment of Borderline Personality Disor­ der. Guilford Press, New York Linehan, M. M.: Skills Training Manual For Treating Borderline Personality Disorder, Guilford Press New York 1993

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Schneider, K. (1950): Die psychopathischen Persönlichkeiten, 9. Aufl., Deuticke, Wien

106

Steffen Haas

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen 1. Einleitung Noch vor Jahrzehnten galt das Paradigma von der Unbehandelbarkeit von Persönlichkeitsstörungen. Diese Verhaltensauffälligkeiten wurden häufig als Psychopathien bezeichnet, deren Ursachen man in mehr oder weniger un­ beeinflußbaren anlagebedingten Anomalien vermutete. Allenfalls wurde der Psychotherapie eine lindernde bzw. persönlichkeitsstabilisierende Wir­ kung beigemessen.

Durch die in den letzten Jahren gewonnenen neueren Theorien über psycho­ pharmakologische Grundlagen bzw. Veränderungen im Neurotransmitter­ system im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere durch die Einführung der neuen Generation von Psychopharmaka, erhielt neben der Psychotherapie auch zunehmend die Psychopharmakotherapie ein beson­ deres Gewicht bei der Therapie.

Neue Erkenntnisse der Psychobiologie bzw. der Psychopharmakologie und dem daraus theoriegeleiteten Einsatz der neuen Psychopharmaka führten zu neuen diagnostischen bzw. klassifikatorischen Systemen wie dem DSM-Ill-R bzw. dem DSM IV und die ICD 10. Durch diese Systeme wurde es mög­ lich, klinisch relevante Persönlichkeitsstörungen rational zu erfassen und zu beschreiben (siehe hierzu Beitrag von Prof. Saß). Sie erlaubten das Heraus­ arbeiten von konstitutionellen Verhaltensauffälligkeiten der Persönlichkeits­ störungen, die z. B. nach Clusteraufteilung in exzentrische, dramatische und ängstliche Störungen zu trennen sind. Diesen liegen Störungen der Dimensionen der kognitiven Wahrnehmungsorganisation, der Impulsivität und Aggressionen, der Affektivität, der Angst sowie des inhibitorischen Verhaltens zugrunde. Diese Dimensionen sowie ihre vermuteten psychopharmakologischen Kor­ relate wiederum - hingegen nicht die Krankheitsbilder - sind Gegenstand des therapeutischen Ansatzes durch Psychopharmaka entsprechend des psychopathologischen Bildes.

Dies bedeutet naturgemäß eine gewisse künstliche Aufteilung der Vielfäl­ tigkeit menschlichen Verhaltens. Andererseits erlaubt es eine symptom-, ggf. auch eine syndromorientierte Therapie, wobei die dominierenden Ver­ haltensauffälligkeiten die Auswahl der Medikamente determinieren.

107

Haas

2. Biologische Grundlagen bzw. biologisch mitverursachte Störungen im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen Siever und Davis (1991) gehen von einer grundsätzlich psychobiologischen Prädisposition bei den sogenannten Achse-I-Syndromen des DSM-R aus, welche die schizophrene Erkrankung, affektive Erkrankung, Impulskontroll­ störung und Angsterkrankung umfassen (vgl. Tab. 1). Auf diese theoreti­ schen Überlegungen und die daraus ableitbaren therapeutischen Konse­ quenzen dieser Autoren soll im Rahmen dieses Beitrages immer wieder zu­ rückgegriffen werden. Alle diesen Erkrankungen zugrunde liegenden Stö­ rungen werden von ihnen in fundamentalen psychobiologischen Dimen­ sionen der kognitiv-perzeptiven Organisation, der affektiven Regulation, der Impulskontrolle und der Angstmodulation konzeptualisiert.

Die Abnormitäten dieser Dimensionen können als ein Kontinuum auf der einen Seite als Extremform bei der Achse-I-Erkrankung auftreten, während am anderen Ende dieses vermutenten Kontinuums mild ausgeprägte Stö­ rungen der Achse II in Form von Persönlichkeitsstörungen erfaßt werden.

Tabelle 1: Dimensionen nach Siever und Davis (1991) korrespondierend zu Achse I und Achse II Störungen Dimension

DSM lll-R: Achse 1

DSM lll-R: Achse II

Schizophrenie

Schizotypische PS Paranoide PS Schizoide PS

Impulsivität/Aggression

Impulsive Störungen

Affektive Instabilität

Affektive Erkrankungen

Borderline PS Antisoziale PS Narzißtische PS Histrionische PS

Gruppe A:

Exzentrische Störungen Kognitive/wahrnehmende Organisation

Gruppe B:

Dramatische Störungen

Gruppe C:

Ängstliche Störungen Angst/Hemmung

Angsterkrankungen

Ängstl ichvermeidende PS

So sind z. B. schizophrene Erkrankungen durch Störungen der Kognition sowie der Wahrnehmung gekennzeichnet, vor allem die Dimension Gedan­ kenstörungen, psychotische Symptome und soziale Isolierung umfassend. 108

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

Weniger ausgeprägte Symptome der kognitiven Kontrolle können sich in Auffälligkeiten der Exzentrizität, Sprachverarmung und sozialem Rückzug äußern, welche bei schizotypischen Persönlichkeitsstörungen dem Prototyp der exzentrischen (odd)-Cluster diagnostisch vorherrschen. Die affektiven Störungen sind nach diesen Autoren gekennzeichnet durch eine Alteration der Regulation und der Intensität der Gefühle. Bei den Im­ pulskontrollstörungen liegt eine verminderte Kapazität der Verzögerung oder Hemmung von Verhalten vor, insbesondere der aggressiven Aktivitä­ ten, welche in chronischer Ausbildung bei den Achse-Il-Störungen sich in Autoaggressionen und antisozialem Verhalten äußern können, vor allem bei Borderline- und antisozialen Persönlichkeitsstörungen. Bei der Dimension Angst/Hemmung wird eine erniedrigte Schwelle für sub­ jektive Angst und des autonomen Arousal bei der Antizipation von aversiven Konsequenzen, verbunden mit Verhaltenshemmung, vermutet. Diese äußern sich bei den Achse-Il-Störungen mit den Symptomen wie Selbstun­ sicherheit, Zwanghaftigkeit und süchtigem Verhalten.

2.1 Konstitutionelle Faktoren bei Persönlichkeitsstörungen a) Genetische Faktoren

In Familien- und Adoptionsstudien ergaben sich Hinweise auf eine geneti­ sche Determiniertheit von Persönlichkeitsstörungen. Es wird vermutet, daß wahrscheinlich die Tendenz zur chronifizierten Affektlabilität und Impulsi­ vität genetisch determiniert wird, wobei zusätzlich in vielen Fällen psycho­ physische Traumen zu einer gestörten Entwicklung und letztendlich zu ei­ ner Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter führen sollen. Nach diesen Studien ergab sich auch die Annahme, daß z. B. die schizoty­ pischen Persönlichkeitsstörungen genetisch mit der Schizophrenie ver­ wandt sein könnten. Weiterhin fanden sich Hinweise für eine genetische Mitverursachung bei der Ätiologie von Borderline- und antisozialen Persön­ lichkeitsstörungen (1). b) Angeborene und erworbene Hirnstörungen

In der Literatur werden Beziehungen zwischen Hirnschäden bzw. Hirn­ mißbildungen im Sinne von neuronalen Reifungsstörungen und dem späte­ ren Auftreten von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere von BorderlineStörungen, diskutiert (1,3,4,7). Sie beeinflussen insbesondere quantitativ das Affektverhalten durch Verstärkung von Verhaltenseinflüssen und bewir­ ken eine erhöhte Störung der Impulsivität. Neuere psychologische Tests 109

Haas

wiesen auf eine Störung im frontalen, insbesondere in orbital-frontalen Ge­ bieten, aber auch in limbischen Strukturen mit den dafür typischen Auf­ merksamkeitsstörungen hin (6). In vielen Fällen führen solche Hirnfunktions­ störungen erst nach Hinzutreten von milieubedingten oder psychoreaktiven Belastungen zu klinisch relevanten Beeinträchtigungen.

c) Biologische Faktoren

Wegen der häufigen Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen, wie insbe­ sondere von Borderline-Störungen und Erkrankungen auf der Achse I des DSM-Ill-R, wurden gemeinsame biologische Grundlagen vermutet (6,7). So fanden sich z. B. im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen mit affektiver Ausgestaltung ähnliche biologische Auffälligkeiten wie bei den affektiven Erkrankungen der Achse I. Bei Schizophrenien und schizophrenietypischen Persönlichkeitsstörungen ergeben sich Beziehungen zu dopaminergen Funktionsstörungen. Den Impulskontrollstörungen soll - ähnlich wie bei den Depressionen - eine reduzierte Serotonin-Funktion zugrunde liegen. Grundsätzlich wird bei den neurochemischen Dysregulationen im Rahmen von psychischen Auffälligkeiten eine gestörte Imbalance aller für das menschliche Verhalten verantwortlichen Transmitter vermutet, wobei für spezielle Störungen, wie z. B. der Kognition, eine dominierende Alteration des Dopaminmetabolismus verantwortlich sein dürfte (6,7). Als Beispiel hierfür kann die Wirksamkeit der Neuroleptika angeführt werden, die ne­ ben der Hauptbeeinflussung dopaminerger Funktionszustände auch eine Fülle weiterer Neurotransmitter in unterschiedlichem Maße - entsprechend der Selektivität der Neuroleptika - mitbeeinflussen können.

2.2 Psychobiologie der kognitiv-wahrnehmenden Organisation Diese Störungen treten gehäuft bei den Achse-Il-Erkrankungen in dem Clu­ ster A (exzentrische Störungen) auf. Sie sind sowohl biologisch, phänome­ nologisch und genetisch mit den Schizophrenien verwandt (vgl. Tabelle 2). Testuntersuchungen der Aufmerksamkeit und Informationsprozesse konn­ ten Abnormitäten sowohl bei schizophrenen Patienten als auch bei solchen mit schizotypischen Störungen aufzeigen. So fanden sich bei beiden über­ einstimmend Störungen der Augenbewegungen, sowie Störungen der visu­ ellen und auditiven Aufmerksamkeit.

Bei den typischen Störungen des Clusters A wird eine Störung des Dopa­ minmetabolismus vermutet in Analogie zur Dopamin-Hypothese der Schizo­ phrenien, und zwar mit einem überwiegend hypodopaminergen Tonus im frontalen Cortex und hyperdopaminergen Tonus in subcorticalen Gebieten. 110

(+ )

(+ )

F60.1 Schizoide

+

+

Neuroleptika Njederp Hochp

F60.0 Paranoide

ICD-10: Persönlichkeitsstörungen

(

+) (+ )

Antidepressiva TCA SSR| MAO|

Biologische Korrelate

Strukturen

+

Tranquilizer

(+ )

Antikonvulsiva

+

Lithium

• hypodopaminerg im frontalen Kortex • hyperdopaminerg in subkortikalen

Störung des Dopaminmetabolismus:

Therapie

Kognitive/wahrnehmende Organisation

Gruppe A: Exzentrische Störungen

Dimension

Tabelle 2: Gruppe A: Exzentrische Störungen

Opiatantagonisten

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

111

Haas

Hirnreifungsstörungen bzw. morphologische Hirnmißbildungen, die bei Patienten gehäuft gefunden werden, können die veränderte DopaminAktivität zusätzlich verstärken.

2.2.1. Therapeutische Indikationen bzw. Psychopharmakotherapie der gestörten kognitiv-wahrnehmenden Organisation Wegen der vermuteten pathogenetisch ausgestalteten Dopaminstoffwech­ selstörung erfolgt als Mittel der 1. Wahl der Einsatz von Neuroleptika (vgl. Tabelle 2). Zielsymptome für ihren Einsatz sind: • gestörte Kognition • psychotische Episoden mit schizotypischer Symptomatik mit Wahrnehmungs- und Beziehungsstörungen und paranoiden Ideen

• Wut und Feindseligkeit. Der Einsatz kann ebenfalls erwogen werden bei:

• Angstzuständen

• affektiven Störungen sowie • Zwangs- und Impulsstörungen.

Die Neuroleptika besitzen bei der Therapie dieser Symptome bei akuter und chronischer Ausprägung einen nützlichen, jedoch überwiegend un­ spezifischen Effekt. Bei ihrem Einsatz sollte überwiegend auf hochpotente Neuroleptika in niedriger Dosierung, in der Regel über einen kürzeren Zeit­ raum von drei bis zwölf Wochen, zurückgegriffen werden.

Beim Auftreten von ängstlich, depressiv und teilweise auch zwanghaften psychopathologischen Auffälligkeiten kann der zusätzliche Einsatz (vgl. Ta­ belle 2) von • trizyklischen Antidepressiva, • SSRI,

• MAO-Hemmer,

• Antikonvulsiva sowie von • Lithium • Benzodiazepinderivaten in Mono- oder Kombinationstherapie erwogen werden.

112

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

2.3 . Psychobiologie von Impulsivität und Aggressionen Insbesondere bei Personen mit Störungen im Bereich des dramatischen Clusters, vor allem Borderline- und antisozialen Störungen, liegt nach Sie­ ver und Davis (1991) eine genetisch determinierte Dysregulation der Im­ pulsivität und Aggression im Sinne einer gestörten Suppression des aggres­ siven Verhaltens zugrunde. Dies kann sich klinisch in Form von Suizidver­ suchen, Wutausbrüchen und Substanzmißbrauch als Antwort auf Enttäu­ schung und Frustration äußern. Häufig ist die gestörte Impulsivität mit affek­ tiver Instabilität verbunden (vgl. Tabelle 3).

Als biologisches Korrelat wird eine Dysfunktion von Hirnsystemen vermu­ tet, welche handelnde und hemmende Faktoren und aggessives Verhalten als Antwort auf Umweltreize modulieren. Als wesentlicher Modulator­ transmitter wird das Serotonin angesehen. Eine serotonerge Unterfunktion führt zu einer verminderten Kapazität der Unterdrückung von strafendem Verhalten und einer Enthemmung von impulsivem und aggressivem Verhal­ ten. Das serotonerge System spielt offensichtlich eine wesentliche Rolle bei der Stimulation und Unterdrückung von äußeren Reizen. Eine erniedrigte Konzentration von Serotonin-Metaboliten fanden sich bei suizidalen Patienten sowie bei solchen, die zu Gewalttätigkeiten und ag­ gressivem Verhalten neigen. Die Substanzen, die die serotonergen Funktio­ nen verstärken, wie z. B. die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer können aggressives und suizidales Verhalten zurückbilden. Ebenfalls dürfte das noradrenerge System bei der Kontrolle von impulsivem und aggressivem Ver­ halten involviert sein.

Noradrenerge Mechanismen spielen eine moderierende Rolle bei der Steuerung von Impulsivität und Aggressionen über Regelung des Arousals und der Antwortbereitschaft auf die Umwelt. Eine Erhöhung führt zum ge­ häuften Auftreten von Aggressionen. Sie wird unter anderem bei Spielern und sogenannten sensation-seeking-Personen gefunden. Zusätzlich werden bei impulsiv-aggressiven Störungen eine Erhöhung von Testosteron und der Endorphine im Blut vermutet.

2.3.1. Therapeutische Indikation bzw. Psychopharmakologie von impulsiv-aggressivem Verhalten Wegen der vermuteten Reduktion des zentralen Serotoninmetabolismus werden Substanzen eingesetzt, welche diesen im Gehirn erhöhen, wie die Seretoninwiederaufnahmehemmer, z. B. Fluoxetin, welches impulsives Verhalten im Rahmen von Borderline-Störungen reduziert (vgl. Tabelle 3).

113

114

(+ )

(+ )

Borderline Typ

F60.4 Histrionische

+

+

(+ )

F60.3 Emotional instabile • F60.30 Impulsiver Typ

• F60.31

(?)

F60.2 Dissoziale

Neuroleptika Niederp Hochp

(?)

+

+

+

+

+

+

Antidepressiva TCA SSR| MAO|

(+ )

(+ )

Tranquilizer

+

+

+

+

Antikonvulsiva

+

+

Lithium

Monaminerger Metabolismus gestört

Affektive Instabilität

ICD-10: Persönlichkeitsstörungen

Noradrenalinmetabolismus: erhöht Testosteron- u. Endorphinspiegel erhöht

Aggression

Therapie

Serotoninmetabolismus: erniedrigt

Biologische Korrelate

Impulsivität

Gruppe B: Dramatische Störungen

Dimension

Tabelle 3: Gruppe B: Dramatische Störungen

(+ )

(+ )

Opiatantagonisten

Haas

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

Lithium verstärkt die Rezeptorenfunktionen und reduziert somit aggressives Verhalten, z. B. bei kriminellen Tätern.

Eine Erhöhung der noradrenergen Aktivität, z. B. durch trizyklische Antide­ pressiva oder MAO-Hemmer, kann auch im Sinne einer paradoxen Reakti­ on in Einzelfällen einen eher negativen Einfluß auf die Impulsivität und Ag­ gression besitzen. Antiadrenerge Substanzen wie betaadrenerge Antagonisten, z. B. das Propandol, verursachen eine Reduktion des aggressiven Verhaltens.

Carbamazepin und andere Antikonvulsiva (insbesondere Valproat) vermö­ gen eine zugrunde liegende, meist episodische Dyskontrolle des impulsi­ ven Verhaltens zu antagonisieren und erweisen sich zusammen mit Lithium häufig als Mittel der 1. Wahl. Auch Neuroleptika, vor allem niedrig dosierte, hochpotente Neuroleptika, reduzieren Feindseligkeit und impulsive Aggressionen.

Der Einsatz von Opiatantagonisten wird u. a. bei Selbstverstümmelung empfohlen. Bei destruktiv-impulsiven Verhaltensstörungen wird in der Lite­ ratur auch der Einsatz von Betablockern, z. B. Propranol, empfohlen.

2.4 . Psychobiologie der Affektivität bzw. der Affektinstabilität Die Entwicklung der Selbst- und Fremdrepräsentationen wird im wesentli­ chen durch die Affektivität moduliert. Insofern vermag affektive Instabilität die individuelle Kapazität zur Errichtung einer stabilen Selbstachtung mit der Folge stören, daß Betroffene inadäquate Coping-Mechanismen entwikkeln, um die affektive Überempfindlichkeit zu minimieren. Affektive Insta­ bilität tritt bei fast allen Persönlichkeitsstörungen auf, insbesondere beim dramatischen sowie ängstlichen Cluster. Sie ist besonders charakteristisch für Borderline-Störungen mit dem typischen schnellen Stimmungswechsel und liegt ebenfalls beim histrionischen, zum Teil auch bei dependenten und selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen vor. Es besteht eine hohe Komorbidität zu den Depressionen der Achse I des DSM-Ill-R.

Als zugrunde liegende biologische Korrelate werden eine noradrenerge und serotonerge Dysregulation vermutet, wahrscheinlich ist zusätzlich die cholinerge Sensitivität alteriert.

115

Haas

2.4.1. Therapeutische Indikationen bzw. Psychopharmakologien von Affektstörungen Substanzen, die die katecholaminergen Funktionen verstärken und wahr­ scheinlich zusätzlich cholinerge Funktionen antagonisieren, können bei im Vordergrund dominierenden depressiven Episoden mit affektiver Instabilität vor allem im Rahmen von Borderline-Störungen hilfreich sein. Zur Behandlung von atypischen depressiven Episoden sowie von affektiv­ instabilen Persönlichkeitsstörungen erwies sich der Einsatz von Monamin­ oxydasehemmern, Seretoninwiederaufnahmehemmern, mit Einschränkung von trizyklischen Antidepressiva, Lithium-Carbonat sowie von antimanisch bzw. antikonvulsiv wirkenden Substanzen wie Carbamazepin und Volproat als hilfreich (vgl. Tabelle 3). Bei depressiven Störungen im Rahmen von Borderline-Störungen konnte auch durch den Einsatz von nieder- und hochpotenten Neuroleptika eine Syptomlinderung erzielt werden. Bei Neigung zur Selbstverstümmelung und Suchtverhalten ist der Einsatz von Opiatantagonisten zu erwägen. Bei ausgeprägten Angststörungen wie auch bei Suizidalität ist der Einsatz von Tranquilizern - Benzodiazepintyp und Buspiron - wenn auch mit Einschränkungen, indiziert.

2.5 Psychobiologie der Angst sowie der Hemmung Pathologische Angst kann möglicherweise als eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Bestrafung verstanden werden, z. B. bei selbstunsicheren, zwang­ haften und abhängigen Persönlichkeitsstörungen (vgl. Tabelle 4). Erhöhte Furchtsamkeit ist ebenfalls bei den Achse-I-Störungen wie sozialen Phobien kennzeichnend. Sie ist häufig assoziiert mit einer serotonergen Dysfunktion und möglicherweise auch mit einem verminderten DopaminMetabolismus. Als weiteres biologisches Korrelat finden sich ein erhöhter Tonus des cortikalen und sympathischen Arousals als Folge einer veränder­ ten noradrenergen und GABA-ergen Funktion.

2.5.1. Therapeutische Indikationen bzw. Psychopharmakologie von Störungen der Angst und der Hemmung Als klinische Konsequenz kann der Einsatz von Monoaminoxydasehem­ mern, z. B. bei begleitenden sozialen Phobien erwogen werden, ferner von den SSRI bei selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen und sozialen Pho­ bien und generell die Gabe von angstlösenden Medikamenten vom Ben­ zodiazepintyp oder von Buspiron.

116

F60.7 Abhängig / asthenische ( + )

F60.6 Ängstlich-vermeidende ( + )

F60.5 Anankastische

ICD-10: Persönlichkeitsstörungen

(+ )

(?)

Neuroleptika Niederp Hochp

Angst / Hemmung

(?)

(?)

+

+

+

+

Biologische Korrelate

(+ )

+

(+ )

Tranquilizer

Antikonvulsiva

Dysregulationen des Serotoninmetabolismus Noradrenalinmetabolismus GABA-Metabolismus

Therapie Antidepressiva TCA SSR| MAOI

Gruppe C: Ängstliche Störungen

Dimension

Tabelle 4: Gruppe C: Ängstliche Störungen

Lithium

(?)

Opiatantagonisten

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

117

Haas

Wiederum entsprechend der Vielfältigkeit des klinischen Bildes kann die Gabe von • trizyklischen Antidepressiva, • niedrig dosierten niederpotenten Neuroleptika • und in seltenen Fällen von Opiatantagonisten

erwogen werden.

3. Grundsätzliche und methodische Probleme der Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen Die Vielzahl der teilweise zeitlich schnell wechselnden Symptome inner­ halb von Persönlichkeitsstörungen, die Komorbidität mit Erkrankungen der Achse I des DSM-Ill-R erschwert die Beurteilung und den Beweis der Wirk­ samkeit einer Pharmakotherapie von Persönlichkeitsstörungen, die zusätz­ lich gleichermaßen Ausdruck von biologischen und dynamischen entwick­ lungsgeschichtlichen Faktoren darstellen. Der Effektivitätsnachweis wird auch durch die Probleme der Nomenklatur und Klassifikation erschwert. Die Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen sind zum einen Ausdruck von Identitätsproblemen und andererseits auch von neurophysiologischen Irritationen mit Korrelaten von intensiver Wut, affek­ tiver Instabilität sowie von Impulsstörungen. Insofern wird die Effektivität der Pharmakotherapie von den vorherrschenden Symptomen zum Zeit­ punkt ihres Einsatzes determiniert. Zusätzlich bestehen beträchtliche Schwierigkeiten in der Selbst- oder Fremdbeurteilung hinsichtlich der Wirk­ samkeit von Medikamenten. Grundsätzlich besteht ein Mangel an konzeptuellen Modellen der Pharma­ kotherapie, nach Siever und Davis (1991) sind folgende drei Modelle von heuristischem Wert:

1. Eine ausschließliche Behandlung der Grundkrankheit, was voraussetzt, daß die Persönlichkeitsstörung eine biologisch eindeutig definierte Er­ krankung darstellt, analog z. B. zur Schizophrenie oder zu den affekti­ ven Erkrankungen. Insofern müßte bei ihnen eine gleiche Medikation zum Einsatz kommen wie bei den Erkrankungen der Achse I.

2. Die Behandlung von Symptom-Clustern innerhalb der Persönlichkeits­ störungen. Dies würde voraussetzen, daß bei der Identifizierung von Kernstörungen bzw. der Vulnerabilität eine basale biologische Abnor­ mität zugrunde liegen müßte. Als Kernstörungen wurden vier Dimen­ sionsbereiche herausgearbeitet: 118

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

• kognitiv-perzeptuale Organisation, • Impulsivität und Aggression,

• affektive Instabilität, • Angst und Hemmung. Diese Syndrome können bei Erkrankungen auf der Achse I sowie der Achse II des DSM-Ill-R auftreten.

3. Die Behandlung der assoziierten Achse-I-Störungen. Dies bedeutet z. B., daß bei Borderline-Störungen durch den Einsatz von Antidepres­ siva Symptome gebessert werden können, welche auch bei den affek­ tiven Erkrankungen auftreten können. Jedoch vermögen die Antide­ pressiva nur bedingt die für die Borderline typische Dysphorie zu be­ einflussen. Durch den Einsatz von Antidepressiva kann z. B. auch bei selbstunsicheren Patienten eine Besserung der komorbiden sozialen Phobien erreicht wer­ den. Grundsätzlich ist jedoch davon auszugehen, daß die Therapie der Achse-I-Erkrankungen weniger effektiv ist, wenn eine ausgeprägte Persön­ lichkeitspathologie vorliegt.

4. Empfehlungen zum Einsatz von Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen Der Einsatz von Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen wird durch eine durch verschiedene Neurotransmittersysteme verursachte biologische Vulnerabilität der Kognition, des Temperamentes, insbesondere der Affekti­ vität sowie der Impulskontrolle und der Angstbewältigung gerechtfertigt.

Vor jedem Einsatz von Psychopharmaka im Rahmen von Persönlichkeits­ störungen hat eine akribische Aufklärung über die Wirkweise und insbe­ sondere über die potentiellen Nebenwirkungen zu erfolgen, um eine hin­ reichende Compliance zu erlangen und ernsthaftes Agieren im Sinne einer Abwehr- oder Übertragungsreaktion zu vermeiden. Vor ungerechtfertigten therapeutischen Erwartungen muß bei jeder Thera­ pieform gewarnt werden. Sowohl der Therapeut als auch der Patient sollten ähnliche therapeutische Ziele berücksichtigen. Nicht selten könnten bei Psychotherapien Krisen auftreten, die eine psy­ chopharmakologische Behandlung unumgänglich machen, und zwar nicht nur in Phasen akuter Suizidalität oder fremdaggressiver Impulsausbrüche, sondern z. B. auch in Phasen erheblicher Angst und Depression oder beim Auftreten psychotischer Symptome. Die Gabe von anxiolytisch wirksamen 119

Haas

Medikamenten kann sogar in einigen Fällen die therapeutische Beziehung fördern, da sich der Patient in seiner seelischen Not ernst genommen sieht. Grundsätzlich werden Aussagen zum therapeutischen Erfolg wegen des multimodalen Therapieansatzes und wegen der großen Fluktuation der Symptome innerhalb des Spektrums der Persönlichkeitsstörungen relativiert und sind somit nur mit Vorbehalten möglich. Zweifelsohne ist davon aus­ zugehen, daß in vielen Fällen die Psychopharmakotherapie die Psychothe­ rapie erleichtern bzw. komplettieren kann oder in vielen Fällen - sei es nun aus ökonomischen Gründen oder in Krisensituationen - ausschließlich in Monotherapie erfolgen kann und muß, ebenfalls zur möglichen Langzeit­ therapie. Selbstverständlich sind auch dynamische Prozesse, wie z. B. die Angst der Patienten vor einem möglichen Verlust der Selbstkontrolle durch die Medikation oder die paranoide Einstellung gegenüber dem Arzt, der die Gefühle des Patienten durch Medikamente kontrollieren will, mit zu be­ rücksichtigen.

Der Einsatz von Psychopharmaka hat symptomorientiert innerhalb eines Syndromspektrums von Persönlichkeitsstörungen zu erfolgen. Durch den Therapeuten hat zu Beginn der Therapie eine Nutzen-Risiko-Analyse zu er­ folgen, so z. B. beim Einsatz von hochpotenten Neuroleptika die Abwä­ gung der Gefahr des Auftretens von Spätdyskinesien. Ebenfalls ist die poten­ tielle Eignung des Medikamentes zur Durchführung von Suiziden infolge von Überdosierung zu berücksichtigen.

Wegen des hohen Suchtrisikos, vor allem innerhalb von Borderline-Störun­ gen, sollte der Einsatz von Benzodiazepinen nur unter Krisenbedingungen, z. B. bei akuten Erregungs- und Angstzuständen sowie bei akuter Suizidität, erfolgen. Andererseits kann der Einsatz von Anxiolytika zu einer raschen therapeutischen Allianz führen und gleichzeitig durch die Angstreduzie­ rung eine notwendige Distanz zu dem gestörten Erleben ermöglichen (5). Der Einsatz von Lithium und ggf. auch von Antikonvulsiva kann auch über längere Zeit im Sinne einer Rezidivprophylaxe erfolgen. Inwieweit beim Einsatz von Monaminoxydasehemmern den selektiv-reversiblen (RIMA) den Vorrang gegeben werden sollte, muß noch durch Studien untersucht wer­ den. Grundsätzlich sollte bei der Therapie auf die Medikamentengruppen mit den geringeren Nebenwirkungen zurückgegriffen werden. Teilweise erfolgt der Einsatz bestimmter Medikamente, z. B. der atypischen Neurolep­ tika, im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit.

Die Dosierung der Medikamente wird von der Ausbildung der Symptome bestimmt und liegen in der Regel bei den Neuroleptika eher etwas niedriger als bei der Therapie von psychotischen Syndromen innerhalb der Achse-I-

120

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

Erkrankungen. Dies gilt auch - wiederum mit Einschränkungen - für die angewandten Dosen der trizyklischen Antidepressiva.

Die 5-HT-Wiederaufnahmehemmer und die MAO-Hemmer werden in der Regel eher in höheren Dosierungen als bei den Achse-I-Erkrankungen ein­ gesetzt. Selbstverständlich haben dieselben Ausschlußkriterien vor der Behandlung und Routineuntersuchungen während der Therapie mit Psychopharmaka zu erfolgen.

Wegen der Komorbidität der Symptome bzw. zwischen den Störungen auf der Achse I und II des DSM-Ill-R werden häufig multimodale Therapie­ regime eingesetzt. Aus diesem Grunde müssen mögliche Interaktionen zwi­ schen den Therapieverfahren berücksichtigt werden.

5. Der Einsatz von verschiedenen Psychopharmaka­ gruppen im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen Nachfolgend soll der Einsatz von klinisch relevanten psychotrop wirkenden Substanzen bei unangepaßtem Verhaltensmuster im Rahmen von Persön­ lichkeitsstörungen besprochen werden, wobei diese nach ICD 10 eingeteilt werden. Diese Einteilung weicht nicht wesentlich von der des DSM-Ill-R ab, verzichtet aber auf die Clustereinteilung A bis C sowie der schizotypischen und histrionischen Persönlichkeitsstörungen (vgl. Tabelle 5).

5.1. Neuroleptika Für den Einsatz von Neuroleptika besteht eine strenge Indikationsstellung, die sich von der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von akuten und insbe­ sondere chronischen Nebenwirkungen ableitet. Theoriegeleitet soll ihr Ein­ satz bei den Persönlichkeitsstörungen erfolgen, bei deren Ätiologie eine dopaminerge Mitverursachung (paranoiden, schizoiden und BorderlinePersönlichkeitsstörungen) und eine Verbindung zum Schizophrenie-Spek­ trum vermutet wird.

Zielsymptome sind u. a. eine gestörte Kognition und Affektivität, schizoty­ pische Symptome, Wahrnehmungs- bzw. Beziehungsstörungen, paranoide Ideen, Wut, Feindseligkeit, phobische Angst, Zwangssymptome und Im­ pulsstörungen bzw. Kontrollverlust. Die Neuroleptika besitzen bei der The­ rapie dieser Symptome bei akuter und chronischer Ausprägung einen nütz­ lichen, aber überwiegend unspezifischen Effekt. Nach Studien (8) sollte die Gabe von Neuroleptika wegen ihrer Unspezifität den ausgeprägten Sym­ ptomen wie z. B. bei psychotischen Episoden vorbehalten bleiben, aber 121

122

J J

F60.2 Dissoziale

F60.0 Paranoide F60 , Schizoide

Storungen

Ängstliche

GruppeC:

Impulsiver Typ

F60.7 Abhängig/ asthenische ( + )

F60.5 Anankastische F606Ängst|ich vermeidende +)

(+ )

(

(+ )

+)

F60.4 Histrionische

(

(+ )

F60.31

Borderline Typ



(+ )

(+ )

+

+

(?)

+ +

ICD-10: PersönlichNeuroleptika keitsstörungen Njederp Hochp

Dramatische Störungen Emotional instabile • F60.30

Gruppe B:

Exzentrische Störungen

Gruppe A:

Dimension

(?)

(?)

+

(?)

(+ )

(?)

+

+

+

+

+

+

+

+

+

(+ )

(+ )

+

(+ )

(+ )

(+ )

+

Antidepressiva Tranquilizer JCA SSR| MAQ| vulsiva

+

+

+

+

(+ )

Antikon-

+

+

+

gonisten

Lithium

Tabelle 5: Übersicht: Indikationen von Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen

(?)

(

+)

(+ )

Opiatanta-

Haas

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

auch dann nur in der Regel in Niederdosierung und über einen kurzen Zeitraum von drei bis zwölf Wochen verordnet werden. Nach Kutcher und Blackwood (zitiert nach 5) erweist sich der Einsatz von Neuroleptika bei einem großen Symptomspektrum einschließlich Angst und Feindseligkeit als wirksam. Auch bei fehlender psychotischer Sympto­ matik stellen sie bei kurzfristiger Anwendung das Mittel der Wahl dar, nicht zuletzt wegen ihrer relativen Sicherheit bei Überdosierung.

Folgende Neuroleptika haben sich nach der Literatur (8,5) beim Einsatz von Persönlichkeitsstörungen bewährt: niederpotente Neuroleptika:

• Chlorpromazin • Trifluoperazin • Thioridazin bzw. Thioxantine • Sulpirid • Zotepin

hochpotente Neuroleptika: • Haloperidol

• Fluphenazin

• Flupentixol Flupentixol soll zusätzlich in niederer Dosierung (0,5 - 2,5 mg/die) einen antidepressiven Effekt besitzen.

Einige Autoren, wie z. B. Brinkley (zitiert nach 5), empfehlen nur den Ein­ satz von hochpotenten nicht dämpfenden Neuroleptika, weil Patienten häu­ fig die sedierende Wirkung, teilweise mit Fremdgefühlen und Abgeschla­ genheit, als unangenehm empfinden.

Von den atypischen Neuroleptika wurde der Einsatz von Zotepin durch Dulz und Schneider (1995) untersucht und empfohlen.

5.2 . Antidepressiva Der Einsatz von Antidepressiva erstreckt sich auf die Therapie von reaktiv­ depressiven Verstimmungen, depressiven Syndromen und komorbid zu­ grundeliegenden Depressionen. Besonders bei den Borderline-Störungen stehen im Vordergrund des klinischen Bildes eine affektive Instabilität, de­ pressive Versagenszustände und wiederholtes suizidales Verhalten, wobei 123

Haas

als zugrundeliegend eine affektive Dysregulation durch eine erhöhte biolo­ gische Vulnerabilität vermutet wird.

5.2.1. Trizyklische Antidepressiva Sie führen zu einer Verbesserung der depressiven Symptomatik, insbeson­ dere bei Patienten, bei denen ein depressives Syndrom mit einer Major De­ pression assoziiert ist.

Amitriptylin kann eher zu einer Verschlechterung von depressiven Sym­ ptomen im Rahmen einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung führen. Clomipramin sowie Desimipramin erweisen sich bei Zwangsstörungen und depressiven Störungen als hilfreich. Nach Soloff (1993) besitzen die trizyklischen Antidepressiva keinen größe­ ren therapeutischen Effekt im Vergleich mit Placebo oder Lithium. Insofern könne ihr Einsatz bei Persönlichkeitsstörungen nicht oder nur mit Einschrän­ kungen empfohlen werden.

5.2.2. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

Sie erhöhen einen erniedrigten Serotonin-Spiegel, der häufig bei suizidalem Verhalten, Impulskontrollstörungen und Gewalttätigkeiten gefunden wird. Fluoxetin ist eine der in der Literatur am häufigsten untersuchten Substan­ zen (6,7,8). In verschiedenen offenen Studien konnte es in Tagesdosen bis 80 mg eine Verbesserung depressiver Symptome, ferner auch von Angst, Zwangsstörungen, Impulskontrollstörungen, Feindseligkeit, paranoiden Ide­ en sowie Somatisierung im Rahmen von Selbst- oder Fremdbeurteilung er­ zielen. 5.2.3. Monaminoxydasehemmer (MAO-I) Tranylcypromin vermag bei Borderline-Störungen eine allgemeine Besse­ rung der Stimmungslage, einen Rückgang von Angst und Wut sowie auch Zeichen einer hysterischen Dysphorie und Phasen von Impulsstörungen zu bewirken (8).

Wirksam sind MAO-Hemmer besonders im Rahmen von atypischen De­ pressionen und bei Patienten mit Aufmerksamkeitsstörungen, wobei sie ei­ ne Rückbildung von Angst und Wut bewirken. Moclobemid beeinflußt u. a. atypische depressive Syndrome der Achse I und II, phobische und Zwangsstörungen, soziale Phobien sowie ängstliche Verstimmungszustände. Kontrollierte Studien an größeren Patientenpopula­ 124

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

tionen müssen jedoch noch abgewartet werden. Zusammenfassend ist fest­ zuhalten, daß der Einsatz, insbesondere von trizyklischen Antidepressiva und von irreversiblen Monaminoxydasehemmern auch unter Berücksichti­ gung ihrer hohen Toxizität - bei in suizidaler Absicht herbeigeführter Überdosierung - nicht oder nur unter strengen Kautelen erfolgen sollte, und zwar nur bei solchen Patienten, bei denen eine gute Compliance zu erwarten und ein ernsthaftes Agieren auszuschließen sind.

5.3 . Tranquilizer 5.3.1 . Benzodiazepintyp

Ihr Einsatz sollte bei solchen Patienten erwogen werden, bei denen durch Streß verursachte Angstzustände vorliegen, häufig als Folge einer erniedrig­ ten Frustrationstoleranz oder einer erhöhten Vulnerabilität gegenüber Streß.

Alprazolam kann bei schizotypischen Patienten zu einem Rückgang von affektiven und kognitiven Störungen sowie von Schlafstörungen führen, fer­ ner auch zu einer positiven Beeinflussung von Angst, Panikattacken und Depressivität im Sinne einer Stimmungsaufhellung (8). Andererseits wurden auch Patienten beschrieben, bei denen Alprazolam ein Ansteigen von Ver­ haltensstörungen durch einen deutlich enthemmenden Effekt im Sinne ei­ nes KontrollVerlustes sowie einer Zunahme von aggressivem Verhalten ver­ ursachte (5). Clonazepam, ein Benzodiazepinderivat mit antikonvulsiver und serotonerger Potenz wird z. B. in Kombination mit niedrigpotenten Neuroleptika als erfolgreich bei der Therapie von Wut, Angst und erhöhter Impulsivität bei Borderline-Patienten, insbesondere im Zusammenhang mit komorbider Depressivität, beschrieben.

Oxazepam und Chlordiazepoxid sollen bei Angstzuständen günstig wirken, ohne daß sich bei ihrem Einsatz Zeichen von Feindseligkeit oder Enthem­ mung entwickelten.

5.3.2 Nicht-Benzodiazepintyp Buspiron, welches eine starke Affinität zum 5-HT-1 A-Rezeptor und eine schwache zu dem D2-Dopamin-Rezeptor besitzt, wird bei Angststörungen im Rahmen von Borderline-Störungen ein therapeutischer Effekt zuge­ schrieben.

Grundsätzlich hat der Einsatz der Tranquilizer, insbesondere vom Benzo­ diazepintyp, nur mit großer Sorgfalt und nicht als Routinemedikation zu 125

Haas

erfolgen, insbesondere wegen des Abhängigkeitspotentiales und der erhöh­ ten Suchtgefahr im Rahmen von Borderline-Störungen und nicht zuletzt auch wegen ihrer teilweise enthemmenden Wirkung gegenüber Wut- und Impulsstörungen. Unter Abwägung des Nutzen- und Kostenrisikos sollten die Tranquilizer nur bei akuter Suizidalität sowie bei Eigen- und Fremdaggressionen, oft auf dem Boden massiver Angst, z. B. in Krisensituationen, erfolgen, teilweise auch über Wochen entsprechend der Schwere des klinischen Bildes, jedoch nicht als Dauermedikation.

5.4 Antikonvulsiva Wegen ihrer Stimmungsstabilisierung werden Antikonvulsiva schon seit längerem neben der Behandlung von Anfallsleiden in der Psychiatrie im Rahmen von depressiven und schizoaffektiven Störungen, Manie und auch Rezidivprophylaxe und Sucht eingesetzt. Möglicherweise liegt als Zielsyndrom eine episodische Dyskontrolle von kognitiven, affektiven und impulsiven Verhaltensweisen infolge einer er­ niedrigten Arousal-Schwelle in den limbischen Strukturen zugrunde.

Das Haupteinsatzgebiet der Antikonvulsiva stellen Impulskontrollstörungen dar.

5.4.1 Carbamazepin Ein klinisch positiver Einsatz wird bei Verhaltens-, Kontroll- und Impulskon­ trollstörungen sowie im Rahmen suizidalen Verhaltens, von Gewalttätigkeit und Selbstverletzung gesehen, insbesondere bei Patienten mit angeborener oder erworbener Gehirnschädigung.

Carbamazepin - meist in Retardform - wird in Dosen bis 800 mg/die ent­ sprechend der therapeutischen Blutspiegel eingesetzt.

5.4.2 Valproat

Es ist wirksam bei Patienten mit gleichzeitigem Auftreten von Dysphorien und Depression, ferner bei solchen mit eigen- oder fremdaggressivem Ver­ halten und Angststörungen (8).

126

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

5.5 Lithium Die serotonergen Potenzen des Lithiums erklären seine Wirksamkeit bei der Reduzierung von gewalttätigem und aggressivem Verhalten, insbesondere bei Patienten mit ausgeprägter Stimmungslabilität, z. B. im Rahmen von emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen mit erhöhter Irretabilität, Stimmungsschwankungen, Wut und Suizidalität (8). Grundsätzlich muß beim Einsatz von Lithium seine zum Teil nicht unerheb­ liche Toxizität mitberücksichtigt werden.

5.6 Opiatantagonisten Nach Soloff (1993) wurde das Interesse auf das endogene Opioid-System durch die Befunde gelenkt, wie z. B. Klagen über chronische Anhedonie, Verlangsamung, Dysphorie, Substanzmißbrauch und auf der anderen Seite durch Selbstverletzung, verbunden mit typischen Analgesien mit anschlie­ ßender Spannungslinderung. Als zugrunde liegend wird ein erhöhter Opioid-Eiweißplasmaspiegel vermutet.

Naltrexon wurde bei Patienten mit Selbstverstümmelung und NarkotikaMißbrauch im Rahmen von Borderline-Störungen eingesetzt. Unter Doppel­ blindbedingungen fand sich eine Rückbildung der Borderline-Symptomatik, ferner von hysterischer Dysphorie und Impulskontrollstörungen.

5.7 Antiparkinsonmittel Dopamin scheint u. a. tonisch die Regulation der Beta-Endorphinfreisetzung zu hemmen. Auf diesen theoretischen Überlegungen basierend wurde Levodopa und Carbidopa zur Erhöhung des cerebralen Dopaminspiegels eingesetzt mit der Folge einer Reduzierung der Beta-Endorphinfreisetzung.

Als klinische Antwort zeigte sich eine deutliche Reduktion von Dysphorie, depressiver Verstimmung, von Anhedonie und des Drogensuchtverhaltens (8). Die Tendenz zur Psychoseauslösung muß berücksichtigt werden.

5.8 Propranol In einigen Studien wurden Hinweise gegeben, daß der Beta-Blocker Pro­ pranol bei sozialen Persönlichkeitsstörungen und destruktivem Verhalten bei hirnorganischen Störungen neben Carbamazepin oder Lithium einge­ setzt werden kann (6).

127

Haas

Destruktives Verhalten bei hirnorganischen Störungen kann ähnlich wie mit Lithium oder Carbamazepin positiv beeinflußt werden.

6. Zusammenfassung Bei der biologischen Mitverursachung von Persönlichkeitsstörungen ist zu berücksichtigen, daß sowohl konstitutionelle Faktoren wie genetische, an­ geborene und erworbene Hirnstörungen sowie biologische Marker eine wesentliche ätiologische Rolle besitzen.

Möglicherweise ist ein Kontinuum zwischen den Störungen auf der Achse I des DSM-Ill-R und der Achse II zu vermuten. Störungen der Impulsivität und Aggressivität dürften genetisch mit einer Reduktion der serotonergen Aktivität in Übereinklang gebracht werden. Störungen der Kognition und der Wahrnehmung stellen den Ausdruck von Abnormitäten der dopaminergen Funktion dar, während die affektive Insta­ bilität mit Imbalancen im cholinergen und katecholaminergen Funktionssy­ stem korreliert sein mögen.

Bei den Störungen der Angst und der Hemmung auf der Achse I und II fin­ den sich keine eindeutigen biologischen Korrelate, es werden jedoch Stö­ rungen GABA-erger, noradrenerger und serotonerger Systeme vermutet. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Behandlung der Wahl im Rahmen der Persönlichkeitsstörungen. Die Heterogenität der zugrunde liegenden Störungen erfordert einen diffe­ renzierten Therapieeinsatz. Kombiniert mit einer Psychotherapie, insbeson­ dere einer solchen, die die interpersonelle Dynamik berücksichtigt, stellt die Psychopharmakotherapie den zur Zeit rationalsten Ansatz bei der Be­ handlung der Persönlichkeitsstörungen dar. Soloff (1993) weist darauf hin, daß die Medikation selbstverständlich nicht den Charakter der Patienten so wie wiederum die Psychotherapie nicht vermag, die zugrunde liegende Biologie zu verändern.

Die Psychopharmakotherapie ist empirisch gerechtfertigt und zielt auf die Beeinflussung einer zugrunde liegenden Vulnerabilität, welche für eine ge­ störte Kontrolle in den Bereichen wie Kognition, Affekt, Impulsivität und Angst verantwortlich sein dürfte.

Abschließend braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden, daß die Psychopharmakotherapie im Rahmen der Behandlungskonzepte bei Per­ sönlichkeitsstörungen einen empirisch gesicherten Stellenwert besitzt und die in vielen Fällen notwendigen psychotherapeutischen Verfahren unter128

Pharmakotherapie bei Persönlichkeitsstörungen

stützt.und dem Patienten letztendlich zu helfen vermag, eigene CopingMechanismen gegenüber den zugrunde liegenden Störungen zu entwickeln. Es ist jedoch die Einschränkung zu berücksichtigen, daß in vielen Fällen nur eine geringe Beeinflußbarkeit der zugrunde liegenden biologischen Störungen und der dynamisch entstandenen pathologischen Persönlich­ keitsorganisationen durch die Medikation, aber auch durch die psychothe­ rapeutischen Verfahren zu erzielen ist.

Literatur a) zur Übersicht

(1) Andreasen, N. C., Black, D. W. (1993): Lehrbuch Psychiatrie. Belz, Weinheim (2) Dulz, B., Schneider, A. (1995): Borderline-Störungen. Theorie und Therapie. Schat­ tauer-Verlag, Stuttgart New York (3) Paris, J. (ed.) (1993): Borderline personality disorder - Etiology and treatment. Ame­ rican Psychiatric Press, Inc., Washington

b) Artikel (4) Coccaro, G., Siever, L. J. (1995): Neuropsychopharmacology of personality disorder. In: Blomm, F. E., Kupfer, D. J. (ed.): The Fourth Generation. Raven Press Ltd., New York (5) Dulz, B. (1994): Pharmakologie bei Borderlinestörungen. Nervenarzt 65: 755 - 761 (6) Gitlin, M. J. (1993): Pharmacotherapy of Personality Disorders. J Clin Psychopharmacol: 13, 343 - 353 (7) Siever, L. J., Davis, K. L. (1991): A psychobiological perspective on the personality disorder. Am J Psychiatry 148: 12, 1647 - 1658

(8) Soloff, P. H. (1993): Pharmacological therapies in Borderline personality disorder. In: Paris, J. (ed.): Borderline personality disorder - Etiology and treatment. Ame­ rican Psychiatric Press, Inc., Washington (9) Walden, J., Heßlinger, B. (1995): Bedeutung alter und neuer Antiepileptika in der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen. Fortschr. Neurol. Psychiatr. 63, 320 335

129

Konrad Maurer

Persönlichkeitsstörungen im Alter Am Ende des Symposiums über Persönlichkeitsstörungen, deren Psychothe­ rapie und Pharmakotherapie, ist es angebracht über Persönlichkeitsstörun­ gen im Alter zu sprechen. Warum Miteinbeziehung des Altersaspektes? Ei­ ne demographische Revolution hat die Lebenserwartung der Menschen und somit die Anzahl an Älteren stetig steigen lassen. Wenn gegenwärtig 8,9 Mill, über 65jährige in Deutschland leben, so werden es nach Modellrech­ nungen bis zum Jahr 2030 rund 14,2 Mill. sein. Die Zahl der Hochbetagten wird besonders steil ansteigen, wobei bis 2030 bei den über 80-Jährigen mit einer Zunahme um das Doppelte zu rechnen ist. Der Zugewinn an Lebensspanne, ein Traum der Menschheit, wäre tatsäch­ lich in Erfüllung gegangen, wenn da nicht der Wermutstropfen der Hirnlei­ stungsstörung und der psychischen Erkrankungen im Alter wäre. Es haben sich deshalb medizinische Disziplinen herauskristallisiert wie Gerontologie und speziell was die Psychiatrie anbelangt, Gerontopsychiatrie oder auch Psychogeriatrie genannt. Der Hauptgrund dafür ist, daß Erscheinungsbilder, Verlauf und Folgen vieler auch in früheren Lebensabschnitten auftretender Erkrankungen im höheren Lebensalter durch biologische Faktoren der Alters­ prozesse eine Änderung erfahren. Die Zahl von Erkrankungen, an denen eine Person gleichzeitig leidet, auch als Multimorbidität bezeichnet, nimmt mit dem Alter deutlich zu. In einer Bevölkerungsstudie von Welz in Duderstadt waren nur 5,6 % der 189 Untersuchten gesund, 22,2 % litten an einer oder zwei und 32,2 % an drei oder vier Erkrankungen.

Die Frage, ob es spezifische alterstypische Besonderheiten bereits früher auftretender psychiatrischer Erkrankungen gibt, ist häufig diskutiert worden. In den meisten Studien war sowohl von einer Tendenz zur Nivellierung und Entstrukturierung profilierter Syndrome, als auch von einer karikieren­ den Steigerung abnormer Charakterzüge berichtet worden. Interessant in diesem Zusammenhang sind Beobachtungen von altersspezifischen Verän­ derungen bei lange bestehenden funktionellen Psychosen. Sie zeigen überwiegend einen Rückgang und nur selten eine Verstärkung der expansi­ ven Komponenten des Krankheitsgeschehens. Gleichzeitig verbessert sich, besonders bei einem Teil der gealterten Schizophrenen, die Bewältigung der alltäglichen Lebensaufgaben und die soziale Anpassung. In diesen Ver­ änderungen finden alterstypische Entwicklungen der Persönlichkeit und der Lebenssituation ihren Niederschlag. Hierzu zählen die Abnahme von Triebdynamik und Aggressivität, die auch im starken Rückgang der Krimina­ 131

Maurer

lität ihren Ausdruck findet, sowie Veränderungen der Wert- und Interessen­ struktur, die im Alter von Leistung, Konkurrenz und Eroberung verstärkt auf Bewahrung und Anpassung übergeht. Was die Häufigkeit psychischer Erkrankungen im höheren Lebensalter an­ belangt, erhält man einen Einblick durch das Studium der folgenden Tabel­ le von Häfner (1993).

Tabelle 1: Psychische Störungen in der Bevölkerung über 65: Ergebnisse aus Feldstudien (Nach Cooper 1986, ergänzt durch den Verfasser). Autor

Untersuchungs­ gebiet

Pro­ banden n

Schwere orga­ nische Psychosyn. [%]

Leichte orga­ nische Psychosyn. [%]

Funk­ tioneile Psycho­ sen [%]

Neuro­ sen u. Persönlichkeitsstörungen [%]

Gesamt %

Sheldon (1948)

Wolverhampton England (städtisch)

369

3,9

11/7

-

12,6

28,2

Primrose (1962)

N.-Schottland (ländlich)

222

4,5

-

1,4

12,6

-

Nielsen (1962)

Samso (ländlich)

978

3/1

15,4

3,7

6,8

29,0

Kay et al. (1964)

Newcastle, Eng­ land (städtisch)

443

5/7

5,7

2,4

12,5

26,3

Parsons (1965)

Swansea, Wales (städtisch)

228

4,4

-

2,6

4,8

-

Ben-Arie et al. Kapstadt, Süd­ afrika (städtisch) (1983)

139

3/6

5,0

5/1

17,9

31,6

Cooper u. Sosna (1983)

519

6,0

5,4

2,2

10,8

24,4

3,4

10,2

23,1

1/8

4,6

22,5

1/7

8,7

19,1

Mannheim (städtisch)

Weyerer u. Oberbayern Dilling (1984) (halbländlich)

295

Weissmann et New Haven, Conn. al. (1985)

2588

Fichter et al. (1988)

Oberbayern (halbländlich)

358

-8,5-

12,7

3,4 -8,7-

Will man psychische Störungen im höheren Lebensalter einteilen, muß man klären, ob es sich um eine Verstärkung eines schon bestehenden Krankheitsbildes durch physiologische Alterungsphänomene handelt oder um einen neuen spezifischen Prozeß. Betrachtet man die nachfolgende Übersicht, wird man diese Differenzierung treffen können. 132

Persönlichkeitsstörungen

im

Alter

Diagnoseschema der Alterspsychopathologie nach ICD-10

Psychische Störungen eindeutiger organischer Ursachen 1. Hirnfunktionsstörungen mit nachweisbarer Ätiologie

- Delir - Demenz

- Amnestisches Syndrom - Halluzinatorische, katatone, affektive Störungen

- Verhaltensstörungen u. a. 2. Durch psychotrope Substanzen verursachte psychische Störungen

- Intoxikation und Abusus - Abhängigkeits- und Entzugssyndrom - Psychische- oder Verhaltensstörungen 3. Psychosen ohne faßbare organische Störungen

- Schizophrene und schizotype Störungen - Wahnhafte Störungen - Schizoaffektive Störungen - Manien und bipolare affektive Störungen

- Depressive Episoden - Anhaltende affektive Störungen 4. Psychogene und Persönlichkeitsstörungen

- Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen -Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Störungen - Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

Die mehr hirnorganisch bedingten Bilder, die oft auch einen neu aufgetre­ tenen Prozeß darstellen, sind dabei unter 1 und 2 festgehalten und die Krankheiten, die durch den Alterungsprozeß eine Veränderung erfahren, mehr unter 3 und 4, wobei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen ganz unten aufgelistet sind.

133

Maurer

Unter welchen Voraussetzungen sich dann eine Demenz, eine Psychose oder eine Persönlichkeitsstörung im Alter manifestiert, ist, nur um einige wichtige Faktoren zu nennen, von den jeweiligen Umweltbedingungen, dem Lebensraum und den psychosozialen Beziehungen in einem stärkeren Maße abhängig als in früheren Lebensabschnitten. In der Alterspsychopa­ thologie haben sich außerdem Begriffe als wertvoll erwiesen wie „Kompensation" und „Dekompensation"; Kompensation als Aufrechterhal­ tung trotz Störungen und Dekompensation als Hineingeraten in einen Circulus vitiosus.

Nun aber zum Thema, den Persönlichkeitsstörungen im Alter. Wir besitzen erstaunlich wenig Informationen in Bezug auf die Diagnose von Persön­ lichkeitsstörungen im Alter und haben abgesehen von wenigen klinischen Berichten sehr wenig Informationen in Bezug auf die Behandlung individu­ eller Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Um so erfreulicher ist die Fül­ le von Untersuchungen über Persönlichkeitsveränderungen und -entwicklungen im Alter. In Frankreich sagt man „on viei 11 it comme on a vecu" - man altert wie man gelebt hat. Mit dieser Aussage wird die Individualität des Alterungsvorgan­ ges betont. Zusätzlich beeinflussen aber gerade in diesem Lebensabschnitt genetische, somatische und psychosoziale Faktoren den Alterungsprozeß. Stereotype Vorstellungen über das Nachlassen körperlicher und geistiger Kräfte, mangelnde Anpassungsfähigkeit und Einengung der Interessen im Alter haben vor allem in einer leistungsorientierten Gesellschaft zur Entste­ hung eines negativen, an Defiziten orientierten Altersbildes geführt, was u. U. auch die Häufung der Suizidrate in der zweiten Lebenshälfte erklärt. Die Alterssituation beinhaltet jedoch nicht nur Beschränkungen und Verlu­ ste, es können auch ausgleichende und kompensierende Kräfte erwachsen. Eine vermehrte Introversionsneigung ist bei dieser Betrachtung eine Voraus­ setzung für eine qualitative Umstrukturierung, die der Aufrechterhaltung der Lebenszufriedenheit dient.

Von Monakow berichtet 1939, daß erst das Alter ihm die eigentliche Fülle des „psycho-biologischen Orchesters" beschert habe. Unwichtiges falle ab, die Konzentration auf das Wesentliche, der Überblick nähmen zu. Nach Litwinski tritt an die Stelle verminderter Fähigkeit zur direkten Beobachtung und Wahrnehmung der Wirklichkeit in vermehrtem Maße Imagination und Intuition. Gegen das Nachlassen körperlicher und geistiger Kräfte und somit auch ge­ gen das an Defiziten orientierte Altersbild sprechen auch Untersuchungen über die Persönlichkeitsentwicklung im hohen Lebensalter, die von Lehr an gesunden Älteren durchgeführt wurden. Die Ergebnisse der sogenannten 134

Persönlichkeitsstörungen im Alter

„Bonner Längschnittstudie des Alterns zur Persönlichkeitsentwicklung" kam dabei zu den Resultaten der folgenden Tabelle.

Tabelle 2: Veränderungen in den Persönlichkeitsvariablen zwischen dem 1. und 6. Untersuchungsdurchgang.

Im Bereich der

Veränderung im Sinne einer Abnahme

Konstanz bzw. Verän­ derung im Sinne einer Zunahme

Aktivität

48,2 % der Vpn

51,8 % der Vpn

Stimmung

54,4 % der Vpn

45,6 % der Vpn

Anregbarkeit

46,8 % der Vpn

53,2 % der Vpn

Angepaßtheit

46,8 % der Vpn

53,2 % der Vpn

Steuerung

55,7 % der Vpn

44,3 % der Vpn

Die Stichprobe bestand aus 81 Personen im Alter zwischen 60 und 75 Jah­ ren; der Beobachtungszeitraum betrug 12 Jahre. In der Tabelle wurden Da­ ten des ersten Meßzeitpunktes mit denen eines 6. Meßzeitpunktes 12 Jahre später miteinander verglichen. Während bei etwa der Hälfte der Personen innerhalb der beobachteten 12 Jahre Veränderungen im Sinne eines soge­ nannten „Altersabbaues", Nachlassen der Aktivität, zunehmend gedrückte Stimmungslage, Nachlassen der Anregbarkeit, verminderte Angepaßtheit und Steuerung festgestellt wurden, zeigen sich bei fast ebensoviel Personen keinerlei Altersveränderungen, eher sogar Entwicklungen in Richtung auf eine zunehmende Aktivität, gehobene Stimmungslage, zunehmende An­ regbarkeit, bessere Angepaßtheit und Steuerung. Die Studie mit Ergebnissen zur Persönlichkeitsentwicklung im 7., 8. und 9. Lebensjahrzehnt bestätigt, daß es weder generelle - daß heißt auf alle Persönlichkeitsbereiche ausge­ dehnte - noch universelle - das heißt alle Individuen betreffende - Alters­ veränderungen gibt. Zu ähnlichen Resultaten kam auch Deusinger. Untersucht wurden 476 Probanden im Alter von 50 bis 95 Jahren. Das Selbstkonzept der Selbst­ wertschätzung dieser Gruppe wurde mit dem von 1807 Probanden im Alter von 17 bis 49 Jahren verglichen; danach hatten Ältere wie Jüngere ein ver­ gleichbares Maß an Selbstwertschätzung.

Nun aber zurück zum Einfluß des Alterungsprozesses auf die Persönlichkeit und die daraus resultierenden Persönlichkeitsveränderungen und Persön­ lichkeitsstörungen, wobei auf Untersuchungen von Stuckstedte und Ulmar zurückgegriffen werden soll. Erstmanifestationen von Persönlichkeitsstö­ 135

Maurer

rungen im Alter sind selten, sie treten zumeist als depressive Verstimmung in Erscheinung. Es konnte gezeigt werden, daß vorbestehende neurotische Züge zu einer schlechteren Adaption in der zweiten Lebenshälfte führen; sehr wahrscheinlich werden kompensierte neurotische Tendenzen weniger durch einen mentalen Abbau als durch belastende psychosoziale Ereignisse im Alter wieder belebt. So hatten rigid-zwanghafte Charaktere besondere Schwierigkeiten, mit Pensionierung oder Milieuwechsel fertig zu werden, schizoid-autistische Persönlichkeiten zeigten vermehrt Kontaktschwierigkei­ ten, Überabhängige dekompensierten leichter bei Verlust von Bezugsper­ sonen. In der Mehrzahl der Fälle wird jedoch mit zunehmendem Alter von einem Rückgang der Intensität vorbestehender Persönlichkeitsstörungen berichtet. Gerade katamnestische Untersuchungen von Ciompi und Müller ergaben bei Hysterikern eine Tendenz zur Abschwächung und Nivellierung ehemals akzentuierter psychopathologischer Symptome. Es bestand eine Neigung zu unauffälligen Residualzuständen, Somatisierungstendenzen, der Entwicklung hypochondrischer Symptome, Angst, Depression und ver­ mehrt auch projektiv-wahnhaften Störungen. Ernst nannte diesen Verlauf treffend einen Wandel von der Gebärde zur Beschwerde. Man sprach auch von einer „Erfordernis-Hypochondrie" mancher betagter und vereinsamter Menschen, die den Verlust mitmenschlicher Bezüge durch die Faszination eigener Organempfindung ausgleichen. An die Stelle des objektbezogenen Sorgens tritt das Sich-Sorgen um die eigene Person. Bei der Untersuchung von Altersneurosen fand man in zwei Dritteln der Fälle körperliche Beschwerden ohne realen Hintergrund. Das demonstrati­ ve Verhalten stellt in den meisten Fällen den augenscheinlichen Versuch dar, Mitleid und Zuwendung zu erhalten. Manche Altersveränderung wie Konservatismus, übersteigerte Vorsicht und ritualisierte Verhaltensweisen, die wie neurotische Fehlhaltungen anmuten, erweisen sich bei einer psy­ chodynamischen Betrachtung oft als Abwehr- und Kompensationsmecha­ nismen zur Neutralisierung von Angst und Unsicherheit, stellen also gleich­ sam einen physiologischen Neurotisierungsprozeß dar.

Die Bedeutung der Angst für die Psychopathologie des Alterns wurde von Bronisch genauer beleuchtet. Sie scheint bei der Entstehung von Altersneu­ rosen eine bedeutende Rolle zu spielen. Vor allem bei Anpassungszwängen im Alter besteht die Möglichkeit neuer Angstgenerierung. Andererseits tritt auch ein Austritt aus dem Zeitraster, ein Abrücken aus Raum und Zeit ein, der Kampf um Existenz und soziale Position tritt in den Hintergrund, der Geschlechtstrieb erlischt. Dieser Prozeß scheint die' Bewältigung spezifi­ scher Altersaufgaben des Ichs, etwa die Akzeptanz der Endgültigkeit, der Vergänglichkeit und des nahen Todes zu erleichtern. Das Verlöschen der sterbenden Persönlichkeit ermöglicht in manchen Fällen das beneidenswer­ 136

Persönlichkeitsstörungen

im

Alter

te Gleichgewicht, in welchem der Tod weder gefürchtet noch gewünscht, das Dasein ohne Streben und ohne Wünsche fortgeschleppt wird. Der Einfluß hirnorganischer Veränderungen auf die Persönlichkeit im Alter bedarf gesonderter Betrachtung. Hier interessieren insbesondere Phänome­ ne, die im Vorfeld organischer Psychosen auftreten. Bleulers Begriff des psychoorganischen Syndroms umfaßt in seiner klassischen Bedeutung ne­ ben Hirnleistungsschwäche und amnestischen Störungen auch Persönlich­ keitsveränderungen. Vorzeitigen Versagenszuständen im Involutionsalter mit Dysphorie, Erschöpfung und intellektuellen Störungen, lag typischer­ weise die Kombination beginnenden Hirnabbaus und äußerer Belastungs­ momente zugrunde. In diesem Zusammenhang ist auch der NeurasthenieBegriff als Vorbote des organischen Psychosyndroms zu sehen. Abnorme Erlebnisreaktionen mit hysterieformen, hypochondrischen und paranoiden Bildern sind ebenfalls auf der Grundlage organischer Persönlichkeitsverän­ derungen möglich. Hirnorganische Prozesse können ferner in ihrem Initial­ stadium die Symptomatik funktioneller Psychosen aufweisen, wobei hier auf den Übergang vom „Endogenen" zum „Exogenen" hingewiesen wird.

Beim Übergang zur Demenz tritt lediglich eine Steigerung dieser, sich bis­ her an der Schwelle des psychotischen bewegender Systeme auf. Neben den Leistungsverlusten kommt es im besonderen zu einem Abbau des Per­ son-Seins, einem Verlust der Reflexionsfähigkeit und der Selbstvergegen­ wärtigung. Über die Bedeutung der Primärpersönlichkeit kann in diesem Zusammenhang wenig ausgesagt werden. Neben Studien, die keine Bezie­ hung zu bestimmten prämorbiden Persönlichkeitstypen aufdecken konnten, haben andere Autoren das Vorliegen schizoider bzw. anankastisch-rigider Charaktermerkmale mit dem Auftreten der senilen Demenz in Verbindung gebracht und auch verschiedene Typen mit unterschiedlicher Empfindlich­ keit für bestimmte soziale oder psychische Belastungssituationen abge­ grenzt. Es konnte gezeigt werden, daß bei Patienten mit einer organischen Alterspsychose eine deutliche Erhöhung der Streßempfindlichkeit vorlag, was die Streß-Kortisolhypothese der Demenz unterstreicht.

Zusammenfassend handelt es sich bei Persönlichkeitsstörungen im Alter um Syndrome, die sich aus konstitutionellen Faktoren und der Verarbeitung von Lebenserfahrung ergeben und die sich in einer Einengung von Reaktions- und Adaptionsmöglichkeiten manifestieren. Mit Veränderung der psy­ chischen Leistungsfähigkeit im Alter und dem Verlust sozialer Rollen kann die Dynamik einer Persönlichkeitsstörung modifiziert werden. So etwa schwächen sich impulsive Verhaltensweisen im Alter ab, was in einer Ab­ nahme von dissozialen Störungen registrierbar wird. Vitalitätsverluste kön­ nen bei Persönlichkeitsstörungen, die durch starres Kontrollbedürfnis cha­ rakterisiert sind, depressive Entwicklungen einleiten oder auch zu paranoi­ 137

Maurer

den Reaktionen führen. Der Verlust von Bezugspersonen ist beim Vorliegen einer abhängigen Persönlichkeitsstörung häufig von psychischen Dekom­ pensationserscheinungen begleitet.

Nun aber zur Frage der Therapie bei Persönlichkeitsstörungen. Über die Pharmakotherapie ist schon berichtet worden; außerdem haben wir Beiträ­ ge gehört über kreative Therapien, über praktische Behandlungsaspekte bei Borderline-Störungen und über kognitive Verhaltenstherapie von Persön­ lichkeitsstörungen.

Es kommt mir die Aufgabe zu, über Psychotherapie bei Persönlichkeitsstö­ rungen im Alter zu sprechen, wobei ich noch eine weitere für das Alter wichtige Therapieform, das kognitive Training, hinzufügen möchte; wichtig ist dieses Training vor allem dann, wenn zur Persönlichkeitsstörung noch eine hirnorganische Komponente hinzukommt, also bei organischen Per­ sönlichkeitsstörungen. Zunächst zur Psychotherapie im Alter, die bevorzugt bei Persönlichkeitsstö­ rungen im Alter ohne hirnorganische Komponente einzusetzen ist. - Zur Vorgeschichte: Ab 1950 befaßten sich vor allem Autoren in den USA mit der Entwicklung von Erwachsenen in der zweiten Lebenshälfte und entwikkelten entsprechende Behandlungsverfahren mit 50 bis 75jährigen. Die entsprechenden Resultate wurden ab 1968 vorwiegend in dem psychoana­ lytisch ausgerichteten „Journal of Geriatrie Psychiatry" publiziert. Vor allem Veröffentlichungen von Pollock verdeutlichen den inzwischen erreichten psychoanalytischen Forschungs- und Praxisstand. Im letzten Jahrzehnt be­ gann sich die Psychotherapie und Psychoanalyse intensiver für das höhere Lebensalter zu interessieren. Ausgehend von der weitgehenden Zeitlosig­ keit unbewußter Prozesse und der Gültigkeit psychodynamischer Gesetz­ mäßigkeit für den gesamten Lebensablauf stützt sich die psychoanalytische Sicht des hohen Lebensalters insbesondere auf die von Erikson begründeten später für diese Lebensabschnitte detaillierter ausgeführten Konzepte. Die Entwicklung - hier verstanden als lebenslanger Prozeß - verläuft danach in aufeinander aufbauenden Schritten in unterschiedlichen Teilbereichen. Zu diesen Teilbereichen gehören z. B. libidinöse, aggressive und narzißtische Strebungen, Körper-, Selbst- und Idealbild, intra- und intergenerative Bezie­ hungen, Identitätsgewinnung über Beruf und Freizeit. Das Individuum muß in jedem Abschnitt des Lebensablaufes die in diesen unterschiedlichen Teilbereichen anstehenden Entwicklungsaufgaben bzw. psychosozialen Aufgaben lösen, wobei sich die Übergänge krisenhaft gestalten können. Derartige Krisen können entweder zu einem Entwicklungsstillstand oder sogar zu einem Rückschritt (Regression) führen. Befriedigend gelöst, erlau­ ben sie neue Entwicklungsschritte (Progression). Insgesamt erfolgt so im 138

Persönlichkeitsstörungen im Alter

Verlauf der Zeit eine zunehmende Integration erworbener psychosozialer Kompetenzen.

Diese Sichtweise erweist sich von entscheidender Bedeutung für das Ver­ ständnis von psychischer Gesundheit und Krankheit in dem Sinne, daß frü­ here Erfahrungen im Laufe der Zeit als Ausdruck von Reifungsprozessen in altersadäquate Verhaltensweisen und damit in das Ich integriert werden. An Formen einer Psychotherapie im Alter nennt Radebold die langfristige Einzelpsychotherapie, die nach derzeitigem Erfahrungsstand auch für die Gruppe der 60 bis 75jährigen als die entscheidende Behandlungsmöglich­ keit anzusehen ist, wobei Langzeit-Psychoanalysen und Kurzzeitpsychothe­ rapien weitgehend zurücktreten. Die Fokal- bzw. Kurzzeitpsychotherapie im Umfang von bis zu 20 Behandlungsstunden innerhalb eines Zeitraumes von Wochen bis Monaten wird in der Regel auch bei Patienten höheren Alters genutzt, teilweise auch bei Hochbetagten. Sie wird sowohl in den Praxen als auch im teiIstationären oder stationären Bereich insbesondere bei Krisen- und pathologischen Trauersituationen angewandt. Die bisher nur vereinzelt durchgeführten Langzeit-Psychoanalysen werden eher bei 50- bis 60-Jährigen, kaum bei über 60jährigen durchgeführt. Wobei hier Radebold bemerkt, daß leider die Langzeit-Psychoanalyse als das klassische psychoanalytische Forschungs- und Behandlungsinstrument praktisch im Altersbereich noch kaum genutzt wird. Auch paar- und familientherapeuti­ sche Ansätze nach psychoanalytischen Konzepten wurden bislang kaum angewandt.

Was Behandlungsergebnisse anbelangt, läßt sich bisher bei ungelösten un­ bewußten Konflikten vermerken, daß sie sich aufgrund ihrer Zeitlosigkeit und des Wiederholungszwanges soweit bearbeiten lassen, daß stabile und erwachsenengerechte Lösungen erreicht werden können. Als besonders günstig erwiesen sich dabei unbewußte Konflikte mit erneutem oder mehr­ fachem Auftreten nach Kindheit und Jugendzeit bei zwischenzeitlich lan­ gen Abschnitten psychosexueller und psychosozialer Stabilität und insge­ samt erreichter befriedigender Identität, die sich jetzt wieder mit entspre­ chender neurotischer Symptomatik manifestieren. Erstmals auftretende Kon­ flikte im engen zeitlichen Zusammenhang mit traumatisierenden Ereignis­ sen, insbesondere mit Verlusten oder Trennungen, zeigen insgesamt eine gute Behandlungsprognose; teilweise erweisen sie sich mit Hilfe einer Kurz­ oder Fokaltherapie angehbar. Die Bearbeitung und Klärung von pathologi­ schen unbewußten innerpsychischen Konflikten bewirken weitere nach­ weisbare Veränderungen: Unabhängig von ihrem chronologischen Alter erhalten Ältere Zugang zu ihnen bisher unbekannten, teilweise langfristig bis lebenslang abgewerteten Empfindungen, Triebimpulsen sowie Fähigkei­ ten und Interessen. Wie schon angedeutet bedarf der Einfluß hirnorgani­ 139

Maurer

scher Veränderungen auf die Persönlichkeit im Alter einer gesonderten Be­ trachtung; dies gilt natürlich auch für das therapeutische Vorgehen. Das sogenannte „multimodale Training" eignet sich zur Verbesserung der Selbständigkeit, der Gedächtnisleistungen und der Umstellungsfähigkeit. Das Training, das auch als SIMA bezeichnet wird (Abkürzung für Selbstän­ digkeit im höheren Lebensalter, entwickelt von Oswald in ErlangenNürnberg) reduziert den weitgehend altersabhängigen Abbau in den oben genannten Funktionsbereichen. Oswald kommt zu dem Schluß, daß eine Kombination aus einem körperlichen und geistigen Training den Stoffwech­ sel günstig beeinflußt und damit alte, gut eingeübte Funktionen, besser ver­ fügbar macht, wobei biologisch bedingte Hirnleistungsdefizite durch re­ gelmäßiges Üben der noch vorhandenen Funktionen ausgeglichen werden.

Ein ähnliches Training wendeten wir bei 30 leicht hirnleistungsgestörten Patienten in einem Altenheim an. Das kognitive Training enthielt dabei va­ riable Teile zur Förderung von Defiziten im Bereich der Motorik, der kogni­ tiven Fähigkeiten, der alltäglichen Verrichtungen und der Emotionalität, wie sie besonders bei organischen Persönlichkeitsstörungen und auch bei De­ menz zu beobachten sind. Einen besonderen Platz, um Alterskompetenz zu fördern und die geistige und körperliche Selbständigkeit zu erhalten, nahm das Training täglicher Verrichtungen ein. Hier wurden einige Hilfen ange­ boten, um alte Menschen aktiv an ihrer Umgebung teilnehmen zu lassen und so lange wie möglich in einem hohen Grad an Selbständigkeit zu er­ halten. Die soeben genannte Therapieform dürfte vor allem dann einsetzbar sein, wenn der Einfluß hirnorganischer Veränderungen auf die Persönlichkeit im Alter einer gesonderten therapeutischen Richtung bedarf. Beim Übergang in die Demenz, wenn es zum Abbau des Person-Seins, einem Verlust der Re­ flexionsfähigkeit und der Selbstvergegenwärtigung kommt, sind nur noch die leichten organischen Persönlichkeitsveränderungen, die noch nicht all­ zusehr von der Normalität abweichen und die soziale Aktionsfähigkeit noch nicht wesentlich beeinträchtigt ist, ein Indikationsfeld für diese Be­ handlungsmethode. So viel zu Persönlichkeitsstörungen lichkeiten; Persönlichkeitsstörungen und wegen der MuItifaktorialität des eindeutigen Gesetzmäßigkeiten was belangt.

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im Alter und deren Behandlungsmög­ im Alter tragen eine individuelle Note Geschehens gibt es derzeit noch keine Diagnostik und vor allem Therapie an­

Persönlichkeitsstörungen im Alter

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Peter Hartwich ♦ Burkhard Pflug

Synopsis Die Krankheitsbilder der Persönlichkeitsstörungen sind innerhalb unserer Klassifikationssysteme in den letzten Jahren mehr in den Vordergrund ge­ rückt. Gleichzeitig droht in diesen Systemen die Gefahr, daß die Neurosen­ konzepte verdrängt werden. In den vorliegenden Buchbeiträgen wird zu die­ ser Tendenz kritisch Stellung genommen und eine differenzierte Diagnostik sowohl für Persönlichkeitsstörungen als auch für Neurosen angestrebt.

Wie in den Beiträgen dargelegt, sind die Kriterien der Persönlichkeitsstö­ rung letztlich nicht eindeutig zu definieren: Einmal werden Persönlichkeits­ störungen beschrieben, die sich durch das Merkmal der überdauernden psychopathologischen Wesenszüge auszeichnen, zum anderen werden auch Beispiele dargestellt, in denen der Aspekt der in der Zeit konstant bleiben­ den Merkmale eine geringere Rolle spielt und statt dessen die Konstanz der Richtung einer Merkmalsveränderung im Vordergrund steht (z. B. soziale Phobien, Borderlinestörungen und Persönlichkeitsstörungen im Alter). Aus psychodynamischer Perspektive und der psychotherapeutischen Erfah­ rung wird versucht, die Persönlichkeitsstörung zwischen Psychose und Neurose hinsichtlich bestimmter Abwehrstrukturen und ihrer Ich-Stärke ein­ zuordnen.

Bei der heutigen Darstellung der therapeutischen Möglichkeiten werden in den Beiträgen je nach Schwerpunktbesetzung, bezogen auf die genannten Konzepte, unterschiedliche psychotherapeutische Strategien entwickelt. Faßt man diese zusammen, lassen sich drei Kategorien typisieren: 1. Die Behandlung von Krisen und zugespitzten Situationen durch rekompensierende Maßnahmen. Dazu gehören therapeutisch-regulierende Eingriffe einschließlich der Entaktualisierung durch adäquaten und subtil angemessenen Umgang mit Psychopharmaka.

2. Vermittlung von Strategien, um besser mit sich selber und seiner Um­ welt zurechtzukommen. Hierzu gehören Verhaltenstherapie und ko­ gnitive Vorgehensweisen. In geeigneten Fällen wird auch medikamen­ töse Hilfe eingesetzt. 3. Die Veränderung im Sinne einer Reifung bzw. Nachreifung, bei der die therapeutische Beziehung im Vordergrund steht und die tiefenpsy­ chologischen sowie kreativen psychotherapeutischen Umgangsweisen eine entscheidende Bedeutung haben.

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Hartwich ♦ Pflug

Gegenüber früheren, eher pessimistischen Einstellungen zur Therapie wer­ den eine Reihe von Behandlungsmöglichkeiten vorgelegt, die praktikable Hinweise geben und die Einstellung gegenüber den Krankheitsbildern der Persönlichkeitsstörungen im positiven Sinne wandeln.

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