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German Pages 396 Year 2012
HER MAEA GER MANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HER AUSGEGEBEN VON CHR ISTINE LUBKOLL UND STEPH AN MÜLLER
BAND 125
STEPHAN JAEGER
Performative Geschichtsschreibung Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel
De Gruyter
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
ISBN 978-3-11-025908-7 e-ISBN 978-3-11-026085-4 ISSN 0440-7164
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I.
Einleitung. Performative und erzählende Geschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert . . . . . . .
5
11. Die These von der performativen Geschichtsschreibung 5 12. Geschichte. Geschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1. Autonomie von Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2. Geschichtsdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3. Englischsprachige Geschichtsschreibung . . . . . . . . 20 2.4. Deutschsprachige Geschichtsschreibung . . . . . . . . 26 13. Theorie. Inszenierungen von Geschichte . . . . . . . . . 33 3.1. Zur Performativität von Geschichtsschreibung . . . . . 33 3.2. Textuelle Geschichtswelten . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.3. Auf der Grenze zwischen Historiographie, Philosophie und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 II.
Georg Forsters Zivilisationsgeschichtsschreibung. Fortschritt und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Forsters ›Reise um die Welt‹. Reisebericht oder Zivilisationsgeschichtsschreibung? 12. Verräumlichte Zivilisationsgeschichte . . . . . . . . 13. Forsters temporalisierender Stil – Stilvergleiche . . . 14. Inszenierter Geschichtsprozess . . . . . . . . . . . . 15. Temporalisierung zwischen Natur und Kultur . . . . 16. Darstellungsformen in der Balance . . . . . . . . . . 17. Fortschritt und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
71 . 71 . 78 . 88 . 96 . 101 . 113 . 118 V
III. Johann Gottfried Herders Menschheitsgeschichte. Prozess und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 11. Menschheitsgeschichtsschreibung zwischen Geschichte, Naturwissenschaft und Philosophie . . . . . . . . . . . 12. Herder, Geschichte und die Herder-Forschung . . . . . 13. Die performative Inszenierung des historischen Prozesses in ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Herders Temporalisierung von Geschichte . . . . . . . 3.2. Zwischen Skepsis und Plan . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Europa. Idee und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . 14. Geschichtsinszenierungen in den ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ . . . . . . . . . . . . . 4.1. Historischer Wandel und Temporalisierung in den ›Ideen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Die Inszenierung Europas . . . . . . . . . . . . . . . 15. Die Überwindung des Sinnbildungsdefizits in Sekundärgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . .
123 126 137 141 149 153 158 161 167 178
IV. Politische Geschichtsschreibung und die Bühne der Geschichte. Friedrich Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹ . . . . . . . . . . 181 11. Innovationen in der politischen Ereignisgeschichte . . . 12. Die Rezeptionsgeschichte von Schiller als Historiker . . 13. Schillers Ästhetik der Geschichte . . . . . . . . . . . . 3.1. Wahrheitsansprüche zwischen Geschichte, Kunst und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Schillers Stilbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Ästhetische Inszenierung . . . . . . . . . . . . . . . 14. Die Funktion des Zufalls im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Der kollektive Strom der Geschichte und Schillers Umarbeitung seiner Geschichtsquellen . . . . . . . . . 16. Ästhetisch inszenierte Beredsamkeit . . . . . . . . . . . 17. Wahrnehmungsakte, die Geschichte prägen . . . . . . . 18. Individuelle Notwendigkeiten und interne Fokalisierung 19. Die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. Erzählung und Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . 10. Schillers ästhetische Geschichtsschreibung . . . . . . . VI
181 183 196 196 201 205 208 215 226 234 240 246 256
V.
Die historiographische Inszenierung nationaler Identität. Johann Wilhelm von Archenholz’ ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 11. 12. 13. 14. 15. 16.
Auf der Schwelle zur modernen Geschichtsschreibung Archenholz’ Umgang mit den Quellen . . . . . . . . . Performativität und Referentialität . . . . . . . . . . . Erzählerische Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Inszenierung von Werten . . . . . . . . . . . . . Nationalerzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
263 268 280 287 297 302
VI. Romantische Universalgeschichtsschreibung und das (vorläufige) Ende performativer Geschichtsschreibung um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 11. Das Verhältnis von Poesie, Philosophie und Geschichte . 12. Imaginäre Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Friedrich Schlegels ›Reise nach Frankreich‹ . . 13. Romantische Universalgeschichtsschreibung bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel . . . . . . . . . 3.1. Friedrich Schlegels ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. August Wilhelm Schlegels ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Romantische Ereignisgeschichtsschreibung. Friedrich Schlegels Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15. Schlussgedanken. Auf dem Weg ins 19. Jahrhundert . . .
311 318 326 327 331 339 347
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
VII
VIII
Abkürzungsverzeichnis
AA
AWSVE
FHA
GSK
KFSA
NA
Georg Forster: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften. 20 Bde. Berlin 1958ff. [Akademie-Ausgabe]. August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Encyklopädie (1803). Hrsg. von Frank Jolles/Edith Höltenschmidt. In: Schlegel, Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Begründet von Ernst Behler und Frank Jolles. Hrsg. von Claudia Becker. Bd. 3. Paderborn u. a. 2006. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold et al. Frankfurt a.M. 1985–2000 [Frankfurter Herder-Ausgabe]. Johann Wilhelm von Archenholz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756–1763. In: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hrsg. von Johannes Kunisch. Bibliothek der Geschichte und Politik 9. Frankfurt a.M. 1996, S. 9–513. Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe in 35 Bänden. Hrsg. von Ernst Behler, unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner und anderer Fachgelehrter. Paderborn u. a. 1958ff. Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, seit 1992 im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach a.N., hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1943ff.
IX
X
Danksagung
Diese Studie verdankt sich der Hilfe zahlreicher Menschen und Institutionen in Deutschland, den USA und Kanada. Hierzu zählen Prof. Dr. Christine Lubkoll (Erlangen) und Prof. Dr. Ansgar Nünning (Gießen), ohne die es dieses Buch ebenso wenig geben würde, wie ohne Prof. Dr. Klaus Berghahn (Madison) und Prof. Dr. Marc Silberman (Madison), meine Gastgeber an der University of Wisconsin, die mir den Übergang ins nordamerikanische Universitätssystem so sehr vereinfacht haben. Ein zweijähriger Aufenthalt am German Department und am Institute for Research in the Humanities der University of Wisconsin-Madison wurde mir durch ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander von HumboldtStiftung ermöglicht. Die spätere Phase der Entstehung dieses Buches wurde durch das University Research Grant Program (URGP) der University of Manitoba, die Faculty of Arts und den Dean of Arts der University of Manitoba und insbesondere durch ein Standard Research Grant des Social Sciences and Humanities Research Council of Canada (SSHRC) gefördert. Darüber hinaus sei der Klassik Stiftung Weimar für ein einmonatiges Weimar-Stipendium, das mir bei der Erforschung der Schiller-Quellen geholfen hat, ebenso gedankt wie Prof. Dr. Dirk Oschmann (Leipzig) für ein begleitendes Gutachten, Prof. Dr. Joachim Heinzle und Prof. Klaus Detlef Müller für die Aufnahme in die Reihe Hermaea, und dem Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Dr. Ulrike Krauß und Frau Susanne Mang, für die Betreuung der Drucklegung. Mein besonderer Dank gilt jedoch all den Freunden und Kollegen, die mich beim Schreiben dieses Buches auf vielfältigste Weise motiviert und unterstützt haben. Ihre Beiträge werden in tiefer Dankbarkeit anerkannt und nicht vergessen. Winnipeg, Februar 2011
Stephan Jaeger
XI
XII
Prolog
Nach diesem das erstemal vom Könige in Preußen verlohrenen Treffen [Schlacht bei Kollin am 18. Juni 1757, S.J.] ward nicht nur Böhmen befreyet, und der Krieg von da in die Lausitz und in Schlesien gespielt, sondern es rückten nunmehr auch Franzosen in Ostfriesland, in Hessen, und nach einem Treffen bei Hastenbeck (Jul. 26.) in die Chur- und Herzoglich-Braunschweigischen Länder ein. Desgleichen erschienen Russen in Preussen, wo sie im Treffen bey Großjägersdorf (Aug. 30) das Feld behielten. Sodann thaten Schweden einen Einfall in Pommern und in die Uckermark. Und ein Reichserecutionsheer in Verbindung mit einer anderweiten Französischen Armee nahm endlich die Befreyung von Sachsen zum Gegenstande. Es gelang auch den Oesterreichern schon bis nach Berlin eine Streiferey auszuführen. Jedoch zwey Siege, die der König kurz nacheinander an den beiden äussersten Gränzen des Kriegsschauplatzes in Thüringen und Schlesien, auf eine Weise, die der Nachwelt kaum glaublich fallen wird, über ungleich stärkere feindliche Heere erfocht, die Siege bey Rossbach (Nov. 5) und bey Leuthen ohnweit Lissa (Dec. 5), gaben der ganzen Sache wieder eine völlig veränderte Gestalt.1 Schlesien schien nun für den König von Preussen so gut wie verloren zu sein. Nie, in allen Preußischen Feldzügen, hatte Österreichs Glück auf solcher Höhe gestanden. Die Kaiserlichen glaubten sich jetzt zu größten Erwartungen berechtigt; sie hatten eine Schlacht gewonnen, zwei Festungen erobert, die Hauptstadt des Landes im Besitz, eine ungeheure Armee, um das Eroberte zu behaupten, und daher die besten Aussichten, den Krieg in kurzer Zeit nach Wunsch zu endigen. So war die Glückslage der Österreicher am Ende des Novembers. Der eingebrochene Winter schien allen ferneren Operationen der Preussen ein Ziel zu setzen, und man dachte schon ernstlich auf Winter-Quartiere, als sich die ganze Szene auf einmal zum Erstaunen von ganz Europa veränderte. Das Anrücken Friedrichs wurde von den Kaiserlichen als der letzte ohnmächtige Versuch eines Verzweiflungsvollen betrachtet, und seine kleine Armee von ihnen mit dem Namen der Berliner Wachtparade bezeichnet. Die Preußisch gesinnten Schlesier waren ganz ohne alle Hoffnung, und die Österreichisch gesinnten ohne alle Besorgnis.2 1 2
Johann Stephan Pütter: Teutsche Reichsgeschichte in ihrem Hauptfaden entwickelt. Göttingen 1778, S. 535. Johann Wilhelm von Archenholz: Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756–1763. In: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hrsg. von Johannes Kunisch. Bibliothek der Geschichte und Politik 9. Frankfurt a.M. 1996, S. 9–513, hier: S. 127f. (im Weiteren abgekürzt als GSK).
1
Die beiden gerade zitierten Ausschnitte aus Geschichtsdarstellungen des Siebenjährigen Krieges in Johann Stephan Pütters ›Teutsche Reichsgeschichte in ihrem Hauptfaden‹ entwickelt von 1778 und Johann Wilhelm von Archenholz’ ›Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland‹ von 1793 könnten unterschiedlicher kaum sein. Selbst wenn man einmal beiseite lässt, dass Pütter den siebenjährigen Krieg auf knapp zehn Seiten darstellt, wohingegen Archenholz diesen Krieg zu seinem einzigen Thema macht, fallen zahllose erzählerische und darstellerische Differenzen auf. Einerseits verwenden Pütter und Archenholz dasselbe Muster; die Preußen sind zahlenmäßig unterlegen. Pütter nimmt die erste Niederlage Friedrichs II. in der Schlacht bei Kollin als Ausgangspunkt, um dann Satz für Satz die bedrohlichen Ereignisse durch die verschiedenen die Preußen bedrohenden und zunehmend einkesselnden Parteien zu berichten. Der Umschwung mit den Schlachten bey Roßbach und Leuthen wird als unerklärlich markiert, womit die Darstellung des Kriegsjahres 1757 abgeschlossen ist. Archenholz wählt in dem kurzen gerade zitierten Ausschnitt denselben Ausgangspunkt – vor der Schlacht bei Leuthen.3 Während Pütter die Ereignisse nacherzählt, schafft Archenholz Perspektiven: Der Krieg scheint für den König von Preußen verloren; Österreichs Glück war nie größer gewesen. Die Perspektive der Österreicher bzw. Kaiserlichen wird dann ausgeweitet, bevor der Europäer als Zuschauer des Kriegsschauspiels (der »Szene«), der die Niederlage der zahlenmäßig unterlegenen Preußen erwartet, hinzutritt. Dann wird wiederum aus Sicht der Kaiserlichen die kleine Armee Friedrichs belächelt, bevor, den zitierten Absatz abschließend, Archenholz die Perspektive der Schlesier in die den Preußen und die den Österreichern gegenüber positiv Gesinnten unterteilt. Geschichte erscheint also nicht in Form faktischer Ereignisse, die bzw. deren Ergebnisse der Historiker zusammentragen, ordnen und berichten kann. Vielmehr wird Geschichte bei Archenholz zu einem Ereignis an sich, das viele einzelne Ereignisse und historische Fakten und Interpretationen zusammenführt. Der Leser erhält durch die Perspektivierungen die Möglichkeit unterschiedliche Blicke von Geschichte mitzuerleben. Damit wird Geschichte etwas, das sich wie auf einer Bühne vollzieht; Geschichte wird performativ. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen zu 3
Aufgrund von Archenholz’ weitaus ausführlicherer Darstellung des Kriegsjahres 1757 erfüllt die Schlacht bei Roßbach eine andere Funktion in Archenholz’ Dramaturgie (siehe V.4), während die beiden Schlachten bei Pütter zusammengedacht werden.
2
einer Erzählung. Wie im fünften Kapitel ausführlich gezeigt wird,4 inszeniert Archenholz im weiteren Verlauf der Darstellung der Schlacht bei Leuthen das Genie des großen Taktikers Friedrich und die Tapferkeit der preußischen Offiziere und Soldaten. Der Leser bekommt den Eindruck, dass diese Werte notwendigerweise die preußische Niederlage verhindern und letztlich – trotz der Unmöglichkeit eines vergleichsweise kleinen Königreiches mit wenig Unterstützung im Kampf gegen vielfach überlegene Gegner – den preußischen Sieg ermöglichen. Dies kann nun einerseits nur als Erzählung gelingen, die sich eines einheitlichen Stoffes bedient – die geniale Größe Friedrichs versus die quantitative Größe von dessen Feinden – und so die Einheit der Erzählung garantiert. Andererseits muss diese Erzählung gerade das machen, was nicht als modern erscheint, um diese moderne erzählerische Einheit herzustellen: Sie wird anschaulich und zieht den Leser in ihren rhetorischen Bann. Neben diesen beiden Faktoren – der erzählerischen Einheit und der rhetorischen Anschaulichkeit – ist grundlegend, dass Archenholz, wie Pütter, sich an die damals bekannten Fakten der Geschichte des Siebenjährigen Krieges hält; die Inszenierung des historischen Prozesses verbleibt innerhalb der Regeln und Erwartungen der Historiographie der damaligen Zeit. Auf der Ebene der Geschichtsdarstellung, nicht auf der Ebene des Geschichtsstoffes wird inszeniert.
4
Siehe V.3.
3
4
I.
Einleitung. Performative und erzählende Geschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert
1.
Die These von der performativen Geschichtsschreibung
Geschichte stellte im Europa des 18. Jahrhunderts zunehmend eine autonome Wissensform dar, die keinen anderen Diskursen – wie der Religion oder der Rhetorik – mehr untergeordnet war. Stattdessen musste sie sich selbst begründen und die eigene Authentizität garantieren. Die deutsche Geschichtsschreibung litt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter einem Darstellungs- bzw. Sinnbildungsdefizit. Sie hatte im Unterschied zur schottischen, englischen und französischen Geschichtsschreibung Schwierigkeiten, Geschichte im historiographischen Diskurs, in deren neuer Rolle als autonome Wissensform, Sinn zu verleihen, ohne gleichzeitig, zu abstrakt und theoretisch zu werden und damit das historisch Besondere aus dem Auge zu verlieren. Im deutschsprachigen Raum bildete sich eine starke Geschichtstheorie und -philosophie heraus, die sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf die Geschichtserzählung in Historiographie auszuwirken begann. Die Forschung hat diese Entwicklung als Verschiebung zum Partikularen erkannt.1 Diese Verschiebung markiert funktionsgeschichtlich den Übergang zwischen Aufklärungshistorik und Historismus. Was dabei übersehen wird, ist die von anderen europäischen Ländern zu unterscheidende Entwicklung einer performativen Geschichtsschreibung, in der Geschichtsphilosophie, Historik und Geschichtserzählung zusammenkommen, um den notwendigen Verlauf der Geschichte trotz historischer Kontingenz auszudrücken. Die performative Geschichtsschreibung ermöglicht den Übergang von der Aufklärungshistorik zum Historismus auf Umwegen.2 Diese Untersuchung verfolgt entsprechend zwei grundlegende Ziele: Einerseits wird in enger Auseinandersetzung mit den historischen Texten das theoretische Konzept einer performativen Geschichtsschreibung oder in anderen Worten der Inszenierung von Geschichte in Historiogra1 2
Siehe I.2.4 für die Darstellung der entsprechenden Forschungspositionen. Siehe Kapitel I.2, insbesondere I.2.4 für eine genauere Darstellung der innereuropäischen Differenzen in der Entwicklung von Geschichtsschreibung.
5
phie entwickelt. Wie im Prolog bereits angedeutet, lässt eine performative Geschichtsschreibung Geschichte vor den Augen der Leser entstehen. Geschichte wird also nicht rückblickend berichtet oder nacherzählt, sondern vollzieht sich im historiographischen Text. Dieser operiert stärker präsentisch als eine nacherzählende Geschichtsschreibung, zum Beispiel durch Fokussierung auf den Prozess der Wahrnehmung von Geschichte. Andererseits wird untersucht, warum gerade im deutschsprachigen Raum des späten 18. Jahrhunderts eine performative Geschichtsschreibung entsteht, die langfristig modernes Erzählen in der deutschsprachigen Historiographie erst ermöglicht. Performative Geschichtsschreibung erweist sich als ein Übergang auf Umwegen. Denn sie zeigt sich aufgrund der deutschen Betonung des Theoretischen, Allgemeinen und Philosophischen der Geschichte zuerst in Formen von Sekundärgeschichten – also als Historiographie über Wissensmodelle, nicht über historische Ereignisse, Handlungen oder die konkreten Einstellungen von Menschen. Dies gilt insbesondere für die Zivilisations- und Menschheitsgeschichtsschreibung (siehe Kapitel II und III), bevor gegen 1790 die neuen historiographischen Möglichkeiten auch in der ›Realgeschichtsschreibung‹, insbesondere der politischen und militärischen Geschichtsschreibung zu finden sind (siehe Kapitel IV und V). Die Begriffe ›Geschichtsschreibung‹ und synonym ›Historiographie‹ werden hier in ihrer engen Bedeutung als Schreiben, Erzählen und Darstellen von Geschichte, die dem akademischen Diskurs der Geschichtswissenschaft zuzuordnen ist, gebraucht, nicht in ihrer weiten Bedeutung, die jedes Erzählen von Geschichte, also auch in fiktionalen Texten, Dichtung und Mythologie, umfasst.3 Der ›Diskurs‹ der Geschichtswissenschaft definiert sich dabei durch die Qualität ihres Wirklichkeitsbezugs, durch die Referenz bzw. Wahrhaftigkeitsfunktion von Geschichtsschreibung, »wahrheitsgetreu bzw. realitätsadäquat über vergangene Ereignisse und Prozesse zu berichten«.4 Das Wort ›Historiographie‹ impliziert hier also 3
4
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich ein geschichtswissenschaftlicher Diskurs im 18. Jahrhundert erst langsam herausbildet. Dietrich Harth definiert den allgemeinen Begriff von ›Geschichtsschreibung‹ wie folgt: »G[eschichtsschreibung] ist die schriftliche, vorzugsweise erzählende Darstellung von Ereignissen und Strukturveränderungen, deren Authentizität durch materielle und/oder symbolische Zeichen (Eigennamen, Daten, Überbleibsel, Dokumente) als verbürgt gilt« (Geschichtsschreibung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 832–870, hier: Sp. 832). Siehe I.2.2 zum Verwissenschaftlichungsprozess im Geschichtsdiskurs. Daniel Fulda: Historiographie. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hrsg. von Stefan Jordan. Stuttgart 2002, S. 152–155, hier: S. 152. Siehe für eine präzise Diskussion des Zusammenhangs von Fiktion und Geschichtsschreibung das Teilkapitel I.3.2.
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nicht seine beiden modernen Bedeutungsfacetten als Geschichte der Geschichtsschreibung und als Metadisziplin, die sich vorwiegend mit der Theorie und Methodologie von Geschichtsschreibung befasst.5 Der Terminus ›historiographischer Text‹ verweist entsprechend auf den vom akademischen Historiker geschriebenen Text. Im weiteren Verlauf dieser Einleitung werden zuerst die historischen Rahmenbedingungen des Geschichtsdiskurses im 18. Jahrhundert zusammengefasst (I.2.1), bevor die Situation der deutschsprachigen Geschichtsschreibung im europäischen Raum beschrieben wird (I.2.2), mit besonderem Schwerpunkt auf der englischsprachigen (I.2.3) und der deutschsprachigen Geschichtsschreibung (I.2.4). Der zweite Teil der Einleitung stellt dann die theoretischen Implikationen von der These über die Performativität von Geschichtsschreibung vor (I.3.1) und reflektiert den Begriff der textuellen Geschichtswelten, mit dem die Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion präzisiert werden kann (I.3.2). Im Einleitungskapitel wird abschließend kurz die Überlagerung der drei Diskurse von Geschichte, Literatur und Philosophie thematisiert (I.3.3).
2.
Geschichte. Geschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert
2.1.
Autonomie von Geschichte
Christian Meier hält fest, dass in der antiken Geschichtsschreibung eine Kluft zwischen der Ereignishistorie und den großen Geschichtsspekulationen in der Art der Weltalterlehre Hesiods oder Platons bestand.6 Es gab keinen Standpunkt, unter dem historisches Geschehen und eine Philosophie oder Prognostik über den Verlauf der Geschichte zusammengebracht werden konnten. Die Veränderungen in der Geschichtsauffassung des 18. Jahrhunderts führten zu einem ähnlichen Konflikt unter neuen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Einerseits wurde die Geschichte 5
6
Zu begriffsgeschichtlichen Fragen des Wortes ›Historiographie‹, vgl. u. a. Georg G. Iggers: Foreword. In: Historiography. An Annotated Bibliography of Journal Articles, Books, and Dissertations. Hrsg. von Susan K. Kinnell. Santa Barbara, CA/Oxford 1987, S. vii–x. Christian Meier in Reinhart Koselleck/C. Meier/Odilo Engels/Horst Günther: Geschichte, Historie. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/ R. Koselleck. Stuttgart 1979, S. 594–717, hier: S. 604.
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zu einem autonomen Diskurs und suchte konsequenter nach ihren eigenen Gesetzen und nach einer geschichtsphilosophischen Grundlage, um Veränderung zu erklären. Andererseits reagierte die Geschichtsschreibung auf erkenntnistheoretische, gerade philologische Errungenschaften der Aufklärung; mit anderen Worten musste sie besonders auf die Geschichtsereignisse selbst und weniger auf den übergreifenden Zusammenhang der Geschichte achten. Dieser Konflikt ist ideengeschichtlich und funktionsgeschichtlich in Bezug auf die Entwicklung des Historismus und der modernen Geschichtswissenschaft in der Forschung vielfach dargestellt worden.7 Im Rahmen dieser Untersuchung interessieren hingegen die Versuche der praktischen Geschichtsschreibung, mit den Widersprüchen zwischen übergreifender Geschichtsphilosophie und singulären Geschichtsereignissen sowie zwischen Geschichtsspekulation und modernen geschichtswissenschaftlichen Methoden umzugehen bzw. diese aufzulösen. Zuerst soll jedoch kurz der ideengeschichtliche Hintergrund des Geschichtsbegriffs und Geschichtsdiskurses im 18. Jahrhundert dargestellt werden.8 Der erste Teil dieses Konflikts entstand wie folgt: Zu Beginn des 7
8
Vgl. u. a. Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 2. Anfänge modernen historischen Denkens. Frankfurt a.M. 1994, insb. die Abschnitte ›Hypothesen zur Modernisierung‹ (S. 17–91) und ›Paradigmen der Aufklärung‹ (S. 219–291). Siehe zudem für die These von der Entwicklung von der Aufklärungsgeschichtsschreibung zum Historismus Jörn Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt a.M. 1993 (insb. Kapitel 2, S. 29–94). Siehe auch Horst Walter Blanke: Aufklärungshistorie und Historismus. Bruch und Kontinuität. In: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundprobleme. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen. Köln/Weimar/ Wien 1996, S. 69–97. Allerdings bleibt die Geschichtsdarstellung, also die Untersuchung ästhetischer, rhetorischer, poetischer und narratologischer Fragen im Rahmen der Geschichtsforschung zu Aufklärungshistorie und Historismus oft unterbelichtet, wie Fulda überzeugend gezeigt hat (Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin/New York 1996, hier: S. 10–18). Diese historische Kontextuierung hat keineswegs den Anspruch, die Geschichte des Geschichtsbegriffs und der Geschichtsschreibung in Vollständigkeit darzustellen. Vielmehr geht es darum, die historischen Bedingungen für die deutschsprachige und die europäische Geschichtsschreibung im ausgehenden 18. Jahrhundert zu zeigen, um die Entstehung einer performativen Geschichtsschreibung historisch kontextuieren zu können. Für die umfassendsten begriffsgeschichtlichen Darstellungen der Entwicklung des Geschichtsbegriffs, siehe Koselleck et al.: Geschichte, Historie; G. Scholtz: Geschichte, Historie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 3. Darmstadt 1974, Sp. 344–398; sowie insbesondere zum Verhältnis von Rhetorik und Geschichtsschreibung Harth: Geschichtsschreibung. Spezifisch zur Aufklärungsgeschichtsschreibung, siehe Wolfgang Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung. In: Formen der Geschichtsschreibung. Hrsg. von Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 4. München 1982, S. 147–191.
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18. Jahrhunderts leistete der Geschichtsdiskurs in Europa vorwiegend Hilfsfunktionen für andere Diskurse. Die Geschichte erfüllte religiöse Geschichtsprophezeiungen oder diente als Exempel für die Lebenspraxis der Menschen. In letzterem orientierte sich die neuere Geschichtsschreibung an der Geschichtsschreibung griechischer und römischer Historiker.9 Historische Ereignisse hatten eine exemplarische Funktion; damit wurde ein Vorbild für die praktische Lebensführung der Menschen erschaffen.10 Die Geschichte konnte lehren, wie die Menschen politisch agieren sollten. Zugleich fehlte ihr die Fähigkeit, das Allgemeine auszudrücken; sie verblieb bei empirischer Einzelerkenntnis.11 Im englischen Geschichtsdiskurs des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts kam es zum sogenannten ›Battle of the Books‹ bzw. zur ›Querelles des Anciens et des Modernes‹. Die Renaissance hatte zwischen dem Humanismus und der Wiederbelebung der Alten ein Paradox geschaffen.12 Einerseits wurden die Alten imitiert, um praktisch im Sinne der ›Historia Magistra Vitae‹ Lehren für das Leben aus ihren Techniken und Methoden zu ziehen.13 Andererseits führte das Ziel der Wiedererschließung des Alten zur Entwicklung und Schaffung neuer philologischer Techniken und Methoden.14 Durch die hiermit erzielten Fortschritte in den entstehenden Disziplinen der Archäologie, Philologie und Altertumswissenschaft entwickelte sich ein veränderter Quellen- und Wahrheitsbegriff,15 was die Darstellung 9
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Für einen Überblick zur rhetorischen Tradition der Geschichtsschreibung von der Antike bis zur Aufklärung, siehe Eckhard Kessler: Das rhetorische Modell der Historiographie. In: Formen der Geschichtsschreibung. Hrsg. von Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 4. München 1982, S. 37–85. Siehe zudem Harth (Geschichtsschreibung, Sp. 833–842) zur antiken Geschichtsschreibung; und Hans Schleier: Epochen der deutschen Geschichtsschreibung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Geschichtsdiskurs. Bd. 1. Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte. Hrsg. von Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin. Frankfurt a.M. 1993, S. 133–156. Für eine Darstellung exemplarischer Geschichtsschreibung, siehe auch George H. Nadel: Philosophy of History before Historicism. History and Theory 3 (1965), S. 291–315. Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, S. 156. Joseph M. Levine: The Battle of the Books. History and Literature in the Augustan Age. Ithaca, NY/London 1991, S. 2. Siehe zum Kontext der Historia Magistra Vita und der zunehmenden Aufgabe von dieser Vorstellung im neuzeitlichen Geschichtsdenken des 18. Jahrhunderts Reinhart Koselleck: Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte (1967). Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 38–66. Levine: Battle of the Books, S. 2. Siehe Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, S. 151, zum Wahrheitspostulat und Erkenntnisanspruch der zunehmend verwissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Vgl. Günther in Koselleck et al.: Geschichte, Historie, S. 638f. Siehe
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von Geschichte erschwerte.16 Somit entstanden Dichotomien in der Geschichtsschreibung, allen voran zwischen der Nachahmung der Alten und den Forschungsstandards der ›modernen‹ Geschichtsschreibung, zwischen rhetorischer und philologischer Geschichtsschreibung, zwischen Geschichtsschreibung als Teil der Literatur und Geschichte als etwas Eigenständigem, das nicht mehr der Literatur oder den schönen Künsten zugehörig war.17 Die Historie verselbstständigte sich und löste sich damit von ihrem rhetorischen Verständnis als literarische Gattung sowie ihrer pragmatischen Aufgabe.18 Im gesamteuropäischen Kontext lässt sich feststellen, dass sich Geschichte von einer kompilierten und gelehrten Geschichte zu einer autorbezogenen Geschichtsschreibung entwickelte.19 Man könnte nun argumentieren, dass die folgenden Entwicklungen, die zum Konzept einer autonomen Geschichte führten, den Konflikt zugunsten der Modernen entschieden, da sich zunehmend eine wissenschaftlichere Form der Geschichtsschreibung durchsetzte. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde dann immer mehr das gesamte politisch-soziale Beziehungsgeflecht als ›Geschichte‹ verstanden20 und geschichtliche Abläufe wurden als einmalig bzw. singulär aufgefasst.21 Der
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auch Reinhart Koselleck: Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit (1976). Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2007), S. 39–54. Siehe aus der fast unendlichen Anzahl an Arbeiten zur Aufklärungsgeschichtsschreibung u. a. Hans Erich Bödeker/Georg G. Iggers/Jonathan B. Knudsen (Hrsg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (1986). Göttingen 1992. Vgl. auch Levine: The Battle of the Books, S. 8. Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, S. 165; S. 168f. Siehe für die Entwicklung der pragmatischen Geschichtsschreibung in Deutschland und den allgemeinen Kontext des Geschichtsdenkens im 18. Jahrhundert die ausgezeichnete und präzise Darstellung von Thomas Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2002, insb. den Abschnitt VIII.1 ›Das pragmatische Programm‹, S. 263–277. Vgl. auch die Überblicksdarstellung zum gesamteuropäischen Kontext des Aufklärungsgeschichtsdenkens von Erhard Wiersing: Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte. Paderborn u. a. 2007, S. 246–266. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 594. Für den angelsächsischen Raum, siehe Mark Salber Phillips: Society and Sentiment. Genres of Historical Writing in Britain. 1740–1820. Princeton, NJ 2000. Phillips sieht die Erweiterung von einer politischen Geschichte zu einer alle Bereiche des menschlichen Lebens umfassenden Ideengeschichte: »But Montesquieu, Hume, Smith, Ferguson, Millar, and others made it clear that the possibilities of political action were shaped in a hundred ways by the often invisible movements of economy, custom, or opinion« (S. 17). Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 48f. Siehe Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 674f., für die Weiterentwicklung des ›Einmaligkeitsaxioms‹ in der idealistischen und romantischen Geschichtsphilosophie, womit das Ursache-Wirkungsmodell der Geschichte in Frage gestellt wird: »Wenn aber die Geschichte immer einmalig ist, d. h. wenn in der Geschichte immer mehr oder weniger geschieht, als
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rhetorische Topos der ›Historia Magistra Vitae‹ wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts zugunsten einer neuzeitlich bewegten Geschichte aufgelöst.22 Michel Foucault fasst dies als einen epistemologischen Bruch vom repräsentierenden zu einem modernen historischen Bewusstsein.23 Die Geschichte konnte keine analogen Lehren für das Leben mehr aufweisen und keine handlungsorientierten Exempel setzen. Statt pragmatisch zu prognostizieren, beschäftigten sich Geschichtsphilosophen und -theoretiker nun mit der Möglichkeit, die »langfristige Erwartung neuer Zukunft«,24 also den unendlichen historischen Prozess, zu verstehen. Hierin begründete sich die Entstehung der Geschichtsphilosophie,25 insbesondere im Fortschrittsmodell und in der Vorstellung von der Planbarkeit der Geschichte.26 Die individuelle Begebenheit konnte in einen allgemeinen Geschehens- oder Bedeutungszusammenhang eingebunden werden.27 Der Geschichtsbegriff war dabei nicht vollständig neu, sondern nahm alte Sinnzonen wie Geschichte als Ereignis und dessen Erzählung oder als Schicksal und Kunde darüber auf.28 »Wo früher Recht oder Strafe, Gewalt,
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in den Vorgegebenheiten enthalten ist, dann kann keine Kausalanalyse der Einzigartigkeit einer Lage gerecht werden« (Ebd., S. 674). Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 38–40. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966). Frankfurt a.M. 1974, insb. S. 269–274. Zum Begriff des Geschichtsbewusstseins siehe Jörn Rüsen: Geschichtsbewusstsein. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hrsg. von Nicolas Pethes/Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 222–226. Rüsen sieht die Orientierung von kollektiven und individuellen Handlungssubjekten durch Sinnrationalität in drei verschiedenen Dimensionen geregelt: ästhetischimaginativ, kognitiv-rational und politisch-moralisch. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 676. Siehe zur Entstehung des modernen Zukunftsbegriffs auch Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Frankfurt a.M. 1999, insb. S. 34–72. Der Begriff ›Geschichtsphilosophie‹ wurde 1764 von Voltaire in seiner Rezension von David Humes ›Complete History of England‹ eingeführt. Voltaire argumentierte, dass die Menschen des 18. Jahrhunderts statt einer von Gott her begründeten Geschichte eine philosophisch geschriebene Geschichte bräuchten. Damit wandte sich Voltaire gegen die Thesen von Jacques-Bénigne Bossuet in dessen ›Discours sur l’histoire universelle‹ von 1681. Vgl. U. Dierse/G. Scholtz: Geschichtsphilosophie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 3. Darmstadt 1974, Sp. 416–439, hier: Sp. 416f. Siehe auch Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990, S. 150–162. Im Laufe des 18. Jahrhunderts haben vornehmlich Schweizer und deutsche Philosophen wie Iselin, Wegelin, Herder, and Kant den Begriff der Geschichtsphilosophie transformiert, sodass sich dieser nicht mehr einfach auf einen Fortschrittsplan des Geschichtsverlaufs bezog. Siehe Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 56f.; zur Paradoxie des Begriffs ›Philosophie der Geschichte‹. Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 58–59. Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, S. 159. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 594.
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Macht, Vorsehung oder Zufall, Gott oder das Schicksal beschworen werden mochten, konnte man sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf die Geschichte berufen.«29 Damit ging es also um die Geschichte selbst; sie wurde zu einer letzten Instanz: »Es war schließlich ›die Geschichte selbst‹, die einen neuen Erfahrungsraum zu öffnen begann. Die neue Geschichte gewann eine ihr eigentümliche zeitliche Qualität, deren verschiedene Tempi und wechselnde Erfahrungsfristen einer exemplarischen Vergangenheit die Evidenz nahmen.«30 In dieser Vorstellung begründete sich die begriffsgeschichtliche Entstehung des Kollektivsingulars ›Geschichte‹, der die Begebenheiten erzählenden Geschichten ersetzte und Geschichte als ein Ganzes erfasste.31 Zugleich ersetzte die Geschichte eines urteilenden Autors bzw. Geschichtsschreibers zunehmend die Vorstellung von der Sammlung von Geschichten und Episoden durch multiple Autoren.32 Statt Kompilationen entstanden Erzählungen.33 Geschichte wurde »zu einem umfassenden Bewegungsbegriff«, durch den sie als Prozess, Fortschritt, Entwicklung oder Notwendigkeit ausgedrückt werden konnte.34 Der Kollektivsingular ›Geschichte‹ und die Entstehung eines autonomen Systems ›Geschichte‹ eröffneten die Möglichkeit, dass die Geschichte selbst in der historiographischen Darstellung zum Hauptakteur werden konnte. Damit wurde eine selbstreferentielle Geschichtsphilosophie denkbar, also eine Geschichtsphilosophie, die sich selbst das Subjekt ist. Zugleich gewann zunehmend das menschliche Subjekt innerhalb der 29
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Koselleck, Geschichte, Historie, S. 594. Siehe auch Reinhart Koselleck: Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung (1968). In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 158–175. Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 46. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 647–691; insb. S. 647–653. Für eine präzise Darstellung, wie im Geschichtsdenken des 18. Jahrhunderts versucht wird, das Ganze zu erfassen, ohne das Besondere in der Geschichte aus dem Auge zu verlieren, siehe Peter Hanns Reill: Das Problem des Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts. In: Teil und Ganzes. Hrsg. von Karl Acham/Winfried Schulze. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 6. München 1990, S. 141–168. Reill sieht den Historiker des späten 18. Jahrhunderts eine Balance zwischen kausaler Analyse (Beschreibung) und der Wiedererschaffung vergangenen Lebens (Erzählung) vollführen. Siehe auch Peter Hanns Reill: Narration and Structure in Late Eighteenth-Century Historical Thought. History and Theory 25 (1986), S. 286–298. Reill beschränkt sich aber in diesen Arbeiten auf die ideengeschichtlichen Voraussetzungen, geht also auf konkrete Darstellungsformen nicht ein. Siehe z. B. Laird Okie: Augustan Historical Writing. Histories of England in the English Enlightenment. Lanham, MD/London 1991, zu Entwicklungen einer autorbezogenen Geschichtsschreibung im frühen 18. Jahrhundert. Okie: Augustan Historical Writing, S. 216. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 594.
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Geschichte Einfluss: Der Mensch machte die Geschichte. Für diese neuen Handlungsmöglichkeiten des Subjekts sind die anthropologische Wende des 18. Jahrhunderts – kulminierend in der Konzeption vom ›ganzen Menschen‹35 – sowie die Entfaltung von Konzepten wie Individualität, einem hermeneutisch-perspektivischen Beobachter36 sowie des Genies ein deutlicher Beleg.37 Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Wahrnehmung von Geschichte relativ und von einem ›Seh-Punckt‹ abhängig ist.38 Gerade durch die Arbeiten von Johann Martin Chladenius wird deutlich, dass es keinen vollkommenen Geschichtsschreiber geben kann. Der Historiker kann also nur die wahrscheinlichste Geschichte darstellen39 und seine eigene historische Situation der Darstellung der Geschichte nicht vollends entziehen.40 Perspektivische Urteilsbildung ist Teil geschichtlicher Darstellung und von Parteilichkeit zu unterscheiden.41 Chladenius schaffte damit die Grundlagen für die hermeneutische Erkenntnis 35
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Siehe hierzu insbesondere Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Germanistische Symposien-Berichtsbände 15. Stuttgart/Weimar 1994. Im Detail siehe insbesondere die Arbeiten von Jörn Garber, die im Forster-Kapitel (II, insb. II.1) näher vorgestellt werden. Siehe hierzu am Beispiel Georg Forsters Jörn Garber: Die »Schere im Kopf« des Autors. Anthropomorphe Bewußtseinsgrenzen von Erfahrung (Georg Forster). In: Die Grenze. Begriff und Inszenierung. Hrsg. von Markus Bauer/Thomas Rahn. Berlin 1997, S. 13–36; für Details siehe Abschnitt II.1 im Forster-Kapitel. Siehe das Kapitel V zu Archenholz, insb. V.6 zum Geniebegriff des 18. Jahrhunderts. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 696. Siehe u. a. Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752); in Auszügen nachgedruckt in: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hrsg. von Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer. Bd. 1. Die theoretische Begründung der Geschichte als Fachwissenschaft. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 226–274. Chladenius sieht diese Relativität noch vorwiegend räumlich vom Standort des Betrachters abhängig. Koselleck hat gezeigt, wie im Zuge der Temporalisierung von Geschichte zunehmend die zeitliche Relativität zur räumlichen Relativität von Geschichte hinzutritt; siehe Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt (1977). In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 176–207, hier: S. 190. Chladenius glaubt noch an eine Augenzeugenauthentizität, wonach der Erfahrungsraum der Zeitgenossen, nicht das kritische Urteil des Historikers, als erkenntnistheoretisches Zentrum aller Geschichten gilt und als empirischer Beweis dient (Ebd., S. 184f.). Siehe auch Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 653, sowie Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 249–254. Zu den Überresten solch einer Augenzeugenauthentizität, siehe auch das Archenholz-Kapitel V.2. Siehe Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft, S. 264–272 (§ 11–24). Für einen diskurstheoretischen Überblick zu wahrscheinlicher Geschichte, siehe auch Rüdiger Campe: Wahrscheinliche Geschichte – poetologische Kategorie und mathematische Funktion. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hrsg. von Joseph Vogl. München 1999, S. 209–230. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 697. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 697.
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von Geschichte. Im Anschluss daran erkannte Johann Christoph Gatterer die Dynamik des zeitlichen Ablaufs von Geschichte, deren Sinn sich in anderen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhängen verändern kann.42 Hiernach können Fakten neu entdeckt oder anders bewertet werden, sodass sie plötzlich grundlegend für die Darstellung und Interpretation von Geschichte werden. Damit wird Geschichte verzeitlicht bzw. temporalisiert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft greifen ineinander über.43 Durch diese Entwicklungen entstand eine Spannung zwischen dem Wissen um die Perspektivität von Geschichte und der Notwendigkeit der Totalität von Geschichte, die den Wert und Status von Geschichte als sinnbildendem System für den Menschen überhaupt erst ermöglichte.44 Es kam also zu dem Paradox, dass die Geschichte für den Menschen zur selben Zeit verfügbar und unverfügbar ist. Geschichte hat eine »Eigenmacht« als Subjekt gewonnen, war zugleich aber auch »machbar« geworden:45 Die Übermacht der Geschichte, der paradoxerweise ihre Machbarkeit entspricht, bietet zwei Aspekte desselben Phänomens. Weil sich die Zukunft der modernen Geschichte ins Unbekannte öffnet, wird sie planbar, – und muß geplant werden. Und mit jedem neuen Plan wird eine neue Unerfahrbarkeit eingeführt. Die Eigenmacht der ›Geschichte‹ wächst mit ihrer Machbarkeit. Das eine gründet im anderen und umgekehrt. Beiden gemeinsam ist die Zersetzung des überkommenden Erfahrungszeitraumes, der bislang von der Vergangenheit her determiniert schien, jetzt aber durchschlagen wurde.46 42
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Johann Christoph Gatterer: Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtsschreibers oder der teutsche Livius (1768). In: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hrsg. von Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer. Bd. 2. Elemente der Aufklärungshistorik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 452–466. Gatterer vergleicht den Standpunkt des historischen römischen Livius mit dem eines hypothetischen ›deutschen Livius‹, um die unterschiedlichen zeitlichen Voraussetzungen zu zeigen. Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 698. Vgl. Jörn Garber: »So sind also die Hauptbestimmungen des Menschen […]«. Anmerkungen zum Verhältnis von Geographie und Menschheitsgeschichte bei Georg Forster. In: Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Hrsg. von J. Garber. Tübingen 2000, S. 193–221, insb. S. 207. Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning: Subjektivierung von Geschichte(n) – Historisierung von Subjekten. Ein Spannungsverhältnis im gegenwärtigen Theoriediskurs. In: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Hrsg. von S. Deines/S. Jaeger/ A. Nünning. Berlin/New York 2003, S. 1–22, insb. S. 3–5. Heinz Dieter Kittsteiner: Dichtet Klio wirklich? In: Sprache der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Trabant. München 2005, S. 77–85, hier: S. 81, fasst den hieraus entstehenden Konflikt für die Geschichtsphilosophie wie folgt: »Die Geschichtsphilosophie konstatiert die Nicht-Machbarkeit der Geschichte und verwindet diesen Schock in der teleologischen Überlagerung des Geschehens.« Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 61. Siehe zudem Kosellecks Analyse der Verfügbarkeit bzw. Machbarkeit von Geschichte und das Aufzeigen der Grenzen dieser Machbarkeit in seinem Aufsatz ›Über die Verfügbarkeit von Geschichte‹
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Im Folgenden wird untersucht, wie diese begriffgeschichtlichen und geschichtstheoretischen Veränderungen im Geschichtsdenken nun die Geschichtsdarstellung verändern. Wie kann diese auf die Spannung zwischen historisch Einzelnem und dem Ganzen der Geschichte, zwischen perspektivischer Erkenntnis und Totalität reagieren? Die veränderten Darstellungsanforderungen an die Geschichtsschreibung führen dabei zu einem gleichsam scherenartigen Konflikt: Einerseits muss die Geschichtsschreibung auf neue philologische Errungenschaften reagieren, andererseits benötigt sie vornehmlich aus der Antike bekannte narrative Darstellungsmittel, um den Zusammenhang zwischen Gegenwart und Vergangenheit, also die Temporalisierung der Geschichte ausdrücken zu können. 2.2.
Geschichtsdarstellung
Wenn Geschichte einerseits für den Menschen in ihrer Totalität unverfügbar bleibt bzw. die Erkenntnis des Vergangenen nur relativ zu haben ist, entsteht ein Problem für die moderne Geschichtsschreibung. Wodurch zeichnet sich Geschichte gegenüber der Literatur aus? Everett Zimmerman hat an der britischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts gezeigt, dass durch die zunehmende Reflexion der Konstruiertheit von Geschichte in der Historiographie – im Rahmen der Debatten um die ›Querelles des Anciens et des Modernes‹ – einerseits die literarische Gattung des Romans entstand.47 Dieser fungierte als fiktional-historisches Genre, das auch metareflexive Aufgaben zur Darstellung von Geschichte erfüllte. Andererseits geriet die Geschichtsschreibung zunehmend unter Legitimationsdruck, weil sie sich mit ihrem Autoritätsanspruch, auf das Vergangene zu referieren, nicht mehr explizit von der Möglichkeitsdarstellung der Dichtung absetzen konnte.48 Dies schloss an die Unterscheidung des Aristoteles an, wonach die Dichtung als die philosophischere Gattung mehr das Allgemeine und Notwendige, die Geschichtsschreibung mehr das Besondere mitteilte.49 Gerade im englischen Sprachraum begann der Roman damit zum direkten Konkurrenten von Geschichts-
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(1977. In: Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979, S. 260–277). Everett Zimmerman: The Boundaries of Fiction. History and the Eighteenth-Century British Novel. Ithaca, NY/London 1996. Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 28. Aristoteles: Poetik. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, § 9, S. 29/31.
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schreibung zu werden. Wenn Geschichte grundsätzlich relativ ist, kann der Roman durch seine fiktionalen Freiheiten historische Wahrscheinlichkeiten wirksamer als die an neue philologische Standards gebundene Geschichtsschreibung erzählen: »Eighteenth-century fiction’s exploitations of the fictions of history locate themselves in this ambiguous area of the trace, an area where novelistic fiction can claim the virtuality that is all that history might perhaps claim.«50 Diese Spannung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung basiert auf der Loslösung beider Gattungen aus dem rhetorischen Kanon der schönen Künste. Bis ins 18. Jahrhundert war die Geschichtsschreibung Teil der Literatur. Sie gehörte als Darstellungskunst von historischen Argumenten den schönen Künsten an.51 Die Darstellung überwog den wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch. Dann begannen sich Geschichtsschreibung und Dichtung in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln: die Dichtung in Richtung einer Autonomieästhetik, die Geschichtsschreibung in Richtung neuer wissenschaftlich-methodologischer und epistemologischer Erwartungen.52 Zimmerman erkennt hier die Entrhetorisierung der Geschichtsschreibung durch Verwissenschaftlichung und Philologisierung, die sich zum Beispiel im Verschwinden fiktiver Reden zeigt.53 Die Einbildungskraft des Lesers schwand, da dieser durch die Kriterien von wahrhaftiger Geschichtsschreibung und adäquater Darstellung historischen Wissens nicht mehr gefordert wurde.54 50
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Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 6. Zur zunehmenden Ablösung des modernen Romans von der Geschichtsschreibung im britischen Kontext, siehe auch Vera Nünning: Probleme der Darstellbarkeit von Geschichte. Die narrative Inszenierung geschichtstheoretischer Konzepte in ausgewählten britischen Romanen des späten 18. Jahrhunderts. Germanisch-Romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 415–437. Zum deutschen Kontext und dem Zusammenhang von Wahrscheinlichkeitskonzepten im Roman des 18. Jahrhunderts und in der Historik, siehe Joachim Scharloth: Evidenz und Wahrscheinlichkeit. Wahlverwandtschaften zwischen Romanpoetik und Historik in der Spätaufklärung. In: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Daniel Fulda/Silvia Verena Tschopp. Berlin/New York 2002, S. 247–275. Scharloth sieht die Gemeinsamkeiten von Romanpoetik und Historik in der gemeinsamen rhetorischen Tradition begründet. Lionel Gossman: History and Literature. Reproduction or Signification (1978). In: Gossman, Between History and Literature. Cambridge, Mass./London 1990, S. 227–256, hier: S. 228; Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, S. 152f.; Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 146–174. Vgl. auch Klaus Heitmann: Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie. Archiv für Kulturgeschichte 52 (1970), S. 244–279. Gossman: History and Literature (in: Between History and Literature), S. 228f. Vgl. z. B. Phillips: Society and Sentiment, S. 63. Siehe auch Schillers ästhetische Re-Rhetorisierung fiktiver Reden in IV.6. Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 21.
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Zimmerman sieht den britischen Roman den Wettbewerb mit der Geschichtsschreibung gewinnen. Letztere sei gezwungen, ihre epistemologischen Ansprüche zu verteidigen, während der Roman weiterhin die Freiheiten der Einbildungskraft, die traditionell der Dichtung zugängig sind, zur Verfügung habe.55 Dem Roman gelinge damit ein Grenzgang zwischen außertextueller historischer Referentialität und literarisch-rhetorischem Sinn, in dem der Leser von einer wahrscheinlichen historischen Welt überzeugt werden kann: »If history attempts a retreat toward some potentially bare recital of past events, it loses significance. As the novel creates its plausible world out of the linguistic and rhetorical resources that history has reluctantly abandoned, it acquires the persuasiveness and even significance that history loses.«56 Die Geschichtsschreibung hingegen gerate unter einen Legitimationszwang, ihre Faktizität jenseits erzählender Darstellung zu begründen, was letztlich unmöglich bleibe.57 Die parasitäre Beziehung zwischen Referentialität und Darstellung ermögliche den Aufstieg fiktionaler Texte und gefährde die Position der Geschichtsschreibung.58 Auch im deutschen Sprachraum kam es im Zuge der aristotelischen Unterscheidung von Geschichte und Dichtkunst zur Privilegierung letzterer. Hierbei stand die Fähigkeit, das Allgemeine auszudrücken, in der sich zunehmend von der Rhetorik lösenden Autonomieästhetik im Vordergrund. In der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts bei der Entwicklung zur Autonomieästhetik scheint die Auffassung von Aristoteles bestätigt zu werden: Die Geschichtsschreibung verliere sich in einzelnen zufälligen Episoden, in Begebenheiten, die sie nicht verändern könne. Damit bleibe sie der Dichtung untergeordnet, während die Dichtung das Historische nach Gutdünken verwenden könne, um die eigene Wahrscheinlichkeit und Anschaulichkeit zu erhöhen. In Gottscheds ›Versuch einer Critischen Dichtkunst‹ fehlt der Historie – noch im alten Sinne als Begebenheiten, also nicht als Kollektivsingular – die Fähigkeit zur allgemeinen Fabel,59 die Gottsched als moralischen Lehrsatz in der Gattung
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Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 224. Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 227. Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 227f. Zimmerman: The Boundaries of Fiction, S. 237f. »Die Historie aber, so angenehm sie selbst den Ungelehrten zu lesen ist, so wenig ist sie ihnen erbaulich. Sie erzählt lauter besondre Begebenheiten, die sich das tausendstemal nicht auf den Leser schicken; und wenn sie sich gleich ohngefähr einmal schickten; dennoch viel Verstand zur Ausdeutung bey ihm erfordern würden« (Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Erster allgemeiner Theil. In: Ausgewählte
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der Tragödie vervollkommnet sieht.60 Im 19. Stück seiner ›Hamburgischen Dramaturgie‹ betont Lessing mit Bezug auf Aristoteles, dass die Geschichte nur der schlüssigste Stoff für den Dichter sei, womit die historische Referenz für unwichtig erklärt wird.61 Doch was passierte nun mit der Geschichtserzählung? Wie konnten die erzählerischen und die neuen wissenschaftlichen Ansprüche miteinander vereint werden? Hierbei ist zu beachten, dass Zimmermans These erstens sehr romanfreundlich und zweitens vorwiegend am angelsächsischen Raum orientiert ist. Die Zweiteilung in autonome Dichtung und wissenschaftliche Geschichtsschreibung62 ist dort aber deutlich flacher63 als in den deutschen Diskussionen, in denen es weniger um historische Dichtung als um die explizite Autonomieästhetik der Künste geht. Zugleich entwickelte sich in Deutschland eine deutlich von der Frage historischer Dichtung getrennte Diskussion um die Verwissenschaftlichung von Geschichtsschreibung.64 Die Historik hat dabei einerseits mit Logik und me-
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Werke. Hrsg. von Joachim Birke & Brigitte Birke. Bd. 6.I. Berlin/New York 1973, S. 113–494, hier: S. 221). Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Anderer Besonderer Theil, Bd. 6. II, S. 319. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 19. Stück. In: Lessing, Werke in drei Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand. Bd. 2. Kritische Schriften. Philosophische Schriften. Mit entstehungsgeschichtlichen Kommentaren und Otto Manns revidierten Anmerkungen von Peter-André Alt. 3. Aufl. München 1995, S. 352–356, hier: S. 353. Ähnliche Aussagen finden sich auch beim geschichtskritischen Goethe; für einen Überblick zu Goethe und Geschichte siehe Alexander Demandt: Geschichte bei Goethe. Merkur 60 (2006), S. 317–327. Zum geschichtlichen Wahrheitsbegriff im historischen Drama des 18. Jahrhunderts, siehe Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495–1773. Tübingen 2005, insb. S. 257–287. Siehe auch die kurze Diskussion von Goethes ›Egmont‹ in IV.10. Georg G. Iggers argumentiert im internationalen Vergleich bezüglich der Verwissenschaftlichung des Geschichtsdiskurses, dass es in Deutschland früher als in anderen Ländern zu einer Professionalisierung der Geschichte kam, aber später zur Verwissenschaftlichung der Geschichte im Sinne der modernen Sozial- und Humanwissenschaften im 20. Jahrhundert (Ist es in der Tat in Deutschland früher zur Verwissenschaftlichung der Geschichte gekommen als in anderen europäischen Ländern? In: Geschichtsdiskurs. Bd. 2. Anfänge modernen historischen Denkens. Hrsg. von Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin. Frankfurt a.M. 1994, S. 73–86). Mit anderen Worten bliebe die Geschichtserzählung innerhalb der professionalisierten Geschichte bedeutsamer. Siehe Devoney Looser: British Women Writers and the Writings of History. 1670–1820. Baltimore/London 2000, S. 91, zu den fließenden Grenzen zwischen Geschichte und Literatur in der praktischen Geschichtsdarstellung. Siehe auch Ian Haywood: The Making of History. A Study of the Literary Forgeries of James MacPherson and Thomas Chatterton in Relation to Eighteenth-Century Ideas of History and Fiction. Rutherford u. a. 1986, insb. S. 5–45. Siehe für einen Überblick über den Verwissenschaftlichungsprozess der Geschichte vor allem Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer: Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens und der Verwissenschaftlichungsprozeß der Historie. Grundzüge der deutschen
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thodologischen Fragen, andererseits mit der Kunst der Darstellung zu tun. Nach Schlözer muss die Historie Wirkungen und Ursache miteinander verknüpfen: »Aus dieser Selbstgleichsetzung der Historie mit der Philosophie äußert sich das Bedürfnis, die Vielzahl historischer Begebenheiten und Zustände rationaler Deduktion aus einsehbaren Ursachen zugänglich zu machen und damit zu Objekten logischer Ableitung zu erheben.«65 Die Seite der Geschichtsschreibung wird zu Recht als Vertextungsbzw. Verfabelungsproblem beschrieben.66 Mit Koselleck lässt sich sagen, dass die neue Vorstellung, Geschichte als System zu begreifen, es ermöglicht, der Geschichte in der Darstellung eine epische Einheit mit Anfang und Ende zu geben, die traditionell der Dichtung vorbehalten war.67 Hieraus entsteht die gängige These der Forschung seit der Mitte der 1990er Jahre, dass die Realgeschichtsschreibung die Erzählverfahren der Literatur, gerade des Romans übernimmt. Insbesondere Daniel Fulda hat überzeugend vorgeführt, dass die Verwissenschaftlichung der modernen Geschichtsschreibung davon abhängig ist, dass die alte rhetorische Geschichtsschreibung durch eine Ästhetisierung des Historischen abgelöst wird.68 Die ästhetische Innovation ist hiernach vorwiegend in der Literatur zu suchen. Darstellungsverfahren der Literatur ermöglichen die Vertextung historischer Ereignisse zur Geschichte. Im Folgenden wird nun die Frage gestellt, wie der Umschwung zu einem voll entwickelten historiographischen Erzählen im deutschen Sprachraum im ausgehenden Jahrhundert über die Verfabelungsthese und den Paradigmenwechsel von Aufklärung zu Historismus hinaus zu erklären ist, wobei die Formen der Ästhetisierung weiter zu präzisieren sind und der Unterschied zu den englisch- und französischsprachigen Geschichtsdiskursen zu berücksichtigen ist.
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Aufklärungshistorie und die Aufklärungshistorik. In: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hrsg. von H.W. Blanke / D. Fleischer. Bd. 2. Elemente der Aufklärungshistorik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 19–102. Hardtwig: Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, S. 160, mit Bezug auf August Ludwigs Schlözer. Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Jürgen Fohrmann spricht von der Verschiebung des historischen Projekts vom pragmatischen Ursache-Wirkungsmodell zur »Integration von Zentrums- und Verlaufsannahmen in einen historischen Rahmen« (Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989, S. 33). Koselleck: Historia Magistra Vitae (in: Vergangene Zukunft), S. 53. Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Für eine ausführliche Diskussion einer ästhetischen ReRhetorisierung in der Geschichtsschreibung siehe I.3.1.
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2.3.
Englischsprachige Geschichtsschreibung
Narrative Geschichtsschreibung bedeutet nicht einfach die Erzählung einer linearen Handlung, sondern Geschichtsschreibung reflektiert sich selbst als einen Diskurs, in dem Geschichte konstruiert wird.69 Dadurch wird die lineare Erzählung u. a. durch verschiedene Erzählgegenstände oder durch als Szenen ausgestaltete Einzelepisoden vertextet, wie beispielsweise Mark Salber Phillips an David Humes Texten zeigt.70 Lionel Gossman hält insbesondere für die französische Aufklärungsgeschichtsschreibung fest: Die Beobachter von Geschichte entdeckten »harmony and coherence not in the historical record itself, but in the aesthetic order that the writer had succeeded in imparting to the record and in the rational order implied by his commentary, by the principles and maxims that explained and were at the same time confirmed by the spectacle of history.«71 Allerdings ist die europäische Geschichtsschreibung kein einheitliches Phänomen. Daher ist es notwendig, sich die unterschiedliche Entwicklung zwischen Frankreich sowie insbesondere England und Schottland einerseits und dem deutschsprachigen Raum andererseits bewusst zu machen. Die politische Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts wird gemeinhin von Namen wie Voltaire,72 David Hume, Adam Ferguson, William Robertson oder Edward Gibbon geprägt.73 Robertson inszeniert beispielsweise Queen Mary als sentimentalische Heldin in seiner ›History
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Siehe insbesondere die frühen Arbeiten von Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore/London 1973; Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore/London 1978; The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore/London 1987. Für eine ausführliche Darstellung des ›linguistic turn‹ sowie des ›narrative turn‹ in der Untersuchung von Geschichtsschreibung siehe die Abschnitte I.3.1 und vor allem I.3.2. Phillips: Society and Sentiment, insb. S. 60–78. Lionel Gossman: Augustin Thierry and Liberal Historiography (1976). In: Gossman, Between History and Literature. Cambridge, Mass./London 1990, S. 83–151, hier: S. 94. Zu Voltaire, siehe vor allem Suzanne Gearhart: The Open Boundary of History and Fiction. A Critical Approach to the French Enlightenment. Princeton, NJ 1984, insb. die Kapitel 2 und 3. Als kurzen Aufriss zur französischen Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert, siehe Hans-Jürgen Lüsebrink: Subjektivität in der Geschichtsschreibung. Zur Modernisierung historiographischer Erzählweisen in der französischen Aufklärung. In: Geschichtsdiskurs. Bd. 2. Anfänge modernen historischen Denkens. Hrsg. von Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin. Frankfurt a.M. 1994, S. 249–266. Zu Verfabelungsstrategien bei u. a. Hume, Robertson und Gibbon, siehe Karen O’Brien: Narratives of Enlightenment. Cosmopolitan History from Voltaire to Gibbon. Cambridge/New York 1997.
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of Scotland‹ (1759),74 womit er die politische Heldin als Symbol für Schottland neutralisiert.75 In Robertsons Geschichtsschreibung dominiert bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Erzählung: »It is evident that Robertson (and his readers) took for granted the primacy of narrative, with its traditional dignity, unity, and didactic force.«76 Robertson fokussiert auf einzelne historische Personen wie Queen Mary oder auf Kollektiva wie das Bewusstsein der Schotten,77 womit eine rein chronologische Geschichtsdarstellung überschritten wird. Gleichzeitig wird bei Robertson jede Handlung erklärt; Geschichte ist also durch Vernunft zu verstehen. Das Zeitalter des 15. und 16. Jahrhunderts wird von Robertson als Aufstieg nach der Phase der autoritären Fesseln im Mittelalter gelesen.78 Edward Gibbons ›The Decline and Fall of the Roman Empire‹ (1776–1787)79 ist ein spätes herausragendes Beispiel dieser sich seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts – also etwa 30–40 Jahre vor der deutschen erzählenden Geschichtsschreibung – zeigenden Darstellungsfähigkeit. Dies soll hier in einem kurzen Exkurs erläutert werden.80 Gibbons Text gelingt 74
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William Robertson: The History of Scotland during the Reigns of Queen Mary and of King James VI till his Accession to the Crown of England with a Review of the Scottish History Previous to that Period. And an Appendix containing Original Letters. Complete in One Volume (1759). New York 1856. Vgl. O’Brien: Narratives of Enlightenment, S. 114–122. O’Brien: Narratives of Enlightenment, S. 117f. Phillips: Society and Sentiment, S. 90. Für eine frühe Arbeit zur Erzählstruktur von Robertsons Text im Zuge Hayden Whites, siehe Jeffrey Smitten: Robertson’s History of Scotland. Narrative Structure and the Sense of Reality. Clio 11 (1981), S. 29–47. Smitten argumentiert allerdings noch völlig im Rahmen einer Opposition von Aufklärungsgeschichtsschreibung und Historismus und meint, dass Robertsons Geschichte keinerlei Fortschritt oder Evolution der Geschichte zeige: »the narratives contain a static but almost infinitely extendable pattern« (Ebd., S. 43). Damit unterschätzt er die Spannung zwischen antiquarischer und prozessualer Geschichtsschreibung, die bei Robertson durchaus zu erkennen ist. Siehe z. B. Robertson: The History of Scotland, S. 65–69. »The revival of learning in the fifteenth and sixteenth centuries roused the world from that lethargy in which it had been sunk for many ages. The human mind felt its own strength, broke the fetters of authority by which it had been so long restrained, and, venturing to move in a larger sphere, pushed its inquiries into every subject with great boldness and surprising success« (Robertson: The History of Scotland, S. 61). Robertsons Fortschrittsmodell wird auch in seiner Geschichte Karl V. deutlich, deren ersten Band er ganz der europäischen Zivilisationsentwicklung vom Römischen Reich bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts widmet (William Robertson: The History of the Reign of the Emperor Charles V. with a View of the Progress of Society in Europe, from the Subversion of the Roman Empire to the Beginning of the Sixteenth Century (1769). 3 Bde. London 1862). Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Hrsg. von David Womersley. 3 Bde. London 1995. Viele Tendenzen können dabei nur angedeutet werden, die dann für die deutschsprachigen Beispiele in den Folgekapiteln ausführlich an den historiographischen Texten diskutiert werden.
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es, einen fast unübersehbaren Stoff sprachlich zu bewältigen und überschaubar zu machen. Die Anzahl an historischen Details, die er darstellt, zeigt noch seine Verbindung zu einer antiquarischen Geschichtsschreibung. Zugleich schafft Gibbon aber eine ganzheitliche Erzählung von Geschichte, die Geschichte als einen Prozess ausdrückt.81 Somit bewegt er sich in einer Übergangsphase zwischen den antiquarischen bzw. polyhistorischen Gelehrten und moderner Geschichtsschreibung.82 Stofflich scheint der Text die Dekadenz und damit die Gründe des Verfalls des Römischen Reichs darzustellen, doch zugleich schreibt Gibbon in den Text einen aufklärerischen Fortschrittsgestus ein, durch den sich die menschliche Zivilisation mit ihrem Zentrum Europa entwickeln kann. Hier erscheint ›The Decline and Fall‹ den Darstellungen performativer Geschichtsschreibung – also der Überlagerung von Geschichte als Gegenstand und dem in der Geschichtsschreibung inszenierten Geschichtsprozess – im deutschen Sprachraum am ähnlichsten. Dies ist auf den ersten Blick überraschend, da die Stimme des Historikers für die Aufklärungsgeschichtsschreibung typisch distanziert und ironisch wirkt.83 Er überblickt in der Regel das historische Geschehen. Die Figuren gewinnen keine eigene Stimme; das Geschehen wird als historischer Gegenstand erzählt, ohne der Kontrolle des Historiker-Erzählers zu entgleiten. Damit scheint Gibbon das perfekte Beispiel für ein die Darstellungsschwierig-
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Siehe z. B. David Wootton: Narrative, Irony, and Faith in Gibbon’s ›Decline and Fall‹. Studies on Voltaire & the Eighteenth Century 355 (1997), S. 203–234, insb. S. 212. Auch Harro Müller zeigt verschiedene Verfabelungstechniken bei Gibbon auf (Einige Erzählverfahren in Edward Gibbons ›The Decline and Fall of the Roman Empire‹. In: Geschichtsdiskurs. Bd. 2. Anfänge modernen historischen Denkens. Hrsg. von Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin. Frankfurt a.M. 1994, S. 229–238). François Furet argumentiert, dass Gibbon einerseits mit seinem antiken Geschichtsstoff weit von den gewöhnlichen Geschichtsschreibungen seines Jahrhunderts entfernt war, doch zugleich seine Schreibweise und Erzählung die antiquarische Gelehrsamkeit überwinde und als viel moderner einzustufen sei (Civilization and Barbarism in Gibbon’s History. In: Edward Gibbon and the ›Decline and Fall of the Roman Empire‹. Hrsg. von G.W. Bowersock/John Clive/Stephen Graubard. Cambridge, Mass. 1977, S. 159–166, hier: S. 159f.). Vgl. zu Gibbons ironischem Stil auch Peter Gay: Style in History. New York 1974, S. 41–56; Frank R. Ankersmit: Historismus. Versuch einer Synthese. In: Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundprobleme. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen. Köln/Weimar/Wien 1996, S. 389–410, insb. S. 393–396. Allgemein zur Aufklärungsgeschichtsschreibung, siehe auch Gossman: Augustin Thierry (in: Between History in Literature), S. 94; sowie Gossman: History and Literature (in: Between History in Literature), S. 243, zur distanzierten Position des wertenden und kommentierenden Historikers. Zum Stilbegriff, siehe auch den Teilabschnitt IV.3.2 im Schiller-Kapitel.
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keiten der Aufklärungshistorie in seiner Sprache überschreitendes narratives Erzählen zu sein. Eine präzise Analyse von Gibbons Verfahren zeigt jedoch, dass sich zusätzlich zu dieser Fähigkeit zur Geschichtserzählung der Gegenstand Geschichte auf andere Weise mit dem historiographischen Diskurs zu überschneiden beginnt. Zuerst einmal verzeitlicht Gibbon Geschichte durch seine Erzählweise, womit er die Kompendien der Gelehrsamkeit, die Aufzählungen und Chroniken historischer Fakten, überwindet. Dabei behält er den Grundgedanken der Chronikform84 durch seine distanzierte Erzählart, die Einhaltung der Chronologie und die wenigen Auslassungen in den Grunddaten der Herrschergeschichten bei. Gibbon befindet sich in Spannung zum entstehenden historischen Roman einerseits und zur modernen, historistischen Geschichtsschreibung andererseits. Letzteres zeigt sich in Gibbons Umgang mit den Quellen sowie in seinen Anmerkungen und Reflexionen über die Zuverlässigkeit der Quellen. Dies lässt sich zuerst einmal damit erklären, dass Gibbon zu einer Schwellenzeit schreibt, bevor Literatur und Geschichtswissenschaft sich im Zuge von Kunstautonomie und Verwissenschaftlichung voneinander trennen. Nach Paul Ricœur läge bei Gibbon dann eine Überkreuzung von Fiktion und Erzählung vor, wodurch das Werk ein großer Roman und Geschichtswissenschaft zur selben Zeit sein kann.85 Hinzu kommt jedoch in Gibbons Geschichtsschreibung eine vom Text erzeugte Überschneidung von Ver- und Entzeitlichung. Gibbon entzeitlicht seine Erzählung, indem er den Wert der einzelnen Episoden für den Verlauf der Geschichte, die Verfallsgeschichte Roms, nivelliert. Die zahllosen Einzelepisoden hängen nur im Erzählfluss miteinander zusammen; sie werden nicht im Sinne der pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung als Ursache-Wirkungsverhältnisse entfaltet.86 Stattdessen spielt Gibbons ›Decline and Fall‹ immer wieder dasselbe Grundmuster der Aufstiegs- und Verfallsfabel durch, sodass sich die Geschichte wie auf einer 84
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Hayden White: The Value of Narrativity in the Representation of Reality (1980). In: White, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore/London 1987, S. 1–25, diskutiert das Verhältnis von Annalen, Chronik und Erzählung, wobei erst letztere einen vollen Narrativitätsgrad erreiche. Gibbons Text reflektiert ständig die Grenze zwischen Chronik und Erzählung. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde (1983–85). München 1988–1991, hier Bd. 3. Die erzählte Zeit. 1991, S. 301. Aufgrund dieser Qualitäten wird Gibbons Text – trotz seiner Zeitgebundenheit an die Ideen der Aufklärung – zum Klassiker. Zur Ablösung Gibbons von der pragmatischen Geschichtsschreibung zu einer weniger instrumentellen Geschichtsschreibung, siehe David Womersley: The Transformation of ›The Decline and Fall of the Roman Empire‹. Cambridge u. a. 1988.
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Spirale von der unmittelbar einsetzenden Idylle zu Beginn in Richtung Untergang entfaltet.87 Gibbon erzeugt dabei eine fortwährende Überlagerung von Synchronie und Diachronie, durch die er die Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung und den Zufall der einzelnen Episoden inszenieren kann. Die diachrone Achse von vierzehn Jahrhunderten wird durch ein strukturelles Tableau – die zeitlose Fabel – überlagert, in dem das ideale Rom, etwa zur Zeit Trajans, ebenso versprachlicht werden kann wie sein unvermeidlicher Untergang. Geschichte (als Kollektivsingular) und Geschichten greifen ineinander. Es kommt daher hier nicht nur auf den konstativen Inhalt der Geschichten an, sondern die Geschichten werden zugleich zum notwendigen Bestandteil von Gibbons Schreibart. Sie machen aus einer dargestellten Geschichte eine sich vollziehende Geschichte; die Geschichtsschreibung wird performativ,88 ohne dass sie den Anspruch auf die Darstellung empirischer Wirklichkeit im Sinne moderner Geschichtswissenschaft aufgeben müsste. Die Überschneidung von Struktur und Zeit, von Synchronie und Diachronie, von Wissenschaft und Literatur, von konstativem und performativem Modus89 lässt sich im Detail insbesondere durch die Analyse narratologischer Strukturelemente (Zeit, Anfang, Ende, Übergänge zwischen Phasen und Episoden, Szenenhaftigkeit und Funktionalität von Szenen im Text) zeigen.90 Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Dynamik von Gibbons Geschichtsschreibung hat Patricia Craddock am Beispiel der Schlacht bei Warna, die am 10. November 1444 stattfand, herausgearbeitet:91 »In the battle of Varna, Gibbon’s subject is not primarily the minutiae of military technique, but the interplay on one level between physical and psychological facts in the battle, and on another between historical and mythical power in the relationship of later interpreters to a
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Vgl. Lionel Gossman: The Empire Unpossess’d. An Essay on Gibbon’s ›Decline and Fall‹. Cambridge, Mass./London 1981, insb. S. 54f. Die Vorstellung und Illusion eines entzeitlichten Glückes steht der historischen Erfahrung gegenüber: »Historical existence is thus synonymous in the ›Decline and Fall‹ with change, disturbance, disorder, division, unhappiness, and the pursuit of imaginary and illusory goals rather than real ones« (Ebd., S. 55). Zur systematischen Diskussion des Begriffs der performativen Geschichtsschreibung, siehe I.3.1. Siehe auch Gossman: The Empire Unpossess’d, S. xiii, dazu, dass Gibbon nicht nur Information vermittele, sondern auch intertextuelle Bezüge und Bedeutungen schaffe. Zur Überlagerung von Geschichtsinhalten und Stil der Geschichtsschreibung in ›The Decline and Fall‹ siehe z. B. Robert Adams Day: Gibbon and the Language of History. Études Anglaises 41 (1988), S. 155–164. Gibbon: The History of the Decline and Fall. Bd. 3. S. 922–924.
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past.«92 Craddock zeigt, wie Gibbon fünf verschiedene Zeitebenen – »the very remote past«, »the specific past of the combatants«, »the events of the battle«, »the combatants’ future« und die »direct and indirect representation of the temporal placement of the narrator and reader« – in den Text integriert.93 Die Gegenstandsebene der Geschichte und der Diskurs der Geschichtsdarstellung überlagern sich, wodurch es ermöglicht wird, historischen Wandel auszudrücken und Geschichte zu verzeitlichen. ›The Decline and Fall‹ lässt sich also nach den hier nur skizzenhaft vorgenommenen Überlegungen als geschichtswissenschaftliche Erzählung mit dem Anspruch auf eine möglichst reflektierte Darstellung historisch-empirischer Wahrheit lesen, doch eine Geschichtsdynamik entfaltet sich erst als selbstbezüglicher Text, der seinen eigenen idyllischen Ursprung wie seinen Niedergang, also seine Geburt und seinen Tod, immer wieder selbst vollzieht. Zudem drückt der Text eine übergreifende zivilisatorische Fortschrittsbewegung in die Gegenwart aus. Zum Abschluss dieses Exkurses über die englischsprachige Geschichtsschreibung ist zu vermerken, dass trotz der Verwissenschaftlichung und Entrhetorisierung das Didaktische im englischen Sprachraum präsenter blieb als im deutschen,94 wie auch in der epistolarischen Geschichtsgattung – Geschichte in Briefen – bei u. a. Oliver Goldsmith95 und Catherine Macaulay deutlich wird.96 Diese konnten den Leser von Geschichte als wahren Geschichtsschreiber konstruieren.97 Gleichzeitig trugen gerade »Macaulays Geschichtswerke […] maßgeblich zur Schaffung einer nationalen Identität bei, denn sie wirkten durch selektives Herausgreifen einzelner Ereignisse und durch originelle Deutungen an
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Patricia Craddock: Historical Discovery and Literary Invention in Gibbon’s ›Decline and Fall‹. Modern Philology 85 (1988), S. 569–587, hier: S. 578. Craddock: Historical Discovery, S. 579. Craddock sieht Gibbons Erzähler in die Geschichte eingreifen und mehr die Rolle eines Staatsanwaltes denn die eines Historikers spielen (Ebd., S. 582). Hier zeigt sich, dass Gibbons Text – wie es auch gerade bei Schiller (IV) und Archenholz (V) zu sehen sein wird – sich auf der Grenze zwischen einer rhetorischen und ästhetischen Geschichtsschreibung, die die klassische Rhetorik ästhetisch re-rhetorisiert, bewegt. Siehe z. B. für die englische Aufklärungsgeschichtsschreibung O’Brien: Narratives of Enlightenment, S. 8. Siehe z. B. Keryl Kavanagh: Paradigms of Pleasure and Virtue. Oliver Goldsmith’s Fictive Histories. Eighteenth Century Life 11 (1987), S. 163–169. Zu Macaulays ›History in Letters‹, siehe Looser: ›British Women Writers‹, S. 119–151. Phillips: Society and Sentiment, S. 93. Der historische Diskurs im Allgemeinen verfolgt »the idea of transporting the reader to ›the very place and time‹« (Ebd., S. 109), wodurch sich die Darstellung von historiographischer Erzählung auf den historischen Roman, die historische Biographie und historische Malerei erweitert.
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der Erzeugung eines nationalen Erbes mit.«98 Die englische Historiographie ist insofern einerseits in ihren Darstellungs- und Erzählmöglichkeiten sehr fortgeschritten. Andererseits verfolgt sie aber noch vorwiegend pragmatische Ziele.99 2.4.
Deutschsprachige Geschichtsschreibung
In der Diskussion um die Entwicklung der Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert fallen deutsche Namen – von Winckelmann in der entstehenden Kunstgeschichtsschreibung abgesehen100 – nur in Bezug auf geschichtstheoretische Konzepte, wie etwa Gatterer und Schlözer, nicht in Bezug auf die Geschichtsdarstellung oder -erzählung. Geschichte wird vornehmlich zu einem abstrakten Strukturmodell, das abgeleitet wird, statt sich auf konkrete Ereignisse und Begebenheiten, die in einen erzählerischen Zusammenhang gebracht würden, zu beziehen. Allerdings wurde bei Gatterer erstmals in der deutschen Geschichtsschreibung der Anspruch auf lebendige und anschauliche Geschichtsschreibung geäußert.101 Die deutsche Geschichtserzählung selbst galt im europäischen Kontext als rückständig.102 Sie sammelte Fakten und erschaffte daraus ge98
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Vera Nünning: »A Revolution in Sentiments, Manners, and Moral Opinions«. Catharine Macaulay und die politische Kultur des englischen Radikalismus 1760–1790. Heidelberg 1998, hier: S. 384. Vera Nünning identifiziert vier verschiedene Funktionen englischer Historiographie im 18. Jahrhundert: als Argument in der parteipolitischen Auseinandersetzung, als Mittel der Zeitkritik, als Mittel zum gesellschaftlichen Fortschritt und als Medium kultureller Selbstreflexion (»In Speech an Irony, in Fact a Fiction«. Funktionen englischer Historiographie im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zeitschrift für historische Forschung 21 (1994), S. 37–63, hier: S. 39). Die ersten drei Funktionen dienen eindeutig einer pragmatischen Geschichtsauffassung, nur letztere bezieht auf die Selbstreflexion einer zumindest teilweisen autonomen Geschichte. Zu Winckelmann, siehe u. a. Hinrich C. Seeba: Winckelmann. Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte – Zur Geschichte eines Paradigmawechsels. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (1986). Hrsg. von Hans Erich Bödeker et al. Göttingen 1992, S. 299–323; sowie Seeba: Johann Joachim Winckelmann Zur Wirkungsgeschichte eines ›unhistorischen‹ Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 168–201. Johann Christoph Gatterer: Von der Evidenz in der Geschichtskunde (1767). In: Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie. Hrsg. von Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer. Bd. 2. Elemente der Aufklärungshistorik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 466–478. Vgl. hierzu Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 316; im Überblick zum Stil von Geschichtsschreibung auch S. 303–327. Zum Stil in performativer Geschichtsschreibung, siehe das Schiller-Kapitel IV, insb. die Teilabschnitte IV.3.2 und IV.6. Siehe hierzu z. B. Ulrich Muhlack: Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft. In: Geschichtsdiskurs. Bd. 3. Die Epoche der Historisierung. Hrsg. von Wolfgang Küttler/ Jörn Rüsen/Ernst Schulin. Frankfurt a.M. 1994, S. 67–79, insb. S. 68f.
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waltige Kataloge und Kompendien, wie beispielsweise noch an Michael Ignaz Schmidts ›Geschichte der Deutschen‹ (1778–1783)103 abzulesen ist. Insbesondere eine narrative Verknüpfung der Fakten war nicht vorhanden. Der deutsche Geschichtsdiskurs war vorwiegend mit der theoretischen Fassung von Geschichte beschäftigt; die historiographische Darstellung des Geschichtsprozesses und des Geschichtsganzen blieb unterentwickelt. Auf den ersten Blick könnte man argumentieren, dass der Unterschied zwischen der deutschsprachigen und beispielsweise der englischsprachigen Geschichtsschreibung ausschließlich das Sinnbildungsdefizit sei. Die deutschsprachige Geschichtsschreibung entwickele dann nur verspätet die narrativen Darstellungsmittel, um Geschichte als Prozess und Ganzes darstellen zu können. Ein genauerer Blick auf die deutsche Historiographie Ende des 18. Jahrhunderts zeigt jedoch, dass sich diese nicht ausschließlich Impulse aus den Debatten um Roman und Drama holte, sondern die Literarizität auch auf Seiten der Geschichtsschreibung zu verorten war. Damit reagierte die Geschichtsschreibung darauf, dass sie ohne die Entwicklung historiographiespezifischer Darstellungsformen nur die in der klassizistischen Autonomieästhetik wiederaufgenommene aristotelische These von der Überlegenheit der Dichtung bestätigen würde. Stattdessen resultierten die Darstellungsverfahren der Geschichtsschreibung gerade aus den im 18. Jahrhundert intensivierten 103
Michael Ignaz Schmidt: Geschichte der Deutschen. 5 Teile. Ulm 1778–1783; überarbeitet in 8 Bänden. Wien 1783–1787; vgl. auch Michael Ignatz Schmidt: Neuere Geschichte der Deutschen. 6 Bde. Wien 1785–1793. Hans Schleier sieht bei Michael Ignaz Schmidt und bei Hermann Dietrich Hegewisch bereits vor Schiller vereinzelt eine erzählende Historie im deutschsprachigen Bereich (Die Stellung Schillers in der europäischen Geschichtswissenschaft. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von Michael Hofmann/Jörn Rüsen/ Mirjam Springer. München 2006, S. 124–156, S. 132), der allerdings die im Weiteren zu zeigende Ästhetisierung des Geschichtsprozesses und die Psychologisierung individueller und kollektiver Geschichtssubjekte fehlt. Es sind erste Ansätze, die versuchen, einen übergreifenden Erzählfaden zu schaffen. Siehe z. B. Dietrich Hermann Hegewisch: Geschichte der Deutschen von Konrad dem Ersten bis zu dem Tode Heinrichs des Zweyten. Hamburg/Kiel 1781. Zu Schmidt, siehe auch Peter Baumgart (Hrsg.): Michael Ignaz Schmidt (1736–1794) in seiner Zeit. Der aufgeklärte Theologe, Bildungsreformer und »Historiker der Deutschen« aus Franken in neuer Sicht. Neustadt an der Aisch 1996, insbesondere Hans-Wolfgang Bergerhausen: Michael Ignaz Schmidt in der historiographischen Tradition der Aufklärung, S. 63–79; und Christina Sauter-Bergerhausen: Michael Ignaz Schmidt. »Erster Geschichtsschreiber der Deutschen«?, S. 81–90. Letztere verneint Schmidts Status als erster deutscher Geschichtsschreiber, geht aber ebenso wie die Replik von Edgar Michael Wenz (War Michael Ignaz Schmidt nicht doch der erste deutsche Geschichtsschreiber? Eine Erwiderung, S. 91–98) in keiner Weise auf die Geschichtsdarstellung ein und verbleibt bei einer Diskussion der Geschichtsinhalte und der allgemeinen Bestimmung des Objektbereichs einer deutschen Geschichte.
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Spannungen zwischen Realem und Ideellem, zwischen historischen Fakten und Ganzheit, zwischen Zufall und Teleologie sowie zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Diese Spannungen betrafen speziell die Historiographie – in der Literatur blieben Reales, Fakten und Zufall hingegen dem Ideellen, Ganzen und Notwendigen untergeordnet.104 Ein genauerer Blick auf den Unterschied zwischen deutsch- und englischsprachiger Historiographie kann dabei helfen, diese Spannungen zu erklären, bevor sie im folgenden Teil dieses Einleitungskapitels theoretisch dimensioniert werden.105 Der deutsche Kontext stellte für das Verhältnis von praktischer Darstellung von Geschichte und der Erfüllung theoretischer und methodologischer Vorgaben eine besondere Herausforderung dar, weil die Darstellung unterentwickelt war, Methodologie und Theorie aber zugleich äußerst reflektiert waren. Die deutsche Aufklärungsgeschichtsschreibung unterlag damit dem Problem, dass an sie theoretische Erwartungen herantragen wurden, die das Einzelne und Besondere vornehmlich zugunsten des Allgemeinen ausgrenzten. Hingegen entstand im Zuge der Romandiskussionen in England und Frankreich bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Möglichkeit einer narrativen Geschichtsschreibung, die zugleich in der Lage war, Geschichte zu vertexten. In der Zeit seit etwa 1760 begann sich die ›Aufklärungshistorie‹ in Deutschland zu entfalten und die überkommene polyhistorische, reichsgeschichtliche oder ›galante‹ Historie zu reformieren.106 Daniel Fulda fasst unter dem Begriff der Aufklärungshistorie diejenigen deutschsprachigen Historiker oder Geschichtsschreiber samt ihrer geschichtsphilosophischen oder historiographischen Tätigkeit zusammen, die sich von aufklärerischen Prinzipien wie »Vernunfturteil, Begründungspflicht, Systematisierung des Wissens, Professionalisierung, didaktische Wirkung, 104
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Zum Kontrast zwischen historischem Zufall und ganzheitlichem Geschichtsdenken, siehe Franz Josef Wetz: Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹. In: Kontingenz. Hrsg. von Gerhart v. Graevenitz/Odo Marquard. Poetik und Hermeneutik 17. München 1998, S. 23–34, insb. S. 32. Siehe auch Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Tübingen 1988. Campe diskutiert die verstärkte Rolle des Zufalls in Geschichte um 1800 vorwiegend an Beispielen des historischen Romans (Wahrscheinliche Geschichte, S. 217). Siehe zudem IV.4 zur Funktion des historischen Zufalls bei Schiller und V.4 zu Zufall und Wahrscheinlichkeit bei Archenholz. Siehe I.3. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 53. Siehe Karl-Heinz Hahn: Geschichtsschreibung als Literatur. Zur Theorie deutschsprachiger Historiographie im Zeitalter Goethes. In: Studien zur Goethezeit. FS Erich Trunz. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl/Eberhard Mannack. Heidelberg 1981, S. 91–101.
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bürgerliche Emanzipation« leiten ließen.107 Doch zuerst einmal herrschte in der deutschen Geschichtsschreibung seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein pragmatisches Geschichtsverständnis vor, wonach Historisches in ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zu setzen war, was die Erkenntnis von Zusammenhängen und die Strukturierung von Geschichte ermöglichte.108 Bei Schlözer und Gatterer wurde Geschichte nicht als Konstrukt des Historikers, sondern vornehmlich als universalgeschichtliches Gegenstandssystem begriffen,109 das Ziel des Historikers war also die »kausalanalytische System(ab)bildung«.110 Dies zeigt sich zum Beispiel in Gatterers ›Abriß der Universalhistorie‹ von 1765 / 1773,111 in dessen ›Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte‹ von 1792112 und in Schlözers ›Weltgeschichte‹ von 1785 / 1789.113 Geschichte wird vornehmlich typologisch durch Fakten im Stile eines Berichts beschrieben; ein präsentischer Ablauf von Geschichte ist nicht zu erkennen.114 Nur in einzelnen Episoden gibt es Narrativität. Moderne deutsche Geschichtserzählung im historiographischen Diskurs beginnt erst im späten 18. Jahrhundert und ist u. a. mit den Namen Friedrich Schiller, Justus Möser, Ludwig Timotheus Spittler und dem Schweizer Johannes Müller verbunden.115 107 108 109
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Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 53. Siehe auch Blanke/Fleischer: Artikulation bürgerlichen Emanzipationsstrebens, S. 23–52. Siehe Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 59–61. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 61. Zum Einfluss des angelsächsischen Universalgeschichtsdenkens auf Schlözer und die Entstehung eines systemischen historischen Denkens, siehe auch Johann van der Zande: August Ludwig Schlözer and the English Universal History. In: Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750–2000. Hrsg. von Stefan Berger/Peter Lambert/Peter Schumann. Göttingen 2003, S. 135–156. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 62. Johann Christoph Gatterer: Abriß der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange von Erschaffung der Welt bis auf unsere Zeiten, Hälfte I, nebst einer vorläufigen Einleitung von der Historie überhaupt und der Universalhistorie insonderheit, wie auch von den hierher gehörigen Schriftstellern. Göttingen 1765. Johann Christoph Gatterer: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte bis zur Entdeckung Amerikens. Göttingen 1792. August Ludwig von Schlözer: Weltgeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange. 2 Teile. Göttingen 1785/1789. Im Unterschied zu Gatterer und Schlözer, siehe insbesondere das Herder-Kapitel III. Vgl. die positivistische Darstellung von Eduard Fueter: Geschichte der Neueren Historiographie. München/Berlin 1911. Johannes Süßmann führt vor, wie Müller in seinem Frühwerk ›Bellum Cimbricum‹ von 1776/77 die Geschichte der Schweiz aus der Perspektive von Augenzeugen imaginiert, indem der Historiker selbst zum Teilnehmer an der Geschichte wird (Darstellungsprinzipien in Johannes von Müllers erstem Geschichtswerk. In: Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Umkreis Johannes von Müllers und des Groupe de Coppet = L’historiographie à l’aube du XIXe siècle autour de Jean de Müller et du Groupe de Coppet. Hrsg. von Doris Walser-Wilhelm/Peter Walser-Wilhelm/Marianne Berlinger-Konqui. Paris 2004, S. 79–109). Siehe auch die sehr
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Es lassen sich also grundlegende Unterschiede zwischen dem englischen und dem deutschsprachigen Geschichtsdiskurs ausmachen. Hierbei sind die soziokulturellen Rahmenbedingungen zu unterscheiden: Deutschland hatte gegen Mitte des 18. Jahrhunderts wegen seiner Zersplitterung in Staaten und Fürstentümer noch keine nationale Identität entwickelt,116 während sich die englische und schottische Geschichtsschreibung auf starke kollektive nationale Identitäten berufen konnten. Damit konnten sich die englischsprachigen Texte narrativ auf konkrete historische Identitäten oder Heldenfiguren konzentrieren, was für die politisch zersplitterte deutschsprachige Geschichtsschreibung fast unmöglich blieb. Auch rechtsgeschichtlichen Überlegungen jenseits von Ereignis- und Menschheitsgeschichte kam durch diese spezifische deutsche Situation der Vielstaaterei im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine besondere Bedeutung zu.117 Erst der Siebenjährige Krieg (1756–1763) schaffte eine nationale Identitätsvorlage für die Geschichtsschreibung, wie im fünften Kapitel zu Johann Wilhelm von Archenholz näher untersucht werden wird.118 Das fehlende nationale Bindeglied führte zugleich im deutschen Geschichtsdiskurs zu einem deutlich stärkeren Abstraktionsprozess und einer erweiterten Theoriebildung. Historische Ereignisse und Personen konnten die Autonomie der Geschichte nicht garantieren. Dies hatte drei Effekte: Erstens fand Darstellungsinnovation vornehmlich – abstrahiert von nationalen Themen – in den
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genaue Bildanalyse von Müllers ›Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft‹ bei Silvia Serena Tschopp: Die Geburt der Nation aus dem Geiste der Geschichte. Historische Dichtung Schweizer Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 237–257; und Michael Gottlob: Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus. Johannes von Müller und Friedrich Christoph Schlosser. Frankfurt a.M. 1989. Siehe z. B. Ute Planert: Wann beginnt der ›moderne‹ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit. In: Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1790. Hrsg. von Jörg Echternkamp/Sven-Oliver Müller. München 2002, S. 25–59. Planert argumentiert, dass nicht einmal die nationalistische Geschichtsschreibung späterer Zeiten fähig war, einen deutschen Nationalhelden des 17. Jahrhunderts zu schaffen (Ebd., S. 39). Zur Entstehung einer nationalen Identität, die durch Geschichtsschreibung ausgedrückt wird, siehe das Kapitel V zu Archenholz. Siehe auch Jörn Garber: Fiktion – Geschichte – Recht. Die Historiographie der deutschen Spätaufklärung zwischen Poetik, Recht und allgemeiner Kulturgeschichte. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 31 (2006), S. 150–176. In Deutschland entfaltet sich nach Vorläufern im 18. Jahrhundert erst im 19. Jahrhundert eine nationale Literaturgeschichtsschreibung. Keine Literaturgeschichte bis ungefähr 1810 versucht ihren Gegenstand konstruktiv zu ordnen (vgl. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, S. 93). Literaturgeschichtsschreibung fällt damit aus dem Untersuchungszeitraum dieses Buches vornehmlich heraus. Nationale Ursprungsgedanken zeigt Fohrmann allerdings bei Herder und den Brüdern Schlegel (Ebd., S. 95–115).
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Bereichen Menschheits- und Weltgeschichte statt.119 Zweitens waren methodologische Diskussionen im Geschichtsdiskurs bedeutsamer als Geschichtserzählung. Drittens kam der Geschichtsphilosophie eine besondere Bedeutung zu, um der Geschichte jenseits von zufälligen Ereignissen eine Struktur bzw. ein Gesetz geben zu können. Die offensichtliche Schwierigkeit der Geschichtsphilosophie, die auch im 18. Jahrhundert deutlich reflektiert wurde, bestand darin, dass sich Geschichte nun einmal mit Erfahrung und Fakten, also dem Einzelnen und Besonderen beschäftigt. Wie konnte dies mit dem Anspruch eines allgemeinen philosophischen Gesetzes vereinigt werden?120 Wie konnte Geschichte ihre eigene Philosophie, ihr eigenes internes Gesetz bekommen, wenn ihre Bestandteile als zufällig erkannt wurden? Anders als die stärker von der empirischen Philosophie beeinflusste englischsprachige Geschichtsschreibung war die idealistischere deutschsprachige Geschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert also an einen Scheidepunkt gekommen.121 Wie konnte sie sprachlich die paradoxalen Anforderungen erfüllen, die sie theoretisch erarbeitet hatte?122 Wie konnte sie also einerseits quellenkritisch wahre Geschichte darstellen – nicht erfinden – und andererseits der Geschichte etwas Notwendiges oder Teleologisches geben, das ihre innere Einheit garantierte? Erklärt man die Veränderung der Geschichtsschreibung vorwiegend durch Verfabelung bzw. Vertextung, fehlt die Reflexion des entscheidenden geschichtsphilosophischen Zwischenschrittes, der die deutschsprachige Geschichtserzählung als performative Geschichtsschreibung auf 119 120
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Siehe vor allem die Kapitel II zu Forster und III zu Herder. Eine ausgezeichnete Darstellung des veränderten Geschichtsdenkens im 18. Jahrhundert, das das Gesetzliche der Geschichte trotz aller Kontingenz der Geschichte zu behaupten versucht, findet sich am Beispiel Herders bei Wolfgang Pross: Die Begründung der Geschichte aus der Natur. Herders Konzept von ›Gesetzen‹ in der Geschichte. In: Wissenschaft als kulturelle Praxis. 1750–1900. Hrsg. von Hans Erich Bödeker/Peter Hanns Reill/Jürgen Schlumbohm. Göttingen 1999, S. 187–225. Zum Verhältnis von empirischer angelsächsischer und idealistischer deutscher Philosophie, siehe auch Annette Meyer: Von der ›Science of Man‹ zur ›Naturgeschichte der Menschheit‹. Einflüsse angelsächsischer Wissenschaft im Werk Georg Forsters. In: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hrsg. von Jörn Garber/Tanja van Hoorn. Hannover 2006, S. 29–52. Auf der diskurstheoretischen Ebene verbleibt dies eine Aporie, wie Fulda mit Bezug auf Kosellecks Kollektivsingular deutlich macht. Weil der neue Begriff der Geschichte »aus einer ›Fusion‹ von Dichtung und Historie hervorging, bei der diese von der aristotelisch höher gewerteten Wahrheit jener profitierte, indem sie deren ›innere Plausibilität‹ qua Kohärenz übernahm, war der Wissenschaftlichkeitsanspruch der Aufklärungshistorie durch ihn aber nicht zu befriedigen, jedenfalls nicht in einer Epoche, die der Dichtung selbst nur einen abgeleiteten Wahrheitswert zugestand« (Wissenschaft aus Kunst, S. 76).
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der Grenze zwischen Historiographie, Literatur und Philosophie erkennt. Die Geschichtsphilosophie spielt dann für die Geschichtsdarstellung kaum eine Rolle, weil ein direkter Schritt vom Allgemeinen des aufklärerischen Vernunftbegriffs zum Besonderen des Historismus gemacht werden kann.123 Die These, dass die Forschung die Übergangsphase von Aufklärungshistorie zu Historismus nicht genau genug erfasst, markiert eine generelle Lücke in der Forschung.124 Die historiographischen Texte, die hier bezüglich ihrer praktischen Auswirkungen in der Darstellung von Geschichtsschreibung untersucht werden, sind insbesondere relevant, wenn sie Erzählmittel und ästhetische Strategien einsetzen, um die Kontingenz der Geschichte zu überwinden und deren Gesetzmäßigkeit auszudrücken. Damit kann temporalisierte Geschichte – die dynamisch verbundenen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – zur Sprache gebracht werden, ohne dass der Geschichtsschreiber die unmöglich gewordene distanzierte Außenposition außerhalb der Geschichte einnehmen muss. Somit wird in der historiographischen Darstellungsweise dasselbe Interesse verfolgt wie in den zeitgleichen theoretischen und philosophischen Diskussionen mit ihren Begriffen von Geschichtsphilosophie, Teleologie und Weltgeschichte. Zugleich versuchen die historiographischen Texte auch den erhöhten Ansprüchen an die Authentizität von Geschichtsdarstellungen und an die Faktizität historischer Quellen bzw. faktischer Beobachtungen gerecht zu werden. Geschichtsschreibung musste in dieser Situation also – wie bereits gesehen – gleichzeitig die Totalität der Geschichte und das Wissen um ihre Perspektivität zusammenbringen, um historische Sinnbildung zu ermöglichen. In der hier untersuchten Übergangsphase erhielt geschichtsphilosophische Totalität eine hervorgehobene Bedeutung, was zur speziellen Ausprägung der Inszenierung des historischen Prozesses zwischen Notwendigem und Besonderem führte. 123 124
Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 184. Fuldas genaue Untersuchung der Verzahnung von Geschichtsschreibung und historischem Roman trägt allerdings erheblich zu einer Präzisierung des Geschichtsdiskurses bei und geht weit über eine einfache Gleichung von Historismus und moderner Geschichtsschreibung hinaus (siehe auch ebd., S. 267–278). Hingegen betont Stefanie Stockhorst wie die hier vorliegende Untersuchung stärker die Besonderheit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in ihrer Untersuchung, um historische Anthropologie narrativ darstellen zu können (Geschichte[n] der Menschheit. Zur Narrativität der historischen Kulturanthropologie der Spätaufklärung. KulturPoetik 8 (2008), S. 1–17). Für eine Geschichtserzählung unter dem speziellen Blickwinkel einer Geschlechtergeschichte, siehe auch die an Paul Ricœur angelehnte Studie von Angelika Epple: Empfindsame Geschichtsschreibung. Eine Geschlechtergeschichte der Historiographie zwischen Aufklärung und Historismus. Köln/Weimar/Wien 2003.
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Das in den untersuchten Texten entstehende doppelte Weltmodell ist im Folgenden näher zu bestimmen: Erstens kreieren die Texte unabhängig von der Referenz auf eine historische Welt ihre eigene Geschichte im Text, erstellen also – wie der historische Roman oder das historische Drama – eine historische Textwelt. Zugleich repräsentieren die Texte eine außertextuelle historische Welt. Sie machen referentielle Aussagen über die reale Vergangenheit, nach dem für ihre Zeit akkuraten wissenschaftlichen Standard und nach dem Kriterium der Wahrhaftigkeit, also nach bestem Wissen und Gewissen. Dabei integrieren die Texte die epistemologischen Neuerungen der Geschichtstheorie, Hermeneutik und Anthropologie. Gerade die Aufgabe der funktionalistischen Geschichtsschreibung im Sinne der ›Historia Magistra Vitae‹ führt zu einer ästhetischen Re-Rhetorisierung der Geschichtsschreibung, die an Erzähltechniken der funktionalistischen antiken Geschichtsschreibung anschließt. Dies geschieht jedoch nicht mehr, um Lehren aus vergangenen Ereignissen und Handlungen zu ziehen und um vornehmlich das historische Ereignis anschaulich zu machen, sondern um das Gesetzhafte der neuen autonomen Geschichte sprachlich umzusetzen und damit den historischen Prozess als notwendig erscheinen zu lassen.
3.
Theorie. Inszenierungen von Geschichte
3.1.
Zur Performativität von Geschichtsschreibung
Insbesondere Daniel Fulda und Johannes Süßmann haben umfassend untersucht, wie die deutsche Aufklärungsgeschichtsschreibung ihr Darstellungsdefizit überwindet. Fulda arbeitet stärker funktionsgeschichtlich,125 Süßmann produktionsästhetisch und gattungstheoretisch.126 Fulda untersucht dabei im Spannungsfeld zwischen Geschichte und Literatur die Überwindung der Sinnbildungsschwäche der Aufklärungsgeschichtsschreibung durch den Historismus. Dabei geht es um einen Interferenzbereich, »in dem die Darstellungsprinzipien und -verfahren beider Wissensformen konkurrieren bzw. im Austausch stehen. Gewissermaßen eingefasst wird er [der Interferenzbereich, SJ] durch Historik und Historiographie, Poetik und fiktionales Erzählen«.127 Das wissenschaftliche Er125 126 127
Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Johannes Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824). Stuttgart 2000. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 6.
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zählen des späteren Historismus wird durch die Erkenntnisse in Kunst und Ästhetik ermöglicht. Fuldas Paradigma ist insbesondere die literarische Fabelstruktur, womit er sich an der Geschichts- und Erzähltheorie von Paul Ricœur orientiert.128 Ein weiteres Erklärungsmuster dieses Modernisierungsprozesses ist die Verschiebung vom Exemplarischen (der alten noch rhetorischen Geschichtsschreibung) zum Genetischen der modernen Geschichtserzählung.129 Allerdings unterschätzt Fulda hier die Rolle einer ästhetischen Re-Rhetorisierung, die im Weiteren ausgeführt wird, ein wenig. Auch Johannes Süßmann erkennt, dass der Geschichtsschreiber historische Korrektheit und die Notwendigkeit des historischen Prozesses zusammenbringen muss, und stellt fest, dass dies der Aufklärungsgeschichtsschreibung nicht gelingt. Sie ist entweder zu detailbezogen und verliert das Notwendige aus dem Blick oder sie entwirft Kausalmodelle, die das Besondere und historisch Partikulare nicht mehr darstellen können: »Der Geschichtsschreiber hat so zu erzählen, daß das historisch Richtige als etwas Notwendiges erscheint. Nicht indem er zusammenlaufende Kausalketten nachzeichnet, erzeugt er diese Notwendigkeit, sondern wie ›im Roman oder in einer andern poëtischen Darstellung‹ durch die Logik der narrativen Verknüpfung.«130 Mit anderen Worten unterscheidet sich dieses Modell wenig von der narrativen Geschichtskultur der Engländer und Schotten, die nur etwa dreißig Jahre früher ebenfalls durch narrative Verknüpfung begannen, Geschichte zu erzählen. Was Süßmann übersieht, ist die deutliche Verschiebung des Geschichtsdiskurses im geschichtsphilosophisch und -theoretisch geprägten Deutschland. Süßmann entgeht dies zum einen, weil er sich vollständig auf den deutschen Sprachraum konzentriert und der europäische Zusammenhang in seiner Untersuchung keine Rolle spielt. Zum anderen führt sein methodischer Ansatz – eine produktionsästhetisch begründete Textsortenlehre der Geschichtsliteratur – zu einer radikalen Trennung von Geschichtstheorie, -philosophie und -methodik einerseits, und praktischer Geschichtsdarstellung in Historiographie und Literatur andererseits. Auch wenn es pragmatisch durchaus richtig ist, dass sich praktische Geschichtsschreibung nicht ausschließlich an theoretischen Vorgaben orientiert, sondern am historisch Besonderen und am Einzelfall, wird damit nicht erkannt, dass Geschichtsschreibung Darstellungstechniken besitzt (und 128 129 130
Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 36–39. Siehe Ricœur: Zeit und Erzählung, insb. Bd. 3. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, insb. S. 145–227. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 85.
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im Falle des späten 18. Jahrhunderts auch einsetzt), durch die versucht wird, trotz der Zufälligkeit von geschichtlichen Begebenheiten, ein Ganzes, das notwendig entsteht, zur Darstellung zu bringen. An dieser Stelle wird das Konzept einer performativen Geschichtsschreibung bedeutsam. Die Besonderheit der deutschsprachigen Geschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert liegt darin, dass Geschichte als historischer Prozess inszeniert wird, während sie zugleich das Vergangene erzählerisch darstellen kann. Statt also ausschließlich Geschichte mit referentiellem Anspruch als etwas Außer-Textuelles zu erzählen bzw. zu repräsentieren (was sprachphilosophisch einer konstativen Äußerung ähnelt), wird Geschichte performativ in der Entstehung des Textes, im Textprozess, inszeniert.131 Entsprechend wird der Begriff ›performative Geschichtsschreibung‹ in dieser Arbeit für historiographische und metahistoriographische Texte verwendet, was auf den ersten Blick zwei Fragen aufwirft: Zum einen scheinen sich Text und Performanz in den meisten kulturwissenschaftlichen Applikationen des Performanzbegriffs eher entgegenzustehen, wenn man Text nicht nur metaphorisch im Sinne von ›Kultur als Text‹ oder ›Alles ist Text‹ fasst; zum anderen sind historiographische Texte im engeren Sinne als Texte markiert, die einen referentiellen Anspruch auf etwas Außer-Textuelles behaupten, die also auf Vergangenes außerhalb des historiographischen Diskurses referieren. Gegen die von Erika Fischer-Lichte vehement vertretene These, dass das Performative das Textuelle ersetze,132 lässt sich mit der sprachphilosophischen Entwicklungslinie des Performanzbegriffs – von John L. Austin über John Searle bis hin zu Jacques Derrida, Paul de Man und Wolfgang Iser133 – argumentieren, dass das Performative als schaffende Kraft im Text ebenso wirksam ist wie in einer Aufführung oder Kunstinstallation.134 Einen vergleichbaren Ansatz für literarische Texte der klassischen Moderne verfolgt auch André Bucher, wobei er sich explizit von FischerLichte abgrenzt und sich stattdessen auf Ricœur, Iser und Derrida be-
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132 133 134
Für eine Zusammenfassung der sprachtheoretischen Auseinandersetzung mit dem Performanzbegriff, siehe Uwe Wirth: Der Performanzbegriff. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von U. Wirth. Frankfurt a.M. 2002, S. 9–60, insb. S. 10–17. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004, insb. S. 42–57. Vgl. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 28–34, zu Derrida S. 19–22. Vgl. Stephan Jaeger/Stefan Willer: Einleitung. Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. In: Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. Hrsg. von S. Jaeger/S. Willer. Würzburg 2000, S. 7–30, hier: S. 18–22.
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zieht.135 Mit der Verschiebung von »einem ›terminus technicus‹ der Sprechakttheorie zu einem ›umbrella term‹ der Kulturwissenschaften«,136 insbesondere in Anthropologie, Gender-Studies und Theaterwissenschaften, vermischen sich dann der Performanzbegriff und der insbesondere mit Musik, Tanz und Theater gekoppelte Aufführungsbegriff. »Die kulturwissenschaftliche ›Entdeckung des Performativen‹ liegt demnach darin, daß sich alle Äußerungen immer auch als Inszenierungen, das heißt als Performances betrachten lassen.«137 Auf den ersten Blick scheint es sich bei dem hier vorgestellten Konzept performativer Geschichtsschreibung eher um eine ›Performance‹ von Geschichte im historiographischen Text zu handeln. Auf den zweiten Blick wird sich jedoch zeigen, dass Performativität auch in einer textuellen Dimension zu fassen ist. Damit lässt sich der ästhetische Vollzug von Geschichte deutlicher kennzeichnen138 – als Geschichte, jenseits der inhaltlichen Aussagen über Geschichte, also als Geschichtshandlung bzw. Geschichtswirkung. Dabei ist weniger die konventionelle Illokution als vielmehr die Perlokution, die Wirkung, für eine textuelle performative Geschichtsschreibung bedeutsam.139 Allerdings ist bei einem Text der intentionale Aspekt einer perlokutionären Sprachhandlung140 irrelevant; der historiographische Text hat über seine referentielle Funktion hinaus eine selbstreferentielle Funktion, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird. Damit ist der hier verwendete Begriff des Performativen genau zwischen dem zuerst von J.L. Austin geprägten (und später verworfenen) sprachphilosophischen Begriff des Performativen141 und dem von den Theater135
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André Bucher: Repräsentation als Performanz. Studien zur Darstellungspraxis der literarischen Moderne (Walter Serner, Robert Müller, Hermann Ungar, Joseph Roth und Ernst Weiss). München 2004, insb. S. 13–17; S. 21–75. Auch Sibylle Peters denkt die Begriffe Performanz und Textualität als komplementär (Performative Writing 1800/2000? Evidenz und Performanz in der medialen Refiguration des Wissens. In: Performativität und Ereignis. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte et al. Tübingen/Basel 2003, S. 99–116). Wirth: Der Performanzbegriff, S. 10. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 39. Vgl. Fischer-Lichte: Die Ästhetik des Performativen, S. 36, die beschreibt, wie sich die »Metapher von der ›Kultur als Performance‹« in den 1990er Jahren entwickelte. Zur Dimension des Vollzugs im Performanzbegriff, siehe auch Jaeger/Willer: Einleitung, S. 24f. Auch löst sich eine performative Texttheorie vom Kriterium des Glückens bzw. Missglückens (die ›happiness/unhappiness-Dimension‹), die bei John Langshaw Austin so bedeutsam ist (How to Do Things with Words (1962). Cambridge, Mass. 1975, u. a. S. 148). Austin: How to do Thing with Words, S. 101f.; vgl. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 13f. Austin gibt das Begriffspaar konstativ-performativ zur Unterscheidung zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Äußerungen ab der siebenten Vorlesung auf (How to do Thing with Words, S. 83–93; passim).
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wissenschaften und ›Performance Studies‹ stärker an ›Aufführung‹ orientierten Begriff des Performativen142 angesiedelt.143 In den letzten Jahren gibt es auch erste systematische Untersuchungen zu Performanz und Performativität in der Geschichtsschreibung. Folgt man Jürgen Martschukat und Steffen Patzold in ›Geschichtswissenschaft und »Performative Turn«‹, ist der Performanzbegriff für Geschichtsschreibung nur auf der historischen Gegenstandsebene relevant.144 Performanz wird hier als kulturwissenschaftlicher Leitbegriff genommen, der nach Theaterwissenschaft, Ethnologie und Geschlechterforschung auch in der Kulturgeschichtsschreibung breite Anwendungsmöglichkeiten findet. Dies gilt sowohl für die Analyse der bedeutungskonstituierenden Kraft von menschlichen Handlungsweisen in der Geschichte, als auch für die sich wandelnden kulturellen Figurationen, in die sich solche Handlungsweisen einfügen.145 Sprache und Texte werden auf Handlungen im weiteren Sinne ausgedehnt, wie sich an den Beispielen der Aufsatzsammlung ablesen lässt, die das Spucken, den Kuss oder die Todesstrafe umfassen. Dass Historiographie selbst performativ sein könnte, steht nicht zur Diskussion. Ähnlich wie Martschukat und Patzold beschäftigt sich auch Peter Burke ausschließlich mit der Darstellung und Problematisierung von Ef142
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Siehe Richard Schechner: Performance Studies. An Introduction. London/New York 2002; sowie zahlreiche Sonderhefte der anthropologischen Zeitschrift ›Paragrana‹: z. B. Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch (Hrsg.): Kulturen des Performativen. Sonderheft. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 7,1 (1998); Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hrsg.): Theorien des Performativen. Sonderheft. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10,1 (2001); Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hrsg.): Praktiken des Performativen. Sonderheft. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13,1 (2004). Für eine Übersicht zum Begriff ›Performance‹, siehe Joachim Fiebach: Performance. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck et al. Bd. 4. Stuttgart/Weimar 2002, S. 741–758. Zum Verhältnis von Performativität und Performance, siehe auch Eckhard Schumacher: Performativität und Performance. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth. Frankfurt a.M. 2002, S. 383–402. So der Tenor der Aufsatzsammlung: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Köln/Weimar/Wien 2003. Siehe auch den Abschnitt ›Historie‹ in: Anthropologie und Ritual. Hrsg. von Christoph Wulf/Jörg Zirfas. Sonderheft. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 12,1/2 (2003), S. 184–308. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold: Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Eine Einführung in Fragestellungen, Konzepte und Literatur. In: Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hrsg. von J. Martschukat/S. Patzold. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1–31, insb. S. 11.
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fekten der performativen Wende auf das Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft, der Verschiebung des Objektbereiches von Historikern sowie den methodologischen Konsequenzen.146 Es geht darum, was aufgeführt wird, auf Festen, in Ritualen, bezüglich Identität und Geschlecht, sowie in Bezug auf Emotionen und Wissen. Die performative Wende erweitert die Aufgabenbereiche der Kulturgeschichtsschreibung und damit deren Blickwinkel. Auf der Darstellungsebene siedelt hingegen Michal Kobialka seine u. a. an Walter Benjamin orientierten, marxistisch geprägten Überlegungen zu einer ›Theater/ Performance-Historiographie‹ an.147 Kobialka sieht nach dem Ende der Geschichte im Sinne von Francis Fukuyama und nach dem Streit um die Faktizität bzw. Sprachabhängigkeit von Geschichtsschreibung148 als Konsequenz der Geschichtsschreibung eine erneute Verdinglichung von Geschichtsschreibung als Sammeln und Präsentieren in Aufführungen. Die Grenze zwischen Erinnerungen und Geschichte wird damit brüchig und das Vergangene wird wieder aufgeführt.149 Auch wenn Kobialka ohne Zweifel eine wichtige Darstellungsform jüngerer Geschichtsdarstellung beschreibt, umgeht sein Konzept von einer ›Theater/ Performance-Historiographie‹ letztlich die Frage von Darstellungsformen in Texten im historiographischen Diskurs. Der stark von Hayden White geprägte Geschichtstheoretiker Kalle Pihlainen ist einer der wenigen Forscher,150 der die theoretische Dimension von Performance-Theorien auch auf den ›discours‹ der Geschichtsschreibung, auf das Wie der Darstellung, ausdehnt.151 Die ›new performance-Wende‹ in den 1980er Jahren zeichnet sich durch das Verschmelzen von Gegenwärtigkeit im ›Event‹ bzw. im Akt der Aufführung (das »happening«) und der Illusionsschaffung traditioneller theatraler Aufführung aus.152 Dies überträgt Pihlainen auf die historische Erzählung, 146 147 148 149 150
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Peter Burke: Performing History. The Importance of Occasions. Rethinking History 9 (2005), S. 35–52. Michal Kobialka: Theater/Performance Historiography. Politics, Ethics, and the Now. Modern Language Quarterly 79 (2009), S. 19–42. Siehe I.3.2. Kobialka: Theater/Performance Historiography, insb. S. 37–42. Vgl. auch Claude. D. Conter: Jenseits der Nation – Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik. Bielefeld 2004, insb. S. 26f., der die Inszenierungen Europas eindeutig auf der Darstellungsebene ansiedelt. Kalle Pihlainen: Of Closure and Convention. Surpassing Representation through Performance and the Referential. Rethinking History 6 (2000), S. 179–200; Performance and the Reformulation of Historical Representation. Storia della Storiografia 51 (2007), S. 3–16. Pihlainen: Of Closure and Convention, S. 192.
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die neben ihren repräsentativen Aufgaben, auf das Vergangene zu referieren und dies erzählerisch umzusetzen, zugleich am Jetzt orientiert ist und sich dadurch einem Abschluss der Darstellung widersetzt: »Applied to historical narrative, this suggests appealing directly to the concrete present when speaking of the (re)constructed past, yet somehow foregoing closure.«153 Pihlainen kritisiert nun Whites Ansatz als »postmodernist parahistorical representation«,154 weil dieser vornehmlich an den ontologischen Fragen des Möglichen der Darstellung orientiert sei: »[P]erformance promotes the materials collected of the past to the level of the present, making them available to the embodied appreciation of the viewer rather than giving them as something to be contemplated in a detached manner by a transcendent consciousness.«155 Pihlainen erkennt hier genau das Potential einer performativen Darstellung, löst sich aber fast vollkommen vom Text, anstatt Whites Überlegungen zum historiographischen Text zu präzisieren und dann auf andere Gattungen bzw. Medien zu erweitern. Die Schwierigkeit von Pihlainens produktivem Ansatz, die Referenzund Präsenzfunktionen von Performance Studies und Geschichtsschreibung parallel zu schalten, liegt darin, dass er sich sehr stark auf die Grundthesen postmoderner Geschichtstheorie verlässt und die PerformanceTheorie letztlich doch vornehmlich als a-historischen Gegner historischer Darstellung liest: »Denying the significance of narrative closure and collapsing the ontological boundaries between past and present, public and private, as well as between the imaginary and the real, this kind of representation gives priority to the juxtaposition of material in clearly unhistorical ways.«156 ›Performance‹ wird damit zum Gegner von Erzählung (›narrativization‹) und kann als »escape from ›history‹ and temporality« dienen.157 Das Visuelle verdrängt den Text, ohne dass diskutiert würde, dass das konkrete visuelle Bild die imaginären Freiheiten des Betrachters ja im Vergleich zum Leser auch einschränkt. Zudem mangelt es in Pihlainens Aufsätzen an konkreten historiographischen Beispielen.158 Pihlainen deutet jedoch das Potential von Geschichtsdarstellung an, die referentielle Funktion von Geschichte, die narrative Versprachlichung sowie das das Präsentische ermöglichende Performative der Darstellung 153 154 155 156 157 158
Pihlainen: Of Closure and Convention, S. 192. Pihlainen: Performance and the Reformulation of Historical Representation, S. 16. Pihlainen: Performance and the Reformulation of Historical Representation, S. 16. Pihlainen: Of Closure and Convention, S. 194. Pihlainen: Of Closure and Convention, S. 195. Pihlainen nennt Claude Lanzmanns Film ›Shoah‹ (Performance and the Reformulation of Historical Representation, S. 13), doch verbleibt letztlich in einer rein theoretischen Diskussion, in der er sich an Hayden White abarbeitet.
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zusammenzubringen. Gerade die Möglichkeit, die Differenz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu dynamisieren, erweist sich für die deutsche Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts als grundlegend. Diese kann somit nicht nur der wahrheitsgetreuen Darstellung von historischen Ereignissen (referentielle Aufgabe) gerecht werden, sondern auch der erzählerischen Sinnbildung und Versprachlichung von Geschichte (narrative Aufgabe) sowie der geschichtsphilosophisch notwendigen Verschmelzung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Temporalisierung und Prozessualisierung von Geschichte (performative Aufgabe). Was ist also performative Geschichtsschreibung? Der Historiker analysiert, berichtet oder erzählt nicht einfach das Vergangene als etwas dem historiographischen Text Vorläufiges, sondern Geschichte wird durch den historiographischen Text inszeniert bzw. aufgeführt.159 Geschichtsschreibung referiert damit nicht ausschließlich auf etwas Vergangenes, sondern Geschichte wird präsentisch in ihrem Vollzug dargestellt. Der Modus performativer Geschichtsschreibung ist natürlich keineswegs durchgängig in einem historiographischen Text enthalten. Vielmehr kommt es in der Regel zu einem Wechsel von analytischen, beschreibenden, berichtenden, erzählenden und performativen Darstellungsformen, wie zum Beispiel im folgenden Kapitel zu Georg Forster ausgiebig vorgeführt wird. Der Begriff der Inszenierung entstand in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts aus dem kurz zuvor im Französischen geprägten Begriff ›miseen-scène‹. Das ›In die Szene setzen‹ bedeutete, ein dramatisches Werk vollständig zur Anschauung zu bringen, um durch äußere Mittel die Intention des Dichters zu ergänzen und die Wirkung des Dramas zu verstärken.160 Fischer-Lichte macht deutlich, dass Inszenierung als ästhetischer Begriff eng mit Wahrnehmung verknüpft ist,161 wie sich in der hier vorliegenden Untersuchung auch für die Geschichtsschreibung des späten 18. Jahrhunderts zeigt. Inszenierung und Performanz sind bisher in der 159
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Selbstverständlich gibt es auch in dieser Untersuchung nicht behandelte performative Geschichtsschreibung als Geschichte schaffende Geschichtsschreibung, die kein Text ist, sondern auf oralen Traditionen beruht oder durch andere Medien wie den Film vermittelt, was aber für die Fragestellung nach der Inszenierung von Geschichte im ausgehenden 18. Jahrhundert ausgeblendet werden kann. Erika Fischer-Lichte: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Begriffe. In: Geschichtswissenschaft und ›performative turn‹. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hrsg. von Jürgen Martschukat/Steffen Patzold. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 33–54, S. 41. Fischer-Lichte: Performance, Inszenierung, Ritual, S. 44.
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Forschung vorwiegend im Hinblick auf Kunst und Literatur in Beziehung gesetzt worden.162 Doris Kolesch und Annette Jael Lehmann stellen fest, dass Performanz und Inszenierung »intrikat aufeinander bezogen sind: Performanz braucht eine Szene, um sich vollziehen zu können. Zugleich ist das, was auf dieser Szene stattfindet und als solches wahrnehmbar wird, ein performativer Akt.«163 Die Kunst, insbesondere seit ihrer Autonomiewerdung im späten 18. Jahrhundert, besitzt die Freiräume, die historischen Fakten aus der Realität in fiktionaler Form zu verarbeiten und damit gegenwärtig zu machen.164 In der hier vorliegenden Untersuchung stehen hingegen die Inszenierungen zwischen Referenz und Selbst-Referenz im Vordergrund. Nur scheinbar besteht ein Widerspruch zwischen ›Inszenierung‹ als etwas Künstlerischem, Unnatürlichem, Selbstreflexivem und dem in Geschichtsschreibung behaupteten dokumentarischen bzw. faktischen Anspruch. Gerade die Historiker, die ›Realgeschichte‹ schreiben – in dieser Untersuchung Schiller und Archenholz –, setzen bei der Inszenierung von Geschichte die alte Regelrhetorik ein. Doch deren Funktion hat sich verschoben. Die rhetorischen Strategien werden nicht gebraucht, um durch Geschichtsschreibung und ihre Beispiele zu belehren (›docere‹), zu unterhalten (›delectare‹) und zu rühren (›movere‹), sowie das Geschehen zu plausibilisieren,165 sondern um den notwendigen Prozess von Geschichte zu inszenieren. Geschichte erhält also ihren Sinn in einer ästhetischen Re-Rhetorisierung. Diese Entwicklung verläuft parallel zum sprachphilosophischen Wechsel vom rhetorischen zum ästhetischen Darstellungs-Konzept im ausgehenden 18. Jahrhundert.166 Sprache wird nicht mehr an funktionale Systemzusammenhänge wie die Regelpoetik gebunden, sondern erhält einen Eigenwert, der nicht auf eine höhere Ordnung zu applizieren ist. Das ästhetische Subjekt, die Selbstreflexion 162 163
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Zu Sprachhandlungen in Literatur, siehe z. B. Angela Esterhammer: The Romantic Performative. Language and Action in British and German Romanticism. Stanford 2000. Doris Kolesch/Annette Jael Lehmann: Zwischen Szene und Schauraum – Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitskonstitution. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth. Frankfurt a.M. 2002, S. 347–365, hier: S. 363. Eine dokumentarische Wirkung von historischen Romanen oder Dramen entsteht eher indirekt, wenn der Leser vergisst, dass es sich um eine fiktive Darstellung von Geschichte handelt. Darüber hinaus wirken historische Fiktionen auf das kulturelle Gedächtnis der Menschen; viele scheinbar historische Fakten sind unbewusst durch ihre fiktionale Überlieferung in das Gedächtnis einer Kultur eingedrungen. Vgl. IV.3.3 (Anm. 133) im Schiller-Kapitel. Vgl. Winfried Menninghaus: ›Darstellung‹. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas. In: Was heißt ›Darstellen‹? Hrsg. von Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a.M. 1994, S. 205–226, insb. S. 206–212; siehe auch Jaeger/Willer: Einleitung, S. 22f.
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von Sprache und das Literarische in seiner modernen Fassung können entstehen, wie die ästhetische Re-Rhetorisierung der deutschen Geschichtsschreibung hilft, ein modernes Schreibverfahren zu entwickeln und ihr Sinnbildungsdefizit performativ zu überwinden. Der historiographische Text fungiert nun als ›Bühne‹167 der Geschichte, auf der die fortschreitende Geschichte für den Leser inszeniert wird. Die Geschichte wird als Prozess in Szene gesetzt. Hier zeigt sich, wie nach der Schriftvermehrung im 18. Jahrhundert performative, aus der oralen Tradition kommende Darstellungstechniken in schriftlichen Texten eingesetzt werden. Wie zuvor mit Hilfe von Kalle Pihlainen gezeigt wurde, wird Geschichte präsentisch. Beispielsweise erzählt Archenholz nicht einfach rückblickend, dass Friedrich II. die Schlacht bei Leuthen trotz großer Unterlegenheit durch taktisches Geschick gewann, sondern der Leser erfährt die Bewegungen dieser Schlacht beim Lesen, bis das Genie des Preußenkönigs den Sieg herbeiführt.168 Oder Schiller stellt den Geschichtsverlauf so dar, als ob der Prinz Wilhelm von Oranien die niederländische Regentin tatsächlich im Augenblick der Erzählung überzeugt, seinen Ratschlägen zu folgen, statt zu berichten, wie sie überzeugt worden ist.169 Auf diese Weise wird der scheinbar unauflösliche Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart ebenso vermittelt wie der von Referenz und Selbstreferenz. In dieser Vermittlung von Polaritäten liegt die besondere Leistungsfähigkeit des Performativen. Nach Erika Fischer-Lichte verlieren gerade dichotomische Begriffspaare wie Subjekt-Objekt in Aufführungen oder Performances ihre Polarität und Trennschärfe.170 Sybille Krämer und Marko Stahlhut haben Austins Verschiebung vom Begriffspaar konstativperformativ zur Unterscheidung zwischen lokutionären, illokutionären und perlokutionären Äußerungen als Dynamik des Performativen, die begriffliche Gegensätze kollabieren lässt,171 herausgearbeitet: 167
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Fischer-Lichte zeigt, dass die Theaterbegrifflichkeit, in der Regel aus heuristischen Gründen verwendet wird (Performance, Inszenierung, Ritual, S. 53). Die Bedeutung des Bühnen- und Theatervokabulars für die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts wird in den konkreten Untersuchungen, gerade in den Kapiteln zu Herder, Schiller und Archenholz, noch deutlicher werden. Siehe V.3 sowie den Prolog. Siehe IV.6. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 33; S. 294f. Sybille Krämer/Marco Stahlhut: Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. In: Theorien des Performativen. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf. Sonderheft. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10 (2001), S. 35–64, hier: S. 56. Vgl. auch Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2001, insb. das
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Während Austins konstatierende Stimme in sprechakttheoretischen Termini feststellt, daß die Monopolstellung der assertorischen Rede falsch ist, insofern zu konstatieren nur noch ein Modus der Rede neben anderen illokutionären Modi ist, zeigt seine performative Stimme zugleich, daß allen sprach-philosophischen Bemühungen, die Phänomene reinlich zu sortieren und die diese Phänomene beschreibenden Begriffe definitorisch auszubuchstabieren, ein latentes Scheitern innewohnt.172
In der performativen Geschichtsschreibung werden zwei binäre Unterscheidungen miteinander vermittelt. Die Begriffe scheinen sich auszuschließen und dennoch erscheinen sie gleichzeitig als gültig. Das heißt, das binäre Schema ist bedeutsam, aber nicht stabil. Wie bereits angedeutet wurde, ist das erste binäre Schema das von Vergangenheit und Gegenwart, das zweite das von Referenz und Selbstreferentialität. Performative Geschichtsschreibung gewinnt das Präsentische, indem Geschichte stattzufinden scheint, statt auf das Vergangene als etwas Außer-Textuelles Bezug zu nehmen. Doch dies führt nicht zur vollständigen Aufhebung der Dichotomien zur jeweils anderen Seite. Der historiographische Text verbleibt referentiell und auf das Vergangene bezogen, indem er die dargestellten Erzähltechniken nutzt, um Sinn zu produzieren und historische Fakten und Ereignisse zu vertexten. Hier lässt sich an Martin Seels ästhetische Überlegungen zum Begriff der Inszenierung anschließen (auch wenn diese nicht auf Geschichte bezogen sind). Seel geht es um die »Inszenierung von Gegenwart«; die Inszenierung stellt Gegenwart her und heraus.173 Auch wenn er selbstreferentieller Kunst einen besonderen Rang einräumt,174 ist es möglich, gerade bei historischer Performativität das Gegenwärtige des Vergangenen, das in der Darstellung herausgestellt wird, als besonders bedeutsam zu erkennen. Die Präsenz existiert allerdings nicht ausschließlich in der Inszenierung, sondern behält zugleich ihren referentiellen Status bei. Damit wird anders als in Seels und Fischer-Lichtes175 Ansätzen die Gegenwart nicht alleine als reine Präsenz herausgestellt, sondern gezeigt, dass Geschichtsschreibung nur in der Vermittlung der Unterscheidung ›Vergangenes – Gegenwärtiges‹ ihre performative Wirkung entfaltet.
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achte Kapitel ›John L. Austin. Performative und konstatierende Äußerungen. Warum läßt Austin diese Unterscheidung zusammenbrechen?‹ (S. 135–153). Krämer/Stahlhut: Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie, S. 44. Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Ästhetik der Inszenierung. Hrsg. von Josef Früchtl/Jörg Zimmermann. Frankfurt a.M. 2002, S. 48–62, hier: S. 53. Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen, S. 58f. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, insb. S. 325–332; S. 350–362.
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Das zweite binäre Schema, das in performativer Geschichtsschreibung dynamisiert wird, ist das von Referentialität und Selbstreferentialität. Uwe Wirth führt aus, dass der Begriff der Selbst- oder Autoreferentialität auf doppelte Weise mit poetischer Sprachverwendung verknüpft wird.176 Einerseits vertreten die strukturalistischen und rezeptionsästhetischen Theoretiker wie Roman Jakobson und der frühe Wolfgang Iser die Ansicht, dass die illokutionäre Kraft aller Sprechakte bei poetischer Sprachverwendung sinke und das poetische Zeichen an Bedeutung gewinne. Andererseits berufen sich einige neuere Performanztheorien gerade darauf, dass die performative Funktion die referentielle, konstative oder repräsentative Sprachfunktion ersetze.177 Für die Geschichtsschreibung – als Text – ist jedoch eine klare Opposition zwischen Referenz und Selbstreferenz problematisch. Geschichtsschreibung kann eine selbstreferentielle Komponente erhalten, indem sie ihre eigene Entstehung im Text mit zur Schau stellt.178 Hier ist das Performative tatsächlich dem Referentiellen oder Konstativen entgegengesetzt, allerdings ohne Geschichtsschreibung vollends selbstreferentiell zu machen. Der historiographische Text verbleibt in der Schwebe zwischen Referentiellem und Selbstreferentiellem. Mit Wirth ist festzuhalten, dass sich die poetische Funktion gerade nicht auf das Verhältnis von sprachlicher Handlungsbeschreibung und außersprachlichem Handlungsbezug bezieht, sondern darauf, »daß sich an der Struktur der sprachlichen Beschreibung das zeigt, was beschrieben wird. Neben die Performativität tritt hier eine bestimmte Form selbstreflexiver poetischer Indexikalität.«179 Der historiographische Text reflektiert seine eigene Entstehung als Entstehung der Geschichte. Diese wird nicht ausschließlich referiert, sondern vollzogen. Das Vergangene wird im schrift176 177
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Wirth: Der Performanzbegriff, S. 26f. Wirth kritisiert letztere Auffassung, indem er zeigt, dass Selbstreferentialität expliziter Performativa nur unter der Voraussetzung zustande kommt, dass die Beschreibung der Handlung durch das entsprechende Wort und der außersprachliche Handlungsvollzug durch das Äußern des entsprechenden Wortes zusammenwirken (Wirth: Der Performanzbegriff, S. 27). Auch für performative Geschichtsschreibung ist Selbstreferentialität ohne Referentialität und außertextuellen Bezug unmöglich. Für erste Anwendungen eines solchen Konzeptes performativer Geschichtsschreibung, siehe zum performativen Erzählen von Gender, Stephan Jaeger: Erzählen und Lesen von ›gender‹ in der Historiographie. In: Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme. Hrsg. von Sigrid Nieberle/Elisabeth Strowick. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 315–334, insb. S. 326–332; sowie zur Inszenierung historiographischer Wahrnehmung, Stephan Jaeger: Geschichte als Wahrnehmungsprozess. Ihr selbstreflexiver Vollzug in der Geschichtsschreibung. In: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Hrsg. von Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning. Berlin/New York 2003, S. 123–140. Wirth: Der Performanzbegriff, S. 27.
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lichen Text in Szene gesetzt. Damit verändert aber diese performative Geschichtsschreibung auch das Konstrukt des Vergangenen, wie performative Sprachäußerungen die Welt verändern. Sie erzeugt die Notwendigkeit von Abläufen und setzt die Temporalisierung von Geschichte in ihrem Vollzug um. Geschichtsschreibung gewinnt eine nur ästhetisch zu behauptende Erkenntnisfunktion. Hier lässt sich erläuternd auf ein Parallelbeispiel aus der Kunst Bezug nehmen. Wolfgang Iser versteht Performanz im Zusammenspiel mit der Mimesis als Erzeugung, als produktive Hervorbringung eines Überschusses im Verhältnis des Menschen zur Natur, der so in der Natur noch nicht existent sein konnte.180 Die Performanz ist die Leerstelle der Mimesis, weil sich die Hervorbringung aus der Nachahmung nicht ableiten lässt.181 Mit Adorno bestimmt Iser die besondere Leistung des Kunstwerks im Riss als Einspruch gegen die Verdinglichung, wodurch der mimetische Impuls objektiviert wird: »Im Riß […] besitzt das Kunstwerk seine Referenz, die ihn als die Quelle der Performanz erscheinen läßt.«182 Diese Doppelung von Mimesis und Performanz lässt sich auch in der deutschen Geschichtsschreibung des späten 18. Jahrhunderts nachweisen, die zum einen ihren Referenzanspruch behauptet, während sie zum anderen den historischen Prozess selbst vollzieht.183 Nicht das Performative als solches ist unabschließbar, wie es Kolesch und Lehmann für die Kunst sehen,184 sondern die Inszenierung der Spannung zwischen historischer Referenz und Vollzug. Für die gerade dargelegte performative Spannung ist zuletzt der Begriff des Ereignisses von besonderer Bedeutung. Seit den 1920er Jahren erfolgte insbesondere durch die ›Annales‹ eine sozialwissenschaftliche Wende in der Geschichtswissenschaft, wodurch sich eine problemorien180 181 182 183
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Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. 1991, S. 485f. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 486. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 497f. Der Begriff der Poiesis dient auch Hayden White zur Unterscheidung von historischer Chronik und historiographischer Erzählung: »The point is that narrativization produces a meaning quite different from that produced by chronicalization. And it does this by imposing a discursive form on the events that its own chronicle comprises by means that are poetic in nature; that is, the narrative code is drawn from the performative domain of poiesis rather than of noesis.« (Hayden White: The Question of Narrative in Contemporary Historical Theory (1984). In: White, The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation. Baltimore/London 1987, S. 26–57, hier: S. 42). White verschenkt allerdings etwas vom Potential dieser wichtigen Beobachtung, indem er Poiesis umgehend wieder auf die Erschaffung einer Geschichte (›story‹), also vornehmlich auf die Verfabelung, beschränkt (Ebd., S. 43). Kolesch/Lehmann: Zwischen Szene und Schauraum, S. 363.
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tierte, analytische Geschichte entwickelte, die die ganze Palette menschlichen Handelns – u. a. als Alltagsgeschichte – untersuchen und mit anderen Disziplinen – wie Wirtschaftswissenschaft, Soziologie und Geographie – vernetzen konnte. 1979 prägt Laurence Stone – in Abgrenzung von sozialwissenschaftlich strukturorientierten Ansätzen – die Schlagworte von der ›Revival of Narrative‹ sowie der ›New Old History‹, also der wieder erzählenden Geschichte.185 Er beschreibt die Tendenz gerade etablierter Historiker – wie Georges Duby oder Emmanuel Le Roy Ladurie – zum Erzählen zurückzukehren. Seitdem führt die Geschichtswissenschaft eine methodologische Diskussion über den Begriff des historischen Ereignisses, verbunden mit der Frage, wie Ereignis und Struktur zusammenhängen.186 Zugleich ist der Ereignisbegriff grundlegend für das Performative von Geschichtsschreibung, weil er anders als der Strukturbegriff nicht nur die Erzählung von einem Ereignis, sondern auch performativ das sich vollziehende Ereignis umfasst. Das Performative in Kunst und Ästhetik steht für sich selbst.187 Kunst findet zum Beispiel in der Aktion statt; das Theater bezieht den Zuschauer mit ein, ist also nicht vorher vollends festgelegt, sondern abhängig von der gegenwärtigen performativen Aufführung.188 Jacques Revel beschreibt die Wiederkehr des Ereignisses in der Geschichtswissenschaft mit Bezug auf Untersuchungen von Natalie Davis und Robert Darnton wie folgt: »Das Ereignis hat den Status eines exemplarischen Anlasses: Es schafft Zugang, oder einfacher ausgedrückt, es erlaubt einen Blick auf etwas anderes, das über das Ereignis 185
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Laurence Stone: The Revival of Narrative. Reflections on a New Old History. Past and Present 85 (1979), S. 3–24. Der Kontrast zwischen Struktur und Erzählen markiert vornehmlich das dominante Paradigma. Auch eine vorwiegend strukturorientierte Geschichtsschreibung hat das Erzählen letztlich nie aufgegeben (Ebd., S. 4). Siehe auch Peter Burke: History of Events and the Revival of Narrative. In: New Perspectives on Historical Writing (1991). Hrsg. von P. Burke. University Park, PA 2001, S. 283–300. Siehe hierzu insbesondere Struktur und Ereignis. Hrsg. von Andreas Suter/Manfred Hettling. Sonderheft 19. Geschichte und Gesellschaft. Göttingen 2001; sowie Martin Fitzenreiter (Hrsg.): Das Ereignis. Geschichtsschreibung zwischen Vorfall und Befund. London 2009, vorwiegend an Beispielen der Archäologie. Für einen an Foucault orientierten diskursiven Ereignisbegriff, siehe Thomas Rathmann: Ereignisse, Konstrukte, Geschichten. In: Ereignis. Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Hrsg. von T. Rathmann. Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1–19. Dorothee Kimmich: »Ist das eine Schlacht?« Stendhal, Flaubert, Heine und Immermann. Erzählen von Ereignissen, S. 45–62, macht hierin besonders deutlich, wie z. B. bei Stendhal das Ereignis erst performativ durch die Erzählung entsteht (Ebd., S. 53). Siehe z. B. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2002, S. 13. Das Performative sei eine Kunst ohne Werk (Ebd., S. 245). Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 9–30.
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hinausweist und mit ihm kein gemeinsames Maß hat.«189 Ereignisse, eigentlich nur Begebenheiten, werden erst im historischen Prozess solche. Andreas Suter und Manfred Hettling summieren den Ereignisbegriff aus sozialgeschichtlicher Perspektive durch drei Charakteristika: erstens die Erschütterung der gängigen Vorstellungen für die Zeitgenossen; zweitens sind die Maßstäbe, durch die das Erschütternde oder Überraschende von normalen Erfahrungen unterschieden werden kann, kollektiver Natur; und drittens haben Ereignisse »im Unterschied zu bloßen Geschehen strukturverändernde Folgen […], die von den Akteuren wahrgenommen werden«.190 Auch wenn in der hier vorliegenden Untersuchung weniger das sozialgeschichtliche Problem der Spannung zwischen Struktur und Ereignis im Vordergrund steht, ist der sozialgeschichtliche Ereignisbegriff hilfreich, um die Dimensionen einer performativen Geschichtsschreibung präziser fassen zu können. Noch deutlicher wird dies mit Hilfe von Paul Ricœurs Theoriemodell aus ›Zeit und Erzählung‹. Dieser übernimmt von Louis O. Mink191 die Unterscheidung einer episodischen Dimension von Erzählung und einer konfigurierenden Dimension, durch die die Fabel die Ereignisse in Geschichte verwandelt. Ricœur entwickelt einen dreifachen Begriff der Mimesis: Den der Präfiguration in der vorgängigen, aber immer schon symbolisch vermittelten Ausgangswelt (Mimesis I), der Konfiguration in den Welten der historischen und fiktionalen Erzählung (Mimesis II) und der Refiguration in der Welt des Lesers (Mimesis III).192 Die Mimesis II entfaltet sich als Wechselspiel zwischen Neuschöpfung und Sedimentierung, Einbildungskraft und Tradition.193 Zwar werden in den hier vorliegenden Überlegungen zur performativen Geschichtsschreibung nicht Ricœurs anthropologische Ansprüche zur Erfassung der Geschichtskonstitution aller Erzählung geteilt, dennoch hilft dessen triadische Mimesistheorie zu erklären, wie das Ereignis in performativer Geschichtsschreibung ver189
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Jacques Revel: Die Wiederkehr des Ereignisses – ein historiographischer Streifzug. In: Struktur und Ereignis. Hrsg. von Andreas Suter/Manfred Hettling. Sonderheft 19. Geschichte und Gesellschaft. Göttingen 2001, S. 158–173, hier: S. 166. Andreas Suter/Manfred Hettling: Struktur und Ereignis – Wege zu einer Sozialgeschichte des Ereignisses. In: Struktur und Ereignis. Hrsg. von A. Suter/M. Hettling. Sonderheft 19. Geschichte und Gesellschaft. Göttingen 2001, S. 7–32, hier: S. 24f., Zitat auf S. 25. Louis L. Mink: The Autonomy of Historical Understanding. History and Theory 5 (1965), S. 24–47. Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1. Zeit und historische Erzählung. 1988 (1983), S. 87–135. Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1, S. 110f.
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wandelt wird, wobei die Verfabelung (die Mimesis II) die performative Dimension als parallelen Prozess beiseite gestellt bekommt. Ob die erste Begegnung zwischen den Europäern und den Maori in Forsters Darstellung,194 Friedrichs Siege bei Leuthen oder bei Torgau in Archenholz’ Geschichtsdarstellung195 oder der Bildersturm in der Rebellion der Niederlande bei Schiller,196 alle Begebenheiten werden erst zu einem historischen Ereignis. Einerseits haben sie im Sinne Revels einen exemplarischen Anlass, andererseits weisen über sich selbst hinaus. Der Historiker führt dann vor, wie diese Ereignisse strukturverändernde Bedeutung für kollektive Gruppen haben bzw. konfiguriert diese als Erzählung. Dies geschieht aber nicht einfach, indem er rückblickend das Ereignis in einer temporalen Struktur erzählt, sondern indem die Bedeutungsgewinnung der Struktur vor den Augen der Leser vollzogen wird: ob dies die Sehnsüchte der Menschen zurück zur Natur wie zugleich zu mehr Zivilisation sind (Forster),197 die Fortentwicklung der Menschheit bei gleichzeitiger Fortschrittskritik (Herder),198 oder ob in der Realgeschichtsschreibung ein Geschehen wie die Zerstörung der Kathedrale von Antwerpen ausgedrückt wird, das sich in seiner Bedeutung vollzieht und so den Prozess zur Freiheit der Menschen durchspielt (Schiller).199 Geschichtsschreibung nutzt also das dramatische Moment, wie hier bei allen im Zentrum stehenden Autoren zu sehen ist. Geschichte wird für Zuschauer bzw. Leser doppelt inszeniert: einerseits für ›Leser-Figuren‹ im Text, andererseits für den Leser von Geschichtsschreibung (außerhalb des Textes). Die Beobachtung des Geschehens von Geschichte wird für die performative Geschichtsschreibung zentral. In der deutschsprachigen Geschichts- und Metageschichtsschreibung im ausgehenden 18. Jahrhundert werden also einzelne Begebenheiten zu Ereignissen, die dann übergreifende Prozesse darstellen. Der geschichtliche Prozess wird in seiner Notwendigkeit in Szene gesetzt. In der Explizitheit dieser performativen Darstellungsdimension liegt der entscheidende Unterschied zur britischen Geschichtsschreibung. Sinnbildung findet nicht nur als Erzählakt, der die vielen historischen Begebenheiten sinnvoll versprachlichen kann, statt, sondern zugleich als performativer Akt, in dem historische Ereignisse vollzogen werden. 194 195 196 197 198 199
Siehe II.3. Siehe V.2 und V.3. Siehe IV.5. Siehe insb. II.5. Siehe Kapitel III. Siehe IV.5.
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3.2.
Textuelle Geschichtswelten
Performative Geschichtsschreibung – im Sinne historiographischer und metahistoriographischer Texte, wie sie hier diskutiert werden – erschafft also im historiographischen Darstellen, zum Beispiel im Akt des Erzählens, eine präsentische Dimension. Sie kreiert eine eigene Welt, unabhängig davon, dass sie zugleich etwas vorher Geschehenes, also etwas Außer-Textuelles, denotiert. Konsequenterweise ist davon auszugehen, dass Geschichtsschreibung durchaus historische Textwelten bzw. textuelle Geschichtswelten200 erzeugen kann, ohne zugleich Fiktion zu werden. Geschichtsschreibung ist also nicht ausschließlich nachahmend, sondern besitzt eine poietische Schaffenskraft201 – eine Feststellung, mit der die aristotelische Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung unterlaufen wird.202 Die Möglichkeit, Geschichtsschreibung derart in ihrer textuellen Gemachtheit zu untersuchen, wurde durch den so genannten ›linguistic turn‹ der 1960er und 70er Jahre geschaffen.203 Hieraus resultierte gerade in den 200
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202 203
Der Begriff der ›textuellen Welten‹ ist präziser, um die in dieser Untersuchung notwendige dritte Kategorie, die zwischen historischen und fiktionalen Welten benötigt wird, zu bestimmen, weil diese Untersuchung sich ausschließlich auf historiographische Texte konzentriert. Diskutiert man in Theorien historischer Darstellung, Erzählung und Inszenierung allerdings auch außertextuelle oder intermediale Textsorten wie Museumsinstallationen, Geschichtsdenkmäler oder historische Dokumentarfilme, ist es sinnvoll, den Begriff der ›textuellen Welten‹ zu ›poietischen Welten‹ zu erweitern. Zur poietischen Schaffenskraft von Historiographie, siehe Stephan Jaeger: Poietic Worlds and Experientiality in Historiographic Narrative. In: Historiographic Narrative. Ed. Julia Nitz. Sonderheft SPIEL (Siegener Periodicum for International Empiricist Literary scholarship) (2011). Im Druck. Siehe I.2.2. Der ›linguistic turn‹ in der Geschichtswissenschaft ist inzwischen so ausgiebig diskutiert worden und in die Forschungspraktiken eingegangen, dass hier nur grundlegende Arbeiten genannt werden und im Folgenden unter einzelnen theoretisch relevanten Aspekten besonders diskutiert werden. Siehe als grundlegend für die Geschichtsdarstellung insbesondere Arthur C. Danto: Narration and Knowledge. Including the Integral Text of Analytical Philosophy of History (1965). New York 1985; Roland Barthes: Historie und ihr Diskurs (1967). Alternative 11 (1968), S. 171–180; Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981; White: Metahistory; White: Tropics of Discourse; White: The Content of the Form; Gossman: Between History and Literature; Dominick La Capra: History and Criticism. Ithaca, NY/London 1985; sowie Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Eine ausführliche Zusammenfassung zu den theoretischen Reflexionen der ersten gut 25 Jahre Diskussion von Textualität und Geschichtstheorie findet sich bei Gerhild Scholz-Williams: Geschichte und die literarische Dimension. Narrativik und Historiographie in der anglo-amerikanischen Forschung der letzten beiden Jahrzehnte. Ein Bericht. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 315–392; siehe für die frühe Phase außerdem Richard T. Vann: Turning Linguistic. History and Theory and ›History and Theory‹. 1960–1975. In: A New
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vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten die vielfache und facettenreiche Beschäftigung mit dem Thema von ›Literatur und Geschichte‹,204 was zu einer Neubewertung des Verhältnisses von ›Kunst und Wissenschaft‹ in allen human- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen geführt hat. Zudem ist der Textbegriff erheblich erweitert worden: Texte aus den Geschichtswissenschaften, der Soziologie, der Alltagskultur bis hin zu den Naturwissenschaften werden nun auch auf ihre Machtart, ihre Erzählstrukturen, die ihnen impliziten ästhetischen Muster sowie ihre Semiotik und Rhetorik analysiert.205 In der deutschen Forschung lassen sich vier grundsätzliche Reaktionen auf den ›linguistic turn‹ unterscheiden. Erstens werden die kognitiven und
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Philosophy of History. Hrsg. von Frank Ankersmit/Hans Kellner. Chicago/London 1995, S. 40–69. Vgl. zum ›linguistic turn‹ auch Ernst Hanisch: Die linguistische Wende. Geschichtswissenschaft und Literatur. In: Kulturgeschichte Heute. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler. Sonderheft 16. Geschichte und Gesellschaft. Göttingen 1996, S. 212–230; sowie Peter Schöttler: Wer hat Angst vor dem ›linguistic turn‹? Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134–151. Zur Rolle Foucaults, siehe auch Paul Veyne: Foucault. Die Revolutionierung der Geschichte (1978). Frankfurt a.M. 1992. Für den Zusammenhang von Erzählung und Geschichte aus sprachphilosophischer Sicht, siehe insbesondere die Arbeiten F.R. Ankersmits, die gemeinhin als ›narrativism‹ bezeichnet werden, insbesondere F.R. Ankersmit: Historical Representation. Stanford 2001; sowie F.R. Ankersmit: Sublime Historical Experience. Stanford 2005. Siehe Fulda: Wissenschaft aus Kunst; Daniel Fulda: Die Texte der Geschichte. Zur Poetik modernen historischen Denkens. Poetica 31 (1999), S. 27–60; Daniel Fulda/Silvia Verena Tschopp (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York 2002; Kalle Pihlainen: The Moral of the Historical Story. Textual Differences in Fact and Fiction. New Literary History 33 (2002), S. 39–60; sowie Alun Munslow: Narrative and History. Basingstoke/New York 2007. Siehe auch u. a. Stephen Bann: The Clothing of Clio. A Study of the Representation of History in Nineteenth-Century Britain and France. Cambridge u. a. 1984; Gearhart: The Open Boundary; Ann Rigney: The Rhetoric of Historical Representation. Three Narrative Histories of the French Revolution. Cambridge u. a. 1990; Philippe Carrard: Poetics of the New History. French Historical Discourse from Braudel to Chartier. Baltimore/London 1992; Ann Rigney: Imperfect Histories. The Elusive Past and the Legacy of Romantic Historicism. Ithaca, NY/London 2001; Axel Rüth: Erzählte Geschichte. Narrative Strukturen in der französischen Annales-Geschichtsschreibung. Berlin/New York 2005. Als jüngste Sammlung von Historikern zum Problemkomplex der Erzählung von Geschichte siehe auch Martin Baumeister/Moritz Föllmer/Philipp Müller (Hrsg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung. Göttingen 2009. Siehe insbesondere die Beiträge in Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch. intermedial. interdisziplinär. Trier 2002, sowie jüngst in Sandra Heinen/Roy Sommer (Hrsg.): Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Research. Berlin/New York 2009; sowie in Christian Klein/Matías Martínez (Hrsg.): Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart/ Weimar 2009. In letzterem Band werden neben dem Erzählen im historiographischen Diskurs u. a. das Erzählen im juristischen, medizinischen, naturwissenschaftlichen, ökonomischen, christlich-religiösen und politischen Diskurs untersucht.
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logischen Dimensionen des historischen Sinnbildungsprozesses in den Blick genommen.206 Zweitens ist eine wiederbelebte Geschichtsphilosophie zu erkennen, die sich auf die ontologischen Beziehungen zwischen Geschichte und Erzählung und die Frage der Historizität menschlichen Wissens und dessen Verknüpfung zur Sprache konzentriert.207 Drittens arbeiten Historiker – insbesondere in den Bereichen der Kulturanthropologie und Alltagsgeschichte – daran, die Geschichte im Dialog mit der Kulturanthropologie besser zu verstehen.208 Viertens – wie in dieser Untersuchung ausgeführt – wird die Darstellungsebene der Geschichtsschreibung auf ihre narrativen und ästhetischen Konstruktionen und Effekte untersucht.209 Unter den Bedingungen des ›linguistic turn‹ kann Geschichte also nicht mehr als etwas Sprach- und Erfahrungsunabhängiges angesehen werden, sondern jeder Ausdruck von Geschichte ist unhintergehbar an die sprachliche Vermittlung geknüpft, wie auch Geschichte nicht außerhalb der sie und den Historiker prägenden Diskurse denkbar ist. Die Geschichtsschreibung täuscht das Reale letztlich nur vor; es entsteht der 206
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Siehe hierzu allen voran die bereits genannten Arbeiten von Horst Walter Blanke und Jörn Rüsen; zudem Horst Walter Blanke/Jörn Rüsen (Hrsg.): Von der Aufklärung zum Historismus. Paderborn 1984; Horst Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. Siehe z. B. Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1972; H.M. Baumgartner: Philosophie der Geschichte nach dem Ende der Geschichtsphilosophie. Bemerkungen zum gegenwärtigen Stand des geschichtsphilosophischen Denkens. Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 12,3 (1987), S. 1–21; Herta Nagl-Docekal: Ist Geschichtsphilosophie heute noch möglich? In: Der Sinn des Historischen. Geschichtsphilosophische Debatten. Hrsg. von H. Nagl-Docekal. Frankfurt a.M. 1996, S. 7–63; Johannes Rohbeck: Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie. Frankfurt a.M. 2000; Heinz Dieter Kittsteiner: Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 67–77; H.D. Kittsteiner: Die Rückkehr der Geschichte und die Zeit der Erzählung. IASL (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur) 27 (2002), S. 185–207; Johannes Rohbeck/Herta Nagl-Docekal (Hrsg.): Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien. Darmstadt 2003; Jürgen Trabant (Hrsg.): Sprache der Geschichte. München 2005. Siehe z. B. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Hrsg. von Berliner Geschichtswerkstatt. Münster 1994, S. 139–153; oder mit Bezug auf die Theorien von Michel de Certeau Marian Füssel: Die Rückkehr des ›Subjekts‹ in der Kulturgeschichte. Beobachtungen aus praxeologischer Perspektive. In: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte. Hrsg. von Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning. Berlin/New York 2003, S. 141–159. Das Kapitel IV.2 ›Die Rezeptionsgeschichte von Schiller als Historiker‹ ist so ausführlich gestaltet, damit diese unterschiedlichen Ansätze am Fall Schiller demonstriert werden können.
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Anschein einer unmittelbaren Äquivalenzbeziehung zwischen der historiographischen Darstellung und den Referenten der ›realen‹ historischen Welt.210 Diese Erkenntnisse und Thesen haben in den 1990er Jahren eine grundlegende Debatte darüber hervorgerufen, inwiefern alle Geschichte ausschließlich fiktiv oder ausschließlich faktisch sei; es wurde, anders ausgedrückt, die Frage gestellt, wie ›literarisch‹ der wissenschaftliche Diskurs ›Geschichte‹ über Geschichte schreiben darf (u. a. zeigt sich dies in der Extremposition, inwiefern es historische Fakten gibt oder geben kann211). Zum Teil beruhte allerdings die Schärfe des Streites auf klaren Missverständnissen. Hayden White ist oft für seine Gleichsetzung von Fiktion und Geschichte (›history‹) kritisiert worden. Ein etwas genauerer Blick zeigt jedoch, dass White in seinem ersten Buch ›Metahistory‹ das Wort ›Fiktion‹ überhaupt nicht verwendet. Sämtliche entscheidenden Sätze zur scheinbaren Gleichsetzung von Literatur und Fiktion finden sich in der theoretischen Essaysammlung ›Tropics of Discourse‹. Im Essay ›The Historical Text as Literary Artifact‹ schreibt White: »This question [die bis dahin von Philosophen und Historikern unbeachtet geblieben sei, SJ] has to do with the status of the historical narrative, considered purely as a verbal artifact purporting to be a model of structures and processes long past and therefore not subject to either experimental or observational controls.«212 Er versucht den traditionellen Blick des Historikers auf das Textuelle umzulenken, das – wie unten noch genauer ausgeführt werden wird – nicht überprüfbar ist. White fährt einige Sätze später fort: »[…] there has been a reluctance to consider historical narratives as what they most manifestly are: verbal fictions, the contents of which are as much invented as found and the forms of which have more in common with their counterparts in literature than they have with those in the sciences.«213 210 211
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Barthes: Historie und ihr Diskurs, S. 179f. Siehe z. B. den gegen Hayden White (›Tropics of Discourse‹; ›The Content of the Form‹) argumentierenden Richard Evans: In Defence of History. London 1997. Vgl. auch im Allgemeinen die Diskussionen um postmoderne Geschichtsschreibung; z. B. in der Debatte von F.R. Ankersmit und Perez Zagorin; siehe F.R. Ankersmit: Historiography and Postmodernism. History and Theory 28 (1989), S. 137–153; Perez Zagorin: Historiography and Postmodernism. Reconsiderations. History and Theory 29 (1990), S. 263–274; F.R. Ankersmit: Reply to Professor Zagorin. History and Theory 29 (1990), S. 275–296; Perez Zagorin: History, the Referent, and Narrative. Reflections on Postmodernism Now. History and Theory 38 (1999), S. 1–24. Im Jahr 2001 argumentiert Ankersmit in ›Historical Representation‹ dann deutlich gemäßigter bezüglich des Zusammenhangs zwischen Literatur und Geschichtsschreibung. Hayden White: The Historical Text as Literary Artifact (1974). In: White, Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore/London 1978, S. 81–100, hier: S. 82. White: The Historical Text as Literary Artifact (in: Tropics of Discourse), S. 82.
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Der zweite Teil von Whites These, dass die Formen historischer Erzählung der Literatur näher als den Naturwissenschaften seien, erscheint wenig kontrovers. Der erste Teil ist komplexer: Geschichte existiert, wenn jemand sie erzählt. Entsprechend ist sie ein Konstrukt; sie ist versprachlichte Vergangenheit.214 Aber warum sind historische Erzählungen Fiktionen (»fictions«)? Warum sind sie »as much invented as found«? White scheint hier zu implizieren, dass Erzählung notwendigerweise zur Fiktion führe. Lubomír Doleˇzel zeigt anhand der gerade zitierten Passage, dass White nicht durch Analyse, sondern durch schiere Substitution von Synonymen zu einer doppelten Gleichung kommt: »plot structuring = literary operation = fiction-making«.215 White setzt also ›Fiktion‹ im Sinne der narrativen Strukturierung bzw. Verfabelung (›emplotment‹)216 mit Fiktionalisierung und literarischem Verfahren gleich. Durch diesen ungenauen Gebrauch des Fiktionsbegriffs217 wird die Grundsatzdebatte ausgelöst, ob 214 215
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White übergeht hier, dass auch eine Geschichte in Bildern oder Gesten möglich ist. Lubomír Doleˇzel: Fictional and Historical Narrative. Meeting the Postmodernist Challenge. In: Narratologies. New Perspectives in Narrative Analysis. Hrsg. von David Herman. Columbus, OH 1999, S. 247–273, hier: S. 250f. Whites grundlegende, wenn auch recht statische Ergebnisse zur Plotstrukturierung und historiographischem Stil mithilfe literaturwissenschaftlicher Gattungsbegriffe – Romanze, Satire, Komödie, Tragödie, angelehnt an die typologische Poetik von Northrop Frye (Metahistory, insb. S. 29–38; Interpretation in History (1972–73). In: White, Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore/London 1978, S. 51–80, insb. S. 70–75) – ermöglichen, Geschichtserzählung nicht nur in ihren logischen sondern auch in ihren poetischen Bezügen zu begreifen. Vgl. auch Stephan Jaeger: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera Nünning/Ansgar Nünning. Trier 2002, S. 237–263, insb. S. 242–244. Siehe hierzu auch Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1, S. 242–254. Ricœur argumentiert im Sinne von Whites doppeltem Projekt: Einerseits wolle dieser den Erzählzusammenhang zwischen Geschichtswissenschaft und traditioneller und mythischer Erzählung problematisieren, andererseits gegenüber der Literaturkritik der 1960er und früheren 1970er Jahre deutlich machen, dass die damals kategoriale Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Realen zu hinterfragen sei (Ebd., S. 244). Ricœur kritisiert White dann mithilfe seines Konzepts der Mimesis 2 – der Konfiguration in den Welten der historischen und fiktionalen Erzählung (vgl. I.3.1) und sieht die Fabelkomposition (Konfiguration) als grundlegende Vermittlungsinstanz zwischen Erzählen und Erklären (Ebd., S. 254). An diesen Ansatz schließen – wie bereits dargestellt – Forscher wie Daniel Fulda (Wissenschaft aus Kunst) und Angelika Epple (Empfindsame Geschichtsschreibung) an. Siehe auch Ansgar Nünning: »Verbal Fictions?« Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. N.F. 40 (1999), S. 351–380. Nünning führt, ähnlich wie zuvor bei Doleˇzel gesehen, vor, dass die Beschränkung der Diskussion auf den Aspekt der Narrativität bzw. der Plotstrukturierung, gerade die pragmatische Unterscheidung zwischen Fiktion und Geschichte, z. B. durch Wirklichkeitssignale, außer Acht lässt (zur Diskussion von Narrativität siehe unten). Darüber hinaus argumentiert Nünning für die größeren Freiräume der Fiktion auf der paradigmatischen Achse bei der Auswahl des Materials und der Konstitution des Textmaterials und be-
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alle Geschichtsschreibung Fiktion sei. Das Problem der polemischen Debatte um Whites Gleichstellung von Literatur und Geschichtsschreibung als ›Fiktionen‹ liegt darin, dass die Begriffe Fiktion und Fiktionalität in sehr unterschiedlichen Rahmen verwendet werden bzw. wurden. Dies wurde zum Beispiel von Ann Rigney deutlich gezeigt.218 Rigney sieht – abgeleitet vom lateinischen Wort ›fingere‹ – zumindest vier grundsätzlich zu unterscheidende Bedeutungen von Fiktion: Fiktion kann als Fiktives (›fictive‹) einfach das Konstruierte sein, das nicht vorgefunden, sondern geschaffen wird. Zweitens kann das Wort das Fingierte oder Erfundene (›fictitious‹ oder ›invented‹) bezeichnen, das sich vom Realen bzw. Wirklichen absetzt. Die dritte Bedeutung ist Fiktion als Fiktionales (›fictional‹), als Möglichkeit bzw. Hypothese (›make-believe‹), als ›als ob‹. Hierbei ist wichtig, dass der Text seinen Fiktionalitätsstatus andeutet und die Leser bzw. Hörer diesen als legitim akzeptieren.219 Abschließend verweist Rigney auf die Verwendung für Fiktion als Synonym für alle Literatur, oft auch spezifisch für den Roman. Letztere Definition wird oft im Kontrast zur Geschichtsschreibung verwandt.220 Wenn White von »verbal fictions« spricht, provoziert dies aufgrund der verschiedenen Facetten des Fik-
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schreibt die Unterschiede zwischen Geschichtsschreibung und Roman auf der syntagmatischen Achse der Anordnung und Vermittlung von Geschichte. Hayden White selbst antwortet auf all die gegen seine Überlegungen angestellten Einwände im Aufsatz ›Literary Theory and Historical Writing‹ (1988), indem er die Gleichsetzungsthese von Fiktion und Geschichte stark abschwächt. Er betont, dass seine Tropologietheorie insbesondere dazu dient, erzählende Geschichtsschreibung zwischen buchstäblicher und figurativer Wahrheit zu verorten, also den Wahrheitsstatus der erzählten Geschichte(n) zu reflektieren. White hebt dabei besonders hervor, dass die historiographische Interpretation und die literarische Darstellung neben ihrer vergleichbaren Plotstrukturierung einen ähnlichen Erzählmodus (»narrative mode of discourse«) teilen (in: White, Figural Realism. Studies in the Mimesis Effect. Baltimore/London 1999, S. 1–26, hier: S. 18f.). Zur Kontextualisierung der Hayden White-Diskussion, siehe zuletzt insbesondere – mit den Erkenntnissen von White deutlich sympathisierend – Kuisma Korhonen (Hrsg.): Tropes for the Past. Hayden White and the History/Literature Debate. Amsterdam/New York 2006; und die Wirkung von White beschreibend und dessen Ideen weiterdenkend: Frank Ankersmit/Ewa Doma´nska/Hans Kellner (Hrsg.): Re-Figuring Hayden White. Stanford 2009. Dies ist die zentrale Bedeutung für die meisten Nicht-Wissenschaftler, also die Möglichkeit, als ob etwas so wäre. Man spricht über die Fiktion eines vereinten Europas oder einer gerechten Welt. Der juristische Diskurs hat z. B. ständig mit Fiktionen, mit hypothetischen Annahmen zu tun. Rigney: Imperfect Histories, S. 5. Siehe auch Ann Rigney: Semantic Slides. History and the Concept of Fiction. In: History-Making. The Intellectual and Social Formation of a Discipline. Hrsg. von Rolf Torstendahl/Irmline Veit-Brause. Stockholm 1996, S. 31–46, hier: S. 32f. Siehe zudem die präzise Darstellung philosophischer Positionen und ihrer Bedeutung zur Unterscheidung von fiktionaler und faktualer Erzählung von Jean-Marie Schaeffer: Fictional vs. Factual Narration. In: Handbook of Narratology. Hrsg. von Peter Hühn et al. Berlin 2009, S. 98–114.
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tionsbegriffs eine polemische Debatte über den Fiktionscharakter von Geschichtsschreibung,221 weil Geschichtsschreibung üblicherweise der Seite des Realen und nicht der des Fiktionalen oder Fingierten zugerechnet wird. Aber sowohl Rigney als auch Doleˇzel machen deutlich, dass letztlich nur die Fiktion als Konstruiertes (Rigneys erste Bedeutungsvariante von Fiktion) Hayden Whites Fiktionsbegriff entspricht. Etwas Fiktives wird geschaffen, nicht vorgefunden.222 Der Kontrast zwischen dem Realen und dem Fiktiven bzw. dem Wahren und dem Erfundenen begründet also die polemische Wirkung von Whites »verbal fiction«-Aussage. Bestimmt man den Fiktionsbegriff grundsätzlich über Dichotomien, ergeben sich nach Michel de Certeau folgende vier Bedeutungsfacetten,223 die die Diskussion um das Fiktive von Geschichtsschreibung weiter vertiefen können: Erstens gibt es das Begriffspaar von Fiktion und Geschichte; demnach stehen die Geschichten (Fabeln, Fiktionen) der Geschichtswissenschaft gegenüber. Die zweite Dichotomie ist die von Fiktion und Realität. Durch den Maßstab der Realität, durch analytische Verfahren wie zum Beispiel durch das Prüfen und Vergleichen von Quellen, können die Fehler der Fiktion ausgemacht werden. Das dritte Begriffspaar ist das von Fiktion und Wissenschaft. Dies bedeutet, dass die Wissenschaft selbst Formalsprachen herausbildet, sogenannte Schreibformen (›écritures‹ nach de Certeau).224 Diese Formen überzeugen durch das, was sie ermöglichen, nicht worauf sie als Reales zurückzuführen sind. Die Fiktion ist in dieser Bedeutungsvariante also ein hypothetisch kreiertes Feld, das dem Akt der Wissenschaft vorausgeht, das Bedingungsfeld von Organisationsformen. Das letzte Oppositionspaar ist das von Fiktion und dem Eindeutigen. Darauf beruht das Grundargument der mangelnden Wahrheitsfähigkeit, das immer gegen die Glaubwürdigkeit der Fiktion vorgebracht wird.225 In de Certeaus vierfacher Unterscheidung wird also Fiktion immer in einem Begriffspaar gedacht, wodurch sie aus dem Diskurs des jeweils anderen Begriffs (Geschichte, Realität, Wissenschaft, Eindeutigkeit) ausgeblendet wird. Das Interessante dabei ist, dass zugleich keiner dieser anderen Begriffe ohne den der Fiktion existieren könnte. Dies heißt für die 221 222 223
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Rigney: Imperfect Histories, S. 5f. Rigney: Imperfect Histories, S. 6. Michel de Certeau: Die Geschichte. Wissenschaft und Fiktion. In: de Certeau, Theoretische Fiktionen. Geschichte und Psychoanalyse (1987). Wien 1995, S. 59–90, hier: S. 59–63. Siehe auch Michel de Certeau: Das Schreiben der Geschichte (1975). Frankfurt a.M./ New York/Paris 1991. De Certeau: Die Geschichte. Wissenschaft und Fiktion, S. 62.
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Geschichtsschreibung, dass sie in dem Augenblick, in dem sie das stärkste Moment an Wahrheit ›im Namen des Realen‹ beansprucht, also in dem Moment, in dem die Geschichtsschreibung die Fiktion vollends verdrängt zu haben behauptet, die Fiktion in der Absetzungsgeste wieder als notwendiges Element einführt. Je stärker das Faktische betont wird, desto deutlicher wird der Fiktionscharakter dieser Behauptung.226 Jede analytische Geschichtstheorie, die meint, wahre Sätze über Geschichte aussagen zu können, erliegt letztlich der Illusion, dass sie ihre Erkenntnisbedingungen beherrschen könnte. Inzwischen – nach dem Streit um das Fiktive von Geschichtsschreibung – gibt es einen weitgehenden Konsens, dass ohne narrative Formen Geschichte auch in den Wissenschaften nicht dargestellt werden kann.227 226
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Siehe de Certeau: Die Geschichte. Wissenschaft und Fiktion, insb. S. 63f. Das repräsentierte ›Reale‹ »verbirgt die Gegenwart, die es organisiert, hinter einer Figuration der Vergangenheit. […] der historiographische Diskurs selbst verbirgt als Inszenierung einer (vergangenen) Wirklichkeit die soziale und technische Maschinerie, die ihn hervorbringt, das heißt die professionelle Institution.« (S. 64). Vgl. auch de Certeau: Das Schreiben der Geschichte, S. 9. Zur Anwendung auf Schillers Geschichtsschreibung, siehe Teilabschnitt IV.7. Zur diskursanalytischen Analyse von Geschichtsschreibung und dem Geschichtsdiskurs, siehe auch Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971). In: Foucault, Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M. 1987, S. 69–90. Die Historiographie verschmilzt auf der Darstellungsebene mit ihrem Gegenstand, da sie diesen durch Bemächtigung der Spielregeln erst schafft. Foucaults Genealogie – als Metahistoriographie – benötigt also eine stark performative Dimension, die durch rhetorische und poetische Mittel erzeugt wird. Damit schafft es Foucault zum einen, die Positivität der Aussagen auszugraben, zum anderen entsteht ein Moment von Fiktion, das das Reale unterläuft, dem positivistischen Wissenschaftler also die notwendige Unschärferelation bei Überlagerung von Oberflächen- und Tiefenstrukturen zur Verfügung stellt. Siehe hierzu Stephan Jaeger: Historiographisch-literarische Interferenzen. Möglichkeiten und Grenzen des Diskursbegriffes. In: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hrsg. von Daniel Fulda/Silvia Verena Tschopp. Berlin/New York 2002, S. 61–85, insb. S. 65–68 zu Foucault sowie S. 68–72 zu de Certeau. Volker C. Dörr fasst dies wie folgt zusammen: »Was White aber tatsächlich nachweist, ist, dass die Geschichtsschreibung sich narrativer Mittel bedient, um Geschichte darzustellen, ja um aus kontingenten Erfahrungsdaten einen Bedeutungszusammenhang überhaupt erst herzustellen« (Wie dichtet Klio? Zum Zusammenhang von Mythologie, Historiographie und Narrativität. Zeitschrift für deutsche Philologie 123 (2004). Sonderheft Literatur und Geschichte. Neue Perspektiven. Hrsg. von Michael Hofmann/Hartmut Steinecke, S. 25–41, hier: S. 25f.). Allerdings steht dabei oft vornehmlich die logische, erkenntnistheoretische Dimension des Erzählens im Vordergrund, weniger ihre poetologischen Zusammenhänge und ihre ästhetische Wirkung. Diese logische Dimension wird vor allem durch die Dichotomien Struktur/Erzählung sowie Theorie/Erzählung diskutiert; siehe insbesondere die Schwerpunkte der Bände: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hrsg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 3. München 1979; das Sonderheft ›Narrative History and Structural History. Past, Present, Perspectives‹. Storia della Storiografia 10 (1986); sowie Siegfried Quandt/Hans Süssmuth (Hrsg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen. Göt-
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Mit der These von der performativen Geschichtsschreibung für die deutsche Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts wird in der hier vorliegenden Untersuchung also eine Position zwischen den Extrempositionen um die Faktizität bzw. Fiktionalität von Geschichtsschreibung eingenommen: zwischen dem pragmatischen Wahrhaftigkeitsanspruch von Geschichtsschreibung einerseits und ihrer Textualität und Performativität andererseits. Es steht außer Frage, dass Geschichtsschreibung immer – auch bei Nutzung inszenatorischer und ästhetischer Darstellungsverfahren – an außertextuelle Referenzen gebunden bleibt.228 Es besteht ein pragmatischer Wahrhaftigkeitspakt229 zwischen Autor und Leser.230 Der Leser glaubt dem Historiker, dass er versucht, historische Wirklichkeit so akkurat wie möglich darzustellen.231 Im Rahmen dieser pragmati-
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tingen 1982. Auch der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen ist vorwiegend an Erklärungsmustern historischer Sinnbildung interessiert, um das Erzählende im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Historik verorten zu können, wobei Rüsen einen sehr weiten Begriff von ›narrativer Sinnbildung‹ verwendet (Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S. 93). Rüsen unterscheidet in seiner typologischen Funktionsbeschreibung vier Typen historischen Erzählens (traditionell, exemplarisch, kritisch und genetisch), die zum Teil gemeinsam zu unterschiedlichen Zeiten mit einer unterschiedlichen Dominanzfunktion wirksam sind (Die vier Typen des historischen Erzählens. In: Formen der Geschichtsschreibung. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 4. Hrsg. von Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/J. Rüsen. München 1982, S. 514–605). In der heutigen Geschichtsschreibung sei die genetische Funktion vorherrschend (Ebd., S. 587). Ann Rigney beschreibt dies mit den Worten Roland Barthes als chronischen Kampf der Geschichtsschreibung zwischen Realem und Intelligiblen: »historical representation can be characterized by a chronic struggle between the obligation to stick to what is known of the past and the desire to treat relevant aspects of the past in a coherent manner: the eternal struggle between the real and the intelligible« (Imperfect Histories, S. 65; vgl. Barthes: Historie und ihr Diskurs, S. 180). Der Begriff ›Wahrhaftigkeitspakt‹ reflektiert präziser als der Begriff ›Wahrheitspakt‹, dass Geschichtsschreibung zwar versucht, möglichst akkurat, objektiv und wahr zu sein, aber es de facto nie eine wahre Erzählung des Vergangenen geben kann. Am deutlichsten findet sich diese Annahme der Referenz bei Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1, S. 129: »Nur die Geschichtsschreibung kann eine Referenz in Anspruch nehmen, die ihren Ort in der Empirie hat, soweit die historische Intentionalität auf Ereignisse geht, die tatsächlich stattgefunden haben.« Gleichzeitig verweist er darauf, dass die Referenz auf das Wirkliche immer nur eine ›Spurenreferenz‹ sein kann (Ebd.). Explizit zum Wahrhaftigkeitspakt, siehe auch Paul Ricœur: Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit (2000). Münster/Hamburg/London 2002; die dort abgedruckte Rede ist eine Synopse von Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen (2000). München 2004. Siehe auch Stephan Jaeger: Erzählen im historiographischen Diskurs. In: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Hrsg. von Christian Klein/Matías Martínez. Stuttgart/Weimar 2009, S. 110–135. Siehe hierzu auch Hans Robert Jauss: Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte. In: Formen der Geschichtsschreibung. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 4. Hrsg. von Reinhart Koselleck/Heinrich Lutz/ Jörn Rüsen. München 1982, S. 415–451. Jauss argumentiert, dass Dichtung und Ge-
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schen Unterscheidung ist es zuerst einmal nicht grundlegend, ob erst im Akt des historiographischen Erzählens Geschichte entsteht – die Vergangenheit benötigt Erzählen, um zur Geschichte zu werden –, sondern ob eine ›Äquivalenzbeziehung‹ zwischen Text und einer außerhalb des Textes befindlichen Wirklichkeit angenommen werden kann.232 Der pragmatische Wahrhaftigkeitsanspruch macht historiographisches Erzählen ›überprüfbar‹; ihre wissenschaftlichen Begründungen sind außerhalb der Erzähltexte, unabhängig davon, wie – mit welchen Darstellungsmitteln – sie geschrieben werden.233 Akzeptiert man das pragmatische Referentialitätskriterium von Geschichtsschreibung, wird es möglich, den Fiktionsbegriff aus der Diskussion auszublenden. Die Grundoppositionen zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung / Geschichtswissenschaft können behauptet werden. Zugleich erweist sich auch Whites Fiktionsbegriff als korrekt. Damit kann sich die Untersuchung von Geschichtsschreibung der Frage zuwenden, inwiefern Geschichtsschreibung textuelle Qualitäten hat, die dem Referenzkriterium nicht unterliegen, da es auf ihre Überprüfbarkeit weniger ankommt, als auf ihren Texteffekt.234
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schichtsschreibung Fiktion unterschiedlich gebrauchen: »Dichtung und Geschichtsschreibung unterscheiden sich an der gemeinsamen Grenze der Wahrscheinlichkeiten vielmehr durch die verschiedene Weise, in der sie Mittel der Fiktion in Gebrauch nehmen, und durch die verschiedene Erwartung, die sie bei ihren Lesern erwecken können« (S. 418). Letztlich folgt Jauss aber verstärkt der deutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und der These von der Standortgebundenheit des Historikers, wodurch er die performativen Verfahren und textuellen Inszenierungen von Geschichte im Rahmen der Wahrscheinlichkeits- und Akkuratsregeln der Geschichtsschreibung nicht erkennen kann. In seinen Beispielen konzentriert er sich eher auf das Perspektivische des historischen Romans. Vgl. z. B. Matías Martínez/Michael Scheffel: Narratology and Theory of Fiction. Remarks on a Complex Relationship. In: What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Hrsg. von Tom Kindt/Hans-Harald Müller. Berlin/New York 2003, S. 221–235, insb. S. 227f. Rüth: Erzählte Geschichte, S. 49. Rüth sieht in der modernen Geschichtsschreibung ein Transparenzgebot. Dies gelinge nur, wenn der Historiker – mit einem ›overt narrator‹ – offen zeigt, wie er zu seinen Erkenntnissen gelangt ist. Hier nimmt Rüth den von Carlo Ginzberg eingeführten Vergleich der Arbeit des Historikers mit der des Detektivs auf; der Historiker bringt demnach sein Arbeiten als zweite selbstreflexive Geschichte zusätzlich zum dargestellten historischen Geschehen in die Geschichtsschreibung mit ein (Ebd., S. 46f.), was zur »narrativen Verdoppelung der Historiographie« führe (Ebd., S. 45). In der performativen Geschichtsschreibung in der hier vorliegenden Untersuchung, gerade in der Realgeschichtsschreibung bei Schiller und Archenholz, wird dieses Transparenzgebot hingegen zugunsten der Inszenierungen von historischen Notwendigkeiten unterlaufen. Hierin besteht jenseits aller Grundsatzdiskussionen die Leistung so genannter postmoderner Geschichtsschreibung. Es wird ein Bewusstsein für die sprachliche Gemachtheit von Geschichte in Geschichtsschreibung sowie für die Selbst- oder Metareflexionsmöglichkeiten von Geschichtsschreibung entwickelt. Siehe insbesondere Elizabeth Deeds
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Die Narratologin Dorrit Cohn stellt in ›The Distinction of Fiction‹ fest, dass die Erzähltheorie fiktionaler Literatur seit der Fabel-Sujet-Unterscheidung des russischen Formalismus auf einer Dichotomie von ›story‹ (Geschichte) und ›discourse‹ (Darstellung) basiert.235 Cohn argumentiert nun in Auseinandersetzung mit Paul Ricœurs Überlegungen in ›Zeit und Erzählung‹ und im Anschluss an den ›linguistic turn‹, dass auch in der Geschichtsschreibung die Story-Discourse-Unterscheidung ernst zu nehmen sei und zugleich die duale Unterscheidung zu einem triadischen Modell von ›reference/story/discourse‹ erweitert werden müsse.236 Cohn nimmt also, wie auch der Verfasser dieser Untersuchung, an, dass historiographische Texte sich grundsätzlich von fiktionalen Texten unterscheiden, weil sie auf eine außerhalb der Textwelt angesiedelte Wirklichkeit referieren. Allerdings übersieht Cohn, dass die entscheidende Veränderung des Blickwinkels nicht nur darin besteht, das Referentialitätskriterium gegenüber einer Gleichsetzung von historiographischem und fiktionalen Erzählen zu verteidigen, sondern darum das Story-Discourse-Verhältnis auszudifferenzieren, da es in seiner traditionellen Form weder der Geschichtsschreibung noch der fiktionalen Literatur wirklich gerecht wird. Im simultanen Story-Discourse-Modell237 referieren historische Texte auf etwas, das auf einer zeitlichen Achse geschehen ist, bevor es in der Geschichtsschreibung narrativ dargestellt wird, während fiktionale Texte im Akt des Erzählens (›discourse‹) die Geschichte (›story‹) erst entstehen lassen. Dementsprechend ergänzt das Referenzkriterium nur etwas, das Teil der Geschichte (›story‹) vor dem eigentlichen Akt der Erzählung ist. Hier kommt die Ebene des Textuellen bzw. für nicht-textuelle Darstellungsfor-
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Ermarth: Beyond the Subject. Individuality in the Discursive Condition. New Literary History 31 (2000), S. 405–419; Ermarth: Beyond History. Rethinking History 5 (2001), S. 195–215; Robert F. Berkhofer Jr.: Beyond the Great Story. History as Text and Discourse. Cambridge, Mass./London 1995; Joan Wallach Scott: Gender and the Politics of History. Überarbeitete Aufl. New York 1999. Interessanterweise sieht Nancy Partner gerade das Narrative als Garant der Post-Postmoderne: »Endlessly deconstructed, disassembled to expose the wish-fulfillment inner workings of human agency and order, debunked in its claims to picture reality, narrative form proves both eerily elastic and tenacious in its grip on human purposes. The unillusioned yet unresisting embrace of narrative may prove the center of the post-postmodern stance« (Narrative Persistence. The Post-Postmodern Life of Narrative Theory. In: Re-Figuring Hayden White. Hrsg. von Frank Ankersmit/Ewa Doma´nska/Hans Kellner. Stanford 2009, S. 81–104, hier: S. 101). Das Erzählen bzw. die Narrativität ist also das Bindeglied zwischen den verschiedenen erkenntnistheoretischen Phasen seit dem ›linguistic turn‹ in der Geschichtsschreibung. Dorrit Cohn: The Distinction of Fiction. Baltimore/London 1999, S. 111. Cohn: The Distinction of Fiction, S. 112. Cohn: The Distinction of Fiction, S. 110–115.
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men allgemeiner das Poietische von Geschichtsdarstellung ins Spiel. Wenn Geschichtsschreibung – wie im vorherigen Abschnitt zur performativen Geschichtsschreibung gesehen – nicht nur auf etwas Vorläufiges bzw. Vergangenes referiert, sondern zugleich explizit im Akt entwirft, erschafft, erschreibt, also sowohl eine rückblickend-mimetische als auch eine gegenwärtig-poietische Komponente besitzt, wird die Kategorie der Darstellung (›discourse‹) plötzlich zu ungenau, da man mit ihr nicht zwischen der fiktionalen und der historiographischen Schaffung von Welten unterscheiden kann. Der These von der performativen Geschichtsschreibung wird für die Analyse historiographischen Erzählens die These von den textuellen Welten hinzugefügt. Das in der Regel duale Schema ›Historie – Fiktion‹ ist damit zu einem triadischen Schema ›Historie – Text – Fiktion‹ zu erweitern. Um die Notwendigkeit des Textuellen als dritter Kategorie zu verstehen, hilft es, einen kurzen Blick auf die Theorie möglicher bzw. alternativer Welten (›possible worlds‹) zu werfen.238 Lubomír Doleˇzel, der Hauptvertreter der Theorie möglicher Welten bezüglich ihrer Anwendung auf die Beziehung zwischen Fiktion und Geschichte, unterscheidet zwischen fiktionalen und historischen Welten aufgrund ihrer semantisch und pragmatisch konträren Merkmale.239 Die Besonderheit des historiographischen oder allgemein faktualen Analysemodells kann am Beispiel des Leerstellenbegriffs besonders deutlich gezeigt werden. Historische sind von fiktionalen Leerstellen zu unterscheiden, weil erstere epistemologisch, letztere ontologisch sind.240 Epistemologische Urteile sind durch die Entdeckung neuer Quellen oder durch die Neubewertung von Quellen veränderbar und damit unendlicher Natur. Historiker können zum 238
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Vgl. auch Jaeger: Erzählen und Lesen von Gender, S. 331f. Allgemein zu Theorien von Weltenschaffung durch Erzählung, siehe Ansgar Nünning: Making Events – Making Stories – Making Worlds. Ways of Worldmaking from a Narratological Point of View. In: Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives. Hrsg. von Vera Nünning/Ansgar Nünning/Birgit Neumann. Berlin/New York 2010, S. 191–214. Doleˇzel: Fictional and Historical Narrative, S. 256–258; ähnlich auch in dem zum Teil identischen Aufsatz Lubomír Doleˇzel: Possible Worlds of Fiction and History. New Literary History 29 (1998), S. 785–800. Diese Ergebnisse hat Doleˇzel jüngst in seinem Buch ›Possible Worlds of Fiction and History. The Postmodern Stage‹ (Baltimore/London 2010, insb. S. 33–39) noch einmal dargestellt. Doleˇzel kann so der postmodernen Herausforderung begegnen, wonach Geschichtsschreibung historische Welten immer konstruiert und einen pragmatischen Wahrheitsanspruch für Geschichtsschreibung erkennen, der in fiktionalen Texten nicht gegeben ist. Er konzentriert sich dabei besonders auf die Grenzfälle von historischer Fiktion, kontrafaktischer bzw. virtueller Geschichte sowie von faktischen Erzählungen, z. B. die dokumentarische Fiktion. Siehe zudem Lubomír Doleˇzel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998. Vgl. Doleˇzel: Fictional and Historical Narrative, S. 258f.
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Beispiel jederzeit neue Details entdecken, die erklären, warum Friedrich II. die Schlacht bei Leuthen im Siebenjährigen Krieg gewinnen konnte. Ein Historiker kann nie die gesamte Geschichte kennen bzw. darstellen. Fiktionale Leerstellen sind hingegen ontologisch, weil kein Referent außerhalb der fiktionalen Welt existiert. Die Frage, ob Goethes Faust eine Narbe hat, muss für immer ungeklärt bleiben, weil der Text nichts darüber aussagt. Doleˇzels Überlegungen bleiben jedoch recht statisch und können nur der Beginn einer semantischen und pragmatischen Analyse historischen Erzählens sein. Ihm entgeht, dass die Modellbildung historischer Welten abhängig von der ästhetischen Inszenierung, insbesondere von Wahrnehmungsmustern ist. Wenn Archenholz die im Prolog angesprochene Schlacht bei Leuthen darstellt, besteht kein Zweifel, dass er eine historische Welt repräsentiert.241 Die Schlacht bei Leuthen hat es gegeben und Historiker können neues Wissen erwerben, wie groß die Armeen der Preußen und der Österreicher tatsächlich gewesen sind. Bei Archenholz kämpfen 33000 Preußen gegen 90000 Kaiserliche,242 was nach neueren Ergebnissen der Geschichtswissenschaft die proportionale Diskrepanz deutlich übertreibt.243 Als historische Leerstelle bzw. historische semantische Aussage kann ein Historiker also Archenholz’ Darstellung korrigieren. Dies verändert aber keineswegs dasjenige, was nicht historisch richtig bzw. überprüfbar darzustellen ist. Archenholz inszeniert ein antithetisches Duell zwischen David und Goliath, was wiederum Teil seiner Gesamtinszenierung des Genies Friedrichs II. und der Tapferkeit der Preußen und damit letztlich der Inszenierung des Entstehungsprozesses deutscher Identität ist.244 Hierbei handelt es sich um einen textuellen Effekt. Archenholz schafft eine textuelle Welt, aber keineswegs eine fiktionale Welt, die ontologisch für sich steht, da das Referentialitätskriterium weiterhin seine Gültigkeit besitzt. Die textuelle Welt ist nicht als textuelle Welt widerlegbar; nur die in sie eingehende historische Welt ist epistemologisch überprüfbar. Natürlich ist es möglich, diesen epistemologischen Standard an Archenholz’ erzählerische Konstruktion anzulegen und zu zeigen, dass er nach den Erkenntnissen heutiger Geschichtswissenschaft problematische oder verkürzende Kausalschlüsse zieht, dennoch entfaltet der Text im notwendigen Sieg der zahlenmäßig Unterlegenen seine eigene textuelle Wirkung, die unabhängig vom Maßstab der historischen Wirklichkeit bleibt. 241 242 243 244
Für eine ausführliche Besprechung dieses Beispiels siehe V.3. Archenholz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges (= GSK), S. 131. Siehe die ausführliche Diskussion im Archenholz-Kapitel (V.3). Siehe das gesamte Kapitel V, insb. V.5 und V.6.
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Für die Untersuchung von Geschichtsschreibung ist das Konzept von textuellen (nicht-fiktionalen) Welten besonders bedeutend, da es die Möglichkeit gibt, die Diskussion um den Narrativitätsgrad245 von Historiographie auszudifferenzieren und zu spezifischeren Beobachtungen für Erzählen und Darstellung in Geschichtsschreibung zu kommen.246 Obwohl die Wirkung des ›linguistic turn‹ in der Geschichtsschreibung unumstritten ist, gibt es mehrere Tendenzen in der Geschichts- und Literaturwissenschaft, die zu einer Unterschätzung der narrativen und textuellen Dichte von Geschichtsdarstellung führen. Einerseits scheint es, dass ein Großteil der insbesondere geschichtswissenschaftlichen Forschung sich, nachdem man dank Hayden White, Paul Ricœur u. a. die Konstruiertheit sowie das Textuelle und Poetische von Geschichtsschreibung im Allgemeinen erkannt und akzeptiert hat, wieder verstärkt auf die Geschichte (›story‹) konzentriert. Probleme der Vermitteltheit fallen weitaus weniger ins Gewicht.247 Andererseits werden in vielen Ansätzen, die die Darstellungsebene und die Textualität von Geschichtsschreibung ernst nehmen, vorwiegend die aus fiktionalen Texten bekannten narratologischen und 245
246
247
Erweitert um andere poetische und ästhetische Merkmale könnte man auch von einem ›Textualitätsgrad‹ der Historiographie sprechen. Keith Jenkins sieht die Narrativität in seinem Plädoyer für ›radikale Geschichtsschreibung‹ als zentrales Merkmal der Theorie Hayden Whites (»Nobody Does It Better«. Radical History and Hayden White. In: ReFiguring Hayden White. Hrsg. von Frank Ankersmit/Ewa Doma´nska/Hans Kellner. Stanford 2009, S. 105–123, S. 117): »[T]he radical historian can subscribe – I subscribe – entirely to White’s decisionist/impositionist/singular/relativistic position on narrativity« (Ebd., S. 118). Damit wiederholt Jenkins aber nur die extreme postmoderne Position der oben dargestellten Fakt-Fiktionsdebatte, da kaum jemand heutzutage die Relativität historischer Erkenntnis und die Konstruiertheit und Poetizität jeder historiographischen Darstellung bezweifeln würde. Somit wird der Blick auf eine präzise Untersuchung historiographischen Darstellens eher verstellt. Vgl. auch Nünning: »Verbal Fictions«, S. 367f.; sowie Julia Lippert: A ›Natural‹ Reading of Historiographical Texts. George III at Kew. In: Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Research. Hrsg. von Sandra Heinen/Roy Sommer. Berlin/New York 2009, S. 228–243, die Monika Fludernik ›natural narratology‹ für nicht-fiktionale Gattungen am Beispiel einer historischen Ausstellung öffnet, indem sie die Illusion eines historischen Raumes schafft (Ebd., S. 241). Siehe auch Julia Lippert: Ein kognitives Lesemodell historio(bio)graphischer Texte. Georg III. – Rezeption und Konstruktion in den britischen Medien (1990–2006). Trier 2010, S. 58–66. Siehe zu dieser Einschätzung Jörg Schönert: Zum Status und zur fiktionalen Reichweite von Narratologie. In: Geschichtsdarstellung. Medien, Methoden, Strategien. Hrsg. von Vittoria Borsò/Christoph Kahn. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 131–143, hier: S. 141. Ein Beispiel ist in der Geschichtswissenschaft der Begriff des ›historischen Ereignisses‹, siehe Suter/Hettlich (Hrsg.): Struktur und Ereignis; Lucian Hölscher: Ereignis. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hrsg. von Stefan Jordan. Stuttgart 2002, S. 72–74; siehe auch Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik 5. München 1973.
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poetologischen Darstellungsmittel auf Historiographie angewandt; diese Analysen sind also nur bedingt an den Spezifika historiographischer Darstellung interessiert.248 In den grundlegenden Arbeiten von Gérard Genette und Dorrit Cohn wird Geschichtsschreibung vornehmlich als Randerscheinung fiktionaler Texte behandelt.249 Historisches Erzählen ist hiernach als die einfachste Form des Erzählens gekennzeichnet, die ohne die große Vielfalt von Erzählperspektiven auskommt und auf die aus den historischen Quellen vorgegebenen Stimmen angewiesen ist. Dies führt zu Einschätzungen wie der von Monika Fludernik, dass faktuale Erzählung – und damit auch Geschichtsschreibung – aus Sicht von Fiktionalitätskriterien ein Fall geringer erzählerischer Komplexität sei. Die Narrativität von akademischer Geschichtsschreibung sei im Gegensatz zum fiktionalen Erzählen sowie zur nicht-fiktionalen Alltagserzählung reduziert, weil sie als Bericht über Ereignisse Argumente und Fakten, nicht Erfahrungshaftigkeit vermitteln wolle.250 Fludernik erliegt hier einer Vereinfachung der Darstellungsmodi von Geschichtsschreibung. Für die deutsche Geschichtsschreibung des späten 18. Jahrhunderts zeigt sich dies insbesondere in der Darstellung von Geschichte als Wahrnehmungsund Entstehungsprozess von Geschichte, wie im vorherigen Abschnitt zur performativen Geschichtsschreibung angedeutet wurde und in den Folgekapiteln ausgeführt werden wird. Damit ist Geschichtsschreibung explizit nicht ausschließlich eine kognitive Aussage über das Vergangene. Vielmehr läuft der historische Prozess einerseits in Wahrnehmungen für individuelle und kollektive Akteure in der Geschichte ab; andererseits 248
249 250
So z. B. im Gefolge von White Berkhofer (Beyond the Great Story), aber auch Carrard (Poetics of a New History), der trotz genauer Formenanalyse der ›New History‹ kaum über einzelne Beobachtungen zur Poetik von Geschichtsschreibung hinauskommt. Cohn: The Distinction of Fiction; Gérard Genette: Fictional Narrative, Factual Narrative. Poetics Today 11 (1990), S. 755–774. Monika Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jörg Helbig. Heidelberg 2001, S. 85–103, hier: S. 93. Vgl. auch Fluderniks Unterkapitel ›Degrees of narrativity, non-narrative texts and the question of historicity‹ in ihrer Monographie Towards a ›Natural‹ Narratology. London/New York 1996, S. 323–330. Auch in ihrer jüngsten Studie, in der Fludernik experimentelle Geschichtsschreibung detailliert untersucht, führt sie aus, dass historiographisches Erzählen keine Erfahrungshaftigkeit, höchstens historische Erfahrung ausdrücken könne (Monika Fludernik: Experience, Experientiality, and Historical Narrative. A View from Narratology. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hrsg. von Thiemo Breyer/Daniel Creutz. Berlin/New York 2010, S. 40–72). Damit kommt Fludernik aber trotz interessanter Einzelbeobachtungen nicht darüber hinaus, Erfahrungshaftigkeit bzw. Narrativität in literarischer Erzählung zu definieren und festzustellen, dass Geschichtsschreibung diesen Maßstäben nicht vollends entspricht. Das Besondere historiographischen Erzählens kann so nicht erkannt werden.
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werden Argumente erst auf der Darstellungsebene dynamisiert und so Texteffekte von der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses erzeugt.251 Geschichte wird also nicht ausschließlich rückblickend berichtet, analysiert oder erzählt. Betrachtet man nun die Darstellungstechniken der deutschen Geschichtsschreibung252 im ausgehenden 18. Jahrhundert, so zeigt die bisherige Forschung um Fulda, Süßmann u. a.,253 wie die deutschen Historiker das Sinnbildungsdefizit der Aufklärungsgeschichtsschreibung durch Techniken der Verfabelung bzw. Plotstrukturierung überwinden. Zugleich gibt es andere Mittel wie die Variation von historischer Distanz,254 Erzählperspektiven und Fokalisierung, die zur Narrativität und Textualität auf der Darstellungsebene von Geschichtsschreibung und zur Entstehung von textuellen Geschichtswelten beitragen. Geschichtsschreibung ist keineswegs vorwiegend Nullfokalisierung, sondern besitzt Darstellungsmöglichkeiten externer und interner Fokalisierung.255 Durch interne Fokalisierung auf historische Personen können zum Beispiel Abläufe von Geschichte vereindeutigt werden, sodass historische Leerstellen, die durch neue Informationen oder Perspektiven unendlich variabel sind, gefüllt werden und auf der Ebene des ›discours‹ einen notwendigen historischen Ablauf erzeugen.256 Einerseits zeigt das Beispiel der Fokalisierung, dass historiographisches Erzählen und die Inszenierung von Geschichte durchaus auf Basis der aus fiktionalen Texten bekannten Darstellungsmittel analysiert werden können. Doch zugleich müssen die Eigenheiten des historiographischen Diskurses berücksichtigt werden: 251
252
253 254 255
256
Siehe zur Erfahrungshaftigheit von Geschichtsschreibung, Jaeger: Poietic Worlds. Auch Jonas Grethlein hat kürzlich gezeigt, dass Erfahrungshaftigkeit und Erzählung sich nicht widersprechen müssen: »[E]xperiences in the mode of ›as-if‹ unfold the same chain of pro- and re-tentions in the consciousness of readers or listeners as do the real experiences of characters, and are therefore legitimately considered experiences« (Experientiality and ›Narrative Reference‹, with Thanks to Thucydides. History and Theory 49 (2010), S. 315–335, hier: S. 320f.). Dabei ist zu beachten, dass die Darstellungsmöglichkeiten abhängig vom historiographischen Genre sind, wie für den Gegenstandsbereich dieser Untersuchung insbesondere bezüglich Zivilisations- und Menschheitsgeschichtsschreibung (II und III) sowie politischer Geschichtsschreibung und Militärgeschichtsschreibung (IV und V) gezeigt wird. Siehe das gesamte Kapitel I.2 und den Teilabschnitt I.3.1. Siehe insbesondere im Herder-Kapitel den Abschnitt III.3.1. Vgl. vor allem Rüth: Erzählte Geschichte, insb. S. 81 und S. 110; außerdem Munslow: Narrative and History, S. 47–50; und Carrard: Poetics of a New History, S. 104–121. Siehe auch Berkhofer: Beyond the Great Story, insb. S. 138–201, zu Stimme und Perspektive in postmoderner und multikultureller Geschichtsschreibung. Fokalisierungen werden im Folgenden insbesondere im Schillerkapitel untersucht (vgl. IV.6–8) Siehe IV.8.
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Zum Beispiel spielt die kollektive Perspektive bzw. Fokalisierung in Geschichtsdarstellung eine besondere Rolle.257 Eine andere Technik, textuelle Welten entstehen zu lassen, ist es, Wahrnehmung auf der Ebene der Geschichte (›story‹) darzustellen, zum Beispiel durch den Effekt der Reden historischer Personen,258 und die historische Wirkung dieser Wahrnehmung dann zum Vehikel des fortschreitenden Geschichtsprozesses zu machen: Weil der Prinz von Oranien seine Beredsamkeit nutzt, um die niederländische Regentin zu beeinflussen, folgt diese einem bestimmten Handlungsschema. Dieser Effekt der historischen Rede wird nicht mehr nur berichtet, sondern er wird zum Texteffekt der Geschichtsschreibung, die so wiederum den notwendigen Prozess der Geschichte ausdrücken kann.259 3.3.
Auf der Grenze zwischen Historiographie, Philosophie und Literatur
In der Forschung zur Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts stehen weniger die Schreibweisen und Textverfahren der historiographischen Texte im Vordergrund, als vielmehr eine Rekonstruktion der Einflüsse auf die Geschichtsauffassung von Autoren, motivgeschichtliche Darstellungen von deren Geschichtsdenken sowie funktionsgeschichtliche und diskursanalytische Überlegungen. Autoren werden im Rahmen von Diskursen verortet und bewertet: zum Beispiel Herder als Philosoph, Schiller als Historiker oder Forster als Naturkundler, ohne dass der aufgrund ihrer theoretischen Geschichtsreflexionen in der Schreibpraxis notwendige Grenzgang näher in den Blick genommen würde.260 Damit werden übergreifend auch Paradigmenwechsel für den jeweiligen Diskursbegriff so beschrieben, dass Zwischenphasen, in denen Grenztexte entstehen, gar nicht erfasst werden können. Dies gilt insbesondere für den Wechsel von der pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung zum frühen Historismus der entstehenden modernen Disziplin der Geschichtswis257
258 259 260
Zu Kollektivperspektiven in Geschichtsschreibung, siehe z. B. Rüth: Erzählte Geschichte, S. 110f.; sowie Jaeger: Erzählungen im historiographischen Diskurs. In den Fallanalysen der Folgekapitel, siehe zu Kollektivperspektiven vor allem II.5, IV.6, V.2 und V.4. Vgl. im Detail insb. IV.6 sowie V.3 zu Funktionen fiktiver und historischer Reden in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts. Siehe IV.6. Eine ausführliche Darstellung der jeweiligen Forschung, die auch auf die Untersuchungen eingeht, die sich mehr mit der Geschichtsdarstellung beschäftigen, wird in den folgenden fünf Kapiteln geleistet.
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senschaft. Auch Stefan Jordan verwendet den Begriff ›Schwellenzeit‹ ausschließlich für diesen Paradigmenwechsel.261 Herder und Schiller werden funktionalistisch im Rahmen einer zunehmenden Narrativierung von Geschichte oder im Sinne des Historismus vereinnahmt; die Spannungen zwischen Referentialität und Performativität, zwischen der Erstellung von historischen und textuellen Welten treten nicht in den Blick.262 Mit Blick auf diesen Forschungsstand lässt sich der Neuansatz der hier vorliegenden Untersuchung noch einmal hinsichtlich der drei zentralen Entwicklungsmomente für die deutschsprachige Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts zusammenfassen: Erstens gelingt es dieser Geschichtsschreibung – im europäischen Kontext verspätet – nach ästhetischen und literarischen Vorbildern eine ganzheitliche Erzählung von Geschichte mit Anfang und Ende zu gestalten, die statt einer Aneinanderreihung historischer Ereignisse einem Plot folgt und ein festes Erzählgerüst besitzt. Zweitens braucht die Geschichtsschreibung neue Inszenierungs- und Erzähltechniken wie Rhetorisierung oder Vergegenwärtigung des Geschichtsverlaufes, die über das Thema der Verfabelung und des Schaffens einer ganzheitlichen Erzählung hinausgehen. Drittens besitzt die Geschichtsschreibung – bezogen auf Menschheitsgeschichte und Realgeschichte – einen geschichtsphilosophischen Anspruch, der die Autonomie der Geschichte garantiert, der Geschichte also ihr eigenes Gesetz gibt. Sowohl die Verfabelung als auch das geschichtsphilosophische Moment sind ausgiebig in der Forschung besprochen worden, aber nicht so miteinander verknüpft worden, dass ihr Bezug auf die Geschichtsdarstellung deutlich geworden wäre. Diese Arbeit leistet es also, 261 262
Stefan Jordan: Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und klassischem Historismus. Frankfurt a.M. 1999. Auffällig ist, dass auch weiterhin Arbeiten zum Verhältnis von Literatur und Geschichte die Bedeutung des Übergangszeitraumes zwischen 1770 und 1800 für die Darstellung von Geschichte unterschätzen. Beispielsweise weist Dorothee Kimmich neue konstruktivistische und perspektivische Darstellungsverfahren im Umgang mit Geschichte in der Literatur des 19. Jahrhundert nach, die sich dann auf die Historiographie auswirken (Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert. München 2002). Kimmich betont die Dichotomie Holismus – Konstruktivismus, wobei letzterer der modernen Geschichtsdarstellung entspreche. Damit übersieht sie die Darstellungseffekte, die durch die Spannung zwischen Ganzheitsdenken und Perspektivismus bereits vor ihrem Untersuchungszeitraum gerade als notwendiges Ergebnis eines Ganzheitsdenkens entstehen. Die in der hier vorliegenden Untersuchung analysierten Grenztexte geraten zugunsten eines hierarchischen Verhältnisses zwischen Literatur und Geschichte aus dem Blick. Vgl. hierzu auch VI.5.
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Textverfahren und Inszenierungstechniken von Geschichtsschreibung zu zeigen, die über die Verfabelung hinausgehen, und damit deutlich zu machen, wie der geschichtsphilosophische ›Sonderweg‹ der Deutschen sich nicht nur in der Geschichtstheorie, sondern auch in der Geschichtsdarstellung ausgewirkt hat. Die Besonderheiten der Geschichtsdarstellung können methodologisch auf zweierlei Weise herausgearbeitet werden: Entweder man untersucht ein möglichst großes Korpus von Geschichtstexten aus Fiktion, populärer und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und anderen Repräsentationsformen von Geschichte wie zum Beispiel Denkmälern,263 oder man konzentriert sich – wie die hier vorliegende Untersuchung – auf ›Grenztexte‹ zwischen den Diskursen Geschichte und Literatur, die mit fiktionalen und ästhetischen Mitteln operieren, um den Erkenntnis- bzw. Referenzwert von Geschichtsschreibung zu erhöhen, und die somit neben dem historischen Wahrhaftigkeitsanspruch auch einen philosophischen Anspruch erfüllen können. Untersucht man die Diskursgrenzen von Geschichtsschreibung einerseits und Literatur bzw. fiktionalen Texten andererseits, sind – wie im vorherigen Teilkapitel gesehen – die Diskursgrenzen auf einen Seite klar definiert, auf der anderen Seite dynamisch: Es steht für die hier untersuchten Beispiele außer Frage, dass die Erschaffung fiktiver Welten in der Literatur und die Denotation historischer Welten in der Geschichtsschreibung voneinander zu unterscheiden sind. Doch hinsichtlich der konkreten Darstellungstechniken ist die Unterscheidung viel offener. Diese Techniken können sich überlagern oder für den jeweiligen Diskurs spezifische Gewichtungen erhalten – wie etwa die kollektive interne Fokalisierung in der Geschichtsschreibung. Historiographisch-literarische Interferenzen werden in der Inszenierung von Geschichtsschreibung zu einem heuristischen Mittel, durch das Geschichte in ihrer Komplexität dargestellt werden kann.264 Die Diskurse Historiographie und Literatur beginnen sich im performativen Akt des Geschichte(n)-Schreibens zu überlagern. Um dies nachweisen zu können, muss der Interpret historio263
264
Siehe hierzu für das ausgehende 18. Jahrhundert Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman. Zur Erweiterung des Geschichtsbegriffs auf unterschiedlichste Genres im 18. Jahrhundert, siehe auch Phillips: Society and Sentiment, zusammenfassend S. 342–349. Allgemein zur Erzähltheorie und verschiedenen historischen Gattungen, siehe das Kapitel ›History as Expression‹ von Munslow, der neben der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung u. a. Film, Photographie, Gemälde, Fernsehen, Radio, Comics, Museen, Denkmäler, Aufführungen und digitale Repräsentationen kurz vorstellt (Narrative and History, S. 64–93). Jaeger: Historiographisch-literarische Interferenzen, S. 72–79.
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graphisch-literarischer Interferenzen vom Kontext bzw. vom Funktionsbündel eines Diskurses zurück zur konkreten Analyse des einzelnen Schreibaktes gelangen. Begrifflich ist es hierbei wichtig, zwischen ›Realgeschichtsschreibung‹ und Meta- bzw. Sekundärgeschichtsschreibung zu unterscheiden. Realgeschichtsschreibung bezieht sich auf die Darstellung von historischen Begebenheiten, Ereignissen und Strukturen. Ihr Schwerpunkt liegt im späten 18. Jahrhundert auf politischen und militärischen sowie religions- und rechtsgeschichtlichen Begebenheiten, Ereignissen und Entwicklungen. Hinzu kommt, wie zum Beispiel bei Archenholz zu sehen ist, zivile Geschichtsschreibung, die die militärische oder Kriegsgeschichtsschreibung kontrastiert bzw. ergänzt.265 Sekundärgeschichtsschreibung erstellt ein Metasystem von Ideen bzw. Strukturen. Zum Beispiel referiert eine Geschichte der Menschheit nicht auf konkrete Begebenheiten oder Ereignisse, sondern auf Gedanken bzw. Ideen, auf eine bereits abstrahierte Welt, die nur als Struktur denkbar ist. Zivilisationsgeschichtsschreibung bestimmt unterschiedliche Kulturstufen. Realitäten, konkrete Ereignisse, Darstellungen von Gewohnheiten und Idealen, konkrete Verhaltensweisen sowie die natürliche Evolution der Natur und des Menschen stehen hinter diesem sekundären Referenzsystem. Ähnliches gilt für die Philosophie-, Wissenschafts- und Literaturgeschichte. Die Betonung des Theoretischen, Allgemeinen und Philosophischen in der deutschsprachigen Historiographie führt dazu, dass sich die neuen modernen Ausdrucksformen von Geschichtsschreibung in den 1770er Jahren zuerst in Form von Sekundärgeschichten zeigen. Dies wird in den beiden folgenden Kapiteln zur Zivilisationsgeschichtsschreibung im philosophischen Reisebericht von Georg Forster (II) und Menschheitsgeschichtsschreibung von Johann Gottfried Herder (III) untersucht. In den späten 1780er und frühen 1790er Jahren findet sich dann auch eine Inszenierung von notwendigen historischen Prozessen in der politischen und militärischen Ereignisgeschichtsschreibung, wie im Weiteren an der Geschichtsschreibung von Friedrich Schiller (IV) und Johann Wilhelm von Archenholz (V) diskutiert wird. Schillers Geschichtsschreibung hat dabei einen stark humangeschichtlichen Schwerpunkt, während Archenholz als Beispiel für die Inszenierung des Geschichtsprozesses in preußischer und letztendlich deutscher Geschichte gelesen werden kann. Die im abschließenden Kapitel (VI) dargestellten historiographischen Umsetzungen vom philosophischen Reisebericht, über die Universalgeschichtsschrei265
Siehe Kapitel V.
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bung zur politischen Realgeschichtsschreibung bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel spiegeln zusammenfassend den Verlauf dieser Untersuchung noch einmal wider. Zugleich hilft diese Reflexion der romantischen Geschichtsdarstellungen, die Schnittpunkte aufzuzeigen, an denen eine historiographische Inszenierung von Geschichte möglich bzw. nicht mehr möglich ist.
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II.
Georg Forsters Zivilisationsgeschichtsschreibung. Fortschritt und Kritik
1.
Forsters ›Reise um die Welt‹. Reisebericht oder Zivilisationsgeschichtsschreibung?
Das Sinndefizit der pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung wird zuerst in den Inszenierungs- und Darstellungstechniken der Menschheits- und Zivilisationsgeschichtsschreibung1 aufgelöst, wie in diesem Kapitel zu Georg Forster und im folgenden zu Johann Gottfried Herder (III) gezeigt werden soll. Dabei geht es nicht um deren Geschichtsdenken, sondern um praktische Schreibformen, durch die Geschichte inszeniert werden kann, und letztlich die Möglichkeit einer geschichtsautonomen Weltgeschichte2 entsteht, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Die Erzählung in der Weltgeschichtsschreibung eröffnet damit auch der ›verspäteten‹ deutschen Geschichtsschreibung den Weg zur erzählenden und darstellungstechnisch anspruchsvollen ›Real‹-Geschichtsschreibung. Georg Forsters ›Reise um die Welt‹3 dient als erstes Beispiel für performative Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.4 1
2
3
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Zur Entwicklung der Menschheitsgeschichtsschreibung, jenseits von Ereignisgeschichte, die an der Nahtstelle zwischen Natur- und Kulturgeschichte einsetzt und zur fortschreitenden Gesellschaftsgeschichte in der Spätaufklärung wird, siehe Jörn Garber: Selbstreferenz und Objektivität. Organisationsmodelle von Menschheits- und Weltgeschichte in der deutschen Spätaufklärung. In: Wissenschaft als kulturelle Praxis 1750–1900. Hrsg. von Hans Erich Bödeker/Peter Hanns Reill/Jürgen Schlumbohm. Göttingen 1999, S. 137–185, insb. S. 157. Garber bezieht hierbei auf die von Forster rezensierte programmatische Arbeit des Göttinger Historiker Christoph Meiners (Grundriß der Geschichte der Menschheit. Zweite sehr verbesserte Auflage. Lemgo 1793). Siehe Koselleck in ders. et al.: Geschichte, Historie, S. 686–691, zum Übergang vom Begriff der Universalgeschichte zu dem der Weltgeschichte. Dieser neue Begriff ermöglicht es, die Natur in den geschichtlichen Prozess zu integrieren und Geschichte zu einem Grundbegriff menschlicher Erfahrung und Erwartung werden zu lassen. Reise um die Welt. Teil 1. Bd. 2. Bearbeitet von Gerhard Steiner. Berlin 1965. In: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften. 20 Bde. Berlin 1958ff. [Akademie-Ausgabe]; im Weiteren wird aus der Akademie-Ausgabe direkt in Klammern im Fließtext mit den Siglen AA, Bandangabe und Seitenangabe zitiert. Dieses Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit der ›Reise um die Welt‹ und Forsters Frühwerk, da hier erstens der einzige vollständige, über einzelne theoretische Abhand-
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Eine Untersuchung, inwiefern Forster menschheits- oder zivilisationsgeschichtliche Entwicklungen zur Darstellung bringt, kann zeigen, dass erst ein dynamisches Schreibverfahren es Forster ermöglicht, eine fortschrittsorientierte, auf die Perfektibilität des Menschen ausgerichtete Geschichtsphilosophie zu vertreten, die in der europäischen Kultur ihren bis dahin höchsten Reflexionspunkt findet, und zugleich die europäische Perspektive kritisch zu hinterfragen. Forsters Text ist dabei an einer Schnittstelle situiert, wenn einerseits die Relativität des Standorts des Beobachters im Sinne hermeneutischer und subjekttheoretischer Entwicklungen im 18. Jahrhundert berücksichtigt, andererseits ein neu entstehender wissenschaftlicher Wahrheitsanspruch vertreten wird. Forsters Werk wird auf vielfältige Weise gelesen. Dabei wird Forster zuerst als Reiseschriftsteller, Revolutionär, Essayist, Wahrnehmungstheoretiker, Weltbürger, Kunstbetrachter, Ethnologe sowie Naturforscher und Anthropologe gesehen.5 Forsters ›Reise um die Welt‹ gilt für gewöhnlich in der Gattungstheorie als Reisebericht.6 Forsters zahlreiche Rollen
5
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lungen hinausgehende Geschichtsentwurf Forsters vorliegt und zweitens, anders als im ausgewogeneren Spätwerk eine ständige Spannung zwischen einer Sehnsucht zum Natürlichen und einer nach zivilisatorischen Fortschritt ausgetragen wird. Siehe II.7, Anm. 110, zu Forsters Synthese von Eigenem und Fremden sowie Subjekt und Objekt in den ›Ansichten vom Niederrhein von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790‹, womit die der ›Reise um die Welt‹ inhärenten Spannungen in einer lokaleren Wahrnehmungsinszenierung aufgelöst werden können. Siehe zu Forsters Rollenvielfalt z. B. Jörn Garber: Statt einer Einleitung. »Sphinx« Forster. In: Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Hrsg. von J. Garber. Tübingen 2000, S. 1–19, S. 1f. Für die anthropologische und wissenschaftsgeschichtliche Perspektive, siehe insbesondere Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004; sowie die Aufsatzsammlung ›Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit‹ (Hrsg. von Jörn Garber/Tanja van Hoorn. Hannover 2006). Van Hoorn sieht den »vom Begriff des Organismus ausgehende[n] Blick auf den Menschen als Natur- und Kulturwesen« als Zentrum von Forsters anthropologischem Denken (Dem Leibe abgelesen, S. 237). Vgl. den Forschungsüberblick zur Gattung des Reiseberichts bei Peter J. Brenner: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 2. Sonderheft. Tübingen 1990, zu Forster S. 243–261; Uwe Hentschel: Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Autoren – Formen – Ziele. Frankfurt a.M. u. a. 1999, zu Forster insb. S. 45–70; und die grundlegende Arbeit zur ›Reise um die Welt‹ von Reinhard Heinritz: »Andre fremde Welten«. Weltreisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 1998, S. 93–175. Siehe außerdem Thomas Strack: Exotische Erfahrung und Intersubjektivität. Reiseberichte im 17. und 18. Jahrhundert. Genregeschichtliche Untersuchungen zu Adam Olerarius – Hans Egede – Georg Forster. Paderborn 1994, S. 181–249; sowie zur literarischen Rezeption in Deutschland Justus Fetscher: Die Pazifik-Reisen der 1760er und 1770er Jahre in der deutschen Literatur. In: Crosscultural Encounters and Constructions of Knowledge in the 18th and 19th Century. Non-
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erscheinen nur logisch, wenn man die Entstehungsgeschichte der ›Reise um die Welt‹ betrachtet. Georg Forster diente auf der zweiten Weltreise Captain Cooks zwischen dem 13. Juli 1773 und 30. Juli 1775 seinem Vater Johann Reinhold Forster als Gehilfe und Zeichner. Johann Reinhold Forster wurde erst kurzfristig auf die Position des Naturkundlers berufen, nachdem Joseph Banks seine Teilnahme an der Reise abgesagt hatte. Nach der Reise entbrannte ein heftiger Streit um die Veröffentlichungsrechte der Reisebeschreibung, der letztlich damit endete, dass es Johann Reinhold Forster verboten wurde, den Reisebericht zu veröffentlichen.7 Georg schrieb ihn also an seiner Statt, wobei inzwischen nachgewiesen ist, dass es sich um eine in der Darstellungsform höchst eigenständige Leistung des jüngeren Forsters handelt, die 1777 auf Englisch als ›Voyage around the World‹ wenige Monate vor der Cookschen Reisebeschreibung erschien, 1778–1780 dann auf Deutsch.8 Georg Forster erweist sich unter allen Verfassern von Reisebeschreibungen der damaligen Zeit ohne weiteres als eines der größten literarischen Talente und beweist gleichzeitig eine hohe Reflexionsfähigkeit von wahrnehmungstheoretischen Fragen, gerade bezüglich der Wahrnehmung des Fremden sowie einen philosophischen Anspruch in der Darstellung fremder Völker, die zum Paradigma der Gattung Reisebeschreibung der damaligen Zeit werden konnte. In der Gattungsgeschichte der Reisebeschreibung bzw. des Reiseberichts entstand eine Schnittstelle, die sich im Paradigmenwechsel von einem teilweise mythischen, teilweise historiographischen Reisebericht hin zu einem philosophischen Reisebericht begründet. Zwar wurden Reiseberichte nach Wolfgang Neuber in der gesamten Neuzeit als Historio-
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European and European Travel of Exploration in Comparative Perspective. Hrsg. von Philippe Despoix/J. Fetscher. Georg-Forster-Studien. Beihefte. Bd. 2. Kassel 2004, S. 323–364. Zur Bedeutung des deutschen Publikums nach Forster siehe insbesondere Helmut Peitsch: »Noch war die halbe Oberfläche der Erdkugel von tiefer Nacht bedeckt«. Georg Forster über die Bedeutung der Reisen der europäischen »Seemächte« für das deutsche »Publikum«. In: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Hrsg. von Hans-Jürgen Lüsebrink. Göttingen 2006, S. 157–174. Zur Vorgeschichte der Reise, siehe Ludwig Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794). Göttingen 2004, S. 45–47; zur Veröffentlichungsgeschichte S. 79–84. Zu einem Vergleich der beiden Fassungen, siehe Alison E. Martin: Rerouting the self. Georg Forster’s ›Reise um die Welt‹. In: Translating Selves. Experience and Identity between Languages and Literatures. Hrsg. von Paschalis Nikolaou/Maria-Veneta Kyritsi. London/New York 2008, S. 155–168. Martin zeigt, wie Forster in der deutschen Fassung verschiedene Identitäten als unsichtbarer und zugleich sichtbarer Übersetzer für sich konstruiert.
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graphie rezipiert,9 jedoch hatten sich die Begriffe historischer Wahrheit und des Faktischen um 1770 stark gewandelt. Im Zeitalter der europäischen Aufklärung trat zunehmend die Beobachtung des Empirischen in den Vordergrund, während zum Beispiel in Kolumbus’ Berichterstattung Mythen und Geschichten mit empirischer Beobachtung zu Erzählungen verschmolzen wurden.10 Statt reinen Entdeckungsreisen durch Neugierde und koloniales Machtstreben angetrieben sowie auf Profit ausgerichtete Piraterie, kam bei allem Wettbewerb zwischen den Kolonialmächten nun ein grundlegender wissenschaftlicher Anspruch der Weltreisen hinzu, der sich gerade an der Beteiligung professioneller Wissenschaftler zeigte.11 Insbesondere Cooks drei Reisen um die Welt sowie die des Franzosen Louis-Antoine de Bougainville (1766–1769) markieren die ersten Forschungs- und Entdeckungsreisen, die mit explizitem Auftrag, die Natur- und Kulturgeschichte der Menschen zu erforschen, durchgeführt wurden.12 Der zunehmende Anspruch an Wissenschaftlichkeit und empirische Beobachtung, den Georg Forster explizit jeder romantischen Einbil9
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Wolfgang Neuber: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik. In: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Hrsg. von Peter J. Brenner. Frankfurt. a.M. 1989, S. 50–67, S. 56. Für den Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Reisebericht in der Aufklärung, vgl. auch Hans Erich Bödeker: Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert. Hrsg. von H.E. Bödeker/Georg G. Iggers/ Jonathan B. Knudsen. Göttingen 1986, S. 276–298, sowie Lutz-Henning Pietsch: Reise zur See oder Vermessen der Heimat. Analogische Strategien geschichtsphilosophischer Darstellung bei Herder und ihre Kritik bei Kant. In: Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800. Hrsg. von Claudia Albes/Christiane Frey. Würzburg 2003, S. 97–115, hier: S. 109. Neuber: Zur Gattungspoetik, S. 53. Siehe auch Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 179, der diskutiert, wie der Reisebericht im 18. Jahrhundert zunehmend zum Erkenntniswerkzeug wurde, das Menschheits- und Naturgeschichte, ›historia civilis‹ und ›historia naturalis‹, gleichermaßen umfasste. Siehe zur Parallele zwischen Menschheits- und Naturgeschichte auch Herders ›Ideen‹ (III.4). Michael Neumann: Philosophische Nachrichten aus der Südsee Georg Forsters ›Reise um die Welt‹. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Jürgen Schings. Germanistische Symposien-Bände 15. Stuttgart/Weimar 1992, S. 517–544, insb. S. 517–521. Siehe zum wissenschaftlichen Anspruch beider Forsters auch Strack: Exotische Erfahrung, S. 216–222. Vgl. für weitere Details zu den wissenschaftlichen Reisen des 18. Jahrhunderts Rob Iliffe: Science and Voyages of Discovery. In: The Cambridge History of Science. Bd. 4. Eighteenth-Century Science. Hrsg. von Roy Porter. Cambridge u. a. 2003, S. 618–645. Siehe auch Hans Erich Bödeker: Die »Natur des Menschen so viel möglich in mehreres Licht […] setzen«. In: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hrsg. von Jörn Garber/Tanja van Hoorn. Hannover 2006, S. 143–170.
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dungskraft und Fiktion im Sinne »erdichteter Zusätze« entgegensetzt (AA II, S. 10), führt zum Ziel, einen philosophischen Reisebericht zu verfassen. Die Europäer können die »Vorurtheile der Einseitigkeit«13 in einem universalen Diskurs der Humanität überwinden.14 Forster spricht in seiner Einleitung zur deutschen Ausgabe der ›Reise um die Welt‹ explizit von der Aufgabe seines Vaters, »eine philosophische Geschichte der Reise« (AA II, S. 8) zu schreiben,15 die vorurteilsfrei und empirisch-induktiv16 verfährt, also nicht – so später seine Kritik im Streit mit Kant17 – systemorientiert-deduktiv ist (AA II, S. 8): »Dagegen will Forster mit dem vorurteilslos erarbeiteten Reisebericht ein Instrument für neue, nicht schon im vorhinein entwerfbare Erkenntnisse gewinnen: an die Stelle von blind sammelnden Reisenden und hohl spekulierenden Philosophen sollen Philosophen treten, die sich selbst auf die Reise machen, oder Reisende, die sich philosophische Augen zulegen«.18 Diesen Anspruch der philosophi13
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Georg Forster: Über lokale und allgemeine Bildung (1791). In: AA VII. Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala. Bearbeitet von Gerhard Steiner. 1963, S. 45–56, hier: S. 48. Manfred Beetz/Rainer Godel: Entdeckte Vorurteile auf der Weltreise. Zu Georg Forsters empirischer Anthropologie und Anerkennung des Fremden. In: Aufklärung. Stationen – Konflikte – Prozesse. FS Jörn Garber. Hrsg. von Ulrich Kronauer/Wilhelm Kühlmann. Eutin 2007, S. 9–37, S. 22. Vgl. zum Forschungsanspruch auch Georg Forsters Vorankündigungsbrief der Reisebeschreibung für den deutschen Leser im Brief an Johann Philipp Spener, 4. Okt. 1776. In: AA XIII. Briefe bis 1883. Bearbeitet von Siegfried Scheibe. 1978, S. 53–59, S. 56. An dieser Stelle lässt sich Forsters Werk mit dem Empirismus der angelsächsischen Menschheitshistoriker verbinden. Siehe hierzu Meyer: Von der ›Science of Man‹ zur ›Naturgeschichte der Menschheit‹. Zum Einfluss der schottischen Aufklärungsgeschichtsschreibung auf Forster, siehe auch Ludwig Uhlig: Theoretical or Conjectural History. Georg Forster’s ›Voyage Round the World‹ im zeitgenössischen Kontext. Germanisch-romanische Monatsschrift 53 (2003), S. 399–414. Zu Forsters reflektiertem Vorurteilsbegriff im Umgang mit Fremderfahrung auf der ›Reise um die Welt‹, siehe Beetz/Godel: Entdeckte Vorurteile. Vgl. Manfred Riedel: Historismus und Kritizismus. Kants Streit mit G. Forster und J. G. Herder. In: Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen. Hrsg. von Bernhard Fabian/Wilhelm Schmidt-Biggemann/Rudolf Vierhaus. Studien zum achtzehnten Jahrhundert 2/3. München 1980, S. 31–48; sowie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Der Streit um die Einheit des Menschengeschlechts. Gedanken zu Forster, Herder und Kant. In: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel. 1. bis 4. April 1993. Hrsg. von Claus-Volker Klenke. Berlin 1994, S. 115–132. Siehe zur Kant-Forster-Debatte auch in Bezug auf Forsters Aufsatz ›Noch etwas über die Menschenraßen‹ (1786 – AA VIII. Kleine Schriften zu Philosophie und Zeitgeschichte. Bearbeitet von Siegfried Scheibe. 1974, S. 130–156) van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, Kap. 3, S. 85–176. Hauptgegenstand der Diskussion ist die Frage nach einem möglichen polygenetischen Ursprung des Menschengeschlechts (Forster), während Kant die Monogenese als logische und sittliche Notwendigkeit sieht. Neumann: Philosophische Nachrichten, S. 526.
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schen Reisebeschreibung übernimmt Forster nun an Stelle seines Vaters (AA II, S. 9), wobei er anders als dieser reflektiert, dass neben der Empirie und Vorurteilsfreiheit die Kunst, eine Erzählung des Ganzen verfertigen zu können, zu einer philosophischen Reisebeschreibung hinzugehört (AA II, S. 9; S. 13).19 Drittens tritt, wie im Weiteren zu sehen sein wird, die Fähigkeit des Beobachtersubjekts zur Selbstreflexion als entscheidendes Kriterium der philosophischen Reisebeschreibung hinzu.20 Diese Fähigkeit des Beobachtersubjekts begründet sich darin, dass das theologische Denkmuster einer Kultur- und Zivilisationsgeschichte der Menschheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgegeben wurde, wie im vorherigen Kapitel dargestellt wurde.21 Jörn Garber führt hierzu an Forsters Schreibpraxis vor, wie sich statt eines statischen Vernunftmodells eine Dynamisierung und Verzeitlichung von Geschichte ausmachen lässt, die multiperspektivisch soziale und kulturelle Beschleunigungsprozesse zu erfassen sucht.22 Damit reagiert Forster auf den neuen Begriff einer bewegten Geschichte,23 die nur relativ bzw. perspektivisch zu erfassen ist.24 Da sie nicht an und für sich existiert, sondern erst wenn sie – mündlich oder schriftlich – dargestellt wird, ist das Vergangene nur durch ein Erkenntnissubjekt zu fassen, das selbst in den Geschichtsverlauf involviert ist. Georg Forsters Reisebeschreibungen setzen dieses neue Verhältnis von Subjekt und Objekt um. Zuerst wird der utopische Fernblick auf die Südseekulturen gerichtet, um dann mit ›zersetzendem‹ 19
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Vgl. auch Georg Forsters Rezension von 1790 der ›Voyage de Monsieur le Vaillant dans l’intérieur de l’Afrique, par le Cap de Bonne Espérance dans les années 1780–55‹ (in: AA XIII. Rezensionen. Bearbeitet von Horst Fiedler. 1977. S. 225–230), in der Forster die »Vorstellung eines unzertrennlichen, gleichsam beseelten Ganzen« (S. 225) für die Reisebeschreibung vertritt. Diese klassizistische Programmatik entspricht allerdings der im Weiteren zu zeigenden Dynamik der ›Reise um die Welt‹ nicht mehr. Vgl. Neuber: Zur Gattungspoetik, S. 60. Siehe auch Michaela Holdenried: Erfahrene Aufklärung. Philosophische Reisen in zerstörte Idyllen. Georg Forster als philosophischer Reisender. ›Reise um die Welt‹ (1777). Georg-Forster-Studien 11 (2006), S. 131–145, S. 144. Vgl. I.2.1. Garber: Die »Schere im Kopf« des Autors, S. 14. Vgl. auch Koselleck: Historia Magistra Vitae; siehe im Detail zur Beweglichkeit und Perspektivität von Geschichte im 18. Jahrhundert Kapitel I.2.1 in der Einleitung. Manuela Ribeiro Sanches argumentiert, dass Forster zunehmend in seinem Werk unterschiedliche Standpunkte abwägt, wodurch einer völligen Relativität ihre Gefährlichkeit genommen werde (»Diese zarten, fast unsichtbaren Fäden der Arachne«. Das wahrnehmende Subjekt und die Konstituierung von Wahrheit bei Forster. In: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel. 1. bis 4. April 1993. Hrsg. von Claus-Volker Klenke. Berlin 1994, S. 133–146, hier: S. 142). Vgl. zur Intersubjektivität der Forsterschen Darstellung auch Strack: Exotische Erfahrung, S. 233–238.
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Nahblick diesen »Mythos einer herrschaftsfreien Welt durch ›Augenschein‹ zu zerstören«.25 In dieser Konstellation wird die Teil-Ganzes-Beziehung des hermeneutischen Zirkels reflektiert: »Der Blick auf das Ganze legt die Differenz zu Europa frei, der Blick auf die Teile zeigt, daß Europa und die Ferne homologe Zivilisationsformen aufweisen.«26 Der sich selbst beobachtende Betrachter thematisiert seine eigene Erfahrungs- und Schreibperspektive27 und leistet die Vermittlung zwischen dem Spontaneindruck und den reflexiv geordneten Wirklichkeitsbildern.28 Ordnung entsteht nicht in der Logik der wahrgenommenen Gegenstandsklassen, »sondern mit der Abfolge der Perzeptionen des Beobachters«.29 Auch wenn wissenschaftstheoretisch in Garbers systemtheoretisch begründetem Modell eine Vermittlung möglich erscheint und auch wenn Forster selbst beansprucht, in der ›Reise um die Welt‹ Subjektivität und Objektivität in einer philosophischen Synthese zusammenzufügen, wobei in der Darstellung der Natur und ihrer Völker die Wahrheitsansprüche der aufkommenden modernen Naturwissenschaften berücksichtigt werden, wird zu zeigen sein, dass Forsters Synthese aus Sicht des Anthropologen bzw. Ethnographen gerade nicht gelingt. Vielmehr entsteht Zivilisationsgeschichte, indem das Eigene (die Perspektive des europäischen Beobachters) und das Fremde (die verschiedenen Kulturen in der Südsee) in konstanter Spannung zueinander stehen.30 Die Darstellung von Zivilisationsgeschichte ist hierbei von der Prozessualität der Darstellung abhängig, die vollzogen wird, aber nicht zu einem abschließenden Ergebnis synthetisiert werden kann.31 Jenseits der theoretischen Reflexion Forsters 25
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Garber: Die »Schere im Kopf« des Autors, S. 15, Anm. 5. Ralph Rainer Wuthenow führt aus, wie Forster die Utopie der Südsee im Allgemeinen und von Tahiti im Besonderen kritisch reflektiert und zeigt, dass, sobald »ein Stück Arkadien in der Südsee sichtbar [wird], […] der Idylle bereits der Untergang« durch entstehende Bedürfnisse und insbesondere durch europäische Habgier droht (Inselglück. Reise und Utopie in der Literatur des XVIII. Jahrhunderts. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Bd. 2. Stuttgart 1982, S. 320–335, hier: S. 333). Garber: Die »Schere im Kopf« des Autors, S. 15, Anm. 5. Beetz/Godel: Entdeckte Vorurteile, S. 18. Garber: Die »Schere im Kopf« des Autors, S. 27. Garber: Selbstreferenz, S. 169. Auch wenn Michael Neumann korrekt die Bauformen beschreibt, durch die Forster seine Beobachtungen entsprechend dieses Anspruches eines philosophischen Reiseberichts systematisieren kann (Philosophische Nachrichten, S. 527–533), ist die Besonderheit von Forsters Text die Dynamik, durch die der Text einen aufführenden oder vollziehenden Charakter erhält. Forsters später geschriebene Essays hingegen befinden sich zu sehr auf einer begrifflichprogrammatischen Ebene, sodass sie in diesem Kapitel nur am Rande erwähnt werden. Forster schreibt aus einer distanzierten Perspektive; die Prozessualität von Geschichte
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entsteht ein Schreibverfahren, das den Prozess des Verstehens vollzieht. Damit wird es möglich, ein dynamisches Geschichtsmodell zu entwerfen, in dem Fortschritt und Fortschrittskritik zugleich ihren jeweiligen Platz haben.32 Dieses dynamische Geschichtsmodell steht im Übergang zwischen Reisebericht und der Menschheits- oder Zivilisationsgeschichtsschreibung, als die Forsters ›Reise um die Welt‹ in diesem Kapitel gelesen werden wird.33
2.
Verräumlichte Zivilisationsgeschichte
Insbesondere James Cook gelingen in seinen drei Weltreisen bahnbrechende Erkenntnisse in der Kartographierung der Welt. Die Welt wird geographisch erschlossen; die zweite Cook-Reise beweist endgültig die Nicht-Existenz eines bewohnten Südkontinents (›Terra Australis‹) in der noch gemäßigten Klimazone.34 Damit wird es für das Europa der Spätaufklärung geographisch-menschheitsgeschichtlich möglich, eine weltum-
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wird theoretisch erläutert, aber nicht mehr inszeniert und vollzogen. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist Forsters Essay bzw. Einleitung zu seiner Übersetzung der Reisebeschreibung von Cooks letzter Reise: Cook, der Entdecker (1787). In: AA V. Kleine Schriften zur Völker- und Länderkunde. Bearbeitet von Horst Fiedler et al. 1985, S. 191–302. Hier wird in einem heroischen Gestus ein Modell der Natur- und Menschheitsgeschichte behauptet und analytisch vorgeführt. Die Reisen und Taten Cooks werden dabei aber ausschließlich nacherzählt. Die Reise fungiert als eine Datensammlung, die Forster auswertet. Eine Prozess- oder Geschichtsinszenierung ist nicht zu entdecken. Jörg Esleben zeigt an Forsters Essays durch dessen Gesamtwerk hindurch die Spannung zwischen einer »projection of a mutually beneficient relationship between a universal, rational, paternalistic Europe and diverse non-European peoples in various stages of fulfilling their potential of perfectibility and civilization« und dem Anspruch europäischer kultureller Autorität. Zugleich findet sich in Forsters Reflexionen ein Moment kultureller Hybridität, durch das diese Autorität unterlaufen wird (Georg Forster’s Dialectic of Imperialist Desire. Seminar 37 (2001), S. 305–322, hier: S. 321); ähnlich in Bezug auf den Anspruch von Menschenrechten auch Yomb May: Menschenrechte für die Wilden? Zum Widerspruch zwischen ›Instruktionen‹ und Wirklichkeit in der literarischen Weltreise Georg Forsters. Georg-Forster-Studien 14 (2009), S. 191–205. In diesem Kapitel wird vorwiegend der Begriff der Zivilisationsgeschichte verwendet, da Forster den Stand verschiedener Kulturen im Prozess der Menschheitsgeschichte darstellt, nicht aber die Entstehung des Menschen als solches. Dies geschieht höchstens in Überlegungen zu den Abstammungen bestimmter Menschengruppen. Siehe AA II, S. 423 und S. 427; vgl. auch Iliffe: Science and Voyages of Discovery, S. 626–630; Christiane Küchler Williams: Erotische Paradiese. Zur europäischen Südseerezeption im 18. Jahrhundert. Göttingen 2004, S. 17–22; und Joachim Meißner: Mythos Südsee. Das Bild von der Südsee im Europa des 18. Jahrhunderts. Hildesheim/Zürich/ New York 2006, S. 25–30, sowie S. 211–217. Meißner zeigt, wie der leere Raum des Südkontinents buchstäblich Schritt für Schritt zwischen dem 16. und späten 18. Jahrhundert ›gefüllt‹ wird (Ebd., insb. S. 30–36).
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spannende Universalkultur zu organisieren. Die unterschiedlichen Kulturen auf der Welt können auf eine zivilisationshistorische Landkarte übertragen werden.35 Geographie ermöglicht Weltgeschichte, wie Jörn Garber in seinen Arbeiten zu Georg Forster und zur Anthropologie der Spätaufklärung mehrfach überzeugend argumentiert hat.36 Die Historie kann zu einer Strukturwissenschaft werden: »Es ist unschwer erkennbar, daß die Historie unter dem Einfluß der Geographie zu einer Strukturwissenschaft wird, die nicht länger Ereignisse und Personen in synchroner Reihung aufzählt, sondern räumlich verdichtete Natur- und Kulturfaktoren bündelt zu Determinanten, die jeglichem geschichtlichen Handeln vorausliegen.«37 Natur- und Kulturfaktoren38 können nun in einen Geschichtsprozess eingeordnet werden; die Doppelung aus Raum- und Zeitgeschichte ermöglicht es, Menschheits- oder Zivilisationsgeschichte als Prozess darzustellen. Totalität kann in historiographischer Praxis ausgedrückt werden.39 Forsters geschichtsphilosophisches Modell ist dabei erst einmal fortschrittsorientiert.40 Dies wird am deutlichsten im pathetischen Schluss der ›Reise‹, der die Überlegenheit der europäischen Kultur verficht: »Durch die Betrachtung dieser verschiedenen Völker, müssen je35
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Vgl. Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 19, zum Projekt der ›Großen Landkarte‹ der Menschheit im 18. Jahrhundert in der europäischen Geistesgeschichte, z. B. bei Edmund Burke und Adam Ferguson. Zum Beispiel Garber: Selbstreferenz und Objektivität, S. 152. Jörn Garber: »So sind also die Hauptbestimmungen«, S. 201. Garber argumentiert hier für einen »quantitative[n] Sprung von der Natur- zur Kulturdetermination des Menschen« (»So sind also die Hauptbestimmungen«, S. 199). Vgl. Garber: »So sind also die Hauptbestimmungen«, S. 207; vgl. auch Garber: Selbstreferenz und Objektivität, S. 152. Zu Forsters Geschichtsphilosophie, die dieser aber vornehmlich nach dem Verfassen der ›Reise um die Welt‹ entwickelt bzw. ausgeführt, insbesondere im ›Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit‹ (1789. AA VIII, S. 185–193), siehe u. a. Johannes Rohbeck: Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Georg Forsters Geschichtsphilosophie im Kontext der europäischen Aufklärung. In: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hrsg. von Jörn Garber/Tanja van Hoorn. Hannover 2006, S. 13–28; sowie Oliver Hochadel: Natur – Vorsehung – Schicksal. Zur Geschichtstheologie Georg Forsters. In: Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Hrsg. von Jörn Garber. Tübingen 2000, S. 77–104, S. 78–80. Hochadel sieht Forster, ein evolutionäres Stufenmodell entwerfen, »das flexibel genug ist, sowohl verschiedene Entwicklungswege und -geschwindigkeiten als auch (als temporär verstandene) Rückschritte zu integrieren« (S. 79). Den inszenierten Prozess der Zivilisationsgeschichte erkennt Hochadel allerdings nicht. Grundsätzlich für Forsters Geschichtsbild, siehe auch Ludwig Uhlig: Georg Forster. Einhalt und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt. Tübingen 1965. Für eine marxistische Deutung von Forsters Geschichtsphilosophie, siehe Hans Gerd Prodoehl: Individuum und Geschichtsprozess. Zur Geschichtsphilosophie Georg Forsters. In: Georg Forster in seiner Epoche. Hrsg. von Georg Pickerodt. Berlin 1982. S. 149–197.
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dem Unpartheyischen die Vortheile und Wohlthaten, welche Sittlichkeit und Religion über unsern Welttheil verbreitet haben, immer deutlicher und einleuchtender werden« (AA III, S. 452).41 Fortschritt definiert sich für Forster in der ›Reise um die Welt‹ durch Sittlichkeit, die damit als positiver Maßstab europäischer Zivilisation dient.42 Forster ist optimistisch, dass jede Gesellschaft zivilisatorischen Fortschritt erleben kann. Dies wird im Unterton der gesamten ›Reise um die Welt‹ deutlich. Forster betont immer wieder die zivilisatorischen Anstrengungen der Europäer, allen voran neue nützliche Tiere und Pflanzen in den Naturen der Südsee anzusiedeln. Entwicklungen sind zwar abhängig von den klimatischen Bedingungen,43 aber die meisten Gegenden können gesellschaftlichen Fortschritt erleben.44 Hierbei nimmt Forster eine explizite Unterscheidung zwischen Bewohnern und Gegenden vor: Forsters grundsätzliche Theorie der Entwicklung der Menschheit auf der Basis von ›Sittlichkeit‹ wird bei der Analyse der Gesellschaftsformen auf Tanna besonders deutlich. Forster reflektiert hier über den Kulturstand von Tannas Bewohnern und insbesondere über die gesellschaftliche Stellung der Frau: Auch siehet der Wilde die Schwäche und das sanfte duldende Wesen der Weiber nicht für Aufmunterung und Schutz bedürfende Eigenschaften, sondern vielmehr als einen Freyheitsbrief zur Unterdrückung und Mishandlung an, weil
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Reise um die Welt. 2. Teil. Bearbeitet von Gerhard Steiner. 1965. Vgl. zum europäischen Blick auf die Südsee bei Forster, der an europäischen Werten wie Tugend oder Schönheit geschult ist, die präzisen Ausführungen von Carola Hilmes: Georg Forsters Wahrnehmung und Beschreibung der fremden Frauen auf Tahiti. In: Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Manfred Beetz/Jörn Garber/Heinz Thoma. Göttingen 2007, S. 139–155, S. 154f. Garber fasst Sittlichkeit in diesem Kontext wie folgt: »Der Zustand der ›Sittlichkeit‹ ist die Folge des Anwachsens äußerer materieller Fortschritte, die in ihrer Spätphase umschlagen zur Freiheit des Menschen, was den Zusammenhang von Natur- und Kulturgeschichte garantiert (Garber: »So sind also die Hauptbestimmungen«, S. 197). Siehe zur ›Reise um die Welt‹ und Forsters Auffassung von der Klimatheorie, van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, Kap. 2, S. 21–83. Van Hoorn führt vor, wie die empirischen Realitäten der Reise die Annahmen einer Klimatheorie unterlaufen, sodass Forster statt des Klimas zunehmend stärker die Bedeutung der Abstammung des Menschengeschlechts herausstellt (Ebd., S. 82). Siehe auch Horst Dippel: Revolutionäre Anthropologie? Oder der Versuch, Georg Forster neu zu lesen. Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 23–40. Dippel zeigt, dass bereits die ›Reise um die Welt‹ eine dynamische Anthropologie beinhaltet, diese also nicht erst in Forsters späteren theoretischen Schriften zu finden ist. Hierbei nimmt Forster eine explizite Unterscheidung zwischen Bewohnern und Gegenden vor, z. B. bezüglich der Bewohner von Tierra del Fuego. Die jetzigen Bewohner seien zur Zivilisation unfähig, aber die Gegend biete – anders als die Insel Süd-Georgien – durchaus die entsprechenden Voraussetzungen (AA III, S. 403f.).
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die Liebe zur Herrschsucht dem Menschen angeboren und so mächtig ist, daß er ihr, zumal im Stande der Natur, selbst auf Kosten des Wehrlosen fröhnet. (AA III, S. 252)45
Forsters Lösung, weniger Naturinstinkten als sozialen Normen zu folgen, besteht im Bevölkerungswachstum, sodass nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft jeden Nahrungsmangel auffängt. Dadurch nimmt das Maß an Sittlichkeit zu: Erst mit dem Anwachs der Bevölkerung, wenn die Nahrungs-Sorgen nicht mehr jedem einzelnen Mitglied unmittelbar allein zur Last fallen, sondern gleichsam auf die ganze Gesellschaft vertheilt sind; erst alsdann nimmt das Maas der Sittlichkeit zu, Überfluß tritt an die Stelle des Mangels, und das nunmehr sorgenfreyere Gemüth fängt an die sanfteren Freuden des Lebens zu genießen, dem Verlangen nach Erholung und Fröhlichkeit Gehör zu geben, und die liebenswürdigen Eigenschaften des anderen Geschlechts kennen und schätzen zu lernen. (AA III, S. 252)
In diesem Zitat wird aber auch bereits die Dopplung von Forsters Fortschrittsbegriff deutlich. Die scheinbare Argumentation für eine moderne sittliche Gesellschaft wird von einer Glücks- bzw. Idyllenvorstellung überlagert, die im gegenwärtigen England bzw. Europa nur indirekt zu haben ist. Es entsteht ein Begriffspaar von Herz oder Glück, die mit Naivität gekoppelt sind (z. B. AA III, S. 86–90), und Sittlichkeit, an Reflexion gekoppelt (z. B. AA III, S. 252 und S. 452), das in der Zivilisationsgeschichte in ständiger Spannung zu stehen scheint. Auf höherer Ebene kann es aber eine Synthese geben, die das wahre Glück bei entsprechender Sittlichkeit ermöglicht.46 Beim Abschied nach dem zweiten Aufenthalt auf Raietea (zu den Gesellschaftsinseln gehörend) verfällt Forster in eine lange Reflexion über 45
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Zu Forsters Wahrnehmungen der fremden Frau in der Südsee und seinen Normalisierungsversuchen bei deren Interpretation, siehe Hilmes: Georg Forsters Wahrnehmung. Hilmes macht dabei »eine brisante Mischung aus Modernität und Moralität« aus (S. 149). Vgl. auch Yomb May: Kultur im Zeichen des Geschlechts. Eine genderorientierte und postkoloniale Lektüre von Georg Forsters ›Reise um die Welt‹. Georg-Forster-Studien 13 (2008), S. 175–200, zur Funktion des weiblichen Geschlechts in der ›Reise um die Welt‹, und Küchler-Williams: Erotische Paradiese, S. 101–137, zur Rolle der Frau als Objekt für das sexuelle Verlangen des Mannes. Dies führt zur Erotisierung der Südsee an sich. Forster verwendet den Begriff des Herzens auch für die europäische Gesellschaft, insbesondere in seinem überakzentuierten, letztlich auf die Schöpfungslehre zurückgreifenden Fazit: »Mit dankbarem Herzen wird er [jeder Unparteiische] jene unbegreifliche Güte erkennen, welche ihm ohne sein Verdienst einen wesentlichen Vorzug über so viele andre Menschen gegeben, die ihren Trieben und Sinnen blindlings folgen, denen die Tugend nicht einmal dem Namen nach bekannt, und für deren Fähigkeiten der Begrif von einer allgemeinen Harmonie des Weltgebäudes noch viel zu hoch ist, als daß sie daraus den Schöpfer gehörig erkennen sollten« (AA III, S. 452).
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das dortige »liebenswürdige Volk« »welches bey allen seinen Unvollkommenheiten, vielleicht unschuldigern und reinern Herzens ist, als manche andre, die es in der Verfeinerung der Sitten weiter gebracht und bessern Unterricht genossen haben« (AA III, S. 126). Forster beschreibt am Beispiel von Maheine, dem Einheimischen aus Raietea, der gemeinsam mit den Europäern seit Anfang September 1773 (bis Juni 1774, dem zweiten Aufenthalt auf Raietea) gereist ist, sowie den anderen Bewohnern von Raietea deren Gutherzigkeit und ihr grundsätzliches Folgen geselliger Tugenden. Gleichzeitig bleiben sie gesellschaftlich naiv, zum Beispiel wenn sie Cook und Johann Reinhold Forster, wegen ihres jeweils gehobenen Standes, für Brüder halten. Dies entwickelt Forster dann zu einem weiteren Merkmal ihrer Tugend, zeigt aber, dass diese natürliche Tugend auf der Landkarte der Zivilisationsgeschichte noch recht früh anzusiedeln ist: »Was übrigens ihren Tugenden, als der Gastfreyheit, der Gutherzigkeit und der Uneigennützigkeit, einen doppelten Werth giebt, ist dieses, dass sie selbst sich derselben nicht einmal bewußt sind, und es gleichsam den Fremdlingen, die zu ihnen kommen, überlassen aus dankbarer Erkenntlichkeit, ihren Tugenden Denkmäler zu stiften« (AA III, S. 127). Die Reflexionsfähigkeit, also die Erkenntnis von natürlichen Tugenden, sowie damit einher die Überlieferungsmacht, kommt den Europäern auf der höchsten Sittlichkeitsstufe zu. Sie können damit die Tugenden von natürlicheren Völkern überliefern, während diesen Völkern in früheren Zivilisationsphasen wegen ihrer fehlenden Reflexionsfähigkeit jedes Geschichtsbewusstsein fehlt. Das Herz erweist sich also als etwas Notwendiges im kulturellen Entwicklungsprozess; gleichzeitig muss es im zivilisatorischen Fortschritt, der auf Sittlichkeit und Bewusstsein basiert, immer zu kurz kommen, wodurch Sehnsucht erzeugt wird. Dieses Zivilisationsund Fortschrittsmodell mit einer inhärenten Fortschritts- bzw. Zivilisationskritik wird in der ›Reise um die Welt‹ auch praktisch inszeniert, wie im Weiteren insbesondere am doppelten Sehnsuchtsbegriff erkennbar werden wird. Die historische Dimension, mit der Forster über eine Beschreibung und die theoretische Reflexion verschiedener Kulturstufen hinausgehen kann, wird jetzt auf zweifache Weise geschaffen: einerseits auf einer räumlichen Zeitebene, andererseits als Temporalisierung und Vollzug historischer Prozesse und kultureller Wahrnehmung.47 Letzteres ermöglicht 47
Dieser Prozess bestätigt sich auch im Herder-Kapitel (III), wobei dort die Temporalisierung von vornherein überwiegt, insbesondere in der Betonung der Individualität von Kulturen.
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Forster die moderne Erzählung und Inszenierung des Geschichtsprozesses und seiner Notwendigkeiten und Zufälligkeiten.48 Doch zuerst soll kurz das räumliche Geschichtsmodell vorgestellt werden, in dem Forster die verschiedenen Kulturen wie auf einer Stufenleiter auf die europäische Gegenwart zulaufen lässt. Forsters Bewertungen auf der ›Reise um die Welt‹ lassen eine eindeutige Hierarchie von Kulturen erkennen, die wie auf eine Landkarte als unterschiedliche Stufen bzw. Phasen der Zivilisationsgeschichte übertragen werden. Die geographische Kartographisierung der Welt wird zivilisationshistorisch wiederholt. Die Reise lässt sich fast wie eine Zeitreise lesen, die an unterschiedlichen Punkten der Geschichte anhält und diese eingehender untersuchen kann. Der am weitesten fortgeschrittene Punkt dieser menschheitsgeschichtlichen Landkarte ist das zivilisiert-sittliche England (bzw. Europa), wie oben an der Schlusspassage der Reisebeschreibung in Bezug auf den Fortschritt bestimmenden Terminus der Sittlichkeit gezeigt wurde. Dies markiert die am meisten fortgeschrittene und offene Gegenwart, zu der der Beobachter und Reisebeschreiber Forster gehört und die entsprechend den höchsten Reflexionsgrad kultureller Entwicklung besitzt, wie auf der temporalisierten Ebene der Zivilisationsgeschichte in der Inszenierung der Wahrnehmung des Beobachters deutlich werden wird. Die am geringsten entwickelte Stufe in der Stufenleiter menschlicher Gesellschaften sind die Einwohner von Tierra del Fuego. »Diese Züge [der Einwohner von Tierra del Fuego] machten […] das vollständigste und redendste Bild von dem tiefen Elend aus, worinn dies unglückliche Geschlecht von Menschen dahinlebt« (AA III, S. 381). Forster fasst die fehlende Fähigkeit zur Sprache, zur Reflexion und zum Streben im Allgemeinen zusammen: Dem Thiere näher und mithin unglückseliger kann aber wohl kein Mensch seyn, als derjenige, dem es, bey der unangenehmsten körperlichen Empfindung von Kälte und Blöße, gleichwohl so sehr an Verstand und Überlegung fehlt, dass er keine Mittel zu ersinnen weiß, sich dagegen zu schützen? der unfähig ist, Begriffe mit einander zu verbinden, und seine eigne dürftige Lage mit dem glücklichern Zustande andrer zu vergleichen? (AA III, S. 383)
Sein Erzählgestus ist dabei distanziert-wertend; die Begegnung mit den Kulturen und der abstrakte Prozess der Entwicklung von Zivilisation werden nicht wie bei den Südseekulturen inszeniert, sondern das Wissen
48
Zum Verhältnis von historischem Zufall und geschichtsphilosophischer Notwendigkeit in der Historiographie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, siehe I.2.4, IV.4 und V.4.
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darüber scheint bereits vorhanden zu sein.49 Für die als unterste eingeschätzte Kulturstufe beruft Forster sich ausschließlich auf die Wahrheit der Empirie und Naturbeobachtung und argumentiert damit letztlich für einen Glückszustand der gegenwärtigen gesitteten Gesellschaft im Gegensatz zum Traum vom »ursprünglich wilden Leben« (AA III, S. 383).50 Auch Kulturen und Gegenden wie Madeira oder Tafel-Bai am Kap der Guten Hoffnung können distanzierter beschrieben werden, da einerseits das bereits Kolonialisierte der europäischen Kultur stärker entspricht. Forster erzählt aus der Retrospektive eine Zusammenfassung, die kaum von der aktuellen Begegnung und Erfahrung mit Kulturen, sondern von zuvor abgeleitetem und in der Beobachtung bestätigtem Wissen geleitet wird.51 Andererseits kritisiert Forster die negativen Erscheinungsformen der Hybridisierung zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen; das heißt, die Erfahrung der Welt spielt eine geringere Rolle als deren Bewertung aus einer analytisch distanzierten Perspektive. Eine Wahrnehmungsinszenierung ist nicht notwendig. Die Südsee bildet nun Forsters eigentlichen historischen Experimentalraum unterschiedlicher Natur- und Kulturstufen der Menschheit.52 Da 49
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Vgl. hierzu die kritische Einschätzung von Thomas Köhler: Die Forstersche Vermittlung der Fremderfahrung zwischen europäischer Normverhaftung, Zivilisationskritik und Aufklärungsideal. Georg Forsters ›Reise um die Welt‹ und Johann Reinhold Forsters ›Beobachtungen‹ als komplementäre Verarbeitung einer ›philosophischen Reise‹ in die Südsee. Georg-Forster-Studien 9 (2004), S. 55–80, insb. S. 59. Die stille Begrüßung der Feuerländer kann Forster in seinem Vorstellungshorizont von Zivilisationsgeschichte nicht wirklich verarbeiten. Für die Vorstellung vom ›Edlen Wilden‹ in Bezug auf Forsters Text, siehe z. B. Marita Gilli: Georg Forster. Das Ergebnis einer Reise um die Welt. In: Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung. Hrsg. von Hans-Wolf Jäger. Heidelberg 1992, S. 251–274, S. 253–259. Gillis These, dass Forsters ›Wilder‹ nicht zur Utopie bzw. mythisch, sondern zur »schlichte[n] Wirklichkeit« (S. 259) wird, ist hingegen deutlich zu vereinfacht. Forster braucht die utopischen und mythischen Potentiale für seine Geschichtsinszenierung, wie im Weiteren zu sehen sein wird. Hilmes variiert präziser zwischen den verschiedenen Deutungsmustern des ›edlen‹ und des ›bösen Wilden‹. Letzteres Deutungsmuster wird von ihm dabei zum Bild vom ›elenden Wilden‹ entschärft (Georg Forsters Wahrnehmung, S. 141f.). Für eine detaillierte Darstellung des Südsee-Mythos in der deutschen Literatur mit theoretischen Überlegungen zur Fremdwahrnehmung, kulturellem Gedächtnis und literarischem Mythos, siehe Anja Hall: Paradies auf Erden? Mythenbildung als Form von Fremdwahrnehmung. Der Südsee-Mythos in Schlüsselphasen der deutschen Literatur. Würzburg 2008, zum ›Edlen Wilden‹ S. 46–58 und S. 80–86, zu Forster, als Zusammenfassung bekannter Überlegungen, S. 91–112. Allgemein zu den Entstehungsmustern des Südseemythos im Wechselspiel von Mythos und Utopie im 18. Jahrhundert, siehe Meißner: Mythos Südsee. Hierbei verweist Meißner gerade auf die Parallelen zwischen Politik und Natur. Zu europäischen Vorstellungen von dem ›Wilden‹, siehe ebd., S. 118–201. Vgl. II.6 zur distanzierten Erzählweise Forsters bei der Darstellung Madeiras. Garber erklärt dies in Bezug auf Forsters Aufsatz ›Über lokale und allgemeine Bildung‹ wie folgt: »[Forster] deutet die Endstufe der Menschheitsgeschichte, die universalistische
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dieser die längeren bzw. substantielleren Landaufenthalte in der Südsee immer reflexiv abschließt, ist es relativ einfach, sein räumliches Zivilisationskonzept zu erkennen. Die tahitische Kultur wird als die am meisten entwickelte Kultur der Südsee angesehen. Dies wird zum Teil auf exogene Faktoren wie das Klima und die dadurch entstehende Pflanzenwelt zurückgeführt, zum Teil an endogenen Faktoren – Tradition, Regierungsformen, sozialen Normen, der Rolle der Frau etc. – bezüglich der kulturellen Entwicklung und möglicher Zivilisationskritik gemessen (u. a. AA II, S. 238). Die ständigen Vergleiche zwischen Tahiti und der Antike deuten eine kulturelle Blütezeit an, die zugleich dem aufklärerisch-klassizistischen Europa vorangeht, also auf niederer Stufe das europäische Muster vorführt.53 Das soziale Verhalten wird anders als in CharlottenSund, wo die Reisenden mit ständigen Diebstählen zu kämpfen hatten, als ›edel‹ bezeichnet (AA II, S. 264). Forster erkennt die gesellschaftlichen Hierarchien und Kehrseiten einer Gesellschaft, die nicht nur auf Bedürfnisse ausgerichtet ist, sondern auch Luxus und Überfluss kennt. Gleichzeitig schreibt er den Tahitianern eine große Freimütigkeit zu und preist ihr »unverderbtes Herz« (AA II, S. 267). Damit erhält er die Spannung zwischen Sittlichkeit und Glück, die im Kulturfeld der Südsee ihre größte Balance besitzt. Die anderen Gesellschaftsinseln wie Raietea und Tahaa sind weniger fortgeschritten, aber Tahiti nahe.
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Kulturbildung im Zeitalter der Aufklärung, als Folge eines Kontingenzprozesses, der keineswegs einer linearen Verlaufsform folgt. Europa kann in der Gegenwart erstmals eine weltumspannende Universalkultur dadurch organisieren, daß alle konkurrierenden Lokalkulturen unter die Entwicklungsgesetze der europäischen Rationalität gestellt werden« (Selbstreferenz, S. 173f.). Forster stilisiert Europa trotz aller zivilisationskritischen Beobachtungen, als »neue Schöpfung« bzw. »höheren Standpunkt als den menschlichen« (AA VII, S. 48). Allerdings ist für die ›Reise um die Welt‹ festzuhalten, dass hier die später von Forster skizzierte Endstufe bzw. Lösung praktisch unvollendet bleibt und sich in einer ständigen dynamischen Schleife zwischen Natur- und Zivilisationssehnsüchten bewegt; siehe II.5 zur Sehnsucht nach Tahiti und den verschiedenen Brechungen dieser Sehnsucht. Damit wird gerade das Inszenierungspotential abgerufen, das Forster in seinen späteren anthropologischen, geschichtsphilosophischen und essayistischen Texten nicht zu benötigen scheint. Mit anderen Worten verliert Forster die Spannung zwischen Empirie und Geschichtsphilosophie zugunsten einer philosophisch, teilweise aus der Empirie abgeleiteten Geschichtsphilosophie. Vgl. Stefan Goldmann: Georg Forsters Rezeption der Antike oder Anmerkungen zur Affektstruktur des Zitats. In: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster-Symposions in Kassel. 1. bis 4. April 1993. Hrsg. von Claus-Volker Klenke. Berlin 1994, S. 325–338. In Forsters späteren theoretischen Essays, insbesondere in ›Die Kunst und das Zeitalter‹ (1789. In: AA VII, S. 15–26). wird zumindest die Kunst der Gegenwart als der antiken Kunst weit unterlegen dargestellt (S. 16); eine Auffassung, die für den Fortschrittsbegriff in der ›Reise um die Welt‹ noch weitaus weniger bedeutsam ist.
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Die Maori, in den Aufenthalten auf Dusky-Bay und Charlotten-Sund, sind für Forster die am wenigstens ausgeprägte Kultur der Südsee. Sie sind der Natur näher, zeigen wenig gesellschaftliche Hierarchien oder Regierungsordnungen und soziale Ordnungen und Normen. In Charlotten-Sund werden neben dem Kannibalismus fehlende soziale Werte erkennbar, wie gerade die ständigen Diebstähle oder der Umgang mit den Frauen dokumentieren. Die Osterinsel bietet zu wenig Nahrung für eine voll entwickelte Gesellschaft, aber große Potentiale. Forster zitiert hier die Gefühle Maheines, die in Forsters eigene Reflexion übergehen: »[A]uch wars gemeiniglich richtig, weil er [Maheine] unverdorben und scharfsinnig, und sein Verstand zwar ungebauet, aber doch von vielen Vorurtheilen frey war« (AA II, S. 464). Dies ist entscheidend, weil Forster damit die Beobachtersituation verdoppelt – nicht die Europäer sind, sondern Maheine ist vorurteilsfrei, dank seines »warmen Herzens« (AA II, S. 464), sodass eine objektive Aussage über den Kulturstand auf der Osterinsel möglich wird. Die Neuen Hebriden54, zu denen Tanna gehört, und fortgeschrittener die Tonga-Inseln (bei Forster die Freundschaftlichen Inseln) bilden weitere zivilisatorische Zwischenstufen zwischen Neuseeland und Tahiti,55 was sich gerade an Forsters Verwendung des Glücksbegriffs zeigt. Tanna gestaltet sich dabei als ein anderes Glück als Tahiti. Die Zivilisation sei noch nicht so weit fortgeschritten, dass Besitztum geneidet würde. Während es also auf Tahiti Diebstahl in einer entwickelteren Gesellschaft gibt, gibt es dies in Neuseeland als instinktives Verhalten – es gibt kein Bewusstsein von rechtlichem Eigentum. Dieses Modell eröffnet Forster auch die Gelegenheit, die Idee des Herzens doppelt zu verwenden. Einerseits markiert es die Unschuld und das Glück in der Balance von Bedürfnissen und Vorhandenem; gleichzeitig gibt es eine höhere abstraktere Form des Glücks, die in höherer Sittlichkeit endet. Tahiti spiegelt hierin die höhere europäische Gesellschaftsform.
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Neu-Kaledonien wird von Forster eher davor angesiedelt, aber gerade für die Freundlichkeit der Menschen, die noch keinen Europäern begegnet waren, gepriesen. Hier zeigt sich bereits, dass die systematisch-philosophische Beschreibung bei Forster nicht abstrakt besteht, sondern von Wahrnehmung und Begegnung abhängt (AA III, S. 325–327). Köhler: Die Forstersche Fremderfahrung, S. 71, verweist darauf, dass Tanna anders als Neuseeland und Tahiti, kein entscheidender Referenzpunkt in Forsters Südseebetrachtungen ist. Dass die Einordnung der Tanneser »kontextfrei« bleibt, ist allerdings zu bezweifeln; siehe genauer zu Forsters Tanna-Darstellung Abschnitt II.6.
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Der Anspruch der Spätaufklärung56 besteht darin, die Totalität der Geschichte durch einen genetischen Menschheitsbegriff zu erklären. Partikulare historische Prozesse werden in Bezug zur Ganzheit der Geschichte gedacht, was bei Forster unter dem Doppelaspekt von Raum und Zeitgeschichte geschieht:57 »Georg Forster benutzt das naturhistorische Beschreibungsverfahren, wenn er menschheitsgeschichtliche Bestimmungsfaktoren ermittelt. In einer Kontamination von geographischer und historischer Methode wird zunächst die Differenz historischer Räume benannt, bevor eine ›allgemeine Geschichte‹ der Menschheit abgeleitet wird.«58 Der Geschichtsprozess ist also nach Forster kontingent.59 Räumlich gesehen ist Forsters zivilisationsgeschichtliche Landkarte nun keineswegs ein Ablaufmodell, dass sich von den Feuerländern zu den Maori zu den Bewohnern der Tonga-Inseln und dann zu den Gesellschaftsinseln und insbesondere Tahiti entwickelt. Vielmehr kann der Kulturgeschichtsreisende unterschiedliche Entwicklungsstufen lesen und darstellen. Die entstehende Zivilisationsgeschichte ist eine Geschichte zweiter Ordnung – nicht die reale Geschichte, sondern die Aneignung dieser Geschichte aus gegenwärtiger Perspektive. Forster vermeidet, ein wirkliches historisches Entwicklungsmodell zu zeichnen, in dem sich eine Stufe aus der nächsten ergibt, wie es im nächsten Kapitel bei Herder zu sehen sein wird. Die Abläufe bleiben unklar und kontingent; zu viele Faktoren spielen bei der kulturgeschichtlichen Entwicklung eine Rolle – ob diese klimabedingt oder sozialisationsabhängig sind. Im Schlussteil des Reiseberichts gibt Forster zu, dass eine genaue Abstammungslehre der Südseevölker ihm nicht möglich erscheint (AA III, S. 292). Diese Einsicht entwickelte sich im Laufe der Reise und wurde Forster deutlich, als er auf Malekula mit dunkelhäutigen Melanesiern in Kontakt kam, nachdem er zuvor nur vorwiegend hellhäutige Polynesier getroffen hatte.60 Statt einer diachronen Abstammungsgeschichte kreiert Forster verschiedene Kulturstufen in deren jeweiligem Spannungsfeld zwischen Bedürfnissen, Verlangen, Glück und Sittlichkeit. Damit entsteht ein zivilisationshistorisches Tableau. Die Weltreise fungiert also als Erschließung im 56
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Garbers exzellente Arbeiten sind in einem systemtheoretischen Vokabular geschrieben. Dies führt automatisch zu einer Personalisierung und Abstraktion von Kollektivbegriffen wie hier ›Spätaufklärung‹, die in dieser Arbeit, die Inszenierungen von Geschichte anhand konkreter Textbewegungen vorführt, nur mit Vorsicht gebraucht werden. Garber: »So sind also die Hauptbestimmungen«, S. 207. Garber: »So sind also die Hauptbestimmungen«, S. 207. Vgl. Garber: Selbstreferenz, siehe Anm. 52 in diesem Kapitel oben. Van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, S. 47.
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Raum, der von Forster auf eine zeitliche Achse – die Zivilisations- bzw. Menschheitsgeschichte – projiziert wird. Cooks Schiff Resolution macht eine Zeitreise durch die menschliche Zivilisationsgeschichte. Jede Beobachtung von Natur und Menschen in der Wirklichkeit erhält damit zugleich eine historische Dimension im Raum. Die Weltreise ermöglicht die Erschließung von Fakten und Beobachtungen über unterschiedliche Kulturen, die von Forster in ein Stufenmodell der sich entwickelnden Menschheitsgeschichte eingereiht werden. Diese verschiedenen Zivilisationsstufen, die durch die Weltreise lose im Raum verbunden sind, ermöglichen es Forster, Zivilisationsgeschichte als Ganzes zu erfassen und das Problem des historischen Zufalls, das im Konzept einer zunehmend autonomen Geschichte im späten 18. Jahrhundert ein grundlegendes Problem ist, auf der Darstellungsebene zu lösen. Aus dieser Auffassung ergibt sich Forsters dynamisches Schreibmodell, durch das der Prozess von Menschheitsgeschichte inszeniert werden kann. Eine rein räumliche Auffassung von Geschichte kann dem kontingenten Geschichtsmodell nicht gerecht werden; Geschichte muss zugleich auf einer temporalisierten Ebene geschaffen werden. Erst wenn der Beobachtungsprozess in die historische Darstellung mit eingeschrieben wird, wird ein narratives Modell aus Sicht der Aufklärung möglich.
3.
Forsters temporalisierender Stil – Stilvergleiche
Wie entsteht nun temporalisierte Geschichte in Forsters Text? Mit Ausnahme der Darstellung Tahitis haben die besuchten Plätze der Südsee in Forsters Darstellung keine eigene Geschichte. Sie sind abhängig vom gegenwärtigen Blick der Europäer, angereichert durch deren textuelle Wissens- und Bildungsspeicher, zu dem die antike Dichtung ebenso gehört wie vorausgegangene Reisebeschreibungen aus der Südsee. Selbst die historische Dimension der Geschichte Tahitis beschränkt sich auf die Jahre 1767, als Capitain Wallis als erster Europäer Tahiti sichtet, bis zum zweiten Tahitiaufenthalt auf der zweiten Cookreise im Mai 1774 (AA III, S. 74–77). Nach Forster vermögen also nur die Europäer durch ihre Schreibkunst ›Geschichte‹ zu schaffen; das Wissen der Südseeeinwohner über ihre Vergangenheit beschränkt sich neben Ritualen und Traditionen, die sich dem unkundigen europäischen Beobachter oft nicht erschließen, auf das Hörensagen und mythische Dimensionen aus fernen Zeiten, wie Forster am Beispiel des möglichen Kannibalismus auf Tahiti deutlich 88
macht:61 »Durch Nachfragen bei den vornehmsten und verständigsten Leuten erfuhr ich, es sey eine alte Sage unter ihnen, daß vor undenklichen Zeiten sich Menschenfresser auf der Insel gefunden, die unter den Einwohnern eine große Niederlage angerichtet hätten oder sehr starke Leute gewesen; daß aber diese schon seit langer Zeit gänzlich ausgestorben wären« (AA III, S. 62). Geschichte wird also erst in der oben beschriebenen räumlichen Vorstellung kultureller Entwicklung möglich, mit der die Welt in verschiedene zivilisationshistorische Stufen eingeteilt wird. Reinhard Heinritz unterscheidet in seiner Untersuchung von Weltreisen im 18. und 19. Jahrhundert, mit besonderer Berücksichtigung von Forsters ›Reise um die Welt‹, drei unterschiedliche Darstellungsmodi der Reisebeschreibung: das chronologisch aufgebaute Berichten, das Kommentieren und das Erzählen.62 Während Berichten und Kommentieren sich jeweils auf ein ›reales Substrat‹ beziehen und sich oft gegenseitig durchdringen, werde im Erzählen eine bewusst subjektive, oft perspektivische Gestaltung einer Handlung deutlich. Es entstehe der Eindruck einer erzählten Welt,63 vom realen Erfahrungsprozess abgelöst.64 Heinritz’ Trias kann präzisiert werden, wenn man den Akzent der Darstellungsformen etwas verschiebt. In Forsters ›Reise um die Welt‹ gibt es drei Darstellungsmodi, die sich im gesamten Reisebericht überlagern: einen reflexivanalytischen, einen beschreibend-erzählenden und einen performativen
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Dass das fehlende Wissen über Vergangenes gerade mit den Verständigungsschwierigkeiten zwischen Europäern und Südseeeinwohnern zusammenhängt, reflektiert Forster für den Aspekt der Geschichtlichkeit nicht explizit; wobei er das Kommunikationsproblem in anderen Beschreibungen immer wieder thematisiert und reflektiert, wie z. B. im Folgenden bei der Analyse des Dusky-Bay-Abschnitts deutlich werden wird. Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 74–78. Hingegen schafft Johann Reinhold Forster in seinen 1778 erschienenen ›Observations‹ ein für die damalige Zeit wissenschaftliches Werk jenseits aller Kategorien der Reisebeschreibung, in dem Beschreibung und Analyse vorherrschend sind (Observations Made during a Voyage round the World. Hrsg. von Nicholas Thomas/Harriet Guest/Michael Dettelbach. Honolulu 1996). Ein ähnliches Modell wie Heinritz entwickelt Vanessa Agnew: Ethnographic Transgressions and Confessions in Georg Forster’s ›Voyage Round the World‹. In: Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Hrsg. von Nicholas Saul et al. Würzburg 1999, S. 304–315. Sie unterscheidet sechs Formen, ethnographische Daten zu sammeln: die Anwendung zuvor entstandener theoretischer Prämissen, Berichte aus zweiter Hand, deskriptive Darstellung, den Austausch zwischen Ethnograph und fremder Kultur, die direkte Hilfe durch zu der fremden Kultur gehörende Mittler, und die Reflexion der eigenen Handlungen (S. 308–311). Hier nähert sich Heinritz – allerdings ohne den performativen Gestus – dem in diesem Buch verwendeten Ansatz der textuellen bzw. poietischen Geschichtswelten an (vgl. I.3.2). Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 78.
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Modus.65 Der reflexiv-analytische entspricht dem obigen Kommentieren; er ermöglicht Forsters geschichtsphilosophische Überlegungen und Vergleiche zwischen Kulturen ebenso wie explizite Zivilisationskritik an den Europäern. Dann gibt es den beschreibend-erzählenden Darstellungsmodus, der Heinritz’ Berichten und Erzählen umfasst.66 Hierin erzählt Forster Ereignisse und Begebenheiten und beschreibt die Natur und Kultur, die die Europäer erfahren – Menschen, Gebräuche, Tiere, Pflanzen und Landschaften. Drittens gibt es den bei Heinritz nur als Teil des Erzählens angedeuteten performativen Darstellungsmodus. Dieser ist grundlegend, um den dynamischen Erkenntnisprozess des Beobachters Forsters – bzw. der aufgeklärten europäischen Perspektive – zu behaupten. Einerseits ermöglicht er den ersten Modus, die philosophische Außenperspektive, andererseits reflektiert er den Umstand, dass kultur- bzw. zivilisationsgeschichtliche Erkenntnis nie unabhängig vom Beobachtungsprozess stattfinden kann und der europäische Reisende, Naturforscher und Ethnograph die untersuchte Kultur immer auch verändert. Um von einzelnen Beobachtungen zum Ganzen zu kommen, ohne die Dynamik des Beobachtungsprozesses zwischen europäischer Überlegenheit und Anerkennen des Fremden zu zerstören, muss konstant der Beobachtungsprozess selbst in Szene gesetzt werden67 – was von Heinritz’ Terminologie nicht geleistet wird. Eine Trennung des Objekts wissenschaftlicher Aneignung vom wissenschaftlichen Diskurs ist nicht möglich. Diese dynamische Darstellung ermöglicht die Temporalisierung der Zivilisationsgeschichte. Die räumliche Skizzierung unterschiedlicher Kulturstufen auf einer Art Landkarte wird zugunsten einer prozessualen Darstellung, die den zivilisatorischen Prozess immer wieder vollzieht, überschritten. Folgt man Johann Reinhold Forster in seinen ›Observations Made during a Voyage round the World‹, entstehen Natur- und Menschheitsge65 66
67
Siehe I.3.1 zur Herleitung des theoretischen Konzeptes einer performativen Darstellung und Geschichtsschreibung. Heinritz’ Terminologie wirkt etwas unglücklich, da Berichten und Erzählen vornehmlich durch den angestrebten Grad von Objektivität bzw. Subjektivität unterschieden sind. Sie gehen aber graduell ineinander über. Siehe hierzu auch – an Beispielen aus der ›Reise um die Welt‹, vor allem aus Forsters Rezensionen und Herausgebertexten – Peitsch: »Noch war die halbe Oberfläche«, S. 160. Die anschauliche Darstellung ermöglicht die Teilnahme des Lesers. Peitsch zeigt daraufhin mit Bezug auf Hans Robert Jauß’ Muster der sympathetischen, der kathartischen, der admirativen und der assoziativen Identifikation vier Bedeutungen literarischer Anteilnahme für die deutschen Leser von Reiseberichten: durch Anteilnahme zum Augenzeugen zu werden, Anteilnahme als erhebendes Gefühl, als Wetteifer und als Tätigkeit Erzeugendes (Ebd., S. 159f.). Der Leser vollzieht also nach Peitsch durch seine (An-) Teilnahme das Reisen selbst.
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schichte durch die Konjektur des Beobachters. Den Südseevölkern fehle es am historischen Bewusstsein und an aufgezeichneten Quellen.68 Selbstverständlich verwendet auch Georg Forster logische Schlüsse, um im Vergleich der Bewohner unterschiedlicher Inseln festzustellen, wie diese zu der jeweiligen Kulturstufe gekommen sind. Er teilt dabei die Skepsis seines Vaters, faktisch menschliche Genealogien der Südseemenschen erkennen zu können. Georg Forsters Alternative geht nun aber nicht ins Spekulativ-Philosophische, sondern ins Textuell-Inszenatorische.69 Durch die Temporalisierung erweist sich Forsters Text keineswegs als rein philosophische Geschichtsschreibung, die Wahrheitsansprüche über die Entwicklung der Menschheit behaupten kann. Die Besonderheit von Forsters Schreibweise besteht nicht in der Ausschließlichkeit des performativen Darstellungsmodus, sondern in der Überlagerung der drei oben erläuterten Darstellungsmodi. Dies soll einführend in einem genauen Quellenvergleich verschiedener Beschreibungen derselben Begebenheit gezeigt werden, allen voran James Cooks Reisebeschreibung von derselben Reise.70 Das erste hier ausgewählte Textbeispiel stellt die erste Kontaktaufnahme71 mit den Einheimischen in der wenig besiedelten Bucht Dusky-Bay am Südende Neuseelands dar, wo Cook und Forster am 26. März 1773 eintreffen. Es ist das erste Mal, dass Europäer hier an Land gehen, nachdem Cook die Bucht bereits auf seiner ersten Weltreise gesichtet hatte, aber nicht ankern konnte (AA II, S. 122).72 68
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J. R. Forster: Observations, S. 357. Dies ist natürlich der europäische Blickwinkel, der durch Sprach- und kulturelle Unterschiede nicht fähig ist, die Erinnerungsformen der Bewohner der Südsee zu verstehen. Dippel markiert diesen Unterschied ideengeschichtlich, indem er Johann Reinhold Forsters ›Observations‹ mit Georg Forsters deutscher Bearbeitung des Textes seines Vaters – ›Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung‹ – vergleicht (Revolutionäre Anthropologie, insb. S. 34–39). Zum Kontext der konkurrierenden Reisebeschreibungen Cooks und beiden Forsters, siehe u. a. Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer, S. 81–86. Siehe zum theoretischen Hintergrund derartiger Begegnungen Klaus R. Scherpe: Die First-Contact-Szene. Kulturelle Praktiken bei der Begegnung mit dem Fremden. Weimarer Beiträge 44 (1998), S. 54–73. Scherpe betont – u. a. am Beispiel der im Folgenden untersuchten Darstellung Forsters von der ersten Kontaktaufnahme mit den Einheimischen in Dusky-Bay, dass nicht die Semantik des Fremden für die Begegnung mit fremden Kulturen im Vordergrund stehen sollte, sondern der habituelle und performative Charakter der jeweiligen Szene: Die Situation des Sprechens und Ansprechens ist konstitutiv für die Begegnung, nicht das Gesprochene, das kaum verstanden wird« (S. 58). Siehe auch den Bericht von Cooks erster Weltreise: John Hawkesworth: A new voyage round the world, in the years 1768, 1769, 1770, and 1771. Undertaken by order of his present Majesty, performed by Captain James Cook, in the Ship Endeavour. Bd. 2. New York 1774, S. 9.
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Cook, Georg Forster und sein Vater Johann Reinhold sowie zwei weitere Europäer, der Assistent von J. R. Forster, Dr. Sparrmann, und der Maler William Hodges, beobachten am 7. April einen Neuseeländer, der mit einer Keule auf der Spitze eines Felsens steht. Cooks Reisebeschreibung in seinem Tagebuch hierzu lautet: The man called to us as we passed by from the point of a Rock on which he stood with his staff of destruction in his hand, the two Women stood behind him at the skirts of the Woods with each a Spear in her hand, the man seemed rather afraid when we approached the Rock with our Boat, he, however, stood firm. I threw him a shore two handkerchiefs but he did not desend the Rock to take them up. At length I landed went up and imbraced him; and presented him with such articles I had about me, which disapated his fears […].73
Der Augenblick der eigentlichen Interaktion zwischen Cook und dem Einheimischen wird aus der überlegenen Perspektive Cooks dargestellt.74 Das Verschwinden der Angst des Neuseeländers erscheint als logische und sofortige Konsequenz von Cooks Handlungen und Geschenken. Cook bringt dem Neuseeländer das europäische Verstehen bei. Im Tagebuch von Johann Reinhold Forster wird hingegen jede einzelne Handlung minutiös beschrieben: Capt Cook went to the head of the boat, & called him friendly & threw him his handkerchief & I gave him myne likewise. Capt Cook took two sheets of white paper & went on the rock, handed it to the Native, who was then trembling; he took it however & laid it on the rock before him. Then Capt Cook handed both handkerchiefs to him which he likewise laid down; then Capt Cook shook hands with him, & lastly went up to him & nosed him, which is the mark of friendship among these people.75
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The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery. Hrsg. von J. C. Beaglehole. Bd. 2. The Voyage of the Resolution and Aventure 1772–1775. Cambridge 1961, hier: S. 116. Die zitierte Passage wird in der letztlichen Reisebeschreibung, mit Hilfe der editorischen Überarbeitung von John Douglas, stilistisch in einen etwas flüssigeren Sprachrhythmus gebracht (James Cook: A Voyage Towards the South Pole, and Round the World. Performed in His Majesty’s Ships the Resolution and Adventure, in the Years 1772, 1773, 1774, and 1775. 2. Aufl. London 1777, S. 74); siehe Beagleholes Erläuterungen zur Textgeschichte im oben zierten Tagebuchband S. cxliii–cxlviii. Berman vermerkt hierzu: »Cook’s concern is the strategic assertion of a sign system – geography and the power of Admiralty – by means of writing« (Russell A. Berman: Enlightenment or Empire. Colonial Discourse in German Culture. Lincoln/London 1998, S. 35). The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster 1772–1775. 4 Bde. Hrsg. von Michael E. Hoare. Bd. 2. London 1982, S. 248.
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Johann Reinhold Forster verbleibt dabei auf der Ebene des Protokollarischen, in seiner exakten Beschreibung bzw. Nacherzählung durch einen außen stehenden Beobachter. Seine Beschreibung bzw. Bericht dokumentiert das Gesehene. Einerseits ist seine Beschreibung detaillierter als die Cooks und gibt vor allem der Beobachtung der Maori genauso viel Raum wie der Beobachtung Cooks bzw. der Engländer, sich selbst eingeschlossen. Anders als bei Cook, der die Angst des Neuseeländers sieht, beschreibt Johann Reinhold Forster nur dessen sichtbares Zittern. Es gibt keine Interpretation, ebenso wenig wie eine Reflexion der Wahrnehmungssituation. Es ist die Perspektive eines außen stehenden Betrachters, der sehr detailliert das Geschehen beschreibt. Georg Forster unterscheidet sich in dieser vielfach in der Forschungsdiskussion erwähnten Szene76 von Cook und seinem Vater. Hierbei übernimmt er Großteile der inhaltlichen Beschreibung seines Vaters, verschiebt jedoch doch das Protokollarische in Richtung einer erzählenden, szenischen Darstellung,77 die das Bild der Kontaktaufnahme für den Leser aufruft. Johann Reinhold Forster schreibt: »When we were about a mile & a half from the Ship, we were haled from the point of a rock, & when we looked at it we found the voices came from some Natives, one of which stood on the top of a projecting rock.«78 Bei Georg Forster heißt es: Auf dem Rückwege kamen wir an einer Insel vorbey, die eine weit hervorragende Felsenspitze hatte, auf welcher wir einen Menschen sehr laut rufen hörten. Da dies niemand anders als einer von den Eingebohrnen seyn konnte, 76
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Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 115f. Scherpe: Die First-Contact-Szene, S. 56–60, interessiert sich stärker für den Sprechaktcharakter der Kommunikation und die Cooksche Erfahrung bei Erstkontakt-Szenen als für Forsters Stil. Ihm entgeht, dass nur Georg Forster eine in den Sprechakten der Szene liegende Selbstreflexion von Wahrnehmung darstellt. Für eine ausführliche Interpretation der Dusky-Bay-Darstellung, mit Schwerpunkt auf dieser Begegnungsszene, siehe auch Berman: Enlightenment or Empire, S. 26–40. Berman verbleibt aber vorwiegend an der Oberfläche, der Cook und Georg Forster als Entfaltung der »dialectic of Enlightenment« (Ebd., S. 40), ohne die Kenntnis der Tagebücher von Johann Reinhold Forster, schematisch einander entgegensetzt. Cook repräsentiere die geometrische Kartographie und Macht durch die dominante Grammatik und das Zeichensystem der europäischen Aufklärung; Forster nehme die Maori hingegen als Menschen ernst und stehe für einen vieldimensionalen Rationalismus, der die Emanzipation anderer Völker zulasse. Deutlich präziser ist Esleben, der die Widersprüche und zugleich die Dynamik in Forsters Denken zwischen einer imperialistischen Definition von Kultur durch die Europäer und dem Einlassen auf andere Kulturen am Beispiel der Essays von Forster aufzeigt (Georg Forster’s Dialectic). Heinritz betont stärker Georg Forsters subjektivierenden Stil (»Andre fremde Welten«, S. 116). Forster betone das fremde Individuum, während Cook »die ›Anderen‹ wesentlich als Kollektivwesen« begreife (S. 117). The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster. Bd. 2, S. 248.
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so nannten wir diese Insel Indian-Island, d.i. Indianer-Insel und näherten uns dem Ufer derselben, um zu erfahren, von wem die Stimme herkäme. (AA II, S. 132)
Der knappe Telegrammstil seines Vaters wird hier bei Georg Forster zur genauen Darstellung des Wahrnehmungserlebnisses der Reisenden. Man sieht zuerst die Felsenspitze, hört dann das Rufen, was sowohl die Neugierde der Reisenden weckt, als auch zur Benennung der Felsenspitze führt. Dann erzählt Georg den Annäherungsprozess der Erkundung, bevor er die Entdeckung der drei Maori darstellt: »Als wir weiter heran kamen, entdeckte man, daß es ein Indianer war, der mit einer Keule oder Streit-Axt bewafnet, auf der Felsspitze stand, und hinter ihm erblickte man in der Ferne, am Eingang des Waldes, zwo Frauenspersonen, deren jede einen Spieß in der Hand hielt« (AA II, S. 132f.). Anders als in Johann Reinhold Forsters knapper Nacherzählung gibt Georgs Text dem Leser in der Wahrnehmung der Maori die Möglichkeit, den Prozess der zunehmenden Annäherung aus Sicht der Europäer mitzuerleben, wie auch die erste Kontaktaufnahme zeigt: Sobald wir mit dem Boot bis an den Fus des Felsen hingekommen waren, rief man ihm in der Sprache von Taheiti zu: Tyo Harre maï, d.i. Freund komm hier! Allein das that er nicht, sondern blieb an seinem Posten, auf seine Keule gelehnt stehen und hielt in dieser Stellung eine lange Rede, die er bey verschiednen Stellen mit Nachdruck und Heftigkeit aussprach, und alsdenn zugleich die Keule um den Kopf schwenkte. (AA II, S. 133)
Es ist grundlegend, dass Forster hier äußerst zurückhaltend seine – ggf. rückblickend konstruierte – Wahrnehmung beschreibt. Sein Vater, eigentlich sonst im protokollarischen Stil, schildert genau denselben Sachverhalt79 mit deutlich interpretierendem Ton: »now and then he [der Maori, S.J.] spoke seemingly with violence & threatened with his staff of honour [der Keule, S.J.].«80 Damit entsteht bei Georg Forster eine Spannung zwischen Empirie und Idealisierung. Der Wahrnehmungsprozess wird genau beschrieben, aber durch die Betonung, dass es sich um Wahrnehmung handelt, wird der empirische Anspruch anders als bei seinem Vater wiederum unterhöhlt. Inwiefern Forster in seiner Beschreibung seiner wirklichen Wahrnehmung folgt oder rückblickend den Wahrnehmungsprozess kon79 80
Es ist anzunehmen, dass sein Tagebuch an vielen Stellen die Erinnerung seines Sohnes beeinflusst hat. The Resolution Journal of Johann Reinhold Forster. Bd. 2, S. 248.
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struiert, ist nicht zu entscheiden, aber für den grundlegenden Nachweis, dass er Geschichte temporalisiert, ist dies auch nicht entscheidend. Diese Wahrnehmungsinszenierung verzeitlicht Geschichte, indem das Erzählte nicht als Beschreibung oder gar Ergebnisbericht erscheint. Dies ist auch in der auf das Resultat konzentrierten Darstellung Cooks nicht zu finden. Dort entsteht kein szenisches Bild. Während Cook die genaue Form der Verhandlungen mit dem Neuseeländer nicht erwähnt, zeigt Forsters Text genau, wie die Interaktion zwischen beiden stattfindet: »Der Capitain nahm also etliche Bogen weiß Papier in die Hand, stieg unbewaffnet auf dem Felsen aus und reichte dem Wilden das Papier zu. Der gute Kerl zitterte nunmehro sichtbarer Weise über und über, nahm aber endlich, wiewohl noch immer mit deutlichen Merkmalen von Furcht, das Papier hin« (AA II, S. 133). Der Austausch des Papiers – Zeichen kultureller Überlegenheit der Europäer – führt genau umgedreht zu Cooks Argumentation zum Zittern des Maori.81 Es folgt die durch Cook initiierte Umarmung durch die Berührung der Nasen, nach dem Wissen der Europäer den Kommunikationsformen der Südseebewohner entsprechend.82 Während Forster, auf Basis der minutiösen Darstellung seines Vaters, den Akt der Begegnung in den Vordergrund stellt, werden weder das Papier, als klarstes Zeichen europäischer Kommunikationsmittel, noch die Umarmung durch Nasenberührung, Zeichen für das Einlassen auf eine andere Form der Kommunikation, in Cooks Bericht erwähnt. Ein von oben bewertetes Resultat steht der Fokussierung auf die eigentliche Begegnung gegenüber.83 Forsters temporalisierender Stil zeigt sich darin, dass die Darstellung nicht rückwärts gewandt als eine vergangene Begebenheit erscheint, sondern als stattfindendes, performatives Ereignis in der Zeit vorgeführt wird. Erst von hier kann Forster dann in einen beschreibenden Gestus übergehen, in dem er reflektiert, wie Hodges die Gesichter der Maori malt. Dies geht in Forsters eigene Beschreibung dieser Gesichter über, bevor er letztlich über die Rolle der Frau in der Gesellschaft von Dusky-Bay reflektiert (AA II, S. 134). 81 82
83
Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 116. Allgemein zu den Formen und Riten sowie den Marktmechanismen des Austausches zwischen Europäern und Südseeeinwohnern, siehe Vanessa Agnew: Exchange Strategies in the Travel Accounts of Cook’s Second Voyage. In: Crosscultural Encounters and Constructions of Knowledge in the 18th and 19th Century. Non-European and European Travel of Exploration in Comparative Perspective. Hrsg. von Philippe Despoix/Justus Fetscher. Georg-Forster-Studien. Beihefte. Bd. 2. Kassel 2004, S. 163–196. Forster lässt das vor der Nasenberührung erfolgende Schütteln der Hände aus, das sein Vater erwähnt. Damit wird der Kontrast zwischen den Kommunikationsformen verschärft und zugleich die Überlegenheit der Europäer gemildert.
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4.
Inszenierter Geschichtsprozess
Die Begegnungen der Europäer mit der Natur und Kultur des Fremden sind in Forsters Text als Prozess inszeniert, indem sich die europäische und die fremde Natur bzw. Kultur miteinander verzahnen. Dies war in der bereits analysierten ersten Begegnung zwischen Engländern und Maori in Dusky-Bay zu erkennen, in der Forster einerseits aus seiner europäischen Perspektive vorführt, wie sich die Begegnung mit den Maori entfaltet; zugleich aber den drei Maori ihre Eigenständigkeit einräumt, indem er auf europäische Interpretationen verzichtet bzw. diese in der Wahrnehmungsinszenierung relativiert. Dies lässt sich besonders eindrücklich an der Ankunfts- und an der Abreiseszene ins zuvor von europäischer Zivilisation unberührte, das Potential einer Naturidylle, eines ›locus amoenus‹, bietende Dusky-Bay zeigen.84 Von vornherein entscheidend ist dabei, dass der Locus Amoenus nicht einfach motivisch in der Landschaftsbeschreibung Forsters widergespiegelt wird, sondern dass er durch den Beobachter und die zivilisierten Europäer auf verschiedenen Ebenen geschaffen wird. Die Fahrt von 122 Tagen (AA II, S. 122) vom Kap der Guten Hoffnung am Packeis der Antarktis entlang nach Osten wird als eine erwartungsvolle Reise geschildert: ein beständiger Kampf gegen die Gewalten der Natur. Das Leid der Schiffsreisenden spiegelt damit zuerst einmal den Zivilisationsabstieg: von der holländischen Kolonie am Kap der Guten Hoffnung, die damit dem europäischen Zivilisationsstand sehr nahe kommt, hin in die noch unentwickelte Vergangenheit.85 Die Landschaft ist für den Betrachter vollständig neu: Kaum war das Schif in Sicherheit, als unsre Matrosen ihre Angeln auswarffen, und in wenig Augenblicken sahe man an allen Seiten des Schifs eine Menge vortreflicher Fische aus dem Wasser ziehen, deren viel versprechender Anblick die Freude über unsre glückliche Ankunft in der Bay ungemein vermehrte. Wir 84
85
Zur Tradition des ›locus amoenus‹ in Bezug auf Forsters Darstellung des Einlaufens in Dusky-Bay, siehe Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 111f. Heinritz verweist darauf, dass Forsters Darstellung alle Bestandteile eines ›locus amoenus‹ hat, wenn man den Arbeiten von Ernst Robert Curtius folgt. Vgl. auch Hall: Paradies auf Erden, S. 66–71, zur Ideengeschichte der Idylle bzw. von Paradiesvorstellungen. Forster stellt den Idyllentopos noch nicht parodistisch oder ironisch dar, nimmt ihn also ernst, aber reflektiert, dass er letztlich nur gebrochen dargestellt werden kann. Für eine genaue Analyse, wie Forster Sehnsüchte und Naturgewalten nutzt, um Zivilisationsgeschichte zu inszenieren, siehe den folgende Abschnitt II.5, in dem die Bedeutung der zweiten Polarreise von Cooks Resolution für Forsters Geschichtsinszenierung untersucht wird.
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fanden sie von vortreflichen Geschmack und da wir zumahl so lange darauf gefastet hatten, so war es kein Wunder daß uns diese erste Neu-Seeländische Mahlzeit als die herrlichste in unserem ganzen Leben vorkam. Zum Nachtisch ergötzte sich das Auge an der vor uns liegenden, wildnißartigen Landschaft, die Salvator Rosa nicht schöner hätte mahlen können. Sie war ganz im Geschmack dieses Künstlers […]. (AA II, S. 123)
Zuerst erzählt Forster die Ereignisse. Das Schiff läuft in die Bucht ein; die Matrosen angeln; die gefangenen Fische sind von vortrefflichem Geschmack. Der homodiegetische Erzähler erscheint aber zunehmend nur als Teil eines kollektiven Subjekts, das zuerst die Seeleute, doch immer mehr die Europäer als solches bezeichnet. Das reale Essen – die Fische – wird in die Naturlandschaft – die Wildnis als Nachtisch – transformiert.86 Doch diese Wildnis bleibt durch die europäische Kultur bestimmt: »die Salvator Rosa nicht schöner hätte mahlen können.« Während zu Beginn aus der Retrospektive erzählt wird, erzeugt die Darstellung zunehmend die Szene selbst. Mit der Phrase »Sie war ganz im Geschmack dieses Künstlers« kippt Forster das Verhältnis von Natur und Kultur. Im Weiteren bestimmt die Kultur – also Rosas Bilder – die Naturbeschreibung. Der Geschmack des Künstlers bestimmt die Wahrnehmung der Natur.87 In dieser Szene nimmt Forster der neuseeländischen Natur bzw. Kultur jede Eigenständigkeit. Stattdessen inszeniert er das kollektive Auge des – gebildeten88 – Betrachters, der die europäische kunstgeschichtliche Tradition der italienischen Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts und antiker Landschaften aufruft, um sich die wirkliche Naturidylle vorstellen zu können. Damit reduziert sich jedoch auch das Subjekt des Beobachters und homo86
87
88
Heinritz sieht hier eine Spannung zwischen Forsters ästhetisierender Tendenz und dem immer wieder erkennbaren »relativierende[n] Rückbezug auf die Bedürfnislage des Seefahrers« (»Andre fremde Welten«, S. 112). Auch wenn Forster in seiner Darstellung immer wieder die praktischen Probleme, z. B. die Mühsal durch den ständigen Regen in Dusky-Bay (AA II, S. 130) beschreibt, ist nicht ganz klar, warum hier ein Gegensatz besteht. Forster inszeniert die Naturidylle von vornherein als kulturellen Blick, der durch die Bedürfnisse der Reisenden besonders idealisiert und ästhetisiert werden kann. Dies ermöglicht Forster dann direkte und indirekte Reflexionen zur Zivilisationskritik. Heinritz weist auf ein besonders gelungenes Bild von der Katze, die auf dem Schiff unter der sich sicher fühlenden Vogelpopulation ein Blutbad anrichtet (AA II, S. 125f.; Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 112). Zur Bedeutung der Wahrnehmung in Forsters Darstellung der Ankunft in Dusky Bay, siehe auch Tilman Fischer: Denklust und Sehvergnügen. Zum Rollenwechsel in den Reisebeschreibungen Georg Forsters. In: Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Hrsg. von Jörn Garber/Tanja van Hoorn. Hannover 2006, S. 171–196, S. 183–185. Zu Forsters Rückgriff auf den europäischen Bildungsfundus, siehe auch Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 123.
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diegetischen Erzählers Forster zu einem Bestandteil des kulturellen Entwicklungsprozesses. Die einzelne Erfahrung ist durch den kulturellen Prozess geprägt, nicht mehr durch die Beobachtung des Individuums Georg Forster im Augenblick des eigentlichen Ereignisses. Forster betont weniger das reale Objekt – die Landschaft bzw. Natur in Dusky-Bay –, das von außen aus der Distanz beschrieben wird, sondern er lässt vornehmlich den Wahrnehmungsprozess sich selbst vollziehen. »Sie war ganz im Geschmack dieses Künstlers und bestand aus Felsen, mit Wäldern gekrönt, deren Alter in die Zeiten vor der Sündfluth hinauf zu reichen schien, und zwischen welche sich aller Orten Wasserbäche mit schäumenden Ungestüm herabstürzten« (AA II, S. 123). Vom Geschmack Rosas über die kulturell erzeugte Sehnsucht nach einem Ort vor der Sündflut geht Forster zur Naturbeschreibung zurück. Diese existiert aber letztlich nur in der Interaktion mit biblischen Sehnsüchten: »Zwar hätte es bey weiten nicht so vieler Schönheiten bedurft um uns zu entzücken, denn nach einer langen Entfernung vom Lande ist es warlich sehr leicht, selbst die ödeste Küste für das herrlichste Land in der Schöpfung anzusehen« (AA II, S. 123). Die wirkliche Natur verschwimmt in den Bedürfnissen der menschlichen Wahrnehmungen; oder anders ausgedrückt, Natur ist nur als Wahrnehmung zu haben. Der Absatz zur Ankunft in Dusky-Bay endet: »Und aus diesem Gesichtspuncte muß man auch die feurigen Beschreibungen der wilden Klippen von Juan Fernandez und der undurchdringlichen Wälder von Tinian betrachten« (AA II, S. 123). Einerseits kann die Natur nicht unabhängig vom Auge und der kulturellen Prägung des Betrachters existieren. Andererseits erscheint die Natur als etwas Schönes und Natürliches, das nicht existieren würde, wenn der Ort Dusky-Bay bereits kolonialisiert bzw. auch nur zuvor betreten worden wäre.89 Dies unterstreicht Forster durch die Nennung der beiden Naturorte, der Inselgruppe Juan Fernández und der zu den nördlichen Marianen gehörenden Insel Tinian. Zugleich, trotz Forsters Emphase über die unberührte Natur, existiert diese also wiederum nur durch die Reisebeschreibung spanischer und portugiesischer Entdecker des 16. Jahrhunderts. Forster beruft sich also hier auf die kulturell vermittelte Natur, die die Resolution in der Wirklichkeit noch gar nicht erreicht hatte. 89
Allgemein zur Bedeutung, den Ausprägungen und den Funktionen kolonialer Einbildungskraft, siehe Susanne Zantop: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770–1870. Durham/London 1997. Helmut Peitsch weist darauf hin, dass im Vergleich zu Cooks Reisebeschreibung Forster das Vokabular des kolonialen Besitzergreifens stark reduziert (Zum Verhältnis von Text und Instruktionen in Georg Forsters ›Reise um die Welt‹. Georg-Forster-Studien 10 (2005), S. 77–123, S. 81–84).
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Kunst bzw. Kultur und Natur sind für den Menschen (zumindest für den gebildeten) des späten 18. Jahrhundert unauflösbar verschmolzen. Diese Verschmelzung geschieht nicht beschreibend oder erzählend, sondern in dem der Text die natürlichen, kulturell vermittelten Wahrnehmungsprozesse des Natürlichen für den Leser inszeniert und Bildvorstellungen aufruft. Auch der Abschied von Dusky-Bay drückt aus, wie die Naturidylle, der in der Bildtradition aufgerufene ›locus amoenus‹, vom Menschen, also durch Kultur und Kunst geschaffen wird: Die Vorzüge eines civilisirten über den rohen Zustand des Menschen, fielen durch nichts deutlicher in die Augen, als durch die Veränderungen und Verbesserungen die auf dieser Stelle vorgenommen worden waren. In wenig Tagen hatte eine geringe Anzahl von unsern Leuten, das Holz von mehr als einem Morgen Landes weggeschafft, welches funfzig Neu-Seeländer, mit ihren steinernen Werkzeugen, in drey Monathen nicht würden zu Stande gebracht haben. Den öden und wilden Fleck, auf dem sonst unzählige Pflanzen sich selbst überlassen, wuchsen und wieder vergiengen, den hatten wir zu einer lebendigen Gegend umgeschaffen, in welcher hundert und zwanzig Mann unabläßig auf verschiedne Weise beschäftigt waren. (AA II, S. 161f.)
Die unberührte Natur wird hier anders als in der Ankunftsszene nicht durch Bildtraditionen aus Kunstgeschichte und Bibel, sondern durch das Werk der Menschen zur wirklichen Idylle. Statt einer Naturidylle, die natürlich immer durch die Vorstellungen der europäischen Kultur geprägt ist, stellt Forster für diese Kulturidylle den zivilisatorischen Akt als solchen heraus, ohne den es ein Fortschreiten der menschlichen Kultur nicht geben kann. Wiederum zeigt sich, dass nur im prozessualen Akt eine Idylle geschaffen werden kann. Sie bleibt insofern abhängig vom Blick des Betrachters, der die Transformation zur idyllischen Kultur sieht, und zugleich ihr erneutes Verschwinden vorausahnt: Zwar hatten wir eine Menge von europäischem Garten-Gesäme der besten Art hier ausgestreuet, allein das Unkraut umher wird jede nützliche Pflanze bald genug wieder ersticken und in wenig Jahren wird der Ort unsers Aufenthalts nicht mehr zu erkennen, sondern zu dem ursprünglichen, chaosgleichen Zustande des Landes wiederum herabgesunken seyn. Sic transit gloria mundi! Augenblicke oder Jahrhunderte der Cultur machen in Betracht der vernichtenden Zukunft keinen merklichen Unterschied! (AA II, S. 163)
Forsters Text spielt den Kulturprozess einmal durch. Die Natur wird zunehmend kultiviert und durch natürlichen Prozess entartet sie wieder und kehrt zur Natur zurück. Erst der kulturelle Blick der Europäer kann sie 99
dann erneut kultivieren bzw. kolonialisieren. In Forsters Darstellung ist dabei entscheidend, dass er nicht melancholisch den erneuten Verfall beklagt; vielmehr lässt er in parataktischen Sätzen den Kultivierungsprozess ablaufen: Wir fällten Zimmer-Holz, das ohne uns durch Zeit und Alter umgefallen und verfault seyn würde. Unsre Brett-Schneider sägten Planken daraus oder es ward zu Brennholz gehauen. An einem rauschenden Bach, dem wir einen bequemeren Ausfluß in die See verschafften, stand die Arbeit unsrer Böttcher, ganze Reihen von neuen oder ausgebesserten Fässern, um mit Wasser gefüllt zu werden. Hier dampfte ein großer Kessel […]. Nahe bey, kochten unsre Leute vortrefliche Fische für ihre Cameraden […]. (AA II, S. 162)
Der parataktische Stil demonstriert das Einheitliche und Natürliche des Kultivierungsprozesses. Alles läuft im Gleichschritt ab; viele einzelne Glieder und Handlungen ergeben ein Ganzes. Die Natur wird also durch einen kulturellen Teamgeist verbessert; gleichzeitig stilisiert Forster dieses Kulturelle in seiner Natürlichkeit. Hierdurch führt der Text vor, wie Zivilisation auf Basis des Natürlichen entsteht. Auf drei Seiten wird also die Überlegenheit der fortschreitenden europäischen Kultur ebenso demonstriert wie deren Aufgeschlossenheit für das Natürliche. Wie das Holz, das sonst verfaulen würde, genutzt wird, wird die Natur in diesem Bearbeitungsprozess respektiert. Das Dusky-Bay-Kapitel macht hierin seine Bedeutung für Forsters Inszenierung von Geschichte besonders deutlich. Wie in der verräumlichten Menschheitsgeschichte wird hier auf der Mikroebene, vorgeführt, wie der Prozess der Menschheitsgeschichte zu höherer Sittlichkeit ablaufen kann. Betrachtet man Forsters gesamte Darstellung des Aufenthaltes in Dusky-Bay wird der performative Stil durch Beschreibungen und Reflexionen im Stile einer klassischen Reisebeschreibung unterstützt.90 Forster stellt die Tätigkeiten der Engländer und ihre ersten Beobachtungsergebnisse dar und reflektiert darüber. Der Eindruck der »unangetastet[en] Wälder« (AA II, S. 125) und der »gänzlich unbewohnt[en]« Bucht (AA II, S. 125) wird entsprechend analytisch erzeugt. Beschreibung und Analyse einerseits, ästhetisierte und intertextuelle Erzählung andererseits verstärken also im Zusammenspiel die Differenz zwischen der Zivilisationsstufe der Europäer und dem Zustand der nun betretenen Insel. Im Laufe der Reise reflektiert Forster immer wieder explizit über die Stufen von menschlicher Kultur und analysiert den jeweiligen Stand auf 90
Vgl. Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 109.
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den unterschiedlichen Inseln. Ebenso macht er konstant deutlich, dass es – wie in Tahiti – durchaus eigenständige, nicht-europäische Entfaltungen von Kultur geben kann. Der Zuschnitt des Fortschritts auf die europäische Zivilisationsstufe bleibt aber unbestritten. In den analysierten Passagen des Dusky-Bay-Kapitels entsteht Geschichte im Kontakt mehrerer Zivilisationsstufen. Wenn Forster von einer distanzierten Position aus erzählte, letztlich einen propositionalen Inhalt konstatierte, nähme er unabdingbar eine eurozentrische, letztlich kolonialistische Position ein. Damit hätte er das klassische Beobachtungsproblem des Ethnologen, der seinen Objektbereich zur Sprache kommen lassen will, aber selbst seine Beobachtungsmethoden und seinen Standpunkt zum Teil der ethnographischen Darstellung machen muss, da Beobachtung und Objekt nicht voneinander zu isolieren sind. Stattdessen entsteht die Geschichte in Forsters Beschreibungen. Der Zivilisationsprozess ist abhängig von der sozialen Interaktion zwischen unterschiedlichen Zivilisationsstufen. Dies ermöglicht seinen Fortschritt und seine Kritik.91
5.
Temporalisierung zwischen Natur und Kultur
Die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Reisenden werden von Forster immer wieder als Katalysator für die Wahrnehmung scheinbar idealer Naturund Kulturstufen genutzt. Dies wurde bereits oben bezüglich der ersten Durchkreuzung des südlichen Polarmeers bei der Ankunft in der noch nicht von europäischen Reisenden betretenen Naturidylle Dusky-Bay 91
Uwe Japp entwickelt insbesondere am Korpus von Forsters Tahiti-Beschreibungen den Begriff der ›doppelten Kritik‹, der Forster einen positiven und einen skeptischen, zivilisationskritischen Aufklärungsbegriff zugleich ermöglicht. Das Fremde wird ebenso zum kritischen Spiegel des Eigenen, wie Forster den kritischen Blick für das Fremde besitzt (Aufgeklärtes Europa und natürliche Südsee. Georg Forsters ›Reise um die Welt‹. In: Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung. Hrsg. von Hans Joachim Piechotta. Frankfurt a.M. 1976, S. 10–56, insb. S. 31–52). Köhler verweist darauf, dass sich in der Darstellung der Rückkehr nach England der Fortschrittsglaube gegenüber der Zivilisationskritik durchzusetzen scheint (Die Forstersche Vermittlung, S. 78). Helmut Peitsch hat hingegen überzeugend vorgeführt, wie Forsters erzählerischer Umgang mit offiziellen Instruktionen für die Reise eine andere zivilisationskritische Schicht freilegt (Zum Verhältnis von Text und Instruktionen, insb. zusammenfassend S. 96f.). Agnew argumentiert, dass Forsters Aufklärungskritik und Selbst-Reflexion letztlich auf die eigene Rolle beschränkt blieben, doch das eigentliche Unternehmen des Kolonialismus nicht in Frage stellten (Ethnographic Transgressions, S. 314). Diesem ist einerseits zuzustimmen, doch zeigt es andererseits noch deutlicher, dass Forsters ›Reise um die Welt‹ von ihren Darstellungsprinzipien her, nicht von den Inhalten einzelner selbstreflexiver Aussagen, verstanden werden muss.
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deutlich. Das zu den Gesellschaftsinseln gehörende Tahiti war hingegen im Kontext europäischer Südseereisen bereits bekannt und als in Europa verlorenes Paradies in den Bildungskanon eingegangen. U.a. Bougainville und Cook auf seiner ersten Reise waren auf Tahiti gelandet. Ersterer war insbesondere dafür verantwortlich, dass Tahiti in Europa als Paradies angesehen wurde,92 obwohl die Realität von Bougainvilles Reisebericht eigentlich vorwiegend von seemännischen Problemen und Gefahren geprägt ist.93 Von Dusky-Bay über die etwas höhere bzw. weniger natürliche Kulturstufe der Neuseeländer in Charlotten-Sund bis hin zur ersten Ankunft in Tahiti beobachten die Europäer fortschreitende Zivilisationsstufen. Bei der Ankunft in Tahiti ist Forsters Reisebericht wie schon in Dusky-Bay mehr von den Vorerwartungen, als von der Natur an sich geprägt. Forster zeigt dem Leser vielmehr, wie die Betrachtung des scheinbar Idealen aus der europäischen, kollektiven Perspektive und Sehnsucht abläuft. Forster reflektiert die durch vorherige Reisen in die Südsee geweckten Erwartungen: »Bey Untergang der Sonne sahe man bereits die Berge dieser erwünschten Insel aus den vergoldeten Wolken über dem Horizont hervorragen. Jedermann an Bord […] eilte begierigst aufs vordere Ver92
93
Zu Bougainville, siehe Hall: Paradies auf Erden, S. 74–90; Meißner: Mythos Südsee, S. 13–18; sowie insbesondere Karl-Heinz Kohl: Imagination und nüchterner Blick. Bougainvilles Reise um die Welt. In: Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Frankfurt a.M. 1986, S. 202–222. Bougainvilles Text wirkt mehr als Tagebuch bzw. chronologischer Bericht, weniger als Erzählung. Wie Forster zeichnet sich auch Bougainville durch seine genaue Beobachtungsgabe aus, wobei seine Darstellungen stark idealisiert sind, gerade in der Legende vom ›Guten Wilden‹ (Kohl: Imagination, S. 217). Einige wenige Bilder, mit denen Bougainville Tahiti beschreibt, haben den Tahiti-Mythos besonders geprägt, wie ein junges Mädchen, das »ungeniert ihre Bedeckung fallen [ließ] und […] vor den Augen aller da [stand] wie Venus, als sie sich dem phrygischen Hirten zeigte« (Louis-Antoine de Bougainville: Reise um die Welt welche mit der Fregatte La Boudeuse und dem Fleutschiff L’Etoile in den Jahren 1766, 1767, 1768 und 1769 gemacht worden. Hrsg. von Klaus-Georg Popp. Berlin 1972, S. 182). Bougainville bezeichnet die Insel zuerst als Neu Kythera (»la nouvelle Cythère«, S. 197), also die Verbindung zur griechischen Mythologie und der Insel der Liebesgöttin Aphrodite herstellend. Am eindrücklichsten ist die Beschreibung vom Landesinneren: »[E]s schien mir der Garten Eden zu sein. Man sah die schönsten Wiesen mit den herrlichsten Fruchtbäumen besetzt und von kleinen Flüssen durchschnitten […] Allenthalben herrschten Gastfreundschaft, Ruhe, sanfte Freude, und dem Anschein nach waren die Einwohner sehr glücklich« (Ebd., S. 188). Siehe für genauere Angaben zu Reisen nach Tahiti vor Forsters Ankunft im August 1773, Japp: Aufgeklärtes Europa, S. 24. Zum Zusammenhang zwischen exotischer und erotischer Sehnsucht in Tahitireisen, siehe Roy Porter: The Exotic as Erotic. Captain Cook at Tahiti. In: Exotism in the Enlightenment. Hrsg. von G.S. Rousseau/R. Porter. Manchester 1990, S. 117–144. Wuthenow: Inselglück, S. 329–334. Jörn Garber sieht bereits bei Bougainville eine Doppelung aus idealisiertem Naturzustand der Natur und einer ständisch geprägten Gesellschaft (Reise nach Arkadien. Bougainville und Georg Forster auf Tahiti. Georg-ForsterStudien 1 (1997), S. 19–50, S. 39).
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deck, um die Augen an dem Anblick dieses Landes zu weiden, von dem man die größten Erwartungen haben mußte« (AA II, S. 216). Die vorgeprägten Erwartungen und Sehnsüchte werden für das Betrachterkollektiv intensiviert, wobei idyllisch-paradiesische Überlieferung und reale Bedürfnisse zusammenkommen: Wir steuerten nun die ganze Nacht über gegen die Küste hin und unterhielten uns in Erwartung des Morgens, mit den angenehmen Schilderungen, welche unsre Vorgänger von diesem Lande gemacht hatten. Schon fingen wir an, die unter dem rauen südlichen Himmelsstriche ausgestandne Mühseligkeiten zu vergessen; der trübe Kummer, der bisher unsre Stirne umwölkt hatte, verschwand; die fürchterlichen Vorstellungen von Krankheit und des Schrecken des Todes wichen zurück, und alle unsre Sorgen entschliefen. (AA II, S. 217)
Forster schließt dann das siebte und beginnt das den eigentlichen Tahitiaufenthalt beschreibende achte Hauptstück mit zwei Zitaten aus Vergils ›Aeneis‹, wobei das zweite einen ›locus amoenus‹ beschreibt.94 Die eigentliche Ankunft wird von der Stimmung des Betrachters geprägt und erhebt diese scheinbar gegenüber der Vergilschen Beschreibung: »Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben […]« (AA II, S. 217). Die Forschung, insbesondere Heinritz, hat genauestens gezeigt, wie Forsters Landschaftsbeschreibung einen »der markantesten Ankunftstopoi des gesamten Genres [des ›locus amoenus‹]« schafft, sowohl in der Naturtopographie als auch in der verwendeten Metaphorik.95 Für die historische Dimension von Forsters Text ist grundlegend, dass mit Tahiti ein kultureller Maßstab der Zivilisationsentwicklung gesetzt wird, der den höchsten Kulturstand in der Südsee darstellt und auch damit den stärksten Austausch mit den Europäern ermöglicht. Tahiti wird zur Textkoordinate grundlegender menschlicher Entwicklungen in der Zivilisationsgeschichte, die für die Weltreise als Zivilisationsgeschichtsreise eine grundlegende Rolle spielt.96 Forster besitzt nun zwei kulturelle Maßstäbe, den der aufklärerischen europäischen Gegenwart, und den der Südsee, die sich in der Darstellung der Wahrnehmung und des Verstehens zivilisa94 95 96
Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 121. Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 122. Hier ist die Schwäche von Heinritz’ Erklärungsmodell zu erkennen, dessen Kommunikationstriade eine bipolare Beziehung zwischen den Europäern (›wir‹) und den Einwohnern von Tierra del Fuego sieht, aber eine vermittelte zwischen den Europäern und den Einwohnern der Südsee (»Andre fremde Welten«, S. 158f.). Dies stimmt auf der Oberfläche, übersieht jedoch, dass Forster ein temporalisiertes historisches Koordinatenfeld erstellt, das sich immer wieder vollzieht. Das triadische Kommunikationsmodell bleibt zu statisch.
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tionshistorischer Stufen ineinander verschränken. Er hat eine textuelle Geschichtswelt97 erschaffen. Diese sekundäre Textdeixis ermöglicht es Forster, Geschichte als einen dynamischen, in die Gegenwart führenden Prozess zu inszenieren. Hierfür inszeniert er die doppelten Sehnsüchte der Reisenden – die Sehnsucht nach dem ›locus amoenus‹ wie die Sehnsucht nach der europäischen Zivilisation –, wie im Weiteren an der Sehnsuchtsbewegung von der zweiten Reise durch südliche Polarbreiten bis zur Rückkehr nach Tahiti untersucht werden soll. Die Reise nach dem ersten Tahiti-Aufenthalt (achtes und neuntes Hauptstück im Hafen O-Aitepieha und in Matavai-Bay) führt über weitere Gesellschaftsinseln, den freundschaftlichen Inseln zum zweiten Aufenthalt im neuseeländischen Charlottens-Sund, das heißt nach der obigen erläuterten Forsterschen Zivilisationslandkarte entfernt man sich immer weiter vom Zivilisationshöhepunkt der Südsee, Tahiti, bis die Reisenden alleine das südliche Polarmeer erkunden und sich nicht mehr mit Kulturen, sondern mit extremen Naturgewalten auseinandersetzen müssen. Es entsteht eine maximale Entfernung vom höchsten möglichen Kulturstand: Wenn noch je etwas die traurige Aussicht der Zukunft in unsern Augen mildern konnte, so wars die Hoffnung, daß die Reise um den Südpol in irgend einer hohen noch unbefahrnen Breite, wenigstens nicht länger als den bevorstehenden Sommer über dauern, und daß wir innerhalb acht Monathen wieder nach England zurückkommen würden. Diese Hoffnung erhielt das Volk, während des größten Theils der Reise und des bösen Wetters, bey gutem Muth. Am Ende zeigte sich freylich, daß dieser Gedanke nichts mehr als ein süßer Traum gewesen war; allein dann trösteten wir uns schon wieder mit der gewissen Aussicht, daß wir, statt dessen, auf den glücklichen Inseln des heißen Erdstrichs, abermals einige Monathe zubringen würden. (AA II, S. 413f.)
Vor der zweiten Polarfahrt, die die Reisenden südlicher als jeder Reisende zuvor bis an den antarktischen Kontinent heranführt, erstellt Forster eine doppelte Sehnsucht: nach der Heimkehr nach England sowie nach Tahiti bzw. dem generellen Klima der Gesellschaftsinseln. Die ultimative Naturerfahrung, die südliche Polarreise, ergreift also nur bedingt das kollektive Erzählsubjekt. Das Naturextrem führt zur Sehnsucht nach dem Kulturextrem, also entweder den »glücklichen Inseln«, in denen Natur und Kultur im besten Einklang sind oder nach dem höchsten Stande der Kultur, also Europa bzw. England. Damit ist die hermeneutische Einstellung des Betrachters markiert. Ein rein räumliches Extrem, die Reise zum südlichs97
Vgl. I.3.2 zum Terminus der ›textuellen Geschichtswelt‹.
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ten Punkt, den bis dahin je ein Schiff erreicht hatte, wird zum zeitlichen Extrem: Die Zivilisation wird zum äußersten Gegenpunkt verlassen.98 Wiederum wirkt das Schiff Resolution mit seinen Insassen in Forsters Erzählung wie ein Zeitlot, das Instrument des Betrachters, das es diesem erlaubt, ins zeitliche Extrem zu gehen: »Wie im Treffen der Tod seine Schrecken verliert, so seegelten auch wir, oft nur eine Handbreit, neben immer neuen Gefahren, ganz unbekümmert dahin, als ob Wind und Wellen und Eis-Felsen nicht vermögend wären, uns Schaden zu thun« (AA II, S. 417). Das Prinzip der Kultur ist ständig von den Extremen der Natur bedroht. Dies macht Forster insbesondere in seiner Beschreibung vom Verhalten der Mannschaft deutlich, die stärker dem Brandtwein zuspricht. Diese Beobachtung veranlasst ihn dann zu einer allgemeinen Reflexion des Verhaltens der Engländer zu den Einheimischen: »Ihre Gewohnheit ans Seeleben hatte sie längst gegen alle Gefahren, schwere Arbeit, rauhes Wetter und andre Widerwärtigkeiten abgehärtet, ihre Muskeln steif, ihre Nerven stumpf, kurz, ihre Gemüthsart ganz unempfindlich gemacht« (AA II, S. 420). Damit bewegt sich der englische Seemann in Richtung der Natur und vergisst seine Zivilisiertheit, was dazu führt, dass immer wieder auf die Einheimischen geschossen wird (AA II, S. 420). Die Engländer nutzen also die überlegene Technik ihrer Zivilisation, um gleichzeitig – zeitweilig – auf der Skala der Menschheitsgeschichte zur Natur bzw. zum Tier zurückzuschreiten: »Ihre Lebensart entfernet sie von dem Genuß der stillen häuslichen Freuden, und da treten dann grobe viehische Begierden an die Stelle besserer Empfindungen« (AA II, S. 420). Forster schwankt hier, inwiefern die Seeleute einen besonderen Charakter wegen ihres Berufes annehmen99 oder einfach ihre Sittlichkeit den Umständen entsprechend mehr und mehr aufgeben. Diese Rückführung der Menschheitsgeschichte, die das instinktartigere Handeln der Europäer betont und die Sittlichkeit zumindest der einfacheren Menschen reduziert, korrespondiert zu den gesteigerten Gewalten der Natur, die alles Kulturelle zu überwinden scheinen, was in einem apokalyptischen Sturm98
99
Zieht man Hodges’ Polarmeeraquarelle hinzu und die Tradition des Landschaftsbildes im 18. Jahrhundert – wie bei der Darstellung der Alpen – lässt sich Forsters Erzählung mit der Tradition des Naturerhabenen verbinden. Der Reisende hat eine extreme, im Unendlichen angesiedelte Naturerfahrung, die sich im Eis konkretisiert: »The inhumanly infinite was made concrete through the multifarious manifestations of ice« (Barbara Maria Stafford: Voyage into Substance. Art, Science, Nature, and the Illustrated Travel Account, 1760–1840. Cambridge, Mass./London 1984, S. 274). »Ohnerachtet sie Mitglieder gesitteter Nationen sind, so machen sie doch gleichsam eine besondere Classe von Menschen aus, die ohne Gefühl, voll Leidenschaft, rachsüchtig, zugleich aber auch tapfer, aufrichtig und treu gegen einander sind« (AA II, S. 420f.).
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szenario, als die Resolution schon wieder auf dem Weg nach Norden ist, anschaulich wird: »Während desselben [des Sturms, S.J.] schlug, des Abends um 9 Uhr eine berghohe Welle mitten übers Schiff und füllte die Verdecke mit einer Sündfluth von Wasser. Es stürzte durch alle Öffnungen über uns herein, löschte die Lichter aus und ließ uns einige Augenblicke lang ungewiß, ob wir nicht ganz überschwemmt, schon zu Grunde giengen« (AA II, S. 423f.). Forster unterstreicht das apokalyptische Szenario mit der Metapher des Pflanzenlebens, das den menschlichen Geist zu dominieren beginnt: »Kurz, wir lebten nur ein Pflanzen-Leben, verwelkten, und wurden gegen alles gleichgültig, was sonst den Geist zu ermuntern pflegt. Unsere Gesundheit, unser Gefühl, unsre Freuden opferten wir der leidigen Ehre auf, einen unbeseegelten Strich durchkreuzt zu haben!« (AA II, S. 424f.). Dies gipfelt dann am 30. Januar 1774 mit dem Überschreiten des 71. südlichen Breitengrades, dem südlichsten Punkt, den bis dahin ein europäisches Schiff erreicht hatte (AA II, S. 426), was zugleich zur endgültigen Erkenntnis führt, dass der sagenhafte Südkontinent zumindest in gemäßigten Breitengraden nicht existieren kann. Für die Frage nach der Inszenierung der Menschheitsgeschichte zeigen sich in dieser zweiten Polarreise auf der Cook-Expedition zwei Linien zwischen Natur und Kultur. Zum einen verschiebt sich während der Reise der Fokus vom zivilisierten Engländer zu den Naturinstinkten der englischen Seeleute, die sogar etwas Tierisches erhalten. Zum anderen bekämpfen sich Zivilisationsmächte und extreme Naturgewalten. Die jeweiligen Gegenpole sind das zivilisiert-sittliche England und die Südseehochkultur Tahiti. Wieder erlaubt die geographische Reise der Resolution Forster, temporale Entwicklungen der Zivilisations- und Menschheitsgeschichte darzustellen. Geschichte wird dabei inszeniert, da es sich auf beiden Ebenen nicht um direkte theoretische Reflexionen über Unterschiede zwischen Tier/Naturmensch und Kulturmensch bzw. Natur und Kultur/Technik handelt, sondern Forster die Erzählung der Reise, die immer mehr zur Natur zu führen scheint, nutzt, um diese Differenzen in Szene zu setzen und letztlich seine Reflexionen über die Natur der englischen Seeleute zu ermöglichen. Das erste Land nach der 108tägigen Südmeerreise wird am 13. März 1774 mit der Osterinsel erreicht. Es wird deutlich, wie Forster Beschreibung und Reflexion sowie subjektive Erfahrung übereinander blendet: »Der Pflanzungen waren so wenige, dass wir uns eben keine Hoffnung zu vielen Erfrischungen machen durften; dennoch blieben unsre Augen unabläßig darauf gerichtet« (AA II, S. 434). Die Pisang-Früchte führen zur extremen Freude der Reisenden: »Welche allgemeine und unvermuthete 106
Freude der Anblick dieser Früchte bey uns verursacht habe, ist kaum zu beschreiben; nur Leute, die eben so elend sind, als wir damals waren, können sich einen richtigen Begriff davon machen« (AA II, S. 434). Forster kombiniert hier den präsentischen Ausdruck der Freude mit der rückblickenden Reflexion, warum diese Freude so groß war. Er zeigt, dass nur die relative Situation der Reisenden die Sehnsucht prägt, womit die Relativität des Standpunktes deutlich wird. Doch zugleich korrigiert der reflektierende Beobachter die Beobachtung nicht einfach nachträglich. Die präsentische Erzählung der Sehnsüchte behält ihren Eigenwert. Die Osterinsel ist eine Übergangsphase, die den europäischen Reisenden zugleich das Fortschreiten in der Erfüllung ihrer Sehnsüchte durch die kulturelle Entwicklung der Südseeinseln ermöglicht: »Indessen so unbeträchtlich auch diese Erfrischungen waren, so bekamen wir sie doch zur rechten Zeit, und sie halfen uns wenigstens so viel, dass wir von den stärkeren Scorbut-Angriffen und Gallenkrankheiten so lange verschont blieben, bis wir einen bessern Erfrischungsplatz erreichen konnten« (AA II, S. 461f.). Zugleich besteht die Möglichkeit, eine Idylle und einen höheren Kulturstand auf der Osterinsel zu imaginieren, als Forster feststellt, dass die Insel durch Vulkanausbrüche zerstört worden sein könnte: »Denn in diesem Fall, müssen sie von vielen Vortheilen und Annehmlichkeiten des Lebens, die sie vorzeiten gehabt haben, wissen, und das Andenken davon, und ihr jetziger Mangel, müssen ihnen dann sehr bitter seyn« (AA II, S. 464). Forster verdoppelt die Erinnerung an das Idyllische der fruchtbaren Landschaft. Die Europäer imaginieren die Sehnsucht der Einwohner der Osterinsel. Zugleich deutet Forster abermals die unzähmbare Kraft der Natur an, die zivilisatorischen Rückschritt bedeuten kann, wobei dies eine Vorstellung der Europäer bleibt – im realen Europa der aufklärerischen Gegenwart kann dieser Gedanke nicht mehr durchgespielt werden. Der Rückschritt passiert nur noch in der Natur des einzelnen Menschen bzw. von Menschengruppen, die – wie die Seeleute im Brandwein – ihren Instinkten erliegen. Bei der Reise von der Osterinsel zu den Marquesas sieht man genau, wie sich die inszenierte Sehnsuchtslinie weiter entfaltet. Die Reisenden sind von den spärlichen Produkten der Osterinsel nicht gesättigt und leiden wieder Hunger. Die Erwartung einer reicheren Welt wird durch Nachrichten der Berichte aus ›Mendanna’s Reisen‹ (AA III, S. 11),100 also durch Texte gespeist, die sich schon deshalb als unerfüllt erweisen, weil die geographischen Angaben dieser Berichte zu ungenau sind: »In sofern 100
Der spanische Entdecker Mendaña de Neyra entdeckte 1595 die Marquesas-Inseln.
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die darin angegebene unbestimmte Entfernung der Marquesas von der Peruanischen Küste einem jede Freyheit ließ, seinen Hoffnungen, Wünschen und Vermutungen nachzuhängen […]« (AA III, S. 11). Letztlich wird jede Hoffnung wieder enttäuscht, bis am 6. April 1774 die Inselgruppe gesichtet wird, und der von der Sehnsucht nach fruchtbarem Land durchdrungene Seefahrer – ausgedrückt durch Forsters für Ankünfte und Landschaftseindrücke kollektivem Einsatz des ›wirs‹ – die Anmutigkeit der Küste erkennt. Zugleich bleiben Tahiti bzw. die Gesellschaftsinseln der positive Maßstab, womit wie in der Darstellung der Osterinsel eine doppelte Darstellungsebene geschaffen wird. Einerseits werden das Geschehen und seine Wahrnehmung szenisch zur Darstellung gebracht; andererseits wird jede Wahrnehmung als vom jeweiligen Standpunkt subjektiv geprägte Wahrnehmung entlarvt und in einen Vergleich zu anderen Südseeinseln gestellt: »Wir entdeckten auf beyden Inseln, zwischen den Bergen, einige angenehme Thäler; solche Ebnen aber, dergleichen die Societäts-Inseln zu verschönern, suchte man hier vergebens. Bey alledem sahe die Küste von S. Christina doch so anmuthig aus, dass sie uns, wie jeden andern eben so ausgemergelten Seefahrer, mit neuer Hoffnung belebte« (AA III, S. 13). Bei der weiteren Reflexion über die Gesellschaft der Marquesas stellt Forster fest, dass diese Gesellschaft geringere Standesunterschiede als diejenige Tahitis und anders als Tahiti keine monarchische Struktur besitze: Der Anbau des Landes erfordert hier mehr Arbeit als zu Tahiti, und daher rührt denn auch der Unterschied den wir zwischen der bürgerlichen Verfassung dieser beyden Völker antrafen. In so fern nemlich die Lebensmittel hier nicht so leicht zu erhalten sind als dort, in so fern können auch Bevölkerung und Luxus hier nicht so merklich seyn, und es muß eine größere Gleichheit unter den Leuten bleiben. (AA III, S. 29)
Forster schließt seine Reflexionen über die Marquesas damit, dass er nicht genügend Zeit hatte, sich genauer, mit den Einwohnern bekannt zu machen: »[S]ie hätten sonst gar wohl verdient, von Reisenden, mit philosophischen Augen etwas näher betrachtet zu werden« (AA III, S. 30). Für den anthropologisch-naturkundlichen Zweck ist dies ohne Zweifel zutreffend, für die Inszenierung der historischen Entwicklung der Menschheitsgeschichte hingegen weniger. Wie die Reisenden – ebenso wie die Leser von Forsters ›Reise um die Welt‹ – zu diesem Zeitpunkt bereits wissen, erscheint Tahiti als Höhepunkt der Südseezivilisation mit möglichen Verfallserscheinungen, aber zu allererst mit dem größten Sehnsuchtspotential. Durch die Bewegung von den extremsten Naturgewalten zu zu108
nehmend mehr Zivilisation ist Tahiti also in dieser Bewegung der Reise kein ›verlorenes Paradies‹, sondern ein zu Gewinnendes, das die Resolution erreichen will, während sie die Sehnsuchtsreise aus den antarktischen Breitengraden vornimmt. Die eigentliche Wiederankunft in Tahiti, Matavai-Bay, bereitet Forster rhetorisch präzise vor. Jeder weiß, dass es nach Tahiti geht, wo man gut empfangen werden wird. Forster nennt Tahiti »unsre zwote Heimath« (AA III, S. 41), womit er dem in den antarktischen Gewässern geäußerten doppelten Sehnsuchtsgedanken wieder aufnimmt und Tahiti und England gedanklich zusammenschließt. Es folgt eine präsentische Darstellung der Hoffnungen, die die einzelnen Mitglieder des englischen Kollektivs haben: Unsere Kranken fiengen nun auch an, neue Hoffnung zu schöpfen; denn sie wussten, dass sie dort wenigstens im Kühlen ruhen […] könnten […]. Die übrigen freuten sich nicht minder, dort gleichsam neue Kräfte zu sammlen, um alle Gefahren und Beschwerlichkeiten, die uns noch ferner bevorstanden, mit gestärktem Muthe übernehmen zu können. Der Capitain versprach sich einen reichlichen Vorrath an frischen Lebensmitteln, und diese Beyhülfe ließ uns desto sicherer eine glückliche Beendigung der ganzen Seereise hoffen. (AA III, S. 41)
Forsters rhetorische Figur besteht hier in der Dopplung von Gegenwart und Zukunft. Alle Gruppen, außer den Kranken, einschließlich des Cook folgenden Astronomen und den Naturforschern, den Forsters selbst, haben ein über die sofortigen Bedürfnisse hinausgehendes Interesse an der langfristigen Zukunft. Hierdurch bekommt Tahiti zwar einerseits den Status eines Höhepunktes, eben des zweiten Zuhauses, doch zugleich ist es nur Station in der Geschichte des menschlichen Fortschritts, wird also selbst relativiert. Die kollektive Aufspaltung der Europäer endet mit den Forsters, also wieder der Vorstellung in der ersten Person Plural, mit der Forster insgesamt die europäische Perspektive als Perspektive der Resolution zusammenfügt. Der eigentliche Höhepunkt der Hoffnungen kommt allerdings Maheine zu. Der europäisch gewordene Maheine freut sich – seines guten Herzens willen – sehr darauf, dieses den Einwohnern Tahitis, als Bewohnern der mächtigsten Gesellschaftsinsel, zu zeigen (AA III, S. 41f.). Damit ist Tahiti auch für Maheine neben dessen spontanen Genuss ein Ausdruck für die Zukunft, der dem Zivilisationsprozess helfen kann. Die gesamte Passage über die Hoffnungen der Europäer und Maheines bleibt jedoch unbewertet. Es gibt keine expliziten Aussagen, nur die rhetorische 109
Figur, die Jetzt und Zukunft für alle erwartenden Reisenden zusammenschließt. Die Erzählung ist präsentisch und bereitet die eigentliche Ankunft vor, die im Erblicken Tahitis gipfelt. Alle scheinen kollektiv auf Tahiti zu blicken, das man am Tage nicht mehr ansteuern kann und so noch eine Nacht auf See verbleiben muss: »So lange es noch helle blieb, hatte jedermann die Augen, fest auf diese Königinn der tropischen Inseln hingerichtet« (AA III, S. 42). Dann verengt Forster die Perspektive auf sich selbst, zu dem Zeitpunkt stark geschwächt und auf Genesung von seiner Krankheit hoffend: »Ich, so schwach auch meine Kräfte waren, kroch ebenfalls mit aufs Verdeck, um mich wenigstens an dem Anblick der Gegend zu laben, die mir zu Herstellung meiner Kräfte und meiner Gesundheit endlich Hoffnung gab« (AA III, S. 42). Wiederum erscheint Tahiti als Erfüllung der Sehnsucht – die Individualisierung auf sich selbst, die Forster nur selten einsetzt, wird durch seine Krankheit und damit durch seine besonderen Bedürfnisse ermöglicht. In dem Augenblick, am nächsten Morgen, in dem er es tatsächlich erblickt, geht die Wahrnehmung dann wieder ins Ästhetische über und ist nur mit der Sprache der europäischen Bildung zu bewältigen: Den Morgen war ich früh erwacht und welch Entzücken gewährte mir da die herrliche Aussicht! Es war als hätte ich die reizende Gegend, die vor mir lag, noch nie gesehen; doch war sie jetzt auch in der That weit schöner, als vor acht Monathen, da ich sie zu einer ganz andern Jahreszeit gesehen hatte. Die Wälder auf den Bergen waren mit frischem Grün bekleidet, das in mannigfaltigen Farben durcheinander spielte; die kleinen Hügel, hie und da, grünten ebenfalls im neuen Frühlingskleide, und verschönerten an manchen Orten, die reizende Aussicht. Besonders aber prangten die Ebnen mit allem Schmuck der jungen Wiesen. Kurz, alles erinnerte mich an die Beschreibungen von Calypso’s bezauberter Insel. (AA III, S. 42)
Forsters Ausdruck individualisiert hier seine Wahrnehmung, wodurch er den Effekt des Anblicks Tahitis stärken kann. Der kranke Forster kann als einzelnes Subjekt besonders viel von Tahiti erhoffen. Die Wahrnehmung ist erst einmal innere Wahrnehmung, indem Forster seine Emotionen des Entzückens und Reizes ausdrückt. Diese innere Wahrnehmung wird jedoch von vornherein textuell überblendet, indem Forster sich auf den ersten Tahitiaufenthalt bezieht.101 Die Natur erscheint im Frühling umso 101
Dieser Effekt, zeitliche Bezugspunkte innerhalb der Reisebeschreibung zu setzen, die eine historische Dimension schaffen sowie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzufügen, ist durch das gesamte Kapitel über den zweiten Tahiti-Aufenthalt zu erkennen, z. B. im Ausdruck »wie ehemals« (AA III, S. 44), wenn die Europäer an derselben Landspitze in Matavai-Bay ihre Zelte aufschlagen. Im weiteren Kapitelverlauf wird im-
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verzaubernder, natürlicher und lebendiger. Damit wird die scheinbare Naturbeschreibung zu einer Aussage der inneren Empfindungen des Reisenden und kulminiert im Vergleich zur antiken Sagenwelt, der Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia, bei der Odysseus nach dem fünften Gesang der ›Odyssee‹ sieben Jahre verbracht hat. Die Gegenwärtigkeit des TahitiIdeals wird also dreimal gebrochen: erstens durch die bereits vorher geschaffene Vorstellung Tahitis, durch den ersten Besuch wie durch existierende Reiseberichte bei Bougainville und von Cooks erster Weltreise; zweitens durch die Sehnsüchte, die auf der Reise durch die antarktischen Gewässer erzeugt wurden; drittens durch den Bildungskanon der Europäer. Innerhalb dieses Bildungskanons gibt es eine vierte Brechung, da Odysseus letztlich durch die Sehnsucht nach seiner Frau und Heimat dazu getrieben wird, die »bezauberte Insel« zu verlassen, sie sich also als temporäres – wenn auch für sieben Jahre – Paradies erweist, das sein Vergehen schon immer in sich trägt.102 Die Polarreise erschafft dabei die Möglichkeit einer fortschrittlichen Entwicklung hin zu Tahiti. Die dreifache Brechung der Gegenwärtigkeit des Tahiti-Ideals ermöglicht die Temporalisierung, die über Tahiti hinausführt. Der menschheitsgeschichtliche Subtext besteht hier entsprechend darin, dass Forster Tahiti keineswegs als ein natürliches bzw. glückliches – Natur und Kultur ausbalancierendes – Ideal stehen lässt. Vielmehr wird diese Idealität, vorbereitet in der ausführlich analysierten Steigerung der Sehnsüchte, die in der antarktischen Gegend einsetzt, erst durch die Betrachtung und die vorgängigen Erfahrungen des Reisenden bzw. Lesers geschaffen. Damit wird die scheinbar gegenwärtige Erfüllung aller Sehnsüchte auf Tahiti in ein Textmodell des Fortschritts überführt. Tahiti steht auf der Reise als notwendig höchster Punkt der Menschheitsgeschichte der Südseekulturen, zugleich ist es aber nur Teil eines Temporalisierungsprozesses, der durch die Rückwendung auf das Vergangene die Möglich-
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mer wieder auf Veränderungen im Vergleich zum ersten Aufenthalt hingewiesen, oft bezüglich positiver bzw. fortgeschrittener Veränderungen (z. B. AA III, S. 69). Das Aufrufen des Kalypso-Mythos markiert also wiederum eine doppelte Sehnsucht. Garber hingegen liest insbesondere den ersten Tahitiaufenthalt in der Trias arkadischer Blick, Zerstörung dieses Blickes durch Erfahrung und Restitution im ›Totaleindruck‹ (Reise nach Arkadien, S. 30–34); siehe auch den im Vergleich zum Aufsatz über Arkadien von 1997 leicht überarbeitenden Aufsatz von Jörn Garber: ›Arkadien‹ im Blickfeld der Aufklärungsethnologie. Anmerkungen zu Georg Forsters Tahiti-Schilderung. In: Der imaginierte Garten. Hrsg. von Günter Oesterle/Harald Tausch. Göttingen 2001, S. 93–114. Dabei entgeht ihm aufgrund der Isolierung einzelner Tahitibeobachtungen und des fehlenden Blickes auf die Performanz des historiographischen Textes die Dynamik der Gesamtreise, durch die der Arkadienmythos nie ›total‹ rekonstituiert werden kann. Stattdessen verbleibt dieser notwendig und zugleich vielfältig gebrochen.
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keit des Fortschritts in der Zukunft erkennen lässt. Und das Medium dieses Fortschritts ist das Schiff mit den Reisenden bzw. hier mit Georg Forster, also die Vertreter der am meisten fortgeschrittenen Kultur im Prozess der Menschheitsgeschichte. Im letzten Absatz vor der eigentlichen Landung überführt Forster seine Darstellung wieder in eine kollektive Wahrnehmung (AA III, S. 43), wodurch die eigene Wahrnehmungsautorität bestätigt wird. Bei der eigentlichen Darstellung der tahitischen Gesellschaft überwiegen dann der reflexive sowie der beschreibende und der erzählende Stil: zum Beispiel in den Kriegen zwischen einzelnen Inseln und Distrikten (AA III, S. 56f.; S. 74–77), in politischen Hierarchien, in den allgemeinen Tauschmarktmechanismen oder in der generellen Bedeutung von Luxusgütern auf Tahiti. Diese Beschreibungselemente konterkarieren Forsters idealisierende Tahitiwahrnehmung zum Ende dieses zweiten Tahitiaufenthalts, wo er die Glücksseligkeit der Tahitianer noch einmal idealtypisch entwirft (AA III, S. 86–90). Jedoch ist die idyllische Idealisierung oder gar Verherrlichung Tahitis in der Deixis von Forsters Text bereits als relative europäische Wahrnehmung markiert, wie die Analyse der Text- und Sehnsuchtsbewegung von der Polargegend nach Tahiti gezeigt hat. Der Standpunkt der Glückseligkeit ist relativ und wird letztlich von Forster selbst als solches entlarvt. Andererseits ist die Idealisierung notwendig, um zugleich Zivilisationskritik – an Tahiti und stärker an der europäischen Gegenwart – zu üben. Nur dann können beide als textinterne Maßstäbe der inszenierten Zivilisationsgeschichte funktionieren. Während der Polarfahrt erfährt die Zivilisation die äußersten Naturgewalten und Entbehrungen. In dieser Situation setzt Forster einen doppelten Maßstab der Idealität für die Sehnsüchte und zugleich des menschlichen Fortschreitens an. Der eine ist England, nur kurz angedeutet und dann immer in der Vorstellung der überlegenen Zivilisation präsent. Der andere, hier wichtigere ist Tahiti bzw. die Gesellschaftsinseln, die sich zum internen Maßstab für den Zivilisationsstand in der Südsee entwickeln. Dies ist jedoch nicht einfach eine Beschreibung, die feststellt, dass die Zivilisation der Gesellschaftsinseln weiter als die der Marquesas entwickelt ist. Vielmehr wird diese räumliche Zeiteinteilung zivilisatorischer Entwicklung von der Inszenierung der Sehnsüchte der Reisenden überschattet. Die Entbehrung macht die Pisangfrüchte so wünschenswert, die Küste von S. Christina anmutig und letztlich die Aussicht von MatavaiBay herrlich. Zur philosophischen Beobachtung tritt also eine emotionale Beobachtungskomponente, die notwendig ist, um den natürlichen Fortschritt der Menschheitsgeschichte inszenieren zu können. Aus Sicht der 112
von Forster als Kollektiv geschaffenen Reisenden erlebt der Leser den fortschreitenden Prozess der Menschheitsgeschichte. Dabei muss für diese Beschreibungsform keine Objektivität angenommen werden. Das leistet die reflexive Form der systematischen Zusammenfassungen und Vergleiche am Ende der einzelnen Kapitel. Stattdessen ist die Sehnsucht der Reisenden als notwendiger Teil dieses Prozesses zu erleben. Die Vorstellungen – durch andere Reiseberichte wie durch die erste Tahitierfahrung geprägt – leiten diese Sehnsucht. Der menschheitsgeschichtliche Prozess kann nur ästhetisch erfahren werden bzw. er muss durch die Erwartungen und Sehnsüchte der Reisenden beschrieben werden. Ohne es explizit zu betonen, inszeniert Forster dadurch ein Zusammenspiel der gegenwärtigen Perspektive der Reisenden – im aktuell höchsten Punkt menschlicher Zivilisation – mit der jeweils beobachteten Kulturstufe. Durch den Ausgangspunkt der Sehnsucht nach England und Tahiti in Anbetracht des Naturextrems in antarktischen Gewässern kann der Sehnsuchtsbogen vorwärts schreiten und damit die Wahrnehmung des Zivilisationsprozesses durchspielen und zugleich eine eigentlich aus Sicht des 18. Jahrhunderts rückwärts gewandte Idyllensehnsucht darstellen. Mit dieser doppelten Bewegung, den Prozess der Menschheitsgeschichte entlang zu gehen und zugleich auf die verschiedenen, weniger sittlichen sowie einige degenerierte Naturstufen zurückzublicken, wird die Darstellung des Fortschritts der Menschheit bei gleichzeitiger Fortschrittskritik möglich. Dazu entsteht eine Spannung zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver Beschreibung und Reflexion der Kulturstufen, die Forster nicht auflösen muss. Vielmehr ist das Subjektive die Bedingung der Möglichkeit für die Darstellung der Menschheitsgeschichte.
6.
Darstellungsformen in der Balance
Es gibt zahlreiche Passagen in der ›Reise um die Welt‹, in denen die Temporalisierung von Zivilisationsgeschichtsschreibung weit schwächer ausgeprägt ist, als in den beiden Reisen im südlichen Polarmeer, von denen die erste nach Dusky-Bay und letztlich nach Tahiti und die zweite wiederum nach Tahiti führt. Dies wird schon zu Anfang der Reise in Forsters Beschreibung der Bewohner auf Madeira deutlich (AA II, S. 42–54), wo ein beschreibender und reflexiver Schreibstil dominiert. Für die Erzählung von Ereignissen oder gar für das szenische Vorführen von Begegnungen besteht kein Raum. Forster gibt direkt eine beschreibende Zusammenfassung der Insel und ihrer Bewohner, die bei dem viertägigen 113
Aufenthalt nicht empirisch gewonnen werden konnte, sondern stark vom Vorwissen Forsters geprägt sein musste.103 Die Empirie spielt eine geringe Rolle; eine distanzierte Beschreibung, die den Wahrnehmungsprozess nicht vollziehen muss, sondern ähnlich wie in Cooks gesamter Reisebeschreibung überspringen kann, um sofort das Resultat bzw. die Synthese darzustellen. Der Erkenntnisprozess wird übersprungen. Dies ändert sich mit dem Eintreten in das Polarmeer bzw. in die Südsee. Nach dem Forster die Koordinaten der Zivilisationsgeschichte in der Südsee, zwischen den beiden Polarreisen und den beiden Tahitiaufenthalten, überblendet von der europäischen Wahrnehmung, etabliert hat, werden die Sehnsüchte, die gerade in Dusky-Bay und Tahiti so stark inszeniert wurden, schwächer. Damit wird wiederum eine distanzierte Darstellung der Südseekulturen ermöglicht, in dem Beschreibungs- und Reflexionsformen sowie einfache Erzählformen überwiegen und die Inszenierung der eigenen Wahrnehmung zurückgenommen ist. Dies soll an den beiden Beispielen der Ankünfte und Beschreibungen von Tanna – zu den Neuen Hebriden (heute Vanuatu) gehörend – und Neu-Kaledonien untersucht werden. Nach der grundlegenden Entdeckung von Mallicollo (Malekula), die Forsters anthropologisches Weltbild veränderte,104 erscheint die Reise relativ entspannt; es herrscht »gelindes Wetter« (AA III, S. 192); die Reisenden haben einen guten Passatwind, und Forster spricht nicht von Sehnsüchten oder existentiellen Notwendigkeiten. Die größten Probleme sind ein kleines Feuer auf dem Schiff und Probleme mit Windstille. Die Sichtung von Irromanga (Eromanga), einer weiteren Insel der Inselgruppe Vanuatu, ist entsprechend rein deskriptiv; die Stimmung oder Erwartungen der Reisenden spielen keine Rolle (AA III, S. 194f.). Von der Naturbeschreibung kommt Forster schnell auf die Einwohner der Insel zu besprechen, die umgehend ethnographisch als ähnlich zu denen Mallicollos eingeordnet werden. Dieses Schema bleibt auch bei Darstellung der Ereignisse der ersten ausgesendeten Boote und der Konfrontationen bzw. Missverständnisse mit den Einheimischen erhalten. Forster beschreibt und reflektiert; er inszeniert nicht. Insofern ist die eigentliche Landung auf Tanna – durch das Gemälde von Hodges berühmt gewor103
104
Vgl. Heinritz: »Andre fremde Welten«, S. 104. Van Hoorn zeigt, dass Forster in der Madeira-Darstellung noch der Klimatheorie des 18. Jahrhunderts folgt (Dem Leibe abgelesen, S. 35–39). Die Notwendigkeit eines dynamischen Darstellungsmodells ist hier also noch nicht entwickelt. Van Hoorn: Dem Leibe abgelesen, S. 47–56. Auf Malekula begegnet Forster zum ersten Mal dunkelhäutigen Melanesiern, was die Klimatheorie grundsätzlich in Frage stellt.
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den105 – deutlich von zum Beispiel den Ankünften in Tahiti zu unterscheiden. Forster beschreibt wie ein Beobachter von außen,106 wenn auch mit mehr Wissen über die europäische Perspektive, aber letztlich bleibt es eine Beschreibung der Landungsereignisse. Dieser beschreibende Gestus ist zusammen mit der vergleichenden Reflexion der Bewohner auf Tanna mit anderen Südseeinseln Forsters grundsätzliche Darstellungstechnik in der ersten Hälfte dieses Kapitels. Zum Beispiel geht er nach der Landung fast umstandslos in eine Beschreibung der äußeren Merkmale der Bewohner über (AA III, S. 212). Im Weiteren werden Ausflüge, Tauschszenen und andere Verhandlungen beschrieben, aber im Modus einer Nacherzählung, nicht als szenisches Erzählen. Die Abschiedsszene von Tanna ist hingegen diejenige, in der Forster noch einmal Geschichte und kulturelle Wahrnehmung inszeniert. Da die Resolution den Hafen aufgrund der Windverhältnisse noch nicht verlassen kann, nutzen Cook und seine Begleiter diese Verzögerung für weiteres Handeln sowie Erkunden der Insel. Georg Forster macht alleine einen Ausflug tiefer ins Land, als er zuvor gewesen war (AA III, S. 268). Die Einwohner von Tanna verhalten sich respektvoll, obwohl er allein ist, was ihn ermuntert. »Überall mit dichter Waldung umringt, ward ich selten etwas von der Gegend gewahr, wenn nicht hie und da eine Lücke zwischen den Bäumen mir einige Aussicht verschafte. Dann aber hatte ich ein desto reizenderes Schauspiel« (AA III, S. 268). Forster rühmt nun die einfache Landarbeit der Einheimischen, die dabei sogar Melodien singen, die er zuvor bereits gehört hat, was den idyllisch-bukolischen Eindruck verstärkt. Wiederum ist die Natursprache des 18. Jahrhunderts prägend für die Natur- und Kulturdarstellung. Wer es je selbst erfahren hat, welch einen ganz eigenthümlichen Eindruck die Schönheiten der Natur in einem gefühlvollen Herzen hervorbringen, der, nur der allein, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie in dem Augenblick, wenn des Herzens Innerstes sich aufschließt, jeder, sonst noch so unerhebliche Gegenstand interessant werden und durch unnennbare Empfindungen uns beglücken kann. (AA III, S. 269) 105
106
Siehe Rüdiger Joppien/Bernard Smith: The Art of Captain Cook’s Voyages. 3 Bde. New Haven 1985–1988. Bd. 2. 1985, S. 233. Zu weiteren Analysen des Gemäldes und der Ankunft in Tanna, siehe z. B. Walter F. Veit: Der beobachtete Beobachter. Anmerkungen zur Topik kognitiver Probleme der indigenen Reaktionen im Pazifik. Georg-Forster-Studien 10 (2005), S. 37–76, insb. S. 52–59; und Ulrich Kinzel: Zeichen und Schüsse. Georg Forsters pazifische Aufklärung. Literatur in Wissenschaft und Unterricht 37 (2004), S. 159–168, insb. S. 163–166. Siehe auch Veit (Der beobachtete Beobachter, S. 58), der zeigt, wie in Forsters Darstellung der Landung auf Tanna die Erzähldistanz erhalten bleibt.
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Forster spricht vollkommen aus der Perspektive des aufgeklärten 18. Jahrhunderts, geprägt durch die Sprache und Konzepte von Empfindsamkeit und Sturm und Drang. Ein Vergleich mit dem oben analysierten Abschied aus Dusky-Bay zeigt die Bedeutung dieser Passage. Anders als in DuskyBay wird die kultivierte Natur nicht von den Europäern, sondern von den Einheimischen im Blick des europäischen Betrachters geschaffen. Damit wird deutlich, dass der Zivilisationsprozess voran geschritten ist, die Neuen Hebriden weiter als Neuseeland entwickelt sind. Gleichzeitig macht Forster einen kurzen Vergleich zu Tahiti: »Diese Gegend war zum Entzücken schön, und selbst Tahiti könnte sich nicht leicht einer schönern Landschaft rühmen« (AA III, S. 268). Doch für die tahitische Gesellschaft hat Forster das Bewusstsein von Glückseligkeit im Tahitianer selbst angesetzt, auch wenn es natürlich trotzdem durch den idealisierenden europäischen Betrachter geschaffen wird. Hier hängt das Entzücken direkt vom europäischen Betrachter ab; dessen Entzücken oder Glückseligkeit wird geschaffen. Es ist entscheidend, dass anders als beim Abschied von Dusky-Bay Forster selbst als Individuum diese Empfindungen hat. In Dusky-Bay war die Schaffung der kultivierten Naturidylle kollektiv und allgemein gültig; auf Tanna ist es der Augenblick des einzelnen Betrachters. Für die Inszenierung von Zivilisationsgeschichte bedeutet dies ein fortgeschrittenes Wechselverhältnis. Das kulturelle Schaffen der Einwohner in der Natur verschmilzt mit der individuellen Augenblickswahrnehmung des aufgeklärten Europäers, sodass erkennbar wird, dass sich die Geschichte fortentwickelt hat und zugleich die europäischen Sehnsüchte nach einer Einheit zwischen Natur und Kultur für einen Augenblick als befriedigt vorgeführt werden können. In der weiteren Reflexion über Tanna ist es Forster nun möglich, wieder von der individuellen Erfahrung zu verallgemeinern. Die Europäer hätten einen generellen Fortschritt in der Sittlichkeit der Bewohner von Tanna bewirkt. Diese wären anfangs noch misstrauisch gewesen, wie im Bericht von der Landung zu sehen war: »Diesen Argwohn, dieses eingewurzelte Mißtrauen, hatten wir durch kühles, überlegtes Verhalten, durch Mäßigung, und durch das Gleichförmige aller unserer Handlungen, zu besiegen, zu vertreiben gewusst. […] sie […] hatten jetzt von uns, und durch unser Beyspiel gelernt, ihre Nebenmenschen höher zu schätzen!« (AA III, S. 270).107 Wie in der Dusky Bay-Abschiedsszene erweist sich der Fortschritt der Zivilisation aber als Illusion, wenn im direkten Anschluss an diese Überlegungen deutlich wird, dass die Soldaten einen Tanneser 107
Vgl. Forster zum Zusammenhang von Religion und Fortschritt (AA III, S. 280f.).
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getötet haben, weil er die von den Europäern am Strand gesetzten Regeln nicht eingehalten hat (AA III, S. 271f.).108 Forster beginnt mit einer kritischen Beschreibung dieses kolonialen Gewaltaktes aus seiner eigenen Perspektive und der Sparrmanns, die von ihren Erkundungen gemeinsam zum Strand zurückkehren. Zuerst entdecken sie, dass etwas nicht zu stimmen scheint, bevor sich die Ereignisse am Strand in einer Rekonstruktion aufklären. Forster führt hier seinen eigenen kritischen Erkenntnisprozess performativ vor. Das Beispielhafte der europäischen Kolonisierung bzw. Zivilisierung der Tanneser zur Humanität, wird immer wieder kritisch von den Fehlverhalten der zivilisierten Europäer unterlaufen. Der europäischen Gewalt stellt Forster die Güte der Tanneser – ähnlich wie er es in Maheine sieht – entgegen, die ihm und Sparrmann nichts antun (AA III, S. 272). Diese Erkenntnis führt zu einer der explizitesten Zivilisationskritiken in der ›Reise um die Welt‹: Wie plötzlich, und durch was für eine ruchlose That waren die angenehmen Hoffnungen, womit ich mir, noch wenig Augenblicke zuvor, geschmeichelt hatte, nun nicht auf einmal vereitelt! Was mussten die Wilden von uns denken? Waren wir jetzt noch besser, als andere Fremdlinge? […] Und hier in Tanna, wo wir uns, bis auf den Augenblick unserer Abreise, gesitteter und vernünftiger, denn irgendwo, betragen hatten, auch hier mußte dieser Ruhm, durch die offenbahreste Grausamkeit wieder vernichtet werden! (AA III, S. 273)
Ohne dass Forster eine Lösung findet, wird der Umschwung seiner Reflexionen zwischen gelungenen und verfehlten Zivilisationsleistungen, zwischen Zivilisationsglück und menschlicher Herzensgüte performativ vorgeführt. Forster inszeniert die doppelte Kritik der Aufklärung zwischen Fortschritt und Fortschrittskritik. Die meisten Darstellungen Forsters nach dem zweiten Tahiti-Aufenthalt sind hingegen kaum noch performativ, was einerseits damit zusammenhängt, dass – von Tanna abgesehen – die Aufenthalte sehr kurz und pragmatisch gehalten waren. Andererseits – wie schon bei der Ankunft auf Tanna erkennbar – ist das Sehnsuchtspotential nach Erschließung des gesamten Zivilisationsspektrums der Südsee reduziert. Die Ankunft auf Neu-Kaledonien wird daher in Forsters Darstellung fast vollständig auf die Lust des Entdeckens beschränkt. Nachdem Forster zuerst noch von den Entbehrungen der langen Rückreise durch die Südsee und um Südamerika gesprochen hat, wird dann nur noch der Fakt der neuen Entdeckung betont: »Glücklicherweise hatten wir aber kaum drey Tage lang 108
Für den Hinweis auf die Bedeutung dieser Szene für performative Darstellung danke ich Jörg Esleben.
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denselben Lauf gehalten, als uns ein großes Land aufstieß, das noch kein Europäer gesehen, und nun bekam der Rest unserer Unternehmungen im Südmeer, auf einmal eine entscheidende Wendung« (AA III, S. 291). Forsters eigentliche Beschreibung ist dann aber sehr distanziert, weil sich trotz des neuen Landes wenig neue Eindrücke und Erfahrungen ergeben. Er beschreibt die Einwohner und ihre Ähnlichkeit zu denen in Tanna, Mallicollo und Neu-Holland (dem heutigen Australien), er reflektiert über gesellschaftliche Normen wie die Rolle von Frauen und erzählt einige kurze Begebenheiten und Kommunikationsszenen wie die Erklärung der Einheimischen, dass ein Fisch giftig sei (AA III, S. 311). Man findet hier genau die Dreiteilung von Heinritz in Reflexion, Beschreibung und Erzählung wieder.109 Eine performative Darstellung gibt es nicht mehr. Forster als Historiker braucht trotz der Entdeckung der neuen Insel seinen Erfahrungsraum nicht mehr wirklich zu erweitern; er kann einfach einige Koordinaten zu seiner Zivilisationsdarstellung hinzufügen. Hierfür reicht ihm das räumliche Modell der Zivilisationsgeschichte; eine temporalisierte Zivilisationsgeschichtsschreibung, die die Sehnsüchte und Wahrnehmungen des Reisenden in Szene setzt, ist nicht mehr vonnöten.
7.
Fortschritt und Kritik
Forsters eigener Anspruch, eine philosophische Reisebeschreibung zu verfertigen, wird letztlich nur teilweise eingelöst. Die philosophische Synthese zwischen Subjekt und Objekt ist für den Erzähler nicht zu erstellen; vielmehr besteht eine dauerhafte Spannung zwischen Eigenem und Fremdem, Subjekt und Objekt. Die fehlende Synthese – die im späteren Niederrhein-Text hingegen erzielt wird110 – ist nun keinesfalls ein Mangel von Forsters Schreibweise oder Reflexionsgrad. Vielmehr entwickelt Forster eine für die 1770er Jahre höchst moderne Schreibform, die langfristig das Narrativitäts- bzw. Sinnkonstitutionsdefizit der deutschen
109 110
Siehe II.3. Die ›Ansichten vom Niederrhein‹ erstellen deutlich stärker eine philosophische Synthese als die ›Reise um die Welt‹, insbesondere bezüglich der Aneignung von Objekt bzw. Kulturraum durch das Beobachtersubjekt, von innerer und äußerer Welt, wie vor allem Jörn Garber für die Amsterdamdarstellung überzeugend vorführt (Die »Schere im Kopf« des Autors, S. 23–28). Das Inszenatorische von Zivilisationsgeschichte ist aber auch in diesem späteren Reisebericht deutlich zu erkennen. Zu den ›Ansichten‹, siehe auch Hentschel: Studien zur Reiseliteratur, S. 60–70; und Rotraut Fischer: Reisen als Erfahrungskunst. Forsters ›Ansichten vom Niederrhein‹. Frankfurt a.M. 1990.
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Geschichtsschreibung aufheben wird, wie gerade in den Kapiteln zu Schiller und Archenholz zu sehen sein wird. Ausgangspunkt für Forsters neue Darstellungsform von Geschichte ist die Übertragung der Geographie auf die Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Die Geschichtsschreibung erhält also neue Darstellungspotentiale aus einem anderen Diskurs. Die räumliche Erschließung der Welt, allen voran der vor Cooks Weltreisen noch nicht systematisch kartographisierten Südsee, ermöglicht eine zivilisationshistorische Betrachtungsweise: Verschiedene Kulturen können auf unterschiedlichen historischen Stufen eingeordnet werden. Dies ist zuerst einmal ein räumliches Modell, eine Kulturlandkarte, die darauf basiert, jedem Volk – außer dem des Betrachters – eine konkrete Kulturstufe zuzuweisen, anhand derer die mögliche Entwicklung der Menschheit gezeigt werden kann. Die aus europäischer Sicht vorläufigen Zivilisationsstufen besitzen also keine eigene Geschichte. Die Schwierigkeit besteht nun darin, dass dieses räumliche Modell dem empirisch-wissenschaftlichen Anspruch Forsters nicht genügen kann. Es gibt offensichtlich keine direkten Entwicklungslinien; selbst in der Südsee entdeckt Forster zwei höchst unterschiedliche Menschengruppen, die mit dem Wissen der damaligen Zeit jede Abstammungstheorie problematisch machen. Zugleich erkennt Forster die Bedeutung von Wahrnehmung. Das wahrnehmende Subjekt beeinflusst durch seine Einstellung und seine Handlungen das Wahrgenommene; insofern muss eine Darstellung fremder und weniger entwickelter Kulturen den Wahrnehmungsprozess mitberücksichtigen. Hier entsteht die zweite Dimension von Geschichte, in der Zivilisationsgeschichte nicht nur verräumlicht, sondern auch verzeitlicht wird.111 Eine statische Landkarte oder Stufenleiter genügt nicht. Damit erweist sich auch ein Modell wie das Heinritzsche, das Forster die drei Darstellungsformen Beschreiben, Reflektieren und Erzählen zuweist, als nicht ausreichend, um Forsters Textverfahren in der ›Reise um die Welt‹ zu verstehen.112 Stattdessen wird Geschichtsschreibung performativ; sie findet im Text statt. Dies funktioniert in der gezeigten doppelten Bewegung, einerseits zu Naturidealen und glücklichen Kulturstufen, die die europäische Gegenwart verloren hat. 111 112
Zur Verzeitlichung räumlicher Geschichtsmodelle siehe auch das Herder-Kapitel, insbesondere den Teilabschnitt III.3.1. Nur in Passagen gesicherten Wissens genügen das räumliche Geschichtsmodell und die Darstellungsformen des Beschreibens, Reflektierens und Erzählens. Dies wird besonders in einigen moralischen Urteilen Forsters deutlich, oder wenn er Kulturen beschreibt, für die die Europäer bereits genügend Kategorien besitzen. Hier kann dann ein klareres anthropologisches Weltbild entworfen werden (vgl. auch II.7 zur Distanz der historiographischen Darstellung).
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Diese Sehnsüchte werden andererseits mit der Sehnsucht nach gesellschaftlichem und sittlichem Fortschritt – zum Beispiel markiert durch die Idee der Heimkehr – gekoppelt. Forster inszeniert eine dynamische Geschichte, die immer beide Bewegungen bzw. Sehnsüchte kennt. Je stärker diese sind – in Entbehrungen der Europäer wie in der Naturidylle oder dem vermeintlichen Glück einer Gesellschaft, desto mehr inszeniert Forster diese Durchdringung europäischer Kultur in der Begegnung mit dem Fremden. Die Reise selbst fungiert als Text performativ, weil sie eine Textdeixis erstellt, durch die die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts ebenso wie dessen Kritik vorgeführt werden. Diese Textdeixis entsteht zwischen Natur, unterschiedlichen Südseekulturen und dem europäischen Blick. Anders als Cooks Weltreisebeschreibung bleibt Forsters Text dynamisch, in der Schwebe. Eine endgültige Erkenntnis von den Gesetzen der Zivilisationsgeschichte gibt es nicht, sondern ihre Prozesse werden aus der Perspektive des europäischen Betrachters immer wieder durchgespielt. Das Performative wird dabei auf zwei unterschiedlichen Ebenen erkennbar: abstrakt als historischer Prozess der Menschheitsund Zivilisationsgeschichte, dessen Fortschreiten bei gleichzeitigen, diesem widerstrebenden Sehnsüchten inszeniert wird;113 und zweitens als konkreter Wahrnehmungsakt, wenn der individuelle oder kollektive Charakter eine konkrete Wahrnehmungserfahrung macht, durch die sich die Sehnsucht nach dem Natürlichen und dem Glück sowie die Sehnsucht nach zivilisatorischem Fortschritt, dem Zuhause und der höheren Sittlichkeit überlagern.114 Um das Fremde nicht ganz im Eigenen aufgehen zu lassen, muss Forster die aktuelle Begegnung inszenieren. Cook hingegen kann einfach beschreiben, weil die aktuelle Begegnung nur heißt, den Bewohnern der Südsee etwas beizubringen, dass die Europäer bereits wissen. In diesem Vergleich wird besonders deutlich, warum Forsters Text nur in der aktuellen Ausführung des Textes entstehen kann. Die Dominanz und Fortentwicklung der europäischen Zivilisation hängt von ihrer Fähigkeit ab, dynamisch zu bleiben. Die Überlegenheit des Kulturwerks, zum Beispiel in Dusky-Bay, entsteht erst durch die vorherige Wahrnehmung, die Sehn113 114
Vgl. hierzu insb. I.3.1 im Einleitungskapitel. Diese Abhängigkeit der Geschichtsdarstellung von konkreter Wahrnehmung, womit es nicht einfach eine das Vergangene als gewesenes Objekt berichtende Darstellungsweise geben kann, findet sich bei allen in diesem Buch untersuchten Autoren. Bei Forster ist diese Abhängigkeit aufgrund der Darstellungsform der Reisebeschreibung am deutlichsten, bei den Schlegels wird erkennbar, wie die Inszenierung der Wahrnehmung wiederum an Bedeutung verliert (vgl. VI.3 und VI.4).
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sucht nach dem Natürlichen sowie dessen Akzeptanz. Dann kann das Natürliche kulturell wieder geschaffen und damit perfektioniert werden. Ein anderes Beispiel war die Belehrung der Einwohner von Tanna, die nach Forster Nächstenliebe lernen. Diese Aussage wird erst durch die Inszenierung der eigenen, erfüllten Sehnsüchte im Natürlichen möglich, die dann wieder auf das Zivilisationsideal rückübertragen werden, doch zugleich als Illusion entlarvt werden müssen. Der Fortschrittsprozess in dieser doppelläufigen Bewegung muss in seiner Entstehung gezeigt werden; deshalb fordert Forster die Leser mit ihrer Einbildungskraft auf, die Szenen und die Bewegung der Begegnungen wieder erstehen zu lassen. Dieses Prinzip garantiert letztlich den Fortschritt und die Überlegenheit der europäischen Zivilisation und die ihm inhärente und notwendige Kritik. Zivilisationsgeschichte ist zwar auf der ersten Ebene zu verräumlichen, doch bei genauerem Hinsehen wird erst durch die Temporalisierung, durch die Dynamisierung der Interaktion zwischen Natur und Kultur, erreicht, das aufklärerische Geschichtsmodell in einer zivilisationsgeschichtlichen Darstellung praktisch umzusetzen.
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III. Johann Gottfried Herders Menschheitsgeschichte. 1 Prozess und Europa1
1.
Menschheitsgeschichtsschreibung zwischen Geschichte, Naturwissenschaft und Philosophie
Wie Forsters ›Reise um die Welt‹ sind auch Johann Gottfried Herders menschheitsgeschichtliche bzw. geschichtsphilosophische Texte keine Ereignisgeschichte, sondern Sekundärgeschichten, in denen die Entwicklung der Menschheit in Natur und Kultur dargestellt wird.2 Dabei stehen sowohl die Veränderungen zwischen einzelnen Stufen der Menschheitsgeschichte als auch die Gesetze, die zur Entwicklung der Menschheit führen und bei Herder den Fortgang zur Humanität garantieren, im Vordergrund.3 Zugleich haben Forster und Herder mit einem Widerspruch zwischen allgemeinen Gesetzen und der Erfahrung von Individualität zu kämpfen,4 sodass der Geschichtsprozess wie bei Forster erstens versprachlicht (vertextet) werden und zweitens das Notwendige einer Entwicklung ausdrücken muss, ohne das Besondere zu stark zu abstrahieren oder zu verallgemeinern. Bei Forster dient die konkrete Erfahrung und Beobachtung des Reisenden als Korrektiv des Allgemeinen durch das Besondere; bei Herder erfüllen die kontingenten Daten und Ereignisse der Geschichte diese Funktion. 1
2 3
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Herders Werke werden, wenn nicht anders vermerkt, zitiert aus Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold et al. Frankfurt a.M. 1985–2000 [Frankfurter Herder-Ausgabe]; im Weiteren wird aus der Frankfurter Herder-Ausgabe direkt im Fließtext in Klammern mit den Siglen FHA, Band- und Seitenangabe zitiert. Da es um Geschichtsdarstellung geht, beschäftigt sich dieses Kapitel nicht mit einflussgeschichtlichen Bezügen zwischen Herder und Forster. Insbesondere der Herder der ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ erweitert die Menschheitsgeschichte zur Naturgeschichte, die einen Bildungsprozess von der Erde, über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen durchmacht; vgl. auch Garber: Selbstreferenz, S. 177f. Eva Knodt spricht von Herders »deliberate blurring between nature and culture, understanding and explanation« (Hermeneutics and the End of Science. Herder’s Role in the Formation of Natur- and Geisteswissenschaften. In: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1996, S. 1–12, hier: S. 6). Neumann markiert die Parallelen zwischen Forsters und Herders individualisierender Betrachtung fremder Zivilisationsformen (Philosophische Nachrichten, S. 540).
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Herders historischer Blick ist distanzierter als der Forsters. Der reisende Zivilisationshistoriker ist konstant Teil des Beobachtungsprozesses, indem er die Zivilisationsgeschichte durchreist, womit die europäische Gegenwart ständig direkt mit der ›Vergangenheit‹, hier den realen Zivilisationsstufen anderer Völker konfrontiert wird.5 Der Geschichtsphilosoph hingegen blickt zurück auf bereits Geschehenes und versucht dies mit Gegenwart und Zukunft zu verknüpfen. Beide müssen ein räumliches Geschichtsmodell verzeitlichen, um das Allgemeine, den Fortschritt der Menschheit, herausarbeiten zu können.6 Trotz der größeren Distanz des Geschichtsphilosophen sind Forster und Herder herausgefordert, mit der hermeneutischen Einsicht des 18. Jahrhunderts, dass jede Wahrnehmung von Kultur und Geschichte relativ ist, sprachlich umzugehen. Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie versuchen aus dem Chaos historischer Daten, einen tieferen Sinn zu gewinnen. Sie versuchen eine Kohärenz von Geschichte zu zeigen, die aus den kontingenten Daten der menschlichen Erfahrung aufgespürt werden müssen. Im zweiten Entwurf zu seinem Shakespeare-Aufsatz, zwischen September 1771 und Anfang 1772 entstanden,7 führt Herder diese Funktion unter dem Stichwort 5
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7
Diese Distanz findet sich hingegen nicht in Herders ›Journal meiner Reise im Jahr 1769‹ (in: FHA IX/2. Pädagogische Schriften. Hrsg. von Rainer Wisbert. 1997, S. 9–126). Es fehlt sowohl der historiographische Wahrheitsanspruch als auch das geschichtsphilosophische Allgemeine. Somit verbleibt Herders ›Journal‹ eine Bildungsreise des Sprechersubjekts, die das Thema Geschichte immer wieder reflektiert und durch das Spiel einer analogisierenden Einbildungskraft Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenbringt (vgl. den Kommentar von Rainer Wisbert, FHA IX, S. 876, der das ›Journal‹ explizit von der Reisebeschreibung und dem Tagebuch als Gattungen abgrenzt, und als »Fragment einer Gedanken- und Gefühlsreise durch die ganze Universalität der äußeren und inneren Welt, durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Ich und Welt« einordnet. Die Unterscheidung zwischen den Begriffen Zivilisations- und Menschheitsgeschichtsschreibung ergibt sich dadurch, dass Forster sich mit Zivilisationsstufen auseinandersetzt, die er dann für die kulturelle Entwicklung der Menschheit temporalisiert. Historiographisch wird beispielsweise der historische Hintergrund der europäischen Kultur nicht direkt dargestellt (er fließt nur indirekt wie in den Antikebezügen in die Darstellung mit ein). Herder hingegen geht vom Menschen aus und stellt die Entwicklung der menschlichen Kultur zu unterschiedlichen historischen Zeiten dar. Sein historistischer Hintergrund, jede Nation individuell für sich ernst zu nehmen (siehe III.2), unterstreicht diesen Unterschied. Forsters ›Reise um die Welt‹ in der hier vorgetragenen Lesart und Herders geschichtsphilosophische Texte sind jeweils als Kulturgeschichten der Menschheit zu betrachten. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Universalhistorie und Geschichte der Menschheit von Christoph Meiners trifft also für Forster und Herder zu: »Die Geschichte der Menschheit hingegen lehrt uns nicht so wohl, was der Mensch in verschiedenen Zeitaltern that oder litt, als was er war, oder noch jetzt ist« (Vorrede zur ersten Auflage. In: Grundriß der Geschichte der Menschheit, S. 22). Vgl. Pross: Die Begründung der Geschichte aus der Natur, S. 214f. Vgl. den Kommentar von Gunter E. Grimm in: FHA II. Schriften zur Ästhetik und Literatur. Hrsg. von Gunter E. Grimm. 1993, S. 1163.
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der historischen Illusion aus:8 »Historische Illusion, dünkt mich also, entsteht dem Leser, wenn er in dem Fortfluß der Geschichte das Fortgehende Würkende aller Kräfte, die eine Begebenheit hervorbringen, Jede an ihrem Ort, und ihrem Maße fühlt, daß er teils voraus ahndend, teils allmählich erfahrend, das Resultat dieser Kräfte in der Begebenheit anschauend erkennet.«9 Herder fährt etwas später fort, »wie sehr die Geschichtsschreiber Shakespear nutzen könnten, um ihm Kunstgriffe abzumerken, wie er oft einer elenden Nouvelle Plan abgewinne, einem Schattenriß der Geschichte, Farben, Fülle, Leben, Täuschung gebe« (FHA II, S. 539). Diese Überlegungen des frühen Herders zeigen zwei Aspekte, die im Weiteren als zentral für die Darstellung von Geschichte in seiner Geschichtsphilosophie ausgemacht werden können. Die Darstellung der Geschichte schafft erstens die Illusion einer geschichtlichen Bewegung, eines Geschichtsprozesses. Die Vorstellung oder Illusion eines einzelne Begebenheiten überschreitenden Prozesses manifestiert sich zweitens in einer durch die Darstellung erzielten Wirkung für den Leser, die Herder mit dem Konzept der Kraft umschreibt.10 Die Aufgabe – und zugleich das der Geschichtsphilosophie inhärente Paradoxon – liegt darin, dass sie das irreduzible Individuelle mit allgemeingültigen Prinzipien vermitteln möchte, zugleich aber Schwierigkeiten hat, das Individuelle in einer geschichtsphilosophischen Darstel8
9 10
Siehe auch Hinrich C. Seeba: Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung. Storia della Storiografia 8 (1985), S. 50–72, insb. S. 62f., für Herders poetologische Überlegungen zu Drama und Geschichtsschreibung. Für eine weitere Diskussion von Seebas Herder-Lektüre, siehe III.2 unten. Siehe auch Eva Knodt: Dramatic Illusion in the Making of the Past. Shakespeare’s Impact on Herder’s Philosophy of History. In: Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1990, S. 209–223, in der Knodt die Bedeutung – insbesondere für das Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart – davon aufzeigt, dass Herder »Shakespeare’s dramatic vision of history« (S. 209) verstanden habe. Shakespear . Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. In: FHA II, S. 530–549, hier: S. 538. Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 64, sieht Herders Kraftbegriff aus dem ersten ›Kritischen Wäldchen‹ (1769) poetologisch von der Dichtung auf die Geschichtsschreibung übertragen. Eine Handlung entsteht nicht nur durch Sukzession, sondern auch durch Kraft. Die Kraft bringt das Phänomenale hervor, entzieht sich aber der menschlichen Wahrnehmung, sodass sie nur von ihren Wirkungen her erschlossen werden kann (Hans Adler: Grenzen des historischen Denkens oder: Wie historisch ist J.G. Herders Geschichtsphilosophie? In: Ideen und Ideale. Johann Gottfried Herder in Ost und West. Hrsg. von Peter Andraschke/Helmut Loos. Freiburg i.Br. 2002, S. 33–43, hier: S. 40). Für den ideengeschichtlichen Kontext des Kraftbegriffs, siehe auch Robert E. Norton: Herder’s Concept of ›Kraft‹ and the Psychology of Semiotic Functions. In: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1996, S. 22–31.
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lung zu behaupten.11 Dieses Individuelle ist nach der hermeneutischen Erkenntnislehre des 18. Jahrhunderts nur als etwas Gegenwärtiges, also verzeitlicht zu haben. Herders Einsichten über die Bedeutung von Darstellung in der Geschichtsschreibung sind also gerade für den Geschichtsphilosophen bedeutsam, der diese Verzeitlichung veranschaulichen soll, aber zugleich damit umgehen muss, dass im Anspruch der Geschichtsphilosophie etwas radikal Entzeitlichtes enthalten ist.12 Herders geschichtsphilosophische Texte legen dabei bei gleichzeitiger Behauptung eines ganzheitlichen Geschichtsdenkens, das sich u. a. im Begriff des Plans und den Geschichtsmetaphern von Kette und Faden zeigt, einen besonderen Anspruch auf die Erfahrung von Geschichte.13 Herder versucht also eine Balance zwischen allgemeinen Gesetzlichkeiten und dem historisch Besonderen und Individuellen zu finden. Wie Herder dies als Geschichtsinszenierung, insbesondere als Inszenierung der Prozessualität zwischen Erfahrung des Einzelnen und allgemeinen Gesetzen der Geschichte leistet, wird in diesem Kapitel an den beiden geschichtsphilosophischen Haupttexten Herders – ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ (1774) und ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ (1784–1791) – genauer bestimmt.
2.
Herder, Geschichte und die Herder-Forschung
Die große Anzahl an Forschungsarbeiten zum Problemkomplex ›Herder und Geschichte‹ wirkt auf den ersten Blick unüberschaubar; ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass sich die Mehrzahl der Forschung – ähnlich wie es im Folgekapitel zu Schiller zu sehen sein wird14 – mit Herders Geschichtsdenken, nicht aber mit der Machart seiner Texte beschäftigt. Die Forschung konzentriert sich vielmehr auf den inhaltlichen Gehalt von Herders Geschichtskonzeption oder auf die diskursiven Formationen von Kulturtheorie und Philosophie zu Herders Zeit. Es geht gerade bezüglich Herders menschheitsgeschichtlichen bzw. geschichtsphilosophischen Texten bis auf einige markante Ausnahmen15 darum, was für Herder die 11 12 13
14 15
Adler: Grenzen des historischen Denkens, S. 40. Adler: Grenzen des historischen Denkens, S. 40. Siehe insbesondere Jochen Johannsen: Der Erfahrungswandel der Moderne und die Ästhetisierung der Geschichte. Aspekte der historischen Erfahrung bei J.G. Herder. Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 95 (2003), S. 250–272. Siehe IV.2. Eine Besonderheit bildet der Bereich der Metaphern bzw. der Bildlichkeit in Herders menschheitsgeschichtlichen Texten, dem erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet worden
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Menschheitsgeschichte und ihre Gesetze seien, und weniger darum, wie Menschheitsgeschichte zur Darstellung zu bringen ist. Das zweite Forschungsdesiderat folgt aus dem ersten: Ein präziser Vergleich der Machart – Stil, Poetik, Erzähl- und Inszenierungstechniken – von ›Auch eine Philosophie‹ und den ›Ideen‹ steht noch immer aus.16 Ansätze, die sich auf den inhaltlichen Gehalt von Herders Geschichtskonzeption konzentrieren, schließen oft an die Historismus-Debatte an und diskutieren die zahlreichen geschichtstheoretischen Äußerungen, die sich im gesamten Werk Herders vom ›Versuch über das Seyn‹ (1764) bis zur ›Adrastea‹ (1801–04) finden.17 Herders Geschichtsdenken wird dabei zwischen einem geschichtsskeptischen und entwicklungsorientierten optimistischeren Geschichtsmodell eingeordnet.18 Sein Historismus wird hierbei oft als ›ästhetischer Historismus‹ verhandelt, ein Historismus, der sich auf die Kulturgeschichte konzentriert und die politische Geschichte größtenteils ausblendet.19 Daniel Fulda sieht die bereits in der Einleitung
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ist. Zur Bildlichkeit, Textverknüpfung und Stil in Herders Geschichtsdarstellungen, siehe unten. Einen ausführlichen Vergleich zum Geschichtsdenken in den beiden Texten stellt Hans Dietrich Irmscher an (Aspekte der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders. In: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus. Hrsg. von Marion Heinz. Amsterdam/Atlanta 1997, S. 5–47). Irmscher zeigt die Unterschiede zwischen den beiden Schriften, gerade die von Herder in den ›Ideen‹ angenommen naturphilosophischen und anthropologischen Voraussetzungen. In den ›Ideen‹ überlagert zunehmend eine lineare Fortbewegung die zyklische Bewegungsform, sodass die Menschheit sich tatsächlich fortentwickeln kann (Ebd., S. 47). Dieser Abschnitt soll nur die Ausgangskonstellation von Herders Geschichtstheorie und der Herderforschung darstellen. Auf einzelne Texte und ihre Unterschiede wird in den folgenden Teilkapiteln Bezug genommen. Siehe z. B. Heinz Meyer: Überlegungen zu Herders Metaphern für die Geschichte. Archiv für Begriffsgeschichte 25 (1981), S. 88–114, S. 98. Auch Wolfgang Düsing arbeitet diese Spannung an der Bückeburger Geschichtsphilosophie heraus, und sieht dabei im Besonderen einen ungelösten Konflikt zwischen säkularisierter Geschichtsphilosophie und christlicher Geschichtstheologie (Die Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit in Herders ›Auch eine Philosophie der Geschichte‹. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1983. Hrsg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1984, S. 33–49, insb. S. 48). Einen Überblick zu Herders Frühwerk und Historismus gibt Gerhard vom Hofe: »Weitstrahlsinnige« Ur-Kunde. Zur Eigenart und Begründung des Historismus beim jungen Herder. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hrsg. von Gerhard Sauder. Hamburg 1987, S. 364–382. John H. Zammito sieht Herder in der Tradition spekulativer Geschichtsphilosophie und bezeichnet die ›Ideen‹ als »speculative metanarrative« (Herder and Historical Metanarrative. What’s Philosophical about History? In: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. Hrsg. von Hans Adler/Wulf Koepke. Rochester, NY 2009, S. 65–91, insb. S. 75–80). Hannelore Schlaffer/Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a.M. 1975, S. 30f. Siehe auch Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart (1968). Wien/Köln/Weimar 1997, S. 46–48. Iggers fasst hier Friedrich Meineckes apolitische
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betonte Verschiebung vom Allgemeinen zum Partikularen eines frühen Historismus, der darauf verzichtet, das Ganze der Geschichte vernünftig zu begreifen.20 Besonders einschlägig ist Rudolf Stadelmanns Äußerung, dass Herders ›Auch eine Philosophie‹ »das großartige Grundbuch des Historismus« sei,21 die von Friedrich Meinecke um das Prädikat der »höchste[n] Synthese seines [Herders] geschichtlichen Denkens«22 ergänzt wird: »Die Kunst der ästhetischen Einfühlung, durch die ihm die Geheimnisse der Individualität und Entwicklung sich erschlossen, ist niemals wieder so eng und organisch mit seinem ethisch-pädagogischen Wollen verschmolzen worden wie hier.«23 Nach Meinecke gelingt es Herder in der Trias »Zufall, Schicksal, Gottheit!«24 Individuelles und notwendige Entwicklung zusammenzubringen.25 Nach Georg G. Iggers ist Herders Geschichtsdenken zentral für die Entwicklung des deutschen Historismus. Dieser sei geprägt durch die Auffassung einer geschichtsgebundenen Individualität sowie der Annahme, dass es im Strom der Geschichte mit den Nationen (Völkern)26 Organismen gebe, durch die eine nicht-rationale,
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26
Version des Herderschen Historismus zusammen (Die Entstehung des Historismus. Hrsg. von Carl Hinrichs (= Werke. Hrsg. von Hans Herzfeld/C. Hinrichs/Walther Hofer. Bd. 3). München 1959, zu Herder S. 355–444). Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 184. Er belegt dies vorwiegend an Herders Kritik von Schlözers ›Vorstellung der Universalhistorie‹ (S. 191–227). Rudolf Stadelmann: Der historische Sinn bei Herder. Halle an der Saale 1928, S. 28; vgl. auch Meinecke: Die Entstehung des Historismus, S. 408. Meinecke: Die Entstehung des Historismus, S. 408; vgl. auch S. 431. Meinecke: Die Entstehung des Historismus, S. 408. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts. In: FHA IV. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. 1994, S. 9–107, hier: S. 58. Meinecke: Die Entstehung des Historismus, S. 414. In den ›Ideen‹ ist dieser Zusammenhang nach Meinecke verschwunden, wodurch Herder letztlich nicht mehr in der Lage war, den »tragischen Charakter geschichtlichen Lebens in großem Umfange zu verstehen« (Ebd.). Siehe auch Ernst Behler: Historismus und Modernitätsbewusstsein in Herders Schrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹. Études Germaniques 49 (1994), S. 264–284. Behler arbeitet dabei die Spannung zwischen der Individualität der Zeitalter und dem Plan des Fortstrebens in ›Auch eine Philosophie‹ heraus (Ebd., S. 271–273). Volk und Nation werden bei Herder synonym gebraucht. Zur umfassenden Diskussion von Herders Nationenbegriff, siehe insbesondere den von Regine Otto herausgegebenen Sammelband: Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Würzburg 1996; sowie Hans Adler: Nation. Johann Gottfried Herders Umgang mit Konzept und Begriff. In: Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität. Hrsg. von Gesa von Essen/Horst Turk. Göttingen 2000, S. 39–56. Vgl. zudem die präzise Zusammenfassung zu Herders Volks- und Nationenverständnis von Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der ›Ideen‹, ›Humanitätsbriefe‹ und ›Adrastea‹. Würzburg 2005, S. 75–99. Löchte zeigt den
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dynamische und vitale Entwicklung stattfinden könnte.27 Zu Herders Geschichtsdenken besonders beachtenswert sind die Arbeiten von Hans Adler und Andreas Herz. Adler kennzeichnet Herders Geschichtskonzeption wie folgt: »Was Herder hier für die Erkenntnis der Geschichte formuliert, ist die konsequente Anwendung seiner ästhetischen Gnoseologie. Das Andere ist nur insofern zugänglich, als es das Organon des Wahrnehmenden und Erkennenden affiziert. Das Subjekt der Aisthesis ist seiner sicher und erfährt alles außerhalb seiner selbst als das Andere, welches als Erfahrbares ein Ähnliches wird.«28 Die Verwandtschaft zwischen Subjekt und Objekt bildet die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Geschichte ist für Herder als Gegenstand der Erkenntnis das Vorkommen prägnanter Ereignisse, damit ist die Geschichte als Prozess die Entbindung der Prägnanz in der Zeit.29 Herz betont Herders Parallelkonstruktionen zwischen Natur, Anthropologie und Geschichte und setzt sich damit von den vorwiegend auf das historische Weltbild einzelner Denker ausgerichteten Historismusforschungen ab.30 Er führt vor, wie Herder die historistische Konsequenz eines historischen Relativismus zugunsten einer »anthropologische[n] Mitte«, die eine Einheit in der Vielfalt erlaubt, zu überwinden sucht31 und die Vorstellung eines durchgehenden Zusammenhanges ideengeschichtlich erzeugt. Besonders einschlägig für die zweite Forschungsrichtung von Herders Geschichtsdenken, die Untersuchung der diskursiven Formationen, ist Ralph Häfners Monographie zu Herders Quellen und Methode in seinen Geschichtsschriften. Häfner zeigt die Einflüsse und Denkdiskurse, die
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ideellen Charakter von Herders Nationenverständnis, der jedem aggressiven Nationalismus entgegensteht. Von den früheren Arbeiten ist insbesondere Hans-Georg Gadamer: Herder und die geschichtliche Welt. In: Gadamer, Kleine Schriften. Bd. 3. Tübingen 1972, S. 101–117 [Nachdruck des Nachworts in: J.G. Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Frankfurt a.M. 1967], zu nennen, der »aus der neuen geschichtlichen Wirklichkeitserfahrung Herders die Leitidee einer lebendigen Staatsverfassung aus dem Geist der Nation« entstehen sieht (S. 116). Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 50f. F.M. Barnard: Herder on Nationality, Humanity, and History. Montreal u. a. 2003, insb. S. 105–130, beschränkt sich trotz der Betonung von Herders imaginativem Wirken auf eine rein inhaltliche Rekonstruktion von Herders Geschichtsdenken, um den Begriff der Kausalität im Geschichtsverlauf zu erklären. Hiermit verfehlt er das Inszenierungspotential Herderscher Geschichtsphilosophie. Adler: Die Prägnanz des Dunklen, S. 169. Adler: Die Prägnanz des Dunklen, S. 170. Andreas Herz: Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg 1996. Herz: Dunkler Spiegel, S. 200f. Vgl. hierzu auch Behler: Historismus, S. 267f.; insbesondere bezüglich des von Ernst Troeltsch gegen den Historismus geäußerten Relativismusvorwurfs.
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Herder geprägt haben, in einer umfassenden Stoffsammlung auf.32 Peter Hanns Reill verdeutlicht, dass Herders historistisches Denken ihn keineswegs von einem naturwissenschaftlichen Denken löst, sondern Menschheits- und Naturgeschichte zusammenbringt.33 Geschichte wird damit in der Mehrzahl der Herderforschung als ein inhaltliches Konzept einer Ideen-, Einfluss- oder Diskursgeschichte verstanden, das von der Darstellungsebene getrennt wird. Der erste Forschungsbeitrag, der dagegen explizit Herders Geschichtsschreibung diskutiert, stammt aus dem Jahr 1985 von Hans-Hinrich Seeba.34 Er weist daraufhin, dass Herders gesamtes Werk die Sprachlichkeit des Denkens betont, und dass sich auch in ›Auch eine Philosophie‹ oft Reflexionen über die Darstellungsweise vor den Darstellungsinhalt schieben.35 Seeba hebt dabei zum einen Herders hermeneutische Einsicht von der Perspektivität aller Geschichte hervor,36 andererseits weist er den Zusammenhang von Geschichte, Dichtung und Philosophie beim frühen Herder nach, der es diesem ermöglicht, Geschichte zu dramatisieren, damit den Zufall in der Geschichte zu überwinden und Geschichte als Ganzes darzustellen.37 Auch Seeba verbleibt allerdings vornehmlich auf der Ebene von Herders Geschichtsdenken, da er zwar dessen poetologische Aussagen analysiert, aber die sprachliche Umsetzung der Geschichtsschreibung nur am Rande beachtet. Bezüglich der Darstellungsweise von Herders Geschichtsschreibung gibt es aber in Seebas Aufsatz mit Herders Einsatz von Metaphern und 32
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Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens. Hamburg 1995. Für eine konstellationsgeschichtliche Untersuchung, siehe auch John H. Zammito: Kant, Herder, and The Birth of Anthropology. Chicago/London 2002; sowie die Arbeiten von Wolfgang Pross, insbesondere seinen Kommentar zu den ›Ideen‹ (Johann Gottfried Herder: Werke. 3 Bde. Hrsg. von Wolfgang Pross. Band III/2. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Kommentar. München 2002). Peter Hanns Reill: Herder’s Historical Practice and the Discourse of Late Enlightenment Science. In: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1996, S. 13–21. Seeba: Geschichte als Dichtung. Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 51. Seeba spricht von Vorstellungsweise und -inhalt, im Unterschied zur hier vorgelegten Untersuchung, die weniger die Rolle der Einbildungskraft als die Darstellung bzw. Präsentation der Geschichte in den Vordergrund stellt. Siehe hierzu auch Hans-Dietrich Irmscher: Grundfragen der Geschichtsphilosophie Herders bis 1774. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1983. Hrsg. von Brigitte Poschmann. Rinteln 1984, S. 10–32, insb. S. 22–24. Wenn man sich vollständig auf das Geschichtsdenken und das Dargestellte konzentriert, scheint es, dass die Kontingenz der Geschichte durch Vernunft-, Natur- oder Geschichtsgesetze zu überwinden sei (so zum Beispiel Pross: Die Begründung der Geschichte aus der Natur, S. 191–204, zu Herder S. 196 und S. 203).
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Analogien eine grundlegende Ausnahme, die genauestens thematisiert wird.38 Mit diesem Thema hat sich die Herderforschung bezüglich Herders Geschichtsschreibung ausführlich auseinandergesetzt. Zuerst einmal wird die Frage nach Herders Metaphern allerdings zu einer diskurstheoretischen Frage über den philosophischen Gehalt und die Disziplinenzugehörigkeit Herders. Sowohl ›Auch eine Philosophie‹39 als auch die ›Ideen‹ werden in der Regel als geschichtsphilosophische Schriften angesehen und an Maßstäben philosophischen Denkens gemessen. Schon zu Herders Zeiten wird diese Einordnung beispielsweise daran deutlich, dass die beiden berühmten Kritiken Kants an den ersten beiden Teilen der ›Ideen‹, die 1784 und 1785 erschienen waren, in der ›Allgemeinen Literatur-Zeitung‹ des Jahres 1785 unter der Rubrik Philosophie eingeordnet werden. Herders Verwendung von Metaphern und Analogien lässt die Herder-Rezeption dann oft daran zweifeln, ob es sich bei Herders Geschichtsdarstellung um (systematische) Philosophie handele. Gleichzeitig steht die Darstellung in einer Spannung zwischen Besonderem und Allgemeinen, beinhaltet also auch immer einen Aspekt, der stärker Menschheitsgeschichtsschreibung als Geschichtsphilosophie ist. Wie für Herders gesamtes Werk lässt sich daher auch für Herders Geschichtsdarstellung immer wieder die Frage aufwerfen, welcher Disziplin seine Texte angehören: Metaphysik, kritische Philosophie, Geschichtsschreibung oder – aufgrund ihres Stils – gar Literatur? Kants Rezensionen der ersten beiden Teile von Herders ›Ideen‹ bestätigen diese Zuordnungsschwierigkeiten. Kant legt seine philosophischen Maßstäbe an Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte‹40 an und zeigt, dass er Herders Text für gescheiterte Philosophie hält, die eher zwischen Geschichtsdichtung und Geschichtsmetaphysik anzusiedeln ist: Daher möchte wohl, was ihm Philosophie der Geschichte der Menschheit heißt, etwas ganz anderes sein, als was man gewöhnlich unter diesem Namen versteht: nicht eine logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze, sondern ein sich nicht lange verweilender viel umfassender Blick, eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazität, im Gebrauche derselben aber kühne Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkeler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen […].41 38 39 40 41
Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 55f. Hinzu tritt hierbei das Politische der Schrift im Sinne eines Traktats bzw. Pamphlets. Hervorhebung S.J. Immanuel Kant: Rezension zu Johann Gottfried Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Erster Teil‹. In: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichts-
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Wissenschaftliche Begrifflichkeit, präzise Definitionen und logische Ordnung von Prinzipien sowie Ableitung von Gesetzen stehen Herders unsystematischer »kühne[r] Einbildungskraft«, entgegen.42 Herder begibt sich in den philosophisch nicht akzeptablen Bereich der poetischen Sprache.43 Michael Maurer fasst Kants Kritik wie folgt zusammen: »[Kant] arbeitet den rhetorischen, persuasiven Charakter der ›Ideen‹ mit aller Schärfe heraus, um ihre logische Schwäche nur desto schonungloser [sic!] bloßzulegen.«44 Zugleich verdeutlicht Maurer aber die Stärke von Herders analogischem Zugang, wonach Wissenschaftlichkeit durch Empirie und durch die Anbindung der Menschheitsgeschichte an die Naturgeschichte behauptet wird.45 Das reine Denken wird sinnlich um das Fühlen erweitert.46 Adler wiederum zeigt für die Begriffe »ästhetische« und »anästhetische Wissenschaft« eine ähnliche Spannung zwischen Kant und Herder.47 Herder sucht für den Prozess der kulturellen Evolution nach naturgesetzlichen Äquivalenten.48 Auch Ulrich Gaier demonstriert am Beispiel der ›Ideen‹, dass Herder einen pragmatischen Erfahrungsbegriff und einen
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philosophie, Politik und Pädagogik. Bd. 6. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, S. 781–794, hier: S. 781 [A17]. Allerdings ist zu beachten, dass die in diesem Kapitel betonte Spannung zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung in den Kantschen Rezensionen schon alleine deshalb weniger im Vordergrund steht, weil sich die ersten beiden Teile der ›Ideen‹ neben der Naturgeschichte der Erde und den grundsätzlichen Eigenschaften des Menschen auf die geographische Beschreibung der außereuropäischen, letztlich nicht oder nur gering zivilisierten Völker der Welt beschränken. Immanuel Kant: Rezension zu Johann Gottfried Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Zweiter Teil‹. In: Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Bd. 6. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1983, S. 797–806, hier: S. 799 [A154]. Michael Maurer: Geschichte zwischen Theodizee und Anthropologie. Zur Wissenschaftlichkeit der historischen Schriften Herders. In: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1996, S. 120–136, S. 127. Maurer: Geschichte zwischen Theodizee und Anthropologie, S. 129. Vgl. Herz: Dunkler Spiegel, S. 214. Hans Adler: Ästhetische und anästhetische Wissenschaft. Kants Herder-Kritik als Dokument moderner Paradigmenkonkurrenz. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), S. 66–76. Siehe zu Herders Wissenschaftsbegriff im Allgemeinen auch Katherine Ahrens: History as Knowledge. Herder, Kant, and the Human Sciences. In: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1996, S. 106–119. Adler: Ästhetische und anästhetische Wissenschaft, S. 75. Vgl. auch Pross (Die Begründung der Geschichte aus der Natur), der in Herders ›Ideen‹ ein strukturell bestimmtes Geschichtsmodell sieht, in dem sich Wechsel zwischen organischer und genetischer Bildung zeigen. Pross liest Herders Text dabei als »Naturalisierung der Geschichte«, die den Naturgesetzen vollkommen unterworfen wird (S. 225), womit Pross allerdings die Ebene der Darstellung völlig ausblendet.
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konsensuellen Wahrheitsbegriffs an die Stelle der unmöglichen Adäquation von Begriff und Sache setzt.49 Analogisierungsverfahren ermöglichen die Darstellung des Individuellen und die Vorstellung des Allgemeinen.50 Damit werden die Ideen aufgrund anthropologischer und erkenntnistheoretischer Notwendigkeiten zur Geschichtsdichtung, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie zugleich.51 Die neuere Herderforschung erkennt entsprechend, dass Metaphern zuerst einmal dazu dienen, die abstrakte Vorstellung von der Geschichte – insbesondere nach der Entwicklung zum Kollektivsingular Geschichte im 18. Jahrhundert – anschaulich werden zu lassen.52 Das lineare Fortschrittsmodell der aufklärerischen Geschichtsphilosophie wird bei Herder zur Suche nach Denkbildern, »um den Fortgang der Geschichte mit der Notwendigkeit ineins zu denken«.53 Gerade die Baum- und Wachstumsmetaphorik wie auch die Theatermetaphorik54 sind hierbei hervorzuheben.55 Die Metaphern helfen Herder sich von den verfestigten Ex49
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Ulrich Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie? Herders erkenntnistheoretische Antwort auf Kant. In: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hrsg. von Martin Bollacher. Würzburg 1994, S. 1–17, S. 3. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 11. Vgl. für den bei Herder durch Analogien geschaffenen Zusammenhang von erfahrungsorientiertem Forschen und systematisierten Verallgemeinerungen Pietsch: Reise zur See, insb. S. 102. Gaier: Poesie oder Geschichtsphilosophie, S. 17. Allgemein zur Funktion der Veranschaulichung und Verständlichmachung durch Metaphern sowie zur Einordnung vorherrschender Metaphernfelder bei Herder, siehe Sabine Groß: Vom »Körper der Seele« zum »Damm der Affekte«. Zu Johann Herders Metaphorik. In: Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft in Saarbrücken 2004. Hrsg. von S. Groß/Gerhard Sauder. Heidelberg 2007, S. 369–383. Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S. 112f., Zitat auf S. 113. Siehe auch Dietrich Harth: Kultur als Poiesis. Eine Kritik an Herders kulturphilosophischen Denkbildern. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hrsg. von Gerhard Sauder. Hamburg 1987, S. 341–351. Vgl. Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 55–59; sowie an Seeba angelegt Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 214–221. Fulda liest mit besonderem Bezug auf Herders Shakespeare-Aufsatz dessen Konzept von Geschichtsschreibung als dramatisch strukturiertes Bild und Kontinuum des Ganzen. Herders Parallelisierung von Theater bzw. Bühne und Geschichte zieht sich durch sein gesamtes Werk, wie sich z. B. in der ›Adrastea‹ in Herders Darstellung von Voltaires ›Siècle de Louis XIV‹ zeigt, die Herder als Drama in fünf Akten, durch einen Prolog eingeleitet, zusammenfasst (Adrastea. Auswahl. In: FHA X. Hrsg. von Günter Arnold. 2000, S. 29–34). Vgl. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 113–115. Für eine Übersicht zu Herders Metaphern für Geschichte, siehe Meyer: Überlegungen zu Herders Metaphern. Meyer macht vier Gruppen von Herders Geschichtsmetaphern aus: Metaphern zur Zunahme und Abnahme beim Fortgang der Geschichte, zur Korrektur der Vorstellung vom lineargeschichtlichen Fortgang, zur Antithese zweier Perspektiven und zum Verlust der zur Erkenntnis notwendigen Distanz (Ebd., S. 113). Für einen Überblick verfügbarer Ge-
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trempositionen der Fortschrittstheorie und des Skeptizismus zu lösen und ein differenziertes Modell, das Fortgang und Skepsis vereint, zu vertreten, wie zum Beispiel in der Baum- und Strommetaphorik deutlich wird: »Der Baum verliert mit wachsender Höhe an Festigkeit; der Strom gewinnt an Breite, indem er an Grabung und Tiefe verliert; er schwillt an und besteht doch weiter aus einzelnen Wassertropfen.«56 Herders Ausdrucksweise mittels Analogien und Metaphern ist also keinesfalls als Beweis für ein unsystematisches Denken zu werten,57 sondern zeigt eine bestimmte Methode auf. Analogien sind ein »notwendiges Medium des Gedankens«.58 Sie dienen als Instrument für das Entdecken neuer Gebiete.59 Das Unbekannte kann als das Unvergleichbare und Individuelle erkannt werden.60 Weil der Geschichtsprozess nach Herder nicht vollends begrifflich konzeptualisierbar ist, gibt es keine andere Möglichkeit, als »von der Bildlichkeit der Geschichte in Bildern zu sprechen«.61 In direktem Zusammenhang mit der Untersuchung der Funktion von Metaphern für die Darstellung und das Verstehen von Geschichte steht die Frage nach der Verknüpfung bzw. Erzählung der Geschichtsdarstellung.62 Ralf Simon hat hierzu an Herders Texten den von Lyotard stammenden Begriff der Metaerzählungen weiter entwickelt, wobei er zwei grundsätzliche Prinzipien der Metaerzählung sieht: zuerst die synkretistische Epigenesis (statt eines Ursprünglichen). So sind es zum Beispiel die zufälligen Erfindungen der Neuzeit, die die Reformation in Gang setzen und sich erst im Nachhinein als Resultat zum Geist einer neueren Zeit
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schichtsmetaphern, siehe auch Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken. München 1978. Meyer: Überlegungen zu Herders Metaphern, S. 106. Siehe Kants Rezension der ersten beiden Teile der ›Ideen‹ oben. Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 54. Ein ähnliches Prinzip lässt sich auch an Herders Interesse an der Gattung der Biographie nachweisen, die Herder ähnlich wie die Geschichte als Träger zur Verhandlung der Komplexität menschlicher Kultur in ästhetischen, philosophischen, religiösen und anthropologischen Dimensionen nutzt, siehe hierzu Tobias Heinrich: »This, I believe, is the only means of defying death«. Johann Gottfried Herder’s Concept of Intellectual Biography. Lumen 28 (2009), S. 51–67. Hans Dietrich Irmscher: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 64–97, S. 64f. Irmscher: Beobachtungen, S. 67. Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 54. Vgl. Maurer: Geschichte zwischen Theodizee und Anthropologie, S. 125; und Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 219–221. Für die Untersuchung von Narrativität und der Rolle des Lesers in Herders Schriften, siehe am Beispiel von Herders Metakritik auch Rainer Godel: Immanente Gnoseologie und literarische Rezeptionssteuerung. Aufklärung als Selberdenken in Herders ›Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft‹. HerderJahrbuch/Herder Yearbook 9 (2008), S. 51–72.
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verdichten lassen.63 Das zweite Prinzip der Textverknüpfung ist das der Negation: Die Negationen der jeweils vorhergehenden Nation, die im Übergang von einer Nation zur nächsten stattfinden, ermöglichen die Verknüpfung zu einer Geschichtserzählung.64 Simon zeigt im Weiteren, wie sich jede Möglichkeit einer Metaerzählung auf einer im systemtheoretischen Sinne Beobachtungsebene zweiter Ordnung als methodisches Kontingenzbewusstsein verkompliziert.65 Abschließend macht er eine dritte Reflexionsstufe aus, die erkennt, dass die geschichtlichen Entwürfe auf zweiter Ebene einen »allgemeine[n] Schematismus des Verbindens von Fakten«, einen »Vollzug noch im Material der Geschichte, aber als Akt eines in sich reflektierten Kontingenzbewusstseins« gemeinsam haben.66 Neben der Metaphorik und der Textverknüpfung lässt sich als drittes Konzept, unter dem die Forschung Herders Geschichtsdarstellung diskutiert, der Stil ausmachen. Insbesondere Hans Adler und James M. van der Laan betonen die Notwendigkeit, Herder in seiner Schreibart ernst zu nehmen.67 Herders stilistische Eigenart hat die Rezeption und das Verständnis von Herders Texten deutlich erschwert: »Es ist gerade Herders Stil […], der in seiner Le(i)bhaftigkeit, Dialogizität, Wucht der Polemik und tendenziellen ›Begriffslosigkeit‹ die Rezeption erheblich behindert hat – nicht, weil es ›schlechter‹ Stil ist, sondern, weil es der Stil einer nicht in ihrer Eigenart begriffenen Weltsicht ist.«68 Zu Herders Stil zählen die bereits gesondert diskutierte Bildlichkeit des Herderschen Schreibens,69 63 64 65 66
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Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 119f. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 121f. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 127. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, S. 136. Eine besondere Rolle spielt hierbei das Nemesiskonzept des späten Herder (Ebd., S. 128–135). Da Simon allerdings ein Strukturmodell entwickelt und nicht konkret am Text die Inszenierung von Geschichte zeigt, wird auf dieses Konzept in diesem Kapitel nicht weiter Bezug genommen. Hans Adler: Herder’s Style. In: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder. Hrsg. von H. Adler/Wulf Koepke. Rochester, NY 2009, S. 331–350; Hans Adler: Herders Stil als Rezeptionsbarriere. In: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. Hrsg. von Tilman Borsche. München 2006, S. 15–31; James M. van der Laan: Herder’s Essayistic Style. In: Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1990, S. 108–123. Zu früheren Einzelbeobachtungen zu Herders Stil, siehe insbesondere HansGeorg Gadamer (Herder und die geschichtliche Welt), der u. a. von der »expressiven Wucht und Dynamik« der Sprache Herders in ›Auch eine Philosophie‹ spricht (S. 102); vgl. auch Behler: Historismus, S. 281f. Adler: Herders Stil, S. 31. Adler argumentiert mit Bezug auf Paul Ricœurs Konzept der ›lebendigen Metapher‹ für die Notwendigkeit, die Eigendynamik Herderscher Metaphern zu verstehen (Herder’s Style, S. 338–341).
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aber auch Interpunktion und Texthervorhebungen durch Sperrungen und Syntax.70 Allerdings befindet sich die Untersuchung der Funktion und Wirkung von Herders Stil noch in den Anfängen. Eine Ausnahme bezüglich Herders Geschichtsschreibung bildet hierbei ein Aufsatz von Susan Pickford. Sie zeigt am Beispiel von ›Auch eine Philosophie‹, dass Herders Stil bzw. Darstellungstechniken den Inhalt seiner Geschichtsschreibung widerspiegeln.71 Zum Beispiel reflektieren Herders Syntax und Interpunktion die Lebendigkeit und Kraft, mit denen Herder die Veränderungen der Neuzeit darstellt.72 Pickford deutet an, dass Herders Texte als Darstellung den Inhalt von Herders Geschichtsphilosophie reflektieren. Sie bleibt aber deskriptiv und zieht keine systematischen Schlussfolgerungen dahingehend, wie Herder den Prozess der Geschichte performativ vollzieht, da sie vorwiegend an der Bewertung des Endes von ›Auch eine Philosophie‹ interessiert ist. In diesem Kapitel soll hingegen gezeigt werden, wie Herder seine geschichtsphilosophischen Annahmen und die Geschichtsinhalte nicht nur behauptet und analytisch herleitet, sondern durch seine Sprache und Erzählverfahren inszeniert. Herders Vorstellung von einem notwendigen Plan oder Faden73 der Geschichte, durch Gott bzw. eine Kraft74 garantiert, erhält so eine sprachliche Bestätigung. Diese Inszenierung basiert oft auf den durch Herders bildliche Sprache gewonnenen Einsichten, geht aber dann in Herders Erzählverfahren und Stil darüber hinaus. Hierbei wird durch den Vergleich der Darstellungsverfahren in beiden geschichtsphilosophischen Texten Herders deutlich, dass Herder in ›Auch eine Phi70 71
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Adler: Herder’s Style, S. 341–347. Susan Pickford: Does the End of Herder’s ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ Represent a Conclusion? German Life and Letters 58 (2005), S. 235–246. Pickford: Does the End, S. 239. Für den motivgeschichtlichen Hintergrund dieser Metaphern bei Herder, siehe Demandt: Metaphern für Geschichte, S. 515f. Zum göttlichen Prinzip bzw. zu der in die Geschichte verflochtenen Gottheit, vgl. u. a. Behler: Historismus, S. 275. Siehe zudem für Herders Gottesbegriff und die Bedeutung der Hieroglyphe als dessen Ausdruck, Peter Pfaff: Hieroglyphische Historie. Zu Herders ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹. Euphorion 77 (1983), S. 407–418. Zu Herders Aufnahme der von Caspar Friedrich Wolff rehabilitierten Epigenesis bzw. Bildungstheorie, siehe Franz Futterknecht: Die multiplen Welten des Ichs. Herders ›Auch eine Philosophie zur [sic!] Geschichte der Bildung der Menschheit‹. In: Präludien. Kanadisch-deutsche Dialoge. Vorträge des 1. Kingstoner Symposions. Interkulturelle Germanistik. The Canadian Context. Hrsg. von Burckhardt Krause. München 1992, S. 211–221, insb. S. 213f. Futterknecht zeigt, dass die Kraft bzw. das Prinzip der Bildung und des Wachstums bei Herder als Gott, Gottheit oder Vorsehung bezeichnet wird. Im kulturellen Prozess ermögliche diese Kraft die Erkenntnis und die Selbstverwirklichung ihres göttlichen Wesens.
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losophie‹ historische Epochen stärker temporalisiert, während in den analytischeren, trotz Kants Kritik philosophischer angelegten ›Ideen‹ vorwiegend die Idee eines imaginären Europas inszeniert wird, durch die sich die Prinzipien von Humanität und Bildung entfalten können. Die Inszenierung ermöglicht die notwendige Balance zwischen Allgemeinem und Besonderen, Verzeitlichung und Entzeitlichung sowie Geschichtsskepsis und optimistischer Fortschrittstheorie in einer geschichtsphilosophischen Darstellung des späten 18. Jahrhunderts. Der historische Zufall kann wie bei Forster durch eine bindende Geschichtsdarstellung überwunden werden.
3.
Die performative Inszenierung des historischen Prozesses in ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹
›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ wurde von Herder Anfang August 1773 in Bückeburg abgeschlossen und ist 1774 bei Hartknoch anonym und ohne Orts- und Verlagsangabe erschienen.75 Herder bezieht sich in seinem Titel explizit auf Voltaires ›Philosophie de l’histoire‹ (1765)76 und die gerade in Deutschland vehement geführte Debatte über die religionsfeindlichen Tendenzen des Zeitalters,77 wobei er letztlich eine Zwischenposition anstrebt, in der die Geschichte ihre Eigenständigkeit erhält, die Religion aber das Allgemeingültige der Geschichtsschreibung garantiert. Einerseits betont Herder in seiner Bückeburger Geschichtsphilosophie das Individuelle und Unvergleichbare kultureller Epochen und Nationen, weshalb sein Text und seine Geschichtsphilosophie im Allgemeinen – wie oben bereits diskutiert – als historistisch eingestuft werden.78 Zum Bei75 76
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Siehe den Kommentar von Brummack und Bollacher in FHA IV, S. 816; S. 818. Siehe hierfür auch Michael Maurer: Die Geschichtsphilosophie des jungen Herder in ihrem Verhältnis zur Aufklärung. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hrsg. von Gerhard Sauder. Hamburg 1987, S. 141–155. Vgl. den Kommentar von Brummack und Bollacher in FHA IV, S. 821f. Zum Historismus des frühen Herder im Allgemeinen, siehe Jürgen Jacobs: »Universalgeschichte der Bildung der Welt«. Die Problematik des Historismus beim frühen Herder. In: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hrsg. von Martin Bollacher. Würzburg 1994, S. 61–74. Marion Heinz ergänzt die Historismusdiskussion zu ›Auch eine Philosophie‹ um ein metaphysisches Substrat in Herders Geschichtsdenken, das letztlich bei Herder nur sensualistisch in seinen Erscheinungen bestimmbar wird (Historismus oder Metaphysik? Zu Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie. In: Johann Gottfried Herder. Hrsg. von Martin Bollacher. Geschichte und Kultur. Würzburg 1994, S. 75–85).
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spiel spricht Herder davon, dass das ägyptische Zeitalter nicht mit dem Maßstab einer anderen Zeit zu messen sei (FHA IV, S. 22). In der Forschung wird in diesem Zusammenhang häufig Herders Ausspruch aus ›Auch eine Philosophie‹ zitiert: »[J]ede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (FHA IV, S. 39). Zugleich gibt es aber für Herder in der Geschichte ein Fortstreben bzw. eine Entwicklung.79 Dieses Projekt und das damit verbundene Ideal der Menschheitsgeschichte wird am Ende des ersten Abschnitts von ›Auch eine Philosophie‹ deutlich: »[…] die Menschheit bleibt immer nur Menschheit – und doch wird ein Plan des Fortstrebens sichtbar – mein großes Thema« (FHA IV, S. 40).80 Der Plan wird unterstützt durch die Metapher des Fadens (u. a. FHA IV, S. 11; S. 13). Das Problem eines solchen Fortschrittsmodells ist allerdings, dass es nicht von historischen Fakten getragen wird. Jede Fortschritts- oder Glücksseligkeitsphilosophie81 wird letztlich manipuliert: »Dazu hat man alsdenn Fakta erhöhet oder erdichtet: Gegenfakta verkleinert oder verschwiegen; ganze Seiten bedeckt; Wörter für Wörter genommen, Aufklärung für Glückseligkeit […]« (FHA IV, S. 40). Diesem Fortschrittstraum widerspricht zudem eine skeptizistische Auffassung von der Welt: »Andre […] sahen Laster und Tugenden, wie Klimaten wechseln, Vollkommenheiten, wie einen Frühling von Blättern entstehen und untergehen, menschliche Sitten und Neigungen, wie Blätter des Schicksals fliegen, sich umschlagen – kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution – Weben und Aufreißen! – penelopische Arbeit!« (FHA IV, S. 40). Während erstere – mit direkten Anspielungen auf die europäische Aufklärung – also Träumer oder Dichter sind, verzweifeln die Skeptiker am historischen Detail. Geschichtliche Ereignisse erweisen sich als zufällig und entsprechen keiner Fortschrittstheorie. Herders Projekt besteht nun darin, die Spannung zwi79 80
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Zur Spannung zwischen Historismus und Fortstreben, vgl. Behler: Historismus, S. 272–275. Zu den Variationen zwischen Geschichtsskepsis und einem gerade in Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) deutlich progressiveren Bild der Menschheit, siehe Tino Markworth: Unterwegs zum Historismus. Der Wandel des geschichtsphilosophischen Denkens Herders von 1771 bis 1773. In: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hrsg. von Martin Bollacher. Würzburg 1994, S. 51–59. Zur Unterscheidung der Begriffe von Glück und Glückseligkeit bei Herder, siehe Nicole Welter: Glückseligkeit und Humanität. Die Grundideen der Herderschen Bildungsphilosophie. In: Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft in Saarbrücken 2004. Hrsg. von Sabine Groß/Gerhard Sauder. Heidelberg 2007, S. 65–74, insb. S. 67. Für Glückseligkeit bedarf es nicht nur des Erlebens eines Augenblicks in der erfüllten Zeit als Ausdruck von Glück, sondern der kontinuierlichen Selbstwerdung des Menschen im Prozess der Bildung. Siehe auch Riedel: Historismus und Kritizismus, S. 44f., zu den gerade an Herders Begriff der Glückseligkeit als letztem Zweck der Natur und der Geschichte festgemachten Differenzen zwischen Kant, Forster und Herder. Vgl. Anm. 17 im Forster-Kapitel (II).
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schen der Zufälligkeit der Begebenheiten in der Geschichte und dem vorhandenen »Plan des Fortstrebens« sowie zwischen den individuellen Kulturen bzw. Zeitaltern und einem solchen Plan zu überbrücken. Die Schwierigkeit, die dabei entsteht, ist die, dass diese Gespaltenheit nicht vollends logisch durch den Menschen zu erklären ist. Es ist für den Menschen bzw. für den Geschichtsphilosophen unmöglich, das Ganze der Menschheit zu überschauen: »Und wenn uns einst ein Standpunkt würde, das Ganze nur unsres Geschlechts zu übersehen! wohin die Kette zwischen Völkern und Erdstrichen, die sich erst so langsam zog, denn mit so vielem Geklirr Nationen durchschlang und endlich mit sanfterm aber strengerm Zusammenziehen diese Nationen binden und wohin?« (FHA IV, S. 107). Zugleich darf Herder selbst nicht zum Träumer werden. Inhaltlich führt er einen »höhern Sinne« (FHA IV, S. 41) bzw. »das redende Vorbild Gottes in allen Werken« (FHA IV, S. 41f.) ein, doch wie lässt sich im späten 18. Jahrhundert – nachdem der theologische Überbau der Geschichte weggebrochen und Geschichte autonom geworden ist – der historische Fortschritt oder präziser eine historische Entwicklung82 noch am Beispiel der tatsächlichen, empirisch-vorfindlichen Geschichte ausdrücken? Grundlegend hierfür ist für Herder die bis jetzt nur wenig in der Forschung diskutierte Schauplatzmetapher: »Es geht ins Große! es wird, womit die Hülsengeschichte so sehr prahlet, und wovon sie so wenig zeigt – Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen« (FHA IV, S. 42). Der Geschichtsphilosoph muss den Schauplatz der Geschichte darstellen können, um die Fakten, Daten, Trümmer und Verwerfungen, die Zufälle der Geschichte, zu vertexten. Die Sprache wird herausgefordert: In der sprachlichen Darstellung muss der fortschreitende Prozess der Geschichte deutlich werden. Dies erreicht Herder einerseits durch seine Metaphorik,83 allen voran der Lebensaltermetapher und seiner Pflanzen- bzw. Baummetaphorik.84 Andererseits geschieht dies durch den Ausdruck von Prozessualität in 82
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Vanna Castaldi: Kontinuität und Diskontinuität im Werk Herders. Anthropologie und Geschichte. In: Der frühe und der späte Herder. Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft in Saarbrücken 2004. Hrsg. von Sabine Groß/Gerhard Sauder. Heidelberg 2007, S. 75–85, S. 80, zeigt, wie Herder den Begriff ›Fortschritt‹ durch den Begriff der ›Entwicklung‹ ersetzt. Vgl. III.2. Letztere indiziert ein Ganzes in der Vielheit, siehe hierzu Hans Dietrich Irmscher: Gegenwartskritik und Zukunftsbild in Herders Schrift ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹. Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts. Recherches Germaniques 23 (1993), S. 33–44, insb. S. 36.
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Sprache: »Wenns mir gelänge, die disparatsten Szenen zu binden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen wie sie sich aufeinander beziehen, aus einander erwachsen, sich in einander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick!« (FHA IV, S. 42).85 Die einzelnen, im Sinne einer historistischen Auffassung isolierten Kulturstufen – sind zu binden, ohne sie zu verwirren. Wenn man sich dieses Bild als System einzelner Räume vorstellt, die der Historiker abschreiten kann, wird plötzlich deutlich, dass Herder ein noch viel paradoxeres Bild vor Augen hat: Die Szenen beziehen sich aufeinander, dann erwachsen sie auseinander; dem logischen Bezug wird ein Lebensmoment hinzugefügt,86 bevor sich die Szenen ineinander verlieren. Dies kann heißen, dass eine Szene wieder ihre eigene historische Individualität gewinnt – die Konturen der anderen Kulturen gehen in einer Kultur verloren, oder es kann heißen, dass die Kulturen in ihrer Vielfalt vor dem Betrachter erscheinen: »[W]elch ein Anblick!« Herder kommt von einer theoretischen Äußerung zu einem emotionalen Ausruf. Würde man hieraus allerdings als Ziel Herders ableiten, konkrete Geschichte in ihrer Individualität und in ihren Zusammenhängen darzustellen, würde man Herders Schreibtechnik verfehlen. Er nimmt stattdessen eine komplexe Überschneidung von historischem Gegenstand und seinem eigenen historiographischen Diskurs vor. Der Gegenstand figuriert sich erst in Her85
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Zur Funktion der Theatermetaphorik in ›Auch eine Philosophie‹, siehe Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 61. In Stellvertretung des göttlichen Dramaturgen vollzieht der Geschichtsschreiber eine Temporalisierung von den einzelnen Szenen zum Drama der Geschichte. In seinem in den ›Blättern von deutscher Art und Kunst‹ (1773) gedruckten Aufsatz ›Shakespear‹ schreibt Herder Shakespeare den »Göttergriff« zu, »Eine ganze Welt der disparatesten Auftritte zu Einer Begebenheit zu erfassen« (FHA II, S. 498–521, hier: S. 512). Zwar erkennt Herder die literarische Täuschung, doch lässt er Geschichte und Dichtung in seiner enthusiastischen Beschreibung immer wieder in eins laufen: »hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!« (FHA II, S. 512 [bei Herder als Zitat markiert]). Seeba sieht Herders Shakespeare, die übermenschliche Bedingung historischer Synthese erfüllen und damit die Position des göttlichen Dramaturgen, der das göttliche Gesetz der Geschichte garantieren kann, einnehmen (Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 62f.). So entsteht eine Poetik der Geschichtsschreibung: »Die auf Shakespeare projizierte und von ihm [Herder] auf Gott übertragene poetologische Lösung des historiographischen Problems bricht durch seine theologische Scheinlösung durch.« (S. 63). Johannsen liest die im Shakespeare-Aufsatz thematisierte Ästhetisierung als für Herder »notwendige Folge des Wandels der historischen Erfahrung im Verlauf der Geschichte [der Moderne]« (Historische Erfahrung, S. 257). Der Geschichtsphilosoph soll sympathisieren bzw. mitfühlen; Herder vertritt hier einen hermeneutischen Ansatz der Einfühlung; siehe hierzu Gabriele Dürbeck: Staunen, Einbildung, »Sympathisieren«. Der historische Betrachter und die vergangene Fremde in Herders früher Geschichtsphilosophie. Herder-Jahrbuch/Herder Yearbook 5 (2000), S. 79–90, S. 85.
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ders Sichtweise: »[…] welch ein Anblick! welche edle Anwendung der menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts oder nicht alles sieht. – Ich fahre fort – – –« (FHA IV, S. 42). In drei Schritten soll im Weiteren gezeigt werden, wie Herder die Prozessualität der Geschichte als textuelles Verfahren inszeniert: zuerst als historischen Wandel und als Temporalisierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dann als Entstehung des nordischen Menschen und als Triumph des Christentums sowie zuletzt als imaginären Raum Europa. Dabei überträgt er das Gesetzmäßige der Natur auf die Geschichte, um so trotz der Relativität des menschlichen Standpunktes zur Darstellung des Göttlichen zu kommen. Allerdings bleibt diese Inszenierung des historischen Plans und Fortschreitens der Geschichte letztlich in einer unaufgelösten Spannung zur realgeschichtlichen Gegenwart. In ›Auch eine Philosophie‹ gewinnt Herder trotz aller inszenatorischen Bemühungen letztlich keinen sicheren Standpunkt, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Geschichtsprozess zusammenbringen kann. 3.1.
Herders Temporalisierung von Geschichte
Es ergeben sich zwei grundsätzliche Fragen dazu, wie Herder Geschichte bzw. geschichtliche Zusammenhänge in ›Auch eine Philosophie‹ darstellt, erzählt oder inszeniert: Zum einen stellt sich die Frage, wie er historischen Wandel zur Darstellung bringt. Historischer Wandel ist hierbei bereits ein sekundäres Konzept, das Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte, nicht primäres Wissen über historische Fakten, Personen oder Ereignisse ausdrückt. Zum anderen ist zu fragen, ob die fortschrittliche Bildungsidee und der Anspruch, dass dieser Fortschritt wie ein Gesetz durch eine göttliche Entität abgesichert sei, auch in Herders menschheitsgeschichtlichen Darstellungen von historischem Wandel umgesetzt werden. Kann die historiographische Darstellungsweise die inhaltlich-programmatisch im Geschichtsdenken behauptete Notwendigkeit menschlichen Fortschreitens zur Humanität bestätigen? Herder unterteilt im ersten Abschnitt von ›Auch eine Philosophie‹ die antike Welt in Kulturperioden bzw. Völker: Morgenland (Orient), Ägypten, Phönizien, Griechenland und Rom. Sein Organisationsprinzip der Lebenszeitaltermetapher ist in der Forschung ausgiebig besprochen worden. Vom Kind (Orient), über den Knaben (Ägypten und Phönizien) und den »schöne[n] griechische[n] Jüngling« (FHA IV, S. 26) entwickelt sich die Menschheitsgeschichte zum Mannesalter der Römer. Die Eigenschaften der jeweiligen Alter dienen der Erfassung des Wesentlichen der jewei141
ligen Epoche, zum Beispiel den im Kindesalter des Morgenlandes für einen heutigen Europäer unbegreiflichen »der wehrlose[n], zerstreute[n], ruhelebende[n], Herdenähnliche Zustand des Hirtenlebens, das sich auf einer Ebne Gottes milde und ohn Anstrengung ausleben will« (FHA IV, S. 16). Anhand des Wechsels zwischen Orient und Ägypten kann Herders Darstellung von historischem Wandel besonders gut gezeigt werden. Das Neue der ägyptischen Kultur markiert Herder mit Hilfe eines performativen und szenischen Stils, durch den die Menschheitsentwicklung vorangetrieben wird, als ob sich der historische Wandel noch einmal direkt vor den Augen des Lesers87 vollziehen würde: »es ward Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Polizei, wie alles im Wanderleben des Orients nie möglich gewesen: es ward neue Welt« (FHA IV, S. 20). Das Hauptverb ›werden‹ im Besonderen und Verben des Werdens und der Veränderung im Allgemeinen prägen Herders Stil in ›Auch eine Philosophie‹. Der Satz »es ward neue Welt« wird zum Kernsatz von Herders Menschheitsgeschichtsdarstellung. Mit Rückblick auf die Theorie möglicher Welten wird deutlich, dass Herder erstens nicht einfach nur die vergangene historische Welt darstellt, sondern diese entstehen lässt. Die Darstellung ist nicht ausschließlich epistemologisch auf vergangene historische Ereignisse und Veränderungen ausgerichtet, diese werden vielmehr präsentisch – textuell – wiederholt. Metaphern bzw. Analogien ermöglichen zum einen ein räumliches Konzept des Fortschreitens der Menschheit – im ersten Teil von ›Auch eine Philosophie‹ in der antiken Welt – und zum anderen das epistemologische Verstehen von Veränderung.88 Das Gesetz des Lebens erklärt die Entwicklung der Menschheit. Herder beschränkt sich aber gerade nicht auf ein Erklären von historischem Wandel, sondern führt dessen Notwendigkeit vor, was sich insbesondere an der Syntax seiner Geschichtsdarstellung zeigt. Der Absatz, aus dem das oben genannte Zitat der werdenden Welt stammt, enthält acht Doppelpunkte und nur sechs Punkte in insgesamt 211 Wörtern. Der Doppelpunkt bewirkt ähnlich wie der seltener, aber immer noch signifikant eingesetzte Gedankenstrich, dass der Text voranschreitet, vor den Augen des Lesers abläuft. Herders zweites grundsätzliches Mittel, diesen Eindruck zu erwecken, ist die Dominanz von parataktischen, oft auch fragmentarischen Sätzen. Ein Satz folgt auf den 87
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Herder spricht den Leser immer wieder direkt an, um ihn in das Textgeschehen mit einzubeziehen (siehe zu Herders dialogischem Stil auch Van Der Laan: Herder’s Essayistic Style, S. 114; S. 118). Zur Forschung bezüglich der epistemologischen Funktion von Metaphern bei Herder, siehe III.2.
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nächsten; ein Veränderung bewirkendes Ereignis folgt auf das Nächste.89 Die Metaphern und Analogien sorgen für die innere Kohärenz des Textes. Zugleich reflektiert Herder das zunehmende Bewusstsein von der Konstruiertheit und Relativität von Geschichte und historischer Erzählung im späten 18. Jahrhundert.90 Um dieses Reflexionsbewusstsein zu signalisieren, kommentiert Herder seine Darstellungsweise der Geschichte:91 In dem auf den gerade diskutierten, von Doppelpunkten geprägten präsentischen Absatz folgenden Absatz reflektiert Herder explizit seine Verwendung der Lebensalteranalogie, die »nicht Spiel sei« (FHA IV, S. 20). Dann markiert er eine Reihe von Kontrasten zwischen Ägypten und dem vergangenen Zeitalter des Orients (dem der frühen Kindheit und des Hirtenlebens), zum Beispiel den Unterschied zwischen der »freie[n] Aue Gottes voll Herden«, deren Leben von instinktiver Befriedigung von Bedürfnissen und dem Erteilen von Belohnungen, wie für Kleinkinder, geprägt ist, und von einer »neue[n] Tugend durch alles, die wir ägyptischen Fleiß, Bürgertreue nennen wollen« (FHA IV, S. 21). Allerdings geht Herders reflexiver Stil, in dem über die Verwendung der Lebenszeitalteranalogie nachgedacht wird, sofort wieder in einen performativen Stil über, da die Kontraste aufgeführt, nicht nur berichtet werden. Wie geschieht dies? Auf den ersten Blick erscheint der Absatz hypotaktischer als der zuvor untersuchte, doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass auch diese Kontraste zwischen den beiden Epochen bzw. Altersstufen präsentisch vollzogen werden. Die hypotaktische Struktur funktioniert nur innerhalb jedes einzelnen Kontrastes. Als jeweils intensivierendes Strukturelement folgt jeder Kontrast dann dem nächsten, ohne explizite Verknüpfung. Damit wird die Aussage von einem grundsätzlichen historischen Wandel verstärkt. Diese Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt, wenn Herder Ägypten zwischen dem früheren Orient und dem späteren Griechenland als endgültigen Beweis von der Entwicklung und dem Fortschritt der Geschichte einrahmt: »Der Aegypter ohne morgenländischen Kindesunterricht wäre nicht Aegypter, der Grieche ohne ägyptischen Schulfleiß wäre nicht Grieche – eben ihr Haß zeigt Entwickelung, Fortgang, Stufen der Leiter« (FHA IV, S. 21). Der Ägypter besteht also letztlich aus den 89
90 91
Pickford sieht Parallelen zwischen Herders Stil und dem emotionalen Stil der Stürmer und Dränger, die einen gewaltsamen Gedankenstrom ausdrücken, ähnlich wie Herders Geschichtsstrom sich vollzieht (The End, S. 237). Vgl. insb. das gesamte Teilkapitel I.2. Vgl. auch Behler: Historismus, S. 282. Behler beschreibt aber nur den Wechsel zwischen expressivem und analytischem Stil; deren Funktion oder Wirkung geht er nicht auf den Grund.
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Elementen des Morgenländers, und in ihm ist zugleich die Fortentwicklung zur nächsten Epoche der Menschheit bereits angelegt. Ganz im Sinne von Reinhart Kosellecks Temporalisierung92 verschmelzen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.93 Herder gelingt es trotz der klaren Unterscheidung in vier bzw. fünf Menschheitsepochen in der Antike, diese im Textvollzug als Einheit zu inszenieren. Es folgt ein Absatz, in dem Herder logische Schlüsse darüber darstellt, warum die Ägypter sich weiter entwickeln mussten. Der Knabe lernt praktisch, seine Bedürfnisse zu erfüllen: »Aegypten hatte keine Weiden – der Einwohner musste Ackerbau wohl lernen, wie sehr erleichterte sie ihm dies schwere Lernen durch den fruchtbringenden Nil. Aegypten hatte kein Holz: man musste mit Stein bauen lernen […].« (FHA IV, S. 21). Zunehmend, als notwendige Konsequenz lernen die Ägypter und verfeinern damit aus Notwendigkeit die menschlichen Künste: »Der Nil überschwemmte: man brauchte Ausmessungen, Ableitungen, Dämme, Kanäle, Städte, Dörfer« (FHA IV, S. 22). Herders Stil wirkt wie ein beschleunigtes Vorwärtsspulen eines historischen Films. Ein Lernprozess folgt dem nächsten. Der Menschheitshistoriker bzw. Geschichtsphilosoph nimmt sich zurück. Die Logik ist der präsentischen Darstellung untergeordnet; zugleich ist sie grundlegend, um die Notwendigkeit der historischen Entwicklung darzustellen. Ein rein rhetorischer Wandel wird auf eine ästhetische und textuelle Ebene übertragen. Als zweites Beispiel für Herders Dynamisierung von historischer Zeit soll seine Darstellung der phönizischen Kultur untersucht werden. Die Phönizier bilden den dritten Kulturraum in der Bildung der Menschheitsgeschichte. Sie sind die Parallelkultur zu den Ägyptern, ebenso, wenn auch etwas »erwachsener« (FHA IV, S. 26) dem Knabenalter angehörend, noch vor der griechischen Kultur. Herder vergleicht sie mit den Ägyptern, um dann im zweiten Satz des Abschnitts von einem beschreibenden in einen erzählenden Modus zu wechseln: […] diese [die Phönizier] zogen sich hinter Berg und Wüste an eine Küste, um eine neue Welt auf dem Meere zu stiften – Und auf welchem Meere? auf einem Inselnsunde, einem Busen zwischen Ländern, das recht dahin geleitet, mit Küsten, Inseln, und Landspitzen gebildet zu sein schien, um einer Nation die Mühe des Schwimmens, und Landsuchens zu erleichtern – wie berühmt bist du Archipelag und Mittelmeer in der Geschichte des menschlichen Geistes! (FHA IV, S. 24) 92 93
Siehe I.2.1. Im Abschnitt III.3.3 wird vorgeführt, wie sich diese Temporalisierung zunehmend auch auf eine offene Zukunft erstreckt.
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Mit der Frage »auf welchem Meere?« wird der geographische Raum eingeführt, der die weitere Kulturgeschichte der Menschen prägen sollte. Statt ihn zu beschreiben, wird seine Beschaffenheit nur kurz angerissen, um dann den griechischen Archipel und das Mittelmeer als Vehikel des »menschlichen Geistes« zu feiern. Wiederum beschreibt Herder nicht, noch analysiert er die Veränderungen der Gesellschaft, sondern konstruiert eine Bezugskette: »Ein erster handelnder Staat, ganz auf Handel gegründet, der die Welt zuerst über Asien hinaus recht ausbreitete, Völker pflanzte und Völker band – welch ein großer neuer Schritt zur Entwicklung!« (FHA IV, S. 24). Dieser Satz ist in seiner empirischen Bildlichkeit höchst reduziert. Die Abstraktionskette ›Ursprung des Handels – Ausbreitung und Verbindung der Völker – wesentliche Entwicklung in der Menschheitsgeschichte‹ wird nicht analytisch begründet, sondern erscheint dem Leser als notwendiges Kontinuum historischer Abläufe. Die Darstellung der phönizischen Kultur ist besonders aufschlussreich, weil sie Herders allgemeine Technik, Geschichte darzustellen, widerspiegelt. Die Phönizier handeln94 und reisen; sie bringen also eine Dynamik in die Geschichte, die die Monumentales schaffenden Ägypter noch nicht bieten konnten. Das Pflanzen und Bilden der Völker spiegelt Herders historisches Prinzip wider, indem Geschichte temporalisiert und der Schwerpunkt auf die Prozesshaftigkeit der Geschichte gelegt wird. Eigentlich scheint Herder eine idealisierte Stufe der Menschheitsentwicklung darzustellen, die ihre Funktion zwischen Orient, Ägyptern und Griechen hat. Doch die Phönizierdarstellung wird temporalisiert, die abstrakten Bezüge ereignen sich selbst: »Nun mußte freilich das morgenländische Hirtenleben mit diesem werdenen Staat fast schon unvergleichbar werden: Familiengefühl, Religion und stiller Landgenuß des Lebens schwand: die Regimentsform tat einen gewaltigen Schritt zur Freiheit der Republik, von der weder Morgenländer noch Aegypter eigentlich Begriff gehabt« (FHA IV, S. 24f.). Herder erzählt die logischen Konsequenzen durchweg mit Verben der Veränderung und Bewegung. Das scheinbar isolierte Stufenmodell von Menschheitskulturen ist in seiner Textgestaltung vollkommen temporalisiert. Es wird nie das Ergebnis, sondern immer nur die Bewegung beschrieben. Herder hält dabei die Darstellung zwischen funktionaler Analyse und Ereignissen in der Schwebe. Das Werden der »Aristokratien von Städten, Häusern und Familien« wird als notwendige Folge (»mußten«) des Han94
Für eine inhaltliche Zusammenfassung von Herders positiver Einstellung zum Handel, der u. a. humanitätsfördernd sei, siehe Löchte: Johann Gottfried Herder, S. 162–168.
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delns dargestellt (FHA IV, S. 25) und dann empathisch vom Geschichtsphilosophen bestätigt: »– mit allem welch eine Veränderung in Form menschlicher Gesellschaft« (FHA IV, S. 25). Der folgende Satz ist ein perfektes Beispiel für Herders performative Darstellungstechnik. Er beginnt mit »Als also Haß gegen die Fremden und Verschlossenheit von andern Völkern schwand« (FHA IV, S. 25). »Als also« markiert die Notwendigkeit des nunmehr Ausgedrückten aus dem Vorangegangen. Der Hass bzw. die Verschlossenheit gegen das Fremde muss schwinden; dies geschieht. Der folgende analytische Einschub, dass der Phönizier dies nicht aus Menschenliebe tut, markiert die Differenz zu einer fortgeschritteneren Menschenliebe zu späterer Zeit. Dann folgt wiederum als werdendes Ereignis die Konsequenz der phönizischen Kultur: »[E]s ward eine Art von Völkerliebe, Völkerbekanntschaft, Völkerrecht sichtbar« (FHA IV, S. 25), bevor Herder markiert, dass die Phönizier dies noch nicht wissen konnten. Herder – ab und zu unterbrochen durch reflexive Bemerkungen – lässt historische Veränderungen ablaufen; sie passieren. Er schreibt gerade nicht, dass die Phönizier zum ersten Vehikel der Völkerverständigung durch ihr Handeln und Reisen werden, als indirekte Beschreibung, Nacherzählung oder Bericht; sondern sie werden es in direkter Erzählung. Das Präteritum markiert, dass dieser Vollzug des historischen Prozesses noch einmal passiert. Das historische Prinzip der Völkerverständigung, das – wie unten in der Analyse der ›Ideen‹ noch genauer zu sehen sein wird – grundlegend für Herders Humanitäts- und Bildungsbegriff ist, entfaltet sich. Abgesehen von einzelnen Reflexionen darüber, was die Phönizier über ihre Bedeutung im Geschichtsverlauf der Menschheit noch nicht wissen konnten, laufen die Entwicklungen scheinbar unreflektiert ab. Notwendige Prozesse der Menschheitsgeschichte vollziehen sich. Sie müssen sich vollziehen, wie Herder im Subtext durch rhetorische Darstellung und durch verschiedene Metaphernfelder, insbesondere die notwendigen, natürlichen Prozesse wie das Altern oder das Wachsen des Baumes, ungesagt bzw. indirekt manifestiert: »Die Welt wurde weiter: Menschengeschlechter verbundner und enger: Mit dem Handel eine Menge Künste entwickelt, ein ganz neuer Kunsttrieb insonderheit, für Vorteil, Bequemlichkeit, Üppigkeit und Pracht!« (FHA IV, S. 25). Der Leser erfährt hier wiederum Schritt für Schritt im Vollzug der Veränderungen, was der Effekt der Veränderungen durch die phönizische Kultur bzw. Lebensweise ist. Einen Höhepunkt erreicht Herders Sprache mit seiner performativen Zusammenfassung des Neuen in der phönizischen Kultur: »Aus der stummen, stehenden Pyramide wird der wandelnde, sprechende Mast« (FHA IV, S. 25). Die Pyramide für die statische Kultur der Ägypter, der Mast für die dynamische der per 146
Schifffahrt handelnden Phönizier. Doch wichtiger erscheint im Zusammenhang von Herders Inszenierung von Menschheitsgeschichte, dass der Satz die Wirkung des vorhergehenden Abschnitts zusammenfasst: Der Verräumlichung und Monumentalisierung der Geschichte bei den Ägyptern folgt die Dynamisierung und Temporalisierung bei den Phöniziern, und damit ein entscheidendes Kriterium für die Bildung der Menschheit zur Humanität. Es wird ein weiteres Mal die Veränderung der Geschichte, der historische Prozess durchgespielt. Herder verschachtelt zahlreiche historische Veränderungen und Prozesse in ihrer Bewegung miteinander, um die Stellung der Phönizier in der Geschichte darstellen zu können.95 Diese Inszenierung von historischer Veränderung und Prozessualität erzeugt die Notwendigkeit, die ihm immer wieder die Verwendung des Schicksalbegriffs ermöglicht (hier FHA IV, S. 26).96 Die in der Realität keineswegs so herausragenden Phönizier werden in der Inszenierung von geschichtlicher Prozessualität zum entscheidenden Vehikel der europäischen Menschheit: »Was ist die Bildung Europens den betrügerischen, gewinnsüchtigen Phöniciern schuldig!« (FHA IV, S. 26). Das dritte, hier nur kurz angerissene Beispiel für Herders Darstellung antiker Kulturen, das später im Vergleich der Darstellungstechniken in ›Auch eine Philosophie‹ und den ›Ideen‹ wieder aufgenommen wird, ist die Darstellung des antiken Rom. In ›Auch eine Philosophie‹ wird den Römern in der Lebensaltermetaphorik eine entscheidende Bedeutung verliehen: »Es kam das Mannesalter menschlicher Kräfte und Bestrebungen – die Römer« (FHA IV, S. 30). Herder fährt fort: Römertapferkeit idealisiert: Römertugend, Römersinn! Römerstolz! Die großmütige Anlage der Seele, über Wollüste, Weichlichkeit und selbst das feinere Vergnügen, hinwegzusehen und fürs Vaterland zu würken: der gefaßte Heldenmut, nie tollkühn zu sein und sich in Gefahr zu stürzen, sondern zu harren, zu überlegen, zu bereiten und zu tun: es war der unerschütterte Gang, durch nichts, was Hindernis heißt, sich abschrecken zu lassen, eben im Unglück am größten zu sein, und nicht zu verzweifeln: es war endlich der große immer unterhaltene Plan, mit nichts wenigern sich zu begnügen, als bis ihr Adler den Weltkreis deckte. (FHA IV, S. 30)
Der kurze Text zu Rom funktioniert wie ein Pamphlet dieses »Plans«. Es ist eine zwingende rhetorische Rede, die in ihren fragmentarischen, kur95
96
Die hier nicht näher analysierte, den Phönizierteil abschließende Darstellung führt, wieder in Kontrastbewegungen, den Vergleich zwischen den Ägyptern und Phöniziern weiter aus, um dann zur daraus entstehenden Zeit des griechischen Jünglings überzuleiten (FHA IV, S. 25f.). Zum Begriff des Schicksals bzw. der Vorsehung, vgl. auch Jacobs: Universalgeschichte, S. 68–70.
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zen, wiederholenden und sich steigernden Ausrufen, den Leser von der Hauptaussage über die Römer überzeugen soll. Diese besteht in deren Wirkung, zunehmend alle Nationalcharaktere zu zerstören und alles unter einer Form zu vereinen (FHA IV, S. 31). Wieder spiegelt Herders Stil den Inhalt der Darstellung. Alles wird umfasst. Konsequenterweise ist in der Römerdarstellung besonders auffällig, dass der Text affektiv auf den Leser wirkt, weil er die alles umfassende und zerstörerische Macht der Römer anschaulich werden lässt. Die Sprache wirkt eindringlich. Die historische Distanz auf der affektiven Ebene ist also stark reduziert; ideologisch hält sich Herders Erzähler zurück und behält eine weitaus größere Distanz bei: »Auf keine Weise noch von Vorteil oder Nachteil geredet, allein von Würkung« (FHA IV, S. 32).97 Eine Bewertung der gewaltigen römischen Wirkung findet nicht statt. Der Leser spürt nur die Gewalt. Erneut wird die reflexive Ebene des Geschichtsphilosophen/Menschheitshistorikers ausgeblendet bzw. zumindest stark reduziert, um den Effekt wirkungsästhetisch vollziehen lassen zu können. Das funktionale Bild über die Wirkung einer Epoche, die den Übergang zu einer neuen Zeit schafft, wird affektiv inszeniert. Auch dieser Fall der Römer ist wichtig, um den historischen Prozess weiterführen zu können: »[…] da die Maschine stand, und da die Maschine fiel, und da die Trümmern alle Nationen der Römischen Erde bedeckten – gibts in aller Geschichte der Jahrhunderte einen größern Anblick! Alle Nationen von- oder auf diesen Trümmern bauend! Völlig neue Welt von Sprachen, Sitten, Neigungen und Völkern – es beginnet eine andre Zeit« (FHA IV, S. 32). Der geschichtliche Prozess kann vom Geschichtsphilosophen nicht als unvollendet dargestellt werden, insofern muss die antike Epoche Raum zur Fortentwicklung der Menschheit geben, nur dass die Lebensalteranalogie für weitere Zeiten ausgedient hat. Ähnlich wie bei der Darstellung der Phönizier das Prinzip historischer Temporalität als solches ausgeführt wird, fungieren die Römer als Ausdruck eines gemeinsamen, umfassenden menschlichen Prinzips, als die »eine Form« (FHA IV, S. 31), die strukturell die Idee von der Bildung zur Humanität widerspiegelt. Die Römer sind zu gewaltsam, wie die Phönizier zu gewinnsüchtig sind. Planung charakterisiert die Römer, Temporalität die Phönizier, und – in diesem Kapi97
Zum Begriff der historischen Distanz, siehe Mark Salber Phillips: Distance and Historical Representation. History Workshop Journal 57 (2004), S. 123–141. Historische Distanz lässt sich dabei auf vier Ebenen ausmachen: in der Form der Darstellung, affektiv bezüglich der Anschaulichkeit der Darstellung, ideologisch (moralisch) bezüglich jeder der Darstellung impliziten Bewertung und methodologisch (kognitiv) bezüglich der Darstellung inhärenter Metareflexionen (Ebd., S. 125f.).
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tel nicht im Einzelnen analysiert – die Größe und Schönheit der Menschen, die das Humanitätsbild qualitativ ermöglicht, die Charakteristik der Griechen.98 Diese geschichtsphilosophischen Aussagen werden in der Darstellung Herders gespiegelt.99 3.2.
Zwischen Skepsis und Plan
Im zweiten Abschnitt von ›Auch eine Philosophie‹ entwickelt Herder das Aufsteigen des Christentums und die nordisch-germanische Hemisphäre, die nach einem »Riß im Faden der Weltbegebenheiten« (FHA IV, S. 42) entsteht. Trotz der Abgrenzung zur mediterranen Kultur der Antike basiert die neue Menschheitsepoche auf den geschichtsphilosophischen Prinzipien der alten Welt, die Herder performativ inszeniert hat. Die Verschiebungen in der Menschheitsgeschichte inszeniert Herder wiederum, als fänden sie im Augenblick der sprachlichen Aussage vor den Augen des Lesers noch einmal statt, am eindrücklichsten in der Phrase »Norden wars« (FHA IV, S. 42) und dann im Vollzug der neuen Geburt des nordischen Menschen. Die Menschheit scheint nach der römischen Epoche tot, ihre Kräfte scheinen entschwunden: »– da ward in Norden neuer Mensch geboren. Unter frischem Himmel, in der Wüste und Wilde, wo es niemand vermutete, reifte ein Frühling starker, nahrhafter Gewächse, die, in die schönern, südlichern Länder – jetzt traurigleere Äcker! – verpflanzt, neue Natur annehmen, große Ernte fürs Weltschicksal geben sollten!« (FHA IV, S. 43). Herder führt erzählend die Pflanzen-, Baum- und Wachstumsmetaphorik ein, die den zweiten Teil von ›Auch eine Philosophie‹ nach Erschöpfung der Lebenszeitalterphilosophie bestimmt. Bereits hier wird deutlich, wie Herder die Metapher der sich ausbreitenden Keime zur Darstellung eines umfassenden Welt- bzw. Europabegriff nutzt.100 Zugleich ist die Geburt des neuen Menschen nur durch den Einfluss anderer Kulturen möglich, was Herder wiederum szenisch 98
99
100
Dies wird am deutlichsten in Herders von einem klassizistischen Kunstideal geprägter hymnischer Feier griechischer Charaktereigenschaften: »es ward, was es war – Griechenland ! Urbild und Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt! Jugendblüte des menschlichen Geschlechts – o hätte sie ewig dauren können!« (FHA IV, S. 29). Der letzte Satz dieses Abschnitts verschiebt die historische Distanz und führt damit die Funktion des Römerabschnitts vor: »Lasset uns indessen noch vom Ufer einen Blick auf die Völker werfen, deren Geschichte wir durchlaufen sind« (FHA IV, S. 32). Während affektiv eine größere Nüchternheit besteht, bezieht der Geschichtsphilosoph nun den Leser direkt in den Erkenntnisprozess ein, wodurch deren kognitive Distanz reduziert wird. Herder lässt also die Entstehung der geschichtsphilosophischen Prinzipien Revue passieren, bevor eine neue Welt entsteht, die von diesen Prinzipien geprägt sein wird. Siehe III.3.3.
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inszeniert: »Gothen, Vandalen, Burgunden, Angeln, Hunnen, Herulen, Franken und Bulgaren, Sklaven [sic!] und Longobarden kamen – setzten sich, und die ganze neuere Welt vom mittelländischen zum schwarzen, vom atlantischen zum Nordmeer, ist ihr Werk! ihr Geschlecht! ihre Verfassung!« (FHA IV, S. 43f.). Die Anzahl der Völker in der übertriebenen Aufzählung überwältigt Europa; sie bevölkern tatsächlich den »Schauplatz der Bildung der Welt« (FHA IV, S. 44). Diese Figur der Übertreibung verwendet Herder dann auch im Weiteren, wenn er die erwachende christliche Religion und das Mittelalter mit zahlreichen angehäuften Qualitäten – wie männlicher Mut, Ehre, Redlichkeit oder Verstand – preist.101 Herder greift hierbei wiederum insbesondere auf die Schauplatz- und die Schauspielmetaphorik zurück.102 Der Leser wohnt also dem Ereignis dieses Aufstiegs bei: »Da wars doch nun gewiß ein großes und sehenswürdiges Schauspiel, wie unter Julian die beiden berühmtesten Religionen, die älteste heidnische und die neuere christliche um nichts weniger als Herrschaft der Welt stritten« (FHA IV, S. 46). Dieser Streit wird vor den Lesern ausgespielt, bis – unterstützt von dem hier parteilichen Geschichtsphilosophen bzw. Menschheitshistoriker – die christliche Religion ›siegte‹: »[A]lles umsonst! sie [die Religion des Morgenlandes als kräftigste und älteste Religion] erlag! sie war verlebt – elender Aufputz eines toten Leichnams, der nur zu anderer Zeit hatte Wunder tun können: die nackte, neue christliche Religion siegte!« (FHA IV, S. 46). Herder führt rhetorisch die Notwendigkeit dieses Sieges vor, die die Menschheit durch ihren »Trieb der Liebe, und Band aller Nationen« (FHA IV, S. 46) vereinigen soll. Um den dann folgenden Durchlauf durch die geschichtsphilosophische Größe und Notwendigkeit des Mittelalters in Relation zur antiken Welt zu begründen, greift Herder auf die Baummetaphorik zurück. Dem Stamm folgen die Äste und Zweige. Wiederum wird in »der nordischen Ritterehre« (FHA IV, S. 50) und im Christentum eine Epoche als geschichtsphilosophisches Prinzip inszeniert. Wie bei den Römern wird im historistischen Sinne die höchste Entwicklungsstufe der Epoche des Mittelalters erschüttert. Hier setzt der zweite Teil des zweiten Abschnitts von ›Auch eine Philosophie‹ mit dem Ereignis der Reformation, die die Epoche der Gegenwart begründet, ein: »Endlich folgte, wie wir sagen, die Auflösung, die Entwickelung: lange, ewige Nacht klärte sich in Morgen auf: es ward Reformation, 101
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Herder erweist sich hier als Vorläufer des positiven Mittelalterverständnisses der deutschen Romantik. Zur geschichtsphilosophischen und ästhetischen Funktion des Mittelalters im romantischen Geschichtsdenken siehe VI.3.1 und VI.3.2 im Schlusskapitel dieses Buches. Vgl. Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 57–63.
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Wiedergeburt der Künste, Wissenschaften, Sitten! – die Hefen sanken; und es ward – unser Denken! Kultur! Philosophie! on commençoit à penser comme nous pensons aujourd’hui: on n’étoit plus barbare« (FHA IV, S. 56). Einerseits lässt Herder auch hier den historischen Prozess performativ entstehen; das Vollverb ›werden‹ dominiert den zitierten Absatz.103 Gleichzeitig bleibt der Text im Weiteren oft in der Schwebe, ob Herder den historischen Plan zur Bildung der Menschheit unterstützt oder ob er im Denken, der Kultur und der Philosophie der Gegenwart mehr das im Weiteren polemisch zu Kritisierende sieht. Diese Kritik wird bereits im Folgeabsatz deutlich, wenn Herder mit Bezug auf die französischen Enzyklopädisten vom »höchsten Gipfel menschlicher Bildung« spricht, den die Aufklärer als vollkommen erkennen, sodass Herder »bloß einige kleine Anmerkungen« zu ergänzen habe (FHA IV, S. 57). Herder setzt rhetorisch geschickt seine eigenen programmatischen Positionen – Bildung und schöpferischer Plan – in seinen ironischen Polemiken ein. Es entsteht eine Spannung zwischen den beiden Positionen, in denen das Performative zugunsten einer stabileren, distanzierteren Sprecherperspektive zurückgedrängt wird. Einerseits, ist dies der immer stärker intensivierte polemische, teilweise ironische Ton gegen die mechanische, in einer leeren Allgemeinheit verharrende Aufklärung, zum Beispiel: Da stehen nun jene glänzenden Marktplätze zur Bildung der Menschheit, Kanzel und Schauplatz, Säle der Gerechtigkeit, Bibliotheken, Schulen und ja insonderheit die Kronen aller: illustre Akademien! In welchem Ganz! zum ewigen Nachruhm der Fürsten! zu wie großen Zwecken der Bildung und der Aufklärung der Welt, der Glückseligkeit der Menschen! herrlich eingeweihet – was tun sie denn? was können sie tun? – sie spielen! (FHA IV, S. 64f.)104
Andererseits sind dies die Aussagen, in denen sich Herder explizit von dem Gedankengut der Aufklärer absetzt und ein organisches Geschichtsmodell verficht. Statt den Geschichtsprozess ablaufen zu lassen, beginnt Herder jetzt den Kontrast zwischen zwei Weltanschauungen zu inszenieren. Dies geschieht zuerst, in dem er das »große Schicksal« gegen den kleinen Menschen, der nur eine Ameise »auf dem großen Rad des Verhängnisses« 103
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Ulrich Gaier liest diese Stelle als siebte Stufe der Schöpfungshieroglyphe (Johann Gottfried Herder (1744–1803). ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ (1774). KulturPoetik 4 (2004), S. 104–115, S. 113), was in Anbetracht der Offenheit des Gesamttextes als deutliche Überinterpretation erscheint. Vgl. auch den Abschluss des zweiten Abschnitts von ›Auch eine Philosophie‹: »– aber wer kann in einem solchen Jahrhunderte, als das unsere ist, alles rühmen! Gnug wir sind ›Gipfel des Baums! in himmlischer Luft webend: die goldne Zeit ist nahe!‹« (FHA IV, S. 77).
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(FHA IV, S. 58) sei, stellt. Von dort kommt Herder zu den Kleinigkeiten, in denen sich die Größe des Plans, der Bildung der Menschheit und des Schicksals zeigt: »Dort im Großen hier im kleinen, Zufall, Schicksal, Gottheit« (FHA IV, S. 58).105 Mit der Aufzählung von vier Begriffen steigert Herder das zufällige Kleine, das rhetorisch im geschichtsphilosophischen Text zum Teil des göttlichen Schicksals bzw. Plans wird. Es folgt eine reflexive Aussage über den historischen Prozess, der die gerade gesehene Rhetorik widerspiegelt: »Was jede Reformation anfing, waren Kleinigkeiten; die nie sogleich den großen ungeheuren Plan hatten, den sie nachher gewannen« (FHA IV, S. 58). Der Plan bleibt für den Menschen unübersehbar; der Mensch kann ihn nicht vorhersagen, höchstens rückwirkend Prinzipien entdecken. Herders erstes Beispiel hierfür ist Luther, dessen Größe bzw. Genie, aber auch dessen Zufälligkeit (einer von vielen) gefeiert wird. Dieses Prinzip der zufälligen historischen Kleinigkeiten beschreibt Herder dann durch die Analogie des kleinen Samenkorns, das still in die Erde fiel und plötzlich große Wirkung hatte (FHA IV, S. 59). In dem Augenblick, in dem Herder dann praktische Beispiele für solche zur Bildung der Menschheit beitragenden Effekte gibt, beginnt er wieder durch seine Sprache, den notwendigen Prozess von Geschichte zu inszenieren: »Was Luther sagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt sagte es Luther ! Roger Baco, Galilei, Cartes, Leibnitz, da sie erfanden, wars stille: es war Lichtstrahl – aber ihre Erfindungen sollten durchbrechen, Meinungen wegbringen, die Welt ändern – es ward Sturm und Flamme« (FHA IV, S. 59). Den Personen gehört dabei etwas Lebendiges zu, das einzelne mechanische Erfindungen, die die Welt verändert haben, nicht besitzen. Die Schwierigkeit, die Herder hierbei letztlich nicht überwindet, ist das Verhältnis vom notwendigen historischen Prozess oder Fortschritt und dem Effekt der mechanischen Erfindungen. Dies kann am Beispiel des Kompasses deutlich gemacht werden: »Mit der kleinen Nadel auf dem Meer – wer kann die Revolutionen in allen Weltteilen zählen, die damit bewürkt sind. Länder gefunden, so viel größer als Europa! Küsten erobert voll Gold, Silber, Edelsteine, Gewürz und Tod! Menschen in Bergwerke, Sklavenmühlen und Lastersitten hineinbekehrt oder hinein kultiviert!« (FHA IV, S. 60). Herder verwendet denselben inszenatorischen Sprachgestus; die historischen Veränderungen durch den Kompass werden Bewegungen, die in Aufzählungen und parataktischen Bewegungen vor den Augen des Lesers aufgeführt werden. Mit anderen Worten finden nicht nur der Samen, der den göttlichen Plan und die Bildung der Menschheit 105
Vgl. III.2 zu Meineckes Auslegung dieses Herderausdrucks.
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ermöglichen soll, sondern auch die von Herder harsch kritisierten Ausprägungen der Aufklärung und des europäischen Kolonialismus statt. Zufälle erscheinen als notwendig. Die Nadelspitze erscheint als das zufällige Moment, das diesen scheinbaren Fortschritt bewirkt: »Das Rad, in dem sich seit drei Jahrhunderten die Welt bewegt, ist unendlich – und woran hings? was stieß es an? Die Nadelspitze zwei oder drei mechanischer Gedanken!« (FHA IV, S. 60). Ein »Gedanke« oder »Wink« kann schaffen oder zerstören (FHA IV, S. 60). Der restliche zweite Abschnitt wird von der entsprechenden Polemik gegen das mechanistische Aufklärungsmodell geprägt, ohne dass Herders Plan weiter inszeniert werden könnte. 3.3.
Europa. Idee und Gegenwart106
Wie Herder, den Plan trotz aller Zufälle und mechanistischen Rückschläge dennoch auszudrücken versucht, lässt sich zeigen, wenn man 106
Europa wird hier mehr als Konstrukt und Idee, nicht vorwiegend geographisch gesehen. Zu Herders Geschichtsdarstellung und Europa, siehe Stephan Jaeger: Herders Inszenierung von Europa in den ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹. HerderJahrbuch/Herder Yearbook 9 (2008), S. 73–88. Die relativ wenigen anderen Studien, die das Thema von Herder und Europa explizit untersuchen, fokussieren auf Herders Europadenken; siehe hierzu Samson B. Knoll: Europe in the History of Humanity. Herder, Kurt Breysig, and the Discourse on Eurocentrism in the Study of World History. HerderJahrbuch/Herder Yearbook 4 (1998), S. 123–142; Helmut Peitsch: Deutsche Peripherie und europäisches Zentrum? Herders Aneignung der außereuropäischen Forschungsund Entdeckungsreisen in den ›Ideen‹. In: Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders ›Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit‹. Beiträge zur Konferenz der International Herder Society in Weimar 2000. Hrsg. von Regine Otto/John H. Zammito. Heidelberg 2001, S. 73–85; Dominic Eggel: Imagining Europe in the XVIIIth Century. The Case of Herder. Genève 2006; Massimo Mori: Herder und Europa. In: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. Hrsg. von Tilman Borsche. München 2006, S. 290–305; und Renate Stauf: »Was soll überhaupt eine Messung aller Völker nach uns Europäern?« Der Europagedanke Johann Gottfried Herders. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Sonderheft Johann Gottfried Herder. Europäische Kulturtheorie zwischen historischer Eigenart und globaler Perspektive 57 (2007), S. 45–60. Dabei tritt zutage, dass Europa für Herder immer doppelt konnotiert ist: Einerseits kritisiert Herder die Aufklärung des 18. Jahrhunderts wegen ihres Eurozentrismus und die europäischen Staaten für die despotischen Grausamkeiten an ihren eigenen Völkern und in den Gebieten der kolonialisierten Welt. Andererseits bildet Europa den Raum, in dem sich Herders Bildungs- und Humanitätskonzept entfalten kann. Zum Verhältnis zwischen Europa und Asien sowie zum Aufstieg des Eurozentrismus im ausgehenden 18. Jahrhundert, siehe Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 375–382. Osterhammel schreibt Herder dabei eine eigene Stimme zu, die der asienkritischen Mehrheit entgegensteht (Ebd., S. 379). Allgemein zum Kontext der Europadarstellung im Kontrast zum Nationendenken, siehe Conter (Jenseits der Nation). Conter konzentriert sich allerdings vollständig auf das 19. Jahrhundert, ohne die Entwicklung des 18. Jahrhunderts angemessen zu berücksichtigen.
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seine Darstellung Europas untersucht. Bereits bei den Phöniziern war die Verbindung der Völker als kulturelle Leistung zu erkennen. Das neue, nach-antike Europa zeichnet sich durch die Aufnahme aller anderen Kulturen aus; es lässt sich anders als die Antike nicht als ein Volk bzw. eine Nation kennzeichnen.107 Die Konnotation von ›Europa‹ in ›Auch eine Philosophie‹ ist entsprechend zweideutig: Einerseits wird in der scharfen Kritik an der Aufklärung und an der monarchischen Struktur der Staaten und ihrer Ansprüche das »Gleichgewicht von Europa« ironisiert (FHA IV, S. 72). Andererseits erscheint Europa auch als positiv besetzter Raum einer letztlich unbestimmten Zukunft. Ersteres beginnt – wie bereits gesehen – mit der ironisch-polemischen Kritik des vermeintlich so einseitig Menschenfreundlichen und Positiven der Aufklärung, dem zum Beispiel die Verführung der Menschen in den Kolonien durch Alkohol oder Unterdrückungen innerhalb Europas – wie Irlands durch England – entgegenstehen (FHA IV, S. 71). Die Folgeseiten sind von ironischen Ausdrücken über Europa durchzogen: Neben dem »Gleichgewicht« von Europa werden die »Waage Europa’s« (FHA IV, S. 74), die »Lebensart und Sitten Europa’s« (FHA IV, S. 75), das »gesellschaftliche Leben in Europa« (FHA IV, S. 73), das »Ganze von Europa« (FHA IV, S. 73) sowie zu Beginn des dritten Abschnitts die »Tugend Europa’s« (FHA IV, S. 78) ironisiert. Der Geschichtsphilosoph definiert Europa im spöttisch-kalten Ton. Die Erkenntnismethode des Geschichtsphilosophen ist die Ironie, womit er sich von seinem Objekt distanzieren kann. Ironie und Polemik benötigen erzählerische Distanz. Der Geschichtsphilosoph betrachtet die Geschichte und bewertet sie kritisch. Die Variation von erzählerischer Distanz wird nun – gerade im dritten Teil von ›Auch eine Philosophie‹, den »Zusätzen« – grundlegend für Herders Versuch, die unbefriedigende Gegenwart zu überwinden und das Zwangsläufige am Fortschritt der Menschheit imaginativ zu zeigen. Die erste Nutzung von erzählerischer Distanz betrifft konsequenterweise das ›Ich‹ von ›Auch eine Philosophie‹, das im dritten Abschnitt als Kontrapunkt des aufklärerischen Vernunft- und Subjektbegriffs inszeniert wird. Ganz im 107
Herder zeigt, dass die Abgrenzung von Nationen, Kulturen bzw. Epochen nach der Antike zunehmend schwieriger und unüberschaubarer wird, sodass er mit Europa ein anderes Modell zur Beschreibung von Gegenwart und Zukunft benötigt. In seinem Spätwerk in der ›Adrastea‹ schreibt er, dass die neuere Geschichte viel komplexer und verflochtener als die alte und mittlere geworden sei, wodurch sie ihre plane Evidenz verloren habe und stattdessen alle Begebenheiten Europas ineinander liefen (FHA X, S. 205). Vgl. seine politisch motivierte Sichtweise von Europa als »Gesamt-Republik«, deren Gebäude zusammenfallen würde, wenn man auch nur Kleinigkeiten änderte (FHA X, S. 23).
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Sinne der Empfindsamkeit sieht sich das Ich als beinahe bedeutungslos im unendlichen göttlichen Weltall und fragt rhetorisch, ob es ein Adler oder ein »kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten« (FHA IV, S. 84) sei. Das für den Menschen übermächtige Weltall, durch Gott erschaffen, offenbart sich im Kleinen, in den Einzelheiten der Natur. Das Kleine – wie im vorherigen Teilkapitel gezeigt – wird zum Ausdruck des Großen stilisiert. Dieses Naturkonzept, das einen Schatten auf die Bedeutung der Naturgeschichte in den ›Ideen‹ vorauswirft,108 versucht Herder dann auf die Geschichte der Menschheit zu übertragen: »Wenn das Wohnhaus bis auf das kleinste Behör ›Gottesgemälde‹ zeiget – wie nicht die Geschichte seines Bewohners?« (FHA IV, S. 82f.). Die rhetorische Frage wird dann in Bilder von den zufälligen, aber den Sinn Gottes verkörpernden Szenen der Geschichte überführt. Wieder verwendet Herder hierbei die Theatermetaphorik – mit klaren Bezügen zum Shakespeareaufsatz – zur Darstellung des historischen Prozesses: »Gemälde in einem Auftritte, Ansicht! Dies ein ›unendliches Drama von Szenen! Epopee Gottes durch alle Jahrtausende Weltteile und Menschengeschlechte, tausendgestaltige Fabel voll eines großen Sinns!‹« (FHA IV, S. 83).109 Der Begriff des Dramas garantiert die Struktur der scheinbar zufälligen Szenen und damit den Sinn bzw. das göttliche Prinzip.110 Herder lässt zwei Gleichungen auseinander entstehen: Im Kleinen in der Natur ist das Göttliche des allumfassenden Weltalls enthalten und die zufälligen einzelnen Ereignisse (Szenen) der Menschheitsgeschichte werden von einer dramatischen Struktur zusammengehalten, die es ermöglicht, der Geschichte einen fortschrittlichen, trotz aller Zufälligkeiten göttlich beglaubigten Entwicklungsprozess zuzuschreiben. Somit werden Natur und Geschichte Parallelbegriffe, die beide in ihrem Fortschreiten von einer göttlichen Notwendigkeit garantiert werden. Obwohl das Ich, der Mensch und damit auch der Geschichtsphilosoph, nicht in der Lage ist, das Ganze zu überschauen, kann es das Gefühl zum Plan der Geschichte besitzen und so deren gesetzmäßiges Fortschreiten empfinden (FHA IV, S. 84). Die Parallelstruktur zur Natur öffnet die relative Geschichte zum den Menschen überschreitenden Ganzen. Die Distanzauflösung zwischen dem Ich des Geschichtsphilosophen und der Geschichte schafft also paradoxerweise gerade die Möglichkeit des Ausdrucks des Ganzen, 108 109 110
Zu der bereits in ›Auch eine Philosophie‹ erkennbaren Analogie zwischen Natur und Geschichte, siehe auch Gaier: Johann Gottfried Herder, S. 107–110. Vgl. III.3, Anm. 85 oben. Siehe hierzu auch Seeba: Geschichte als Dichtung, S. 60f.
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die dem distanzierten Ich, das ironisch und polemisch die historische Gegenwart kommentiert, nicht möglich ist.111 Die erzählerische Distanz zwischen Erzählung und Erzähltem zu variieren, wird zweitens für die Darstellung Europas als imaginärem Raum bedeutsam. Im zweiten Abschnitt von ›Auch eine Philosophie‹ deutet Herder bereits in einer Kaskade von Bildern an, wie umfassend dieses imaginäre, die Gegenwart und die Philosophie der Aufklärung überschreitende Europa sein soll: »[…] und wie sie sich nun endlich in die tausendgestaltigen Anlässe und Fügungen des menschlichen Lebens, geschweige eines Zeitalters, eines ganzen Volks, des ganzen Europa, des ganzen Weltalls, (wie unsre Demut wähnet), hineinmische und hineinwerfe – ihr Götter, welche andre Welt von Fragen!« (FHA IV, S. 65). Im dritten Teil der Schrift löst sich der Geschichtsphilosoph dann zeitweilig aus seiner historischen und ironischen Distanz und vereint sich in der Empathie des Sprechaktes mit dem Objekt ›Europa‹, das seine unbestimmte Hoffnung auf die Zukunft ausdrückt: »Was hast du kleiner nordischer Weltteil, einst Abgrund von Hainen und Eisinseln, auf dem Balle werden müssen! – was wirst du noch werden! –« (FHA IV, S. 87). Der Kontinent Europa wird also zum direkten Gesprächspartner, womit Europa subjektivemphatisch imaginiert werden kann. Der Geschichtsphilosoph begibt sich explizit auf eine Ebene, wo er als Mensch – wie oben in der Parallelkonstruktion ganzheitlicher Natur und Geschichte gezeigt – die Zukunft Europas nicht mehr überschauen kann, was das entsprechende imaginative und emphatische Potential freisetzt, das aus der ironischen Distanz nicht möglich erscheint. Herder nutzt die neue Nähe zu Europa, indem er sich von der Gegenwart abwendet, und noch einmal einen Durchlauf durch die Geschichte des Altertums macht, das er diesmal als europäische Basis betrachtet. Griechenland fehlte der Norden, um bereits Europa zu sein (FHA IV, S. 85f.). Erst die römische Kultur schaffte die Brücke, doch Griechenland und Arabien (das Morgenland) bleiben die grundsätzlichen Kulturen, die
111
Siehe Tino Markworth: Das ›Ich‹ und die Geschichte. Zum Zusammenhang von Selbstthematisierung und Geschichtsphilosophie bei J.G. Herder. In: Johann Gottfried Herder. Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Hrsg. von Wulf Koepke. Columbia, SC 1996, S. 152–167, hier insb. S. 161, für Herders Verwendung des Ich-Begriffs, vor allem in ›Auch eine Philosophie‹, um so den individuellen Erfahrungshorizont des Sprechers zu zeigen, wobei Markworth dies weiterhin in Abhängigkeit von Gott bzw. einer Totalität sieht. Eine Untersuchung des Wir-Begriffs könnte diesem hinzufügen, wie stark Herder seine Leser in beiden geschichtsphilosophischen Schriften mit einbezieht (siehe hierfür III.4.2).
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auf Europa wirken, wobei Griechenland als Höhepunkt antiker Menschheitsgeschichte auf Vermittlung angewiesen bleibt: »Selbst, da Griechenland zum zweitenmal auf Europa würken sollte, konnts nichts unmittelbar wirken: Arabien ward der verschlämmte Kanal – Arabien der under plot zur Geschichte der Bildung Europa’s« (FHA IV, S. 86). In dem Augenblick, in dem Herder in die europäische Gegenwart zurückkehrt, wird seine Aussage doppeldeutig: »Alles war schon erfunden, gefühlt, fein ersonnen, was vielleicht ersonnen werden konnte: hier ward alles nun in Methode, in Form der Wissenschaft geschlagen […]« (FHA IV, S. 86). Aus Herders Sicht hat das neue Europa diesem dann nur Maschinen, kalte Erfindungen hinzugefügt: »[…] und denn kamen, nun eben die neuen, kältesten mechanischen Erfindungen hinzu, die es ins Große spielten: Maschinen der kalten europäischnordischen Abstraktion, für die Hand des Allenkers große Werkzeuge!« (FHA IV, S. 86f.). Hierauf folgt die bereits zitierte Ansprache an den »kleinen nordischen Weltteil«. Was genau das über das gegenwärtige, mechanische Europa hinausgehende Europa ausmacht, bleibt offen, wenn man von der programmatischen Bindung an das Schicksal und an die Lenkung durch Gott absieht. Als Alternativmodell zu mechanischen Veränderungen zelebriert Herder – insbesondere zum Ende der Schrift – einzelne Helden, »Reformatoren« (FHA IV, S. 102), wie Herder sie nennt: »Luther! Gustav Adolf! Peter der Große! Welche drei haben in den neuern Zeiten mehr verändert? edleren Sinnes geändert? – und sind ihre, zumal unvorhergesehne Folgen, allemal zugleich unwidersprüchliche Zunahmen des Glücks ihrer Nachkommen gewesen? Wer die spätere Geschichte kennt, wird er nicht manchmal sehr zweifeln?« (FHA IV, S. 103). Einerseits feiert Herder hier – wie auch oben in seiner auf Luthers besondere Wirkung bezogenen Darstellung der Reformation – die Größe seiner Helden.112 Andererseits markiert er die Offenheit der Entwicklung der Geschichte, die keineswegs rein positiv zu sehen ist. In aller Ausführlichkeit macht Herder dies an Friedrich II. fest, der eine »neue Schöpfung Europa’s« bewirkt habe (FHA IV, S. 103). Dessen Werk wird zur Chiffre Europas, in der Spannung zwischen Realität und Ideal gefangen. Herders Text schwelgt in einem andauernden Hin und Her, das nicht synthetisiert werden kann. Statt des Verrisses des scheinbaren europäischen Gleichgewichts im zweiten Abschnitt von ›Auch eine Philosophie‹ bleibt die Metapher der Waage hier offen. Sie kann steigen 112
Diese Ansicht führt Herder auch in den ›Ideen‹ fort. Gott wirke durch »erwählte, größere Menschen« (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: FHA VI. Hrsg. von Martin Bollacher. 1989, S. 343).
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oder sinken: »[D]ie Waage wird schweben? steigen – sinken – welche Schale? was weiß ich? –« (FHA IV, S. 104). Der offensichtliche Widerspruch zwischen zwei unterschiedlichen Europabildern bleibt letztlich bestehen. Der Geschichtsphilosoph kann keine Lösung präsentieren.113
4.
Geschichtsinszenierungen in den ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹
In seinen ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ gelingt es Herder – trotz der Kantschen Kritik – weitaus mehr als in ›Auch eine Philosophie‹ eine Balance zwischen historischen Fakten und geschichtsphilosophischem Plan zu erzielen. Warum dies so ist, soll nicht vorwiegend durch einen ideengeschichtlichen Vergleich zwischen diesen geschichtsphilosophischen Texten Herders sondern vielmehr durch einen Vergleich ihrer Darstellungsweise vorgeführt werden. In seiner Vorrede zu den ›Ideen‹ vom April 1784 bestimmt Herder seine Zielsetzung zwar einerseits ähnlich der aus ›Auch eine Philosophie‹, nimmt andererseits aber doch entscheidende Modifikationen vor. Die Geschichte muss »im Ganzen und Großen eine Philosophie und Wissenschaft« haben (FHA VI, S. 14). Diese Betonung des Wissenschaftlichen geht weit über ›Auch eine Philosophie‹ hinaus. Herder verfolgt dabei insbesondere zwei Ziele: einerseits die zunehmende Verwissenschaftlichung der Naturgeschichte, andererseits den Wahrheitsanspruch der Philosophie. Er betont mehrfach seine Unparteilichkeit (FHA VI, S. 509, 677, passim). Damit steht ihm der essayistisch-polemische Stil der Bückeburger Schrift nicht zur Verfügung. Er wird stattdessen durch einen analytisch-kritischen Stil ersetzt, der die jeweilige Funktion der Kulturen für die Entwicklung der Menschheit einordnet. Andererseits muss – und hier stimmen die beiden geschichtsphilosophischen Schriften in ihrem Anspruch überein, weil Gott eine so wunderbare und ebenförmige Natur eingerichtet hat – dies auch für die menschliche Bestimmung, für den Prozess der Menschheitsgeschichte gelten: »[…] dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unsres Geschlechts im Ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben?« (FHA VI, S. 15). Herder führt vornehmlich in rhetorischen Fragen vor, was das Ziel seiner Menschheitsgeschichte sein soll: die
113
Vgl. hierzu auch Pickford: The End, S. 246.
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Vorführung des Philosophischen bzw. des Planes114 und das Moment des Ganzen dieser Menschheitsgeschichte. Wie im dritten Abschnitt von ›Auch eine Philosophie‹ angedeutet,115 will er hierfür die Gesetze der Natur, durch das Schicksal bestimmt, auch in der Geschichte sehen: »Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt? was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind? und beide sind ja die Zwillinge Eines Schicksals« (FHA VI, S. 15). Der Schicksalsbegriff markiert in beiden geschichtsphilosophischen Texten das Fortschrittliche der Menschheitsgeschichte. Der »sinnliche Betrachter« der Geschichte verliere sich in deren Zufällen, da er nicht in die Tiefe der Geschichte eindringe und deren Vorsehung bzw. Schicksalhaftigkeit nicht verstehe (FHA VI, S. 664). Das Göttliche und damit auch die Existenz des Schicksals in der Geschichte begründet Herder durch die Analogie zwischen Menschheitsgeschichte und Natur.116 Gott ist überall zu finden (FHA VI, S. 16f.). Gleichzeitig ist es Herders Grundstrategie, die Bedeutung seiner geschichtsphilosophischen Aufgabe gegenüber Gott und dem »Ganzen« zu verharmlosen: »Der Gott, den ich in der Geschichte suche, muß derselbe sein, der er in der Natur ist: denn der Mensch ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und seine Geschichte ist wie die Geschichte des Wurms mit dem Gewebe, das er bewohnt, innig verwebet« (FHA VI, S. 664f.). Die pathetische Schlussformel von Herders Vorrede zeigt, dass er sein Ziel wie in ›Auch eine Philosophie‹ darin sieht, die »Spur« Gottes für alle Menschen auszudrücken: Seine [die des unsichtbaren Genius des menschlichen Geschlechts, S.J.] Blätter mögen verwehn und seine Charaktere zerstieben, in denen ich Deine Spur sah und für meine Menschenbrüder auszudrücken strebte; aber Deine Gedanken werden bleiben und Du wirst sie Deinem Geschlecht von Stufe zu Stufe mehr enthüllen und in herrlichern Gestalten darlegen. (FHA VI, S. 18)
Einerseits erkennt Herder die Vergänglichkeit und den fehlenden Überblick des Geschichtsphilosophen in seinem Schreiben in Anbetracht des Göttlichen, andererseits will er dies ausdrücken, sodass sich das Wissen 114 115 116
Auch die Fadenmetapher wird in den ›Ideen‹ weiter genutzt, z. B.: »Aber wer gibt uns einen Leitfaden in diesem Labyrinth?« (FHA VI, S. 209). Vgl. III.3.3. Zum Zusammenhang von Natur- und Menschheitsgeschichte, gerade in den ›Ideen‹, siehe auch Irmscher: Aspekte der Geschichtsphilosophie, S. 24f. Siehe zudem Martin Bollacher: ›Natur‹ und ›Vernunft‹ in Herders Entwurf einer Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: Johann Gottfried Herder 1744–1803. Hrsg. von Gerhard Sauder. Hamburg 1987, S. 114–124.
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von der Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache und der Gültigkeit des Fortschrittsmodells entfalten lässt. Da sich das Göttliche nur stufenweise immer weiter offenbart, kann der Geschichtsphilosoph nur die Spur des Göttlichen und des damit verbundenen historischen Plans zeigen.117 Während die Natur in ›Auch eine Philosophie‹ immer nur am Rande in den verschiedenen Analogien erwähnt wird, ist es in den ›Ideen‹ die erste Aufgabe des Geschichtsphilosophen, die Einheit der Natur und ihre Gesetze vorzuführen, bevor diese auf die Menschheitsgeschichte übertragen werden können. Erst im zweiten der vier Bücher wird dies deshalb explizit auf die Menschheitsgeschichte und deren Plan und Einheit überführt. Dabei werden die Genese in der Natur und die historische Entwicklung der Menschheit unter dem Stichwort der Bildung gleichgesetzt. Bildung als Entfaltung befindet sich in jedem Geschöpf, »vom Schöpfer hinab bis zum Keim eines Sandkörnchens« (FHA VI, S. 55). Die Natur verhält sich historischen Ereignissen gleich. Sie scheint nur als Chaos, als Trümmer vorzukommen; der Mensch kann das Ganze nicht übersehen (FHA VI, S. 55). Im vierten Buch schafft Herder im Abschnitt ›Zur Humanität und Religion ist der Mensch gebildet‹ einen ersten Übergang von der Natur zur Geschichte. Das Göttliche der Natur ist nun auch direkt in der kulturellen Entwicklung der Menschheit zu sehen. Hierfür entwickelt Herder die Chiffre der Humanität, die dabei alles fassen soll, was ich [Herder] bisher über des Menschen edle Bildung zur Vernunft und Freiheit, zu feinern Sinnen und Trieben, zur zartesten und stärksten Gesundheit, zur Erfüllung und Beherrschung der Erde gesagt habe: denn der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als Er selbst ist, in dem das Bild des Schöpfers unsrer Erde, wie es hier sichtbar werden konnte, abgedruckt lebet (FHA VI, S. 154).
Der Begriff der Humanität begründet Herders Begriff der Philosophie der Geschichte. Es gibt eine »Kette der Tradition« bzw. »Kette der Bildung«, in der historische Begebenheiten und Trümmer verknüpft werden, sodass ein Ganzes entsteht, in dem »der Menschengeist unsterblich und fortwirkend lebet« (FHA VI, S. 343). Es wird letztlich kein historisches Fortschrittsmodell verfochten, nach dem eine Menschheitsepoche zur nächsten fortschreitet, sondern wiederum ein pflanzliches Modell, indem die Welt und ihr Gutes immer wieder neu entsteht und so das Sinnlose der 117
Vgl. FHA VI, S. 209.
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Geschichte überwunden werden kann: »Das Samenkorn aus der Asche des Guten ging in der Zukunft desto schöner hervor und mit Blut befeuchtet, stieg es meistens zur unverwelklichen Krone. Das Maschinenwerk der Revolutionen irret mich also nicht mehr« (FHA VI, S. 345). So sieht Herder eine emphatisch gefeierte »[g]oldene Kette der Bildung« (FHA VI, S. 344). Im Folgenden wird der Frage, inwiefern die ›Ideen‹ diese Vorstellung von der Kette der Bildung auch in ihrer Geschichtsdarstellung umsetzen, nachgegangen. Dabei wird durch eine Untersuchung der Geschichtsdarstellung der Ägypter, Phönizier und Römer deutlich, dass Herder Geschichtswandel und Temporalisierung deutlich weniger inszeniert als in ›Auch eine Philosophie‹ und stattdessen eine distanzierte Beschreibung der einzelnen Kulturen und ihrer Wirkung wählt (III.4.1). Gleichzeitig bleibt Herders Ganzheitsdenken gerade in der so expliziten Überlagerung der göttlichen Natur mit dem Prozess der Menschheitsgeschichte bestehen, sodass die Analyse wieder durch eine synthetische Darstellung ergänzt werden muss. Dies gelingt Herder durch die Inszenierung einer imaginären Europavorstellung, auf die die Geschichte der Menschheit zuläuft (III.4.2). 4.1.
Historischer Wandel und Temporalisierung in den ›Ideen‹
Herders Darstellung der eigentlichen Menschheitsgeschichte beginnt mit dem dritten Teil (elftes Buch) der ›Ideen‹. Die in ›Auch eine Philosophie‹ auf den Mittelmeerraum beschränkte Darstellung der antiken Welt wird hier geographisch, kulturell und historisch erheblich erweitert. Herder stellt China, Ostasien, Tibet und Indien ausführlicher dar, bevor er im zwölften Buch die Völker des Nahen Ostens und des Mittelmeerraumes genauer beschreibt. Die Morgenländer oder nomadischen Völker werden nun entsprechend in Babylonier, Assyrer, Chaldäer, Meder und Perser ausdifferenziert, bevor mit den Phöniziern – nun zeitlich vor den Ägyptern – das erste Volk dargestellt wird, dessen Geschichte auch in ›Auch eine Philosophie‹ erzählt wird. Ein kurzer Ausschnitt aus Herders Darstellung der Ägypter, kann bereits verdeutlichen, wie stark sich Herders Stil zugunsten einer distanzierten Beschreibung eines Volkes verändert hat: Das fruchtbare Niltal machte ihnen den Ackerbau leicht: jene periodischen Überschwemmungen, von denen ihre Wohlfahrt abhing, lehrten sie messen und rechnen. Das Jahr und die Jahrszeiten mußten doch endlich einer Nation
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geläufig werden, deren Leben und Wohlsein von einer Einzigen Naturveränderung abhing, die jährlich wiederholt, ihnen einen ewigen Landkalender machte. (FHA VI, S. 504f.)
Die Natur ermöglicht das Lernen der Ägypter und die Veränderung ihrer Kultur. Doch die Bedeutung historischen Wandels und des Neuen ist zurückgedrängt. Das Vollverb ›werden‹ ist verschwunden. Dasselbe gilt für die Variation der Satzzeichen. Doppelpunkte spielen insgesamt nur noch eine geringe Rolle, und nur wenn etwas Nachfolgendes erklärt wird, nicht mehr um einen präsentischen Fluss des Textes zu erzeugen. Die Anzahl der Fragezeichen und insbesondere der Ausrufungszeichen ist deutlich reduziert. Punkte und Kommata dominieren die Interpunktion. Auch Metaphern und Analogien werden weitaus weniger verwendet. Herder erzählt weiterhin im Präteritum, aber weit weniger präsentisch als in ›Auch eine Philosophie‹, sondern historischen Wandel nacherzählend und beschreibend. Mit diesen stilistischen und narratologischen Veränderungen geht einher, dass Herder die ägyptische Kultur weitaus stärker als in der Bückeburger Geschichtsphilosophie für sich beschreibt, analysiert und bewertet. Die dortige Temporalisierung scheint einem noch stärkeren historistischen Ansatz gewichen, wonach jede Epoche für sich zu stehen scheint,118 ein Befund, der der allgemeinen Lesart der Forschung, die die Bückeburger Geschichtsphilosophie als den historistischsten Text Herders ansieht,119 entgegensteht. Dieser Widerspruch zeigt, dass die Individualität der Geschichtsepochen bzw. Nationen nur ein Teil des Herderschen Geschichtskonzepts ist. Sie ist um eine Dynamik des Ausdrucks in der Geschichtsinszenierung zu erweitern.120 Doch erst einmal scheint gerade die in ›Auch eine Philosophie‹ erkannte Dynamik der Entwicklung zwischen einzelnen Kulturen in den ›Ideen‹ nicht mehr zur Anschauung 118
119 120
Vgl. hierzu Herder im 15. Buch: »Die Nationen blühen auf und ab; in eine abgeblühete Nation kommt keine junge, geschweige eine schönere Blüte wieder. Die Kultur rückt fort; sie wird damit nicht vollkommener: am neuen Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts gingen unwiederbringlich unter. Waren die Römer weiser und glücklicher als es die Griechen waren? und sind wirs mehr als beide?« (FHA VI, S. 628). An anderer Stelle schreibt er: »Nur Zeiten, nur Örter und National-Charaktere, kurz das ganze Zusammenwirken lebendiger Kräfte in ihrer bestimmtesten Individualität entscheidet wie über alle Erzeugungen der Natur, so über alle Ereignisse im Menschenreiche« (FHA VI, S. 508). Allerdings zeigt sich hier bereits, dass die Geschichte den Bildungsprozessen der Natur untergeordnet wird, womit Herder das traditionelle, auf Nationen und Kulturen bezogene Historismusverständnis zugunsten eines ganzheitlichen Entwicklungsmodells überschreiten kann (siehe III.4.2). Vgl. III.2. Siehe zur Geschichtsinszenierung eines imaginativen Europas III.4.2.
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gebracht werden; das Diachrone ist zugunsten des Synchronen verdrängt. Das Performative scheint aus den ›Ideen‹ verschwunden zu sein. Es stellt sich die Frage, ob Herder zum Ausdruck der Humanität und der »Goldenen Kette der Bildung« einfach einen gelassenen Geschichtsphilosophen braucht, der darauf vertraut, dass die göttlichen Naturgesetze funktionieren und historische Zufälle oder Verfallserscheinungen in der Menschheitsgeschichte im Rahmen dieses übergreifenden Modells eine geringere Rolle spielen, wie er im sechsten Buch der ›Ideen‹ programmatisch ausgeführt hat.121 Ein Blick auf Herders jetzt vor dem Kapitel über die ägyptische Kultur angesiedeltem Abschnitt über die phönizische Kultur scheint dies zuerst zu bestätigen. Wie im Ägyptenkapitel ist der diachrone Aspekt der Geschichte reduziert. Das sich in der phönizischen Kultur entwickelnde Neue für die Menschheit wird nicht direkt mit den anderen Kulturen in Beziehung gesetzt, sondern einfach als einen durch die Phönizier bewirkten Wandel berichtet bzw. nacherzählt: Und das [das Umsegeln des Mittelmeeres] taten sie nicht als Eroberer, sondern als Handelsleute und Kolonienstifter. Sie banden die Länder, die das Meer getrennet hatte, durch Verkehr, Sprache und Kunstwaren an einander und erfanden sinnreich, was zu diesem Verkehr diente. Sie lernten rechnen, Metalle prägen und diese Metalle zu mancherlei Gefäßen und Spielzeug formen. Sie erfanden den Purpur, arbeiteten feine Sidonische Leinwand, holten aus Britannien das Zinn und Blei, aus Spanien Silber, aus Preußen den Bernstein, aus Afrika Gold und wechselten dagegen Asiatische Waren. (FHA VI, S. 492)
Doch zugleich zeigt der gerade zitierte Abschnitt auch, dass der phönizischen Kultur weiterhin die Funktion historischen Wandels zukommt. Wie in ›Auch eine Philosophie‹ gesteht Herder den Phöniziern eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Menschheitsgeschichte zu, weil sie vermochten, andere Länder zu verbinden. Herder wird nach dem ersten Absatz deutlich argumentativer, wenn er die Bedeutung der Phönizier für die Menschheitsgeschichte und deren Ursache analysiert: »[W]as hat die meisten Seefahrenden Völker gebildet? Die Not, die Lage, und der Zufall« (FHA VI, S. 493).122 Auch die Not wird durch die geographische Lage bestimmt, womit die Natur und der Zufall entscheidend für die phönizische Rolle in der Weltgeschichte werden. Anstatt den Zufall als notwendige 121 122
Siehe den vorherigen Abschnitt III.4. Die Unterscheidung dieser Trias zum Ausspruch »Zufall, Schicksal, Gottheit« in der Bückeburger Geschichtsphilosophie (FHA IV, S. 58) macht vor allem die größere Bedeutung von Naturgesetzen bzw. Notwendigkeiten für den Verlauf der Menschheitsgeschichte in den ›Ideen‹ deutlich.
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Entwicklung wegzuinszenieren, wird er also Teil von Herders Argumentation. Im Weiteren konzentriert sich Herder auf das Glück bzw. Zufällige der phönizischen Situation, weil sich zwischen den drei Erdteilen das Mittelmeer bildete. Die Natur in Form des Mittelmeeres ermöglicht die Menschheitsentwicklung und so letztlich einer Nation die Möglichkeit des Handels und damit die Verbindung zwischen den Staaten: [D]a schon ward vom ewigen Schicksal der Weg in die Kultur Europa’s gezeichnet. Hingen die drei Weltteile zusammen: so wäre Europa vielleicht eben so wenig als die Tartarei und das innere Afrika oder gewiß langsamer und auf andern Wegen kultiviert worden. Nur die mittelländische See hat unserer Erde ein Phönicien und Griechenland, ein Etrurien und Rom, ein Spanien und Karthago gegeben und durch die vier ersten dieser Ufer ist alle Kultur Europa’s worden. (FHA VI, S. 494)
Herder verwendet das Vollverb ›werden‹ eines der wenigen Male in diesem Teil der ›Ideen‹, aber nicht um eine aktuelle Veränderung vollziehen zu lassen, sondern um eine übergreifende Entwicklung der Menschheit zu erklären. Er macht den Handel – positiv abgesetzt gegenüber reinen Eroberungen – in den ›Ideen‹ zum Grundprinzip der Menschheitsentwicklung und der Entwicklung eines die Völker vereinenden Europas: »Von jeher weckte der Handel die Industrie: das Meer begrenzte oder bändigte die Eroberer, daß wider Willen sie aus unterjochenden Räubern allgemach zu friedlichen Paziszenten wurden« (FHA VI, S. 496). Nur durch Handel und Austausch kann Zivilisation entstehen. Die Darstellung dessen geschieht in den ›Ideen‹ aber nicht als direkte präsentische Erzählung, als Vollzug von Veränderungen, wie in ›Auch eine Philosophie‹, sondern die Bedeutung der Phönizier wird rückwirkend analytisch erschlossen. Der Zufall wird nicht durch die Darstellungsweise, sondern nur durch Kulturgesetze, die auf Naturgesetze zurückgehen, aufgehoben. Die historische Besonderheit der Phönizier spielt dabei eine weitaus geringere Rolle als das Kulturgesetz des Handelns. Als die erste handelnde Nation erfüllen die Phönizier aufgrund eines Naturgesetzes zufälligerweise eine kulturelle Notwendigkeit, die die Entwicklung der Menschheit zur Humanität zeigt. Und hier wird Herders Problem deutlich: Die historistische Auffassung der Individualität der Phönizier steht in Spannung zu deren Funktion für die Entwicklung der Geschichte. Offensichtlich tragen die Phönizier – nach Herder die erste bindende Handlungskultur – grundlegend zum Bildungsprozess der Menschheit bei: »Ein großer Schritt in der Kultur der Menschheit« (FHA VI, S. 496). Herder versucht diese Spannung zu umgehen, indem er den Zufall, nach dem gerade die 164
Phönizier durch Handel Völker verbinden, auf ein göttlich garantiertes Naturgesetz zurückführt. Durch den Verzicht auf die performative Inszenierung der Notwendigkeit des historischen Prozesses wird das Göttliche des Naturgesetzes aber mehr behauptet als sprachlich umgesetzt. Ähnlich verhält es sich auch mit der Darstellung der römischen Kultur in den ›Ideen‹, die Herder, wie oben in der Darstellung der Bedeutung des Mittelmeers für Europa und das Fortschreiten der Menschheit deutlich wurde, ebenfalls als die Menschheit bewegende Kultur ansieht (vgl. FHA VI, S. 494). Die Darstellung der römischen Kultur umfasst das gesamte 14. Buch, und auch sie beginnt deutlich distanzierter als der entsprechende Abschnitt in ›Auch eine Philosophie‹. Rom erscheint nicht als performatives, geschehendes Prinzip, sondern wird in seiner Zerstörungskraft beschrieben: »Rom zerstörte Karthago, Korinth, Jerusalem und viel’ andre blühende Städte der griechischen und Asiatischen Welt; so wie es auch in Europa jeder mittäglichen Kultur, an welche seine Waffen reichten, insonderheit seiner Nachbarin Etrurien und dem Mutvollen Numantia ein trauriges Ende gemacht hat« (FHA VI, S. 575). Wiederum wird hier Herders neuer Stil deutlich. Wie in ›Auch eine Philosophie‹ fungiert Rom als Chiffre für eine Kulturepoche, die der Geschichtsphilosoph als Geschlossenes im Vergleich zu anderen Epochen betrachten kann. Auf Details kommt es wie auch in der Phönizierdarstellung weniger an,123 sondern auf die übergreifende Wirkung dieser Kulturepoche,124 die nur als retrospektive Darstellung möglich ist. Die übergreifende Funktion, die die römische Epoche erfüllt, ist ähnlich wie in ›Auch eine Philosophie‹; sie ist »der steile, fürchterliche Übergang zur ganzen Kultur Europa’s« (FHA VI, S. 575). Nachdem Herder die Etrusker als Übergangskultur von den Griechen zu den Römern beschreibt, führt er im zweiten Teilkapitel »Roms Einrichtungen zu einem herrschenden Staats- und Kriegsgebäude« aus, wie die römische Kultur ihre Bedeutung für die Menschheitsgeschichte entfalten konnte. Dieser Teil ist deskriptiv in der Beschreibung der Organi123
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Eine Ausnahme bildet die Erzählung der Rollen von Cäsar und Brutus in der römischen Geschichte. Cäsar erscheint ähnlich der Rolle der Helden in der Neuzeit in ›Auch eine Philosophie‹ als geistiges Prinzip, das vom »bösen Genius« des Brutus zerstört wird (FHA VI, S. 611f.). Siehe Adler: Nation, S. 46, für Herders Begriff der erfahrenen Gegenwart. Diese ist immer nur an ihrer Wirkung zu erkennen: »Eine von Herders Grundannahmen ist, daß die zukunftsträchtige Gegenwart Resultat der zukunftsträchtigen Vergangenheit ist«. Dies führt im Zusammenhang der hier untersuchten Darstellungstechniken dazu, dass Kulturepochen und Europa nur als Ereignis im Erkenntnisprozess, nicht als abgeschlossenes Wissen über eine Zeit, betrachtet werden können.
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sation des römischen Staates und analytisch in der Darstellung von dessen Konsequenzen. Zum Beispiel erklärt Herder die Römertugend mit der ›Härte‹ der Staatsverfassung: »Kein Staat der Welt hat es vielleicht in dieser ernsten Geschäftigkeit, in dieser bürgerlichen Härte so weit als Rom gebracht […]« (FHA VI, S. 589), was dann im Einzelnen ausgeführt wird. Nur im folgenden dritten Teilkapitel über die Eroberungen der Römer ist Herders Darstellung wirklich erzählend, aber auf räumliche Weise. Erzähler und Leser »segeln« zusammen zu den Küsten des Mittelmeeres (FHA VI, S. 598), womit Herder an seine grundsätzliche in den ersten drei Teilen der ›Ideen‹ dominante Reisemetaphorik anknüpft. Bereits zu Beginn des Rom-Kapitels »nähern« sich Geschichtsphilosoph und Leser dann zusammen der römischen »Küste« (FHA VI, S. 575).125 Der affektive Ton, in den analytischen Teilen des 14. Buches der ›Ideen‹ nicht erkennbar, lässt sich als Mischung zwischen Bewunderung für römische Größe und Mitleid für die zerstörten Kulturen fassen. Im elegischen Bedauern über die Zerstörung anderer Kulturen – ganz anders als in ›Auch eine Philosophie‹ – wirkt der Historiker affektiv deutlich stärker am historischen Prozess beteiligt, zum Beispiel im elegischen Ausruf: »o Griechenland, welchen Ausgang gewähret dir deine Beschützerin, deine Schülerin, die Welt-Erzieherin Roma!« (FHA VI, S. 597). Die Reisemetaphorik ermöglicht eine gewisse Gleichzeitigkeit des Erzählens; dennoch kann von der performativen Wirkung, die in ›Auch eine Philosophie‹ zu erkennen war, nicht die Rede sein. Roms Bedeutung für die Menschheitsgeschichte wird logisch-analytisch bewiesen, nicht performativ inszeniert. Dies wird besonders im Teilkapitel zu Roms Verfall deutlich: Hätten die Römer auch Asien und Griechenland nie gesehen und gegen andre, ärmere Länder nach ihrer Weise verfahren; ohne Zweifel wäre ihr Sturz zu andrer Zeit, unter andern Umständen, dennoch aber unvermeidlich gewesen. Der 125
Der Leser wird immer in der ersten Person Singular angesprochen – hier im kollektiven ›wir‹ (FHA VI, S. 575), sodass eine enge Bindung zwischen Geschichtsphilosoph und Leser entsteht; vgl. hierzu auch Peitsch: Deutsche Peripherie, S. 78f. Am deutlichsten führt Herder die Reisemetaphorik im achten Buch ein. Sie soll ihm das Konkrete der Geschichte einbringen, das Abstraktion und Analyse, die Herder natürlich trotzdem vorwiegend einsetzt, nicht leisten können: »Dem Philosophen der Geschichte kann keine Abstraktion, sondern Geschichte allein zum Grunde liegen und er läuft Gefahr, trügliche Resultate zu ziehen, wenn er die zahllosen facta nicht wenigstens in einiger Allgemeinheit verbinde. Indessen versuche ich den Weg und kreuze, statt des überfliegenden Schiffes, lieber an den Küsten: d. i. ich halte mich an gewisse oder für gewiß geachtete facta, von denen ich meine Mutmaßungen sondre und überlasse es Glücklichern, sie besser zu ordnen und zu gebrauchen« (FHA VI, S. 286).
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Keim der Verwesung lag im Innern des Gewächses: der Wurm nagte an seiner Wurzel, an seinem Herzen; und so musste auch der riesenhafte Baum endlich sinken. (FHA VI, S. 601)
Die Logik, warum Rom untergehen musste, ein Moment, das das Fortschreiten der Menschheit erst ermöglicht hat, wird durch die Metapher eines Pflanzenschädlings argumentativ unterstützt. Wieder beruft sich Herder auf ein notwendiges Naturprinzip, das historisch an genau dieser Stelle zufällig erscheint. 4.2.
Die Inszenierung Europas126
Die Analyse von Herders Darstellungstechniken in den ›Ideen‹ am Beispiel der ägyptischen, phönizischen und römischen Kultur hat den Anschein erweckt, dass Herder seine performative Geschichtsdarstellung aus ›Auch eine Philosophie‹ in den ›Ideen‹ fast vollständig aufgibt. Der Geschichtsprozess vollzieht sich nicht mehr vor den Augen der Leser. Der Geschichtsphilosoph und Menschheitshistoriker wählt in den ›Ideen‹ im Unterschied zu ›Auch eine Philosophie‹ vorwiegend eine Außenperspektive und bleibt damit von seinem Gegenstand distanziert.127 Er zieht synthetische Schlussfolgerungen über die jeweilige Kultur. In den allgemeinen Betrachtungen – in der Regel am Ende der einzelnen Bücher – wird diese Synthese dann analytisch wieder zerlegt.128 Dieses Wechselspiel zwischen Synthese und Analyse versetzt Herder in die Lage, Diskontinuitäten zu erklären; ob das die Zerstörungskraft der Römer oder der Verfall zivilisatorischer Ordnung im Mittelalter ist, um trotz dieser ›Störfälle‹ das aus Europa entstehende Ganze behaupten zu können. Die Analyse garantiert die Kritikfähigkeit; die Synthese garantiert das Entwicklungsmodell der Menschheit. Es zeigt sich, dass Herder den Geschichtsprozess in den ›Ideen‹ aber dennoch inszeniert, als imaginären Raum Europa, also als 126
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Dieses Teilkapitel basiert auf Jaeger: Herders Inszenierung von Europa, S. 73f.; S. 79–86, wobei der Aufsatz stärker auf die Frage der Distanz im Geschichtserzählen ausgerichtet ist. Herz erklärt dies zurecht dadurch, dass Herder in den ›Ideen‹ davon ausgeht, dass eine den Naturgesetzen analoge Gesetzmäßigkeit der Geschichte vornehmlich durch genaue Beobachtung erkannt werden kann (Dunkler Spiegel, S. 199). Maurer sieht Herders synthetischen Zugang im Unterschied zum analytischen Kant oder Schlözer. Herder stehe das Ganze vor Augen (Geschichte zwischen Theodizee und Anthropologie, S. 129). Diesem ist grundsätzlich zuzustimmen, dennoch bleibt die Darstellungstechnik in den ›Ideen‹ oft analytisch – die jeweilige Epoche wird in Einzelbeobachtungen zerlegt. Insofern versucht Herder, weitaus wissenschaftlicher als in ›Auch eine Philosophie‹ zu sein.
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den Raum, der in ›Auch eine Philosophie‹ nur angedeutet schien und den Herder letztlich nicht mit der europäischen Gegenwart in Einklang bringen konnte.129 In seiner früheren Schrift kann er seine Polemik gegen die europäische Aufklärung nicht überwinden, weshalb sich der Geschichtsphilosoph von seinem Gegenstand distanziert. Dies scheint auf den ersten Blick der analytischeren und distanzierteren Darstellungsweise in den ›Ideen‹ zu entsprechen. Doch bei genauerer Betrachtung von Herders Europadarstellung lässt sich erkennen, dass dies gerade nicht der Fall ist und Herder das Erzählmittel der Distanz anders nutzen kann. Er gewinnt damit die Darstellungsmöglichkeit eines imaginären Europas, die in der Frühschrift noch nicht gegeben war. Durch die Veränderung der historischen Distanz zwischen europäischem Menschheitsphilosophen und der kulturellen Entwicklung der Menschheit in und außerhalb Europas gelingt es Herder, in den ›Ideen‹ einen Prozess vorzuführen, der die Kritik des gegenwärtigen realen Europas ermöglicht, ohne das ebenso gegenwärtige progressive Potential Europas zu negieren. So kann Europas imaginäres Potential etabliert werden.130 Im Schlusskapitel der ›Ideen‹ beschreibt Herder entsprechend die Situation des »wiedererwachenden Geistes« (FHA VI, S. 890) im Europa des Spätmittelalters in Volksreligion, Philosophie, Wissenschaften und Recht: [H]iedurch soll Europa sich aus dem verworrensten Zustande hervorheben und neu bilden. Was indessen dem Boden der Kultur an lockerer Tiefe, den Hülfsmitteln und Werkzeugen an Brauchbarkeit, der Luft an Heiterkeit und Freiheit entging, ersetzt vielleicht der Umfang des Gefildes, das bearbeitet, der 129
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Damit überschreitet er die historistische Vorstellung zugunsten eines Ganzheitsmodells. Während die Geschichtsdarstellung der antiken Welt historistisch und weniger temporalisiert als in ›Auch eine Philosophie‹ erscheint (siehe III.4.1), wird sowohl im über das Altertum hinausgehenden Geschichtsdenken als auch in der Europainszenierung ein temporalisierendes, übergreifendes Prinzip der Geschichte erkennbar. Herder deutet Europas Konstruktionscharakter und Immaterialität im ›16. Brief zu Beförderung der Humanität‹ an, wenn er es als »Gedankenbild« fasst: »[S]o ist Europa auch nur ein Gedankenbild, das wir uns etwa nach der Lage seiner Länder, nach ihrer Ähnlichkeit, Gemeinschaft und Unterhandlung zusammenordnen« (in: FHA VII. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher, 1991, S. 88). Vgl. hierzu Knoll: Europe in the History of Humanity, S. 131. Helmut Peitsch führt durch eine originelle Untersuchung von Herders Rezeption von Reisebeschreibungen über den Pazifik in den ›Ideen‹ vor, wie Deutschland in diesem doppelt konnotierten Europa zum das Fremde anerkennenden europäischen Zentrum werden kann (Die Rezeption von Reisebeschreibungen über den Pazifik in Johann Gottfried Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹. In: Herausforderung Herder/Herder as Challenge. Ausgewählte Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft. Hrsg. von Sabine Groß. Heidelberg 2010, S. 111–123).
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Wert der Pflanze, die erzogen werden sollte. Kein Athen oder Sparta, Europa soll hier gebildet werden; nicht zur Kalokagathie eines griechischen Weisen oder Künstlers, sondern zu einer Humanität und Vernunft, die mit der Zeit den Erdball umfaßte. Lasset uns sehen, was dazu für Veranstaltungen gemacht, was für Entdeckungen ins Dunkel der Zeiten hingestreuet wurden, damit sie die Folgezeit reifte. (FHA VI, S. 891)
Herders Satz – Humanität und Vernunft umfassten mit der Zeit den Erdball – changiert zwischen zwei möglichen Lesarten. Einerseits kann er konjunktivisch bezogen auf die vorangehenden Modalsätze, andererseits als Form im Präteritum Indikativ gelesen werden, was durch das Tempus des nachfolgenden Satzes unterstützt wird. In letzterer Lesart scheint der Bildungsprozess der Menschheit zwischen dem Spätmittelalter und der Gegenwart des Geschichtsphilosophen erheblich fortgeschritten zu sein, während in ersterer das zukünftige und imaginäre Potential Europas deutlich wird. Wie lassen sich diese Spannung und der darin ausgedrückte Widerspruch zwischen einem despotischen und eurozentrischen Europa, das andere Kulturen unterdrückt, und dem imaginären europäischen Potential zur Bildung von Humanität überbrücken?131 Wiederum ist hier zuerst Herders Pflanzenmetaphorik anzuführen, durch die Herder verdeutlichen kann, dass es sich bei dieser Bildung Europas um einen Prozess handelt. Statt aber diesen Prozess nur als ein Denkmodell darzustellen,132 verwendet Herder in den ›Ideen‹ ein Erzählverfahren zur Inszenierung dieses Prozesses. Anders als in ›Auch eine Philosophie‹ ist Europa in den ›Ideen‹ als Raum der Möglichkeiten von Bildung und Humanität durchweg präsent. Im neunten Buch beschreibt Herder Europa als »das Archiv der Kunst und des aussinnenden menschlichen Verstandes«: »[D]as Schicksal der Zeitenfolge hat in ihm [dem Archiv Europa] seine Schätze niedergelegt: sie sind in ihm vermehrt worden und werden gebrauchet« (FHA VI, S. 359). In einer umfassenden Menschheitsgeschichte, die die Entstehung der Erde und des Menschen berücksichtigt, ebenso wie sie die Kulturen auf allen Kontinenten betrachtet, ist eine derartige Aussage offensichtlich schwieriger, als in ›Auch eine Philosophie‹, in der Herder sich auf die ge131
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Auch Knoll benennt diesen Widerspruch (Europe in the History of Humanity, S. 134), betrachtet aber nicht Herders Darstellungstechniken, sodass seine Untersuchung auf Herders inhaltliches Konzept von ›Europa‹ beschränkt bleibt. Siehe z. B. Eggel, der Herders Europadenken in Bezug zur gesellschafts- und staatspolitischen Konstellation in Europa untersucht. Eggel zeigt auch die Spannungen in Herders Denken zwischen Eurozentrismuskritik und Europas ›weltgeschichtlicher Mission‹ (Imagining Europe, S. 74–78).
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bildeten Kulturen des Mittelmeerraums und Europas konzentriert. Herder etabliert Europa in den ›Ideen‹ hingegen von vornherein als Raum der Mannigfaltigkeit, der alles Unterschiedliche aufnimmt, sodass sich gegen Ende des Mittelalters der eigentliche Reifungsprozess zeigen kann, um in Herders oben zitierter Metaphorik zu bleiben.133 Europa beginnt geographisch als »durchschnittenes, vielgestaltiges Land« (FHA VI, S. 47), das die spätere Vielfalt seiner Völker vorbereitet. Die Pflanzenwelt kommt nach Europa, passt sich teilweise an, behält aber Eigenschaften aus ihren Ursprungslanden bei (FHA VI, S. 64f.), gelenkt durch die Vielfalt bzw. »Verwirrung« des europäischen Klimas (FHA VI, S. 152). Die Tiere kommen vornehmlich aus Asien, doch diese seien durch die Landverbindungen zwischen Europa, Asien und Afrika in allen drei Kontinenten zumeist dieselben (FHA VI, S. 387f.). Und so dringt Herder bis zur Entstehung des Menschengeschlechts in Asien vor (FHA VI, Kap. 10, III). Da Europa zuerst nichts als Wasser, Wald und Morast ist, wie Herder immer wieder betont (FHA VI, S. 387, 693, passim), besteht es in letzter Konsequenz nur aus Fremdem, das von allen Einbrüchen oder zufälliger Nähe profitiert, wie zum Beispiel von der Schönheit tatarischer Stämme, die »[g]lücklich für uns« (FHA VI, S. 225) in Europa ist.134 In dieser kleinen Bemerkung – »glücklich für uns« – zeigt sich ein entscheidendes Moment der Reduzierung historischer Distanz. Der Menschheitsphilosoph ist Teil des jetzigen Europa, und dieses gegenwärtige Europa dringt in die Darstellungsweise mit ein. Das gegenwärtige Europa ist aber nicht oder kaum Gegenstand, wie im Weiteren noch ausgeführt wird. Das Glück Europas ist bedeutsam für den Geschichtsphilosophen und für die Leser, die Teil Europas sind. Der Geschichtsphilosoph nimmt eine ästhetische Wertung vor: Die Schönheit in Reinform kann in das mannigfaltige Europa hineinfließen. Die scheinbare Unparteilichkeit wird zugunsten eines ästhetischen Standards reduziert. In Kapitel 6, III zur »Organisation des Erdstrichs schöngebildeter Völker« führt Herder dieses Prinzip, alles auf Europa zulaufen zu lassen, ohne es zum wirklichen Gegenstand des Textes werden zu lassen, fast 133 134
Die Antike und das Mittelmeer machen aber die Sonderstellung Europas für Herder erst möglich, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde. Zu Herders Europaidee als Mischkultur, die stark von jedem Eurozentrismus abzusetzen sei, siehe auch Stauf: Was soll überhaupt eine Messung, S. 55f. Mori erkennt, dass Herder sich zwar kein institutionell organisiertes Europa vorstellen konnte, aber sich im Unterschied zu Kant bewusst war, »dass die Realität Europas sich aus unzähligen Einzelrealitäten zusammensetzt, die es lernen müssen, sich als Teile eines Ganzen zu fühlen, ohne die Spezifik ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihres Lebens selbst aufzugeben« (Herder und Europa, S. 300f., Zitat auf S. 301).
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programmatisch aus: »Weiterhin nach Europa verirre ich mich nicht. Es ist so Formenreich und gemischt: es hat durch seine Kunst und Kultur so vielfach die Natur verändert, daß ich über seine durch einander gemengte, feine Nationen nichts Allgemeines zu sagen wage« (FHA VI, S. 226). Der reisende Geschichtsphilosoph reist also nicht ins mannigfaltige Europa, sondern etabliert ein Kulturprinzip, ähnlich wie oben in der Analyse der Phönizierdarstellung gesehen, das den weiteren Veredelungsprozess ermöglichen soll. Nur so ist kultureller Fortschritt möglich. Entsprechend schließt Herder sein Teilkapitel mit den Worten: »Wir nordischen Europäer wären noch Barbaren, wenn nicht ein gütiger Hauch des Schicksals uns wenigstens Blüten vom Geist dieser Völker herüber geweht hätte, um durch Einimpfung des schönen Zweiges in wilde Stämme mit der Zeit den unsern zu veredeln« (FHA VI, S. 228). Wieder reduziert der Geschichtsphilosoph durch Verwendung der ersten Person Plural seine Distanz und schließt seine Gegenwart in den Entwicklungsprozess mit ein. Herders Wissenschaftsanspruch führt also keineswegs zur völligen Distanzierung von seinen historischen Gegenständen. Ein kurzer Blick auf die Zeit- und Perspektivenstruktur der gesamten ›Ideen‹ macht deutlich, wie Herder das mannigfaltige Europa inszeniert. Im sechsten Buch beginnt er die verschiedenen ›ungebildeten‹ Völker der Erde vorzustellen. Da diesen die Geschichte fehle, oder den Europäern – wie Herder immer wieder reflektiert (zum Beispiel FHA VI, S. 231) – das Wissen über diese Völker, werden sie typologisch als gegenwärtiges Volk erfasst, was dann auch in Interaktion mit dem gegenwärtigen Europa steht. Herders Quellen sind die Reiseberichte und Naturgeschichten der Zeit.135 Der gewählte Stil ist – wie oben bereits anhand der Darstellung der antiken Welt gesehen werden konnte – entsprechend beschreibend, eher der eines Anthropologen und Reisenden, allerdings aus der Distanz nach der Reise. Die Entwicklung jener Völker wird nur angedeutet. Gleichzeitig lässt der geschichtsphilosophische Erzähler durchwegs in der gewählten Reisemetaphorik, in den ersten drei Teilen,136 erkennen, dass er mit dem Leser eine Reise durch die entsprechenden Kulturen macht, womit die analytische Distanz bis zu einem gewissen Grad gebrochen wird. Der Leser sieht aber immer typologische Charaktere und eine 135
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Siehe hierzu Peitsch: Die Rezeption von Reisebeschreibungen. Zudem zeigt Peitsch, wie die koloniale Expansion Europas für den Herder der ›Ideen‹ Bestandteil des Prozesses der Bildung zur Humanität und Vernunft ist (Deutsche Peripherie, S. 81). Die Fähigkeit zur Übernahme der fremden Perspektive wird in den Mittelpunkt gestellt (Ebd., S. 83). Im vierten Teil verschwindet die Reisemetaphorik und wird durch eine Gebäudemetaphorik ersetzt (vgl. Peitsch: Deutsche Peripherie, S. 75).
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ganzheitliche Kultur, also bereits eine Synthese der Reisenden, nichts Konkretes oder gar ein spezifisches historisches Ereignis.137 Wenn Herder im dritten Teil der ›Ideen‹ auf die gebildeten Nationen zu sprechen kommt, argumentiert er, dass der ersten gebildeten Nation, China (Sina), die europäische Mannigfaltigkeit – oder anders ausgedrückt – »die Europäische Abweichung« (FHA VI, S. 434) fehle, wodurch Chinas Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt blieben. Trotz vorhandener Entwicklung in den Künsten und Wissenschaften bleibe diese auf das Innere ihrer Kultur beschränkt, sodass es ihr »am geistigen Fortgange und am Triebe zur Verbesserung fehlet« (FHA VI, S. 441). Wie in der Darstellung aller anderen vormittelalterlichen Kulturen geht es Herder dabei nicht um die Darstellung der chinesischen Kultur im Einzelnen, sodass hier auch die Frage, ob Herders kritische Darstellung der chinesischen Kultur nicht dem Wissensstandard der damaligen Zeit entspreche, nicht im Zentrum stehen soll. Stattdessen ist die Einbindung der gebildeten Kulturen in den historischen Gesamtprozess, der zu Europa führt, grundlegend.138 China dient als (negativer) Kontrast zu Herders Europa. Europa wird als dynamisches Konstrukt vorgestellt, das in sich selbst und im Vergleich mit anderen gemessen werden kann, etwas, das den asiatischen Reichen nach Herder fehlt, da sie keinerlei Maßstab außerhalb ihrer selbst besitzen würden (FHA VI, S. 462). In der Erzählstruktur des Textes ist die Bewertung der chinesischen Kultur konsequent. Außereuropäische Kulturen münden in Herders imaginäre Europavorstellung. Insofern passt die abwertende Darstellung chinesischer Kultur139 durchaus zu Herders Humanitäts-Postulat, da dies historisch dynamisiert wird. Einer wirklichen Analyse der Gegenwart anderer Kulturen geht Herder also aus dem Wege. In den das elfte Buch abschließenden ›Allgemeinen Betrachtungen‹ wird noch deutlicher, wie stark das gegenwärtige Europa und Herders Konstrukt von Europa als imaginäres Archiv seine gesamte Darstellung 137 138
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Siehe z. B. in den ›Ideen‹ FHA VI, S. 226; S. 507; S. 598 für die gewählte Reisemetaphorik. Ähnlich wie Forster (siehe II.2) nutzt Herder die Verräumlichung der Welt zur Darstellung des menschheitsgeschichtlichen Prozesses. Die unterschiedlichen Kulturen auf der Welt können auf eine zivilisationshistorische Landkarte übertragen werden. Vgl. den Stellenkommentar von Martin Bollacher in den ›Ideen‹ (FHA VI, S. 999), der feststellt, dass sich Humanitätspostulat und »eurozentrische Abwertung der chinesischen Kultur« in den ›Ideen‹ nur schlecht ineinander fügen. Kritisch hierzu, ein dynamisches Sprach- und Wirtschaftsverständnis Herders aufzeigend, ist Hansjakob Werlen: Sprache und (Wirtschafts-)Wissenschaft im ›Sina‹-Kapitel von Herders ›Ideen‹. In: Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders ›Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit‹. Beiträge zur Konferenz der International Herder Society in Weimar 2000. Hrsg. von Regine Otto/John H. Zammito. Heidelberg 2001, S. 157–164.
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der älteren Kulturen prägt: »Ganz Europa ist Ein gelehrtes Reich, das Teils durch innern Wetteifer, Teils in den neuern Jahrhunderten durch hülfreiche Mittel, die es auf dem ganzen Erdboden suchte, seine idealische Gestalt gewonnen hat […]« (FHA VI, S. 461), während zum Beispiel China »hinter seinen Bergen« ein »einförmiges verschlossenes Reich« sei (FHA VI, S. 461).140 Ebenso wie bei der Darstellung der antiken Kulturen ist der Geschichtsphilosoph historisch von seinem scheinbaren Hauptgegenstand, der Kultur und dem Nationalcharakter Chinas und anderer asiatischer Hochkulturen, distanziert. Gleichzeitig ist er an der gegenwärtigen Kultur Europas beteiligt, was durch wertende und evozierende Stilmittel deutlich wird.141 Es ist weniger ein hermeneutischer Ansatz, das Vergangene aus dem gegenwärtigen Horizont zu verstehen, als ein synthetisches Verfahren, jede einzelne Kultur in einen Gesamtprozess der kulturellen Evolution der Menschheit einzubinden. Da eine fortschreitende Entwicklung der Menschheit zur Humanität und der Ausdruck des europäischen Ganzen durch den Gegenstand der europäischen Gegenwart nicht eingelöst wird, muss Herder das dynamische Konstrukt Europa auf andere Weise inszenieren: nicht in seiner Gegenwart, sondern als notwendigen Prozess, der das Positive aller Kulturen vereinigt und immer vom Standpunkt eines letztlich nicht fassbaren europäischen Jetzt die Bildung der Menschheit mitmacht und die zwingenden Gesetze erkennt, die diesen Prozess ermöglichen. Die Variation der historischen Distanz garantiert, dass Geschichtsphilosoph und Leser den historischen Prozess aus der unsagbaren Gegenwart, begrifflich von Herder ins Göttliche enthoben, miterleben können. Im vierten Teil der ›Ideen‹ beginnt Herder sich mit den kulturellen Wurzeln der nördlichen europäischen Welt auseinanderzusetzen. Dabei eröffnet er das 16. Buch mit einer paradoxalen Geste, die sich als Grundmuster seines Darstellungsverfahrens erweist: Der Menschheitshistoriker entschuldigt sich beim Leser, dass er jetzt auch über »unsre Vorfahren« 140
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Zum Kontext dieses Vorwurfs des Immobilismus an China bei Voltaire, Herder und Hegel, siehe Martin Bollacher: »Sinesen waren und bleiben sie […]«. Die Darstellung Chinas in der Geschichtsphilosophie Voltaires und Herders. In: Transkulturelle Rezeption und Konstruktion. Transcultural reception and/et Constructions transculturelles. FS Adrian Hsia. Hrsg. von Monika Schmitz-Emans. Heidelberg 2004, S. 91–102, insb. S. 99f. Für ethnische und biologische Verstehensmuster, die in Herders China-Darstellung zu erkennen sind, siehe Sonia Sikka: Herder and the Concept of Race. Herder Yearbook. Publications of the International Herder Society 8 (2006), S. 133–157, insb. S. 137–139. Chunjie Zhang verdeutlicht den philosophischen Hintergrund, auf dem Herders ChinaDenken und die europäischen Chinaängste im 17. und 18. Jahrhundert basieren (From Sinophilia to Sinophobia. China, History, and Recognition. Colloquia Germanica 41 (2008), S. 97–110).
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(FHA VI, S. 677)142 schreiben muss, weil sonst die bereits geleisteten Darstellungen der Kulturen von Asiaten und Afrikanern keine Funktion erfüllten: Denn was hülfe es, von Asiaten und Afrikanern schreiben zu dürfen; wenn man seine Meinung über Völker und Zeiten verhüllen müßte, die uns so viel näher angehen, als alles, was jenseit der Alpen und des Taurus längst im Staube lieget? Die Geschichte will Wahrheit, und eine Philosophie zur Geschichte der Menschheit wenigstens unparteiische Wahrheitsliebe. (FHA VI, S. 677)
Herder beginnt also seine Darstellung Europas, in dem der Fortgang der Humanität durch Bildung gipfelt, mit einem Paradox: Unparteilichkeit und Wahrheit erfordern vom Menschheitshistoriker Distanz auf allen Ebenen; doch »gehn« uns diese Völker viel »näher« an; der Historiker – und seine Leser – sind also in die Darstellung involviert. Hierin deutet sich die Notwendigkeit eines dynamischeren, im historischen Prozess verankerten Wahrheitsbegriffs an. Die Spannung zwischen Distanzierung vom Gegenstand und Gleichzeitigkeit mit der Gegenwart des Gegenstandes erweist sich als umso notwendiger, wenn Europa selbst zum Thema zu werden scheint. In der Fortführung seiner Einleitung in das 16. Buch schreibt Herder dann, dass er erst die kurze Geschichte der nordischen Völker erläutern möchte, bevor »wir« – also Menschheitsphilosoph und Leser in »jene[s] Gebäude […], das unter dem Namen der Europäischen Republik berühmt« ist, eintreten können (FHA VI, S. 678). Doch dies passiert im weiteren Verlauf der ›Ideen‹ gerade nicht. Die »Europäische Republik« erscheint mehr als ein unausgesprochener Fluchtpunkt der Herderschen Geschichtsphilosophie; Europa wird immer mehr als etwas Imaginäres geschaffen, in dem letztlich alles zusammenkommt; ist ein »Gewächs aus Römisch-Griechisch-Arabischem Samen« (FHA VI, S. 707), entsteht aus ›Anderem‹. Die »allmählige Auslöschung der Nationalcharaktere« (FHA VI, S. 706)143 wird nicht als etwas Historisches erzählt. Stattdessen ist das ›Wachsen‹ dieses Europas ein Prozess, den der Leser sieht, ohne am Ende ein klares Bild vom Endprodukt zu erhalten. Mit der Einsicht, dass das Jetzt der Menschheit, das gegenwärtige Europa unsagbar bleibt, geht Herder dem Problem aus ›Auch eine Philoso142 143
Hervorhebung S.J. Vgl. auch Herders Verwendung vom »Allgemeingeist Europa’s«: »Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer Europäischen Nationen gemildert und verändert; ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europa’s schwerlich hätte erweckt werden mögen« (FHA VI, S. 705).
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phie‹ aus dem Wege, die Gegenwart wirklich messen zu müssen.144 Die Gegenwart in den ›Ideen‹ existiert nur in abstrakten Beobachtungen zur Bildung des Menschen. In diesem Prozess zu einem ganzheitlichen Europa der Humanität und Vernunft ist die Gegenwart vorhanden; alles läuft auf sie zu, ohne dass sie historisch konkreter bestimmt werden müsste oder könnte. Dies ermöglicht ein doppeltes Spiel historischer Distanzierung. Einerseits wird das Vergangene bereits typisiert und abstrahiert aus einer affektiven, meistens auch moralischen, sowie aus einer kognitiven Distanz beurteilt. Zugleich ermöglicht nur die Variation dieser Distanz, dass Herder den Prozess zum humanitären Europa skizzieren kann. Wieder erweist sich die Verknüpfung, nicht der historische Inhalt, als das Entscheidende. Der geschichtsphilosophische Text webt ein immer engeres Netz und etabliert damit dieses Europa als letztlich einzig mögliche Konsequenz aus Natur- und Kulturgeschichte. Herders Variation historischer Distanz und dessen Funktion wird noch deutlicher im 18. Buch der ›Ideen‹, das bezüglich seiner Geschichtsschreibung herausragt. Herder verlässt hier in erheblichem Maße seine abstrahierte Natur- und Kulturgeschichtsdarstellung und schreibt über konkrete Ereignisgeschichte bzw. zumindest über historische Personen: insbesondere über Attila, Theoderich, Karl den Großen und Alfred den Großen.145 Dieser auffällige Wechsel des historischen Gegenstandes begründet sich zum einen darin, dass es – außer den Franken – an festen Kulturreichen fehlte, zum anderen in der makrogeschichtlichen Anlage des 18. Buches, zahlreiche Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte in geraffter Form darstellen zu wollen, da diese Jahrhunderte keine systematische kulturelle Einheit besäßen. Für die Frage nach der historischen Distanzierung bedeutet diese Veränderung eine Reduktion der Distanz zwischen Sprecher und histori144
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Insofern ist es konsequent, dass Herder den geplanten fünften Teil der ›Ideen‹ (Bücher 21–25) nicht ausgeführt hat. Für das Inhaltsverzeichnis dieses Plans siehe FHA VI, S. 1152f. Im 24. Buch sah Herder eine Darstellung des »System[s] Europen« und der »Verhältnisse dieses Weltteils zu den übrigen« vor. Hans Adler spricht vom »Monumentalfragment« geschichtsphilosophischer Texte bei Herder, die es diesem unmöglich machen, die ›Ideen‹ abzuschließen (Monumentalfragment und Totalität. Johann Gottfried Herders Stellung zum diskursiven Konstrukt der Geschichtsphilosophie. Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 90 (1998), S. 5–16). Für das Verhältnis von Individual- und Kollektivkräften, siehe auch Wulf Koepke: Das Verhältnis individueller und kollektiver Kräfte in Herders Geschichtsauffassung. In: Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment. Hrsg. von W. Koepke. Columbia, SC 1990, S. 163–173. Koepke untersucht hier allerdings mehr das Potential des kreativen Einzelmenschen als Herders Darstellung konkreter historischer Personen.
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schem Objekt. Der Geschichtsphilosoph nimmt affektiv die Seite der historischen Personen ein, oder verwirft sie wegen ihrer Schwäche. Er wirkt direkt beteiligt. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Identifikation mit Karl dem Großen: »Er [Karl] hatte die Krone [Kaiserkrone] verdient, und o wäre sie mit ihm, wenigstens für Deutschland, begraben!« (FHA VI, S. 781). Diese Distanzreduktion ermöglicht es Herder, einerseits die Entwicklung des Ganzen durch affektive und moralische Nähe zu unterstreichen, auf deren Basis sich letztlich seine Idee einer Europäischen Republik und ihrer Verfassung entfalten kann. Andererseits können durch die Distanzreduktion Verfallsmomente der Geschichte akzeptiert werden: Die eigentliche Einheit des ›Ganzen‹ in der Humanität des Menschen steht aus dieser Perspektive ja erst bevor bzw. bleibt für den Menschen unsagbar; wichtig ist – um mit der Herderschen Metaphorik natürlichen Wachstums zu sprechen – der Beweis, dass im historischen Prozess der ›Samen‹ hierfür gelegt wurde. Aus der Perspektive Herders und des Lesers scheint dieses Ganze im Jetzt stattzufinden, doch dies ist nicht Gegenstand der historischen oder konkret auf die Menschheitsentwicklung bezogenen Teile der ›Ideen‹. Die Geschichte ist ein diskontinuierlicher Prozess in Bruchstücken, wie Herder im abschließenden Teil des 18. Buches – ›Allgemeine Betrachtung über die Einrichtung der deutschen Reiche in Europa‹ – noch einmal explizit betont: »Um diese Bruchstücke, wo jeder Teil ein Ganzes sein wollte, wieder zusammenzubringen, haben alle Reiche Deutscher Verfassung in Europa ein halbes Jahrtausend hin arbeiten müssen« (FHA VI, S. 801). Das Deutsche wird zu einem weiteren Bindemittel Europas. Dies wird im 20. Buch weiter intensiviert, wenn Herder Handels- und Rittergeist als grundsätzliche Prinzipien Europas bestimmt: »Wir fahren also fort, das Triebwerk Europa’s im Ganzen zu bemerken, wie jedes Rad in ihm zu einem allgemeinen Zweck mitwirkte« (FHA VI, S. 854). Gerade der Handelsgeist spiegelt die Verhandlungen wider, die Europa aus dem ›Anderen‹ entstehen lassen und zugleich auf Europas Öffnung zum ›Anderen‹, zum Handeln und Reisen basieren. Somit wird der Ausblick auf die Bildung des imaginären Europa der Humanität und Vernunft ermöglicht. Herders ›Ideen‹ variieren zwischen Anschaulichkeit und kausal-logischer Analyse, zwischen Unparteilichkeit und emotionaler Beteiligung sowie zwischen synthetischer Reisebeschreibung und analytischer Zerlegung einer Kulturepoche. Europa kann – synthetisch – als Ganzes aus der Menschheitsgeschichte entstehen; zugleich können analytisch zahlreiche Diskontinuitäten, wie die Kritik an Kolonialverbrechen, erklärt 176
werden.146 Die vorgeführte Distanzvariation schafft einen hybriden Text, der zwischen Geschichtsschreibung, Geschichtsphilosophie, Naturgeschichte, Anthropologie, Religionsgeschichte mit Referenzen zur Mythologie und Poesie disziplinär kaum einzuordnen ist. Die Offenheit Europas, das letztlich historisch etwas Unsagbares und Unbestimmtes bleiben muss, unterstreicht auch den notwendigen Fragmentcharakter der ›Ideen‹. Die auf das Spätmittelalter einsetzende Neuzeit wird nur im Konflikt von Prinzipien im 20. Buch angedeutet, aber nicht ausgeführt.147 Im bezüglich historischer Singularitäten unbestimmten, positiv besetzten Raum ›Europa‹ sind die Perspektiven des Menschheitsphilosophen und des Lesers angesiedelt. Das Analytische ermöglicht es Herder, seinen von Anfang der ›Ideen‹ an behaupteten Anspruch der Unparteilichkeit und Wahrheit zu behaupten. Dies war in ›Auch eine Philosophie‹ noch nicht möglich, wodurch dort zwar der Prozess der Geschichte inszeniert wird, doch die Polemik letztlich jede analytische Distanzierung überlagert.148 Die geleistete Überlagerung zwischen Unparteilichkeit und emotionaler Involviertheit, die am Anfang des 16. Buches zuerst so paradox erschien, trifft also genau die erzählerische Leistung Herders in den ›Ideen‹. 146
147
148
Insofern sind vorwiegend angloamerikanische Bemühungen, Herder als ›decolonizer‹ und Gegengewicht zu einer eurozentrischen Aufklärung zu lesen – siehe z. B. Bob Chase: Herder and the Postcolonial Reconfiguring of the Enlightenment. In: Questioning History. The Postmodern Turn to the Eighteenth Century. Hrsg. von Greg Clingham. Bucknell Review 41. Lewisburg/London 1998, S. 172–196 – zwar einerseits richtig, aber andererseits ungenau, weil sie die notwendige Spannung zwischen der Inszenierung Europas und einer Aufklärungskritik nicht präzise beschreiben und Herder zu einfach mit postmodernen Ideen in Übereinstimmung bringen wollen. Diese Offenheit Europas kann Herder durchaus zum Vorbild aktueller Europadebatten machen. Die europäische Identität wird benötigt, ohne konkret bzw. historisch genau festzumachen zu sein. In der ›Adrastea‹ scheint sich auf den ersten Blick der resignierende Ton wieder zu verstärken. Die defizitäre Gegenwart wird direkt thematisiert und überblendet kurzzeitig das utopische Potential Europas: »Wie weit schreitet der Geist der Europäer vorwärts! wie fern zurück bleibt ihre Handlungsweise! Ein böser Genius hat sie erfaßt, indem sie andern Völkern Verderben bringen, sich selbst Verderben zu bereiten; stehet ein guter Genius hinter ihm, der unsichtbar dies Gift in Arznei verwandelt? Kein Zweifel; nur Generationen gehen darüber zu Grunde« (FHA X, S. 867). Die Frage nach dem guten Genius beantwortet Herder also optimistisch, indem dies zeitlich – auf Generationen – beschränkt bleibt. Anders als in ›Auch eine Philosophie‹ – »was weiß ich?« (FHA IV, S. 104, siehe III.3) – gibt er eine positive Antwort. Siehe auch die Deutung der Nemesis der Geschichte von Christiane Liermann: Die Nemesis der Geschichte. In: Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre. Hrsg. von Tilman Borsche. München 2006, S. 83–100, hier: S. 100: »Das Vernunft-Maß der Nemesis leitet zwar den Historiker, aber gerade deswegen ist er imstande, die Pluralität der eben auch vernunftlosen, nicht-intentionalen Antriebskräfte des historischen Prozesses zu erkennen«; siehe zudem Michael Maurer: Nemesis-Adrastea oder Was ist und wozu dient Geschichte? In: Herder Today. Hrsg. von Kurt Mueller-Vollmer. Berlin/New York 1990, S. 46–63.
177
5.
Die Überwindung des Sinnbildungsdefizits in Sekundärgeschichtsschreibung
Herder wie Forster inszenieren den Geschichtsprozess. Bei Forster liegt der Schwerpunkt auf der Entwicklung von Zivilisation, bei Herder auf der Entwicklung des Menschen (bzw. der Menschheit). Eine der auffälligsten Parallelen sind die Überschneidung von Natur und Geschichte und die Bedeutung von Erfahrung. Herder steht die Verräumlichung der Geschichte nicht in dem Maße zur Verfügung wie Forster, der auf der ›Reise um die Welt‹ durch die Kulturgeschichte zu reisen scheint. Allerdings nutzt Herder gerade in den ›Ideen‹ die Reise- und Gebäudemetaphorik, um eine derartige räumliche Struktur zu suggerieren. In ›Auch eine Philosophie‹ überwiegt offensichtlich die Temporalisierung, durch die sich der Geschichtsprozess inszenieren lässt. Das Erschließen von Naturgesetzen, das u. a. von Wolfgang Pross als Grundprinzip der ›Ideen‹, um Geschichte zu begründen, angesehen wird,149 hilft Herder einen analytischeren Schreibstil zu entwickeln. Hierdurch lassen sich – wie bei Forster – Auswüchse der Menschheitsgeschichtsentwicklung hinterfragen und kritisieren, ohne die Prinzipien von Bildung und Humanität in Frage stellen zu müssen. Um über das Schematische der Universalgeschichten von Gatterer und Schlözer hinauszugehen, entwickelt Herder das das Positive aller Kulturen vereinigende und im Jetzt nicht fassbare Konstrukt Europa als notwendigen Geschichtsprozess. Dieser Prozess kommt erst in der Geschichtsdarstellung, gerade durch die Variation der historischen Distanz, zur Sprache und ergänzt die Analogie zwischen Natur- und Geschichtsdenken. So werden die notwendige Evolution und das Fortschreiten der Menschheitsgeschichte ausgedrückt. Insofern lässt sich sagen, dass Herder und Forster Darstellungsformen finden, die das Sinnbildungsdefizit der Aufklärung und die Kontingenz des Besonderen in der Geschichte überwinden und notwendige Zusammenhänge in der Menschheits- und Zivilisationsgeschichte ausdrücken können.150 Ungelöst bleibt jedoch das Sinnbildungsdefizit für die deutschsprachige Geschichtsschreibung. Allgemeine Prinzipien eines zivilisationsgeschichtlichen Fortschreitens und der Bildung des Menschen können bei 149 150
Pross: Die Begründung der Geschichte aus der Natur. Zur Innovation bezüglich der Erfassung von Geschichtsstrukturen, siehe auch Maurer, der festhält, wie bedeutsam es für die nachfolgende Geschichtsschreibung ist, dass Herder an genetischen und organischen Modellen das Ganze verstehen möchte und Entwicklung und dynamische Prozesse erfassen kann (Geschichte zwischen Theodizee und Anthropologie, S. 130).
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Forster und Herder inszeniert werden, doch für eine Behandlung konkreter Realgeschichte scheinen weiterhin die erzählerischen Mittel zu fehlen. Herders Geschichtsschreibung kann dies wegen ihres übergreifenden Humanitätsanspruches und aufgrund der Unsagbarkeit der hierfür unbefriedigenden Gegenwart nicht leisten.151 Für eine auf Ereignisse und Personen bezogene Realgeschichtsschreibung bleibt das Sinnbildungsdefizit damit weiterhin gültig. Während die Engländer und Schotten in nationaler Geschichtsschreibung Geschichte erzählen können,152 scheint der geschichtsphilosophische Hintergrund einerseits und die kulturell und politisch zersplitterte Situation der deutschsprachigen Staaten und Fürstentümer andererseits153 eine moderne Geschichtserzählung ebenso wie eine Geschichtsinszenierung im Stile Forsters oder Herders zu verhindern. Entweder die Texte bleiben narrativ marginal – wie im Prolog zu Pütters ›Teutsche Reichsgeschichte‹ (1778) gesehen – oder sie weichen, wie bei Forster und Herder, in Sekundärgeschichten aus, in denen konkrete Ereignisgeschichte untergeordnet bleibt. In den ›Ideen‹ bewegt sich Herder sogar vom Inszenierungspotential fort zugunsten einer beschreibenden-analytischeren Darstellungsweise von Naturgesetzen, wobei der synthetische Inszenierungscharakter als Inszenierung eines imaginären Europas erhalten bleibt. Trotz der Kantschen Polemik an Herders Systematik und Stil macht Herder gerade in den ›Ideen‹ einen entscheidenden Schritt zu verwissenschaftlichen Darstellungsmöglichkeiten von den Gesetzen und Notwendigkeiten der Geschichte. Das Inszenierungspotential, das an Forsters ›Reise um die Welt‹ und Herders ›Auch eine Philosophie‹ erkannt wurde, spielt für die in den beiden folgenden Kapiteln untersuchten Autoren Schiller (Kapitel IV) und Archenholz (Kapitel V) sicherlich weniger im Sinne direkter Einflussgeschichte eine Rolle, sondern als strukturelle Veränderung der Darstellungsmöglichkeiten von Geschichte. In etwa zeitgleich zum Erscheinen des dritten Teils von Herders ›Ideen‹ (1787) gelingt es Schiller in der ›Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹ (1788), die universalgeschichtliche Vorstellung zur Notwendigkeit historischer Entwicklung und realgeschichtliche Konkreta zusam151
152 153
Zum Beispiel bleiben Herders Passagen über die Deutschen im Mittelalter in den ›Ideen‹ relativ schematisch und beschreibend. Die konkreteste Darstellung findet sich in seinen kurzen Charakterporträts wichtiger Herrscher, die im Sinne von Genie bzw. von Denkmälern zum Geschichtsprozess beitragen. Siehe I.2.3. Siehe I.2.4.
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menzubringen. Archenholz vollbringt es in der ›Geschichte des Siebenjährigen Krieges‹ (1793), einen ersten Text über deutsche Geschichte zu schreiben, der reale Ereignisse und geschichtsphilosophische Notwendigkeit vereinen kann.
180
IV. Politische Geschichtsschreibung und die Bühne der Geschichte. Friedrich Schillers ›Abfall der vereinigten 1 Niederlande von der Spanischen Regierung‹1
1.
Innovationen in der politischen Ereignisgeschichte
Sowohl in Forsters Zivilisations- als auch Herders Menschheitsgeschichtsschreibung schaut der Leser niemals auf das eigentliche Geschehen, sondern immer auf eine funktionale Interpretation und Abstraktion.2 In beiden Kapiteln ist deutlich geworden, wie die aufklärerischen Ideen von Fortschritt und Humanität in Verfahren umgesetzt werden, die auf der Darstellungsebene den geschichtlichen Prozess vollziehen lassen. Es entstehen performative Schreibweisen, die das geschichtsphilosophische Modell vertexten und zur Darstellung bringen können. Das Sinnbildungsdefizit wird also nicht nur durch Verfabelung, sondern auch durch die Inszenierung einer sekundären Geschichte, eines Metageschichtsthemas überwunden. Die in der Einleitung diskutierte, gängige These der Forschung seit der Mitte der 1990er Jahre ist, dass die Realgeschichtsschreibung die Erzählverfahren der Literatur, insbesondere des Romans mit dem Schwerpunkt der Verfabelung, übernimmt, um den historischen Prozess in seiner Ganzheit ausdrücken zu können.3 Dabei wird übersehen, dass Verfabelung zwar ein wichtiges Kriterium zur Vertextung von Geschichte ist, aber die Geschichtsschreibung auf die ihr inhärenten Spannungen zwischen Realem und Ideellem, zwischen historischen Fakten und Ganzheit, zwischen Zufall und Teleologie sowie zwischen Fiktion und Wirklichkeit reagieren muss, die anders als in der Literatur nicht aufgelöst werden können. Während die Verfabelungsthese für den englischsprachigen Raum durch1
2
3
Schillers Werke werden zitiert nach Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, seit 1992 im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach a.N., hrsg. von Norbert Oellers. Weimar 1943ff.; im Weiteren wird aus der Schiller-Nationalausgabe direkt im Fließtext in Klammern mit der Sigle NA, Band- und Seitenangabe zitiert. Im Falle Forsters ist dies insofern zu differenzieren, als dass der Reisebericht auf konkreten, ursprünglich präsentischen Beobachtungen aufgebaut ist. Herder bringt den Beobachter metaphorisch als Reisenden in der variierten Erzähldistanz und -perspektive wieder in die Darstellung ein. Siehe I.2.2.
181
aus hinreichend ist,4 weil die Geschichtsschreibung genügend identitätsstiftendes Material zur Verfügung hat, ist der deutsche Kontext durch die extreme Kluft zwischen einer unterentwickelten Darstellung und einem stark ausgeprägten philosophischen und methodologischen Anspruch und Reflexionsniveau geprägt. Für Realgeschichtsschreibung gibt es dabei zwei besondere Probleme. Erstens, wie verhalten sich zufällige, historische Fakten zu einem notwendigen Geschichtsganzen? Wie kann der Historiker ein übergreifendes Schema ausdrücken und zugleich dem historischen Wahrheitsanspruch gerecht werden? Und zweitens, wie kann ein historiographischer Text, der das primäre historische Geschehen erzählt, also von historischen Vorreden abgesehen keine explizite Reflexionsperspektive für den Geschichtsschreiber besitzt, historische Gesetze und Notwendigkeiten darstellen? Friedrich Schillers ›Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹ (1788) ist einerseits als eine erzählerische Leistung einzustufen, mit der das historiographische Defizit der Aufklärungshistoriker überwunden wird.5 Hinzu treten Analogien, allen voran, ähnlich wie bei Herder, gibt es als entscheidende Parallelfigur die Analogie von Natur und Geschichte.6 Sie garantiert in beiden Fällen – also auch in Schillers Ereignisgeschichte – trotz aller historischen Zufälligkeiten das Fortschreiten der Menschheit.7 Zugleich zeigt sich, dass Schiller – wie Forster und Herder – zusätzlich zum literarisch angeregten Erzählen ein performatives Darstellungsverfahren verwendet. Dies basiert auf Mitteln der alten anschaulichen und rhetorischen Geschichtsschreibung, die aber nicht mehr rein exemplarisch fungiert, sondern einen ganzheitlichen historischen Prozess zur Darstellung bringen will. Dabei entwickeln sich in einer Übergangssituation Darstellungsweisen, die spezifisch historiographisch sind, weil sie auf vergangene, außertextuelle Ereignisse und Entwicklungen referieren bzw. diese präsentisch ablaufen lassen, und zugleich erst auf der Ebene der Darstellung den übergreifenden Zusammenhang des geschichtlichen Prozesses erstellen. 4 5 6
7
Siehe I.2.3. Siehe den Bericht zur Schillerforschung in IV.2. Peter Hanns Reill: Schiller, Herder, and History. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer. München 2006, S. 68–78, hier vor allem: S. 68. Johannes Rohbeck argumentiert, dass – im Sinne von Hayden Whites Verfabelung – in Schillers universalgeschichtlicher Erzählung die Menschheit der Held der Erzählung sei (Universalgeschichte und Globalisierung. Zur Aktualität von Schillers Geschichtsphilosophie. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer. München 2006, S. 79–92, S. 87).
182
2.
Die Rezeptionsgeschichte von Schiller als Historiker 8
8
Unabhängig davon, dass sie gerade in der literarischen Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wird, gibt es eine durchlaufende wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte des Historikers Schiller.9 Wichtig für die weitere Analyse von Schillers inszenierender Geschichtsschreibung sind hierbei die angewandten Rezeptionsmuster von Kritik und Forschung. Das Grundmuster der älteren Rezeption – von Schillers Zeitgenossen bis in die 1960er Jahre hinein – ist die Opposition zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtserzählung. Die Bewertung der Schillerschen Leistung als Historiker hängt hierbei davon ab, ob dieser vorwiegend als Geschichtsforscher und -wissenschaftler oder als Geschichtserzähler und Künstler gesehen wird, und welche der beiden Seiten für erstrebenswert gehalten wird. Für die neuere Forschung stehen hingegen heuristische Muster im Vordergrund, die Schiller in die Wissenschaftsgeschichte und in die Geschichte der Erzählung einordnen. Die Spannung zwischen Kunstwerk und Geschichtswissenschaft zeichnet sich schon in der zeitgenössischen Rezeption von Schillers Geschichtsschriften ab. Auf die Veröffentlichung der ›Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande‹ im Oktober 1788 lobt einer der etabliertesten deutschen Historiker, Ludwig Timotheus Spittler, Schillers psycholo8
9
Dieses Teilkapitel ist nicht als vollständige Übersicht über die gesamte Forschung zu Schillers historischen Schriften und seinem Geschichtsdenken zu verstehen, sondern es zeigt die wesentlichen Bewegungen der Forschungsinteressen und -thesen auf, aus denen die These dieses Kapitels über Schillers performative Geschichtsschreibung entwickelt wird. Für einen allgemeinen Überblick von der Rezeptionsgeschichte Schillers als Historiker, siehe insbesondere Horst Walter Blanke: Vereinnahmungen. ›Schiller als Historiker‹ in der Historiographiegeschichte der letzten 150 Jahre. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer. München 2006, S. 104–123; sowie zur Stellung Schillers in der Geschichtswissenschaft Schleier: Die Stellung Schillers in der europäischen Geschichtswissenschaft, insb. S. 135–155. Vgl. auch Jürgen Eder: Schiller als Historiker. In: Schiller-Handbuch. Hrsg. von Helmut Koopmann. Stuttgart 1998, S. 653–698, insb. S. 653–662; sowie Hinrich C. Seeba: Historiographischer Idealismus? Fragen zu Schillers Geschichtsbild. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposion. Hrsg. von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1982, S. 229–249. Für einen Überblick über Schillers Arbeit als Historiker, siehe zudem Otto Dann: Schiller the Historian. In: A Companion to the Works of Friedrich Schiller. Hrsg. von Steven D. Marinson. Rochester, NY 2005, S. 67–86; und mit Bezug auf die ästhetische Funktion von Geschichtsschreibung Dirk Oschmann: Friedrich Schiller. Köln / Weimar / Wien 2009, S. 75–84. Die Übersichtsarbeiten zu Schiller als Historiker haben in letzter Zeit allerdings deutlich überhand gewonnen, sodass oft ohne spezifischere Fragestellung nur Altbekanntes wieder aufbereitet wird, so z. B. bei Anna Nalbandyan: Schillers Geschichtsauffassung und ihre Entwicklung in seinem klassischen Werk. Hamburg 2008, S. 13–36.
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gischen Blick und dessen Potential, ein »unübertrefflicher Erzähler« zu werden, »ein Gegenbild der unglücklichen Art zu erzählen, womit mancher deutsche Historiker und Schriftsteller sich so furchtbar macht«.10 Spittler schließt damit an Lessings Diktum über die deutsche Geschichtsschreibung von 175911 an, vergibt Schiller sogar mögliche Ungenauigkeiten im Stoff, aber vermisst dennoch das Historische und eigentümlich Geschichtliche an der Darstellung.12 Insofern erklärt sich, dass Spittler im obigen Zitat nicht vom unübertrefflichen historischen Erzähler spricht, und die Bewertung Schillers als einem historischen Erzähler erst indirekt durch einen Vergleich in seine Rezension hineinfügt. Schiller ist nicht wirklich historisch, sondern letztlich doch mehr literarisch; zugleich hat er aber etwas durchaus Historisches produziert. Diese Ambivalenz von Akzeptanz und gleichzeitiger Nicht-Akzeptanz prägt die weitere Rezeptionsgeschichte. Das bekannteste gegenläufige Extrem, wonach Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ nicht genug Kunst sei, ist die Rezeption von Schillers Freund Christian Gottfried Körner, der Schillers darstellerische Leistung lobt.13 Körner hält fest, dass es Schiller nicht möglich war, ein »historisches Kunstwerk zu liefern«.14 Das Ideal könne nicht erfüllt werden, weil zum einen das historische Material diesem widerspreche, zum anderen aufgrund von Schillers Ziel der Unparteilichkeit, sodass die Idealisierung nicht vollends gelingen könne. Der Leser werde nicht vollkommen für die Niederländer eingenommen. Körner schreibt an Schiller: »Du wolltest dem gesammleten Stoffe die beste mögliche Form geben und jede Gelegenheit nutzen durch den Gehalt der Details für den Verlust an Schönheit des Ganzen zu entschädigen.«15 Körner erkennt die Grenzen von Schillers Geschichtsschreibung für eine idealistische Erfassung des Ganzen. Sein Unterton ist skeptischer als in seiner ersten Reaktion auf die 10
11
12 13
14 15
Zitiert nach Otto Dann: Stellenkommentar. In: Friedrich Schiller: Historische Schriften und Erzählungen I. Hrsg. von O. Dann. In: F. Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von O. Dann et al. Bd. 6, Frankfurt a.M. 2000, S. 727–809, hier: S. 752. Lessing notiert zu einem Zeitpunkt, da die Geschichtsschreibung noch zur Literatur bzw. den schönen Künsten gehörte, »daß es um das Feld der Geschichte […] noch am schlechtesten aussehe«. Geschichte sei entweder nur gelehrte Geschichtserkundung oder schöne Geschichtsschreibung, aber Stoff und Inhalt kämen nicht zusammen (Gotthold Ephraim Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend 1759–1765. 52. Brief. In: Lessing, Werke in drei Bände. Bd. 2, S. 861–873, hier: S. 861). Zitiert nach Dann: Stellenkommentar. Bd. 6, S. 752. Christian Gottfried Körner an Friedrich Schiller, 9. oder 10. (?) November 1788. In: NA 33,I. Briefwechsel. Briefe an Schiller 1781–28.2.1790 (Text). Hrsg. von Siegfried Seidel. 1989, S. 244–247. NA 33,I, S. 244. NA 33,I, S. 244.
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Veröffentlichung des einleitenden Kapitels im Januar- und Februar-Heft des ›Teutschen Merkur‹, in dem er die Hoffnung auf ein historisches Kunstwerk ausdrückt.16 Generell wird Schiller für sein Erzählen gelobt; die Geschichtsforschung nimmt ihn hingegen bestenfalls zweideutig auf.17 Im 19. Jahrhundert wird dies in den vernichtenden Bemerkungen Niebuhrs und Rankes besonders deutlich,18 wobei Niebuhr Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ als »garstige[s] Ungeheuer«, das nicht einmal erträglich geschrieben sei, abkanzelt.19 Es lassen sich also zwei Entwicklungslinien ausmachen: Die eine sieht Schillers Geschichtsschreibung vorwiegend als Mittel zum künstlerischen bzw. philosophischen Zweck; die andere konzentriert sich stärker auf Schiller als Geschichtsforscher. Die Bewertung von Schillers (historischen) Erzählkünsten wird von beiden Seiten vorgenommen, oft gepaart mit dem Stilbegriff, zum Beispiel, wenn Körner Schillers Stil als »einfach und edel« beschreibt,20 aber eben auch als nicht erfüllten historischen Stil, wie bereits in Spittlers Anzeige des ›Abfalls der vereinigten Niederlande‹ gesehen.21 Die beiden Interpretationswege setzen sich in der weiteren Rezeptionsgeschichte fort. Die philosophisch-künstlerische Interpretation findet sich in hegelianischen Interpretationen, wie bei Karl Grün, der 1844 ein Modell entwickelt, nach dem Schiller vom subjektiven Geschichtsschreiber im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ über die Antrittsvorlesung bis zur »objektive[n] Kaltblütigkeit« der philosophischeren Geschichtsschreibung in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ fortschreitet.22 Während Schiller noch im Niederlande-Text »die Geburt des Zufalls anstaunte« »geht [ihm, S.J.] [e]rst mit der Antrittsrede zu Jena […] der Begriff der Teleologie auf«.23 Das Ganze überwinde zunehmend das Einzelne. Dieses Ganze werde jedoch in Dichtung, namentlich im ›Wallenstein‹, 16 17 18 19 20 21 22
23
Christian Gottfried Körner an Friedrich Schiller, 29. Februar 1788. In: NA 33,I, S. 172f. Vgl. Theodor Schieder: Schiller als Historiker. In: Schieder, Begegnungen mit der Geschichte. Göttingen 1962, S. 56–79, S. 56, Anm. 2. Schieder: Schiller als Historiker, S. 269 (Endnote 3). Zitiert nach Schieder: Schiller als Historiker, S. 269 (Endnote 3). NA 33,I, S. 245. Siehe auch zu Schillers eigenem Stilbegriff Abschnitt IV.3.2. Karl Grün: Friedrich Schiller als Mensch, Geschichtsschreiber, Denker und Dichter. Ein gedrängter Kommentar zu Schiller’s sämmtlichen Werken. Leipzig 1844, S. 135–169, Zitat auf S. 160. Wobei Grün Schiller ständig kritisch am »göthische[n] objektive[n] Styl« (S. 167) misst, und letztlich Schillers Geschichtsschreibung nur in die die ›richtige Richtung‹ sich entwickeln sieht, ohne wirklich »wahre historische Kunst« (Ebd., 164) zu werden. Grün: Friedrich Schiller als Mensch, S. 141.
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weit besser dargestellt.24 Dieser Faden wird in der späteren Rezeptionsphase Schillers im 20. Jahrhundert, insbesondere in den Publikationen zum 200. Geburtstag Schillers im Jahr 1959, wieder aufgenommen. Golo Mann lobt den Stil des »große[n] Geschichts-Erzähler[s]« Schiller: »Sein edler Stil, die Energie seiner Satzrhythmen, seine zugleich prachtvolle und sparsame, den vorwärts drängenden Gang der Erzählung nie hemmende Rhetorik erhoben ihn weit über die Zeitgenossen, aus denen er schöpfte.«25 Doch wieder ist das Lob von Schillers Stil relativ. Mann sieht das Ganze erst im ›Wallenstein‹ vollständig umgesetzt, in dem Schiller Künstler, Philosoph und Historiker zugleich sei:26 »Es war die Intuition des Dichters, die aus dürftigen Fragmenten ein Ganzes schuf: ein Ganzes der Kunst und der Wahrheit.«27 Auch wenn er Schiller präziser in den Diskurs geschichtswissenschaftlicher Fragen einordnet, kommt Theodor Schieder zu dem ähnlichen Ergebnis, dass Schiller letztlich in seiner Dichtung eine bessere Einsicht in den Charakter Wallensteins gewonnen habe.28 Insofern erfüllt Schillers Geschichtsschreibung nie vollständig die an sie angelegten ästhetischen Erwartungen. Der andere Interpretationsweg von Schillers historischen Schriften, in dem diese als Geschichtsforschung aufgefasst werden, entfernt sich zunehmend von der Bewertung von Schillers Erzählstil. Stattdessen verschieben die positivistischen und philologischen Ansätze des späteren 19. Jahrhunderts die Diskussion stärker zur Methodik und Quellenbenutzung Schillers. Am bekanntesten ist die Schillerkritik von Johannes Janssen, der Schillers Geschichtsschreibung mit den Worten »geistvolle Luftgebilde«,29 »willkürliche Construktionen« und »einem tendenziös aufgeputzten falschen Pragmatismus«30 beschreibt. Dabei ist er dem ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ besonders kritisch gegenüber. Schiller sei als Muster für die Dichter, aber keinesfalls für die Historiker zu empfehlen. Ein zentraler Kritikpunkt Janssens ist, dass die Geschichte nicht im 24 25 26 27 28
29 30
Grün: Friedrich Schiller als Mensch, S. 160. Golo Mann: Schiller als Historiker. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 4 (1960), S. 98–109, hier: S. 99. Mann: Schiller als Historiker, S. 109. Mann: Schiller als Historiker, S. 103. Schieder: Schiller als Historiker, S. 78f. Schieder unterscheidet hierbei deutlich zwischen den Diskursen von Geschichtsschreibung und historischer Dichtung. Erstere besitzt die rationaleren Methoden, letztere bietet die Möglichkeit verstärkter intuitiver Einsicht. Siehe hierzu u. a. auch Peter Höyng: Kunst der Wahrheit oder Wahrheit der Kunst? Die Figur Wallenstein bei Schiller, Ranke und Golo Mann. Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 82 (1990), S. 142–156. Johannes Janssen: Schiller als Historiker (1863). 2. Aufl. Freiburg i.Br. 1879, S. 192. Janssen: Schiller als Historiker, S. 193.
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»Geiste« des 16. Jahrhunderts, sondern »nach den ›philosophischen‹ Voraussetzungen des achtzehnten Jahrhunderts« geschrieben sei.31 Die Frage nach Schillers Umgang mit den Quellen und seiner Repräsentation des ›eigentlichen‹ historischen Geschehens wird zum Zentrum der Schiller-Forschung.32 Bei Karl Tomaschek bzw. Ottokar Lorenz wird im Jahre 1862 zwar Schillers Geschichtsforschung und Geschichtsdichtung kritisch bedacht, aber zugleich diskutiert, dass Schillers Benutzung der verschiedenen, ihm zur Verfügung stehenden Quellen weitaus genauer sei, als zuvor angenommen.33 Lorenz hält aber auch fest, dass Schiller keine Quellenkritik im strengen Sinne betrieben habe.34 Körners Kritik wird im Fazit umgedreht und argumentiert, dass Schiller im Spiegel seiner Zeit unparteilich argumentiert habe.35 Auch wenn Schiller nach den Maßstäben der Geschichtsforschung um 1860 stofflich überholt sei und sein Idealismus und die spekulative Methode durch Analogien in der Geschichtsschreibung nicht mehr zeitgemäß seien,36 sei »Sch[iller]s historische Thätigkeit als ein Glied in der Kette historiographischer Entwickelung« zu betrachten.37 Auch zeigt sich bei Lorenz eine Ambivalenz gegenüber Schillers Geschichtserzählen, die nicht ganz aufgelöst wird. Der Text schafft Achtung für Schillers Historiographie und verwirft diese zugleich. Gipfelnd in Richard Festers Studien zu den historischen Schriften der Schillerschen ›Säkularausgabe‹ weist dieser im Anschluss an die Studien von Theodor Kükelhaus38 Schillers umfassenden Umgang mit den Quellen ebenso nach wie einen für Schillers Zeit präzisen Umgang mit Fuß31
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Janssen: Schiller als Historiker, S. 36. Janssen bezieht sich in diesem Zitat insbesondere auf die Darstellung der spanischen Inquisition. Ob der katholische Priester und Geschichtsgelehrte, im 19. Jahrhundert höchst kritisch als parteiisch rezipiert, dabei ausschließlich an katholischer Propaganda interessiert ist, ist nicht entscheidend, sondern der Vorwurf an Schiller, nicht die Vergangenheit an sich dargestellt zu haben. Hierbei handelt es sich allerdings nach den Verdikten der Historiker Niebuhr, Ranke und Janssen vornehmlich um Literaturwissenschaftler, um die Textphilologen der damaligen Zeit. Karl Tomaschek: Schiller in seinem Verhältnisse zur Wissenschaft. Wien 1862. O. Lorenz hat den Teil dieser Arbeit zu den historischen Schriften geschrieben. Tomaschek: Schiller in seinem Verhältnisse zur Wissenschaft, S. 77. Tomaschek: Schiller in seinem Verhältnisse zur Wissenschaft, S. 88f. Vgl. hierzu auch Carl Twesten: Schiller in seinem Verhältniß zur Wissenschaft. Berlin 1863. Aus heutiger Perspektive liest Georg Schmidt Schillers analogisches Geschichtsdenken deutlich positiver (Analogien bilden. Schillers Konzept der Universalgeschichte und seine Geschichte des ›Abfalls der vereinigten Niederlande‹. In: Wege der Neuzeit. FS Heinz Schilling. Hrsg. von Stefan Ehrenpreis et al. Berlin 2007, S. 533–551). Tomaschek: Schiller in seinem Verhältnisse zur Wissenschaft, S. 131. Vgl. die Erläuterungen von Theodor Kükelhaus in: Schillers Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. 14 Bde. Hrsg. von Ludwig Bellermann. Bd. 6, 7 und 14. Leipzig/Wien [1895–1897].
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noten.39 Diese Deutung bleibt aber rein positivistisch. Sie ist ein editorischer Nachweis, wie Schiller gearbeitet hat. Ein übergreifendes Verfahren oder gar deren textuelle und ästhetische Auswirkungen erkennt sie nicht. In jüngerer Zeit – insbesondere seit dem 1995 von Dann, Oellers und Osterkamp herausgegebenen Band ›Schiller als Historiker‹,40 zuvor bei Hinrich C. Seeba,41 in der Folgezeit in den Dissertationen von Fulda, Süßmann und Prüfer, in weiteren Publikationen zu Schillers 200. Todesjahr sowie in dem 2006 erschienen Sammelband ›Schiller und die Geschichte‹42 – ist das Forschungsbild vom Historiker Schiller erheblich erweitert worden. Dabei weicht die Spannung zwischen großem Kunstwerk und adäquater Geschichtsforschung zunehmend der heuristischen Fragestellung, wie Schillers Geschichtsschreibung und Geschichtsreflexionen in übergreifende wissenschaftsgeschichtliche und ästhetische Zusammenhänge einzuordnen seien. Solche Einordnungen sind – wie oben gesehen – natürlich schon bei anderen Autoren, zum Beispiel bei Tomaschek/Lorenz vorgenommen worden, doch dort standen sie immer noch vorwiegend unter einer wertenden Perspektive. In der neueren Forschung geht es hingegen nicht mehr darum, ob Schiller Kunst, Philosophie oder Geschichtsschreibung betreibe, und was davon erstrebenswert sei, sondern wie seine historischen Schriften funktional einzuordnen seien. Zuerst einmal gibt es die stark ideengeschichtlich orientierte Forschung, die versucht, die Inhalte von Schillers idealistischer Philosophie auch anhand seiner historiographischen Werke nachzuvollziehen.43 Vorherrschend sind dabei einfluss- und ideengeschichtliche Studien zu Schil39
40 41 42
43
Richard Fester: Vorstudien zur Säkularausgabe der historischen Schriften Schillers (Werke XIII–XV). Euphorion 12 (1905), S. 78–142. Friedrich Schiller: Historische Schriften. 3 Bde. Hrsg. von Richard Fester. Bd. 13–15. In: Schillers Sämtliche Werke. SäkularAusgabe in 16 Bänden. In Verbindung mit Richard Fester et al., hrsg. von Eduard von der Hellen. Stuttgart/Berlin [1904/05]. Diese Nachweise werden von den verschiedenen Autoren dieser Zeit in der Regel für alle historischen Schriften Schillers vorgenommen; die Wissenschaftlichkeit vom ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ ragt aber im Vergleich zur ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹, der von Schiller im ›Historischen Calender für Damen‹ für ein stärker zu unterhaltendes Publikum geschrieben wurde, und Schillers weiteren historischen Schriften heraus. Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp (Hrsg.): Schiller als Historiker. Stuttgart/ Weimar 1995. Seeba: Historiographischer Idealismus. Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer (Hrsg.): Schiller und die Geschichte. München 2006. Vgl. auch Friedrich Schiller. 200e anniversaire de sa mort. Histoire et historiographie. Sonderheft Études Germaniques 60,4 (2005). Dies gilt auch für die meisten Beiträge in Dann/Oellers/Osterkamp: Schiller als Historiker.
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lers Stellung zwischen Aufklärungshistorie, Kant und Humboldt.44 »Unsere Fragen sind, welche Position Schiller vertritt, mit welchen Autoren oder Schulen er sich auseinandersetzt, welche Reaktionen er auslöst.«45 Die programmatischen Äußerungen Schillers in Briefen, Vorlesungen und Einführungen sind in diesen Überlegungen besonders bedeutsam. Dieser rekonstruktive Ansatz gipfelt in Thomas Prüfers in ihrer inhaltlichen Genauigkeit exzellenten Studie zu Schillers Geschichtsdenken im Kontext der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft.46 Prüfer kombiniert ein biographisch erschlossenes Schillerbild mit dessen Einordnung in die Wissenschaftsgeschichte der Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts. Schiller glaube durch die Verbindung von Wissenschaft und Kunst als höchstes Ziel der Geschichtsschreibung die Bildung des Menschen zur Humanität zu erreichen.47 Diese »Bildung der Geschichte« führt Prüfer im Weiteren im Geschichtsdenken von Schiller und seiner Zeit minutiös vor, um letztlich die Jenaer Antrittsvorlesung als »erste moderne Historik«48 zu bewerten und damit als Beginn »der sich selbst begründenden modernen Geschichtswissenschaft.«49 Die Geschichtsbildung wird durch die historische Sinnbildung als schöpferisch-gestaltender Akt begriffen. Der Historiker greift entsprechend in das Geschichtsgeschehen ein und bildet den Stoff der Überlieferung zu einer sinnvollen Überlieferungsgeschichte um.50 In der Ermöglichung historischer Sinnbildung in der Überschneidung von Kunst und Wissenschaft – der kunstvollen Wissenschaft – bzw. der Ästhetisierung der Geschichte überschneidet sich Prüfers Studie eng mit Daniel Fuldas Schiller-Lektüre in ›Wissenschaft aus Kunst‹.51 Anders als Prüfers Rekonstruktion des Geschichtsdenkens ist Fuldas Ansatz stärker 44
45 46 47 48 49 50 51
Hierzu siehe z. B. Ulrich Muhlack: Schillers Konzept der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus. In: Schiller als Historiker. Hrsg. von Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp. Stuttgart/Weimar 1995, S. 5–28; sowie Helmut Koopmann: Schiller und das Ende der aufgeklärten Geschichtsphilosophie. In: Schiller heute. Hrsg. von Hans-Jörg Knobloch/H. Koopmann. Tübingen 1996, S. 11–25. Im ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ wie in der zwei Jahre später entstandenen Antrittsvorlesung sind die aufklärerischen Geschichtsmuster unverkennbar. Siehe auch Eder: Schiller als Historiker, S. 666. Muhlack: Schillers Konzept der Universalgeschichte, S. 9. Prüfer: Die Bildung der Geschichte. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 110. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 353. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 356. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 352f. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 228–263. Für eine ausführliche Diskussion von Fuldas grundsätzlichem Ansatz und Thesen, siehe I.3.1.
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funktionsgeschichtlich. Schillers Geschichtsschreibung wird von vornherein in der Wissenschaftsgeschichte zwischen Aufklärungshistorie und historistischer Geschichtsschreibung situiert.52 Die klassizistisch-idealistische Ästhetik Schillers eignet sich als ein Paradefall des Übergangs zwischen den beiden historiographischen Paradigmen. Fulda konzentriert sich vornehmlich auf die literarische Fabelstruktur, deren Anlage im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ ebenso wie in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ deutlich wird, aber nicht vollends ausgeführt werden konnte. Damit überwindet Schiller das Erzähldefizit der pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung, ohne schon die Fabel der großen Geschichtserzählungen des 19. Jahrhunderts produzieren zu können. Ein weiteres Erklärungsmuster dieses Modernisierungsprozesses ist – wie schon in der Einleitung angedeutet53 – die Verschiebung vom Exemplarischen (der alten rhetorischen Geschichtsschreibung) zum Genetischen der historistischen Geschichtserzählung:54 Daß die exemplarische Sinnbildung in seinen [Schillers, S.J.] historischen Schriften, zumal im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹, noch stark präsent ist, an der Textoberfläche jedenfalls stärker als die genetische, verdankt sich überdies ihrer eigentümlichen Struktur: Vergangenheit und Gegenwart können unter exemplarisch verwirklichten moralischen oder politischen Prinzipien immer wieder explizit kurzgeschlossen werden, wohingegen eine genetische Sinnbildung vor allem in die Makrostruktur des ganzen Textes eingesenkt passiert.55
Die von Fulda verwandte Metaphorik der »Fabel des Ganzen«56 lässt sich als genaues Resultat der ästhetisch-idealistischen Debatte zwischen Schiller und Körner lesen. Jüngst stellt auch Peter-André Alt die narrative Strukturierung von Schillers Geschichtsdiskurs und dessen Verlagerung von der Rhetorik in die Ästhetik in den Vordergrund.57 Alt betont, dass die narrative Organisation des historiographischen Diskurses nicht nur ein Resultat poetischer Imagination sei, sondern eine epistemische Qualität beinhalte.58 Die narrative Darstellung ermögliche es Schiller, Kontin52 53 54 55 56 57 58
Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 261f. Zur Rolle Schillers als Historisten, siehe auch Seeba: Historiographischer Idealismus, S. 237–240. Siehe I.3.1. Siehe zur Ablösung von der alten Regelrhetorik und Entwicklung einer neuen ›re-rhetorisierten‹ Ästhetik I.3.1. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 253. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 254. Peter-André Alt: Natur, Zivilisation und Narratio. Zur triadischen Strukturierung von Schillers Geschichtskonzept. Zeitschrift für Germanistik N.F. 18 (2008), S. 530–545. Alt: Zivilisation und Narratio, S. 530.
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genz in Ordnung zu verwandeln, die Teleologie der Natur als Schauplatz der Zivilisationsgeschichte zu verhandeln.59 Trotz der verstärkten Beschäftigung mit Schillers historischen Schriften in den letzten fünfzehn Jahren60 ist aber nun auch bei der neueren Forschung auffällig, dass sich über eher allgemeine Bemerkungen zu Schillers Stil, zum dramatischen Aufbau der Geschichtsschreibung und zu seiner Rhetorik hinaus nur wenige Forscher ernsthaft mit den poetischen und ästhetischen Prinzipien der Sprache Schillers, also mit seinen Schreibverfahren beschäftigt haben. Einfluss- und Ideengeschichte sowie Geschichtsdenken und die Rezeptionsgeschichte von Schiller als Historiker stehen im Vordergrund, obwohl die Diskussion vielfach von Literaturwissenschaftlern geführt wurde. Die auffälligsten Ausnahmen zum ›Abfall der vereinigten Niederlande‹61 sind die Arbeiten von Ernst Osterkamp62 und Johannes Süßmann.63 In Fuldas Untersuchung zu Schiller beschäftigt sich dieser – wie gesehen – mit der Verfabelung von Schillers Geschichtsschreibung, wodurch diese anhand isolierter Textbeispiele zwischen exemplarischer und genetischer Geschichtsdarstellung verortet wird. Johannes Süßmann macht in einer narratologischen und dramen59
60
61 62
63
Alt: Zivilisation und Narratio, S. 544. Alt beschränkt sich aber letztlich auf eine nennenswerte Untersuchung zur (rhetorischen) Erzählstruktur in Schillers Geschichtsdenken. In dem Augenblick, in dem er kurzzeitig auf das Erzählen historiographischer Texte eingeht, wird die Analyse ungenau, wie in Alts Verwendung der Begriffe interner Fokalisierung und Nullfokalisierung, die Alt letztlich mit der Frage der historischen Distanz verwechselt, deutlich wird. Erstere ist für Alt jede Erzählung, die Geschichte aus der Nahdistanz erzählt; Nullfokalisierung muss die Selbstreflexion der Darstellung durch den Historiker beinhalten (Ebd., S. 537f.). Zur internen Fokalisierung in Schillers Geschichtsdarstellung, siehe stattdessen IV.8. Vorläufer dieser Entwicklung war Hinrich C. Seeba, der im Jahr 1985 den Terminus ›historiographischer Idealismus‹ für Schillers Geschichtsschreibung prägte (Seeba: Historiographischer Idealismus). Zu Analysen und Forschungsansätzen bezüglich Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹, siehe auch IV.9. Ernst Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts. Historische Portraitkunst in Friedrich Schillers Geschichte des ›Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹. In: Schiller als Historiker. Hrsg. von Otto Dann/Norbert Oellers/ Ernst Osterkamp. Stuttgart/Weimar 1995, S. 157–178; dieser Text wurde mit anderer Einleitung und leichten Änderungen wieder veröffentlicht als ›Friedrich Schiller als Historiker‹ (in: Friedrich Schiller. Goethes großer Freund. Texte zur gegenwärtigen Einschätzung des Dichters. Hrsg. von der Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. Halle an der Saale 2002, S. 38–63). Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 75–112. Siehe zudem für einen ersten Entwurf der in diesem Kapitel ausführlich dargestellten Überlegungen zu Schiller Geschichtsdarstellung, Stephan Jaeger: Die Beredsamkeit des Prinzen von Oranien oder Friedrich Schillers ästhetische Erfindung modernen Geschichtsdenkens. In: Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850. Hrsg. von Britta Herrmann/Barbara Thums. Würzburg 2003, S. 95–114.
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theoretischen Analyse des gesamten Textes ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ eine fünfaktige Dramenstruktur aus. Er ist insofern bezüglich einer gelungenen genetischen Erzählung optimistischer als Fulda. Süßmann betont stärker die dramatischen Elemente von Schillers Geschichtsschreibung und diskutiert die Rolle der unterschiedlichen historischen Subjekte. Ein grundlegendes Kriterium, mit dem sich Süßmann von fast der gesamten Schiller-Forschung, einschließlich dieser Untersuchung, zu unterscheiden sucht, ist die strikte Trennung von dessen Geschichtsschreibung als Gebrauchstexte für ein weites Publikum und den universalhistorischen Texten und Vorlesungen, also zwischen Individualund Universalgeschichte.64 Im Endeffekt ist das Resultat jedoch durchaus ähnlich zu Fulda – eine Fortschrittsgeschichte mit leicht veränderten Kriterien.65 Süßmann räumt Schillers Stellung etwas mehr Eigenwert als »literarische Geschichtsschreibung«66 ein. Schiller vollziehe »einen epochalen Schritt von der untergegangenen objektivistischen zu einer neuen subjektivistischen Geschichtsschreibung«.67 Die Historiographie sei eine »vergegenwärtigende Gestaltung des gereinigten Wissens über die Vergangenheit«, die mit Hilfe der Einbildungskraft, nicht in den Quellen, hervorgebracht werde.68 Dies könnte auch bei Prüfer stehen, ebenso wie sich die Quintessenz von Süßmanns Schiller-Analyse ohne Mühe in Fuldas Argumentation einpassen lässt, wenn er argumentiert, dass der Geschichtsschreiber so zu erzählen habe, dass das historisch Richtige als Notwendiges erscheine, und so Roman und Geschichtsschreibung dasselbe narrative Ziel verfolgen.69 64
65
66 67 68 69
Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 81. Darüber hinaus plädiert Süßmann für eine Textsortenlehre der Geschichtsliteratur (Ebd., S. 1–25), die er hier zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsroman differenziert und deren unterschiedliche Konstitutionslogiken er herausarbeitet. Vgl. auch I.3.1. Die Auseinandersetzung mit Fulda findet in einer langen Fußnote statt (Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 31), was insofern irritiert, da die Resultate der unterschiedlichen Wege – Süßmann bemerkt bis zu einem gewissen Grad zu Recht, dass Fulda dazu neigt, theoretische Aussagen zu stark auf Texte zu übertragen – doch sehr ähnlich sind. Damit begibt Süßmann sich der Chance, in einem präzisen Vergleich nachzuweisen, inwiefern seine Kriterien von Textsortenlehre, Ausschluss von Schillers universalhistorischer Theorie und Fokussierung auf die Struktur der Texte, wirklich zu anderen Ergebnissen als die These von der ästhetisch begründeten, zunehmenden Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung führen. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 112. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 83. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 83. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 85. Zu Schillers ›neuer‹ Schreibweise, siehe auch Daniel Fulda: Schiller als Denker und Schreiber der Geschichte. In: Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten. Hrsg. von Hans Feger. Heidelberg 2006, S. 121–150, insb. S. 135.
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Ernst Osterkamp konzentriert sich hingegen auf die Funktion von Schillers Charakterportraits, insbesondere im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹, wobei er zeigt, wie Schiller historische Personen – gerade in szenischer Darstellung – verallgemeinert, sodass diese sich an den überlieferten Fakten reiben.70 Er zeigt, wie Schiller das historische Subjekt ästhetisch konstruiert, wodurch die »überzeitlichen Erlebnisweisen, Seelenzustände, Handlungsmöglichkeiten, Ausdrucksformen des Menschen schlechthin erkennbar« werden.71 Dies gelingt gerade in den Charakteristiken, deren antike Traditionslinien Schiller mit Hilfe der modernen Erfahrungsseelenkunde vereint, sodass im Individuum die Gattung erscheint. Mit dieser ästhetischen Konstruktion wird das historische Paradigma verallgemeinert und Schiller überschreitet die Kompetenzen des Historikers.72 Grundlegend für die Analyse der Darstellungsmöglichkeiten des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist zudem, dass Osterkamp als einer der wenigen Forscher zu Schillers historischen Schriften zeigt, wie antike rhetorische Darstellung ästhetisiert wird. Auch der von Michael Hofmann, Jörn Rüsen und Mirjam Springer herausgegebene Sammelband ›Schiller und Geschichte‹73 ordnet Schiller kontextuell ein, diesmal stärker in den europäischen Geschichtsdiskurs.74 Dabei wird eine Neubewertung von Schillers historischen Schriften im Namen des ›linguistic turn‹ in der Geschichtswissenschaft – ähnlich wie bei Fulda – vertreten,75 der jedoch vorwiegend die Akzeptanz der Bedeutung narrativer Strukturen geschichtlichen Wissens und historischer Repräsentation fortführt.76 Geschichtsdenken und funktionaler Geschichtsdiskurs bleiben hier gerade für die Geschichtsschreibung deutlich prominenter als die Untersuchung der konkreten Geschichtsdarstellung. Dass Michael Hofmann das Ergebnis der Einsichten durch den ›linguistic 70 71
72 73 74 75 76
Siehe z. B. für den Prinzen von Oranien Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 174–177. Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 168. Siehe hierzu auch Daniel Fulda: »Sçavoir l’Histoire; c’est connoitre les hommes«. Figurenwissen und Historiographie vom späten 17. Jahrhundert bis Schiller. In: Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Hrsg. von Lilith Jappe/Olav Krämer/Fabian Lampart. Berlin/New York 2011. Im Druck. Für die Überlassung des Manuskripts dieses wichtigen Aufsatzes bedanke ich mich ganz herzlich bei Daniel Fulda. Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 169. Hofmann/Rüsen/Springer (Hrsg.): Schiller und die Geschichte. Vgl. insbesondere Schleier: Die Stellung Schillers. Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer: Einleitung. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von M. Hofmann/J. Rüsen/M. Springer. München 2006, S. 7–12. Diese können dann z. B. in Jörn Rüsens Typologie von Geschichtsdarstellungen erfasst werden (Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens).
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turn‹ ausgerechnet bei Thomas Prüfer sieht,77 dessen Arbeit ausschließlich eine Deutung theoretischer Aussagen in Schillers Geschichtsdenken ist, also konkrete Darstellungsverfahren in keiner Weise untersucht, ist typisch für die deutsche Geschichtswissenschaft und einen Teil der sich mit Geschichtsschreibung beschäftigenden Germanistik, die die Erzählung vorwiegend ideengeschichtlich in einer Wissensgeschichte vereinnahmen will. Vom ersten Augenblick an – in der zeitgenössischen Diskussion – wird Schillers Geschichtsschreibung doppeldeutig rezipiert. Trotz allen Lobs ist niemand ganz zufrieden. Einerseits wird die erzählerische Leistung gelobt, andererseits erscheint diese – im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ – oft vereinzelt oder exemplarisch, nicht das Ganze ausdrückend. Im 19. Jahrhundert kehrt sich diese Bewertung um; aus der Perspektive eines Wissenspositivismus wird Schillers historische Methodik und Quellenarbeit kritisiert, um gleichzeitig festzustellen, dass diese – für die damalige Zeit – ja keineswegs schlecht war. Das Lob von Schillers Stil um 1960 kommt mit der Einschränkung, dass dieser letztlich doch am besten Geschichte in der Dichtung, also im historischen Drama geschrieben habe. Sogar die wissenschaftsgeschichtlichen Einordnungen von Fulda und Prüfer ordnen Schiller bei aller Modernität auf einer Schwelle zu dieser ein, die dann von Ranke bzw. Droysen, angeregt durch klassizistisch-idealistische Ideen, eingelöst wird. Und natürlich ist Schiller kein genuiner Vertreter eines ›linguistic turn‹ in der Geschichtsschreibung, aber seine sprachliche Darstellung macht ihn modern, wie zum Beispiel bei Hofmann/Rüsen/Springer zu sehen ist. Mit anderen Worten verbleibt Schillers Historiographie in einer Ambivalenz zwischen Neuheit und Übergang, zwischen Gelingen und Scheitern. Er befriedigt den Diskurs der Geschichtswissenschaft ebenso wenig wie den der Kunst. Auch das jüngste Interesse für Schillers historische Schriften hat dies nicht verändert. Schiller wird dabei immer in ein Fortschrittsparadigma von Geschichtsschreibung, Geschichtsdenken und Geschichtserzählung eingeordnet. Seine Historik steht für die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft (Prüfer); seine Geschichtsschreibung steht auf der Schwelle zur modernen Geschichtsschreibung des Historismus, die erst durch die klassizistische Ästhetik ermöglicht wird (Fulda); er begründet die Geschichtsschreibung durch die Entfesselung der historischen 77
Michael Hofmann: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung. München 2003, S. 75; wiederholt in Hofmann/Rüsen/Springer: Einleitung, S. 9.
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Einbildungskraft neu und erschafft so eine neue subjektivistische Geschichtsschreibung (Süßmann). In dieser Fortschrittsgeschichte werden entsprechend Schillers historische Schriften aufgewertet, weil sie an einer Schnittstelle moderner Geschichtsschreibung angesetzt sind. Gleichzeitig ist bereits früh von der Schiller-Forschung betont worden, dass Schillers Geschichtsschreibung auf die Geschichtsforschung kaum Einfluss gehabt hat. Dies gilt sowohl für die Methodik und Historik als auch für den Stoff der niederländischen und spanischen Geschichte.78 Folglich wird auch Schillers Geschichtsdarstellung von der Forschung vornehmlich unter funktionsgeschichtlichen Aspekten betrachtet. In der daraus folgenden vorwiegend theoretischen Diskussion wird berechtigt gezeigt, wie stark Verschiebungen in der Geschichtsdarstellung um 1800 die ästhetischen Möglichkeiten der deutschen Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert – von Ranke bis Mommsen – erst schaffen. Das betrifft insbesondere den Einsatz der Phantasie des Dichters, um eine genetische Verkettung der Ereignisse zu ermöglichen und die jeweilige Geschichte in einem übergreifenden Sinnzusammenhang erzählen zu können. Fast verloren geht dabei, dass die Überlagerung von alter und neuer Geschichtsschreibung, rhetorischer und genetischer Geschichtsschreibung nicht einfach zeigt, wie Schiller auf dem Weg zur modernen letzteren ist, sondern dass sich in dieser Übergangszeit eine eigene ästhetische Geschichtsschreibung entwickelt, die Geschichte in einer Spannung zwischen geschichtlicher Akkuratheit und der Aufführung eines geschichtsphilosophischen Prozesses inszeniert.79 Damit begibt sich Schiller – wie auch an Forsters Zivilisationsgeschichtsschreibung und Herders Menschheitsgeschichtsschreibung gesehen – in einen Übergangsbereich, der keinem ganz gerecht zu werden scheint. Auch hier entsteht in einer Übergangszeit eine performative Geschichtsschreibung, in der der Vollzug der Geschichte inszeniert wird, ohne den historiographischen Anspruch, referentiell historische Wahrheit erfassen zu wollen, aufzugeben.
78 79
Vgl. Blanke: Vereinnahmungen, S. 110–117. Bei Fulda (Wissenschaft aus Kunst) wird die Diskussion der rhetorischen Tradition fast ganz ausgespart; sie taucht nur indirekt als Übrigbleibsel einer überkommenen Darstellungsweise auf.
195
3.
Schillers Ästhetik der Geschichte
3.1.
Wahrheitsansprüche zwischen Geschichte, Kunst und Philosophie
Der Kern der Diskussion um Schillers historische Schriften liegt in der Frage des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Dichtung. Wie in der Einleitung gesehen wurde,80 verschob sich der Konflikt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, weil Geschichtsschreibung zunehmend selbst die Darstellung und Erkenntnis des Allgemeinen beanspruchte. Damit wurde die traditionelle, von Aristoteles herrührende Unterscheidung, die der Dichtung bzw. insbesondere der Tragödie die Erkenntnis des Allgemeinen und der Historie die Erkenntnis des Besonderen zuspricht,81 problematisch. Gleichzeitig verstärkte sich die Aristotelische Unterscheidung von Dichtung und Geschichte aufgrund der Vorstellung eines autonomen Kunstwerks in der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts bei Gottsched, Lessing und Goethe eher.82 Auch Schiller selbst entwickelte den Begriff der inneren Wahrheit, auch poetische, philosophische oder Kunst-Wahrheit genannt, die über der historischen Wahrheit steht.83 Die entscheidenden Briefstellen, in denen Schiller die unterschiedlichen Wahrheitsbegriffe diskutiert, sein Verhältnis zur Geschichte beschreibt, sind häufig – allen voran bei Johannes Janssen84 – als Absage an eine an historischer Wahrheit orientierte Geschichtsdarstellung angesehen worden, und haben den Blick auf Schillers begriffliche SyntheseLeistung der unterschiedlichen Wahrheitsansprüche verstellt:85 »Die Geschichte ist überhaupt nur ein Magazin für meine Phantasie, und die Gegenstände müssen sich gefallen laßen, was sie unter meinen Händen werden«.86 »Wenn ich aber auch nicht Historiker werde, so ist dieses gewiß, daß die Historie das Magazin seyn wird woraus ich schöpfe, oder mir die Gegenstände hergeben wird, in denen ich meine Feder und zuweilen auch 80 81 82 83
84 85 86
Vgl. I.2.2. Aristoteles: Poetik, S. 29. Siehe für eine detaillierte Erörterung der Entwicklung von Aristoteles’ Unterscheidung Abschnitt I.2.2 im Einleitungskapitel. Allgemein zu Wahrheitskonzepten bei Schiller, siehe auch Volker C. Dörr: »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.« Schillers Dramen zwischen historischer und philosophischer Wahrheit. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von Michael Hofmann/ Jörn Rüsen/Mirjam Springer. München 2006, S. 195–208. Johannes Janssen: Schiller als Historiker. Vgl. Seeba: Historiographischer Idealismus, S. 238. Friedrich Schiller an Caroline von Beulwitz, 10. Dezember 1788. In: NA 25. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.1.1788–28.2.1790. Hrsg. von Eberhard Haufe. 1979, S. 154f., hier: S. 154.
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meinen Geist übe.«87 Bei genauerem Hinsehen haben beide Zitate eine durchaus unterschiedliche Aussage. Im Brief an Körner, dem zuerst geschriebenen Brief, wird die Magazin-Metapher als Gegensatz zum Historikerberuf verwandt, sie ist also für den Dichter bestimmt. Schiller scheint es vorwiegend um den Nutzen der Geschichte zu gehen, um Körner, der besorgt ist, dass Schiller seine dichterischen Talente vergeude, zu beruhigen. Der Brief an Caroline von Beulwitz, der so eindeutig zu erklären scheint, dass Schiller die Historie nur als Stoff für seine Einbildungskraft ansieht, liest sich bei genauerer Betrachtung etwas anders als das isolierte Zitat. Schiller antwortet auf einen Brief von Beulwitz, in dem diese seine Wahl zum Historiker in Bezug auf Körners zuvor im Briefwechsel mit Schiller erhobene Zweifel verteidigt. Hiernach ist die Geschichte aufgrund der historischen Wahrheit vorzuziehen: »Die großen Revolutionen bleiben doch immer wahr«, einzelne falsche Details können den von einer »große[n] Seele« verstandenen Geist der Geschichte nicht ändern.88 Schiller stimmt in seiner Antwort zu, doch er kontrastiert den Wert dieser historischen Wahrheit in seiner Verteidigung von Körner zur inneren Wahrheit. Diese ist nun in Schillers Brief zuerst genauso wertvoll wie die historische. Mit ihr lässt sich sagen, wie sich der Mensch in bestimmten Situationen fühlt, wie er handelt und wie er sich ausdrückt. Während die historische Wahrheit den einzelnen Menschen erfasst, begreift die philosophische Wahrheit den Menschen als Gattung. Dies erscheine nach Schiller zwar als Aufgabe der Dichtung, »aber gerade der Geschichtsschreiber ist oft in den Fall gesetzt diese wichtigere Art von Wahrheit seiner historischen Richtigkeit nachzusetzen« (NA 25, S. 154).89 Plötzlich ist die philosophische Wahrheit die wichtigere. Dem Geschichtsschreiber »fehlt die Freiheit, mit der sich der Künstler mit schöner Leichtigkeit und Grazie bewegt« (NA 25, S. 154), sodass er letztlich keine Wahrheit mehr befriedige.
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Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 27. Juli 1788. In: NA 25, S. 83–85, hier: S. 85 Caroline von Beulwitz an Friedrich Schiller, 2./3. Dezember 1788. In: NA 33,I, S. 261f., hier: S. 261. Siehe zur Inszenierung von Seelen, auch Christine Lubkoll: Moralität und Modernität. Schillers Konzept der ›schönen Seele‹ im Lichte der literaturhistorischen Diskussion. In: Schiller auf dem Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2007, S. 83–99. Luboll zeigt Schillers theatrale Inszenierung der schönen Seele auf der Bühne, was im Kontext performativer Geschichtsschreibung ein weiteres Beispiel für die Parallelität von Inszenierung in der Geschichtsschreibung und in der mehr Freiheit gewährenden Dichtung bei Schiller ist. Siehe auch IV.10. Hervorhebung S.J.
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Weil Schiller zu der philosophischen Wahrheit tendiert, also der stofflichen Richtigkeit nicht immer den Vorrang einräumt, beschreibt er sich als »schlechte Quelle« für zukünftige Geschichtsforscher. »Aber ich werde vielleicht auf Unkosten der historischen Wahrheit Leser und Hörer finden und hie und da mit jener ersten philosophischen zusammentreffen« (NA 25, S. 154). Mit anderen Worten deutet Schiller an, dass er, obwohl er die Rolle des Geschichtsschreibers repräsentiert, die philosophische Wahrheit zumindest ein wenig auszudrücken verhofft, und dafür die historische Wahrheit manchmal aufopfern muss. Erst dann folgt der berühmte Schlusssatz, nachdem ihm die Geschichte »nur ein Magazin für meine Phantasie« (NA 25, S. 154)90 sei, in dem Schiller plötzlich ganz Dichter bzw. Verfechter der philosophischen Wahrheit geworden zu sein scheint. Sein Brief zieht also einen rhetorischen Bogen, in der Schiller immer mehr Dichter wird. Durch die oben skizzierten veränderten Bedingungen für die Geschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert ist dies aber gerade nicht der Fall, wie Schiller im Brief an Beulwitz im vorletzten oben untersuchten Satz über die Überschneidung der beiden Wahrheiten deutlich macht. Für Schillers Rolle als Historiker ist der Spagat zwischen den beiden Wahrheiten wichtiger. Sein Brief indiziert deutlich, dass der Historiker die historische Wahrheit ausdrücken muss, er sich selbst aber in einem Übergangsfeld sieht, in dem er beides verfolgt. Da sich dies oft entgegensteht, ist die Darstellung nur auf Kosten der einen oder anderen Wahrheit möglich, wobei der Brief Schillers letztendliche Bewegung zurück zur Dichtung schon lange vor den Enttäuschungen durch die Realitäten der Französischen Revolution vorwegnimmt. Hans-Hinrich Seeba hat den Spagat des Geschichtsschreibers zwischen poetischer und historischer Wahrheit als erster Forscher 1982 präzise beschrieben: »Wahrung der historischen Wahrheit bei gleichzeitiger Beachtung der poetischen Wahrheit – das ist der Balanceakt, den der Geschichtsschreiber Schiller bei der Übertragung des Ereigniszusammenhangs in einen Darstellungszusammenhang zu leisten hoffte«.91 Dass Schiller trotz seiner Favorisierung der philosophischen bzw. inneren oder poetischen Wahrheit zugleich die Quellen als bestmöglichen Ausdruck historischer Wahrheit sehr ernst nimmt, macht er selbst in seiner Vorrede zum ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ deutlich.92 Hier erklärt Schiller die theoretischen Prämissen seiner Geschichtsschreibung. 90 91 92
Hervorhebung S.J. Seeba: Historiographischer Idealismus, S. 239. Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung. In: NA 17. Historische Schriften Erster Teil. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. 1970, S. 5–289.
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Die Vorrede ist einerseits ein beeindruckendes Dokument von Schillers weit entwickeltem geschichtstheoretischem Reflexionsniveau, andererseits deutet sie an, warum Schillers Schreibverfahren sich theoretisch nur bedingt von Schiller selbst fassen lässt. Schiller eröffnet die Vorrede mit einem Verweis auf seine Begeisterung beim Lesen des Teils zur Niederländischen Revolution in Robert Watsons ›Geschichte von Philipp II‹ (NA 17, S. 7).93 Er selbst sieht es als Herausforderung für sich an, die Begeisterung dauerhaft zu machen, die Gestalt, die der Leser Schiller dem Stoffe gegeben hatte, in einem schriftlichen Text festzuschreiben. Darauf folgt der zentrale Paragraph der Vorrede für die Bedeutung historischer Quellen in Schillers Werk: Eine vertrautere Bekanntschaft mit meinem Stoffe ließ mich bald Blößen darin gewahr werden, die ich nicht vorausgesehen hatte, weite leere Strecken, die ich ausfüllen, anscheinende Widersprüche, die ich heben, isolirte Facta, die ich an die übrigen anknüpfen mußte. Weniger, um meine Geschichte mit vielen neuen Begebenheiten anzufüllen, als um zu denen, die ich bereits hatte, einen Schlüssel aufzusuchen, machte ich mich an die Quellen selbst, und so erweiterte sich zu einer ausgeführten Geschichte, was anfangs nur bestimmt war, ein allgemeiner Umriß zu werden. (NA 17, S. 7)
Einerseits zeichnet Schiller hier einen Weg zurück zu den Quellen (›ad fontes‹).94 Das gerade Zitierte wäre damit durchaus als Aussage eines antiquarischen Historikers der Aufklärung lesbar, der mit genauerem Quellenstudium die historischen Lücken zu schließen versucht und die Wahrheit und Echtheit der Überlieferung überprüft. Die Herkunft der Überlieferung muss nachgewiesen werden und diese muss glaubwürdig sein. Andererseits zeigt sich, dass Schillers »Schlüssel« zu einer »ausgeführten Geschichte« etwas komplexer ist. Ohne zu erfinden, kann Schiller mit den ihm bekannten Fakten keine zusammenhängende, »ausgeführte Geschichte« schreiben. Die Quellen schließen den schon vorhandenen historischen Stoff weiter auf. Sie machen Schillers Geschichte statt eines allgemeinen, nur Gesetzmäßigkeiten verkündenden »Umrisses« zu einer realen Geschichte. Schiller braucht also die Autorität der Quellen, um als Historiker über das tatsächlich Geschehene ernst genommen zu werden. 93
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Robert Watson: The History of the Reign of Philip the Second. King of Spain. 2 Bde. Dublin 1777. Schiller benutzte die französische Übersetzung: Histoire du regne de Philippe II, roi d’Espagne, ouvrage traduit l’anglois. 2 Bde. Amsterdam/Rotterdam 1777. Zum Kontext des Rufs »Ad fontes«, der sich seit der Renaissance in der Geschichtsschreibung durchsetzte, siehe Otto Dann: Schiller, der Historiker und die Quellen. In: Schiller als Historiker. Hrsg. von O. Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp. Stuttgart/Weimar 1995, S. 109–126, S. 110f.
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Der »Schlüssel« ist aber ebenso in der Darstellung durch den Historiker begründet. Diese Spannung entspricht Schillers Aussagen über den philosophischen Verstand in der Jenaer Antrittsvorlesung ›Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?‹.95 Hier reflektiert Schiller genau diese Spannung zwischen den Zufälligkeiten historischer Begebenheiten bzw. ihres Einflusses auf historische Abläufe und den Notwendigkeiten des Fortschreitens der Menschheitsgeschichte, zwischen dem Besonderen einzelner historischer Begebenheiten und dem Allgemeinen einer Universalgeschichte. Die Begebenheiten in der Geschichte bestätigen nur zum Teil den notwendigen Gang der Geschichte, die Fortentwicklung der Menschheit. Der Mensch sieht das »teleologische Prinzip in d[er] Weltgeschichte« »durch tausend beystimmende Fakta bestätigt, und durch eben soviele andre widerlegt« (NA 17, S. 374). Die an Schlözer und Kant angelehnte Metaphorik,96 dass der »philosophische Verstand«97 der Weltgeschichte helfe, die einzelnen Glieder »zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen« zu verbinden bzw. das Aggregat zum System zu erheben (NA 17, S. 373), deutet die Aufgabe des Historikers Schiller an. Diese geht weit über die des treu an seinen Quellen orientierten Geschichtsschreibers hinaus. Zugleich betont Schiller die Notwendigkeit, die Quellen so genau wie möglich zu erforschen und ihren Wahrheitsstatus zu reflektieren.98 Hierbei ist ihm bewusst, dass Quellen immer perspektivisch überliefert werden, vom Standpunkt ihrer Autoren abhängig sind, und so die perspektivische Vielfalt oder Offenheit in der um historische Wahrheit bemühten Geschichtsschreibung mit berücksichtigt werden muss.99 In seiner Universalgeschichtsvorlesung macht Schiller deutlich, dass die »Quelle aller Geschichte« die Tradition sei (NA 17, S. 370). Tradition ist für ihn immer sprachabhängig; entsprechend kann es unabhängig von der Sprache keine Geschichte geben: »Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren« (NA 17, S. 370f.). Quellen sind also im weiteren Sinne sämtliche 95 96 97
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In: NA 17, S. 359–376. Siehe hierzu z. B. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 290–297. Diese Notwendigkeit eines philosophischen Geistes ist bereits vor Schiller u. a. bei Gibbon ausgearbeitet worden. Siehe hierzu Cora Lee Nollendorfs: Edward Gibbons ›Essai sur l’Étude de la Littérature‹ als Quelle von Schillers Begriff ›sentimentalisch‹. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 280–288, S. 282f. Beide müssen eine narrative, philosophisch unterstützte Form der Geschichtsschreibung entwickeln. Vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 282–297. Während die Wahrheit der Quellen für Schiller bedeutsam ist, gilt dies nicht für die Echtheit einer Quelle (Ebd., S. 288). Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 287.
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sprachlichen Überlieferungen, damit auch die historiographischen Werke, im engeren Sinne diejenigen von Zeitzeugen. Im zweiten Teil der Vorrede zum ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ unterstreicht Schiller nicht nur die Bedeutung der Quellen im Allgemeinen, sondern er nennt alle seine Quellen und macht zugleich deutlich, dass er sich gewünscht hätte, sich noch mehr auf Geschichtsquellen von Augenzeugen – »ersten Quellen und gleichzeitigen Dokumenten« (NA 17, S. 9) – beziehen zu können. Die Arbeit mit unveröffentlichten Archivtexten wurde damals noch nicht von der Historikerzunft verlangt, ist Schiller aber als Ideal bewusst.100 Folgt man Schillers Praxis in seinen gesamten historischen Schriften, zeigt sich allerdings, dass er sein hohes methodologisches Reflexionsniveau nur bedingt einlöst. Er stützt sich zunehmend auf Geschichtsliteratur und grenzt sich von der akademischen Gelehrsamkeit ab.101 3.2.
Schillers Stilbegriff
Thomas Prüfer fasst die Bedeutung der inneren Wahrheit für Schiller als ästhetische Kompetenz des Geschichtsschreibers zusammen, als »eine Form der inneren Kohärenz, die die Gestalt eines harmonischen Ganzen annimmt, in dem Wahrheit und Schönheit eins sind.«102 Wie oben bei der Zusammenfassung der Tendenzen der jüngeren Schiller-Forschung deutlich wurde,103 tendiert diese in großen Teilen dazu, den gerade gezeigten Konflikt zwischen den beiden Wahrheiten zu harmonisieren, mit Schiller und anderen in der klassizistischen Begrifflichkeit zu synthetisieren. Dies wird noch deutlicher, wenn man zur Diskussion der Wahrheitsbegriffe die Diskussionen des 18. Jahrhunderts um den Stil von Geschichtsschreibung, Dichtung und Philosophie hinzuzieht. 100 101
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Dann: Schiller, der Historiker und die Quellen, S. 113. Thomas Prüfer (Die Bildung der Geschichte) und Otto Dann zeigen immer wieder, dass Schillers genauer Umgang mit Quellen nach der Niederlande-Arbeit aus offensichtlich pragmatischen Gründen stark abgenommen hat. Dann – für den Niederlandetext sicherlich etwas zu kritisch – fasst dies wie folgt zusammen: »Obwohl er [Schiller, S.J.] von der Bedeutung der Quellenfrage überzeugt war, hat Schiller die Mühen eines intensiveren Quellenstudiums nicht auf sich genommen. Im Verlauf seiner Geschichtsschreibung hat er immer weniger eine Verarbeitung von Quellen betrieben und sich stattdessen auf die Geschichtsliteratur gestützt. Obwohl er Geschichte an der Universität lehrte und die Methoden der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft kannte, hielt Schiller bewußt Distanz gegenüber der historisch-philologischen Quellenforschung und ihrer Gelehrsamkeit. Auch als Herausgeber von Geschichtsquellen war er nicht zu einer Anwendung wissenschaftlicher Methoden bereit« (Schiller, der Historiker und die Quellen, S. 121f.). Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 136. Siehe IV.2.
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Wie von Prüfer ausführlich diskutiert wird,104 eröffnet die Vor-Veröffentlichung der Einleitung und des ersten Teils vom ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ in den Januar- und Februar-Heften des von Wieland herausgegebenen ›Teutschen Merkur‹ die Debatte zwischen Körner und Schiller um den großen bzw. anmutigen Stil in der Geschichtsschreibung. Körner sieht trotz großen Lobs einige Stilprobleme; er findet »zu viel Schmuck«, und sieht zuviel »bildliche[n] Ausdruck«, auch an Stellen, wo es einen ›eigentlichen‹ Ausdruck gäbe (NA 33,I, S. 172). Diese würden »die Wirkung eines nothwendigen oder wirklich verstärkenden Bildes« nur schwächen. Körners Gegenmodell ist die »einfache Würde« (NA 33,I, S. 172). Darüber hinaus kritisiert Körner Schillers durchschimmernde Individualität. Das Ideal der Simplizität der Geschichtsschreibung kann besser ohne den Ausdruck von Individualität erreicht werden. Schillers Antwort105 scheint Körner ganz zuzustimmen. Schiller verweist darauf, dass er Zeit brauche, um sich als Historiker zu bilden106 und sich »in der Historie ganz von der poetischen Diction zu entwöhnen«.107 Schiller sieht die fehlende Simplizität also nicht als vorwiegend handwerklichen Mangel, sondern in der inneren Reife des Historikers.108 Nach einer Lesung über den Aufstand der Niederlande im Oktober 1787 beschreibt Schiller seinem Freund Huber Wielands Begeisterung über Schillers Talent als Geschichtsschreiber. Für Schiller liegt der Grund für diese überschwängliche Bewertung darin, dass der Aufsatz über die Niederländische Rebellion »schönen edeln Stil, Eselsfleiß, klare Auseinandersetzung und philosophische Darstellung« verbinde.109 Der »Eselfleiß« verweist auf die Auseinandersetzung mit den Quellen und dem Geschichtsstoff. Mit edlem Stil und philosophischer Darstellung wird dieser dann ästhetisiert, sodass bereits 1787 die Vorstellung der Universalgeschichtsvorlesung, dass der philosophische Verstand die Bruchstücke der Weltgeschichte »durch künstliche Bindungsglieder verkettet« und damit »das Aggregat zum System [erhebt]« (NA 17, S. 373), deutlich zu erkennen ist.110 104 105 106 107 108 109
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Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 310–327. Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 6. März 1788. In: NA 25, S. 24f. Siehe zu dieser Forderung der inneren Bildung des Geschichtsschreibers, Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 13. NA 25, S. 24. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 312f. Friedrich Schiller an Ludwig Ferdinand Huber, 26. Oktober 1787. In: NA 24. Briefwechsel. Schillers Briefe. 17.4.1785–31.12.1787. Hrsg. von Karl Jürgen Skrodzki, in Verbindung mit Walter Müller-Seidel. 1989. S. 168–172, hier: S. 170. Wenn man sich bei der Interpretation auf Schillers eigene geschichtstheoretische Äußerungen verlässt, ist deutlich zu erkennen, dass dieser Geschichtsschreibung und -theorie nicht trennen will, was Süßmanns Argumentation, Geschichtsschreibung als Gebrauchs-
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Prüfer fasst Schillers Stilkonzept in der Geschichtsschreibung wie folgt zusammen: »Die an sich tote Geschichte, d. h. die Überlieferung der Vergangenheit, kann nach Schillers Überzeugung durch einen philosophischpoetischen Geist belebt und befruchtet und so zu einem Kunstwerk werden, dessen anmutige Hülle die Geschichtslektüre zum Vergnügen macht.«111 Diese Vorstellung der »Zauberkraft der schönen Diktion«112 ermöglicht letztlich, das Sinnbildungsdefizit der deutschen Aufklärungsgeschichtsschreibung zu überwinden.113 Die schöne Diktion ersetzt die poetische Diktion, die als Schmuck oder rhetorischer Überhang des alten an der Regelrhetorik orientierten Stils abgelehnt wird. Damit scheint die Spannung zwischen Kunst und Wissenschaft auflösbar. Der schöne Stil schafft die Synthese von der Geschichtsschreibung bzw. den prosaischen Formen im Allgemeinen und der Kunst.114 Schillers Stilbegriff, um die ›Wissenschaft zum Kunstwerk zu adeln‹,115 wird deutlich ausgeprägter in Schillers ästhetischen Schriften, insbesondere im so genannten Horen-Streit zwischen Schiller und Fichte, aus dem Fulda den Ausdruck der »schönen Diktion« nimmt. Im Zuge von Schillers Ablehnung von Fichtes Beitrag ›Über Geist und Buchstab‹, der 1795 in den ›Horen‹ erscheinen sollte, wirft Fichte Schiller vor, ähnlich wie Kant Herder116 oder Goeze Lessing,117 er vermische wissenschaftliche
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texte für ein weites Publikum und als universalhistorische Texte und Vorlesungen kategorisch zu unterscheiden, widerspricht (Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 81); siehe zu dieser Auffassung auch Johannes Süßmann: Denken in Darstellungen – Schiller und die Geschichte. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von Michael Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer. München 2006, S. 44–67. Allerdings erklärt dies nicht die vollständige ästhetische Wirkung von Schillers Geschichtstexten, wie im Weiteren noch zu sehen sein wird. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 324; vgl. Schiller an Körner. 7. Januar 1788. NA 25, S. 1–3. Teil dieses Konzeptes ist der »lebhafte Stil«, der den trockenen oder einschläfernden Stil der älteren Geschichtsschreibung überwindet (vgl. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 315f.). Friedrich Schiller: Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: NA 21, Philosophische Schriften 2. Hrsg. von Benno v. Wiese. 1963, S. 3–27, hier: S. 9. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 229–244; vgl. auch Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 317. Vgl. das Einleitungskapitel dieses Buches zur Auflösung der Regelrhetorik und zur ästhetischen Re-Rhetorisierung, wodurch die Möglichkeit einer performativen Geschichtsschreibung entsteht (siehe insb. I.3.1). Dieser Ausdruck aus Schillers Gedankengedicht ›Die Künstler‹ dient Fulda als Überschrift seines Schiller-Kapitels (Wissenschaft aus Kunst, S. 228) und kann als programmatisches Bild für Fuldas gesamte These von der klassizistischen Ästhetisierung der Geschichtsschreibung des Historismus gelesen werden. Siehe III.2. Siehe zum Streit zwischen dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze und Gotthold Ephraim Lessing, Lessings ›Anti Goeze‹ (in: Werke. Bd. 2, S. 1010–1071), in
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und poetische Darstellung, Begriffe und Bilder, wodurch Schillers philosophischer Stil »völlig neu« und sehr schwer verständlich sei.118 Schiller antwortet in seinem Aufsatz ›Von den notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen‹,119 in dem er für sein Ideal philosophischer Kunstprosa den Begriff der »schönen Diktion«, des schönen Stils, prägt, der zwischen Begriff und Bild schwebe (NA 21, S. 7–9): Durch die »schöne Diktion« ließe sich eine Sache »als möglich und als wünschenswürdig« vorstellen.120 Zunehmend entwickelt Schiller das Konzept des »großen Stils«, insbesondere im letzten der so genannten ›Kallias-Briefe‹, die er im Februar/März 1793 an Körner schreibt. Der große oder gute Stil sei »eine völlige Erhebung über das Zufällige zum Allgemeinen und Notwendigen«.121 »Der große Künstler, könnte man also sagen, zeigt uns den Gegenstand (seine Darstellung hat reine Objektivität) der mittelmäßige zeigt sich selbst (seine Darstellung hat Subjektivität) der schlechte seinen Stoff (die Darstellung wird durch die Natur des Mediums und durch die Schranken des Künstlers beschränkt).«122 Obwohl Prüfer zuzustimmen ist, dass das Darstellungsideal des großen Stils, die Konzeption von seiner synthetischen Kraft die innere oder philosophische Wahrheit auszudrücken, bereits in Schillers Geschichtsdenken deutlich erkennbar ist, stellt sich die Frage, inwiefern dies bei der Charakterisierung des Historikers Schiller weiter hilft. Zum Zeitpunkt der
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dem Lessing durch seinen Stil eine ironische Antwort auf Goezes Vorwurf, dass er eine »Theaterlogik« (S. 1018) verwende, gibt. Lessing akzeptiert die Charakteristik seiner »verblümten, bilderreichen Worten« (S. 1017) und macht diese in einem diskursiv-dialogischen Stil zu einer ironisch-argumentativen Waffe (hierzu siehe Karl Heinz Bohrer: Der Glanz des Arguments. Kritik als Verfahren – Lessings advokatorischer Stil. Neue Zürcher Zeitung. 27.05.2000, S. 85). Johann Gottlieb Fichte an Friedrich Schiller (27. Juni 1795). In: Fichte, Briefe. Hrsg. von Manfred Buhr. 2. Aufl. Leipzig 1986, S. 154–159, hier: S. 157. Zum Streit zwischen Schiller und Fichte, siehe Hermann Mayer: Schillers philosophische Rhetorik. Euphorion 53 (1959), S. 313–350, insb. S. 345–349; Klaus L. Berghahn: Nachwort. Ästhetische Utopie und schöner Stil. In: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen. Hrsg. von K. L. Berghahn. Stuttgart 2000, S. 253–286, insb. S. 273–278; sowie Wolfram Malte Fues: Bild und Begriff. Schillers Disput mit Fichte. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 54 (2010), S. 164–186. Später zusammengefasst mit dem Text ›Über die Gefahr ästhetischer Sitten‹ als ›Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen‹. NA 21, S. 10. Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner. 28. Februar / 1. März 1793. In: NA 26. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.3.1790–17.5.1794. Hrsg. von Edith Nahler und Horst Nahler. 1992, S. 219–229, hier: S. 225. Zur Bedeutung des Zufalls bei Schiller, siehe Abschnitt IV.4. Schiller an Körner, 28. Februar / 1. März 1793. NA 26, S. 226.
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›Kallias-Briefe‹, noch mehr im von Fulda diskutierten Horen-Streit diskutiert Schiller eindeutig den Künstler im Allgemeinen. Nach Fulda sind Kunst und Wissenschaft hier nicht mehr fundamental unterschieden, beide verwenden denselben Wahrheitsbegriff.123 Schillers Künstler zeigt sich zwar auch in prosaischen Darstellungsformen wie Philosophie, Ästhetik oder Geschichtsschreibung, ebenso wie in Schauspielkunst oder anderen künstlerisch-performativen Formen, aber über die eigentliche Spannung zwischen der Praxis der Geschichtsschreibung und universalgeschichtlichem Denken ist Schiller hier hinaus. Insofern ist auch die Geschichte als eigenständige Darstellungsform verschwunden. Schiller fasst die Objektivität des Gegenstandes nicht als dessen einfaches Abbild, sondern als einen »in sich reflektierte[n] Ausdruck des schöpferischen Subjekts durch Verkörperung seines Objekts«.124 In den ›Kallias-Briefen‹125 wie in Prüfers Darstellung von Schillers Stilbegriff verschiebt sich die Diskussion immer mehr zu einem abstrakten Kunstwerkbegriff: »Nur wenn es dem Dichter durch den Stil gelingt, die sprachliche Fremdbestimmtheit seines Kunstwerkes zu überwinden, ist dies im Sinne der objektiven Ästhetik Schillers wahrhaft schön.«126 3.3.
Ästhetische Inszenierung
Von hier kann nur noch in einer weiten Rekonstruktion von Schillers theoretischen Äußerungen abgeleitet werden, dass das Kunstwerk theoretisch genauso auch Geschichtsschreibung sein könnte. Doch Schiller hat selbst erfahren, dass als Geschichtsschreiber – ohne die Freiheiten des Dichters – die historischen Realitäten nicht durchweg in ein objektiviertes Kunstwerk überführbar sind. Daher markiert die Entwicklung vom schönen, einfachen, anmutigen, guten und großen Stil im Sinne von Fuldas Untersuchung eine entscheidende Schnittstelle für die Überwindung des Sinnbildungsdefizits der aufklärerischen Geschichtsschreibung und die Einführung eines ästhetischen Prinzips in die Geschichtsschreibung. 123 124 125
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Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 235. Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 325. Zu Schillers Sprachtheorie im Allgemeinen und in den ›Kallias-Briefen‹ im Besonderen, siehe Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, insb. S. 149–169. Oschmann führt vor, wie Schiller sich der Künstlichkeit der eigenen Sprache sehr bewusst war und zugleich das Ziel hatte, »die Artifizialität des poetischen Sprechens in Darstellung gleich mit zu exponieren, damit von vornherein jeder Anschein einer natürlichen Sprache zerstört wird« (Ebd., S. 165). Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 327.
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Aber die Stilkonzeption zeigt letztlich für Schiller gerade nicht die Lösung zum ›historiographischen Idealismus‹. Schiller beginnt an den historischen Realitäten in seiner Geschichtsschreibung zu scheitern, ob dies in der Idealität des Prinzen von Oranien, der Größe der Niederländer in ihrem Aufstand, der edlen Größe Gustav Adolfs oder der Ambiguität der Figur Wallensteins ist.127 Die Herausnahme des Begriffs ›Geschichte‹ aus den ästhetischen Darstellungsüberlegungen ist natürlich auch in Schillers zunehmender Enttäuschung über den Ausgang der Französischen Revolution begründet.128 Der Gegenstand, der vom großen Künstler in reiner Objektivität gezeigt wird, ist in der Geschichtsschreibung aufgrund der Einschränkung durch den Stoff, für Schiller damit die Natur, unerreichbar. Wegen dieser Einschränkung und des historisch verstärkten Kontrast zwischen historischer Realität und Idealität ist es fast automatisch, dass Schiller Mitte der 1790er Jahre die Geschichte nicht mehr direkt reflektiert, sondern allgemein von der Darstellung des Schönen spricht und seine Beispiele aus den Künsten – wie Schauspielkunst oder Dichtung – wählt, wo sich die reine Objektivität des Gegenstandes in der Geschichtsdarstellung zeigen kann, ohne gleichzeitig einen referentiellen Anspruch verfolgen zu müssen. Schillers Verzicht darauf, das Ganze der Geschichte vernünftig zu begreifen129 und Geschichte zu dramatisieren, zeigt, wie die deutschsprachige Geschichtsschreibung zunehmend Darstellungskriterien findet, Geschichte erzählbar zu machen. In der bisherigen Forschung wird jedoch nicht erkennbar, wie es Schiller gelingt, dennoch den Systemgedanken bzw. das Ganzheitliche der Geschichte in der praktischen Geschichtsschreibung beizubehalten. Die Erkenntnis des Neuen an Schillers Geschichtsschreibung bleibt auf allgemeine Entwicklungen in Erzählung und Dramatik beschränkt. Das Modell eines Großteils der Forschung für Schillers universalgeschichtlichen Ansatz ist, dieses Geschichtsdenken und die Bewegung von der Geschichtsphilosophie zur Geschichtsskepsis darzustellen, wobei der Schwerpunkt auf der Geschichtstheorie und den 127
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Thomas Stachel liest die Ambiguität Wallensteins, wie Schiller sie dann in den ›Wallenstein‹-Dramen ausarbeitet, als gleichzeitige Charakterisierung des Schicksals und der Unverfügbarkeit der Geschichte, ebenso wie der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Natur: »Schicksalssehnsucht ist aus dieser Perspektive gleichbedeutend mit der Sehnsucht nach einer naturhaften Gesetzestotalität, und beide sind Reaktionen auf eine moralische Autorität« (Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010, hier: S. 284). Siehe hierzu im Zusammenhang von Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ Abschnitt IV.9. Fulda: Wissenschaft aus Kunst, S. 184.
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programmatischen Äußerungen der einzelnen Historiker zur Geschichte liegt. Weil die konkreten Verfahren und Ausdrucksmöglichkeiten in der Regel nicht näher untersucht werden,130 wird der Inszenierungscharakter von Schillers Geschichtsschreibung übersehen. Dies gilt insbesondere für den ›Abfall der vereinigten Niederlande‹, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Das Konzept vom guten Stil und der schönen Diktion schafft für Schillers allgemeine Darstellungsästhetik die Erhebung zum Allgemeinen und Notwendigen. Dieser Anspruch prägt von Beginn an auch Schillers Geschichtsschreibung. Das Zufällige soll in der philosophischen Überarbeitung gebändigt werden, doch da sich dieses Zufällige widersetzt, entsteht eine Spannung, mit der sich Schiller auseinandersetzen muss. Das geschichtsphilosophische Modell und die schöpferische Darstellung durch den philosophischen Verstand allein reichen für die an Quellen orientierte Geschichtsschreibung nicht aus. Die historische Wahrheit kann der inneren Wahrheit eben doch nicht im Sinne von neuen Erfindungen untergeordnet werden. Der entstehenden Spannung wird mit der Inszenierung der Geschichte als notwendigem Prozess begegnet. Hiermit schließt Schiller an Lessings Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Drama an, aber indem er die Qualitäten des Dramas auf die Geschichtsschreibung überträgt. Lessing schreibt in seiner ›Hamburgischen Dramaturgie‹: [D]er dramatische Dichter ist kein Geschichtsschreiber; er erzählt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, sondern er läßt es vor unsern Augen nochmals geschehen; und läßt es nochmals geschehen, nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns täuschen, und durch die Täuschung rühren.131
Statt Schillers Geschichtsschreibung ausschließlich über eine Ästhetik des Ganzen und Schönen zu erklären, liegt in dieser Annahme Lessings der Schlüssel zu Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande‹. Der Historiker – gut zwanzig Jahre nach Lessing – übernimmt den dramatischen Anteil; er lässt die Geschichte vor den Augen des Lesers noch einmal geschehen. Geschichte wird anschaulich. Schiller bringt ein performatives Moment in seine Geschichtsschreibung. Dabei wirkt sie als konsequent bzw. notwendig; ihr Ablauf hat etwas Zwingendes. Hierfür greift Schiller 130 131
Siehe hierzu IV.2. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 11. Stück. In: Lessing, Werke. Bd. 2, S. 320–324, hier: S. 321.
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auf scheinbar überkommene rhetorische Verfahren der antiken Geschichtsschreibung und der Renaissance-Politik zurück.132 Er adaptiert dabei nicht einfach deren rhetorische Strategien, um durch Geschichtsschreibung zu belehren (›docere‹), zu unterhalten (›delectare‹) und zu rühren (›movere‹),133 sowie das Geschehen zu plausibilisieren, sondern inszeniert ästhetisch die notwendige Entwicklung der Geschichte, den teleologischen Prozesses der Geschichte und die Fortentwicklung der Menschheit zur Freiheit. Die rhetorische wird zur ästhetischen Inszenierung. An dieser Stelle kommt das dramatische und erzählerische Ganze ins Spiel, wie es von Süßmann, Fulda u. a. ausführlich gezeigt wurde. Die aktuelle Geschichtsinszenierung basiert aber auf dem performativen Vollzug der Geschichte, wie im Weiteren vorgeführt wird. Damit schafft Schiller eine Darstellungsweise, die ihm den Kampf gegen die Zufälle und für die Teleologie und den Fortschritt der Geschichte erleichtert und die Autonomie der Geschichte ermöglicht.134 Theoretische Äußerungen und Geschichtsdenken greifen zu kurz, um dieses auf sprachlichen Vollzug ausgerichtete Verfahren erkennen zu können.
4.
Die Funktion des Zufalls im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹
Süßmann sieht das Geschehen im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ wie »ein fünfaktiges Drama« strukturiert.135 Dabei klammert er das gesamte erste Buch als Einleitung und Vorgeschichte aus, die damit endet, dass Philipp II. die Niederlande verlässt und Margaretha von Parma als Statthalterin und Kardinal Granvella als ihren ›Aufseher‹ einsetzt. Die eigentliche Handlung gliedert sich nach Süßmann in sechs Erzählphasen: erstens der Zorn des niederländischen Adels gegen Granvella und sein 132
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Derartige Übergänge oder Brüche sind natürlich nicht absolut zu sehen. Für eine differenzierte Darstellung zum Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Rhetorik, siehe Harth: Geschichtsschreibung, insb. Sp. 856–866 zum späten 18. Jahrhundert. Zum Hintergrund des ›movere‹, der Rührung im 18. Jahrhundert, siehe Caroline TorraMattenklott: Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert. München 2002. Für Schiller siehe auch Gabriele Brandstetter: Die andere Bühne der Theatralität. ›Movere‹ als Figur der Darstellung in Schillers Schriften zur Ästhetik. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2006, S. 287–304, wobei Brandstetter vorwiegend eine Poetik des ›movere‹ als Kunst der schönen Bewegung entwickelt. Auch wenn dies letztlich nicht verhindert, dass Schiller die Gattung der Geschichtsschreibung desillusioniert verlässt. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 91.
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letztendlicher Rücktritt, zweitens die Aktionen des Hochadels im Staatsrat einschließlich der vergeblichen Gesandtschaft Egmonts nach Spanien, drittens die Verschwörung des Adels und Philipps Milderung der Religionsedikte, viertens der Bildersturm und fünftens der Bürgerkrieg in den Niederlanden, in dem der Geusenbund aufgerieben wird und Oranien ins Exil geht. Albas Heerzug in die Niederlande und dessen Regierungsübernahme bei Missachtung aller niederländischen Rechte wären demnach nur angehängt und eröffneten eigentlich eine neue Geschichte.136 Der Höhepunkt des Dramas wäre dann Philipps Nachgeben mit der Aufgabe der päpstlichen Inquisition. Es kann zwar kein Zweifel bestehen, dass Schiller dramatische Konstruktionsmomente des Geschehens verwendet, aber es ist fast unmöglich, diese auf ein klassizistisches Dramenschema abzubilden. Der vermeintliche Höhepunkt hängt stark von der Perspektive ab; berücksichtigt diese zum Beispiel stärker das Handeln und die Staatskunst Oraniens, gäbe es andere Höhepunkte, die für das Handlungsschema bedeutsamer sind, als Philipps zu spätes Nachgeben, das den Handlungsverlauf nicht beeinflusst und in der Fassung von 1788 nicht vom folgenden Bildersturm getrennt war.137 Die wirkliche Katastrophe ist nicht die Auflösung des Geusenbundes, sondern Albas Gewaltherrschaft und völlige Unterdrückung niederländischer Freiheit.138 Doch letztlich kommt es nicht darauf an, dem Text ein enges Erzählschema zu unterlegen, sondern zu zeigen, wie Schiller eine Gesamterzählung mit dramatischen Elementen geschaffen hat, die, wie Süßmann zurecht festhält, vom Aufstieg und Niedergang einer Rebellion handelt.139 Dies schafft eine erste dramatische Notwendigkeit; die Zufälle der Geschichte werden durch die Arbeit des Historikers einer notwendigen Entwicklung unterworfen. Um Schillers Darstellungsverfahren in der Geschichtsschreibung zu verstehen, ist sein Umgang mit der Funktion des Zufalls in der Geschichte besonders aussagekräftig. In seiner Einleitung zum NiederlandeText macht Schiller die zentrale Aussage, dass die Weltgeschichte der Zu136 137
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Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 89f. Süßmann argumentiert hier – zum Teil spekulativ – mit der Textgeschichte des ›Abfalls der vereinigten Niederlande‹. In der Fassung von 1801 liegt hier der Einschnitt zwischen drittem und viertem Buch. Süßmann überinterpretiert Schillers Komposition, um sie einer Textlogik zu unterwerfen, anstatt vornehmlich Tendenzen zu einer dramatischen Geschehenslogik festzustellen. Zumal die Befriedung der Niederlande durch die Statthalterin ja keineswegs nur katastrophale Elemente beinhaltet, wenn der spanische König es dabei belassen hätte. Zudem verunmöglicht die Spannung der von Schiller beachteten historischen Wahrheit und seiner dramatischen Anlage der Geschichtsschreibung eine präzise klassizistische Struktur. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 192.
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fall rolle (NA 17, S. 21). Auf den ersten Blick erscheint die Auffassung von der Teleologie der Geschichte, die knapp zwei Jahre später in der Antrittsvorlesung zur Universalgeschichte so explizit ausgedrückt wird, noch nicht entwickelt.140 Schiller scheint ausschließlich einem für die Aufklärungsgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts typischen zyklischen Geschichtsmodell anzuhängen.141 Dies bestätigt sich in der kurz darauf folgenden Aussage: »Die Geschichte der Welt ist sich selbst gleich, wie die Gesetze der Natur, und einfach wie die Seele des Menschen« (NA 17, S. 21).142 Doch bei genauerem Hinsehen zeigt Schillers Umgang mit dem Zufall auch im Niederlande-Text seine teleologische Geschichtsauffassung, die sich hier mit dem pragmatisch-aufklärerischen Ursache-Wirkungsdenken und einem analogischen Geschichtsverfahren überlagert.143 In der Jenaer Antrittsvorlesung schreibt Schiller: Weil die Weltgeschichte von dem Reichthum und der Armuth an Quellen abhängig ist, so müssen eben so viele Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken in der Ueberlieferung giebt. So gleichförmig, nothwendig und bestimmt sich die Weltveränderungen auseinander entwickeln, so unterbrochen und zufällig werden sie in der Geschichte in einander gefügt seyn. Es ist daher zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte ein 140
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Paul E. Kerry argumentiert hingegen, dass Schiller teleologische Prozesse im ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ zunehmend aufgab, als er die Komplexität und Vielfalt des historischen Stoffes entdeckte (Friedrich Schillers historische Verfahrensweise im Zusammenhang von Geschichte und Literatur. Études Germaniques 60 (2005), S. 631–649, S. 645), womit Kerry allerdings Schillers Inszenierungspotential ebenso außer Acht lässt wie dessen Kontingenzbewusstsein bei der Erstellung des Niederlande-Texts. So z. B. Dann: Stellenkommentar. Bd. 6, S. 773, in Bezug auf Stelle, dass die Weltgeschichte der Zufall rolle. Vgl. Schillers Zusammenführung von Welt- und Naturgeschichte in der Metaphorik, dass die Dämme die Niederländer gegen ihren Ozean schützen und so die Gesetze sie gegen ihre Fürsten (NA 17, S. 39). Hier bringt Schiller ein zyklisches Geschichtsmodell besonders deutlich zum Ausdruck: »Die ganze Weltgeschichte ist ein ewig wiederholter Kampf der Herrschsucht und Freiheit um diesen streitigen Fleck Landes, wie die Geschichte der Natur nicht anders ist, als ein Kampf der Elemente und Körper um ihren Raum« (NA 17, S. 39). Jedoch schließt diese zyklische Komponente ein teleologisches Geschichtsdenken nicht aus. Die Konflikte der Weltgeschichte wiederholen sich; ein Plan – der oft aus Zufällen entsteht – führt zur Fortentwicklung der Menschheit. Während Schillers Darstellungsverfahren dieses aufklärerische Geschichtsdenken bereits überschreiten, ist Schillers Geschichtsdenken hier noch stark an vorkantische Geschichtsmodelle angelehnt, ein weiterer Grund, warum eine reine Rekonstruktion von Schillers Geschichtsdenken dessen Darstellungsverfahren nicht vollends erklärt. Wie schwierig es ist, eine Entwicklung zwischen Zufall und Vorsehung in Schillers historischem Denken auszumachen, zeigt auch Karl S. Guthke: »Wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint« Schiller in »des Lebens Fremde«. In: Der ganze Schiller. Programm ästhetischer Erziehung. Hrsg. von Klaus Manger. Heidelberg 2006, S. 393–419.
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merkliches Mißverhältniß sichtbar. Jenen möchte man mit einem ununterbrochen fortfließenden Strom vergleichen, wovon aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird. (NA 17, S. 372)144
Hier wird ein Dreistufenmodell Schillers deutlich. Der Gang der Welt sind die tatsächlichen Begebenheiten. Auf der zweiten Stufe wird die Weltgeschichte in den Quellen überliefert.145 Die dritte Stufe schafft der philosophische Geschichtsschreiber in der Historiographie. Erst hier wird der Plan trotz unendlicher Zufälle in den Ereignissen146 und in der Überlieferung erkennbar.147 Insofern erscheint Schillers Überlegung aus der Einleitung des Niederlande-Textes durchaus konsequent weiter entwickelt. Dort heißt es: Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen; ihm gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall. Wenn die Leidenschaften, welche sich bei dieser Begebenheit geschäftig erzeigten, des Werks nur nicht unwürdig waren, dem sie unbewußt dienten – wenn die Kräfte, die sie ausführen halfen, und die einzelnen Handlungen, aus deren Verkettung sie wunderbar erwuchs, nur an sich edle Kräfte, schöne und große Handlungen waren, so ist die Begebenheit groß, interessant und fruchtbar für uns, und es steht uns frey über die kühne Geburt des Zufalls zu erstaunen, oder einem höhern Verstand unsre Bewunderung zuzutragen. (NA 17, S. 21)
Nimmt man an, dass das Personalpronomen »sie« in »aus deren Verkettung sie wunderbar erwuchs« sich auf die zuvor »im Schooße des glücklichen Brabants« geborene »Freiheit« bezieht (NA 17, S. 21), kann geschlussfolgert werden, dass der Zufall ein entscheidendes Element ist, das auch die teleologische Geschichte prägt.148 Dies zeigt sich wiederum in 144 145 146
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Schiller fügt hier dem systemischen Denken Schlözers das prozessuale Element hinzu. Vgl. hierzu auch NA 17, S. 371. Siehe für konkrete Beispiele auch Michael Hofmann: Schillers Reaktion auf die Französische Revolution und die Geschichtsauffassung des Spätwerks. In: Schiller und die Geschichte. Hrsg. von M. Hofmann/Jörn Rüsen/Mirjam Springer. München 2006, S. 180–194, insb. S. 183. Auch Hofmann verbleibt aber auf der Ebene des Geschichtsdenkens und erkennt so nicht, dass gerade der Bildersturm von Schiller als Inszenierung des Notwendigen eingesetzt wird. Ähnlich wie Herder und Archenholz wird der Plan nicht durch die bewusste Handlung von beteiligten Individuen als planende Subjekte erfüllt, sondern durch einen umfassenderen historischen Prozess; siehe hierzu Rohbeck: Universalgeschichte und Globalisierung, S. 88. In diesem Prozess können Helden dann ihre Rolle einnehmen und werden in Schillers, Archenholz’ und Herders Darstellung entsprechend als Prinzipien einer notwendigen Geschichte inszeniert (vgl. III.3.3 und V.5). Hier wird noch einmal deutlich, warum Grüns heglianisch-geschichtsphilosophische Interpretation dieses Zitats (Friedrich Schiller als Mensch, S. 141) zu kurz greift (vgl. Anm. 22 oben).
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Schillers Verwendung des Wortes ›Zufall‹ im weiteren Text vom ›Abfall der vereinigten Niederlande‹. Modern an Schillers Zufallsbegriff ist für das ausgehende 18. Jahrhundert ohne Zweifel sein Verzicht auf jegliche metaphysische Absicherung zufälliger Ereignisse.149 Die historische Diskussion der zufälligen Ereignisse, oft verstärkt durch die Analogie zwischen Geschichte und Kultur, kann der Begebenheit das »Uebernatürliche« nehmen und zugleich deren »Ausserordentliches« unterstreichen.150 Zufällige Ereignisse haben keine direkte Begründung; sie passieren. Das Notwendige, das zur Fortentwicklung der Menschheit an der einen oder anderen Stelle passieren muss, wird aber durch Zufälle letztlich nicht grundlegend verändert. Im Umgang mit dem historischen Zufall beachtet Schiller die ihm bekannten historischen Tatsachen und verschließt sich auch nicht den Ergebnissen seiner Analyse, die die These vom zivilisatorischen Fortschritt, der sich in der in den Niederlanden entfaltenden Freiheit zeigen soll, widerlegen.151 Zum Beispiel fehlt dem Geusenbund der reine und höhere Zweck bzw. die Würde, wie sich an seiner Vermischung mit der »nichtswürdigen Rotte« (NA 17, S. 260) der Bilderstürmer zeigt: »Wären seine [des Geusenbundes, S.J.] Zwecke so rein gewesen, als er sie angab, oder auch nur so rein geblieben, als sie bei seiner Gründung wirklich waren, so hätte er den Zufällen getrotzt, die ihn frühzeitig untergruben, und, auch unglücklich, würde er ein ruhmvolles Andenken in der Geschichte verdienen« (NA 17, S. 260).152 Die Würde, die moralische Integrität oder das Ge149
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Siehe auch zur weiteren Funktion des Zufalls in der Geschichtsschreibung, insbesondere zur Spannung zwischen historischem Zufall und Wahrscheinlichkeit das Teilkapitel V.4 (insb. Anm. 80) im Archenholz-Kapitel sowie im Allgemeinen I.2.4 im Einleitungskapitel. »Bringt man gegen die Ungleichheit beider Kämpfer, die auf den ersten Anblick so sehr in Erstaunen setzt, alle Zufälle in Berechnung, welche jenen anfeindeten und diesen begünstigten, so verschwindet das Uebernatürliche dieser Begebenheit, aber das Ausserordentliche bleibt – und man hat einen richtigen Maßstab gefunden, das eigne Verdienst dieser Republikaner um ihre Freiheit angeben zu können. Doch denke man nicht, daß dem Unternehmen selbst eine so genaue Berechnung der Kräfte vorangegangen sey, oder daß sie beim Eintritt in dieses ungewisse Meer schon das Ufer gewußt haben, an welchem sie nachher landeten. So reif, so kühn und so herrlich, als es zuletzt da stand in seiner Vollendung, erschien das Werk nicht in der Idee seiner Urheber, so wenig als vor Luthers Geiste die ewige Glaubenstrennung, da er gegen den Ablaßkram aufstand« (NA 17, S. 20f.). Dabei ist immer zu beachten, dass Schiller ja nur die Vorgeschichte zur niederländischen Unabhängigkeit beschreibt, die erst einmal in größter Abhängigkeit der Niederländer in Albas Regime endete. Inwiefern Schiller tatsächlich einen realistischen Plan für eine Geschichte der Niederlande bis in die heutigen Zeiten verfassen wollte, ist für die Diskussion und Einordnung von Schillers Darstellungsverfahren unerheblich. Hervorhebung S.J.
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nie von historischer Person und Absichten müssen also Zufällen der Geschichte widerstehen. Hierfür steht Schillers Einführung des Prinzen Wilhelm von Oranien: »So langsam sein Geist gebahr, so vollendet waren seine Früchte; so spät sein Entschluß reifte, so standhaft und unerschütterlich ward er vollstreckt. Den Plan, dem er einmal als dem ersten gehuldigt hatte, konnte kein Widerstand ermüden, keine Zufälle zerstöhren, denn alle hatten, noch ehe sie wirklich eintraten, vor seiner Seele gestanden« (NA 17, S. 69). Weil Oranien mit seinem Genie den Zufall mit einkalkulieren kann, bietet er die besten Möglichkeiten, ist er der Kopf, der den Niederländern noch gefehlt hat. Schiller betont, dass Oranien das Prinzip verkörpere, das letztlich die Freiheit der Niederlande ermöglichte.153 Während das Genie der Spanier sich auf verschiedenste Köpfe verteilte, »[blieb] der Plan der Rebellion in dem einzigen Kopfe, worin er klar und lebendig wohnte, immer derselbe« (NA 17, S. 18). Oranien wird von Schiller als vereinigendes Prinzip gebraucht;154 dabei geht es nicht darum, den Prinzen als makellosen reinen Helden155 zu inszenieren, sondern nur darum, ein Prinzip zu gestalten, das die historischen Zufälle im Sinne eines Plans überwinden kann.156 Wann dieses Prinzip in der Weltgeschichte auftritt, ist für Schiller wiederum Zufall; die Entwicklung der Niederlande und übertragen des Menschen zur Freiheit sind hingegen notwendig und bereits im Niederlande-Text in eine teleologische Struktur eingebettet: »Noch fehlt die letzte vollendende Hand – der erleuchtete unter153
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Für eine historiographische bzw. biographische Darstellung von Wilhelm von Oranien, siehe Olaf Mörke: Wilhelm von Oranien (1533–1584). Fürst und »Vater« der Republik. Stuttgart 2007, für die von Schiller dargestellte Zeit insb. S. 73–121. Ähnlich inszeniert Archenholz die Person Friedrichs des Großen (siehe V.5) und Herder geniale historische Personen wie Luther, insbesondere in ›Auch eine Philosophie‹ (siehe III.3.2). Interessanterweise übersieht die monographische Arbeit, die sich systematisch mit der Heldenkonzeption Schillers auseinandersetzt, Oraniens Rolle als bedeutender Held Schillers völlig. Bei Nikolas Immer sind historische Helden nur Stoff für die Dramen. Dass Geschichtsdarstellung die Helden ähnlich wie das Drama in Szene setzen kann, entgeht Immer (Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie, Heidelberg 2008, S. 163–166). Zu Schillers transzendenter Überhöhung Oraniens innerhalb eines rechtshistorischen Kontexts, siehe hingegen auch Yvonne Nilges: Aber in Spanien schon tausend und drei. Perpetuelle Vertragsbrüche in Schillers ›Abfall der Niederlande‹. German Life and Letters 62 (2009), S. 378–400, S. 399. Siehe auch Schillers spezifische Begründung für den Stoff der Rebellion in den Niederlanden. Das Genie ist dem Zufall nicht von vornherein überlegen, sondern entsteht oft aus diesem: »Es ist also gerade der Mangel an heroischer Größe, was diese Begebenheit eigenthümlich und unterrichtend macht, und wenn sich andere zum Zweck setzen, die Ueberlegenheit des Genies über den Zufall zu zeigen, so stelle ich hier ein Gemählde auf, wo die Noth das Genie erschuf, und die Zufälle Helden machten« (NA 17, S. 11), Hervorhebungen S.J.
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nehmende Geist, der diesen großen politischen Augenblick haschte und die Geburt des Zufalls zum Plane der Weisheit erzöge« (NA 17, S. 13).157 Oranien wird für den ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ das Prinzip des Verstandes oder der Vernunft,158 was in der Geschichtsschreibung der philosophische Kopf und Geschichtsschreiber ist, der die Geschichte letztlich in einem Geschichtsprozess synthetisiert. Der Zufall taucht im Niederlande-Text immer wieder als zentrales Element des Verlaufs der Geschichte auf. Er wird nicht theologisch oder durch andere Sinnsysteme abgestützt. Durch den Zufall ist die Geschichte erst einmal unverfügbar. Ein typisches Ereignis zeigt Schiller in der abschließenden Bewertung der Regierung Margarethas. Die Unterdrückung der Protestanten und die Wiederherstellung der Ordnung in den Niederlanden war weniger Resultat von Margarethas Politik, sondern wurde vornehmlich durch den »zufällige[n] Ausbruch der Bilderstürmerei« (NA 17, S. 287)159 herbeigeführt. Zudem hätte Margaretha Philipp II. nur von den Zufällen berichtet, nie vom »Geist« und der »Sprache der Nation« (NA 17, S. 288).160 Der »zufällige Ausbruch der Bilderstürmerei« (NA 17, S. 288) ist also grundlegend für Schillers Aufzeigen von Notwendigkeiten in der Geschichte. Das an sich zufällige Ereignis führt Konsequenzen herbei, die letztlich die Fortentwicklung der menschlichen Zivilisation zur Freiheit bestimmen sollen. Die »völlige Erhebung über das Zufällige zum Allgemeinen und Notwendigen« im großen oder guten Stil161 steht Schiller hier aber begrifflich-theoretisch nicht zur Verfügung. Innerhalb seiner praktischen Geschichtsschreibung, die weiterhin einen historischen und referentiellen Wahrheitsanspruch besitzt, lassen sich die Zufälle nie vollends ins Allgemeine oder Notwendige überführen.162 Und hier setzt Schillers ästhetische Inszenierung der notwendigen Entwicklung der Geschichte ein, die im folgenden Abschnitt zuerst am Beispiel von Schillers Darstellung des ›zufälligen‹ Ereignisses Bildersturm untersucht wird. 157 158
159 160 161 162
Hervorhebungen S.J. Es steht außer Frage, dass Schiller mit seinen Begrifflichkeiten wie Vernunft, Menschenrechte oder Freiheit Begriffe und Ideen des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf die Geschichte des 16. Jahrhunderts rückprojiziert; also auch hier Gegenwart und Vergangenheit zusammenbringt. Hervorhebung S.J. Hierzu passt Schillers Interpretation, dass all die Zufälle in Spanien als ein bewusster Plan gelesen wurden (NA 17, S. 195f.). Siehe IV.3.2; Schiller an Körner, 28. Februar / 1. März 1793. NA 26, S. 225. Vgl. Wetz: Die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹, S. 32, zum Widerspruch zwischen ›Zufall‹ (sowie ›Kontingenz‹) und ganzheitlichem Denken in der Geschichte.
214
5.
Der kollektive Strom der Geschichte und Schillers Umarbeitung seiner Geschichtsquellen
Schillers Darstellungstechniken sind oft dadurch geprägt, wer das eigentliche Subjekt von Handlungen ist: Individuen, Gruppen oder Abstrakta, wie im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ zum Beispiel immer wieder die Nation. Die Reaktionen kollektiver Handlungssubjekte163 – wie einer anonymen oder semi-anonymen Masse – können so dargestellt werden, dass etwas Ungeplantes, zufällig Entstandenes als notwendig im Vollzug des Geschichtsprozesses erscheint. Ein durch ein anonymes Kollektiv bewirktes, in vielen seiner Auswirkungen zufälliges164 Ereignis ist der sogenannte Bildersturm, der mit der Zerstörung von Heiligenbildern in den katholischen Klöstern und Kirchen am 10. August 1566 begann und der von Historikern in der Regel als Beginn der niederländischen Revolution angesehen wird.165 Um die Spannung zwischen Schillers Inszenierung von historischen Notwendigkeiten auf der Darstellungsebene und Schillers Anspruch, die historische Welt referentiell korrekt darzustellen, zu verdeutlichen, wird die Episode des Bildersturms bzw. der Ikonoklasmen mit Bezug auf die textuelle Verarbeitung von Schillers Quellen analysiert.166 Schiller führt für den Beginn und die Entfaltung des Bildersturms fünf Quellen für sein historisches Wissen an:167 Emanuel von Meterens 163 164 165 166
167
Vgl. auch Süßmann: Denken in Darstellungen, S. 59. Vgl. den vorherigen Kapitelabschnitt IV.4 sowie NA 17, S. 288. Vgl. Mörke: Wilhelm von Oranien, S. 105–107. Für eine spezifisch auf Schillers Umgang mit seinen Quellen zugeschnittene Untersuchung, siehe Stephan Jaeger: Schiller und die Quellen seiner Geschichtsschreibung. Eine Untersuchung zur ›Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 216–246. Der folgende Abschnitt zur Quellenverwendung im Bildersturm ist eine überarbeitete Fassung der Seiten 223–231. Zu Schillers Quellenbegriff siehe die Diskussion von historischer, philosophischer und poetischer Wahrheit in Abschnitt IV.3.1. Der Kommentar-Band der beinahe abgeschlossenen Schiller-Nationalausgabe NA 19,II mit den Kommentaren zum ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ und ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ steht weiterhin aus; zur Zeit ist er für 2011 angekündigt. Siehe Prüfer: Die Bildung der Geschichte, S. 281–284, als eine Art Vorausveröffentlichung. Otto Danns Stellenkommentar zum ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ (Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6) geht auf Schillers Quellen nur am Rande ein. Für kurze kontextuelle und biographische Einordnungen von Schillers Quellen, siehe Waltraud Hagens Kommentar in der Berliner Schiller-Ausgabe (Friedrich Schiller: Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung; ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. In: Schiller, Sämtliche Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Hans-Günther Thalheim et al. Bd. 9. Bearbeitet von Waltraud Hagen. Berlin 2005, S. 740–746). NA 17, S. 203, Anm. k. Die Fußnote liest sich »Meteren. 86, Strad. 145–147. Burgundius. 294. 295. 300. Hopper. §. 126. Meurs. Guil. Auriac L. II. 13. 14«.
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›Eygentliche und vollkommene Beschreibung des Niederländischen Krieges‹168 von 1627, Famiano Stradas ›De Belle Belgico‹169 (entstanden zwischen 1618 und 1632), Nicolaus Burgundius’ ›Historica Belgica‹170 von 1629, die ›Recueil et Memorial‹ des niederländischen Staatsrats Joachim Hopper171 sowie die Geschichte des Prinzen von Oranien von Johannes van Meurs.172 Hiervon sind die Quellen von Hopper und dem niederländischen Altertumswissenschaftler und Historiker Meurs marginal für Schillers Repräsentation. Schillers textuelle Verarbeitung von seinen historischen Quellen und historiographischen Vorläufern soll im Folgenden am Beispiel des Bildersturms an Schillers drei zentralen historiographischen Quellen – der des jesuitischen Gelehrten und Rhetorikers Strada, des flämischen Historikers Meteren und mit leichten Abstrichen des katholischen, bayerischen Hofhistoriographen und Ingolstädter Professors Burgundius – gezeigt werden.173 Ein Blick auf die Inhalte lässt erkennen, dass Schiller sich an die Quellen hält und sie nicht wirklich kritisch bewertet, sondern auf seine Weise kompiliert. In allen Quellen werden die Abläufe des Bildersturms geschildert, teils mehr aus spanisch-katholischer Sicht (Strada), teils mehr aus niederländischer Sicht (Meteren). Meteren schreibt zum Beginn des Bildersturms: Es hat sich im Augst, erstlich in Flanderen bey Yperen / in dem das Volck auß Forcht mit Wapffen hin unnd her im Land nach der Predig gienge / begebe dz es irer etliche auß verwegene un unbedachtem Eyffer gewagt / unnd auff dem Wege erstlich etliche Bilder un Creuze abgerissen / darnach etliche Capellen / Kirchen unnd Klösster / auff ebenem Felde angegriffen / endlich aber in etlichen Staetten Crucifixen / Bilder / Sacramenthaeußlein / gemahlte Taffelen / Altaer mit aller Zierren so sie da funden / zu boden geworffen / in Stueck zerschlagen und zerbrochen habe: uund solches alles mit unglaublicher Geschwindigkeit / nicht ohne beysein allerley Huren und Buben […].174 168
169 170 171
172 173 174
Emanuel von Meteren: Eygentliche und vollkommene historische Beschreibung deß Niderländischen Kriegs. 2 Teile. Vom Niederländischen ins Hochdeutsche übersetzt. Teil 1. Amsterdam 1627. Famianae Stradae […]: De Bello Belgico decades duae Ab excessu Caroli V. imp. usque ad initium praefecturae Alexandri Farnesii […]. Moguntiae 1651 [= Strada]. Nicolai Burgundii […]: Historia Belgica ab anno M. D. LVIII. Ingolstadii 1629 [= Burgundius]. [Joachimus Hopperus]: Recueil et Memorial des troubles des Pays Bas du Roy. In: Vita Viglii ab Aytta Zuichemi Ab ipso scripta […]. Collegit, Digessit, Notisque Illustravit C.P. Hoynck van Papendrecht […] Tomus Secundus. Pars Secunda. Hagae comitum 1743, S. 17–116. Joannis Meursi: Gulielmus Auriacus. Pars Prima. Amstelodami 1638. Schillers Darstellung des Bildersturms basiert also fast ausschließlich auf historiographischen Sekundärquellen. Meteren: Eygentliche und vollkommene historische Beschreibung, S. 85.
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Meteren berichtet von einem vergangenen Ereignis im Präteritum; der Historiker Meteren befindet dabei in einer Erzählperspektive über der Geschichte. Er überschaut sie und die Distanz zum Geschehen ist markiert. Der Historiker weist auf seine weitere Fokussierung auf den Bildersturm in Antwerpen hin: »Damit wir aber dem Leser mit einer besondern Geschicht gnug thun / uund nicht mit vielen bemühen […].«175 Schiller dagegen fokussiert – bis auf den berichtenden ersten Satz (»geschah«) – auf das Ereignis als etwas gerade Geschehendes: Der Anfang des Bildersturms geschah in Westflandern und Artois, in den Landschaften zwischen dem Lys und dem Meere. Eine rasende Rotte von Handwerkern, Schiffern und Bauern, mit öffentlichen Dirnen, Bettlern und Raubgesindel untermischt, etwa 300 an der Zahl, mit Käulen, Aexten, Hämmern, Leitern und Strängen versehen, nur wenige darunter mit Feuergewehr und Dolchen bewafnet, werfen sich, von fanatischer Wuth begeistert, in die Flecken und Dörfer bei S. Omer, sprengen die Pforten der Kirchen und Klöster, die sie verschlossen finden, mit Gewalt, stürzen die Altäre, zerbrechen die Bilder der Heiligen und treten sie mit Füßen. (NA 17, S. 200)
Schiller verknüpft die historischen Ereignisse, indem jeder Satz als aktives Ereignis erscheint, aus dem sich wie in einer fortlaufenden Filmsequenz der nächste Satz logisch ergibt: Die Anzahl [von Predigt-Verächtern, S.J.] mehrte sich, und viele kamen schon mit verdächtigen Werkzeugen und heimlichen Waffen versehen. Endlich fällt es einem bei, es leben die Geusen! zu rufen; gleich ruft die ganze Rotte es nach, und das Marienbild wird aufgefodert, dasselbe zu thun. Die wenigen Katholicken, die da waren, und die Hoffnung aufgaben, gegen diese Tollkühnen etwas auszurichten, verlassen die Kirche, nachdem sie alle Thore, bis auf eines, verschlossen haben. (NA 17, S. 201)
Die ständige Vergegenwärtigung des Geschehens wird deutlich. Der historiographische Stil, in dem aus der Distanz etwas Gewesenes erzählt wird, wird auf eine Ereignisebene überführt: Es gibt Übergriffe, dann fällt einem ein zu rufen, »es leben die Geusen«, was zur Reaktion der Masse und Resignation der Katholiken führt. Schiller stellt Ursache- und Wirkungsverhältnisse der historischen Abläufe auf nicht-analytische Weise dar. Statt einer kausalen Konstruktion – ›Die Katholiken verließen die Kirche, weil …‹ – verwendet er eine parataktische Satzstruktur; ein Satz folgt aus dem nächsten. Die Sätze entsprechen einzelnen Ereignissen, sodass ohne explizite Begründung durch den Historiker jedes Ereignis aus dem vorherigen folgt. Es ist damit zwangsläufig, dass die Katholiken die 175
Meteren: Eygentliche und vollkommene historische Beschreibung, S. 85.
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Hoffnung aufgaben, weil die Masse ihnen überlegen ist. Und die Masse ist von Schiller wiederum als Ereignis inszeniert worden; der Leser kann Schritt für Schritt nachvollziehen, wie die Bilderstürmer die Oberhand gewinnen. Der Text inszeniert die Gewalt.176 Bei Meteren erlebt der Leser die Ereignisse nicht mit, sondern schaut mit dem Historiker Meteren von außen zu, zum Beispiel: »Als der Prinz von Oranien von der Regentin den Übelstandt zu schlichten / dahin gesand / wider gen Brüssel geruffen / und außgereist war / begab sichs deß andern Tages darnach […].«177 Dagegen schreibt Schiller zur selben Begebenheit: »Kaum hält die Gegenwart des Prinzen von Oranien die ausgelassene Bande noch im Zügel, die es ihren Brüdern in S. Omer nachzumachen brennt; aber ein Befehl des Hofs, der ihn eilfertig nach Brüssel ruft, wo die Regentin eben ihren Staatsrath versammelt, um ihm die königlichen Briefe vorzulegen, giebt Antwerpen dem Muthwillen dieser Bande preiß« (NA 17, S. 200f.). Die einzelnen Ereignisse bilden eine untrennbare Sequenz. Der Bildersturm in Antwerpen erscheint als notwendige Konsequenz von Oraniens Reise nach Brüssel, während bei Meteren nur eine zeitliche Abfolge zu erkennen ist. Doch bevor zu schnell Schlussfolgerungen bezüglich Schillers anschaulicher und präsentischer Geschichtsdarstellung gewonnen werden, ist es notwendig die Episode des Bildersturms mit Strada und Burgundius zu vergleichen, die beide in einem erheblich anschaulicheren Stil als Meteren schreiben.178 Nur dann kann gezeigt werden, inwiefern Schillers Geschichtsschreibung tatsächlich eine neue oder moderne Form von Geschichtserzählung und Geschichtsinszenierung ist. Burgundius’ Stil ähnelt – wenn auch stärker mit rhetorischen Floskeln ausgeschmückt – dem Schillers, da er vornehmlich parataktisch angelegt ist.179 Ein Ereignis 176
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179
Torsten Hoffmann: »Nehmt Spitzhacken und Hammer!« Funktionen und intermediale Implikationen von Bildzerstörungen bei Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist, Wilhelm Busch, Georg Heym und Botho Strauß. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 289–328, insb. S. 296f., erkennt – ohne sich mit den Quellen zu beschäftigen – Schillers narrative Inszenierung bei der Zerstörung des Marienbildes der Antwerpener Hauptkirche und weist auf die Kombination von Bildattentat und Musik sowie auf die sexuellen Konnotationen von Schillers Darstellung hin. Meteren: Eygentliche und vollkommene historische Beschreibung, S. 85. Für eine Analyse von Stradas Rhetorik, siehe Florian Neumann: Ars historica. Famiano Strada, S.I. (1572–1649) und die Diskussion um die rhetorische Konzeption der Geschichtsschreibung in Italien [diss. masch.]. München 1994. Neumann zeigt, wie bei Strada veranschaulichende Rhetorik und Stützung auf Quellen ineinandergreifen. Zum Beispiel: »Non sacro, non profano manus abstinent. Sedibus suis Monachos exturbant. Nihil intactum, nihil integrum relinquunt. Ornamentis sacrorum abutuntur ad ludibrium […]« (Burgundius: Historia Belgica, S. 293).
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der Zerstörung folgt auf das nächste. Burgundius fehlt aber der erzählerische Zusammenhang, der das historische Geschehen voranschreiten lässt. Sein Text liest sich mehr einer aufzählenden Chronik ähnlich als einer aufgeführten, sich entwickelnden Geschichte. Diese sich entwickelnde Geschichte wird im Weiteren für das Beispiel des Bildersturms am Vergleich zwischen Schillers und Stradas Darstellung der Verwüstung des Doms von Antwerpen ausgeführt. Die ›Fakten‹ übernimmt Schiller neben einzelnen Passagen Meterens vornehmlich von Strada. Die schöne Orgel der Kirche, ein Meisterstück damaliger Kunst, wird zertrümmert, alle Gemählde ausgelöscht, alle Statuen zerschmettert. Ein gekreuzigter Christus in Lebensgröße, der zwischen den zwei Schächern, dem Hochaltar gegen über, aufgestellt war, ein altes und sehr werthgehaltenes Stück wird mit Strängen zur Erde gerissen, und mit Beilen zerschlagen, in dem man die beiden Mörder zu seiner Seite ehrerbietig schont. (NA 17, S. 201)
Bei Strada finden sich alle diese Details des eigentlichen Aktes der Zerstörung: die zertrümmerte schöne Orgel,180 Schillers »Gemählde« sind die zerbrochenen Glasfenster,181 die Statuen der Heiligen und fast wörtlich das Kruzifix und die beiden Mörder bzw. Diebe zu dessen Seite.182 Der einzige Unterschied zeigt sich in Stradas stärkerer Detailliertheit bei den Statuen, deren Zerstörung genau beschrieben wird,183 während Schiller sie erst einmal nur in eine Aufzählung einfügt. Beide beschreiben die Zerstörung präsentisch; in beiden Darstellungen finden sich keine individuellen Akteure, sondern eine anonyme Masse als Subjekt der Zerstörungen. Der Unterschied liegt in Schillers stärkerer Pointiertheit; Details haben weniger Aufzählungscharakter, als dass sie einen historischen Spannungsablauf erzeugen. Dies wird deutlicher, wenn man den Vergleich zwischen Strada und Schiller am Beispiel des Bildersturms in Antwerpen fortsetzt. Der katholische Strada verurteilt den Bildersturm und wundert sich, wie eine der größten und schönsten Kirchen in Europa, voller Bilder und Statuen, von einigen wenigen Menschen fast vollständig zerstört bzw. entheiligt wer180 181 182 183
»[…] organoru molem sane pulcherrimam […] confringunt« (Strada: De Bello Belgico, S. 146). »[…] specularia nouo picturae genere illuminata baculis confringunt« (Strada: De Bello Belgico, S. 146). »[…] peruetus ac praegrande Christi Domini signum e Cruce pendentis inter duos latrones contra aram maximam, intactis utrinque latronibus« (Strada: De Bello Belgico, S. 146). »[…] ex epistyliis, pegmatibusque ingentes Diuorum statuas« (Strada: De Bello Belgico, S. 146).
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den konnte.184 Dies führt er detailliert aus, bevor er auf die weiteren Ereignisse in und um Antwerpen zu sprechen kommt. Stradas Fazit spricht von den drei Tagen der völligen Zerstörung, in denen so viele Meisterwerke verloren gegangen seien, dass alleine die Kirche einen Verlust im Wert von 400000 Dukaten erlitten habe.185 Auch Schiller fährt in der Darstellung der Ereignisse während der Kirchenverwüstung fort, doch während Strada letztlich die Ereignisse entlanggeht, eines nach dem anderen auf anschauliche Weise berichtet, sind Schillers Ereignisse Teil einer Textbewegung. Der Stil drückt das Ereignis aus, nicht die Semantik der Worte das Ereignis; damit wird Geschichtsschreibung performativ. Bei Schiller endet die Episode vom Bildersturm in Antwerpen mit dem Satz: »Die aufgehende Sonne zeigte endlich die geschehene Verwüstung [des Bildersturms in Antwerpen]« (NA 17, S. 202), ein Satz, der in keiner Schillerquelle zu finden ist. Während Strada durch die Größe von Zahlen das Resultat der Zerstörung ausdrückt, gewinnt der Leser bei Schiller zusammen mit dem Historiker Schiller einen Überblick, wodurch Schiller im letzten Satz ins Präteritum wechseln kann. Die Besonderheit von Schillers Schreibweise liegt also darin, dass der historiographische Text so wirkt, als geschähe der Erkenntnisprozess, während geschrieben bzw. gelesen wird. Der Historiker verweist in diesen Passagen nicht explizit auf seine außen stehende Position. Ein Überblick über die Verwüstungen wird erst während des Geschehens gewonnen. Damit wiederholt sich das historische Ereignis neu, wie die Theaterinszenierung oder jede Aufführung dasselbe Geschehen doch immer wieder neu entstehen lässt. Distanzierungselemente der Analyse bleiben marginal bzw. sind in den Fluss der Ereignisse eingebunden. Strada hingegen geht die Ereignisse Schritt für Schritt entlang. Der Erkenntnisprozess des Beobachters ist nicht Teil der Geschichte. Diese textuelle Neuerung Schillers wird noch deutlicher, wenn man den analytischeren Einstieg von Schiller für die Gründe des Bildersturms, der vor den konkreten Ereignissen in Westflandern und Artois liegt (NA 17, S. 198–201) im Vergleich zu Jan Wagenaars ›Allgemeiner Geschichte der Niederlande‹ (1756–58) hinzuzieht.186 Wagenaar, wie Schiller 184 185
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Strada: De Bello Belgico, S. 146. »Tres ipsos dies Antuerpiae tenuit ea Sacrorum strages, atque direptio, tam grandi iactura operum pulcherrimorum, ut non desint, qui scribant, Unius principis templi damnum quadrigentis circiter aureorum millibus aestimatum esse« (Strada: De Bello Belgico, S. 148). [Jan Wagenaar]: Allgemeine Geschichte der Vereinigten Niederlande, von den ältesten bis auf gegenwärtige Zeiten, aus den glaubwürdigsten Schriftstellern und bewährten Urkunden verfasset. Aus dem Holländischen übersetzt. 3 Bde. Leipzig 1756–1758.
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ein Geschichtsschreiber des 18. Jahrhunderts, greift auf dieselben Quellen – sowie auf für Schiller nicht zugängliche niederländische Geschichtswerke – zurück.187 Er konzentriert sich dabei in seiner Darstellung des Bildersturms ganz auf Holland, übergeht die Ereignisse um Antwerpen und analysiert nur kritisch die Gründe für den Ausbruch des Bildersturms. Wagenaar geht sehr beschreibend vor; nichts ergibt sich implizit aus dem vorherigen Satz. Es ist unsrere Absicht nicht, umständlich zu erzählen, wie dieser Greuel zuerst am 14ten August [Anmerkung f. Strad. Dec I. Lib. V, p. 235] in Flandern und Artois angefangen, noch, wie er sich von dort nach Antwerpen ausgebreitet habe, wo die große Kirche, eines der prächtigsten Gebäude in Europa, von einem Hundert Lotterbuben, mit dem Beystande eines Haufens Huren und Jungen, in wenigen Stunden geplündert und geschändet ward [Anmerkung g. Bezug auf holländische Geschichtsschreiber] […].188
Statt die historischen Ereignisse darzustellen, erörtert Wagenaar sogleich die Ursachen für den Bildersturm. Auch Schiller beginnt mit der Analyse (NA 17, S. 198f.). Die Analyse des Historikers ist den Ereignissen, die bereits oben analysiert wurden, vorangestellt. Die Ursache für die Bilderstürmerei ist Schiller zufolge also kein überlegter Plan des niederländischen Adels, sondern der Bildersturm geschieht, […] weil diese wüthende That in ihrer Entstehung zu rasch, in ihrer Ausführung zu leidenschaftlich, zu ungeheuer erscheint, um nicht die Geburt des Augenblicks gewesen zu seyn, in welchem sie ans Licht trat, und weil sie aus den Umständen, die ihr vorhergiengen, so natürlich fließt, daß es so tiefer Nachforschungen nicht bedarf, um ihre Entstehung zu erklären. (NA 17, S. 199)
Die Neuheit von Schillers Schreibweise lässt sich exakt im Vergleich des Übergangs bei Wagenaar und Schiller von dieser theoretischen Reflexion zur Darstellung der historischen Ereignisse verfolgen.189 Wagenaars Analyse hört trotz langsamer Überleitung zu den späteren Ereignissen des Bildersturms nie vollständig auf; es folgen fortlaufend Erklärungen des His187 188 189
Wagenaar wird zwar in Schillers Einleitung, aber kaum – und nicht in den hier untersuchten Abschnitten – in seinen Fußnoten genannt (NA 17, S. 9). Wagenaar: Allgemeine Geschichte. Bd. 3, S. 81. Vgl. auch Hoffmann dazu, dass Schiller dem zeitgenössischen Forschungsstand zum Bildersturm bewusst nicht entspricht (»Nehmt Spitzhacken und Hammer«, S. 292f.). Hoffmann deutet Schillers Intention einer Geschichtsinszenierung zumindest an, wobei er aber den Grund dafür vorwiegend in Schillers moralischer Verwerfung der Bilderstürmer als Kollektiv sieht (Ebd., S. 290–292), nicht in der ästhetischen Inszenierung von historischen Notwendigkeiten.
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torikers – wie es auch bei Strada fortlaufend Beurteilungen gibt – zum Beispiel: »Einen so großen Haufen hat es sonder Zweifel verdrossen, bey Annäherung des Winters länger in dem Felde zusammen zu kommen«190 oder Zu Middelburg fing sie [die Plünderung] am 22sten August an. Verschiedene obrigkeitliche Personen […] waren hier der reformirten Lehre zugethan: welches den uncatholischen Pöbel, der von einigen aus dem Kirchenrathe aufgewiegelt oder angeführet ward, verwegener machte. Man fiel also in die Abtey zu unser Lieben Frauen, welche jämmerlich ausgeplündert ward. Der Bürgermeister Adrian Klaassohn wird beschuldiget, daß er das Volk hiezu anhetzet habe: allein vielleicht hat er nur Befehl gegeben, die Bilder in guter Ordnung wegzunehmen […].191
Das Ereignis wird kurz genannt, mit einigen Attributen wie »jämmerlich ausgeplündert« belegt, bevor Ursache und Wirkung der Ereignisse analysiert werden. Die Ereignisse stehen nie für sich selbst, sondern existieren nur als Referenz für die Reflexion des Historikers über Ursache und Wirkung. Schiller dagegen setzt nach seiner theoretischen Erörterung damit fort, dass es keinen allgemeinen Plan gegeben haben könnte. Er befindet sich hier immer noch im eigentlichen Analyseteil, bevor er auf die konkreten Ereignisse, auf spezifische historische Orte oder Personen zu sprechen kommt: Eine rohe zahlreiche Menge, zusammengejagt aus dem untersten Pöbel, viehisch durch viehische Behandlung, von Mordbefehlen, die in jeder Stadt auf sie lauren, von Gränze zur Gränze herumgescheucht, und bis zur Verzweiflung gehetzt, genöthigt ihre Andacht zu stehlen, ein allgemein geheiligtes Menschenrecht, gleich einem Werke der Finsterniß zu verheimlichen – vor ihren Augen vielleicht die stolz aufsteigenden Gotteshäuser der triumphirenden Kirche, wo ihre übermüthigen Brüder in bequemer und üppiger Andacht sich pflegen; sie selbst herausgedrängt aus den Mauern, vielleicht durch die schwächere Anzahl herausgedrängt, hier im wilden Wald, unter brennender Mittagshitze, in schimpflicher Heimlichkeit, dem nehmlichen Gott zu dienen – hinausgestoßen, aus der bürgerlichen Gesellschaft in den Stand der Natur, und in einem schrecklichen Augenblick an die Rechte dieses Standes erinnert. (NA 17, S. 199)
Die Stimme des Historikers verschwindet fast ganz, bis auf adverbiale Partikel wie »vielleicht«, die das unsichere Suchen nach historischen Erklärungen anzeigen. Schiller inszeniert Schritt für Schritt eine Begründung 190 191
Wagenaar: Allgemeine Geschichte. Bd. 3, S. 82. Wagenaar: Allgemeine Geschichte. Bd. 3, S. 83.
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für einen kollektiven Aufstand der durch die spanische Inquisition Unterdrückten, statt diese Begründung einfach abzuleiten. Hierbei nutzt er perspektivische Techniken. Zuerst wird die Menge von außen beschrieben und bewertet; der Historiker urteilt moralisch, dass den Bilderstürmern ihre »Menschenrechte« nicht zugestanden werden.192 Dann geht der Text beinahe unmerklich in die Perspektive der Aufständischen über. Er erklärt im Vollzug von deren Bewusstsein, warum die Masse so reagieren konnte, nicht durch Analyse, in der Quellenmaterial und Standpunkt des Analytikers zu besseren und distanzierten Reflexion getrennt sind: »vor ihren Augen vielleicht die stolz aufsteigenden Gotteshäuser der triumphirenden Kirche, wo ihre übermüthigen Brüder in bequemer und üppiger Andacht sich pflegen; sie selbst herausgedrängt aus den Mauern« (NA 17, S. 199). Im letzten Teil des Satzes entsteht ein Konstrukt. Scheinbar ist der Text immer noch aus der Kollektivperspektive der Aufständischen geschrieben; tatsächlich verschmilzt Schiller eine philosophische Reflexion über die Rechte der bürgerlichen Gesellschaft mit den Erfahrungen des Kollektivs, wodurch der Fortschritt zur bürgerlichen Freiheit statt als Erkenntnis über den historischen Prozess als konsequente Folge der Ereignisse erscheint. Wieder findet die historische Entwicklung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint, damit auch der abstrakte Fortschritt zur Freiheit, statt, und wird nicht nur berichtet oder analysiert. Diese allgemeine Inszenierung des Bildersturms geht dann in die schon oben geschilderten konkreten Ereignisse des Bildersturms in Antwerpen über. Moralisch bewertet Schiller den Bildersturm im Endeffekt negativ, allerdings weniger ausgeprägt als bei Strada und Burgundius.193 Dies gilt aber mehr für einzelne Subjekte, die zu einem kollektiven Handlungssubjekt, einer Masse, zusammengefasst sind. Der Prozess der Geschichte als solches erscheint durch seinen Vollzugscharakter plötzlich als notwendig, als etwas zwar Ungeplantes, zufällig Entstandenes, aber doch Konsequentes und Notwendiges auf dem langen Weg zur Freiheit.194 192
193 194
Schillers Verwendung des zeitgenössischen Wortes ›Menschenrechte‹ für eine über 230 Jahre zurückliegende Begebenheit ist ein gutes Indiz, wie der Historiker die Gegenwart, auf die der historische Prozess fortschrittlich zusteuert, in den Text integriert wird. Siehe hierzu insbesondere die präzise Untersuchung des rechtsgeschichtlichen Kontexts im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ von Nilges (Aber in Spanien, insb. S. 389–400). Vgl. auch Hugo Dittberner zu Schillers Mischung aus historischem und gegenwärtigem Wortschatz (Schillers historischer Beruf. Eine Erzählung. Text + Kritik. Friedrich Schiller. Sonderband 2005, S. 96–107, S. 99f.). Siehe z. B. NA 17, S. 199; S. 205; S. 218. Dieser Weg wird in Schillers ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ letztlich nur angedeutet, da die langfristige Freiheit der Niederlande ja weit über den von Schiller gewählten Geschichtsrahmen hinausgeht.
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Schillers Quellengenauigkeit nimmt im Verlauf des ›Abfalls der vereinigten Niederlande‹ ab. Während im ersten Buch des Textes noch sehr genaue Einzelverweise gegeben werden, geht Schiller im Weiteren immer stärker auf Sammelfußnoten über,195 womit eine konkrete Zuordnung der Quellen unmöglich wird, es sei denn der Leser zieht selbst die Quellen hinzu.196 Es wäre für Schiller ohne weiteres möglich zu zeigen, welche Details der Antwerpener Bilderstürmerei auf Strada, auf Meteren oder auf Burgundius zurückgehen. Man kann dies zwar oberflächlich als Schillersche Ablehnung des Gelehrtengestus interpretieren, doch bei genauerem Betrachten wird deutlich, dass Schiller gar nicht genauer belegen darf. Sein Text basiert auf der performativen Neu-Erzeugung bzw. Wiederholung und Re-Inszenierung historischer Abläufe. Der Bildersturm läuft als Gesamtereignis ab; nur so können zufällige Begebenheiten in den notwendigen Ablauf zur Freiheit umgedeutet werden. Verweise auf Einzelheiten, auf exakte Textstellen, würden Schillers Geschichtsstrom wieder zerlegen. Die Fußnoten schaffen den Beweis für die Glaubwürdigkeit von Schillers Geschichte, doch ihre Unschärfe gehört zu Schillers Inszenierung von Geschichte. Wenn Geschichte nicht mehr ein Bericht ist, in dem der Leser auf das Gewesene zurückschaut, sondern etwas, das er noch einmal in seinen Zufällen und Notwendigkeiten miterleben muss, ist es wichtig, dass der Leser dem Realitätsstatus der Geschichtsschreibung glaubt und das Geschehen ohne gelehrsame Unterbrechungen noch einmal imaginieren kann. Dies zeigt sich auch in der zweiten – neben dem Bildersturm – grundlegenden Episode im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹, in der Schiller kollektive Notwendigkeiten textuell erzeugt. Dies ist die so genannte Verschwörung des Adels, die zur Bildung des Geusenbundes führt. Hierin versucht der niedere Adel der Niederlande, seine adelig-freiheitlichen Rechte, die durch die Erlasse des Spanischen Königs und die damit verbundene Inquisition verletzt scheinen, gegenüber der Oberstatthalterin einzuklagen. Auch hier wird Geschichte zum performativen Akt. Die kol-
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Wagenaar verwendet hingegen bereits gut 30 Jahre vor Schiller ein präzises und nachvollziehbares Verweisungssystem auf die historischen Quellen (Allgemeine Geschichte. Bd. 3, 22. Buch). Für eine ausführlichere Darstellung der Funktion der Sammelfußnote, siehe Jaeger: Schiller und die Quellen, S. 231–233. Zur Geschichte der Fußnote, allerdings ohne besondere Berücksichtigung des Phänomens der Sammelfußnote, im Zeitalter der Aufklärung, siehe auch Anthony Grafton: The Footnote. A Curious History. Cambridge, Mass. 1997, insb. S. 94–121.
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lektive Masse197 – anders als einzelne Menschen nicht moralisch und in ihrem Genius bewertbar – führt zu einem Sog von Ereignissen, dem die Oberstatthalterin vor dem Bildersturm ratlos entgegensteht: Wer sich da [bei großen Gastmahlen, S.J.] einfand (und jeder war willkommen) wurde durch zuvorkommende Freundschaftsversicherungen mürbe gemacht, durch Wein erhitzt, durch das Beispiel fortgerissen und überwältigt durch das Feuer einer wilden Beredtsamkeit. Vielen führte man die Hand zum Unterzeichnen, der Zweifelnde wurde gescholten, der Verzagte bedroht, der Treugesinnte überschrieen; manche darunter wußten gar nicht, was es eigentlich war, worunter sie ihre Namen schrieben, und schämten sich, erst lange darnach zu fragen. (NA 17, S. 162)198
Schillers Text ist beinahe identisch mit seiner Hauptquelle für diese Stelle: Nicolai Burgundius. Der Text ist bis in die rhetorischen Figuren, zum Beispiel der Wiederholung all der Akte der ›Verschwörer‹ wörtlich in Schillers Renaissance-Vorbild enthalten. Doch Schiller verdichtet die Episode und genau hier überschreitet sein Text die Renaissance-Rhetorik von Burgundius. Burgundius beschreibt die Ereignisse und steigert sie, um zu zeigen, wie viele Menschen der Verschwörung beitraten. Schiller hingegen umgibt die Werbung mit Momenten des Zwanges oder der Notwendigkeit, die über die Bestechung und Betäubung durch Speis und Trank hinausgehen. Das Feiern und Trinken wird nicht zur Reflexionslosigkeit der Umworbenen genutzt, vielmehr ist es Teil des »Feuer[s] einer wilden Beredsamkeit«. Diese Beredsamkeit symbolisiert die Wirkung der von rhetorischer Beredsamkeit und Verführungskünsten strotzenden Werbungsstrategien der Adeligen. Bei Schiller wird die Beredsamkeit oder Rhetorik zum Vehikel der Geschichte; bei Burgundius dient sie nur der überzeugenden und plastischen Darstellung. Während Burgundius schreibt, dass am nächsten Tag, wenn jemand in seinem Herzen über die Größe seiner Taten nachdachte, er nicht bereit war, dies wieder zurückzunehmen,199 heißt es bei Schiller: »Der allgemeine Schwindel ließ keine Wahl übrig; viele trieb bloßer Leichtsinn zu der Parthey, eine glänzende Kameradschaft lockte die Geringen, den 197
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Ein weiteres Beispiel, wie eine Masse aus zufälligen Ereignissen eine notwendige Entwicklung der Geschichte bewirkt, findet sich in der Reaktion der Antwerpener nach der Schlacht bei Oosterweel (siehe hierfür auch IV.7): »Jede Parthey fürchtet von der andern, jeder sieht in seinem Nachbar seinen Feind; das Geheimniß vermehrt diese Furcht und dieses Entsetzen, ein schrecklicher Zustand für eine so menschenreiche Stadt, wo jeder zufällige Zusammenlauf sogleich zum Tumulte, jeder hingeworfene Einfall zum Gerüchte, jeder kleine Funken zur lohen Flamme wird und durch die starke Reibung sich alle Leidenschaften heftiger entzünden« (NA 17, S. 236, Hervorhebung S.J.). Burgundius: Historia Belgica, S. 160. Burgundius: Historia Belgica, S. 160.
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Furchtsamen gab die große Anzahl ein Herz« (NA 17, S. 162). Das Herz wird damit der letzte Punkt von notwendigen Gründen, die sich einander ergänzen und damit die Verschwörung des Adels wie zu einem Sog werden lassen, dem sich niemand entziehen kann. Bei Burgundius wird letztlich keine übergreifende Konsequenz aus der anschaulichen Festszene gezogen. Auf das exzessive Feiern, was die Menschen überzeugt, folgt direkt der Bericht über weitere historische Begebenheiten, insbesondere über die – nach Burgundius und Schiller – gefälschten Unterschriften von Mitgliedern des Hochadels, u. a. von Oranien und Egmont.200 Schiller hingegen kreiert ein übergreifendes Ereignis in einer präsentischen Darstellung, das unterschiedliche Menschentypen umfasst und letztlich alle mitreißt. Was bei Burgundius also eine Aufzählung aufeinander folgender Momente einer diachronen Kette von Ereignissen ist, ereignet sich bei Schiller als notwendige Gesamtbewegung. Schiller lässt das Kollektivsubjekt der Verschwörer zunehmend zum Kollektivsingular der Geschichte werden. Die Geschichte übernimmt die rhetorische Beredsamkeit der Adeligen.
6.
Ästhetisch inszenierte Beredsamkeit
Bereits in der Episode von der Verschwörung des Adels war zu erkennen, wie Schiller rhetorische Sprechakte auf der Ebene der Geschichte verwendet, um sie im Zuge seiner Vertextung auf der Ebene der Darstellung zu verdoppeln. Noch deutlicher als bei der Inszenierung kollektiver Notwendigkeiten wird dies in Dialogszenen zwischen einzelnen historischen Personen. Hierbei greift Schiller auf die Augenzeugen-Quellen von Viglius und Hopperus sowie insbesondere auf den Geschichtsschreiber Burgundius zurück, dessen Geschichtsdarstellung mit fiktiven Reden gespickt ist. Besonders eindrücklich sind hierfür Szenen mit der niederländischen Oberstatthalterin, der Herzogin von Parma, da die Parteien – der Prinz von Oranien und seine Anhänger einerseits und die Königstreuen um Kardinal Granvella, den Staatsratpräsidenten Viglius u. a. andererseits – versuchen, sich Einfluss auf die Regentin zu verschaffen. Hierbei wird insbesondere die Beredsamkeit der antiken Geschichtsschreiber und der höfischen Renaissance von Schiller genutzt.201 200 201
Burgundius: Historia Belgica, S. 160f. Der jüngst von Daniel Fulda entwickelte Begriff des Figurenwissens kann hier dabei helfen, methodologisch zu erklären, wie durch die Konzentration auf die einzelnen Figuren historisches Wissen und Einsichten in die wahrscheinlichen kollektiven Verhaltensweisen der Zeit gewonnen werden können (»Sçavoir l’Histoire«).
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Auf dem Höhepunkt der Bilderstürmerei (NA 17, S. 205) beschreibt Schiller die Angst der Regentin, die Brüssel verlassen will, jedoch vom Präsidenten des niederländischen Staatsrats, Viglius, durch Beredsamkeit und andere strategische Tricks, die eine Flucht verunmöglichen, daran gehindert und letztlich davon überzeugt wird, dass sie bleiben muss. Durch den Vergleich zu Wagenaar lässt sich wiederum zeigen, wie Schiller neue Formen der Geschichtsdarstellung schafft. Bei Wagenaar heißt es kurz, nach einer Beschreibung der Absichten der Regentin: »Allein die andern Großen und der Präsident Viglius selbst widerriethen es ihr so ernstlich […], daß sie erstlich zu wanken anfing; und hernach ward sie von der Bürgerschaft zu Brüssel, welche die Thore verschlossen hielte und bewachte, so gut als gezwungen zu bleiben.«202 Schiller beruft sich im Kern – Wagenaar führt weitere Quellen auf Niederländisch an – auf dieselben Quellen: Burgundius, Hopperus und die ›Vita Viglii‹.203 Doch anstatt wie der holländische Historiker nur das Resultat zu berichten, inszeniert Schiller die Verstellungskünste. Sein Leser erlebt, wie Geschichte durch Verstellung abläuft, wie Viglius die Regentin überzeugt bzw. durch Tricks dazu bringt, zu zögern, bis sie Brüssel nicht mehr verlassen kann.204 Der dramatische Anfang der nächtlichen Fluchtgedanken und des plötzlichen Erscheinens von Viglius vor Margareta in der Morgendämmerung ist durch Burgundius inspiriert, wird bei Schiller aber deutlich dramatisiert. Schiller schreibt: »Mit Anbruch des Tages steht der Greis Viglius vor ihr [der Regentin], den sie, den Großen zu Gefallen, schon lange Zeit zu vernachlässigen gewohnt war. Er will wissen, was diese Zurüstung bedeute, worauf sie ihm endlich gesteht, daß sie fliehen wolle, und daß er wohl thun würde, wenn er sich selbst mit zu retten suchte« (NA 17, S. 205f.).205 Viglius fährt nach Schiller folgendermaßen fort: »›Zwei Jahre sind es nun […] daß sie dieses Ausgangs der Dinge gewärtig seyn konnten. Weil ich freier gesprochen hab, als Ihre Höflinge, so haben Sie mir Ihr fürstliches Ohr verschlossen, das nur verderblichen Anschlägen geöfnet war‹« (NA 17, S. 206). Die Regentin gibt dies zu, worauf Viglius fragt: »›Sind Sie gesonnen […] auf den 202 203 204
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Wagenaar: Allgemeine Geschichte, Bd. 3, S. 86. NA 17, S. 206, Anm. o: »Burgund. 330. 331. Hopper. § 128. Vita. Vigl. 48«. Auch Meteren berichtet, etwas detaillierter als Wagenaar, von der Furcht und dem Zögern der Regentin (Eygentliche und vollkommene historische Beschreibung, S. 88), doch der Leser erlebt deren Zögern nicht mit, er hört nur nachträglich davon. Hervorhebung S.J. Nur dieser hervorgehobene Relativsatz ist Schillers Interpretation; alles andere findet sich bei Burgundius: »Luce prima Viglius supervenit; & quo tam subito properaret, interrogat. Tum Gubernatrix praesentes metus effata, & quae manentibus instarent pericula; ›prudenter quoque facturum‹, dixit ›si fugam simul adornaret in Hannoniam […]‹« (Historia Belgica, S. 329).
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königlichen Mandaten mit Beharrlichkeit zu bestehen?‹ ›Das bin ich,‹ antwortete ihm die Herzogin. ›So nehmen Sie Ihre Zuflucht zu dem großen Geheimniß der Regentenkunst, zur Verstellung, und schließen scheinbar an die Fürsten an, bis Sie mit ihrer Hülfe diesen Sturm zurückgeschlagen haben‹« (NA 17, S. 206). Viglius rät der Regentin also in direkter Rede zum Mittel der Verstellung, während er – in Schillers Dialogtechnik perfektioniert – selbst die Regentin durch Verstellung und Beredsamkeit dazu bringt, weiter zu zögern, bis sie die Stadt nicht mehr verlassen kann. Schillers Hauptquelle ist dabei die ›Vita Viglii‹, in der Schillers Dialog in zwei Teilen dargestellt wird: zuerst in indirekter Rede als Gespräch, in dem die Regentin Fluchtgedanken hegt und Viglius sie durch Erinnerung an ihre Pflicht dem spanischen König gegenüber davon abhält206 und dann, wenn sie sich tatsächlich zur Flucht vorbereitet und Viglius sie durch Zureden solange aufhält, bis andere Mitglieder des Magistrats und Adelige hinzukommen, und die Regentin gemeinsam vom Umsetzen der Flucht abbringen können.207 In der ›Vita Viglii‹ findet sich also ein ausführlicherer Dialog in indirekter Rede als bei Schiller; die Frage, ob die Regentin bereit sei, auf den königlichen Mandaten zu beharren, übernimmt Schiller aus Viglius’ indirekter Rede.208 Doch es ist eine entscheidende Verschiebung zwischen Schillers Text und seinen Quellen zu erkennen: Viglius letzter Redebeitrag in diesem Dialog wird von Schiller logisch erschlossen oder zumindest kreativ erweitert. Vom ›großen Geheimnis der Regentenkunst‹, von der ›Verstellung‹ ist weder in der ›Vita Viglii‹ noch bei Burgundius die Rede.209 Schiller nutzt das Dialogische in der ›Vita Viglii‹ und das insistierende Moment, das Burgundius Viglius’ Rhetorik und Bemühungen einschreibt, um den Effekt der Verstellungskünste zu inszenieren.210 Ergänzt wird 206
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Vita Viglii ab Aytta Zuichemi Ab ipso scripta. In: Vita Viglii ab Aytta Zuichemi Ab ipso scripta […]. Collegit, Digessit, Notisque Illustravit C.P. Hoynck van Papendrecht […] Tomus primus. Pars prima. Hagae comitum 1743, S. 1–54, hier: S. 47. Der von Schiller verwandte, oben zitierte Satz des Viglius »Zwei Jahre sind es nun […]« stammt aus diesem Abschnitt: »[…] qui respondit, se iam per biennii tempus satis animadvertisse«. Vita Viglii, S. 48. Bei Burgundius wird die erste Rede des Viglius nur in ihrem insistierenden Gestus zusammengefasst (Historia Belgica, S. 330). Später folgt nach dem Hinzukommen einiger Adeliger die zweite Rede des Viglius (Ebd., S. 330f.), die für Schiller die Basis für seinen beredsamen Dialog wird. »[C]onvenire itaque ut secum ipsa statuat, Regi obsequi an velit, an vero cum aliis longius dissimulare« (Vita Viglii, S. 47). Die Wortwahl in der ›Vita Viglii‹ – »dissimulare« (S. 47) – könnte höchstens als Verbergen der Parteinahme für den spanischen König gedeutet werden. Indem Schiller das Dialogische seiner Renaissancequellen beibehält, setzt er sich deutlich von der aufklärerischen Geschichtsschreibung vor ihm ab. Wagenaar berichtet wiederum nur das Resultat: »Allein die andern Großen und der Präsident Viglius selbst widerriethen
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Schillers Darstellung durch Begriffe des 18. Jahrhunderts, wie das Appellieren von Viglius an Margaretas Herz (NA 17, S. 206). Schiller verkürzt, pointiert und dramatisiert seine Quellen, um das die Regentin Überzeugende zur Darstellung bringen zu können. Wie bei der kollektiven Inszenierung der Ereignisse des Bildersturms lässt Schiller auch in der Dialoginszenierung zwischen Viglius und der Regentin Geschichte ablaufen. Sie vollzieht sich damit wie auf einer Bühne, statt nur erzählt bzw. berichtet zu werden.211 Damit gelingt es dem Historiker Schiller, den zufälligen Begebenheiten der Geschichte auf verschiedenen Ebenen eine Notwendigkeit zu geben. Schiller beruft sich also explizit auf die Rhetorik des 16. Jahrhunderts und setzt im Zuge der Tradition, dass die Geschichtsschreibung wie die Literatur bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert zu den schönen Künsten gehörte, Rhetorik als grundlegendes Mittel seiner eigenen Geschichtsschreibung ein. Diese Geschichtsschreibung war daher freier, poetische und rhetorische Mittel zur Darstellung von Geschichte zu verwenden, als die moderne, sich im 19. Jahrhundert entwickelnde Disziplin Geschichtswissenschaft, da deren Diskurs stärker auf dem Akkuratheitsgebot der Quellenanalyse und auf der auf die historische Wirklichkeit ausgerichteten Wahrheitsfunktion beruht.212 Dass sich, wie oben diskutiert,213 Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ zwischen diesen Positionen bewegt, ist ein wesentlicher Grund, warum Schillers Geschichtsschreibung textuelle Welten ästhetisch inszenieren kann, und seine rhetorischen Techniken keineswegs einfach ein veralteter, noch nicht modernisierter Teil seiner Geschichtsschreibung sind.214
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es ihr so ernstlich […], daß sie ernstlich zu wanken anfing; und hernach ward sie von der Bürgerschaft zu Brüssel, welche die Thore verschlossen hielte und bewachte, so gut als gezwungen zu bleiben« (Wagenaar: Allgemeine Geschichte. Bd. 3, S. 86). Ulrich Raulff argumentiert zurecht, dass Schiller auch in seinen historischen Schriften zum Bühnenautor wird, dem es vornehmlich auf die Wirkung der Texte ankommt (Schiller, der Enthusiasmus, die Historie. In: Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2006, S. 325–338, hier: S. 334). Vgl. auch das Herder-Kapitel (insb. III.3.3) zur Theatermetaphorik in der Geschichte. In den realhistorischen Texten, die in diesem Buch untersucht werden, lässt sich der Vollzug des Geschichtsprozesses durch eine Theater- bzw. Bühnenmetaphorik beschreiben. Archenholz reflektiert dies stärker als Schiller auch in seiner eigenen Sprache (siehe insb. V.5). Zu Schiller siehe insbesondere seine Inszenierung des Zuschauers der Schlacht von Antwerpen (IV.7) Siehe auch VI.5. Siehe IV.2. Gert Ueding sieht Schiller aufgrund der negativen Beurteilung durch den Historismus im 19. Jahrhundert als Opfer des Abbruchs der rhetorischen Tradition in der Geschichtsschreibung um 1800 (Redende Geschichte. Der Historiker Friedrich Schiller. In: Evo-
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Ein auffälliges rhetorisches Mittel der Renaissancegeschichtsschreibung, das bereits in der im vorherigen Abschnitt analysierten Episode zwischen Viglius und der Regentin bedeutsam war, ist die bereits seit Herodot von den antiken Geschichtsschreibern verwendete rhetorische Figur der ›prosopopoeia‹. Der Historiker bildet Charaktere nach, erzeugt fiktive Reden, unterlegt den Charakteren angemessene und wahrscheinliche Redebeiträge.215 Schiller übernimmt einige der gerade bei Burgundius häufig auftauchenden fiktiven Reden in seinen rhetorischen Rededuellen.216 Ein besonders eindrückliches Beispiel für Schillers Verwendung fiktiver Reden ist eine Episode im Staatsrat der Niederlande im November 1565.217 Nach dem Besuch des Grafen Egmont am spanischen Hof schickt der spanische König Philipp II. einen Brief an die von ihm eingesetzte Oberstatthalterin der Niederlande, Margareta von Parma, worin die Anweisung ergeht, die Inquisition in den Niederlanden deutlich zu verschärfen. Margareta, die Regentin, lässt daraufhin den Staatsrat und die Ritterschaft zusammenrufen, um über die Umsetzung der Beschlüsse zu beraten. Der Staatsrat Viglius, engster Berater Margaretas, plädiert für eine vorsichtige Umsetzung, um nicht die empörte Seele des Volkes überkochen zu lassen. Doch Wilhelm von Oranien entgegnet: »›Der Wille des Königs,‹ sagte er, ›sey zu klar und zu bestimmt vorgetragen, sey durch zu viele Deliberationen befestigt, als daß man es noch weiter hin wagen könnte, mit seiner Vollstreckung zurück zu halten, ohne den Vorwurf der sträflichsten Halsstarrigkeit auf sich zu laden‹« (NA 17, S. 146). Viglius widerspricht, ebenfalls in direkter Rede: »›Den nehm ich auf Mich,‹ fiel ihm Viglius in die Rede. ›Ich stelle mich seiner Ungnade entgegen. Wenn wir ihm die Ruhe seiner Niederlande damit erkaufen, so wird uns diese Widersetzlichkeit endlich noch bei ihm Dank erwerben‹« (NA 17, S. 146). Oranien erwidert »mit Heftigkeit«:
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lution des Geistes. Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hrsg. von Friedrich Strack. Stuttgart 1994, S. 156–174, S. 163). Vgl. Ueding: Redende Geschichte, S. 173. Methodologisch siehe hierzu Gatterer: Von der Evidenz in der Geschichtskunde, S. 470: »Nur einen einzigen Fall nehme ich aus, wo der Geschichtsschreiber in dem Vortrage dem Dichter allerdings ähnlich werden kan […] ich meyne, wenn er handelnde Personen auf die Art redend einführt, wie sie wirklich nicht geredet haben, wie sie aber doch ihrem Character und den Umständen nach hätten reden müssen, wenn sie hätten reden wollen.« Zu einer vollständigen Untersuchung aller ›Reden‹ in Schillers Geschichtsschreibung, siehe Fester: Vorstudien. Zum historischen Kontext dieser Episode, siehe auch Mörke: Wilhelm von Oranien, S. 90–92.
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»Was,« fiel er ein, »was haben die vielen Vorstellungen, die wir ihm gethan, die vielen Briefe, die wir an ihn geschrieben, was hat die Gesandtschaft ausgerichtet, die wir noch kürzlich an ihn gesendet haben? Nichts – und was erwarten wir also noch? Wollen wir, seine Staatsräthe allein, seinen ganzen Unwillen auf uns laden, um ihm auf unsre Gefahr einen Dienst zu leisten, den er uns niemals danken wird?« (NA 17, S. 146)
Oraniens Rede ist offensichtlich ganz im Sinne der Verstellungskünste der Neuzeit,218 von denen seine Hauptquelle Burgundius – wie bereits gesehen – ausgiebig Gebrauch macht, an der antiken Rhetorik geschult.219 Darauf verweisen beispielsweise die Wiederholungen (die anaphora »was«, das durchgängige »wir« usw.), dann die ›subiectio‹, der in die Rede hineingenommene (monologische) Dialog,220 die abschließende ›interrogatio‹,221 sodass sich die Versammlung den Argumenten des Prinzen nicht entziehen kann. Ein Blick auf die Quellen zeigt, wie Schillers neues ästhetisches Verfahren funktioniert. Schiller selbst gibt drei Quellen an: Burgundius, Meteren und die ›Vita Viglii‹.222 Schillers entscheidende Quelle ist die Darstellung des Burgundius.223 Hier – ohne konkrete Quellennachweise – findet Schiller auf den ersten Blick genau das, was er dann selbst schreibt. Viglius begegnet in Wilhelm von Oranien einem personifizierten Gegner, der in indirekter Rede darauf verweist, dass der Wille des Königs zu klar sei, um ihm nicht zu gehorchen. Viglius übernimmt in wörtlicher Rede die Verantwortung, und die Regentin scheint seiner Meinung zuzuneigen, bevor Oranien in direkter Rede scharf entgegnet, dass all die Botschaf218 219
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Siehe Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Oraniens politischer Verhaltenscodex erscheint damit von der aufklärerischen Aufrichtigkeitssemantik noch nicht erfasst. Vgl. hierzu Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 175. Zur schwierigen moralischen Beurteilung Oraniens, siehe u. a. auch Barthold Pelzer: Tragische Nemesis und historischer Sinn in Schillers Wallenstein-Trilogie. Eine rekonstruierende Lektüre. Frankfurt a.M. u. a. 1997, S. 49–52. Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 381f., § 771ff. Als positivistische Sammlung der von Schiller verwandten rhetorischen Figuren, vgl. auch die Analyse von Schillers historiographischem Stil bei Holger Reinitzhuber: Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Krieges‹ als schriftstellerische Leistung. Ein Beitrag zur Ästhetik der historischen Belletristik. Kiel 1970 [diss. masch.]. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 379, § 767. Schiller nennt in seiner Anmerkung i (NA 17, S. 147) »Burgund. 123. 124. Meteren. 76. Vit. Vigl. 45«. Schiller findet die grundsätzliche Oppositionsstruktur in der ›Vita Viglii‹ (S. 45), von dem die Episode aber nur in recht grober Form berichtet wird. Für eine ausführliche Analyse von Schillers Verarbeitung der Quellen zu der Staatsratepisode, siehe Jaeger: Schiller und die Quellen, S. 236–241. Vgl. auch Fester: Vorstudien, S. 87.
231
ten und Diskussionen mit dem König nichts erreicht hätten. Ungehorsam würde nur weiteren Hass des Königs für die Adeligen schüren. Die Regentin wankt zwischen den Meinungen, bevor sie der zweiten Meinung zustimmt.224 Im Unterschied zu Burgundius werden bei Schiller jedoch die rhetorisch-strategischen Verstellungskünste der Neuzeit erstens wiederum psychologisiert und demonstrieren damit zweitens eine historische Notwendigkeit, die über einzelne rhetorische Reden hinausgeht. Schiller führt in den Dialog folgendermaßen ein: »Ungewiß zwischen Furcht und Pflicht zögerte man, einen Schluß zu fassen, biß der Greis Viglius zuletzt aufstand, und durch sein Urtheil die ganze Versammlung überraschte« (NA 17, S. 146). Schiller psychologisiert die Versammlung: in ihrem Schwanken zwischen Furcht und Pflichtgefühl und im Moment der Überraschung bei Viglius’ Rede. Die nächste Verschiebung im Vergleich zu den Quellen ist wiederum die psychologische Reaktion der Versammlung: »Aber noch mehr erstaunte man, als der Prinz von Oranien jezt auftrat, und diese Meinung bekämpfte« (NA 17, S. 146). Schiller psychologisiert hier die Renaissance-Rhetorik, indem er für den Leser anschaulich macht, wie die Versammlung psychologisch auf die unerwarteten Positionen von Viglius und Oranien reagiert. Das Hinzufügen dieser Reaktion der Versammlung wird nach Oraniens zweiter Rede von Schiller in der von seinen Quellen nicht gestützten Formulierung verstärkt: »Unentschlossen und ungewiß schweigt die ganze Versammlung, niemand hat den Muth genug dieser Meinung beizupflichten, und eben so wenig, sie zu widerlegen« (NA 17, S. 146). Schiller schafft eine Differenz zwischen Versammlung und Regentin; beide werden zu psychologisierten Figuren im rhetorischen Meisterspiel des Prinzen. Die Regentin scheint bei Burgundius mehr zwischen den beiden Positionen abzuwägen;225 bei Schiller fängt sie an, »zu dieser Meinung hinüber zu wanken« (NA 17, S. 146). Damit wird Oraniens rhetorische Leistung deutlicher veranschaulicht als bei Burgundius, bei dem die Regentin eine scheinbar rationale Entscheidung trifft, die durch die kalkulierte Rhetorik Oraniens226 erreicht wurde. Schiller spitzt dieses bei Burgundius vorhan224
225 226
Burgundius: Historia Belgica, S. 123; vgl. auch Jaeger: Schiller und die Quellen, S. 237f. Anders als bei Schiller wird Oranien bei Burgundius zum Ende dieser Stelle nicht mehr erwähnt. »[A]tquè hùc, illùc ex cuiusque sententiâ fluctuans« (Burgundius: Historia Belgica, S. 123). Die Kaltblütigkeit, mit der Oranien das Wohl seines Volkes aufs Spiel setzt, verteidigt Schiller in der größtenteils erfundenen Anmerkung (NA 17, S. 147f., Anm. k) als notwendige und moralisch gute Handlung.
232
dene Motiv als ein Notwendiges zu, das auf der individuellen Psyche der Regentin beruht: »der Prinz hat die natürliche Furchtsamkeit der Regentin zu seinem Beistand gerufen, die ihr jede Wahl untersagt« (NA 17, S. 146f.). Der Historiker Schiller kombiniert den Blick der Versammlung, die vernünftigen königstreuen Absichten des Viglius, Oraniens Strategie sowie die Perspektive der Regentin und ordnet sie im Wissen um die tatsächlichen Folgen der Entscheidung. Alle Handelnden werden so in ein rhetorisches Gefüge gespannt, das als Gesamttext der Geschichte wirkt. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Reaktion der Regentin: »Die Folgen ihres unglücklichen Gehorsams werden in die Augen leuchten, – womit aber, wenn sie so glücklich ist, diese Folgen durch einen weisen Ungehorsam zu verhüten, womit wird sich beweisen lassen, daß sie dieselben wirklich zu fürchten gehabt habe?« (NA 17, S. 147). Bei Burgundius ist das Nachdenken der Regentin angedeutet, indem dieser schreibt, dass die Regentin trotz des möglichen öffentlichen Aufruhrs, den Adeligen vertraute.227 Bei Schiller wird das innere Abwägen der Regentin in ein klares persönliches Motiv umgewandelt. Der Weg des Viglius mag pragmatisch im dargestellten historischen Augenblick der bessere für das niederländische Volk sein, doch die Position der Regentin würde durch dessen NichtBeweisbarkeit aufs Spiel gesetzt. Entsprechend folgt sie genau der Argumentation Oraniens, wie der König reagieren wird. Sowohl das Verhalten der Versammlung als auch die Manipulation der Regentin zeigen, dass sich niemand in Schillers Text der Rhetorik Oraniens entziehen kann. Zugleich überträgt Schiller diese Rhetorik in der oben zitierten Vorhersage auf seinen eigenen historiographischen Text, der den Leser – ebenso wie die Zuhörer Oraniens – von der Zwangsläufigkeit des historischen Geschehens überzeugen soll. Die Revolution erscheint so als notwendig wie Oraniens Sieg im rhetorischen Duell im Staatsrat. Diese Darstellungstechnik Schillers wird in einem weiteren Vergleich zu seinen Vorläufern im 18. Jahrhundert noch deutlicher. Wagenaar verwendet keine direkte oder indirekte Rede, ebenso wenig wie er ein rhetorisches Duell, das die Regentin beeinflussen soll, darstellt.228 Oranien tritt – entsprechend der Primärquellen von Viglius und Hopper – nicht alleine auf: 227 228
»[Q]uanquàm irati populi insaniam & impendentia pericula satis prospiceret: omnem tamen siduciam in proceribus reponebat« (Burgundius: Historia Belgica, S. 123). Bei Watson gibt es diese Szene in dieser Form gar nicht. Stattdessen wird mit Bezug auf Meurs, Strada und Wagenaar der Regentin die Veröffentlichung der verschärften Edikte zugeschrieben, wovon Viglius abriet. Oranien taucht in diesem kurzen Bericht nicht selbst auf (Watson: The History, Bd. 1, S. 173f.).
233
Allein der Prinz von Oranien und die Grafen von Egmond und Hoorne weigerten sich zur Einführung der Inquisition ihre Stimmen zu geben. Sie schlugen jedennoch vor, wie einige glaubeten [Anmerkung p. Viglii Vita N. XCIII. p. 45], in der Absicht das Volk, welches schon anfing zu murren, noch mehr aufzuhetzen, daß man den Befehl des Königs den Gerichtshöfen und den Stadtobrigkeiten zusenden müßte, damit sie denselben vollstrecken mögten.229
Anders als Schiller verwendet Wagenaar nicht den von fiktiven Reden gespickten Burgundius als Quelle. Sein Text wirkt wie die analysierende Nacherzählung eines Streites. Von der Oranien verteidigenden Anmerkung230 abgesehen, tritt in Schillers Text der Historiker anders als bei Wagenaar nur als Erzähler, nicht als Analytiker auf. Schiller wählt eine Geschichte mit besonders szenischem Charakter aus, sodass er statt der äußeren Rhetorik – der Historiker stellt Handlungsnormen für seinen Leser am Exemplum der Geschichte auf (›evidentia‹) – eine innere Rhetorik des Textes entfalten kann. Das Geschehen wird selbst-evident. Der Wirkungsgedanke ist nicht mehr in ein striktes System einzuordnen, sondern wird abhängig vom jeweiligen Vollzug des historiographischen Textes. In der analysierten Staatsratsszene verschmilzt Schiller Eigenschaften des historischen Geschehens – die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts ist selbst bereits eine Hochzeit höfischer Beredsamkeit – mit einer beredsamen historiographischen Darstellung. Die Figuren wirken aufeinander, sie wirken scheinbar eigenverantwortlich und erhalten ihre eigene Psychologie, die nicht mehr von außen analysiert wird, sondern aus dem Text-Geschehen hervorgeht. Damit werden historische Leerstellen textuell vereindeutigt; es entsteht eine textuelle Welt, ohne die historische Welt vollends aufzugeben. Oranien agiert rhetorisch zwingend, sodass die notwendige Provokation eines Bürgerkriegs gelingt. Er musste zum Wohl der Republik auf diese Weise handeln. Schiller präsentiert im Sinne seiner Antrittsvorlesung ein ästhetisches Verlaufsmodell von Geschichte. Der durch die Erfordernisse der textinternen, historischen Wirklichkeit beschränkte Historiker kann so zum idealistischen Philosophen werden.
7.
Wahrnehmungsakte, die Geschichte prägen
Rhetorik ist – wie im vorherigen Teilkapitel gesehen – für Schillers Geschichtsschreibung doppelt bedeutsam. Zum einen – im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ – spiegelt sie die Bedeutsamkeit der Renaissance229 230
Wagenaar: Allgemeine Geschichte. Bd. 3, S. 55. NA 17, S. 147, Anm. k.
234
Rhetorik auf der Gegenstandsebene der Geschichte wider. Allgemeiner benutzt Schiller Sprechakte, um notwendiges Handeln zu erzeugen. Zum anderen rhetorisiert Schiller seinen gesamten Text, womit er dem weiten Trend zum Ende des 18. Jahrhunderts entspricht, nach der Auflösung der Regelrhetorik die Darstellung ästhetisch zu re-rhetorisieren.231 Für die Geschichtsschreibung Schillers ist es gerade grundlegend, dass die Trennung der Rhetorik in verschiedene Stilebenen, wobei der höhere oder erhabene Stil dem ›movere‹ entspricht, nicht funktioniert, da Belehrung, Unterhaltung und Rührung für Schiller zusammenkommen. Wie bereits in Bezug auf die Spannung zwischen Schillers historischem und seinem philosophischem Wahrheitsanspruch diskutiert wurde,232 bestimmt Schiller in der Universalgeschichtsvorlesung die Aufgabe des Geschichtsschreibers explizit im Zuge der antiken Tradition in den Wirkungsabsichten des ›docere‹ und ›movere‹: »Und auf solche Art behandelt, […] wird Ihnen das Studium der Weltgeschichte eine eben so anziehende als nützliche Beschäftigung gewähren. Licht wird sie in Ihrem Verstande, und eine wohlthätige Begeisterung in ihrem Herzen entzünden« (NA 17, S. 374). In der Vorrede zum ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ geht Schiller sogar von seiner eigenen, subjektiven Erfahrung bei der Lektüre von Watsons Geschichte über Philipp II. aus, die ihm erst die Vorstellungskraft gibt, dem Stoff die entsprechende Gestalt zu verleihen: »Diese Wirkung wünschte ich bleibend zu machen, zu vervielfältigen, zu verstärken; diese erhebenden Empfindungen wünschte ich weiter zu verbreiten, und auch andern Antheil daran nehmen zu lassen« (NA 17, S. 7). Die Spannung, dass der Stoff der Geschichte nicht erfunden werden kann, doch zugleich die Weltgeschichte einem übergreifenden Plan unterworfen ist, ist für Schiller nicht aufzulösen. Daher braucht er die Rhetorik in re-ästhetisierter Form. Wichtig dabei ist, dass es in der Rhetorik – anders als in der Dialektik – nicht auf einen absoluten Wahrheitsnachweis ankommt, sondern nur auf das Glaubhaftmachen des relativ Wahren, also auf das Überzeugen (›persuadere‹).233 Der Historiker unterliegt damit den Einschränkungen des Realen, er kann keine den historischen Prozess überschauende Position mehr einnehmen. Zugleich muss er die Geschichtsphilosophie als innere Kraft, die die Geschichte aus sich selbst heraus begründet, zur Darstellung bringen. Hierin findet sich die seit der 231 232 233
Vgl. I.3.1. Siehe IV.3.1. Siehe hierzu Meyer: Schillers philosophische Rhetorik, S. 337.
235
Antike reflektierte Doppelcodierung von Geschichtsschreibung als ›argumentatio‹ und ›narratio‹.234 Mit Michel de Certeaus Beschreibung von politischer Geschichte in der Frühen Neuzeit, insbesondere am Beispiel Machiavellis, lässt sich diese Spannung bezüglich der Wirkungsansprüche Schillers präzisieren. Historiographie hat bei Macchiavelli dem Staate bzw. Fürsten zu nutzen; entsprechend entwirft der Historiker das Bild eines idealen oder möglichen Fürsten. Zugleich ist der Historiker vom tatsächlichen Fürsten abhängig. Der Historiker gibt vor, das Subjekt der Operation zu sein, wodurch ein Moment des Irrealen in die Wissenschaft einkehrt. Durch die Geste des Realen wird also das Fiktive in die Historiographie hineingeholt. Um sich den Spielraum zu schaffen, sich selbst als Handlungssubjekt ausgeben zu können, greift – in de Certeaus Beispiel – der Historiker (Macchiavelli) auf Livius’ Darstellung der römischen Geschichte zurück. Deren Abstand zur Gegenwart schafft die Bühne, auf der der Historiker spielen kann.235 Die feste räumliche Ordnung von metaphysischen und theologischen Seinsweisen wird durch ›écritures‹ (Schreibformen) ersetzt.236 Die Erzählung wird performativ, indem sie vorgibt, etwas Reales zu erzählen, das sie in diesem Akt fabriziert.237 Auch Schiller beginnt einen Text der Geschichte zwischen Nachahmung (›mimesis‹) und Schaffen (›poiesis‹) herzustellen. Er schließt dabei an die in de Certeaus Machiavelli-Interpretation gezeigte Geste der Distanzierung an. Schiller schafft eine Bühne, auf der sich die Geschichte vollzieht. Er kann diese – anders als Macchiavelli – wegen der Temporalisierung des Geschichtsprozesses und des zu berücksichtigenden Standpunktes des Betrachters im späten 18. Jahrhundert nicht mehr von außen kontrollieren. Diese doppelte Ebene zwischen Mimesis und Poiesis, von Geschehen und Vollzug des historischen Prozesses in der Darstellung, spiegelt sich nicht nur darin wider, dass Rhetorik von historischen Personen auf der Geschehensebene und von Schiller auf der Darstellungsebene inszeniert wird, sondern auch in einer doppelten Beobachterebene, die schon in Forsters Inszenierung der Zivilisationsgeschichte zu erkennen war.238 Hier beobachtet der Historiker nicht selbst das Geschehen, son234 235 236 237
238
Siehe hierzu Harth: Geschichtsschreibung, Sp. 850. De Certeau: Das Schreiben der Geschichte, S. 19–23. De Certeau: Die Geschichte. Wissenschaft und Fiktion, S. 61. De Certeau: Die Geschichte. Wissenschaft und Fiktion, S. 69. Vgl. zu de Certeaus Überlegungen zum Verhältnis von Fakt und Fiktion auch Teilabschnitt I.3.2 im Einleitungskapitel. Siehe insb. II.1.
236
dern lässt die Figuren auf der historischen Bühne das Geschehen beobachten. Am eindrücklichsten inszeniert Schiller dies in der Episode von der Schlacht vor Antwerpen, bei Oosterweel am 13. März 1567, die dessen Bewohner von ihren Mauern aus – wie die Zuschauer, die aus scheinbar sicherer Distanz dem Schauspiel auf der Bühne zuschauen –239 miterleben. In der Schlacht vernichtete das von Philipp von Launoy geführte Heer der Regierung die Überreste des von Jan von Thoulouse geführten kalvinistischen Heeres. Antwerpen als Stadt – zu diesem Zeit vom Prinz von Oranien in seiner Statthalterfunktion regiert – war in Katholiken und Protestanten gespalten und hatte vom jeweils siegreichen Heer eine Plünderung zu befürchten; zugleich waren die Religionsgruppen emotional eng mit den unterschiedlichen Heeresgruppen verbunden. Schiller nimmt hier eine Szene auf, die in den von ihm konsultierten Quellen genauso angelegt ist – sie ist vom Stoff ideal geeignet, Wahrnehmung auf der historischen Geschehensebene zu thematisieren. Er lässt nun in seiner Darstellung die Schlacht auf den Zuschauerrängen wiederholen. Dabei psychologisiert er das Geschehen durch die Kollektivcharaktere. Die Zuschauer leiden mit »Frohlocken und Entsetzen« (NA 17, S. 235), je nach Parteinahme: »[D]er Ausgang des Treffens schien das Schicksal jedes Zuschauers zu entscheiden. Jede Bewegung auf dem Schlachtfeld, konnte man in den Gesichtern der Antwerper abgemahlt lesen; Niederlage und Triumph, das Schrecken der Unterliegenden, die Wuth der Sieger« (NA 17, S. 235). Zuerst verwendet Schiller externe Fokalisierung; der Leser sieht die Gesichter der Antwerpener Zuschauer, doch dann dringt er zunehmend in deren Gefühle – als kollektive Gruppe – ein. Es wird intern fokalisiert und der Schmerz, die Begierde und die Motivationen der jeweiligen Partei beschrieben: »Hier ein schmerzhaftes eitles Bestreben, den Sinkenden zu halten, den Fliehenden zum Stehen zu bewegen; dort eine gleich vergebliche Begier, ihn einzuholen, ihn aufzureiben, zu vertilgen« (NA 17, S. 235). Zwei Gruppen erleiden – durch rhetorische Figuren verstärkt – das historische Geschehen, aber Schiller abstrahiert zunehmend von wirklichen Personen, also hier 239
Schiller bestimmt den »teilnehmende(n) Affekt«, die Sympathie, als wirksamste Form des Erhabenen, da sie die »die sinnlich-lebhafte Vorstellung des Leidens mit dem Gefühl eigner Sicherheit« verbindet (Vom Erhabenen. In: NA 20. Philosophische Schriften 1. Hrsg. von Benno v. Wiese. 1962, S. 171–195, hier: S. 192f.). Vgl. zum Überblick Klaus L. Berghahn: »Das Pathetischerhabene«. Schillers Dramentheorie. In: Deutsche Dramentheorien I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. Hrsg. von Reinhold Grimm. 3. Aufl. Wiesbaden 1980, S. 197–221.
237
den kollektiven Gruppen der Katholiken und Protestanten, zu abstrakten Konzepten der Fliehenden oder Siegenden. Er verschiebt das Tempus; durch den Verzicht auf das Prädikat im Satz erscheint das Eindringen in die Schmerzen und Begierden von Besiegten und Siegern präsentischer. Im folgenden Satz gibt der Historiker Schiller seine einzige Bewertung der Situation: Aufgrund der Kombination von Gegenwart und Distanz »war [es] ein fürchterlicher Zustand« (NA 17, S. 235), bevor das Tempus ganz ins Präsens umschwingt: »Thoulouse’s lezter Zufluchtsort steht in Flammen, und zwanzigtausend Bürger von Antwerpen sterben den Feuertod mit ihm« (NA 17, S. 235). Die weitere Panik in Antwerpen – nicht auf dem Schlachtfeld – wird im Präsens geschildert und ähnlich der oben analysierten kollektiven Bewegungen im Bildersturm und in der Verschwörung des Adels wechselt Schiller zwischen externer und interner Fokalisierung. Es entsteht eine Massenbewegung, die nur durch die Klugheit und Beredsamkeit Wilhelm von Oraniens zu beherrschen ist (NA 17, S. 236–238).240 Der Historiker lässt also seine Leser das Leid der Antwerpener miterleben; das heißt, der Fokus verschiebt sich vom Schlachtgeschehen – ganz im Sinne des dramentechnischen Mittels der Teichoskopie – fast ganz auf die Zuschauer und ihre ambivalente Haltung zur Schlacht. Das eigentliche Schlachtgeschehen tritt in den Hintergrund. Geschichte vollzieht sich letztlich nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern im Akt der Beobachtung des Schlachtfeldes. Der Historiker und sein Leser werden zu Beobachtern der Beobachter. Im Vergleich zu seinen Quellen – für die Beobachtung der Schlacht ist dies Strada241 – wird deutlich, dass Schiller sich an diese Vorgaben hält, jedoch die Präferenzen verschiebt, indem er das Geschehen perspektiviert. Bereits Strada stellt dar, dass sich die Zuschauer durch ihre Körperbewegungen so verhalten, als würden sie sich auf dem Schlachtfeld befinden und mitkämpfen.242 Es heißt dort, dass die Bewohner von Antwerpen die Schlacht genau beobachten, die Insignien der Parteien erkennen und beinahe die Schreie der Angreifenden und Sterbenden hören konnten.243 Die 240
241
242 243
Hier greift Schiller vorwiegend auf Burgundius: Historia Belgica, S. 445–451, zurück, fokussiert aber weitaus stärker auf den Prinzen von Oranien, seine Handlungen und seine Klugheit. Weder bei Burgundius noch bei Strada: De Bello Belgico, S. 173, wird – im Unterschied zu Schiller (NA 17, S. 238) – explizit Oraniens Kunst der Rhetorik gepriesen. Siehe Schillers Anm. s »Burgund. 444–447. Strad. 172« (NA 17, S. 237). Burgundius bezieht sich nicht auf die Schlacht bei Oosterweel und ihre Beobachtung durch die Antwerpener, sondern vornehmlich auf die Ereignisse in der Stadt in Relation zum Schließen ihrer Tore und den Spannungen zwischen Kalvinisten, Lutheranern und Katholiken. Strada: De Bello Belgico, S. 172. Strada: De Bello Belgico, S. 172.
238
zuschauenden Antwerpener ergreifen gemäß ihrer Religion Partei, als seien sie selbst auf einer Bühne, sie ermutigen ihre Partei, verzweifeln, drücken durch ihre Gesten Emotionen aus, als wären sie selbst auf dem Schlachtfeld und würden selbst Speere werfen bzw. von ihnen getroffen werden.244 Bei Strada wird zwar die Bühnenmetaphorik eingeführt,245 die Schiller nutzt, aber die Darstellung gewinnt weder die Präsenz, die sie bei Schiller hat, sie wirkt als Nacherzählung, noch werden die Gefühle intern fokalisiert und damit eine kollektive Psychologisierung erreicht. Es entsteht nicht die Illusion eines präsentischen Geschehens, was besonders deutlich in der Figur des ›als ob‹ wird: als wären sie selbst auf dem Schlachtfeld.246 Strada will im Unterschied zu Schiller keine präsentische Illusion schaffen. Darüber hinaus bekommt der Leser bei Strada zwei Geschehen vorgeführt: auf die Darstellung der die Schlacht beobachtenden Einwohner Antwerpens folgt die Darstellung der Schlacht selbst. Diese Geschehen werden vom Historiker Strada zu einem Gesamtbild zusammengesetzt. Während Strada eine Nacherzählung von Gefühlen und Handlungen gibt, vernetzt Schiller die Gefühle und Handlungen der Figuren miteinander, sodass sie wahrscheinlich werden. Stradas statisches Bild der Zuschauer wird dadurch dynamisiert. Zwar bleibt in Schillers Geschichte die Distanz des Verfassers zum historischen Gegenstand auch für seinen Erzähler erhalten, doch zugleich werden die Rührung der Zuschauer und die Gefühle der Betroffenen veranschaulicht, sodass Leser wie Zuschauer mitleiden können, mit Blick auf die Schlacht und auf die zuschauenden, um ihr Schicksal bangenden Antwerpener. Schlachtgeschehen und Schlachtbeobachtung werden eins. Der Erzähler tritt gegenüber dem Geschehen zurück. Für den Leser entstehen Szenen und daraus Abläufe. Das Vergangene wird gegenwärtig gemacht.247 Die fiktionalen Mittel der Bühne und der Distanzierung des Sprechers werden zur Legitimierung des historischen Ablaufs der Weltgeschichte genutzt. Die Thematisierung der Wahrnehmung als Beobachtung zweiter Ordnung schließt zudem an das performative Element an, das im Forster-Kapitel dieses Buches ausführlich vorgestellt wurde.248 Der Leser erlebt den Voll244 245 246 247 248
Strada: De Bello Belgico, S. 172. »[…] sed variis tamquam in theatro studiis & clamoribus ad strepebant« (Strada: De Bello Belgico, S. 172). »[…] ceu pugnae […] tela ipsi iacerent, aut declinarent« (Strada: De Bello Belgico, S. 172). So die Leistung des Dramatikers gegenüber dem Epiker nach Goethe und Schiller: Über epische und dramatische Dichtung. In: NA 21, S. 57–59, hier: S. 57. Siehe insb. II.3 und II.4.
239
zug von Wahrnehmung,249 so wie er in Schillers Niederlande-Text immer wieder die Notwendigkeiten des geschichtlichen Prozesses im Vollzug erfährt.
8.
Individuelle Notwendigkeiten und interne Fokalisierung
Die Verlagerung von Wahrnehmung in die Geschichtserzählung, die in der Darstellung der Episode von der Schlacht bei Oosterweel und deren Beobachtung zu sehen ist, zeigt deutlich Schillers Reflexionsbewusstsein über die Relativität historischer Erkenntnis. Die Notwendigkeit des historischen Prozesses hängt von individuellen und kollektiven Wahrnehmungen ab. Dabei entsteht Geschichte als notwendiger Prozess, der hier – anders als in Schillers späterer erhabener Konzeption250 – für das handelnde Individuum verfügbar bleibt. Zugleich ist es aber erst ein historiographischer Einblick in die Handlungsweisen und Meinungen historischer Personen, durch den scheinbar Zufälliges in der historiographischen Darstellung vereindeutigt werden kann.251 Schillers Umgang mit perspektivischen Darstellungstechniken im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ verdeutlicht dies. Ihm gelingt es, eine Schreibweise auf der Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität bzw. Zufälligkeit und Notwendigkeit zu finden. Statt ausschließlich Nullfokalisierung zu verwenden, vermischt Schiller – wie zum Beispiel bereits oben in der Szene zwischen Viglius und der Regentin in Anbetracht der Fluchtgedanken Margarethas gesehen – diese neutrale, nicht-lokalisierbare Perspektive mit Techniken externer und interner Fokalisierung. Diese neue Darstellungstechnik zeigt sich besonders in der Episode von der Abdankung Wilhelms von Oranien. Oranien verweigert der Regentin den Eid, den römisch-katholischen Glauben zu befördern und gegen alle Feinde des spanischen Königs selbst vorzugehen (NA 17, 249 250
251
Vgl. insb. I.3.1 zur Performativität von Geschichtsschreibung. Vgl. Wolfgang Riedel: »Weltgeschichte ein erhabenes Object«. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. FS Hans-Jürgen Schings. Hrsg. von Peter-André Alt et al. Würzburg 2002, S. 193–214. Riedel führt Schillers Entwicklung von der Geschichtstheologie über die Geschichtsphilosophie bis zur Geschichtsskepsis vor. Mit der Einsicht der zunehmenden Unbeherrschbarkeit von Geschichte – in Anbetracht der historischen Ereignisse nach der Französischen Revolution – zeige sich das Erhabene der Geschichte. Siehe hierzu auch Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 85 (vgl. I.3.1). Süßmann erkennt die Bedeutung von Schillers Technik, die inneren Vorgänge der Hauptfiguren zu erzählen (Ebd., S. 107).
240
S. 245–247). Wieder verarbeitet Schiller Burgundius’ Quelle zu direkter Erzählung,252 die als innere, die Verhältnisse abwägende Stimme Oraniens gelesen werden kann: Eine sehr niederschlagende Erfahrung hatte ihn gelehrt, wie unsicher die Hofnungen sind, die man gezwungen ist, auf den großen Haufen zu gründen, und wie bald dieser vielversprechende Eifer dahin ist, wenn Thaten von ihm gefodert werden. Eine Armee stand im Felde, und eine weit stärkere näherte sich, wie er wußte, unter Herzog Alba’s Befehlen – die Zeit der Vorstellungen war vorbei, nur an der Spitze eines Heers konnte man hoffen, vortheilhafte Verträge mit der Regentin zu schließen, und dem spanischen Feldherrn den Eintritt in das Land zu versagen. Aber woher dieses Heer nehmen, da ihm das nöthige Geld, die Seele aller Unternehmungen, fehlte, da die Protestanten ihre prahlerischen Versprechungen zurücknahmen und ihn in diesem dringenden Bedürfniß im Stich ließen. (NA 17, S. 246)
Mit dem Satz »Eifersucht und Religionshaß trennten noch dazu beide protestantischen Kirchen« (NA 17, S. 246) kippt Schiller dann diese innere Erzählperspektive zugunsten eines unpersönlichen Berichts über die Situation. Er verzichtet auf persönliche Fürwörter, um nach einer allgemeinen Analyse der Machtsituation zwischen Kirchen und Parteien beide Teile – personale Erzählung und sachlichen Bericht – in der Darstellung von Oraniens Beschluss zusammenzuführen: »Alle diese Betrachtungen zusammen genommen bewogen den Prinzen, ein Vorhaben, dem der jetzige Zeitlauf nicht hold war, auf eine glücklichere Stunde zurück zu legen […]« (NA 17, S. 247). Die Perspektiven – interne Fokalisierung und überschauende Nullfokalisierung – werden hier ineinander gefügt, sodass die eindeutig vorhandene analytische Perspektive des Historikers, der um den Ausgang der 252
Bei Strada: De Bello Belgico, S. 182f., finden sich detailliert sechs Gründe Oraniens aufgeführt – Schiller übersetzt diese Rede im Prinzip wörtlich (NA 17, S. 248), z. B. der letzte Grund: »Am Schlusse entfuhr ihm der Name des Herzogs von Alba, mit einem Merkmal von Bitterkeit, und gleich darauf schwieg er stille« (NA 17, S. 248). ist eine direkte Übersetzung aus Strada: »Atque hîc Ducem Albanum nominauit indignabundus, ac siluit« (De Bello Belgico, S. 182). Doch gerade diese bereits von Strada als entscheidend für Oranien betonte Ankunft Albas (»Nempe Albani uti ferebatur, aduentus hominem turbabat: ceteræ causæ in specium erant, & quia invalidæ, cumulo firmabantur«, De Bello Belgico, S. 182) – wird bei Schiller narrativ ausgearbeitet. Strada beschreibt die gesamte Episode aus einer Außenperspektive, wohingegen Schiller durch interne Fokalisierung und Perspektivenverschachtelung ein Ineinander-Fließen der Ereignisse erzeugt. Die interne Fokalisierung auf die Seele des Prinzen ist in den Quellen nicht enthalten. Auch Burgundius’ gröbere Darstellung der Eidepisode, die stark auf einer fiktiven, rhetorisch ausgefeilten Rede Oraniens beruht (Historia Belgica, S. 456–458), bleibt eine Außendarstellung, ohne eine Innenperspektive des Prinzen zu entwickeln.
241
Ereignisse weiß, von Oraniens Perspektive untrennbar wird. Damit reduziert Schiller die distanzierende Brechung durch die historische Analyse, ohne ganz auf diese verzichten zu müssen. Historische Analyse und Innenperspektive des Handelnden beginnen auf der Textoberfläche ineinander zu gleiten. Oranien kann trotz der Zufälligkeit von Geschichte in diesen Bahnen handeln, weil sie fiktional vereindeutigt wurden. Wieder zeigt sich Schillers Technik, historische Leerstellen textuell zu vereindeutigen.253 Der Prinz fällt seine Entscheidung als logische Konsequenz der historischen Situation. Hinter der entstandenen Doppelperspektive steht keine historisch nur weiter zu erkennende Wahrheit mehr, es geht kein Prätext voraus, sondern Schiller hat diese historische Hypothese poetisch ontologisiert. Diese Verschiebungen der Erzählperspektive sind eine weitere Darstellungstechnik Schillers, Geschichte zu ästhetisieren, ohne den referentiellen Anspruch von Geschichtsschreibung auf die Erfassung außertextueller Wirklichkeit aufzugeben und somit in seiner Darstellungspraxis mit der Spannung zwischen historischer Faktizität und notwendiger Ästhetisierung des geschichtsphilosophischen Prozesses umzugehen. Auf der Textoberfläche, in der textuellen Welt, sind Schillers Quellenkritik und sein Erzählstil, historisch Gewesenes und ästhetisch Inszeniertes untrennbar ineinander verwoben. Einer der Gründe, warum Oranien die Niederlande verlässt, ist, dass er »zu tief in den Menschenkarakter, und zu tief in Philipps Seele gesehen« habe (NA 17, S. 247).254 Hier wendet Schiller seine Erkenntnisse der Erfahrungsseelenkunde255 an, überträgt sie aber vom Historiker bzw. historischen Erzähler auf die Psyche einer anderen Person. Dabei erzeugt der Historiker eine Innenperspektive, obwohl er eigentlich das Ergebnis seiner Analyse von der Psyche dieser Person wieder gibt. Erneut wird eine Wahrnehmung in der Geschichte zur historischen Aussage, die die Handlung vorantreibt. Diese Kompetenz schreibt Schiller dabei nur rhetorisch und politisch gewandten Personen zu, also nicht Egmont oder Margaretha, sondern insbesondere Oranien und Philipp II., beide in der Staatskunst Karl V. geübt, zum Beispiel für Philipp II.: »Er wußte, wie leicht auf den Grafen von Egmont zu würken sey, wenn man es mit ihm allein zu thun hätte, darum suchte er ihn nach Madrid zu locken […] Von diesem Karakter, wußte er [Philipp II., S.J.], konnte man mehr erhalten, wenn man 253 254 255
Siehe I.3.2 für das theoretische Konzept der textuellen Leerstellen. Vgl. auch Jaeger: Schiller und die Quellen, S. 241–244. Vgl. Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts, S. 160–162. Für eine genauere Darstellung von Osterkamps These siehe IV.2.
242
ihn wahrnehmen ließ, daß man mehr von ihm erwarte; darum wandte er sich an ihn besonders« (NA 17, S. 107). Ein anderes Beispiel, diesmal für das Wissen vom Inneren Egmonts folgt auf den berühmten Abschied zwischen Oranien und Egmont. Durch Logik – die der Historiker Schiller zuvor aus den Typisierungen seiner Charakterbeschreibungen gewonnen hat – entsteht eine Darstellung von Egmonts Gefühlen. Der analysierende Historiker beginnt sich hinter der internen Fokalisierung auf Egmont zu verstecken. Zuerst ist Egmonts Gefühl eine logische Schlussfolgerung: »Einen Glücklichern konnte es jetzt nicht geben, als Egmont sich fühlte. Oraniens Flucht überließ ihm allein jetzt den Schauplatz« (NA 17, S. 252f.).256 Dann befindet sich der Leser scheinbar in Egmonts Gedanken: »Jetzt hatte er in der Republick keinen Nebenbuhler mehr, der seinen Ruhm verdunkelte. Er war allein der Stern, der jetzt an diesem Himmel strahlte« (NA 17, S. 253), bevor Schiller von seiner Himmelsmetaphorik zurück in eine von außen geleistete Analyse schwenkt, in der er die Tragik von Egmonts Charakter markiert: »Mit gedoppeltem Eifer fuhr er nunmehr fort, um eine hinfällige Fürstengunst zu buhlen, über die er doch so weit erhaben war« (NA 17, S. 253). Schillers neue Art Geschichte zu perspektivieren und damit die Handlung zu vereindeutigen, lässt sich abschließend noch deutlicher durch einen präzisen Vergleich zwischen Watsons ›Geschichte der Regierung Philipps des Zweyten‹ und Schiller zeigen. Bekanntermaßen ist Schiller durch Watson zum Stoff der niederländischen Revolution gekommen, zuerst im ›Don Carlos‹,257 und dann im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹.258 Dies zeigt sich darin, dass Schillers dramatischer Aufbau – insbesondere im ersten Buch – Watsons Aufbau äußerst ähnlich ist.259 Auf die Vorstellung des Verhältnisses von Karl V. mit den Niederländern260 folgend wird Philipps Verhältnis zu diesen sowie die Bedeutung der Inquisition und des vorläufigen Verbleibens spanischer Truppen in den Niederlanden dargestellt. Im Weiteren wird erst die Regentenfrage geklärt, 256 257 258 259 260
Diese logische Schlussfolgerung, anders als die folgenden Einblicke in Egmonts Gedanken, findet Schiller bei Strada: De Bello Belgico, S. 184. Siehe hierzu NA 7,II, Don Karlos. Anmerkungen. Hrsg. von Paul Böckmann und Gerhard Kluge. 1986, S. 122f. Vgl. allen voran die Vorrede (NA 17, S. 7). Watson wird als frühere Inspiration genannt, aber nicht als Quelle (NA 17, S. 8f.). Vgl. zu Schiller, Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 89–91. Schillers Einstieg hierzu ist fast wörtlich der von Watson: »Gerne hätte Karl diese Zuneigung der Nation auf seinen Sohn Philipp forterben gesehen (NA 17, S. 47) im Vergleich zu Watson: »Charles would gladly have transmitted to his son the affection which he bore towards his Flemish subjects« (The History. Bd. 1, S. 74).
243
bevor kurz Egmont und ausführlicher der Prinz von Oranien vorgestellt werden. Schiller hingegen baut Oranien und Egmont als von Philipp abgelehnte Kandidatinnen auf, bevor er die Diskussion um die beiden wirklichen Kandidatinnen darstellt, was mit der Ernennung von Margareta von Parma zur Oberstatthalterin endet. Watson verwendet kurze Charakteristiken; Schillers Charakterporträts – insbesondere nach dem Vorbild Plutarchs – sind weit ausgearbeiteter, strukturell im Text aber ähnlich platziert.261 Bezüglich Details und Quellengenauigkeit erscheint Watson weit ungenauer. Auffällig ist Watsons negative Darstellung Philipps II., an die Schiller – allerdings weniger scharf – zu Beginn seines Buches anschließt, bevor er die Person des spanischen Königs im weiteren Verlauf als durchaus komplex darstellt. Bei Watson heißt es zum Beispiel über Philipp II.: »His religion, which was of all superstitions the most intolerant; his temper of mind, which was naturally haughty and severe […]«262 oder vor der Hinrichtung der Grafen Egmont und Hoorne: »But Philip, cursed with the most unfeeling heart, remained relentless and inflexible«.263 Im Rahmen von Schillers ästhetischer Inszenierung der Geschichte ist aber gerade Schillers bereits oben gezeigte Technik, innere Perspektiven und Überblicksperspektiven, interne Fokalisierung und Nullfokalisierung miteinander zu verschmelzen, zu beachten. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Darstellung, wie sich Margaretha von Parma an Philipp II. wendet, nachdem sie den auf den Bildersturm gefolgten Bürgerkrieg in den Niederlanden beendet hatte. Watson schreibt: »She [Margaretha von Parma, S.J.] sent speedy information too the king of the success with which her endeavours had been accompanied; and represented to him, that there was not now the least occasion for the army which he had begun to prepare […].«264 Schillers Text liest sich: »Und nun eilte die Regentin, dem Könige eine Botschaft zu hinterbringen, mit der sie ihn während ihrer ganzen Verwaltung noch nicht hatte erfreuen können. Sie verkündigte ihm, daß es ihr gelungen sey, allen niederländischen Provinzen die Ruhe wieder zu schenken und daß sie sich stark genug glaube, sie darin zu erhalten« (NA 17, S. 262).265 Schiller fügt Watson, den er nicht – wie auch 261 262 263 264 265
Zu Schillers Verwendung von Charakterporträts im ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹, siehe Osterkamp: Die Seele des historischen Subjekts. Watson: The History. Bd. 1, S. 82. Watson: The History. Bd. 1, S. 226. Watson: The History. Bd. 1, S. 201. Strada: De Bello Belgico, S. 197, paraphrasiert die Kommunikation zwischen der Regentin und Philipp II. ausschließlich durch die Darstellung des faktischen Inhalts des Ersuchens der Regentin.
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nirgends sonst – als Quelle nennt,266 nichts Wesentliches hinzu. Dennoch erscheint in seinem Text Margarethas innere Begeisterung über die guten Nachrichten, insbesondere in dem Beisatz »mit der sie ihn während ihrer ganzen Verwaltung noch nicht hatte erfreuen können.« Watson berichtet von Margarethas Handlungen, während Schiller durch seine Wortwahl, insbesondere durch die Verben – verkünden, schenken, glauben – ein persönliches Mitfühlen der Regentin ausdrückt. Hierdurch wird die Tragik der Regentin zur Schau gestellt: Margaretha hat dann doch – wenn auch nur mit Hilfe des zufälligen Bildersturms – einmal in ihrer Regierungszeit wirklich Erfolg, doch dies wird durch Albas Kommen, das letztlich den Krieg völlig entfacht, wertlos. Ein weiterer Vergleich, der die unterschiedlichen historiographischen Darstellungstechniken von Watson und Schiller in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veranschaulicht, ist Margaretas bereits erwähnte Ernennung zur Oberstatthalterin der Niederlande. Bei Watson ist dies ein einfacher beschreibender Akt. Philipp II. hat zwei Kandidatinnen und es werden die Gründe vorgestellt, warum er die von fremden Nationen unabhängige Margaretha von Parma, Christina von Lothringen, die entsprechend von Frankreich abhängig war, vorzog.267 Deutlich später in der Erzählung – wenn die Personen Oraniens und Egmonts eingeführt werden – wird erwähnt, dass auch diese beiden Ansprüche auf die Regentschaft angemeldet hatten, und nachdem sich dies sich nicht erfüllt hatte, Oranien die Herzogin von Lothringen unterstützt habe: »[…] and this discovery of William’s inclination is said to have been a principal motive with Philip, and his Spanish counsellors, for conferring it on the dutchess of Parma.«268 Für Watson ist dies einfach eine Episode, die berichtet wird und zugleich als wahrscheinliche Spekulation gekennzeichnet ist. Schiller hingegen kreiert zuerst den Kontrast zwischen Wilhelm von Oranien und Egmont als zwei legitimen Kandidaten, die jeweils von Philipp II. verworfen werden (NA 17, S. 67–74). Dann folgt Christinas Kandidatur als direkte Konsequenz darauf, dass Oranien keine Chance auf die Regentschaft erhielt, doch dieser sich durch die Herzogin von Lothringen zumindest einigen Einfluss bewahren wollte:
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267 268
Die nach dem Absatz genannte Quelle ist ›Strada 197‹; dies gilt aber vornehmlich für die Paraphrase der rhetorisch genau ausgeführten Gründe, warum Albas Armee nicht nötig sei und stattdessen die Ruhe in den Niederlanden gefährde. Watson: The History. Bd. 1, S. 79. Watson: The History. Bd. 1, S. 84.
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Wilhelm hatte Absichten auf ihre [Christinas, S.J.] Tochter, die er durch die thätige Verwendung für die Mutter zu befördern hofte; aber er überlegte nicht, daß er eben dadurch ihre Sache verdarb. Die Herzogin Christina wurde verworfen, nicht so wohl, wie es hieß, weil die Abhängigkeit ihrer Länder von Frankreich sie dem spanischen Hofe verdächtig machte, als vielmehr deswegen, weil sie dem niederländischen Volk und dem Prinzen von Oranien willkommen war. (NA 17, S. 74)
Als Konsequenz daraus wird Margaretha von Parma ernannt, die dann in einem ausführlichen Charakterporträt vorgestellt wird (NA 17, S. 74–76). Anders als bei Watson ist dies kein erzählerischer Bericht, sondern eine genaue textuelle Inszenierung, womit Oranien und Philipp sich als Gegenpole gegenüber stehen, und Margaretha von Beginn an desavouiert ist und ihr kein entscheidendes Handlungspotential zwischen den Mächten zukommt. Wieder vereindeutigt Schiller eine historische Leerstelle. Die genauen Gründe der Ernennung Margaretas sind vielfältig und nicht vollends zu klären. Schiller ästhetisiert die Darstellung, sodass die polare Struktur zwischen Philipp II. und Oranien entsteht.
9.
Die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. Erzählung und Geschichtsphilosophie
Holger Reinitzhuber spricht vom »nüchterne[n] und ruhigere[n] Stil«, der in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹, erschienen in Göschens ›Historischem Calender für Damen‹ in den Jahrgängen von 1791 bis 1793, vorherrsche.269 Gleichzeitig betont er, dass Schillers Text im Vergleich mit anderen historischen Werken der Zeit – zum Beispiel Michael Ignaz Schmidts ›Geschichte der Deutschen‹ – anschaulicher sei.270 Jürgen Eder sieht in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ »einen hohen Grad an wissenschaftlicher Objektivität« erreicht.271 Im Weiteren wird durch einen Vergleich zwischen Schillers beiden großen historiographischen Texten genauer untersucht, warum es zu diesem nüchterneren Ton im ›Dreißigjährigen Krieg‹ kommt. Zwar schaffen beide Texte anschauliche Geschichte, jedoch auf unterschiedliche Weise; oder – ausgedrückt in der 269
270 271
Reinitzhuber: Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Krieges‹, S. 207; siehe auch S. 96–142, zu den verschiedenen rhetorischen Figuren, die Schiller in diesem Text verwendet, wobei Reinitzhuber auf der Ebene einer positivistischen Stilanalyse verbleibt; zu texttheoretischen Überlegungen ist sein Ansatz nicht in der Lage. Reinitzhuber: Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Krieges‹, S. 105–110. Eder: Schiller als Historiker, S. 679.
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Terminologie dieser Untersuchung – warum erstellt Schiller in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ keine oder zumindest weitaus weniger textuelle Welten als im Niederlande-Text? Der Ansatzpunkt zur Beantwortung dieser Frage liegt im Thema des vorangehenden Abschnitts, also in der Frage nach der Fokalisierung in Schillers historischen Texten. Schiller verwendet in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ so gut wie keine interne Fokalisierung; selbst wenn er die Gefühle oder Gedanken von historischen Personen wieder gibt. Beispielsweise weiß der Historiker um die Gefühle von Wallenstein nach seiner ersten Entlassung durch den Kurfürstentag in Regensburg, als dieser sich auf seine Güter zurückgezogen hat und darauf wartet, dass der österreichische Kaiser ihn wieder braucht. Zuerst beschreibt Schiller in bildlicher Sprache Wallensteins Situation: »In dieser prahlerischen Dunkelheit erwartete Wallenstein still, doch nicht müßig, seine glänzende Stunde und der Rache aufgehenden Tag« (NA 18, S. 134).272 Dann dringt der historische Erzähler in Wallensteins Gefühle ein: »[B]ald ließ ihn Gustav Adolphs reißender Siegeslauf ein Vorgefühl desselben genießen« (NA 18, S. 134). Im Weiteren scheint dies vertieft zu werden: »Von seinen hochfliegenden Planen ward kein einziger aufgegeben; der Undank des Kaisers hatte seinen Ehrgeitz von einem lästigen Zügel befreyt« (NA 18, S. 134), doch der Erzähler markiert durch wertende Ausdrücke wie »hochtrabend« oder »Ehrgeiz«, dass hier nicht Wallensteins Gedanken, sondern die Analyseergebnisse von dessen Gedanken dargestellt werden. Das Analytische wird im Schluss dieses Absatzes noch deutlicher: »Der blendende Schimmer seines Privatlebens verrieth den stolzen Schwung seiner Entwürfe […]« (NA 18, S. 134). Aus dem Wissen um Wallensteins ausschweifendes Privatleben können also Schlussfolgerungen über seine inneren Pläne und Gedanken gewonnen werden. Hingegen handelt es sich in allen den bereits im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ angeführten Beispielen um interne Fokalisierung. Es ist dort nicht mehr zu entscheiden, ob der Leser die nur analytisch erschlossenen Gedanken einer Person oder deren tatsächliche Gedanken, die der historische Erzähler in der dritten Person wieder gibt, dargestellt bekommt. Diese interne Fokalisierung wechselt sich konstant mit Sätzen ab, die nullfokalisiert sind. Hierdurch wird erkennbar, warum die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ so sehr als Bericht und analytische Erzählung erscheint, geschrieben aus der Darstellungsperspektive der Nullfokalisie272
Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs. In: NA 18. Historische Schriften. Zweiter Teil. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. 1976.
247
rung, die die grundlegende Erzählperspektive moderner Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert werden sollte. Die Reduktion der distanzierenden Brechung durch die historische Analyse, mit der Schiller eine präsentischere Geschichtsschreibung kreiert, findet nicht mehr statt. Insofern werden auch keine historischen Leerstellen fiktional vereindeutigt. Nicht der (notwendige) Prozess der Geschichte wird zur Anschauung gebracht, sondern geschehene Geschichte wird rückblickend analysiert und erzählt. Diese Reduktion des Präsentischen wird auch an anderen Stellen in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ deutlich. Bezeichnend ist zum Beispiel Schillers Erzählung der Episode, wie Wallenstein durch Feldmarschall von Illo seine Kommandeure austricksen will, ihm ein schriftliches Versprechen zu unterschreiben, durch das sie ihm und nicht mehr dem Kaiser verpflichtet wären. Dieses Geschehen wäre ideal für die Vollführung von rhetorischer Beredsamkeit auf der historischen Darstellungsebene geeignet, das als notwendige Konsequenz die Unterschrift aller und die letztendliche Entlarvung des Tricks, das Versprechen mit Bezug auf den Kaiser gegen denselben Text ohne diesen Bezug auszutauschen, zeigen könnte: »Er [Feldmarschall von Illo, S.J.] machte den Anfang damit, ihnen [den Kommandeuren, S.J.] die neuesten Foderungen des Hofs an den General und die Armee vorzutragen; und durch die gehässige Wendung, die er denselben zu geben wusste, war es ihm leicht, den Zorn der ganzen Versammlung zu entflammen« (NA 18, S. 315). Doch Schiller verwendet hier wie in der ganzen ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ keine direkt zitierten, fiktiven oder historisch überlieferten Reden mehr. Illo überzeugt nicht die Kommandeure und den Leser, sondern das Ergebnis und dessen Ursachen – die Entflammung des Zorns der Kommandeure aufgrund von Illos rhetorischer Rede – wird rückblickend berichtet. Geschichte findet also nicht statt, sondern wird in einem geschlossenen, überschaubaren Erzählzusammenhang aus der Distanz heraus dargestellt. Schiller behält – was gerade zu einem für einen historischen Kalender geschriebenen Text passt – an ausgewählten Stellen ein durchaus szenisches Erzählen bei. Dies geschieht zum Beispiel in der Szene von Wallensteins Tod: »Er [Wallenstein, S.J.] war noch im bloßen Hemde, wie er aus dem Bett gesprungen war, zunächst an dem Fenster an einen Tisch gelehnt« (NA 18, S. 327). Obwohl hier für den Leser anschauliche Bilder entstehen, hat sich Schillers Erzählduktus im Vergleich zum NiederlandeText verändert. Der Historiker berichtet durchweg aus nicht-lokalisierbarer Perspektive über die Szenen, statt die Szenen vor dem Auge des Lesers ablaufen zu lassen. Zugleich finden auch keine Duelle zwischen Personen 248
oder Feldherrn statt; nicht einmal Wallenstein und Gustav Adolf kommen in Schillers Text als Kräfte ihrer jeweiligen Armeen ernsthaft miteinander in Berührung. Noch deutlicher wird die Veränderung durch die szenische Darstellungsweise in der immer wieder als Beispiel für die Anschaulichkeit von Schillers Text herangezogenen Plünderung und Zerstörung von Magdeburg.273 Anders als im Bildersturm im Niederlande-Text entsteht hier kein kollektiver Strom der Geschichte, der etwas moralisch Verwerfliches, aber für die weitere Entwicklung der Geschichte Notwendiges vorantreibt, sondern Schillers Erzähler beschreibt und wertet aus der Distanz, zum Beispiel: »Eine Würgescene fing jetzt an, für welche die Geschichte keine Sprache und die Dichtkunst keinen Pinsel hat« (NA 18, S. 161). Die eigentliche Szene wird also zugunsten einer darstellungstheoretischen Reflexion zurückgenommen. Manchmal verwendet Schiller einen parataktischen Satzbau und steigert die Gräuel;274 insgesamt überwiegt jedoch ein hypotaktischer Satzbau, durch den aus einer rückblickenden Distanz die Ereignisse beschrieben werden: »In ununterbrochener Wuth dauerten diese Greuel fort, bis endlich Rauch und Flammen der Raubsucht Grenzen setzten« (NA 18, S. 161). Schillers Erzähler wirkt zu zurückgezogen, um aus solchen Episoden wie der Zerstörung von Magdeburg notwendige Geschichtsbewegungen zu machen. Gustav Adolfs Reaktion auf die Plünderung, der Versuch, Magdeburg zu entsetzen, ist bereits wieder vornehmlich politisch begründet (NA 18, S. 163–165). Das Anschaulichste in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ sind die Schlachtdarstellungen, allen voran von der Schlacht bei Leipzig am 7. September 1631. Man kann sich den Schauplatz genau vorstellen (NA 18, S. 174f.). Die geschichtsphilosophische Bedeutung der Schlacht wird zum zentralen Wendepunkt des Krieges: »Dieser Tag war es, um dessentwillen Gustav das Baltische Meer durchschiffte, auf entlegener Erde 273
274
Hofmann: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung, S. 85f. Hofmann spricht vom »Inkommensurablen der Gewalttaten«, die bereits hier Schwierigkeiten erkennen lassen, historische Sinnstiftung zu betreiben. Zum historiographiegeschichtlichen Effekt von Schillers Magdeburgdarstellung, siehe Martin C. Wald: Die Gesichter der Streitenden. Erzählung, Drama und Diskurs des Dreißigjährigen Krieges 1830 bis 1933. Göttingen 2008, S. 171f.; S. 179–185. Zum Beispiel: »Drey und funfzig Frauenspersonen fand man in der Kirche enthauptet. Kroaten vergnügten sich, Kinder in die Flammen zu werfen – Pappenheims Wallonen, Säuglinge an den Brüsten ihrer Mütter zu spießen« (NA 18, S. 161). Doch generell werden drei anschauliche, präsentische Erzählphasen in der Darstellung der Zerstörung von Magdeburg schnell durch analysierende und rückblickend Resultate berichtende Darstellungen des Historikers unterbrochen.
249
der Gefahr nachjagte, Krone und Leben dem untreuen Glück anvertraute« (NA 18, S. 175). Dann scheint sich auch ein Duell zwischen zwei großen Heerführern, Gustav Adolf und Tilly, zu ergeben: »Die zwey größten Heerführer ihrer Zeit, beyde bis hieher unüberwunden, sollen jetzt in einem lange vermiedenen Kampfe mit einander ihre letzte Probe bestehen« (NA 18, S. 175f.). Doch dies wird im ersten Satz der eigentlichen Schlachtbeschreibung bereits analytisch gebrochen. Tilly ist an diesem Tag kein Gegner, es fehle ihm jegliche Entschlossenheit (NA 18, S. 176). Insofern bleibt auch das Heroische und Große des Schwedenkönigs und seiner Soldaten beschränkt. Die Darstellung spiegelt damit die »Furcht« und das »Zittern« von ganz Deutschland über den Ausgang der Schlacht nicht wider, mit denen Schiller seine Einführung der Bedeutung der Schlacht beendet: »Beyde Hälften von Deutschland haben mit Furcht und Zittern diesen Tag herannahen sehen; bang erwartet die ganze Mitwelt den Ausschlag desselben, und die späte Nachwelt wird ihn segnen oder beweinen« (NA 18, S. 176). Diese Passage ist eine der wenigen Ausnahmen in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹, wo Schiller die Gefühle von ein bzw. zwei Kollektiven ausdrückt. Der Satz »bang erwartet die ganze Mitwelt den Ausschlag desselben« ist intern fokalisiert; für einen Moment wird die Bedeutung der Schlacht in einem Wahrnehmungsakt gegenwärtig. Im Weiteren erzählt dann jedoch der Historiker weniger ein sich vollziehendes, anschauliches Geschehen, sondern es herrscht wieder ein berichtend-wissender Unterton vor; ganz anders als zum Beispiel in den Schlachten im Siebenjährigen Krieg bei Archenholz, in denen auch im Augenblick der Schlachterzählung für die Kriegsparteien alles auf dem Spiel zu stehen scheint.275 Bis auf die gerade zitierte Ausnahme verwendet Schillers historischer Erzähler hier keine Fokalisierungen aus Sicht der Parteien. Es entstehen keine Kollektiva, zum Beispiel die Soldaten als Kollektiv, die zu ›beseelen‹ wären. Schiller ist in seinem Erzählstil in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ weitaus näher an der realistischen oder historistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹. Methodologisch ist dies allerdings gerade das Gegenteil; die kritische Reflexion der eigenen Methode und die für die damalige Zeit genaue Bearbeitung von Quellentexten sind stark reduziert, natürlich auch wegen der Produktionsbedingungen des Textes, wobei Quellenauswertungen bzw. die Rezeption von Geschichtsdarstellungen und der eigentliche
275
Siehe insb. die Darstellung der Schlachten bei Torgau und Leuthen in V.2 und V.3.
250
Schreibprozess fast zeitgleich abliefen276 und aufgrund der Zielgruppe für den historischen Kalender für Damen,277 der auf ein allgemeines Publikum278 ausgerichtet war. Während es Schiller also im Niederlande-Text gelingt, die unauflösbare Spannung zwischen geschichtsphilosophischer Darstellung und historischer Referenz vollziehen zu lassen, erzählt er in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. Insofern ist er hier deutlich näher am geschlossenen Stil der schönen Diktion, den er in seiner Ästhetik entwickelt hat. Damit begibt er sich aber der Möglichkeit, die Notwendigkeiten eines teleologischen Geschichtsverlaufes noch auf der Ebene der Darstellung inszenieren zu können. Das hierbei entstehende Paradox besteht nun darin, dass die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ in der Regel als der geschichtsphilosophische Text Schillers betrachtet wird, in der die Freiheit der evangelischen Religion und die Beschränkung der Macht des Kaisers dargestellt werden kann.279 Georg Schmidt sieht noch kürzlich in Schillers Text eine klare teleologische Grundstruktur. Er macht ein doppeltes Freiheitsmuster aus: Einerseits sei der Dreißigjährige Krieg das Fegefeuer, das mit dem Westfälischen Frieden ein System freier souveräner Staaten und den ewigen Frieden ermögliche. Andererseits zeige sich eine Entwicklung zur deutschen Freiheit gegen eine despotische Alleinherrschaft.280 Der ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ sei im Vergleich dazu noch zu rhetorisch; die Abwendung von der Geschichte mit den Erfahrungen der Französischen 276
277 278 279
280
Die offene Struktur des Mediums Kalender ermöglichte paralleles Quellenstudium und Niederschrift (Helga Meise: ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ (1791–1793). In: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart/Weimar 2005, S. 330–336, S. 331). Vgl. auch Holger Dainat: Illustrierte Kalendergeschichte für Damen. Friedrich Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. Euphorion 99 (2005), S. 273–294, S. 294, zum Kalender als seriellem Medium. Siehe zu Leserschaft und Produktionsumfeld Dainat: Illustrierte Kalendergeschichte, S. 276–282. Dainat zeigt, dass der ›Historische Calender für Damen‹ mehr auf die Nation als auf Frauen ausgerichtet war (Illustrierte Kalendergeschichte, S. 280). Zum übergreifenden historischen Schema und teleologischen Prinzip in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹, siehe auch Hofmann: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung, S. 87f. Georg Schmidt: Friedrich Schiller und seine ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. In: Schiller im Gespräch der Wissenschaften. Hrsg. von Klaus Manger/Gottfried Willems. Heidelberg 2005, S. 79–105, S. 87. Hierbei geht Schmidt nicht darauf ein, dass die eigentliche Geschichtserzählung den Westfälischen Frieden fast ignoriert. Insgesamt glaubt Schmidt in Schillers gesamten historischen Schriften ein durchlaufendes Geschichtsmodell zu entdecken. Dies wird ohne Rücksicht auf Repräsentationsfragen aus inhaltlichen Bemerkungen abgeleitet. Es bleibt problematisch, von einzelnen Aussagen Schillers ein eindeutiges Geschichtsmodell abzuleiten, das dann oft durch die Geschichtsdarstellung nicht gedeckt ist.
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Revolution zeige dann Schillers Geschichtsskepsis.281 Eine genauere Untersuchung der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ lässt jedoch erkennen, dass sich Schillers teleologische Konzeption im Laufe der Geschichte nicht wirklich bestätigt. Allen voran ist zu vermerken, dass der Westfälische Frieden letztlich nur noch Anhängsel von der Länge eines Absatzes ist (NA 18, S. 384f.), nicht der vorläufige Höhepunkt einer teleologischen Entwicklung.282 Was die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ geschichtsphilosophischer als den ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ macht, ist ein grundsätzliches Gerüst, das durch die Annahme geschaffen wird, dass sich die protestantische Seite letztlich im Dreißigjährigen Krieg und im Westfälischen Frieden durchsetzt; sie wird gestärkt; der Kaiser wird geschwächt. Damit lässt sich generell von einem Fortschritt zur Freiheit in der übergreifenden Entwicklung der Geschichte sprechen. Im ersten Buch wird die Grundkonstellation von Schiller klar festgelegt: »Aber eben dieses Haus Oesterreich, der unversöhnliche Gegner der Reformation, setzte zugleich durch seine ehrgeitzigen Entwürfe, die von einer überlegenen Macht unterstützt waren, die politische Freyheit der Europäischen Staaten, und besonders der Deutschen Stände, in nicht geringe Gefahr« (NA 18, S. 14). In dieser Spannung ermöglicht es die Religion, die Eifersucht zwischen verschiedenen Staaten und Fürstentümern zu überwinden und eine europäische Einheit zu schaffen: Ein lebhafteres näher liegendes Interesse als der Nationalvortheil oder die Vaterlandsliebe, und welches von bürgerlichen Verhältnissen durchaus unabhängig war, fing an, die einzelnen Bürger und ganze Staaten zu beseelen. Dieses Interesse konnte mehrere und selbst die entlegensten Staaten mit einander verbinden, und bei Unterthanen des nehmlichen Staats konnte dieses Band wegfallen. Der Französische Kalvinist hatte also mit dem reformirten Genfer, Engländer, Deutschen oder Holländer einen Berührungspunkt, den er mit seinem eignen katholischen Mitbürger nicht hatte. (NA 18, S. 16)
Diese Vereinigung, um für die Freiheit zu kämpfen, könnte durchaus das Thema einer performativen Geschichtsinszenierung sein, wie sie Schiller 281
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Siehe z. B. Schmidt: Friedrich Schiller, S. 103; oder Riedel: Weltgeschichte. Otto Dann sieht auch nach der Verabschiedung des teleologischen Denkens ein dialektisches Geschichtsdenken bei Schiller am Werk, wonach der Historiker als ›philosophischer‹ Kopf die Geschichte betrachte (Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Krieges‹, geschrieben zur Zeit der Französischen Revolution. Études Germaniques 60 (2005), S. 761–771, hier: S. 771). Siehe Dainat: Illustrierte Kalendergeschichte, S. 283; und Hofmann: Schiller: Epoche – Werke – Wirkung, S. 84f.
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sie im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ kreiert. Schiller könnte zeigen, wie diese Beseelung von großen Menschengruppen über Nationalgrenzen hinweg funktioniert, und wie bei der Verschwörung des Adels im Niederlande-Text alles mitreißt. Doch die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ ist zu Beginn eine Geschichte der politischen Herrscher, später dann vornehmlich eine Militär- und Schlachtengeschichte. Nach der Schlacht bei Leipzig scheint Gustav Adolf tatsächlich zum mächtigen Prinzip der Geschichte zu werden, das den Zufall bändigen und den notwendigen Fortschritt zur Freiheit des Menschen vorantreiben kann:283 Er [Gustav Adolf, S.J.] war größer, als man berechnet, größer als man gewünscht hatte. […] Einzig, ohne Nebenbuhler, ohne einen ihm gewachsenen Gegner, stand er jetzt da in der Mitte von Deutschland; nichts konnte seinen Lauf aufhalten, nichts seine Anmaßungen beschränken, wenn die Trunkenheit des Glücks ihn zum Mißbrauch versuchen sollte. (NA 18, S. 186)284
Doch – wie am Ende des Zitats angedeutet – wird Gustav Adolfs Charakter gerade in seiner Bedeutung für die Freiheit der deutschen Stände in dem Augenblick zweideutig, in dem er zu viel Macht im politischen Machtspiel besitzt und die Balance nicht mehr gewährleistet ist. Schiller stellt nicht die Perspektive von Soldaten dar, die sich, von Adolf hingerissen, zum Freiheitsprinzip in Deutschland aufschwingen können. Offensichtlich entdeckt der Historiker zu viele Ambivalenzen, sodass seine Helden wie Gustav Adolf oder Bernhard von Weimar mehr als Helden gefeiert und dargestellt werden, aber weniger als Prinzipien, durch die 283
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Zur poetischen Überhöhung der Figur Gustav Adolfs bei Schiller, siehe auch, im Vergleich mit Schillers Quellen, Silvia Verena Tschopp: Zur Kontinuität von Geschichtsbildern. Friedrich Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. In: Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Hrsg. von Achim Landwehr. Augsburg 2002, S. 299–315; sowie zur Prägung des kollektiven Geschichtsbildes, Marina Mertens: Inszenierung einer ›Lichtgestalt‹ im Interferenzraum von Historiographie und Poesie. Die Darstellung des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf bei Daniel Defoe und Friedrich Schiller. Angermion. Yearbook for Anglo-German Literary Criticism, Intellectual History and Cultural Transfer / Jahrbuch für britisch-deutsche Kulturbeziehungen 2 (2009), S. 21–43. Vgl. auch Schillers Beschreibung der Bedeutung von Gustav Adolfs Eintritt in den Krieg für den Kurfürsten von Sachsen: »Die Erscheinung der Schweden in Deutschland musste ihm [dem Kurfürsten von Sachsen, S.J.] die Mittel dazu darbiethen. Gustav Adolph war unüberwindlich, sobald sich die protestantischen Stände mit ihm vereinigten, und nichts beunruhigte den Kaiser mehr« (NA 18, S. 152). Schiller bringt also die Perspektiven zweier Fürsten in seiner Darstellung von der Bedeutung des schwedischen Königs für die geschichtliche Entwicklung mit ein, was Gustav Adolf als Prinzip der Freiheit umso mächtiger erscheinen lässt.
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sich die Freiheit immer mehr vollzieht, inszeniert werden, zumal sie nur für Teile des Krieges präsent sein können.285 Nach dem Sieg in der Schlacht bei Leipzig scheint Gustav Adolf für einen Augenblick als Prinzip einer Fortschrittsgeschichte inszeniert werden zu können: Er ist Staatsmann und Feldheer zugleich; Gustav Adolf ist »das einzige Ziel, auf welches der handelnde Krieger die Augen richtete, Er allein die Seele seiner ganzen Partey, der Schöpfer des Kriegsplans und zugleich der Vollstrecker desselben. In ihm erhielt also die Sache der Protestanten eine Einheit und Harmonie, welche durchaus der Gegenpartey mangelte« (NA 18, S. 188). Aber Gustav Adolfs real-politisches Handeln erweist sich als zu zweideutig, um diese Inszenierung eines zu feiernden Prinzips in der Erzählung tatsächlicher historischer Ereignisse fortsetzen zu können. Die Freiheit wird letztlich als theoretisches Prinzip behauptet, zum Beispiel als »Deutsche Freyheit« (NA 18, S. 166) nach der Zerstörung von Magdeburg: »So unglücklich also die nächsten Folgen von Magdeburgs Untergang für die Protestanten auch seyn mochten, so wohlthätig waren die spätern. Die erste Ueberraschung machte bald einem thätigen Unwillen Platz, die Verzweiflung gab Kräfte, und die Deutsche Freyheit erhub sich aus Magdeburgs Asche« (NA 18, S. 165f.). Das teleologische, fortschreitende Prinzip wird nicht mehr inszeniert; die historische Entwicklung wird nicht mehr als notwendig dargestellt, sondern dieses Prinzip bietet einen stabilen Rahmen. Innerhalb dessen finden viele Widersprüchlichkeiten statt, die der historische Erzähler berichtet.286 Theodor Schieder hat trotz seiner letztlich höheren Einstufung der ›Wallenstein‹-Dramen mit seiner Beurteilung der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ wesentlich zur Aufwertung von Schiller als Historiker beigetragen.287 Dabei wertet er Schillers Leistung gerade im Vergleich zum ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ auf. Schieders Urteil von der »bedeutenste[n] historiographische[n] Leistung« Schillers liest sich wie folgt: 285
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In Bezug auf Wallenstein betont Steffan Davies dessen Ambiguität als Held, sodass Wallenstein für den Historiker eher zu einem literarischen Charakter wird, da historische Leerstellen nur narrativ gefüllt werden können (The Wallenstein Figure in German Literature and Historiography 1790–1920. London 2010, S. 27–35). Deshalb spielen einzelne Episoden eine viel größere Rolle: Gustav Adolfs Aufstieg und Tod ist ebenso eine Geschichte wie Wallensteins, oder in kürzerer Form die Aktivitäten von Oxenstierna oder Bernhard von Weimar. Die Episoden der Geschichte gewinnen »einen narrativen Eigenwert, der das Verhältnis von konkreter geschichtlicher Handlung und dem Ideal des historischen Telos unklar erscheinen lässt« (Hofmann: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung, S. 85). Schieder: Schiller als Historiker.
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[…] der Verfasser tritt nicht mehr von außen an die Geschichte heran, er präjudiziert nichts, sondern er macht das Unbegreifliche zum Standpunkt der Beurteilung. Seine Sprache hat sich […] dem historischen Gegenstand angepaßt. Sie ist nur in einzelnen Abschnitten wie bei dem farbigen Bericht über die Zerstörung Magdeburgs in erster Linie beschreibend, im allgemeinen überwiegt eine analysierende Tendenz […].288
Schieder sieht eine analysierende Geschichtswissenschaft als modern an; eine beschreibend-rhetorische Geschichtsschreibung ist dies hingegen noch nicht. Auch das Geschichtsphilosophische steht der Geschichtswissenschaft entgegen. Dennoch behandele Schiller seine geschichtsphilosophische Idee der Freiheit in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ viel analytischer und historisch in Einzelschritten. Seine Geschichtsphilosophie werde in den Folgen des Dreißigjährigen Krieges, nicht in den Handlungen und Grausamkeiten während des Krieges bestätigt.289 Anfangs wurde die literaturwissenschaftliche These – insbesondere von Fludernik – diskutiert, wonach Geschichtsschreibung zur neutralsten und deshalb letztlich für die Narratologie uninteressantesten Form werde.290 Bei Schieder wird genau das umgekehrte Muster deutlich; grundsätzlich ist Geschichtswissenschaft analysierend; sie produziert nichts, sie referiert und analysiert außerhalb des Textes Vorgegebenes, historische Welten und Zusammenhänge. Natürlich wird diese Trennung von Geschichtsschreibung und Literatur bzw. literarischen Mitteln seit den ›linguistic‹ und ›narrative turns‹ viel kritischer als vor fast 50 Jahren bedacht. Doch auffällig bleibt, dass selbst in darstellungsbewussten Untersuchungen – wie bei Fulda – eine Fortentwicklung der Geschichtswissenschaft hin zur Wissenschaftlichkeit das grundlegende Kriterium ist. Diese mag aus der Kunst entstehen, aber wird letzten Endes zur wissenschaftlichen Fortschrittsgeschichte. Damit werden die Möglichkeiten von Überschneidungen, vor allem von Grenzüberschreitungen immer wieder negativ beurteilt, weil sie das Kriterium der Wissenschaftlichkeit nicht erfüllen.291 Dass aber in der Übergangszeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts dieses Kriterium zwar einerseits entsteht – im Quellenbegriff und im Umgang mit den Quellen wie im historischen Erzählen – aber andererseits nur ein Teilziel einer geschichtsphilosophischen Geschichts288 289 290 291
Schieder: Schiller als Historiker, S. 67. Schieder: Schiller als Historiker, S. 68f. Siehe I.3.2. Vgl. auch Rüth, wenn dieser das Kriterium der Überprüfbarkeit zum grundsätzlichen Merkmal von Geschichtsschreibung macht, was u. a. das Mögliche aus der Geschichtsschreibung eliminiert (Erzählte Geschichte, u. a. S. 45–49).
255
schreibung ist, gerät damit aus dem Blick. Schillers ästhetisierte Rhetorik im Niederlande-Text zeigt gerade, wie man geschichtsphilosophisch Geschichte zur Darstellung bringen kann, ohne die Referentialität der Geschichte aufzugeben. Die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ ist analytischer, da ist Schieder und anderen Recht zu geben; damit gibt sie aber die Möglichkeit einer geschichtsphilosophischen Geschichtsschreibung auf. Insofern ist offensichtlich, warum die Spannungen und Widersprüche zwischen historischen Einzelepisoden bzw. Personen und dem geschichtsphilosophischen Rahmen im reflektierenden Gestus der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ deutlicher zutage treten.
10.
Schillers ästhetische Geschichtsschreibung
Abschließend lassen sich die Ergebnisse der Analyse zu Schillers ästhetischen Inszenierungs- und Darstellungsverfahren durch die Anknüpfung an den Fiktionalitätsbegriff in dessen Geschichtsschreibung noch einmal zusammenfassen. Um dieses Ergebnis gegenüber genuin literarischen Darstellungen schärfer zu konturieren, wird Goethes als »Trauerspiel in fünf Aufzügen« gekennzeichneter ›Egmont‹, etwa zwischen 1775 und 1787 entstanden, als vergleichendes Beispiel zum ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ herangezogen. Goethe nimmt seinen Stoff aus der niederländischen Geschichte von zwei auch für Schiller zentralen Quellen, von Meteren und Strada.292 Die historische Erzählzeit von Goethes Drama umfasst zwischen einem und eineinhalb Jahren; sie setzt am Ende der Bilderstürme ein, als die Regentin den Eid von allen ihr dienenden Adeligen und Beamten fordern ließ und als die Niederlande bereits wieder größtenteils beruhigt sind, also gegen Ende des Jahres 1566 bzw. im Frühjahr 1567. Der Bildersturm und die Reaktionen von Regentin und Adel darauf werden im ersten Akt in Rückblicken und Berichten reflektiert. Die eigentliche Handlung beginnt Anfang des zweiten Aktes mit dem Abschiedstreffen zwischen Oranien und Egmont, das historisch am 2. April 1567 stattfand, und endet am 5. Juni 1568 mit der Vollstreckung des Todesurteils an Egmont und an dem bei Goethe ausgelassenen Grafen Hoorne. Goethes Drama verzichtet allerdings auf diese historischen Bezugspunkte und rafft die Dauer des Schauspiels zu wenigen unbestimmten Tagen zusammen, in denen sich der Abschied 292
Schillers Quellen sind nach seiner Fußnote h »Thuan. 527, Strad. 183. Meteren. 95. Burgund. 470. 471.f., Meurs. 28« (NA 17, S. 251).
256
Wilhelm von Oraniens und der Regentin, die Ankunft Albas, seine Schreckensherrschaft, die Festsetzung Egmonts, die Urteilssprechung und die angedeutete Hinrichtung vollziehen. Die Abschiedsszene zwischen Egmont und Oranien ist für einen Vergleich zwischen Goethes und Schillers Text besonders geeignet, da sie in beiden Texten ausgestaltet wird.293 Bei Schiller – den historischen Quellen entsprechend – findet die Begegnung zwischen Oranien und Egmont im Beisein des Sekretärs der Regentin, Berti, und von Graf Mansfeld, auf neutralem Terrain im Dorf Willebroeck, zwischen Brüssel und Antwerpen, statt. Sie wurde von Berti initiiert und ist szenisch und von direkten Reden geprägt: Alle drei bestürmten hier den Entschluß des Prinzen mit vereinigter Beredsamkeit, jedoch ohne ihn zum Wanken zu bringen. »Es wird dir deine Güter kosten, Oranien, wenn du auf diesem Vorsatz bestehest,« sagte endlich der Prinz von Gaure [Egmont, S.J.], indem er ihm seitwärts zu einem Fenster folgte. »Und dir dein Leben, Egmont, wo du den deinigen nicht änderst;« versetzte jener. (NA 17, S. 249f.)
Im Weiteren führt Schiller Oraniens Argumentation erst in direkter, dann in indirekter Rede aus. Anders als in Goethes Trauerspiel sind die fiktiven Reden, die Schiller von Strada und Burgundius übernimmt,294 und dialogisiert, durchsetzt von Wertungen und Ausdeutungen, zum Beispiel: Aber alle noch so lichtvollen Gründe, die eine weitsehende Klugheit ihm an die Hand gab, mit aller Lebendigkeit, mit allem Feuer vorgetragen, das immer nur das zärtliche Bekümmerniß der Freundschaft ihnen einhauchen konnte, vermochten nicht, die unglückselige Zuversicht zu zerstören, welche Egmonts guten Verstand noch gebunden hielt. Oraniens Warnung kam aus einer trübsinnigen verzagenden Seele; und für Egmont lachte noch die Welt. (NA 17, S. 250)
Dann nimmt Schiller eine Charakterisierung Egmonts vor, die sich wie eine Interpretation der Hauptfigur des Goetheschen Dramas liest (nur 293
294
Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. München 1988. Bd. 4. Dramatische Dichtungen II. Egmont. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, S. 370–454, hier: S. 401–407; NA 17, S. 249–251. Strada stellt den Dialog in stark verkürzter Form vor. In dem Treffen widersetzt sich Egmont – ohne dass der Inhalt der Rede von Strada genannt würde – Oraniens Meinung, bevor auch hier Oraniens Vorhersage, dass das Vertrauen Egmonts in den spanischen Königs seinen Ruin bedeute und er die Brücke sei, über die die Spanier in die Niederlande kommen werden, zitiert wird (Strada: De Bello Belgico, S. 183). Siehe auch Jaeger: Schiller und die Quellen, S. 242–244, für eine weiterführende Analyse von Schillers für diese Episode verwendeten Quellen. Burgundius: Historia Belgica, S. 470f., gibt nur den Dialog wieder, ohne ihn zu interpretieren.
257
dass Schiller sich vornehmlich an die historischen Vorgaben hält). Diese endet in den internen Fokalisierungen von Egmonts Gedanken, die bereits dargestellt wurden.295 Goethe hingegen verschiebt den Ort der Abschiedsszene im Vergleich zu den historischen Ereignissen: Sie findet in Egmonts Wohnung in Brüssel statt. Goethes Vereinheitlichung des Ortes auf verschiedene Schauplätze in Brüssel folgt auch eine Raffung der Zeitabläufe. Oraniens Abschied erscheint als gerade noch rechtzeitige Flucht aus Brüssel, kurz vor Albas Ankunft, nach einem Gespräch mit der Regentin. Auch das Personal und die Handlung werden vereinfacht. Berti und Graf Mansfeld tauchen nicht auf; die Episode vom zu schwörenden Eid wird nicht erwähnt. Daher kommt Egmont auch nicht wie bei Meteren, Strada und Schiller eine Vermittlerrolle zu – er soll Oranien doch noch zum Leisten des Eides bewegen, sondern Goethe fokussiert seine Szene ganz auf die unterschiedlichen Erwartungen Egmonts und Oraniens. Egmont vertritt hierbei die aufrechte Haltung: Mit moralischer Vernunft und gutem Willen ist alles zu versöhnen. Oranien hingegen steht für die politisch-strategische Sicht: Er nimmt an, dass der spanische König nach dem Scheitern seiner diplomatischen Bemühungen den Kurs wechseln, dabei niederländisches Recht und Freiheit nicht achten, und insbesondere den Adel, der das niederländische Volk lenke, verfolgen werde. Während bei Schiller Oraniens Klugheit im Vordergrund steht und Egmont eher aufrichtig-naiv wird, ist es bei Goethe Egmonts moralische Stärke, die seinen tragischen Untergang bewirkt.296 Ein Blick auf Dorrit Cohns bereits in der Einleitung diskutierten möglichen Bedingungen für fiktionale Texte kann nun helfen, den Vergleich zwischen Goethes und Schillers Bearbeitung des Egmont-Stoffes zu systematisieren.297 Hierbei sind zwei Fiktionsbedingungen besonders hervorzuheben: Einerseits sind die Referenzen der Fiktion zu der Welt außerhalb des Textes nicht an eine akkurate, überprüfbare Wiedergabe gebunden. Andererseits denotiert Fiktion nicht ausschließlich auf die reale Welt außerhalb des Textes, sondern erschafft eine eigene Welt. Goethes 295 296
297
Siehe IV.8. Schiller selbst hat in seiner im September 1788 anonym in der ›Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung‹ veröffentlichten Rezension des ›Egmont‹ Goethe dafür insoweit kritisiert, dass die erfundene Liebesgeschichte mit Klärchen die mögliche Rührung für Egmonts Charakter eher verhindere, wobei sein Verhalten in der wirklichen Geschichte, das als edles Opfer für seine Familie gelesen werden kann, seinen Gegenstand viel mehr erheben würde (Über Egmont. Trauerspiel von Goethe. In: NA 22. Vermischte Schriften. Hrsg. von Herbert Meyer. 1958, S. 199–209, S. 203f.). Vgl. I.3.2.
258
›Egmont‹ erfüllt beide Bedingungen. Die äußere historische Welt ist nur Anlass zur literarischen Charakter- und Tragödiendarstellung. Die Geschichte ist ein Steinbruch für die Imagination des Dichters, der aus der Geschichte eine in sich wahre Tragödie schaffen möchte. Der Dichter kann die Idee (im Sinne der Moral der Tragödie) vom unbesorgten, nach grundsätzlichen Prinzipien handelnden und aufgrund dieses anti-strategischen Charakterzugs in die Katastrophe gehenden Helden Egmont entfalten. Der Charakter muss wahrscheinlich werden, das heißt, in der Literatur sind die Unebenheiten und Widersprüche der empirischen Geschichte aufzuheben. Historisches wird ästhetisch vereindeutigt. Goethes ›Egmont‹ ist trotz seines historischen Ausgangspunktes im Stoff bezüglich der Entstehung des Literarischen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts298 bereits durch und durch literarisch.299 Sprache, Ausdruck und der Akt des Redens werden selbstreferentiell. Goethe schließt mit dem ›Egmont‹ einerseits an die Tragödientheorie des Aristoteles an. Zugleich befindet er sich jenseits von dessen Unterscheidung. Das Argument der Glaubwürdigkeit des Aristoteles, die u. a. durch die Verwendung von historischen Eigennamen durch den Tragödiendichter gestützt wird,300 ist im Goethischen Text vollkommen auf die innere literarische Welt verschoben worden. Diese muss wahrscheinlich sein, ohne dass die Wahrscheinlichkeit von einer äußeren Referenz noch eine Rolle spielt. ›Egmont‹ ist tatsächlich ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, kein historisches Trauerspiel mehr. Insofern erfüllt der ›Egmont‹ den modernen Literaturbegriff. Die Literatur erfindet ihre eigene Welt, ihr eigenes Spiel; der Diskurs der Historiographie ist ausgeschlossen worden. Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ weist sich hingegen als Text der Geschichtsschreibung dadurch aus, dass er die Referenzen an die äußere Welt – für die damalige Zeit – Ernst nimmt und versucht, Geschichte akkurat und überprüfbar darzustellen. Die zweite Cohnsche Bedingung von Fiktion wird allerdings unterlaufen; und hier liegt die entscheidende Beobachtung für Schillers ästhetische Inszenierung von Geschichte: Schillers Text referiert keineswegs ausschließlich auf eine reale Welt außerhalb ihrer selbst. Vielmehr schafft der Text diese Welt als eine Art neuen Text, der dann zwar vom Leser als historische, vermeintlich reale Welt angesehen werden kann, doch dessen Wahrnehmung und Wirkung davon abhängig bleiben, wie der Text gestaltet ist. Es handelt sich 298 299 300
Siehe I.3.1. Was natürlich nicht ausschließt, dass es Leser oder Zuschauer gibt, die Goethes Figur Egmont als den historischen Menschen Egmont ansehen. Aristoteles: Poetik, S. 31; siehe auch I.2.2 im Einleitungskapitel.
259
also nicht mehr um eine historische oder fiktive Welt sondern – wie in diesem Kapitel immer wieder gesehen – um eine textuelle Geschichtswelt.301 Der notwendige Verlauf der Geschichte lässt sich weder aus den reinen Daten und Kenntnissen über Ereignisse und Handlungen noch aus Motiven und Ursachen entnehmen. Erst in ihrem performativen Aufführungscharakter und der Kombination der Erzählperspektiven und Wahrnehmungen erhält die Geschichte das Schillers Geschichtsphilosophie entsprechende notwendige interne Gesetz, das die Zufälligkeit der Ereignisse bindet. Damit besitzt der historiographische Text eine selbstbezügliche Komponente, die nach Cohn nur fiktionale Texte haben können. Dies ist von Goethes ›Egmont‹ in der Kreierung von Notwendigkeiten nicht mehr fundamental zu unterscheiden, auch wenn Schillers Text, weil er die erste Fiktionsbedingung durch den vertretenen historiographischen Anspruch nicht erfüllen kann, natürlich eine viel offenere und durch historische Referenzen eingeschränkte dramatische Struktur besitzt. Der entscheidende Punkt bei Schiller ist, dass sich in der Spannung zwischen historiographischer Faktenorientierung und idealistischer Geschichtsphilosophie die epistemologische und die ästhetische Funktion der Geschichtsdarstellung überlagern bzw. aus Schillers Sicht gegenseitig ergänzen. Fiktion wird dabei insbesondere als ›make-believe‹ gefasst.302 Etwas könnte so passiert sein. Die Möglichkeitshypothese wird – wie auch in Herders Geschichtsdenken – durch Analogie-Schlüsse zu anderen Situationen abgesichert. Schiller entwickelt viele konkrete Bilder, die von den Quellen her plausibel erscheinen, aber letztlich hypothetisch erschlossen werden. Zudem ist für den Grenzgang zwischen epistemologischer und ästhetischer Funktion entscheidend, dass das Mögliche nicht mehr markiert wird.303 Der Analogieschluss zwischen Quellen und Schlussfolgerungen ist direkt in die Erzählungen eingebettet. Damit ist für den Leser – es sei denn dieser überprüft Schillers Quellen im Detail – 301 302
303
Siehe I.3.2 zur Diskussion dieser Terminologie, ausgehend von der Theorie möglicher Welten. Also als intentionale und bewusste Erfindung einer Möglichkeit, wobei für den Leser klar gekennzeichnet ist, dass über die Fakten hinausgegangen wird, und der Leser bereit ist, der hypothetischen Schlussfolgerung zu glauben. Siehe hierzu die verschiedenen Dimensionen des Fiktionsbegriffs in I.3.2; insbesondere Ann Rigney: Semantic Slides, S. 32–42. Nach Rüth wäre Schiller damit ein Mystagoge, weil er nicht wie der Detektiv selbstreflexiv, sondern vorwiegend anschaulich schreibt (Erzählte Geschichte, S. 194–197). Hier zeigt sich wiederum eine Schwäche der Rüthschen Unterscheidung, die zu einfach Selbstreflexion und Transparenz als positiv und modern ansieht, und damit Inszenierungen von Geschichte und Geschichten, die Möglichkeiten ausloten, zu unterschiedlichsten Zeiten in der Geschichte der Historiographie nicht gerecht werden kann.
260
eine Unterscheidung der Ebenen nicht mehr möglich. Das Moment der Erfindung wird durch die Inszenierung der Teleologie geleistet, in der textuellen Vereindeutigung historischer Leerstellen. Schiller erschafft eine zwischen Geschichtsschreibung und Literatur angesiedelte Textoberfläche und begibt sich damit kreativ-hypothetisch auf die Grenze zwischen Fakt und Fiktion. Historisch gesehen zeigt sich Schillers Verfahren im Niederlande-Text als Übergangsmodell. Es unterläuft wie andere disziplinentechnisch nur schwer zuortbare Texte des späten 18. Jahrhunderts die Entwicklung von der Aufklärungsgeschichtsschreibung zur Disziplin der modernen Geschichtswissenschaft. Es unterläuft ebenso die Entwicklung der Dichtung zur modernen, selbstbezüglichen Literatur, wie an Goethes ›Egmont‹ kurz gezeigt wurde, wobei auch Schiller selbst diesen Weg im ›Wallenstein‹ und seinen späteren Dramen wieder einschlagen wird. Setzt man den Anspruch einer an den Naturwissenschaften orientierten Geschichtsschreibung als Paradigma einer neuen Geschichtswissenschaft voraus, erfüllt der ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ dies ebenso wenig wie die ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹. Erstere ist noch zu rhetorisch-anschaulich, letztere zwar stärker analytisch-berichtend-erzählend, aber in seinem Umgang mit Quellen nicht kritisch genug. Insgesamt ist Schiller noch zu sehr ein Verfechter einer idealistischen Ästhetik, die sich für eine Fortschrittsgeschichte der Wissenschaften bzw. der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung im Sinne des 19. Jahrhunderts als spekulative Sackgasse erweist. Eine andere Wertung – die hier besonders betont werden soll – begründet sich hingegen aus Schillers ästhetischem und perspektivischem Umgang mit dem Vergangenen. Als Ergebnis der Entstehung eines sich selbst genügenden Kollektivsingulars der Geschichte sowie der Temporalisierung von Geschichte im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in der Historiographie neue Schreibtechniken benötigt, um das Dynamische und Prozesshafte sowie die Verbindung zwischen gegenwärtigem Erkenntnissubjekt und vergangenem Darzustellendem ausdrücken zu können. Im Spannungsfeld des Autonomisierungsprozesses von Geschichtsschreibung einerseits und von Ästhetik andererseits, ergibt sich nicht einfach eine Entwicklung von der rhetorischen zur historistischen Geschichtsschreibung. Die Geschichtsschreibung entwickelt in einer zeitweilig widerstrebenden Phase selbst neue Darstellungsformen, die langfristig das Erzählen in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung ermöglichen. Anders als in der ästhetischen Theorie lässt sich dabei der zu Beginn dieses Kapitels angesprochene 261
›schöne Stil‹304 in der Geschichtsschreibung nicht prägen. Es gibt keinen stabilen Bereich zwischen Geschichtsschreibung und Literatur. Der Schwebezustand entsteht nur im jeweiligen performativen Vollzug der Geschichte. Bei Schiller deutet sich aber bereits an, dass seine historiographische Darstellungsweise zwischen der Selbstreferenz des historiographischen Textes und der Referentialität bezüglich einer textexternen historischen Wirklichkeit in der akademischen Geschichtsschreibung auf Dauer nicht möglich ist. Er ist zu idealistisch oder nicht idealistisch genug. Schiller kann die gewünschte ästhetische Vermittlung in der Historiographie nicht finden und wendet sich erneut dem historischen Drama sowie philosophisch-ästhetischen Abhandlungen zu.305
304 305
Siehe IV.3.2. Vgl. für eine ähnliche Entwicklung bei den Romantikern das Schlusskapitel dieses Buches, Kapitel VI, insb. den Teilabschnitt VI.4 zu Friedrich Schlegel.
262
V.
Die historiographische Inszenierung nationaler Identität. Johann Wilhelm von Archenholz’ 1 ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹1
1.
Auf der Schwelle zur modernen Geschichtsschreibung 2
2
Das Sinnbildungsdefizit der deutschsprachigen Aufklärungsgeschichtsschreibung wird in der an Schillers ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ demonstrierten Übergangsphase überwunden. Dabei ist auffällig, dass die Schaffung von Sinn sich zuerst einmal auf abstrakte Menschheitsgeschichte (Forster, Herder) oder auf europäische Realgeschichte (Schiller) zu beziehen scheint. Das einzige auf den nationalen Raum fokussierte historiographische Werk, das frühzeitig das narrative Sinnbildungsdefizit zu überwinden beginnt, ist Johannes von Müllers ›Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft‹ (1786–1808).3 In seiner ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ wendet sich Schiller zwar – wie oben gesehen4 – der ›deutschen Freiheit‹ zu, doch er inszeniert diese nicht mehr als teleologisches Prinzip wie im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹, sondern nimmt sie als Garantin für den Rahmen der Erzählung. Letztlich werden in Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ also keine geschichtsphilosophischen Erkenntnisse dargestellt; die Geschichtserzählung kann den 1
2
3
4
Archenholz’ Text wird in der Ausgabe von 1793 zitiert nach Johann Wilhelm von Archenholz: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756–1763. In: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hrsg. von Johannes Kunisch. Bibliothek der Geschichte und Politik 9. Frankfurt a.M. 1996, S. 9–513. Im Weiteren wird aus der Geschichte des siebenjährigen Krieges direkt im Fließtext in Klammern mit der Sigle GSK und der Seitenangabe zitiert. Siehe für erste Überlegungen zu einer performativen Geschichtsschreibung von Archenholz, Stephan Jaeger: The Performative Birth of the German Nation out of War in German Eighteenth-Century Historiography. Johann Wilhelm Archenholz’ ›History of the Seven Years’ War‹. Lumen 27 (2008), S. 85–98. Eine erste Fassung des ersten Bandes war bereits 1780 unter dem Titel ›Die Geschichten der Schweizer‹ erschienen. Müller entwickelte sowohl einen gesamtgeschichtlichen Erzählstil als auch einen präzisen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat. Zum Kontext von Müllers Geschichtsschreibung, siehe die Beiträge in ›Geschichtsschreibung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Umkreis Johannes von Müllers und des Groupe de Coppet‹ (= L’historiographie à l’aube du XIXe siècle autour de Jean de Müller et du Groupe de Coppet. Hrsg. von Doris Walser-Wilhelm/Peter Walser-Wilhelm/Marianne BerlingerKonqui. Paris 2004). Siehe auch I.2.4. Siehe IV.9.
263
Geschichtsinhalt nicht bestätigen. Deutsche Geschichte wird nicht als Ganzheitliches inszeniert. Stattdessen werden nur einzelne historische Ereignisse und Abläufe dargestellt. Fast zeitgleich mit Schillers zweiter Geschichtserzählung legt Johann Wilhelm von Archenholz – wie Schiller kein professioneller Historiker, sondern ein literarisch geprägter Seiteneinsteiger – im Jahre 1793 die monographische Ausgabe seiner ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ vor, in der er als erster deutscher Historiker deutsche Geschichte in ihren geschichtsphilosophischen Notwendigkeiten inszeniert, wodurch die erzählerische Einheit der Geschichte ermöglicht wird. Anders als in den drei vorangegangenen Kapiteln gibt es bei Archenholz keine explizite Geschichtstheorie oder -philosophie, die der Geschichtsdarstellung unterlegt ist, sondern die Notwendigkeiten der preußischen und letztendlich deutschen Geschichte entstehen – bis auf einige kurze Reflexionen in der Vorrede – aus der konkreten Geschichtsdarstellung. Diese fungiert ähnlich wie bei Schiller auf der Grenze zwischen rhetorischer und ästhetischer Geschichtsschreibung, zwischen anschaulicher Darstellung und sinnbehafteter Geschichtserzählung.5 Einige der theoretischen Veränderungen im Geschichtsbegriff und Veränderungen im Stil und den Erzähltechniken der Geschichtsschreibung wurden von Archenholz selbst und von den auf die ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ reagierenden Zeitgenossen jedoch durchaus registriert. Die zeitgenössischen Rezensionen heben fast ausnahmslos die Lebendigkeit bzw. Anschaulichkeit von Archenholz’ Geschichtsdarstellung hervor. Das dramatisch Wirkende überwiegt das Beschreibende: »[S]ie [die Geschichte] ist nämlich auf die würksamste Art dramatisch geworden, indem sie uns alles durch Handlung vereinzelt und vergegenwärtigt, und jene Männer und ihre Charaktere nicht beschreibend, sondern thätig und würkend darstellt.«6 Der Rezensent des ›Teutschen Merkur‹ 5
6
Nach Johannes Kunisch gehört Archenholz’ Geschichtsschreibung wegen ihrer Methodologie noch zu einer alten, überkommenen Geschichtsschreibung: »Seine [Archenholz’] Geschichtsschreibung bewegt sich demnach im Rahmen einer klassizistischen Gegenwartschronistik, die sich an einem von der Antike bis an die Schwelle zum 19. Jahrhundert gültigen Darstellungsmuster orientiert. Insofern steht Archenholz als Historiker am Ende einer abendländischen Tradition, bevor der Neuansatz des Historismus ein höheres Maß an Objektivität durch eine kritische, methodisch verfeinerte Vergangenheitsdistanzierung zu erreichen suchte.« (Johann Wilhelm von Archenholz ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ [1797]. In: GSK, S. 757–790, hier: S. 774). Kunisch übersieht aber das Performative von Archenholz’ Geschichtsschreibung und unterschätzt dessen narrative Leistung. [Anonym]: Rezension zu J. W. v. Archenholz: Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland. Bd. 1/Bd. 2. Berlin 1793. Neue allgemeine deutsche Bibliothek. Anhang 1797–1803. 1797. Anhang 1.–28. Bd. 2. Abt., S. 300–307, hier: S. 303.
264
sieht bereits für die Ausgabe von 1789 Archenholz als »großen Geschichtsmahler« und Künstler, der ein dramatisches Ganzes schafft.7 Trotz der in den höchsten Tönen gelobten Nähe zum Drama sei »Wahrheit […] bey der Geschichte freylich immer das höchste Gesetz, dem sich alle Kunst und Beredsamkeit unterwerfen muß«,8 was Archenholz überzeugend gelänge.9 In seinem 1791 geschriebenen, vierseitigen Vorbericht, der die Ausgabe von 1793 einleitet, reflektiert Archenholz über vier theoretische und methodologische Grundlagen seiner Geschichtsschreibung. Sich von der belehrenden Geschichte von Oberst von Tempelhof10 absetzend, will Archenholz erstens ein Volksbuch schreiben – für alle »gebildeten und halbgebildeten Volks-Klassen« (GSK, S. 11). Zweitens solle seine Geschichtsschreibung darüber hinaus – anders als Tempelhofs – nicht ausschließlich Militär- und Kriegsgeschichte darstellen, sondern auch – für die damalige Zeit innovativ – politische und zivile Geschichtsschreibung. Durch diese Reflexionen bereitet Archenholz seine Inszenierung deutscher Geschichte vor, die über eine sich auf einen bestimmten Krieg beziehende Geschichte hinausgeht. Drittens reflektiert Archenholz über seine Quellengrundlage.11 Der vierte systematisch reflektierte Aspekt des Vorberichts betrifft die Rolle Friedrichs II. im Krieg. Archenholz setzt sich deutlich davon ab, eine reine Lobschrift auf den Preußenkönig zu schreiben, verweist aber auch darauf, dass Friedrichs Taten – trotz zu erwähnender Schattenseiten – für sich selbst sprächen (GSK, S. 13). Dies erweist sich für Archenholz’ Geschichtsschreibung als zentral; er benötigt Friedrich II. als Prinzip der fortschreitenden Geschichtsentwicklung, ein Prinzip, das sich in all seiner Größe im Laufe des Siebenjährigen Krieges entfaltet, wie 7
8 9
10
11
[Anonym]: Rezension zu J. W. v. Archenholz: Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756–1763. Berlin 1788. Bd. 1/Bd. 2. Der Teutsche Merkur 1788 (Anzeigen), S. CVIII–CXII, hier: S. CIX. [Anonym]: Rezension zu Archenholz: ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ 1788. Der Teutsche Merkur, S. CXI. Zum Erfolg des Buches beim breiteren Publikum, siehe Kunisch: Johann Wilhelm von Archenholz, S. 763. Interessanterweise verkennt die neuere, sehr faktisch orientierte Geschichtsforschung das Darstellungspotential von Archenholz’ Text. Heinrich Walle sieht z. B. Archenholz’ Text als »Mischung aus unpedantischer Geschichtsschreibung und persönlichen Erinnerungen in lebendiger und detaillierter Form« (Der Siebenjährige Krieg zwischen Anekdote und Klischee. Historische Mitteilungen. Im Auftrag der Ranke-Gesellschaft 18 (2005), S. 101–133, hier: S. 106). Was diese ›lebendige Form‹ bewirkt, interessiert Walle nicht. G. F. v. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. Bibliotheca Rerum Militarium 29. 6 Bde. 1783–1801. Neudruck der Ausgabe 1783–1801. Osnabrück 1977. Siehe hierzu Abschnitt V.2.
265
der Historiker besonders deutlich werden lässt, wenn er das Ende des Krieges mit den Worten beschreibt: »Der Held, dessen Untergang in den Augen aller Sterblichen unvermeidlich schien, der selbst mitten unter seinen Triumphen an seiner Rettung zweifelte, machte jetzt Friede, ohne von allen seinen Staaten ein Dorf zu verlieren« (GSK, S. 497). Hier zeigt sich das Handlungsprinzip des Textes: Friedrichs Trotzen gegenüber den faktischen Begebenheiten, das letztlich notwendigerweise die Welt verändert und »die große Kultur-Epoche der Deutschen« (GSK, S. 497) einleitet bzw. erst ermöglicht.12 Das Schreiben eines Volksbuches und insbesondere die Erweiterung einer Kriegs- und Schlachtengeschichtsschreibung zu einer politischen und zivilen Geschichte13 ermöglicht es, der Geschichte eine geschichtsphilosophische Konsequenz einzuschreiben. Kriegsgeschichte generiert in Archenholz’ Erzählung die Entwicklung der Deutschen in Kultur und Politik zu höherer Einheit, womit Archenholz Geschichte temporalisiert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheinen ganz im Sinne der Koselleckschen Entwicklung zum Kollektivsingular ›Geschichte‹ in einem historischen Prozess der Geschichte vereint.14 Archenholz’ ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ erschien zuerst im Herbst 1788 auf 290 Seiten im Duodezformat im Historisch-Genealogischen Calender oder Jahrbuch der merkwürdigsten neuen Welt-Begebenheiten für 1789.15 Die im Vergleich mit Archenholz’ überarbeiteter und erweiterter monographischer Fassung von 1793 deutlich kürzere Ausgabe enthält zwölf Illustrationen, Kupferstiche nach Vorlagen von Daniel Chodowiecki, die bereits in dieser ersten Fassung den Schwerpunkt auf die Wirkung des Krieges sowie auf Friedrich II. als historisches Prinzip deutlich machen.16 Die Auswahl dieser ›Monatskupfer‹ be12
13
14
15 16
Die im Folgenden zu zeigende Inszenierung von Friedrich II. als notwendiges Prinzip der Geschichte wird von Ute Rieger in ihrer Archenholz-Biographie völlig verkannt, wenn sie den Text als »eindringliches Beispiel zeitgenössischer Preußen- und FriedrichVerehrung« liest (Johann Wilhelm von Archenholz als ›Zeitbürger‹. Eine historisch-analytische Untersuchung zur Aufklärung in Deutschland. Berlin 1994, S. 89). Treffender fasst es Hans-Werner Engels in einer biographischen Reportage über Archenholz im Titel ›Der Mann, der Friedrich den Großen erfand‹ (in: Die Zeit 35. 24.08.2006, S. 80). Vgl. auch Boris Bovekamp: Die Zeitschrift ›Minerva‹ und ihre Herausgeber Johann Wilhelm von Archenholz (1743–1812) und Friedrich Alexander Bran (1767–1831). Kiel 2009, insb. S. 166–168. Vgl. I.2.1. Zugleich sind bei Archenholz Momente der alten historischen Gelehrsamkeit und Rhetorik zu erkennen, was die besondere Spannung seines Textes zwischen ganzheitlicher und anschaulicher Erzählung ausmacht. Vgl. Kunisch: Johann Wilhelm von Archenholz, S. 757. Vgl. zu Chodowieckis Illustration von Archenholz’ Kriegsgeschichte Hans Jakob Meier: Die Buchillustration des 18. Jahrhunderts in Deutschland und die Auflösung des überlie-
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gründet Archenholz wie folgt: »Zu gleichen Theilen also bilden von den zwölf historischen Kupfern sechs, statt der Schlachten, die Folgen derselben, überhaupt den Wechsel des Kriegesglücks, und andre merkwürdige Episoden ab, und sechs andre stellen den König in den mannigfaltigen Situationen, die der Krieg darbietet, vor.«17 Kriegsszenen selbst würden sich sehr stark ähneln, sodass die Besonderheit dieses denkwürdigen Krieges nicht erkennbar gewesen wäre.18 So werden Kupfer ausgewählt, die nicht den Krieg selbst, sondern dessen Wirkung zeigen. Sowohl die Kupferstiche selbst als auch vor allem ihre Auswahl zeigen etwas Grundlegendes, das Archenholz’ Geschichte, insbesondere die erweiterte Ausgabe von 1793, zu einem Schwellentext auf dem Weg zur modernen Geschichtsschreibung macht. Weniger die einzelnen Kriegsereignisse, vielmehr die Gesamterzählung ist grundlegend für die Darstellung des Siebenjährigen Krieges. Darüber hinaus wird die Figur Friedrichs des Großen benötigt, um der Geschichte ihre erzählerische Einheit zu geben. Friedrich wird hierbei einerseits als Machthaber in Kontrolle des historischen Geschehens dargestellt: Er zeigt Größe, indem er nach der gewonnenen Schlacht bei Roßbach einen verwundeten französischen General besucht; die sächsische Armee ergibt sich ihm; er zeichnet ein tapferes Regiment nach dem Sieg in der Schlacht bei Liegnitz aus. Zwei der Kupfer zeigen Friedrich II. beim Verfassen von Depeschen. Diese Schreib- und Befehlsakte werden im letzten Kupfer nach der gewonnenen Schlacht bei Torgau19 besonders deutlich herausgestellt, wenn Friedrich in Ermangelung anderer, noch nicht von erschöpften Soldaten besetzter Unterkünfte in einer Dorfkirche übernachtet und eine Depesche kurz vor dem Zubettgehen, auf den Stufen des Altars verfasst.20 Dies könnte als Erlangen göttlicher Macht und damit als Friedrichs neue Herrschaft über die nunmehr säkularisierte
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ferten Historienbildes. München 1994, S. 77–87; zur Wirkungsorientiertheit S. 80. Meier liest Chodowieckis Illustrationen als »ersten konsequenten Anspruch eines deutschen Künstlers, sich den Anspruch des illustrierten Geschichtswerkes völlig zu eigen zu machen: wie für Archenholz wurde für Chodowiecki die Erkenntnis der Unwiederholbarkeit des geschichtlichen Ereignisses und die Einzigartigkeit der geschichtlichen Figur zur Grundlage seiner Darstellung« (Ebd., S. 86f.). Johann Wilhelm von Archenholtz: Zur Erläuterung der Kupfer. In: Historisches Taschenbuch für das Jahr 1789. Enthaltend die Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland / von J. W. von Archenholtz. Mit Kupfern und einer illuminierten Landcharte. Berlin 1788, S. 291–375, hier: S. 293. Vgl. Kunisch: Johann Wilhelm von Archenholz, S. 758f. Archenholtz: Zur Erläuterung der Kupfer, S. 292. Siehe zu Archenholz’ Darstellung der Schlacht bei Torgau Abschnitt V.2. Kupfer 12; vgl. Archenholtz: Zur Erläuterung der Kupfer, S. 318f.
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Geschichte gelesen werden. Ein weiteres Kupfer zeigt Friedrichs »wundergleiche Erhaltung« im dichten Kugelhagel in der letztlich verlorenen Schlacht bei Kunersdorf,21 womit das Wundersame als Erklärungshilfe für Friedrichs notwendiges Fortschreiten in der Geschichte herangezogen wird.22 Damit spiegeln die Kupfer die notwendige Zentrierung auf Friedrich ebenso wider wie die Notwendigkeit, durch Erzählen einen Helden zu schaffen,23 der ein geschichtliches Prinzip garantiert.24
2.
Archenholz’ Umgang mit den Quellen
Wie bei Schiller ist auch bei Archenholz der Umgang mit den historischen Quellen Ausdruck einer zunehmend textkritischen Geschichtswissenschaft. Bei Archenholz kommt hinzu, dass es sich um Zeitgeschichtsschreibung handelt. Er betont die Methoden oraler Geschichtsschreibung und sieht seine Aufgabe darin, Nachrichten von Augenzeugen zu sammeln, bevor deren Generation ausstirbt (GSK, S. 12).25 Archenholz – selbst Augenzeuge des Kriegs26 – hebt hervor, dass er nicht als Lobredner Friedrichs auftreten möchte, sondern dass er »die Geschichte des Kriegs überhaupt beschreibe« (GSK, S. 13). Hierfür benötigt er die Urteile erfahrener Krieger, da er im Dezember 1758 mit gerade einmal 15 Jahren noch zu unerfahren war. Im »reifern Alter« könne der Historiker diese Urteile nun überprüfen (GSK, S. 14). Einerseits wird hier deutlich, dass Archenholz einen recht einfachen, historischen Wahrheitsbegriff verfolgt, der 21 22 23
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Kupfer 8; vgl. Archenholtz: Zur Erläuterung der Kupfer, S. 306–309. Vgl. hierzu insbesondere V.4. Zum Begriff des Helden, siehe Jürgen Fohrmann: Der Ruhm des Königs. Über die Herstellung eines Mythos und seine medialen Bedingungen. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den Medien. Hrsg. von Wolfgang Adam/Holger Dainat. Göttingen 2007, S. 379–407, insb. S. 380f. Siehe insbesondere V.5. Die aus der griechischen Geschichtsschreibung – insbesondere von Polybios – stammende Vorstellung, dass Augenzeugen treffender als bloße Geschichtsschreiber darstellen können, ist noch bei Lloyd (Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 1, S. XXI) dominant und bei Archenholz weiterhin erkennbar. In seiner Darstellungsweise hebt Archenholz diese Überreste eines alten Nachahmungsbegriffs dann aber auf. Archenholz diente während des Siebenjährigen Krieges im preußischen Heer. Er trat der Armee Friedrichs im Dezember 1758 im Alter von 15 Jahren bei und war an der Belagerung von Dresden und einigen entscheidenden Schlachten wie denen bei Liegnitz und Torgau im Jahr 1760 beteiligt. 1760 wurde er Offizier; nach dem Krieg schied er aus der Armee aus, wurde zum Hauptmann ernannt und möglicherweise nobilitiert. Zum biographischen Kontext, siehe Rieger: Johann Wilhelm von Archenholz als ›Zeitbürger‹, insb. S. 23f.; vgl. auch Bovekamp: Die Zeitschrift ›Minerva‹, S. 30f.
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keineswegs die theoretische Trennschärfe desjenigen Schillers aufweist.27 Geschichte ist abhängig davon, welchen Gegenstand man wählt; historisches Wissen ist nicht perspektivisch an sich. Diese Auffassung lässt sich zum einen an Archenholz’ Reflexion seiner Augenzeugenschaft im Krieg vorführen, auf die Archenholz im Vorbericht sowie an sechs weiteren Stellen des Textes – immer in Fußnoten – verweist.28 Eine davon ist die erfolglose Belagerung von Dresden durch die Preußische Armee unter Leitung Friedrichs im Juli 1760. Die Preußen werden dabei von den Truppen des österreichischen Feldmarschalls Daun überrascht, ohne dass es zu einer Schlacht kommt. Zu diesem Überraschungsmoment notiert Archenholz kurz: »Der Verfasser redet hier als Augenzeuge« (GSK, S. 305). Wie auch an anderen Stellen unterstreicht der Historiker damit den Wahrheitsgehalt seiner Geschichtsschreibung. Dies geschieht besonders, wenn intensive und kollektive Erfahrungen wiedergegeben werden, wie das Mörderische der Schlacht bei Torgau, in der Archenholz selbst verletzt wurde,29 das Leiden der Soldaten in schlechten Winterquartieren 1759/60 (GSK, S. 267) oder die Gefahr für Friedrich wegen eines geplanten Mordanschlags, den auch das sich in der Nähe befindliche Regiment von Forcade, dem Archenholz angehörte, nicht hätte verhindern können (GSK, S. 421). Archenholz’ historischer Quellenbegriff wird deutlicher, wenn man sich seine Argumentation im kommentierten Quellenverzeichnis zur ›Geschichte des Siebenjährigen Krieges‹ ansieht (GSK, S. 499–513). Der Sammlung ›Beyträge zur Staats- und Kriegsgeschichte‹ gesteht er zu, ein reichhaltiges Magazin zu sein, das parteiisch und fehlerhaft sei. Seine wichtigste historiographische Quelle ist G.F. Tempelhofs damals noch unvollendete ›Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland‹, die im März 1791, dem Zeitpunkt der Abfassung von Archenholz’ Vorrede zur 1793-Ausgabe, bis zum Ende des Feldzugs von 1760 reichte.30 Dem 27
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Siehe zu Schillers Wahrheitsbegriffen IV.3.1. Archenholz hängt damit im Sinne von Chladenius noch einer Augenzeugen-Authentizität nach (vgl. I.2.1, insb. Anm. 38; sowie Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit, S. 184f.). GSK, S. 13f.; S. 177; S. 267; S. 305; S. 351f.; S. 421; S. 501. Friedrich Ruof: Johann Wilhelm von Archenholtz. Ein deutscher Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution und Napoleons (1741 [sic!]–1812). Berlin 1915, S. 7. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Zum biographischen und historischen Kontext von Autor und Schrift, siehe K. Peball: Einführung. In: G. F. v. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland. Bibliotheca Rerum Militarium 29. 6 Bde. 1783–1801. Neudruck der Ausgabe 1783–1801. Bd. 1. Osnabrück 1977, S. V–XLVIII. Tempelhof, geboren 1737, aus bürgerlichen Verhältnissen stammend, trat 1756 als Freiwilliger in die Preußische Armee ein und diente während des gesamten Siebenjährigen Krieges. Er machte eine militärische Karriere vom einfachen Soldaten zum
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Militärhistoriker Tempelhof, der nach Archenholz manchmal etwas zu preußisch-patriotisch ist, gibt Archenholz bezüglich der Reflexionen über militärische Entwürfe, Belagerungen und anderen Unternehmungen pauschal Recht (GSK, S. 499f.): »Ihre Richtigkeit kann nicht bezweifelt werden, da sie von einem großen Mathematiker sind, der gewohnt alles dem Calcul zu unterwerfen, sich keine Verrechnungen bei wichtigen Gegenständen erlaubt, und von einem vornehmen Offizier, dem die Kriegs-Archive nicht verschlossen waren« (GSK, S. 500). Einerseits braucht Archenholz diese positive Einschätzung, da sein stoffliches Wissen in vielen Fällen vornehmlich von Tempelhof stammt. Andererseits zeigt sich hier die Spannung zwischen vormoderner und moderner Geschichtsschreibung. Archenholz stimmt dabei zumindest für militärische Überlegungen der Adäquatheit des Kalkülbegriffs zu. Krieg erscheint kalkulierbar, wie es bei Tempelhof noch vertreten wird.31 Archenholz’ Narrativierung und Dramatisierung der Geschichte heben dieses Kalkulierbare dann auf einer abstrakteren Ebene auf, wie im Weiteren noch zu sehen sein wird. Zugleich deutet Archenholz hier trotz seiner starken Orientierung am Augenzeugenbericht die Bedeutung der Archive für die moderne Geschichtsschreibung durch den kritischen Kommentar seines Quellenverzeichnisses zumindest an. Am deutlichsten wird Archenholz’ Quellenbegriff bei seiner Diskussion des Werks ›Campagnes de Fréderic II. Roi de
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Generalleutnant (1802) und nahm u. a. an den Schlachten von Leuthen, Hochkirch, Kunersdorf und Torgau sowie an der Belagerung von Dresden teil (Peball: Einführung, S. XI–XIII). Theil 1 (1783) enthält Tempelhofs Übersetzung der Darstellung des englischen Generalmajors Henry Lloyd (1766). Lloyd diente sowohl zeitweilig der österreichischen wie der preußischen Armee und galt als militärische Autorität auf den Gebieten des operativen und strategischen Denkens (Peball: Einführung, S. XIV–XVI). Ab Theil 2 wird jedes Jahr ein Feldzug ausschließlich von Tempelhof selbst dargestellt. Die Theile 2 (1783), 3 (1787) und zumindest für die 1793-Ausgabe 4 (1789) waren Archenholz bekannt und wurden von ihm ausgiebig rezipiert (vgl. GSK, S. 499f.). Den militärisch-strategischen Schwerpunkt seiner Schrift übernimmt Tempelhof von Lloyd, setzt sich aber mithilfe seiner mathematischen Begabung kritisch mit dessen Werk auseinander (Peball: Einführung, S. XVII). »Bei Tempelhoff erkennen wir dieses Ringen um das militärtechnische Vokabular darin, daß er bei den Darstellungen einzelner taktischer oder operativer Bewegungen algebraische oder geometrische Berechnungen derselben vorführt oder diese Vorgänge auch noch in geometrischen Zeichnungen ausdrückt« (Ebd., S. XXIII). Dieser Ansatz lässt sich als »taktische Arithmetik« fassen (Ebd., S. XXIV); er berücksichtigt also die »Methoden der mathematischen Berechnung der Dynamik und der Modellierung von Gefechtshandlungen« (Ebd., S. XXV). Zum rationalistischen Denken des absoluten Fürstenstaates mit besonderer Hervorhebung Preußens unter Friedrich dem Großen, siehe Barbara Stolberg-Rilinger: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats. Berlin 1986, S. 62–100, u. a. in Bezug auf das geometrische Methodenideal. Siehe auch Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002.
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Prusse de 1756 à 1762‹ von M. de Warnery. Archenholz kritisiert den Text, der »weit mehr Falschheiten als Wahrheiten« enthalte und »voll des größten Eigendünkels, und ungereimter Behauptungen« sei (GSK, S. 504–507, hier S. 504). Hierbei verwendet Archenholz mehrere grundlegende Argumente: An erster Stelle wird die fehlende Gegenwärtigkeit bei Kriegsszenen – Warnery war nicht anwesend – genannt, an zweiter Stelle die Einschränkung des Urteilsvermögens durch Gefühle, hier Leidenschaften und Ehrgeiz. In anderen Kommentaren diskutiert Archenholz vornehmlich die Wahrscheinlichkeit einzelner Aussagen. Da nach seinem Wahrheitsverständnis Friedrich II. selbst der ideale Geschichtsschreiber, weil der beste und scharfsinnigste Augenzeuge, gewesen sein musste, zeigt Archenholz sich von dessen »mit sichtbarer Nachlässigkeit« (GSA, S. 511) erstellten Darstellung32 enttäuscht, in der viele Details, Charakteristiken des Gegners, Kabinettsitzungen etc. ausgelassen werden. Archenholz’ Quellenbegriff ist also anders als der Schillers größtenteils noch vormodern, insbesondere weil er die Autorität bzw. Zuverlässigkeit des Augenzeugens so deutlich hervorhebt und damit von einem relativ einfachen historischen Wahrheitsbegriff ausgeht, bei dem der Augenzeuge, weil er präsent ist, einen wahren Bericht des Geschehens zu liefern vermag.33 Das historische Ereignis erscheint aber zugleich als etwas Singuläres, Unwiederholbares.34 Archenholz’ Schreibweise ist also anders als sein Quellenbegriff in vielen Punkten aus damaliger Sicht modern, wie zuerst in seinem Umgang mit den Quellentexten am Beispiel der Schlacht bei Torgau gezeigt werden soll. Am 3. November 1760 kommt es bei Torgau zwischen den Armeen Friedrichs II. und des österreichischen Feldmarschalls Daun zu einer der zentralen Schlachten des Siebenjährigen Krieges.35 Ein Vergleich der 32
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Die Werke Friedrichs des Großen. Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Erster und Zweiter Teil. Bd. 3/Bd. 4. 1913. Übersetzt von Friedrich v. Oppeln-Bronikowski und Thassilo von Scheffer. In: Die Werke Friedrichs des Großen, in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Gustav Berthold Volz. 10 Bde. Berlin 1912–1914, zuerst auf Französisch publiziert als L’histoire de la guerre de sept ans. Bd. 3/Bd. 4. In: Ouvres posthumes de Fréderic, roi de Prusse. Berlin 1788. Vgl. auch IV.2 und IV.5 im Schiller-Kapitel sowie Jaeger: Schiller und die Quellen, insb. S. 220–223. Archenholz gibt zudem keine Fußnoten für seine Quellen, sondern nur das bereits genannte kommentierte Quellenverzeichnis am Ende seines Textes. Vgl. auch Meier: Die Buchillustration, S. 80; S. 86–88. Für historiographische Überblicksdarstellungen zum Siebenjährigen Krieg in der neueren Forschung, siehe u. a. Christopher Duffy: The Military Life of Frederick the Great. New York 1986; zur Schlacht bei Torgau, S. 211–218. Sehr Friedrich-kritisch ist aus rein militärgeschichtlicher (taktisch-strategischer) Sicht Dennis E. Showalter: The Wars of Frederick the Great. New York 1996. Bei Showalter wird die Schlacht bei Torgau zu einer Schlacht der Irrtümer und Fehler (Ebd., S. 286–296), in der Friedrich einen Pyrrhus-Sieg
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Schlachtdarstellungen bei Archenholz, Friedrich II., Tempelhof und Joseph Milbiller36 ist besonders geeignet zu zeigen, auf welche Weise Archenholz seine Quellen (Friedrich, Tempelhof) nutzt und wie sich seine Geschichtsschreibung von der zu der damaligen Zeit noch vorherrschenden pragmatischen Geschichtsschreibung (Milbiller) absetzt.37 Bei Friedrich wird ausführlich erläutert, warum der Preußenkönig die Schlacht mit Daun suchen musste,38 da er bei bereits zufrierenden Flüssen in der Gefahr stand, von allen Zulieferungen zwischen Russen und Österreichern abgeschnitten zu werden und ernsthafte Versorgungsprobleme zu bekommen: »Kurz, hätte der König jetzt nicht geeignete Maßnahmen getroffen, um den Feind zu vertreiben und sich dann Raum zur Aufstellung und Verpflegung der Truppen zu schaffen, so war das größte Elend vorauszusehen.«39 Dann beschreibt Friedrich genau, was am Tag vor der Schlacht passierte, und erläutert die am 2. November getroffenen Dispositionen. Friedrichs Ziel lautete: Griffen die Maßnahmen dieser beiden Korps [in die Friedrich seine Armee unterteilt hatte, S.J.] richtig ineinander, so musste die österreichische Armee notwendig im Zentrum durchbrochen werden. Dann war es nicht schwer, die Trümmer gegen die Elbe aufzurollen; denn das sanft abfallende Gelände gab den Preußen leichtes Spiel, und damit wäre der Sieg vollkommen gewesen.40
Tempelhof hält sich in seiner Darstellung stark an Friedrich, zitiert die Disposition und beschreibt im Detail die Aufgaben der verschiedenen Kolonnen.41 Bei Archenholz – dessen Torgau-Informationen deutlich an Friedrich und Tempelhof angelehnt sind – heißt es hingegen: »Sein [Friedrichs] Schlachtplan war von der erhabensten Art. Die Österreichische Armee sollte nicht bloß besiegt, sondern ganz vernichtet werden. Von dem Rückzug über die Elbe abgeschnitten, sollte den Überwundenen und Flüchtlingen bloß die Wahl bleiben: durchs Schwert zu fallen, sich in den Fluß zu stürzen, oder die Waffen zu strecken« (GSK, S. 349).
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erzielt (Ebd., S. 296). Zur Biographie von Friedrich dem Großen, siehe insbesondere Johannes Kunisch: Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2004; Wilhelm Bringmann: Friedrich der Große. Ein Porträt. München 2006; sowie David Fraser: Frederick the Great. King of Prussia. London 2000. Joseph Milbiller: Geschichte Deutschlands im achtzehnten Jahrhunderte. Ein Nachtrag zu Risbek’s Geschichte der Deutschen. Zürich 1795. Zu den Quellen von Lloyd (vorwiegend mündliche Quellen verwendend) und Tempelhof (verstärkt und systematischer schriftliche Quellen heranziehend, insbesondere Journale, also die Kriegstagebücher), siehe Peball: Einführung, S. XXXI–XXXVII. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 67f. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 68. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 69. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 297f.
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Die Disposition wird dramatisch verkürzt, also nicht in allen Details – wie bei Tempelhof – beschrieben. Nach der sachlichen Beschreibung des Plans folgt die hypothetische Konsequenz: »[…] so war die Österreichische Haupt-Armee ohne Rettung verloren, Theresiens Heeresmacht für den ganzen Krieg vernichtet, und der Name Torgau wäre so wie Cannä bei Dichtern und Geschichtsschreibern unsterblich geworden« (GSK, S. 350). Friedrich fährt nun mit den Kriegshandlungen am 3. November, dem Vormarsch seiner Armee sowie einigen Zwischengefechten fort. In der Erzählung Friedrich II. ist es eine Schlacht mit Hindernissen: Die Österreicher verpassten die Chance, eine Stellung zu besetzen, die die Schlacht verhindert hätte. Der König vernahm den Donner von Kanonen und hielt ihn für den Angriff des zweiten Korps unter General Ziethen. Die Kavallerie war aber noch nicht eingetroffen, und Friedrich unternahm – nach persönlicher Inspektion der Stellung – einen waghalsigen Angriff durch ein Gehölz und eine Schlucht, bei dem er viele Soldaten verlor. Durch die missratene Abstimmung zwischen den beiden Heeresteilen, die der König Ziethen als Fehler und Nicht-Befolgen der Disposition vorhielt,42 wurden die Preußen zweimal zurückgeschlagen, bevor sie durch die Kavallerie Verstärkung erhielten. Die Österreicher verpassten eine weitere Chance, die Schlacht durch einen bestimmten Angriff zu gewinnen. Die Bayreuther Dragoner konnten die Süptitzer Anhöhen besetzen, die dann durch Ziethen verteidigt wurden. Friedrich schließt seine Beschreibung mit den Worten: »Damit endete die Schlacht.«43 Das Handlungsschema von Friedrichs Erzählung ist von der Notwendigkeit der Schlacht aufgrund der katastrophalen Versorgungslage seiner Armee geprägt. Daraus folgt ein Schlachtplan, der, wenn genau befolgt, die gesamte gegnerische Armee hätte vernichten können. Die Ausführung des Plans scheiterte an verschiedenen Widrigkeiten, die in der Regel durch Fehler von Friedrichs Offizieren entstehen: Ziethen hielt sich mit einem unwichtigen Gefecht auf; der Prinz von Holstein kam »in seinem unerschütterlichen Phlegma«44 erst nach Beginn der Schlacht an. Diese Fehler gaben den Österreichern mehrfach die Möglichkeit, die Schlacht zu gewinnen, die sie jedoch aufgrund eigener Fehleinschätzungen nicht nutzten. Letztlich griff dann doch der Plan des Königs: Die entscheidende Stellung auf den Süptitzer Höhen wurde erobert und die Schlacht gewonnen. 42 43 44
Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 72. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 73. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 71.
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Der Kriegsverlauf erscheint bei Friedrich im Sinne des oben diskutierten Kalkülbegriffs als militärisch planbar und machbar. Im Vorhinein überschaut der Feldherr die Handlungsmöglichkeiten. Ereignisse verändern sich aufgrund fehlerhafter menschlicher Handlungen. Im Rückblick ist der nun zum Historiker gewordene Feldherr in der Lage, Ursache und Wirkung von historischen Ereignissen zu bestimmen. Dabei verbleibt Friedrich aber in der distanzierten Perspektive des Historikers, der einerseits das Geschehen überschaut, andererseits aber ausschließlich wie in einer Chronik die historischen Ereignisse selbst darstellt, ohne diese in ein historisches Gesamtgeschehen einzuordnen. Friedrichs Text entfaltet also keine erzählerische Einheit, ebenso wenig ist er dramatisiert. Er ist stattdessen ein erzählender Bericht, der durch eine fest an der historischen Wahrheit orientierte rückblickende Analyse legitimiert wird. Auf der einen Seite steht Friedrich II. mit seiner Geschichtsschreibung auf der Schwelle zur modernen Geschichtsschreibung. Geschichte steht für sich selbst; sie ist kein Hilfsdiskurs für ein übergeordnetes System wie die Religion. Der Einfluss Voltaires auf Friedrichs Geschichtsauffassung ist deutlich zu erkennen.45 Auf der anderen Seite bleibt Friedrichs Geschichte aber partikular. Anders ausgedrückt handelt es sich immer noch mehr um Geschichten als um einen singulären geschichtlichen Prozess. Das Aufklärerische besteht in Friedrichs Glauben an Strategie und damit an die Vernunft des Menschen, der die Geschichte bzw. einzelne Ereignisse beeinflussen kann. Letztlich ersetzt diese menschliche Vernunft aber nur religiöse Bezugssysteme; eine prozessuale Geschichte, die aufgrund von Zufällen und Merkwürdigkeiten fortschreitet, ist bei Friedrich nicht zu erkennen.46 Archenholz’ Schlachtdarstellung von Torgau funktioniert ganz anders, obwohl sie faktisch stark an Friedrich – mit Hilfe der Tempelhof-Darstellung – angelegt ist. Statt einen Plan mit Hindernissen, der vom Feldherrn kontrolliert und vom Historiker durchschaut wird, umzusetzen, entfaltet sich hier Geschichte. Diese ist zwar insofern planbar, dass Friedrichs Größe und die preußische Tapferkeit eine letztlich fortschreitende positive Entwicklung für die Preußen garantiert, doch zugleich behält der preußische Sieg etwas Unverfügbares, etwas Einzigartiges im historischen Prozess. In nuce fasst Archenholz dies zusammen, wenn er seine Darstellung des 3. November 1760 einleitet: 45 46
Zu Voltaires Einfluss auf Friedrich, siehe insbesondere Fraser: Frederick the Great, S. 45–48. Siehe ›Die Werke Friedrichs des Großen‹ (Bd. 4, S. 179–184). Friedrich findet aus der Retrospektive rationale Erklärungsmuster für den gesamten Kriegsverlauf.
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Der 3te November war dieser in den Jahrbüchern der Kriege höchst denkwürdige Tag, wo Menschenblut wie Wasser floß, wo der gänzliche Untergang beider so oft mit Lorbeern prangenden Heere auf dem Spiel stand, wo die Menschen bald den Gesetzen der Natur mit Ungestüm trotzten, bald sich ihren Vorschriften in den fürchterlichsten Stunden ruhig überließen, wo beide Teile die höchste Tapferkeit bewiesen und alles aufboten, was die Kriegskunst zu leisten vermochte, wo der alles entscheidende Sieg immer schwankend war und ungewiß blieb, bis er endlich mitten in der nächtlichen Finsternis von den Preussen errungen wurde. (GSK, S. 349)
Archenholz feiert die Größe der Schlacht fast hymnisch und der ›immer schwankende Sieg‹ charakterisiert die Entwicklung der Schlacht von Torgau, die der Historiker selbst im Weiteren in Szene setzen wird.47 Das Hinund Herwiegen ist ein Grundprinzip von Archenholz’ Darstellung des gesamten Krieges. Was Archenholz in diesem Absatz nicht explizit reflektiert, ist der ›notwendige‹ Sieg der Preußen. Dieser wird mehr als etwas Schicksalhaftes gefasst (GSK, S. 351). Erst die Gesamterzählung wird zeigen, dass Archenholz die Preußen und ihre Tapferkeit als Vehikel eines prozessualen Geschichtsmodells nutzt und inszeniert, das den Fortschritt der Menschheit in ihrer Kultur- und Nationenentwicklung garantiert und widerspiegelt.48 Durch die Fehlkommunikation zwischen Friedrich und Ziethen griffen Friedrichs Grenadiere aus einer äußerst riskanten Stellung an, wodurch die meisten der preußischen Grenadiere unter der Kanonade der Österreicher getötet wurden. Archenholz schreibt hierzu: Daun empfing die Preußen mit einem Kanonen-Feuer, das noch nie auf dem Element der Erde seit Erfindung des Pulvers erlebt worden war. Vier hundert auf Batterien gepflanzte Kanonen standen hier wie auf einen Punkt gerichtet, und ihre Feuerschlünde sprüheten unaufhörlich Tod und Verderben. Es war ein Bild der Hölle, die sich zu öffnen schien, ihren Raub zu empfangen. (GSK, S. 351) 47
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Für eine überzeugende medientheoretische Argumentation, wonach Schlachten medial nachbereitet werden mussten und so die Darstellung der Siege perspektivenabhängig und medial beeinflussbar war, siehe Bernhard Jahn: Die Medialität des Krieges. Zum Problem der Darstellbarkeit von Schlachten am Beispiel der Schlacht bei Lobositz (1.10.1756) im Siebenjährigen Krieg. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den Medien. Hrsg. von Wolfgang Adam/Holger Dainat. Göttingen 2007, S. 88–110. Vgl. V.6 für diese übergreifende Funktion von Archenholz’ Text, womit dieser an den inszenierten Geschichtsprozess, der bei Herder, Forster und Schiller erkennbar ist, anschließt. Anders als Schiller, der im ›Abfall der Vereinigten Niederlande‹ letztlich eine Geschichtsepoche implizit ›pars pro toto‹ für die teleologische Menschheitsentwicklung als ein Ganzes sprechen lässt, feiert Archenholz den zivilisatorischen Fortschritt explizit. Er schließt an das Eurozentrische bei Forster und die Inszenierung von Europa bei Herder an, ohne deren selbstreflexive Kritik zu besitzen.
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Bei Tempelhof heißt es hingegen: Die Grenadiere formirten sich nicht 800 Schritt von dem Feinde und also unter dem Kartätschenfeuer, gingen durch den Verhau, als die feindliche Reserveartillerie kaum in Sicherheit gebracht war, und machten den Angrif gegen die Mitte des feindlichen linken Flügels mit einer Unerschrockenheit, die wenig Beispiele hat. Sie wurden aber mit einem so wüthenden Artilleriefeuer aus dem von der ganzen Fronte der feindlichen Armee aufgestellten Geschütz empfangen, daß die Brigade von Stutterheim, welche in der ersten Linie stand, in kurzer Zeit größtentheils todt und verwundet auf die Erde hingestreckt wurde. Die Brigade von Syburg rückte hierauf an, hatte aber eben das Schicksal, so daß dies Grenadierkorps völlig geschlagen wurde, und sich durch den Verhau wieder in den Wald zurück ziehen mußte.49
Tempelhof bleibt sehr beschreibend; trotz einzelner Attribute wie ›unglaublich‹ oder ›wütend‹ bestimmt er den Verlauf der Schlacht genau, nennt die Namen der Regimenter und beschreibt in quantitativen Ausdrücken die Konsequenzen der Kanonade. Die metaphorische Sprache von Archenholz hat hingegen einen ganz anderen Effekt: Zu Beginn scheint es, als wäre der Leser bei der Kanonade ganz in der Nähe der Gefahr. Er überschaut aber das Geschehen ebenso wenig wie die einzelnen Soldaten: »Vier hundert auf Batterien gepflanzte Kanonen standen hier wie auf einen Punkt gerichtet« (GSA, S. 351). Einerseits geht ein Wissen, das zumindest die Preußen nur im Nachhinein haben konnten, die genaue Anzahl der österreichischen Kanonen, in Archenholz’ Erzählung mit ein. Andererseits entsteht eine besondere Perspektive: Die Kanonen vereinigen sich in einem Fluchtpunkt. Im Weiteren wird dieser optische Effekt aus Sicht der Preußen verstärkt. In einer Anmerkung zum Satz »Es war ein Bild der Hölle, die sich zu öffnen schien, ihren Raub zu empfangen« (GSA, S. 351) verweist Archenholz auf seine eigene Innenperspektive als Augenzeuge. Archenholz schafft höchst anschauliche Szenen aus der kollektiven Perspektive der preußischen Soldaten. Diese rücken vor und sehen »keine siegversprechende[n] Szenen, sondern eine Walstatt voller Toten und scheußlich verstümmelter Körper, die sich keuchend in ihrem Blut wälzten« (GSK, S. 352f.). Die historiographische Distanz ist einer Nahperspektive gewichen. Im nächsten Satz verlagert sich die Perspektive leicht und mischt die Emotionen der Soldaten als Kollektiv – der Feind, der unerschüttert hinter seinen zahlreichen Mordmaschinen steht – mit einer Analyse aus Feldherrn-Perspektive, in der gewusst wird, dass der von Ziethen geführte zweite Teil des Heeres nicht nahe ist. Archenholz’ 49
Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 303f.
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von Friedrich geführte Preußen stehen vor einer Niederlage, die Preußen vernichten könnte. Archenholz verlässt sich stark auf Tempelhofs Arbeit mit den Quellen, wie eine Analyse vieler historischer Details bei Archenholz zeigen kann. Zum Beispiel wird Friedrichs Bemerkung zum Bruder des Grafen Anhalts, als er vom Tod des Grafen hörte, fast wörtlich aus Tempelhofs Text übernommen.50 Die Informationen und Details der Schlacht bei Torgau stammen alle aus Tempelhofs deutlich ausführlicherer Darstellung; der Militärkenner findet also bei Archenholz wenig neue Fakten, aber eine vollkommen umgestaltete Erzählung. Während Friedrichs Preußen – in der Geschichtsschreibung des Königs – vor einigen Hindernissen stehen, die mit etwas unfreiwilliger Hilfe vom Feind überwunden werden, benötigt Archenholz dieses Moment einer beinahe vollkommenen Katastrophe – das Untergangsszenario, um darauf das Prinzip der Preußischen Siege aufzubauen, das entweder das geniale strategische Können des Preußenkönigs oder die Tapferkeit der Preußen ist. Ersteres wird hier zwar angedeutet, in Friedrichs Schlachtplan »von der erhabensten Art« (GSK, S. 349), doch entscheidend ist die bei Archenholz inszenierte Tapferkeit der preußischen Armee.51 Trotz der Widrigkeiten, der schlechteren Position, die Archenholz als Kampf Mensch gegen Maschine zur Schau stellt, probieren es die Preußen durch ihren Mut und ihre Disziplin immer wieder: »Dennoch geschahe ein neuer Angriff von der Infanterie mit dem Mut und der Ordnung, wodurch sich die Preussen im Schlachtfelde so sehr auszeichnen« (GSK, S. 353). Es entsteht ein ständiges Wechselspiel;52 die Armeen gehen voran und werden zurückgedrängt: »Die Österreicher, durch die Niederlage der [preußischen, S.J.] Grenadiere angetrieben, waren vorgedrungen; nun50 51
52
GSK, S. 352; Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 304. Für eine militärische Beschreibung der preußischen Armee durch Archenholz, siehe Johann Wilhelm von Archenholz: Gemälde der Preußischen Armee vor und in dem siebenjährigen Kriege. In: Archenholz, Historische Schriften. 2 Bde. Bd. 1. Tübingen 1803, S. 1–54. Archenholz schließt seine militärische Analyse mit den Worten: »So war die innere Verfassung des Preußischen Heers, musterhaft in fast allen ihren Theilen, von keinem neuen Volke erreicht, vielleicht von keinem alten übertroffen, als der siebenjährige Krieg anging« (Ebd., S. 54). Obwohl Tempelhof ähnlich wie Archenholz immer wieder die Tapferkeit und andere Werte der Preußen preist, erscheint dieses nur als Teil einer objektivierten, militärstrategischen Beschreibung, nicht einer präsentischen Inszenierung. Es gibt Schwierigkeiten beim Aufmarsch, und diese werden durch »unglaubliche Standhaftigkeit« (Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 303) überwunden. Eine pro-preußische Beschreibung, die letztlich dank Friedrichs Plänen zum Sieg führen muss, herrscht auch bei Tempelhof vor.
277
mehr aber mußten sie wieder zurück«. Dabei unterliegen die Preußen der modernen Kriegstechnik, die ihr Grauen entfaltet: »Die Kartätschen wüteten schröcklich unter den Preussen. Ganze Rotten wurden weggerafft.« Der Technik wird der Mut von allen preußischen Soldaten, allerdings mit Betonung auf ihren Führern, also gerade den jungen Offizieren, entgegengestellt: »Man rückte immer zusammen, um die Lücken auszufüllen. Alte Offiziere stürzten zu Boden; junge traten an ihre Stelle, flößten den Veteranen durch ihr Beispiel Muth ein.« Dies führt am Ende des Absatzes zum scheinbaren Sieg der Preußen: »und so ging es immer vorwärts; Anhöhen wurden erstiegen, und Batterien erobert« (GSK, S. 353). Bei Tempelhof heißt es hingegen, dass drei Regimenter »den Feind mit der größten Lebhaftigkeit« angriffen, ihn »über [den] Haufen [warfen]«, und bis auf die Süptitzer Höhen vorstießen.53 Die Ausführlichkeit von Tempelhofs Beschreibung, der immer die Namen der involvierten Truppenteile und Offiziere nennt, ebenso wie er durch Buchstabenkodes auf Positionen auf den von ihm verwendeten Schlachtenkarten verweist, nimmt ihr jegliches Ereignishafte. Das Geschehen wird Schritt für Schritt berichtet und dabei im unmittelbaren Schlachtzusammenhang beurteilt. Was sich bei Archenholz als Drama von im Dickicht des Waldes und Gestrüpp zurückbleibenden Kanonen, von verstümmelten Pferden, von »weggerafften Rotten« von Soldaten liest, erscheint bei Tempelhof als geometrische Bewegung von Spielsteinen. Nach einer Reflexion über die nicht vorhandene Kavallerie und Ziethens zu schwache Kräfte berichtet Tempelhof über den Wechsel zugunsten der Österreicher: »Diese [die preußischen Bataillone, S.J.] behaupteten anfänglich ihren Posten mit vielem Muthe, und schlugen den Feind zurück, weil aber ihr linker Flügel nicht gedeckt war, so hieben die österreichischen Regimenter […] in die preußische Infanterie ein, nöthigten sie, die bereits erstiegenen Höhen zu verlassen und sich nach dem Walde zurück zu ziehn.«54 Dann kommt die preußische Kavallerie der Infanterie endlich zu Hilfe und bedroht in Archenholz’ Darstellung sogar – insbesondere dank der Strategie und Tapferkeit eines bestimmten preußischen Obersten, Dalwig – das Regiment des österreichischen Kaisers selbst. Doch eine scheinbar letzte Wende zugunsten der Österreicher findet statt: »Allein nun stürzte von allen Seiten die Österreichische Reiterei herbei, und die Preussen mußten weichen« (GSK, S. 354). Bei Tempelhof wird diese Wende wie folgt beschrieben: »die [die voran schreitenden 53 54
Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 304. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 305.
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Preußen, S.J.] sich aber wegen Annäherung der österreichischen Kavallerie […] wieder zurück ziehen mußten.«55 Der begründende Relativsatz Tempelhofs wird bei Archenholz durch zwei parataktisch verknüpfte Hauptsätze im Aktiv ersetzt. Friedrich – in Archenholz’ Darstellung – probiert es selbst noch einmal, doch scheitert: »Die Nacht brach ein; die Kräfte waren erschöpft, der König selbst verwundet, und die Schlacht schien für ihn völlig verloren« (GSK, S. 354). Der Leser, der entweder durch seine Geschichtskenntnis oder durch den oben zitierten einführenden Absatz weiß, dass die Preußen die Schlacht gewinnen, muss irritiert die Nähe der vollkommenen Niederlage der Preußen spüren, die er in Archenholz’ Inszenierung eines ständigen Wechsels des Schlachtglücks miterlebt hat. Der folgende Absatz wird mit der allerletzten Wende eingeleitet: »Im Buch des Schicksals aber war nicht Theresiens, sondern Friedrichs Triumph geschrieben« (GSK, S. 354). Ziethens Armee setzt sich letztlich durch; die strategische Klugheit des Generals Saldern – nicht Friedrichs vorheriger Plan – gewinnt den Preußen die Süptitzer Höhen, die sie »standhaft« (GSA, S. 355) verteidigen und damit die Schlacht gewinnen. In Archenholz’ Darstellung führt also anders als bei Friedrich oder Tempelhof nicht vornehmlich die Planbarkeit des Krieges zum Sieg der Preußen, sondern die preußische Tapferkeit und strategische Überlegenheit gewinnt die Schlacht. Dies inszeniert Archenholz wie ein szenisches Drama, die Kräfte ›wogen hin und her‹, bis sich die preußische Kraft allen Widrigkeiten zum Trotz durchsetzt. Die der Schlacht folgenden Szenen der Dunkelheit und der kalten Winternacht, in der die Truppen sich gegenseitig töten, die jeweils anderen gefangen nehmen, oder sich zusammen am Lagerfeuer erwärmen, um zu sehen, wer die Schlacht gewonnen hat, sind in Friedrichs Geschichtsdarstellung nur ein kurzer Nachgedanke.56 Auch bei Tempelhof werden sie nur knapp erläutert, um in die folgenden Ereignisse einzuführen.57 Bei Archenholz werden sie hingegen ausführlich beschrieben (GSK, S. 357–360). Die Tapferkeit und das Leiden letztlich aller Soldaten müssen auch aus deren Perspektive erzählt werden. Archenholz beginnt hier, über eine Geschichte, die ausschließlich aus der Sicht militärischer bzw. politischer Führer erzählt wird, hinauszugehen. Diesen Abschnitt abschließend sei auf eine kurz nach Archenholz’ Geschichte entstandene Darstellung des Siebenjährigen Krieges und der 55 56 57
Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 306. Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 73f. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 310f.
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Schlacht bei Torgau geworfen. Joseph Milbiller, bis 1794 Professor der schönen Wissenschaften in Passau, stellt 1795 in seiner Ergänzung von Johann Kaspar Riesbecks ›Geschichte der Deutschen‹ den Verlauf des Siebenjährigen Krieges dar. Hierbei bezieht er sich stark auf Darstellungen von Archenholz (in der Ausgabe von 1789) und Friedrich II., auf die er regelmäßig in Anmerkungen verweist. Zum Verlauf des ersten Teiles der Schlacht bei Torgau schreibt Milbiller: »Mit einer Tapferkeit, die wenige ähnliche Beispiele hat, stürmten die Preußen das Lager. Ungeachtet des unglaublich fürchterlichen Kartätschenfeuers, das ganze Reihen Soldaten zu Boden streckte, erstiegen sie doch Anhöhen auf Anhöhen, und eroberten eine Batterie nach der andern.«58 Der Inhalt ist identisch mit Archenholz’ oben zitierter Passage. Jedoch ist Archenholz’ Satzbau parataktisch, während Milbiller hypotaktisch Ergebnisse berichtet. Das Szenische und Präsentische lässt bei Archenholz den Leser das Auf und Ab der Schlacht miterleben; die Wahrnehmung von Geschichte vollzieht sich performativ.59 Milbiller stellt die Tapferkeit der Preußen fest; sie wird nicht inszeniert. Darüber hinaus fehlt ihm das archenholzsche Erzählgerüst. Es gibt nicht die regelmäßigen Einschübe, die den gesamten Geschichtsprozess reflektieren. Milbiller konzentriert sich auf die Ereignisebene, sodass keine geschichtsphilosophische Dimension entsteht und die Einheit der Erzählung sich nicht vollends entfalten kann. Insofern gehört Milbiller noch in erheblichem Maße zur pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung.60
3.
Performativität und Referentialität
Wie Schillers Geschichtsschreibung, so besitzt auch Archenholz’ Text eine performative Qualität. Es werden nicht einfach geschichtliche Ereignisse berichtet oder erzählt, sondern sie finden gleichsam in der Geschichtsschreibung – vor den Augen der Leser – statt. Wie Schiller setzt Archenholz dabei auf Sprachereignisse, insbesondere Reden, auf der Er58 59
60
Milbiller: Geschichte Deutschlands, S. 233. Anders als bei Forster oder bei Schiller z. B. in der Schlacht vor Antwerpen (vgl. IV.7) wird die Wahrnehmung von historischen Ereignissen bei Archenholz kaum selbst-reflexiv im Text thematisiert. Vgl. V.4. zum Erzählganzen von Archenholz’ Text. Auch Milbillers Darstellung zehn Jahre später – zu dem Zeitpunkt war er Professor in Landshut – in seiner Fortsetzung von Michael Ignaz Schmidt: Neuere Geschichte der Deutschen. Fortgesetzt von Joseph Milbiller. Bd. 14. Kaiser Franz I. Vom Jahr 1745–1765. Ulm/Wien 1805 (zur Schlacht bei Torgau siehe S. 206–208), ist stärker berichtend und vornehmlich historische Ereignisse in ihrer faktualen Bedeutung aus der Retrospektive analysierend.
280
eignisebene der Geschichte. Der Prozess der Geschichte wird in der Darstellung dieser Ereignisakte inszeniert, womit dem Leser die Bewegung des historischen Prozesses nahegebracht wird.61 Das plastischste Beispiel für diese Performativität in Archenholz’ Geschichtsschreibung ist die bereits oben im Prolog und kurz im Einleitungskapitel62 angesprochene Schlacht bei Leuthen am 5. Dezember 1757. Am vermeintlichen Ende des Feldzuges von 1757 befindet sich Friedrich in einer katastrophalen Lage. Die Preußen scheinen Schlesien verloren zu haben. Wie jeden Jahresabschluss eines Feldzugs – mit der Ausnahme von 176163 – erklärt Archenholz auch diesen mit zahlreichen Superlativen zur beinahe aussichtslosen Situation für den preußischen König: »Nie, in allen Preußischen Feldzügen, hatte Österreichs Glück auf solcher Höhe gestanden« (GSK, S. 127), bevor eine dramatische Wende erfolgt.64 Die klare Überlegenheit der Österreicher, die Siege in den Schlachten bei Kollin und Breslau und die Eroberung Breslaus scheinen sogar schon das Ende des Krieges zugunsten der Österreicher nahe zu legen, »als sich die ganze Szene auf einmal zum Erstaunen von ganz Europa änderte« (GSK, S. 127).65 Damit weiß auch der in Bezug auf die historischen Fakten unkundige Leser, dass sich noch auf diesem Feldzug eine Wende zugunsten Friedrichs vollziehen wird. Die Österreicher sind sich ihrer überlegenen Situation sicher. Sie erlassen bereits Verordnungen zur Regierung des eroberten Schlesiens und 61
62 63 64
65
Hier kommen also die im Teilkapitel I.3.1 entwickelten Konzepte einer referentiellen, narrativen und performativen Aufgabe bzw. Funktion von Geschichtsschreibung zusammen. Das Performative zeigt sich sowohl auf der historischen Ereignisebene, als auch auf der Ebene der historischen Darstellung. Siehe I.3.2. Vgl. V.4. Archenholz dramatisiert hier eine Annahme, die als historisches Urteil auch heute noch gültig ist. Die Siege von Roßbach und Leuthen stabilisierten Friedrichs Situation in Sachsen, in seinen eigenen Stammländern sowie in Schlesien, wodurch der preußische König zumindest einigermaßen gesichert in die Winterquartiere gehen konnte. Siehe hierzu in der neueren Geschichtsforschung z. B. Guntram Schulze-Wegener: Leuthen 1757 – Genesis einer operativen Doktrin. Historische Mitteilungen. Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft 18 (2005), S. 6–30, hier: S. 21. Für eine minutiöse, rein faktische Darstellung der Schlacht bei Leuthen, siehe beispielsweise Christopher Duffy: Prussia’s Glory. Rossbach and Leuthen 1757. Chicago 2003, S. 124–175. Zur zunehmend mythischen Ausdeutung der Schlacht als schicksalhafter Wendepunkt der preußischen Geschichte, siehe Bernhard R. Kroener: »Nun danket alle Gott«. Der Choral von Leuthen und Friedrich der Große als protestantischer Held. In: »Gott mit uns«. Natur, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Gert Krumeich/Hartmut Lehmann. Göttingen 2000, S. 105–134, S. 121. Die rhetorische Wendung, Europa oder die Welt zum erstaunten Publikum von Friedrichs Taten zu erklären, setzt Archenholz vielfach ein (z. B. GSK, S. 184, S. 259). Damit bereitet er den Leser darauf vor, sich selbst als Zuschauer unglaublicher Bewegungen zu sehen, die letztlich die Geschichte fortschreiten lassen.
281
verspotten die relativ kleine Armee des heranrückenden Friedrich als »Berliner Wachparade« (GSK, S. 129). Die zunehmende Kälte scheint die Armeen zu zwingen, in ihre Winterquartiere zu gehen und nur noch sichernde Maßnahmen vorzunehmen. Der Preußenkönig ignoriert die faktischen Begebenheiten seiner schwierigen Situation und hält am 3. Dezember 1757 im Lager von Parchwitz eine Rede an seine Generalität und Stabsoffiziere.66 Archenholz spricht von einer »kurze[n], aber sehr nachdrückliche[n] Rede« (GSK, S. 129).67 Er stellte ihnen seine unglückliche Lage vor, erinnerte sie an die Tapferkeit ihrer Vorfahren, an das Blut der gefallenen Krieger ihres Volks, das sie rächen müßten, und an den Ruhm des Preußischen Namens; dabei äußerte er sein festes Vertrauen auf ihren Mut, ihren Diensteifer, und ihre Vaterlandsliebe, da er den Feind jetzt angreifen, und ihm seine erhaltene [sic!] Vorteile wieder entreißen wollte. Durch diese feierliche Rede flammte er den Geist seiner Krieger bis zum Enthusiasmus an; einigen stürzten die Tränen aus den Augen; alle wurden gerührt. […] Diese Stimmung des Geistes verbreitete sich bald durch die ganze Preußische Armee (GSK, S. 129).
Die mythische Überlieferung sieht die Bedeutung der Parchwitzer Rede vornehmlich darin, dass höchster Gehorsam die größte Ehre schafft, was zum Bild preußischer Soldatentugenden beiträgt.68 Dieser Zusammenhang von Gehorsam und Ehre wird zwar auch bei Archenholz reflektiert: »Die vornehmsten Generale antworteten im Namen des heroischen Haufens und versprachen dem König mit kurzen, aber viel bedeutenden Wor66
67
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Für eine vergleichende Analyse der verschiedenen Zeugnisse dieser Rede, siehe Dieter Radtke: Ansprache Friedrich des Großen an seine Generale und Stabsoffiziere vor der Schlacht bei Leuthen. Was hat Friedrich wirklich gesagt. Zeitschrift für Heereskunde 69,1 (2005), S. 9–17; sowie Reinhold Koser: Vor und nach der Schlacht bei Leuthen. Die Parchwitzer Rede und der Abend im Lissaer Schloß. Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 1 (1888), S. 605–618. Beiden Historikern kommt es dabei ausschließlich darauf an, die wahrscheinlichste bzw. wahrhaftigste Version der historischen Wirklichkeit zu rekonstruieren. Auf Fragen historiographischer Darstellung wird nicht eingegangen bzw. gerade bei Koser wird sie als etwas von der historischen Wahrheit Ablenkendes kritisiert. Friedrichs eigene Darstellung ist äußerst schwammig. Er spricht nur von einer allgemeinen Rede an die Soldaten, um durch diese und andere Maßnahmen, ihr Vertrauen und ihren Mut wieder aufzubauen (Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 3, S. 105). Bernhard R. Kroener: »Nun danket alle Gott« … »bis zur letzten Patrone«. Schlachtenmythen als Bestandteil einer instrumentalisierten kollektiven Erinnerungskultur am Beispiel von Leuthen, Sedan und Stalingrad. In: Mythen in der Geschichte. Hrsg. von Helmut Altrichter/Klaus Herbers/Helmut Neuhaus. Freiburg i.Br. 2004, S. 397–418, hier: S. 403. Allgemein zur Erinnerungsgeschichte bzw. Wirkung Friedrichs in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, siehe die Beiträge in ›Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte‹ (Hrsg. von Brunhilde Wehinger. Berlin 2005).
282
ten, zu siegen oder zu sterben« (GSK, S. 129), doch dieses ehrenvolle Versprechen, die absolute Bindung der Soldaten an den König, bleibt untergeordnet.69 Vielmehr ist die Rührung und Erregung des Enthusiasmus der Offiziere – stellvertretend für ihre Soldaten – das eigentliche Thema von Archenholz’ Darstellung.70 Anders als Oraniens Reden bei Schiller zitiert Archenholz nicht, sondern berichtet über Friedrichs Rede.71 Dennoch wird der Effekt der Rede und die Rührung von Friedrichs Offizieren nicht nur beschrieben, sondern in Szene gesetzt. Die triadische Struktur der Rede wird in ihrer Wirkung exakt gespiegelt. Vorfahren, Friedrichs Vertrauen in seine Armee und der Ruhm des preußischen Namens, sowie Mut, Diensteifer und Vaterlandsliebe spiegeln sich in der oben zitierten, dreifachen Reaktion von Friedrichs Kriegern – Enthusiasmus, Tränen, Rührung – wider. Der Inhalt der Rede wird durch die historiographische Darstellung gedoppelt. Wiederum überwiegt eine parataktische Syntax. Das Inszenatorische, das die Überzeugungskraft von Friedrichs Ansprache im historischen Text 69
70
71
Für Friedrichs rhetorische Techniken bei der Erziehung junger Offiziersanwärter im Siebenjährigen Krieg, siehe auch Sara Eigen Figals Analyse von Friedrich ›Moralischem Katechismus zur Erziehung junger Adeliger‹ (›Catéchisme de morale à l’usage de la jeune noblesse‹): When Brothers are Enemies. Frederick the Great’s Catechism for War. Eighteenth-Century Studies 43 (2009), S. 21–36, hier insb. S. 28f. Zum Begriff der Rührung in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, siehe Abschnitt IV.3.3, Anm. 133, im Schiller-Kapitel. Zum Begriff des Enthusiasmus im 18. Jahrhundert, siehe Thomas Abbt, der 1761 während des Siebenjährigen Krieges den Aufsatz ›Vom Tode für das Vaterland‹ schreibt (in: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg. Hrsg. von Johannes Kunisch. Bibliothek der Geschichte und Politik 9. Frankfurt a.M. 1996, S. 589–650). Enthusiasmus kann durch die Liebe zum Vaterland zur erhabenen Weisheit – statt zur törichten Schwärmerei – werden (Ebd., S. 644–650). Der Monarch – also hier Friedrich II. – kann durch sein Vorbild die Soldaten anfeuern (Ebd., S. 649). Vgl. zum Enthusiasmus-Begriff bei Abbt auch Klaus Bohnen: Von den Anfängen des Nationalsinns. Zur literarischen Patriotismus-Debatte im Umfeld des Siebenjährigen Krieges. In: Dichter und ihre Nation. Hrsg. von Helmut Scheuer. Frankfurt a.M. 1995, S. 121–137, insb. S. 134. Zum notwendigen Zusammenhang von Enthusiasmus und Patriotismus, siehe auch Bovekamp: Die Zeitschrift ›Minerva‹, S. 188–207. Im 18. Jahrhundert mit der Auflösung der Regelpoetik entsteht gerade in Kunst und Philosophie ein neuer Enthusiasmus (B. Kositzke: Enthusiasmus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 1185–1197, hier Sp. 1192). Bei Abbt und Archenholz wird deutlich, wie diese ästhetische Aufwertung auch für den Diskurs der Geschichte stattfindet. Vom »historischen Enthusiasmus« spricht Johann Christian Briegleb, wenn er mit Beispielen aus der rhetorischen Geschichtsschreibung der Antike abwägt, inwiefern Geschichtsschreibung durch eine lebendige Darstellung den Leser zum Teilnehmer an der Geschichte machen kann (Betrachtungen über den historischen Enthusiasmus. Altenburg 1771, S. 9). Gerade für außerordentliche Begebenheiten – ähnlich zu Abbts erhabener Wahrheit – hält Briegleb eine enthusiastische historische Erzählweise für angebracht (Ebd., S. 23f.). Zum Kontext der fiktiven Rede bei Schiller, siehe IV.6.
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noch einmal zur Sprache bringt, wird besonders deutlich, wenn man sie mit anderen Darstellungen vergleicht. Milbillers Text erscheint als berichtender Abklatsch von Archenholz’ Darstellung: »Ehe es zur Schlacht kam, versammelte Friedrich seine Officiers noch um sich her, erinnerte sie an seine dermalige unglückliche Lage, an ihre bisher erfochtenen Siege, an die Tapferkeit und den Ruhm ihrer Vorfahren, und entließ sie, da er sie durch seine Rede angefeuert sah, von sich.«72 Bei Milbiller wird die Rede ausschließlich zusammengefasst, ohne rhetorisiert zu werden. Die Wirkung auf die Offiziere wird als Faktum dargestellt, nicht durch den sprachlichen Effekt des historiographischen Textes wiedergegeben oder intensiviert. Die Referentielle der Sprache überwiegt das Performative. Die Darstellung von Tempelhof, die dieser als Anmerkung zur Schlacht bei Leuthen zu seiner Übersetzung von Henry Lloyds englischer Geschichtsschreibung über die ersten beiden Feldzüge beifügt, ist insofern interessanter, da die Quellenbasis und Darstellungslänge der von Archenholz sehr ähnlich erscheint. Bei Tempelhof erklärt Friedrich, »daß er aber bei allen diesen unglücklichen Begebenheiten ein so festes Vertrauen auf ihren Muth, ihre Standhaftigkeit, ihren Eifer und Liebe zum Vaterland setzte, daß sie bei der ersten Gelegenheit durch ein vorzüglich tapferes Betragen dem Feinde alle seine bisher erhaltenen Vortheile entreissen würden.«73 Statt Archenholz’ Rede im Indikativ, in der eine triadische Struktur in Satzbau und Inhalt verwendet wird, gibt Tempelhof die Rede in indirekter Rede als Aufzählung von verschiedenen preußischen Qualitäten wieder. Dann berichtet er über das Vertrauen, das der König in seine Truppen habe, woraus Tempelhof in einer rhetorischen Frage die Schlussfolgerung zieht, dass jeder durch diese Rede des Königs gerührt sein musste. Was bei Archenholz inszeniert wird – »alle waren gerührt« – als wäre man dabei, ist bei Tempelhof eine rhetorische Schlussfolgerung, kein Textereignis. Durch die Überlagerung der Rede als performativer Gegenstand der Historiographie mit einem Enthusiasmus ausdrückenden historiographischen Schreibstil wird der Texteffekt von der Glaubwürdigkeit und Notwendigkeit der historischen Wende, die eine völlig neue, in nüchterner Betrachtung eigentlich unmögliche Lage zugunsten Friedrichs bedeutet, intensiviert. Das Selbstbewusstsein der Soldaten ist zurückgekehrt. Im nächsten Augenblick leitet der Historiker einen Perspektivenwechsel ein. Die Österreicher haben ihre vorteilhafte Stellung verlassen, was die Preu72 73
Milbiller: Geschichte Deutschlands, S. 191. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 1, S. 323.
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ßen dazu bringt, ihren Feind schon für so gut wie besiegt zu halten. Zu diesem Zeitpunkt kann auch der historisch unwissende Leser keinen Zweifel am notwendigen Erfolg der Preußen haben; er ist rhetorisch völlig überzeugt worden. Der nächste Absatz handelt von den Zuständen im österreichischen Lager. Diejenigen, die offensiv den Krieg entscheiden wollen, setzen sich durch: »Nichts nötigte zu einer Schlacht. Der Stolz der andern Generale [außer Daun und Serbelloni, S.J.] aber überstimmte diese Klugheit. Zu ihnen gesellten sich die Schmeichler, die dem Prinzen von Lothringen vorstellten, daß es nur von ihm abhinge, durch eine Schlacht deren glücklicher Erfolg gar nicht bezweifelt werden könnte, den Krieg auf einmal zu endigen« (GSK, S. 130). Die darauf folgende Schlacht bei Leuthen wird von Archenholz als »größte« des 18. Jahrhunderts gepriesen (GSK, S. 131).74 Der Kampf – nach Archenholz zwischen 33000 Preußen und 90000 Kaiserlichen75 – wird antithetisch als ein Duell zwischen David und Goliath eingeführt: Die letztern voll Vertrauen auf ihre gewaltige Macht, auf ihr kolossalisches Bündnis, und auf den Besitz des schon halb eroberten Schlesiens; die erstern aber voll Zuversicht auf ihre taktischen Künste, und auf ihren großen Anführer. Bei der einen Armee, durch die Magazine in Breslau, und die ungehinderten Zufuhren aus Böhmen unterstützt, herrschte Überfluß, bei der andern war Mangel an vielen Bedürfnissen. Die eine hatte lange Ruhe genossen, die andre hingegen war von angestrengten Märschen in der rauhen Witterung abgemattet. Die Österreicher waren an diesem denkwürdigen Tage nur mit gewöhnlichem Kriegsmut ausgerüstet, die Preussen bis zur Begeisterung gestimmt. (GSK, S. 131)
Die erste Antithese deutet ein rhetorisches Grundmuster von Archenholz’ Text an: Der österreichischen mathematischen Größe – die gewaltige Macht von 90000 Soldaten – steht eine qualitative Größe Friedrichs – die taktischen Künste der preußischen Anführer – gegenüber.76 Die nächsten beiden Antithesen sind rein negativ und betonen die – nach 74
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Hier zeigt sich die zumindest leicht ungenaue Argumentation von Kroener (Schlachtenmythen, S. 402), der die zeitgenössische Darstellung von Leuthen, gerade in Archenholz’ Geschichtsschreibung, unterschätzt, wenn er argumentiert, dass die Zeitgenossen an Leuthen nichts Besonderes zu entdecken vermochten, und für das 18. Jahrhundert ausschließlich Roßbach zum Symbol preußischer Überlegenheit wurde (siehe zur Bedeutung der Schlacht von Roßbach Anm. 93 unten in diesem Kapitel). Die Zahl an Österreichern wird in der heutigen Geschichtsschreibung auf etwa 65000 geschätzt (Schulze-Wegener: Leuthen 1757, S. 17). Lloyd und Tempelhof schätzen die Verhältnisse auf höchstens 28400 Soldaten der preußischen Armee und mindestens 80000 Soldaten der österreichischen Armee ein (Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 1, S. 310; S. 322). Siehe insbesondere V.5.
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ökonomisch-praktischen Maßstäben – sichtbare Schwäche der preußischen Armee. Die letzte Antithese ist positiv und entscheidend: Die Begeisterung der Preußen – notwendig aus Friedrichs Rede entstanden – übertrifft die der Österreicher. Diese antithetische Struktur, im Sinne eines Duells, das sich zugunsten des scheinbar Schwächeren entscheidet, setzt sich in der Schlachtdarstellung fort. Das Terrain ist ideal für die Preußen, doch die Österreicher nehmen die »kleine Armee der Preussen« nicht Ernst. Diesem Gefühl der quantitativen Überlegenheit wird nun das »große Genie Friedrichs« (GSK, S. 131) entgegengesetzt, der die an die Griechen angelegte ›schiefe Schlachtordnung‹ wählt, die als sehr dynamisch gilt, da die meisten Truppen des zahlenmäßig überlegenen Gegners nicht am Angriffspunkt in die Schlacht eingreifen können. Hinzu kommt nach Vorbild der makedonischen Phalanx ein optisches Täuschungsmanöver, das scheinbare Unordnung des preußischen Heeres vorgab, sich aber blitzartig in Ordnung verwandeln konnte. Die Österreicher glauben, die Preußen wollten abziehen, während gerade ihr linker Flügel angegriffen wird. Das Dualistische der Schlacht setzt sich im Weiteren zwischen dem rechten und linken Flügel fort, da Friedrich droht, beide anzugreifen. Der österreichische Feldherr, Prinz Carl von Lothringen, entscheidet sich zur Unterstützung des falschen Flügels, und die Österreicher verlieren nach einigen Verteidigungsbewegungen die Schlacht. Dabei ist die Antithese auch innerhalb des österreichischen Heeres wirksam. Die wenigen strategisch einsichtigen Generäle können sich nicht durchsetzen. Die falsche Entscheidung führt in Archenholz’ Text wie ein Wogenspiel zum Weichen der Österreicher77 und der Historiker hält fest: »Bei Kollin war es nicht Kriegskunst noch Tapferkeit, sondern die eisenspeienden Maschinen auf unzugangbaren 77
Im Vergleich zu Tempelhof wird deutlich, dass dieser zwar auch alle diese Wechsel erzählt, aber seine Erzählung so sehr mit beschreibenden Detailhandlungen und einzelnen Ereignissen überhäuft ist, dass von einem Hin- und Herwiegen und einem inszenierten Geschichtsprozess nicht gesprochen werden kann (Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 1, 323–332). Der Leser verliert sich in Details und benötigt am Ende die Hilfe durch das zusammenfassend-bewertende Fazit des Historikers (Ebd., S. 331f.), um zu verstehen, warum Friedrich mit der schiefen Schlachtordnung die Schlacht gewinnen konnte. Bei Tempelhof, noch mehr in Lloyds von Tempelhof übersetzter Darstellung ist der Verlauf der Schlacht strategischen Fähigkeiten unterworfen. Statt der Inszenierung eines qualitativ-notwendigen Moments sind Kriegshandlungen vollständig analysierbar, nach Wahrheitskriterien als richtig oder falsch einstufbar, und damit kalkulierbar. Am deutlichsten wird dies in Lloyds Ausspruch: »Es ist unmöglich, daß eine stärkere Armee von einer schwächern überflügelt werden kann, wenn sonst keine Fehler dabei vorgehen« (Ebd., S. 319). Ein ähnliches Kalkül drückt auch Friedrichs Darstellung aus; der Sieg ist die Konsequenz einer glänzenden, richtig umgesetzten Disposition (Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 3, S. 107–109).
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Höhen gestellt, die großtenteils das Schicksal des Tages bestimmten; bei Leuthen aber entschied Taktik und Tapferkeit allein den Sieg« (GSK, S. 134). Mit anderen Worten gibt es Schlachten, bei denen die materiellen Bedingungen über den Ausgang entscheiden, doch bei Leuthen entschied das Genie des großen Taktikers Friedrich und die Tapferkeit der preußischen Offiziere und Soldaten. Auch wenn Archenholz sich an die bekannten Fakten der Geschichte des Siebenjährigen Krieges hält, ist es seine erzählerische Leistung, diese preußische Tapferkeit und Friedrichs Genie zu inszenieren. Der Leser bekommt den Eindruck, dass diese Werte notwendigerweise die preußische Niederlage verhindern und letztlich den Sieg ermöglichen – trotz der vermeintlichen Aussichtslosigkeit für ein vergleichsweise kleines Königreich mit wenig Unterstützung, im Kampf gegen vielfach überlegene Gegner zu bestehen. Dies kann nun einerseits nur als Erzählung gelingen, die sich eines einheitlichen Stoffes bedient – die geniale Größe Friedrichs versus die quantitative Größe seiner Feinde – und damit die Einheit der Erzählung garantiert. Andererseits muss diese Erzählung gerade das machen, was nicht als modern erscheint, um diese moderne erzählerische Einheit herzustellen: Sie muss anschaulich werden und den Leser in ihren rhetorischen Bann ziehen.
4.
Erzählerische Einheit
Archenholz gelingt es, das Erzähldefizit der pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung zu überwinden, indem er die referentielle Aufgabe, die narrative Aufgabe und die performative Aufgabe78 zusammenbringt. Bezüglich seiner Geschichtserzählung wird deutlich, dass er sich nicht mehr auf einzelne Geschichten konzentriert. Das simplifizierende Ursache-Wirkungs-Modell ist einem komplexeren Erzählmodell gewichen, in dem der Prozess der Geschichte im Vordergrund steht. Wie dies narratologisch gelingt, soll im Folgenden an zwei Beispielen untersucht werden, die jeweils zeigen, wie Archenholz Ursache-Wirkungs-Verhältnisse in einen Erzählzusammenhang einfügt: zuerst an der Darstellung der jeweiligen Jahresenden bzw. Jahreswenden und dann am genauen Erzählverlauf eines bestimmten Kriegsjahres – 1757. Die Jahresenden bzw. das Ende der jeweiligen Feldzüge sind offensichtlich in erheblichem Ausmaß durch den historischen Stoff vorbe78
Vgl. I.3.1.
287
stimmt. Dennoch zeigt ein genauer Blick auf deren Struktur, wie Archenholz in seiner Geschichtsschreibung Handlungsveränderungen motiviert. Das Jahr 1756 endet gut für die Preußen. Friedrich hat sich in Sachsen etabliert und damit sein Territorium erheblich erweitert (GSK, S. 40). Das Jahr 1757, dessen Verlauf unten im Einzelnen analysiert wird, endet nach katastrophalen Wenden für die Preußen durch die Schlacht bei Leuthen ebenso positiv. Friedrich behauptet seine Länder und vertreibt die Österreicher fast vollständig aus Schlesien (GSK, S. 139f.). Die gescheiterte – und von Archenholz als größter Fehler Friedrichs im Kriegsverlauf eingestufte (GSK, S. 148f.) – Belagerung von Olmütz leitet neue Rückschläge für den preußischen König ein, die nach der Niederlage bei Hochkirch am 14. Oktober 1758 seine völlige Niederlage erwarten lassen. Archenholz verwendet in diesen Momenten der sich anbahnenden endgültigen Niederlage in der Regel die Perspektive des europäischen oder Weltpublikums, also eines Beobachterkollektivs: »Ganz Europa erwartete die Früchte des Hochkircher Sieges, wovon sich noch keine Spur zeigte« (GSK, S. 184). Stattdessen verlagern sich ohne große Schlachten die Ereignisse durch kleinere Fehler von Friedrichs Gegnern sowie aufgrund scheiternder Belagerungen zugunsten der Preußen: »So hatte sich das Kriegsglück auf seiner [Friedrichs, S.J.] Kugel gedreht, daß in der Mitte des Dezembers für die Preußen und ihre Bundsgenossen kein Feind mehr in Schlesien, in Sachsen, in Brandenburg und in Pommern, so wenig wie in Hessen und im größten Teil von Westphalen zu finden war« (GSK, S. 217). Im Vergleich zu Archenholz fehlt Tempelhofs Darstellung vom Ende des Jahres 1758 jede Bewertung der nach den aktuellen Ereignissen stattgefundenen Wende zugunsten der Preußen. Das Kapitel »Folgen der Schlacht bei Hochkirch« besteht nur aus Detailoperationen und endet mit dem Satz: »Der Feind zog sich hierauf über die Oppa nach Mähren; und beide Theile gingen in die Winterquartiere«,79 nachdem zuvor bereits die Russen in die Winterquartiere nach Polen zurückgegangen waren. Ebenso beschreibend verfährt Tempelhof in den beiden letzten Kapiteln zum Feldzug 1758 mit den sich zurückziehenden Schweden sowie den Franzosen und Reichstruppen. Eine übergreifende Bewertung wie das von Archenholz bewertete Kriegsglück gibt es bei Tempelhof nicht. Tempelhofs Darstellung ist nach Kampfpartien und -regionen geordnet und der Historiker verfährt strikt chronologisch. Doch Archenholz fügt Tempelhofs beschreibender Geschichtsschreibung nicht nur das erzählerische Moment hinzu, das auch übergreifende 79
Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 2, S. 370.
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Perspektiven auf den Kriegs- und Geschichtsverlaufs erlaubt. Dann könnten die fehlenden Konsequenzen der Schlacht von Hochkirch und Friedrichs ausgezeichnete Position am Ende des Jahres 1758 tatsächlich ausschließlich als Zufall oder Glück eingestuft werden. Vielmehr sind diese positiven Wenden aus katastrophalen oder zumindest sehr schlechten Situationen Teil eines übergreifenden Erzählschemas zugunsten der Preußen, das den notwendigen Sieg der Preußen als Fluchtpunkt hat. Damit werden zufällige Ereignisse notwendig und Archenholz kann zugleich Glück, Zufälle und ›Wunder‹ berücksichtigen, sodass die historischen Ereignisse trotz aller geschichtsphilosophischer Notwendigkeit korrekt dargestellt werden.80 Das Jahr 1759 war höchst erfolglos für den preußischen König. Er versucht seine Stammländer zu verteidigen, entblößt deshalb Sachsen und Schlesien, verliert die Schlacht bei Kunersdorf, die Preußen verlieren Dresden und dennoch endet Archenholz’ Darstellung des sechsten Buches durch zwei gewonnene Gefechte wiederum positiv, diesmal in den Augen der Welt: »So wurden, zum Erstaunen der Welt, die verbündeten, siegreichen großen Heere der Feinde gezwungen, verteidigungsweise zu verfahren, sie wurden jetzt von der weit geringern, geschlagenen und getrennten Preussischen Armee in allen ihren Bewegungen gefesselt, und alle ihre Entwürfe wurden vereitelt« (GSK, S. 259). Hierbei ist ein erzählerischer Trick von Archenholz auffällig: Das sechste Buch scheint den Feldzug von 1759 zu beenden, sodass die im siebten Buch dargestellten Ereignisse nur als Nachtrag erscheinen. Der Feldzug war nur noch auf Sachsen eingeschränkt (GSK, S. 260). Damit wird das Ereignis vom 21. November 1759, der Kapitulation des gesamten Korps von General Fink, der bei Maxen von seinen Gegnern eingeschlossen wurde, in der Erzählstruktur heruntergespielt, obwohl es historisch die Fortsetzung einer 80
Zur Bedeutung des Zufalls in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, siehe Kosellecks Aufsatz ›Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung‹, in dem Archenholz’ ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ als paradigmatisches Beispiel fungiert. Koselleck sieht Archenholz’ Kunst als Historiker gerade darin, »inkommensurable Größen nebeneinander bestehen zu lassen und gleichwohl eine geschichtlich hinreichend befriedigende Antwort zu geben« (S. 167). Zudem streicht er heraus, dass der Zufall oft von der Perspektive des Betrachters abhängig sei (Ebd., S. 162–164), wobei festzuhalten ist, dass überzeugende Beispiele bzw. Reflexionen dafür in Archenholz’ Geschichtsschreibung sehr rar sind. Anders als bei Schiller (siehe IV.4) gibt es rhetorische Floskeln, in denen der Zufall an außerhistorische Entitäten rückgebunden wird. Im Gesamttext von Archenholz wird der historische Zufall aber wie bei Schiller zum Bestandteil des notwendigen historischen Prozesses, was nur durch erzählende und inszenierende Darstellung gelingen kann. Zum begriffsgeschichtlichen Zusammenhang von Zufalls Konzepten der Neuzeit, siehe auch Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit.
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Kette von Niederlagen und negativen Ereignissen für Friedrich war. Der so genannte ›Finkenfang‹ gehört nämlich bereits zum nächsten Darstellungszyklus, in dem sich Friedrichs Situation immer weiter verschlimmert, bis die Siege bei Liegnitz und dann bei Torgau die Lage zum Ende des Jahres 1760 wieder völlig umdrehen. Auch der sechste Erzählzyklus kann nicht exakt mit dem Jahresende 1761 abschließen. Friedrichs Situation wird auf diesem Feldzug durch seine zahlenmäßige Unterlegenheit sowie durch die – nach dem Tode George II. – geringere Unterstützung durch die Engländer zunehmend problematisch. Dies gipfelt in den Eroberungen der Festungen von Schweidnitz durch die Österreicher und dann im Dezember 1761 von Colberg durch die Russen. Archenholz beschreibt – aus einer Innenperspektive Friedrichs dessen völlig verzweifelte Lage in Anbetracht erschöpfter Kräfte (GSK, S. 433).81 Hier weicht Archenholz das einzige Mal von seinem Erzählschema ab, da er das Jahr 1762 noch im elften Buch beginnen lässt, doch nur um die katastrophale Situation Friedrichs zu subsumieren und zugleich das durch die Kriege zwischen Spanien, England und Portugal noch gesteigerte »Kriegsfeuer in Europa« (GSK, S. 442) hervorzuheben. Das zwölfte und letzte Buch setzt also antizyklisch ein: »Friedrich, ohne Beistand und fast ohne Hoffnung, sah jetzt standhaft seinem Untergang entgegen. Er schien nun ganz unvermeidlich« (GSK, S. 442). Die direkt darauf folgende Wende ist ein historisches Ereignis: der Tod der russischen Zarin Elisabeth II. Peter III., ihr Nachfolger, bewundert Friedrich und macht eine radikale Kehrtwende, um plötzlich die Preußen anstatt der Österreicher zu unterstützen. Archenholz spricht über diese Wende als »die größte Wohltat Fortunens« (GSK, S. 443); der Tod der Zarin kommt »aus der Urne des Schicksals« (GSK, S. 444). Damit greift Archenholz auf ein altes, überkommenes Erklärungsmodell des Glücks bzw. Zufalls zurück, wonach Fortuna den Gang von Geschichten (Historien) erklärt. Fortuna ist dabei theologisch vermittelt, womit ihr Inkommensurables in Gottes verborgenem Rat aufgehoben wird.82 Archenholz’ Inszenierung von Motivation bzw. Notwendigkeit ist für diese rein ereignisbezogene Wende also nicht notwendig.83 Der rhetorische Rückgriff auf 81
82 83
Archenholz übernimmt hier Friedrichs eigene Einschätzung der »verzweifelt[en] Lage« des preußischen Königs (Die Werke Friedrichs des Großen. Bd. 4, S. 51). Aus dieser Darstellung folgt in interner Fokalisierung die Darstellung der möglichen Gedanken Friedrichs. Koselleck: Der Zufall, S. 159f. Vgl. auch Frick: Providenz und Kontingenz. Zum Wahrscheinlichkeitskalkül des Todes von Herrschern Mitte des 18. Jahrhunderts, siehe Koselleck: Der Zufall, S. 171: Zwar war der Tod »durch keine rationale Planung zu
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das Fortuna-Erklärungsmuster ist konsequent, weil er vornehmlich bedeutet, dass an dieser einen Stelle die inszenierte Tapferkeit und Klugheit der Preußen nicht greifen konnte. Von hieran entfalten sich die letzten Bewegungen des Krieges, vornehmlich mit für den historischen Handlungsverlauf nicht mehr entscheidenden Rückschlägen wie Peters Sturz im Juli 1762, über verschiedene Waffenstillstände und Friedensabkommen bis zum Frieden von Hubertusburg zwischen Preußen, Österreich und Sachsen am 15. Februar 1763. Der siebte Zyklus endet in Archenholz’ Darstellung von Friedrichs Triumph (GSK, S. 497). An den Enden der sieben Jahreszyklen stehen in Archenholz’ Erzählung (mit den dargestellten Abweichungen, insbesondere im sechsten Jahr) sechs bzw. sieben84 Resümees über die ausgezeichnete Situation der Preußen.85 Allen Erzählzyklen ist ein sich zunehmend aufbauendes Bedrohungsszenario für die Preußen zu Eigen, das jedes Mal – mit Ausnahme des sechsten Zyklus – durch preußische Tapferkeit fast schlagartig in ein oder zwei Ereignissen zum Guten aus Sicht der Preußen gewendet wird. Archenholz weicht dabei nicht wirklich von den historischen Begebenheiten ab, sorgt aber durch die Erzählstruktur für einen notwendig erscheinenden Geschichtsverlauf. Diese Notwendigkeit ergibt sich also nicht aus den historischen Fakten, sondern aus der Erzählstruktur und Inszenierung von Archenholz. Das zweite gewählte Beispiel, das illustriert, wie Archenholz den historischen Stoff in Erzählung umsetzt, ist die Analyse eines bestimmten Kriegsjahres. Hierfür bietet sich das Jahr 1757 an, das zweite Kriegsjahr, das ebenso den Aufmarsch aller Kriegsparteien beinhaltet wie die erste militärische Niederlage Friedrichs in der Schlacht bei Kollin sowie zwei seiner größten Siege von der Schlacht bei Roßbach und in der bereits analysierten Schlacht bei Leuthen. Hier zeigt sich besonders das Schema ›größtes Unglück – Glück‹, für das die Geschichte des Siebenjährigen Krieges aus zweierlei Gründen den idealen historischen Stoff bietet: Zum einen werden Friedrich und Preußen – wie schon mehrfach gesehen – scheinbar als hoffnungslos unterlegen dargestellt, wodurch ständig ver-
84 85
beeinflussen (es sei denn durch Gift oder Dolch) […], auch wenn seine möglichen Folgen immer wieder berechnet und geplant wurden.« Wenn man den Tod Elisabeth II. und dessen direkte Konsequenzen als Ende des Jahres 1761 liest. Dies entspricht nicht der Bewertung der heutigen Forschung; siehe z. B. die sachliche Darstellung bei Bringmann, der das Ende des Jahres 1760 trotz des Sieges bei Torgau als »Tiefpunkt« für den König von Preußen bezeichnet (Friedrich der Große, S. 335). Archenholz’ narrative Bearbeitung der Jahreszyklen führt also zu einer deutlich veränderten Geschichtsdarstellung.
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zweifelte Situationen entstehen, in denen das Überleben Preußens am seidenen Faden hängt. Zum anderen ist der Siebenjährige Krieg, insbesondere in den ersten Jahren von ständigen Wendepunkten der Kriegserfolge geprägt, sodass es sich die Vermeidung des größten Unglücks leicht inszenieren lässt, um dennoch wenig später wieder von einer ähnlich katastrophalen Situation zu sprechen. Archenholz eröffnet das zweite Buch und die Darstellung des Feldzuges von 1757 doppeldeutig, indem er sowohl das Motiv der von der quantitativen Stärke weit unterlegenen Preußen als auch das Weltumfassende des Krieges zur Sprache bringt: »Die Zurüstungen aller im Kriege wider Preußen verbundenen Mächte zum künftigen Feldzuge waren außerordentlich. Franzosen und Schweden, Deutsche aus allen Provinzen Germaniens, Engländer und Bergschotten, Ungarn und Siebenbürger, Meiländer, Wallonen, Croaten, Russen, Cosaken und Calmucken setzten sich in Bewegung« (GSK, S. 40). Dass Archenholz im zweiten Satz alle Kriegsparteien aufzählt, also auch Engländer und deutsche Provinzen, die Friedrich in bestimmten Phasen des Krieges unterstützt haben, zeigt den rhetorischen Trick, durch den die Überlegenheit der Gegner des Preußenkönigs weiter intensiviert wird. Dieser Größe steht Friedrichs strategische Planung – die sich in den gefüllten Schatzkammern und Depots sowie neuen Rekrutierungen zeigt – sowie seine kulturelle Bildung und »philosophische Denkungsart« entgegen (GSK, S. 41). Sowohl strategisches Talent als auch Kultur sind qualitative Werte, die letztlich in Archenholz’ Inszenierung des Geschichtsprozesses die entscheidende Begründung für Friedrichs Sieg bzw. Überleben im Siebenjährigen Krieg liefern. Archenholz stilisiert einen ›totalen Krieg‹ gegen Preußen.86 Eine vernunftgeleitete Analyse kann nur zu einem Schluss führen: Der König von Preußen muss sich unterwerfen, sein Königreich aufgeben und dieses aufteilen lassen: »Dieser Entwurf, von allen Seiten durch Kraft und Erbitterung unterstützt, schien bei dem ungleichen Kampf mit sehr eingeschränkter Macht zu seiner vollständigsten Ausführung nicht einmal des Glückes zu bedürfen, das zwar die Vollendung durch Zufälle beschleunigen, oder verzögern könnte, allein bei der Hauptsache für entbehrlich gehalten wurde« (GSK, S. 44). Hier wird das neue Geschichtsmodell des späten 18. Jahrhunderts deutlich. Geschichte basiert auf materiellen und faktischen Umständen. Die Überlegenheit der Gegner Friedrichs 86
Wiederum wird deutlich, dass bei Archenholz die Geschichtserzählung und -dramatisierung im Vordergrund steht. Archenholz bemüht sich zwar um eine Vielfalt von Quellen und Perspektiven, doch trotz des im Vorbericht verfochtenen Unparteilichkeitsideals (GSK, S. 13) überwiegt die Perspektive der Preußen.
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ist so groß, dass seine Niederlage notwendig passieren muss. Glück, Unglück oder Zufälle können diese nur beschleunigen oder verzögern; der eigentliche Verlauf der Geschichte wird dadurch nicht beeinflusst.87 Zufälle sind integraler Bestandteil des historischen Prozesses. Der Text beschreibt nun die gegenseitigen Kriegsbemühungen, wobei Friedrich in die Defensive gedrängt wird. Plötzlich verlagert Archenholz das Augenmerk auf die eigentlichen Kriegshandlungen. Die Preußen wiegen die Österreicher in Sicherheit, dieses Jahr nicht in Böhmen einzufallen und überraschen das österreichische Heer – »mit Kochen beschäftigt« (GSK, S. 55) – in deren Lager bei Prag. Die Schlacht selbst wogt hin und her. Die Preußen überwinden mehrere Rückschläge und vertreiben die Österreicher, die zum Teil in die Stadtumgrenzungen von Prag fliehen. Nachdem der Leser zuvor – wie gesehen – erfahren hat, dass die Preußen den Krieg notwendigerweise aus rein zahlenmäßiger Unterlegenheit früher oder später verlieren müssen, bringt dieser Sieg eine überraschende Wende in Archenholz’ Darstellung. Der Historiker vergleicht Friedrichs Sieg bei Prag mit Hannibals Sieg über die Römer bei Cannae, insbesondere wegen »der durch die Niederlage erzeugten Bestürzung« (GSA, S. 58):88 »Die Römische Schlacht entschied das Schicksal von ganz Italien, Rom allein ausgenommen; und die Deutsche hätte den ganzen Krieg entschieden, und den politischen Zustand von Deutschland umgestaltet, wenn nicht ein sehr unbedeutender Gegenstand, ein paar elende Pontons, das Los so vieler Nationen bestimmt hätte« (GSK, S. 58). Plötzlich scheint es so, als hätten einige Boote (Pontons) den Krieg völlig umentscheiden können.89 Das qualitative Können der Preußen auf dem Schlachtfeld – durch den rhetorischen Vergleich zu Hannibal und Cannae legitimiert – kehrt die Bewertung der unvermeidlichen Niederlage der Preußen um. Es entsteht eine neue Form von historischer Notwendigkeit, nach der ein preußischer Sieg durch die qualitative Stärke als notwendige Konsequenz erscheint. Dass dieser Sieg in Prag noch nicht eingetreten ist, hing also nur an in der Geschichte unvermeidlichen Zufällen wie den fehlenden Booten. Dieses Übereinanderschneiden von Notwendigkeiten – der quantitativen und der qualitativen – ermöglicht Archenholz die Inszenierung der 87 88
89
Zur Funktion des Zufalls in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, siehe auch I.2.4 im Einleitungskapitel und vor allem IV.4 im Schiller-Kapitel. Archenholz’ Betonung der österreichischen Bestürzung ist besonders bedeutsam, da an dieser Niederlage die Möglichkeit einer Besiegbarkeit der Österreicher – auch im Gesamtverlauf des Krieges – erkennbar wird. Aufgrund der fehlenden Pontons konnte die Armee des Prinzen von Dessau den Österreichern nicht in den Rücken fallen, sodass die völlige Vernichtung des österreichischen Heeres ausblieb.
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ständigen Wechsel des Kriegsglücks und des Auf- und Ab, das dem historischen Stoff entspricht. Ziel des gesamten Buches von Archenholz wie der Darstellung des Feldzugs im Jahr 1757 im Besonderen ist dabei, das qualitative Moment letztlich als das sich notwendig Durchsetzende darzustellen: den preußischen Triumph gegen die Übermacht der anderen europäischen Großmächte – Österreich, Russland, Frankreich, große Teile des Deutschen Reichs sowie Schweden, bei nur geringer Unterstützung durch England. Dieser inszenierte Triumph wird von Archenholz zum Triumph moderner aufklärerischer, deutscher Kultur und der Entstehung der deutschen Nation bzw. nationalen Identität, wie im Weiteren noch zu zeigen sein wird. Trotz dieser Inszenierung der geschichtsphilosophischen Notwendigkeit eines preußischen Sieges in der Darstellung gibt es gleich nach der Schlacht einen Wechsel. Der Erzähler schreibt: »So blutig indes auch diese Schlacht war, und so große Erwartungen auch ganz Europa jetzt hatte, so ging doch alles ganz anders; denn diese schröckliche Niederlage ist desto merkwürdiger wegen der Folgen, die sie nicht hatte« (GSK, S. 59). Die Österreicher werden also nicht wie erwartet völlig aufgerieben. Dennoch scheint die Erzählung zunächst genau dorthin zu führen. Eine erfolgreiche Belagerung von Prag – wo 50000 österreichische Soldaten eingeschlossen sind – würde genau dahin führen. Die sich für die Österreicher anbahnende Katastrophe wird während der Belagerung zunehmend größer; die Kaiserin beginnt um den Bestand ihres Reichs zu bangen: Man hielt die Preußen, die seit 1741 in acht Schlachten gesiegt, und noch keine einzige verloren hatten, jetzt für unüberwindlich, und ihrem Könige alles zu tun möglich. Die Bestürzung in dieser Kaiserstadt war daher unaussprechlich; man glaubte den Sieger bereits vor den Toren dieser Residenz zu sehen, und schon dachte man auf Mittel, ihm mit großen Aufopferungen den Frieden anzutragen. (GSK, S. 66)
Indem Archenholz die historische Situation zur Beinahe-Katastrophe der Österreicher überstilisiert, kommt die militärisch nicht völlig unwahrscheinliche Veränderung in der erzählerischen Inszenierung umso überraschender. Die Belagerung zog sich hin, und Friedrich beschloss das inzwischen auf 60.000 Mann gewachsene Heer von Feldmarschall Daun anzugreifen, um die Österreicher endgültig zu vernichten.90 Stattdessen 90
Dies ist ein gutes Beispiel für die narrativen Zuspitzungen, die Archenholz vornimmt, um den Geschichtsprozess zu inszenieren. Die vorher skizzierte Aussichtslosigkeit für die Österreicher hat es in dieser extremen Form nie gegeben. Dauns Heer war zahlenmäßig größer als Friedrichs, und es hatte in den Bergen bei Kollin die bessere Stellung.
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verlor Friedrich bei Kollin seine erste Schlacht, in Archenholz’ Darstellung, an den Vorlagen von Friedrich und Tempelhof orientiert, vornehmlich, weil die Dispositionen des Königs schlecht befolgt wurden (GSK, S. 68). Gleichzeitig nutzt Archenholz – wieder im rhetorischen Vergleich mit den Griechen – diese Niederlage, um den ehrenvollen und tapferen Kampf der Preußen zu betonen: »Dieser große Tag war des Preußischen Namens vollkommen würdig. Vielleicht war seit der Schlacht von Arbela, wo auf Asiens Feldern Griechische Taktik das Schicksal so vieler Königreiche der Vorwelt entschied, nie Heldenmut und Kriegskunst in einem so hohen Grad vereinigt gewesen« (GSK, S. 68). Plötzlich war der Feind »überaus vorteilhaft postiert« (GSK, S. 68), die Preußen mussten also ihre Tapferkeit beweisen. Friedrich wird nach der Niederlage in schicksalhafter Pose, »auf einer Brunnenröhre tiefdenkend« (GSK, S. 72) beschrieben. Die Belagerung von Prag wurde aufgehoben; der König musste seine eigenen Provinzen schützen; die Russen fielen in Preußen ein; die Franzosen rückten vor; der Herzog von Cumberland verloren bei Hastenbeck einen wichtigen Kampf; die Russen gewannen die Schlacht über den preußischen Feldmarschall Lehwald bei Groß-Jägersdorf; die Schweden traten in den Krieg ein; die Konvention bei Kloster-Seeven nahm Friedrich seine deutschen Verbündeten (GSK, S. 103). Obwohl sich die Lage der Preußen zunehmend verschlechterte, ist Archenholz zurückhaltend, eine aussichtslose Situation Friedrichs festzustellen. Stattdessen inszeniert er die Differenz zwischen Friedrichs taktischem Geschick und der Charakterlosigkeit der Franzosen. Friedrichs Sieg in der Schlacht bei Roßbach über die Franzosen und Reichstruppen wirkt damit für die Handlung des Siebenjährigen Krieges nicht als entscheidend. Dies kommt nach Archenholz erst der Schlacht bei Leuthen einen Monat später zu (GSK, S. 127).91 Roßbach wird stattdessen zum Meilenstein preußischer Ehre und Tapferkeit. Archenholz inszeniert dies durch verschiedene Anekdoten, die Friedrichs überragenden Ruf bei den Franzosen und den Hass der Deutschen gegen die Franzosen – auch bei den gegen Friedrich kämpfenden deutschen Reichstruppen – zeigen, als deutsche Überlegenheit (GSK, S. 114–117).92 Die Schlacht wird zu einem »National-Triumph« (GSK, S. 115) aller deutschen Völkerschaften hochstilisiert.93 Geschichte entwi91 92 93
Vgl. V.3. Zur Wirkungsgeschichte von Anekdoten über den Siebenjährigen Krieg, siehe Walle: Der Siebenjährige Krieg. Die Schlacht bei Roßbach wurde zum Symbol deutscher Stärke in der zweiten Hälfte des 18. und im frühen 19. Jahrhundert. Sie beendete den Mythos der unbesiegbaren Franzosen und wurde als nationales, deutsches Ereignis angesehen (Dieter Postier: Die Schlacht
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ckelt sich also nicht ausschließlich in Form historischer Ereignisfolgen, sondern der fortschreitende Prozess zeigt sich über die Kriegsereignisse hinausgehend in der kulturellen Entwicklung. Der kulturelle Fortschritt wird durch die Schlacht bei Roßbach garantiert.94 Doch dann passieren Schlag auf Schlag die Ereignisse in Schlesien, die Friedrich in die bereits oben beschriebene scheinbar ausweglose Situation vor der Schlacht bei Leuthen treiben. Ein preußisches Korps wird von den Österreichern vernichtet, wobei dessen Anführer, Friedrichs wichtigster Ratgeber Winterfeld, tödlich verwundet wird (GSK, S. 124). Der Herzog von Bevern macht einige strategische Fehler, verliert die Schlacht bei Breslau, wird gefangen genommen, woraufhin Breslau von den Österreichern eingenommen wird (GSK, S. 127). Dies führt zu Archenholz’ bereits zuvor zitierter Bewertung: »Nie, in allen Preußischen Feldzügen, hatte Österreichs Glück auf solcher Höhe gestanden« (GSK, S. 127), bevor Friedrichs Sieg bei Leuthen in der Erzählung alles verändert, sodass der preußische König am Ende des Feldzugs 1757 ausgezeichnet da steht, obwohl noch kurz zuvor die größte Katastrophe für die Preußen zu befürchten war. In der Analyse von Archenholz’ Darstellung der Ereignisse des Jahres 1757 hat sich deutlich gezeigt, dass der Historiker den Geschichtsprozess auf zwei unterschiedlichen Darstellungsebenen inszeniert: zuerst durch das übergreifende Erzählschema, nach dem ständige Wechsel im Kriegsglück zu beobachten sind, die letztlich zum Triumph der qualitativ überlegenen Preußen über die zahlenmäßig überlegenen Gegner führen. Dies entspricht der bereits in der Diskussion der Jahresenden und Wendepunkte im Gesamtverlauf des Krieges erkannten Ergebnisse über die Art und Weise, wie Archenholz historische Ereignisse und Erzählstruktur in Einklang bringt, ohne sein Ziel, Geschichte als etwas Notwendiges vollziehen zu lassen, aufgeben zu müssen. Im Kriegsjahr 1757 folgt auf eine nach allen Maßstäben – also allem Messbaren – aussichtslose Situation für die Preußen zu Beginn des Jahres, der Triumph von Prag, dessen scheinbar vollkommener Sieg aber dann von kleinen Ereignissen und Wendungen, über die Niederlage in der Schlacht bei Kollin zu einer für die Preu-
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bei Roßbach am 5. November 1757. Militärgeschichte 19 (1980), S. 685–696). Die Niederlage der Preußen im Jahre 1806 bei Jena und Auerstedt reduzierte die Bedeutung der Schlacht von Roßbach zutiefst (Kroener: Schlachtenmythen, S. 402). Siehe zur komplexen Bedeutung der Schlacht bei Roßbach auch Theodor Schieder: Friedrich der Große – eine Integrationsfigur des deutschen Nationalbewußtseins im 18. Jahrhundert. In: Nationalismus in vorindustrieller Zeit. Hrsg. von Otto Dann. München 1986, S. 113–127, insb. S. 118f. Zur nationenbildenden Funktion der Schlacht bei Roßbach, siehe auch V.6.
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ßen katastrophalen Situation führt, bevor Leuthen wiederum eine völlige Wende herbeiführt. Der in der Überlieferung so bedeutsame Sieg bei Roßbach spielt in diesem Erzählmuster – wie bereits oben gesehen – nur eine höchst untergeordnete Rolle. Gleichzeitig kommt Roßbach aber eine andere Funktion zu: Der Sieg der Preußen über die Franzosen dient der Vorführung preußischer Werte wie Ehre, Tapferkeit und Standhaftigkeit, die letztlich einerseits die konkreten, das preußische Schicksal bestimmenden Siege im dargestellten Erzählschema garantieren,95 und andererseits das entscheidende Vehikel für das teleologische Element des preußischen Triumphes und der Entstehung einer deutschen Kultur und Nation sind.96 Die Inszenierung der Größe und Klugheit des Königs und der Werte der Preußen schafft damit nicht nur einen militärisch-politischen Triumph, sondern dient auch dem Fortschritt der Zivilisation,97 garantiert durch die Stärke und Kultur der entstehenden deutschen Identität und Nation.
5.
Die Inszenierung von Werten
Die Inszenierung von qualitativen Werten wie preußischer Tapferkeit oder des Kriegsruhms von Friedrich98 ist grundlegend für das Handlungsmuster, das Archenholz seiner Geschichtserzählung unterlegt.99 Wie gesehen hält er sich an die ihm bekannten historischen Begebenheiten. Das Hin- und Herwiegen des Kriegsglücks ist zuerst einmal Bestandteil der Geschichte, nicht nur von einem vom Historiker narrativ geschaffenen oder gar erfundenen Plot. Erst durch die oben – zum Beispiel in der Ana95 96 97
98 99
Siehe das folgende Teilkapitel V.5. Siehe hierzu im Detail V.6. Dies ist auch der Grundtenor von Bovekamps Untersuchung von Archenholz’ Herausgeberschaft der Zeitschrift Minerva. Der Begriff ›militärische Aufklärung‹ ist entsprechend keine Koppelung widersprüchlicher Begriffe (Die Zeitschrift ›Minerva‹, S. 209). Siehe zu Archenholz’ positivem, auf qualitativen Werten beruhendem Preußenbild auch Bovekamp: Die Zeitschrift ›Minerva‹, insb. S. 138–140. Vgl. Bohnen: Von den Anfängen des Nationalsinns, S. 123: »Der Patriotismus-Gedanke als Ausdruck vordringlich republikanischer Teilhabe an der politischen Ordnung des Gemeinwesens lädt sich […] zu einem emotionalen Wertbegriff auf, der über alle Ständeunterschiede hinweg – so die Hoffnung der Bürger und Literaten – Verbindlichkeit beanspruchen könnte. […] Der Krieg stand somit Pate für einen ungeahnten Begeisterungsaufschwung für die Ziele eines Staates, der seine Poeten bisher nicht verwöhnt hatte.« Vgl. Fohrmann (Der Ruhm des Königs, S. 389) zur »Patriotisierung des preußischen Gemeinwesen-Diskurses«, das in den Nationenbegriff des 19. Jahrhunderts münde (zum Nationenbegriff siehe V.6).
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lyse der Schlacht bei Torgau – gezeigte parataktische, präsentische Erzählweise überschreitet Archenholz die Darstellungsmöglichkeiten der pragmatischen Aufklärungsgeschichtsschreibung und inszeniert den Prozess von Geschichte, statt ausschließlich über Ereignisse sowie deren Ursachen und Wirkungen zu berichten. Dabei ist ein grundlegendes Moment die Schaffung von qualitativen Momenten, die den Handlungsverlauf motivieren bzw. garantieren. Dies sind Werte wie Tapferkeit, Klugheit und Ehre, oder, gerade in der Figur Friedrichs, Personen.100 Archenholz lässt Friedrich mehrfach wie in einem Schauspiel auf der Bühne auftreten, wobei er selbst eine ausgeprägte Bühnenmetaphorik verwendet.101 Die Ankündigung des Königs führt dabei fast automatisch zum Rückzug der anderen Partei. Archenholz stellt dabei den Effekt, den mächtigen Preußenkönig herankommen zu sehen, in den Vordergrund. Zum Beispiel planen die Österreicher und Reichs-Truppen in Sachsen, die Armee von Prinz Heinrich von vorne und hinten anzugreifen und seine Armee dabei völlig zu vernichten: »[…] und alle Anstalten waren gemacht, als das Donnerwort: Friedrich kommt! den ganzen Plan auf einmal vernichtete« (GSK, S. 166). Die Sprache – »das Donnerwort« – verändert den Verlauf der Geschichte. Zugleich kombiniert Archenholz Natur und Sprache, wodurch Friedrich II. ähnlich der Überlagerungen von Naturund Kulturgeschichte bei Forster und Herder und Natur- und Weltgeschichte bei Schiller zu einer Naturkraft wird.102 Archenholz hätte den Handlungszusammenhang auch ganz sachlich – hypotaktisch und kausal – beschreiben können: Weil der preußische König mit seiner Armee zur Entsetzung des Prinzen Heinrich nach Preußen marschierte, entschieden sich die Österreicher und Reichs-Truppen ihre Planungen zu ändern. Stattdessen entwirft der Historiker ein Bühnenereignis; durch drei Worte – »der König kommt« – wird die schlechte Situation Heinrichs gewendet. Am deutlichsten ist dies bei der Entsetzung des von Russen und Österreichern besetzten Berlins. Die Österreicher und Russen »träumten« von Kriegsquartieren in Brandenburg; alle Provinzen Friedrichs waren mit Feinden »überschwemmt«; man sah den Krieg »beinahe wie geendigt« an (GSK, S. 337f.). Doch Archenholz inszeniert einen dramatischen Umschwung auf der »Schaubühne« des Krieges (GSK, S. 338): 100 101 102
Fohrmann demonstriert Friedrichs Doppelfunktion, wonach der Held Friedrich immer Teil des militärischen Vormarsches wie Teil des Volkes ist (Der Ruhm des Königs, S. 384). Vgl. z. B. GSK, S. 143, S. 260, S. 338, S. 466. Archenholz spricht von der »Kriegsbühne«, dem »Kriegs-Theater« und einem »Kriegsschauspiel«. Vgl. II.5, II.3.3, IV.4.
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Dieser eingebildete Triumph aber währte nur einige Tage. Friedrich rauschte wie eine Flut aus Schlesien her, und nun, so wie auf einer Schaubühne nach dem gegebenen Zeichen, veränderten sich auf diesem Kriegs-Theater auf einmal alle Szenen: Das Wort: »der König kommt!« war wie ein elektrischer Schlag, der durch alle feindliche Armeen fuhr, und alles aufs schleunigste in Bewegung setzte. (GSK, S. 338)
In dieser Ewartung verließen Österreicher und Russen Berlin in Windeseile. Zunehmend – durch die Bühnenmetaphorik hier auch explizit reflektiert – lässt Archenholz historische Akteure und Gruppen auf der Kriegsbühne auf- und abtreten. Das Anmarschieren des für seine schnellen Märsche bekannten preußischen Königs wird dabei zum Garanten einer historischen Veränderung zugunsten der Preußen. Doch nicht nur Friedrich ist ein Symbol preußischer Tapferkeit und preußischen Genies, sondern auch einige seiner Kommandeure und Generäle. Besonders eindrücklich ist die Darstellung der Belagerung von Breslau durch den österreichischen Feldherrn Laudon zwischen dem 31. Juli und dem 4. August 1760 (GSK, S. 309–313). Dieser wird von Archenholz im Text zum größten und ehrenvollsten Gegner Friedrichs stilisiert (insbesondere GSA, S. 416–419). Doch in der Belagerung von Breslau scheitert Laudon am preußischen General Tauenzien. Die Situation im Sommer 1760 ist für Friedrich – in Archenholz’ Erzählung – wieder einmal katastrophal. Die letzten Ereignisse des Feldzugs waren die Niederlage der Preußen im Treffen bei Landshut, die Eroberung der Festung Glatz durch Laudon sowie Friedrichs erfolglose Belagerung von Dresden. Der Preußenkönig eilt nach Schlesien, um das von Laudons Armee belagerte Breslau zu entsetzen. Archenholz weist dann auf Friedrichs mangelhafte Auswahl von Festungskommandanten hin, während er »mit dem Adlerblick des Genie’s seine Heerführer zu wählen wußte« (GSK, S. 309). Doch diesmal hilft Friedrich sein Genius im Sinne seines Glücks. In Breslau hat die Königliche Leibgarde ihr Hauptquartier, sodass ihr Befehlshaber General Tauenzien auch dortiger Stadtkommandant ist. Archenholz stellt nun Tauenziens Erziehung und Charakter vor: »Dieser General, in der Potsdammer Kriegsschule erzogen und grau geworden, verband mit den höchsten Begriffen von Ehre, großen Mut, Einsicht und militärische Talente« (GSK, S. 309). Tauenziens Talente werden wiederum einer quantitativ scheinbar aussichtslosen Situation gegenübergestellt: 50000 Österreicher stehen unter Führung des größten österreichischen Feldherrn vor der Stadt. Weitere 9000 österreichische Kriegsgefangene sind, kurz vor einer Revolte, in Breslau. Dagegen besteht die Besatzung der schlesischen Hauptstadt nur aus 3000 Soldaten, davon 299
»2000 entweder Überläufer, oder gezwungene Soldaten, oder Invaliden« (GSK, S. 310). Selbst die Garde von 1000 Soldaten war größtenteils mit unmotivierten Ausländern besetzt, die nur durch die Grundsätze von Ehre und Disziplin im Dienst gehalten wurden. Das Durchhalten der Belagerten erklärt Archenholz entsprechend aus Sicht des Philosophen und Geschichtsschreibers als mit rationalen Mitteln nicht zu verstehen. Es ist ein »Wunder«, jeglichen Intellekt übersteigend: Dies Wunder, mit einer geringen Anzahl größtenteils unzufriedner und unbrauchbarer Soldaten, eine Armee in der Stadt im Zaum zu halten, und einer andern außerhalb der Mauern Widerstand zu tun, und alles dies in einem großen von vielen tausend zur Empörung geneigten Bürgern bewohnten, nicht außerordentlich befestigten Ort, ein solches Wunder konnte nur die Macht der Preussischen Kriegs-Disziplin bewirken (GSK, S. 310).
Archenholz rahmt die unmögliche Lage der Preußen in Breslau durch die Talente Tauenziens und der Disziplin der Preußen, die das angekündigte Wunder ermöglichen. Nach dieser Einführung kommt Archenholz auf die Belagerung selbst zu sprechen. Hier werden – ohne dass er auf den Widerspruch zu seiner bisherigen Inszenierung der aussichtlosen Situation der Preußen hinweist – die zahlreichen materiellen Probleme Laudons genannt: das Heranrücken Preußischer Armeen, das Fehlen von Belagerungsgeschützen und Munition, die noch bei Glatz sind; zudem war ein Sturm wegen der mit Wasser gefüllten Festungsgräben unmöglich.103 Damit blieben ihm als Mittel nur Unterhandlung und die Drohung, die Stadt in Brand zu stecken. Und hier inszeniert Archenholz nun ein Rede- bzw. Verhandlungsduell zwischen Laudon und Tauenzien. Laudon droht den Preußen, untermauert von den Argumenten, dass Breslau keine legitim zu verteidigende Festung sei, dass die Armeen des Königs sowie von Prinz Heinrich weit weg und die Russen zur Unterstützung der Österreicher nahe seien. Mit letzterem appelliert Laudon an die Angst der Einwohner Breslaus vor wahr103
Koselleck nutzt Archenholz’ Verwendung des Wortes ›Wunder‹ in dieser Episode, um zu zeigen, dass das Inkommensurable wie Wunder oder Zufälle von Archenholz verwendet wird, um sie dann ihres mirakulösen Charakters zu berauben (Der Zufall, S. 167). Während Koselleck zurecht aufzeigt, wie der Zufall oder das Wunder zu einem Rest der Motivierung von Geschichtsverläufen werden, entgeht ihm, dass Archenholz das an sich gar nicht so Wundersame erst in seiner Geschichtsinszenierung schafft, um es auf dessen Basis wiederum durch die Motivation des Geschichtsverlaufs, durch preußische Tapferkeit und Standhaftigkeit, zu dekonstruieren. Wenn das Wunder oder der Zufall also nicht bereits Teil der Geschichte sind, müssen diese in bestimmten Situationen historiographisch geschaffen werden, um dann im Sinne moderner Geschichtsschreibung wiederum widerlegt zu werden.
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scheinlicher russischer Brutalität. Tauenzien antwortet »kurz«: »Breslau sei eine Festung, und er würde den Feind auf den Wällen erwarten, wenn auch die Häuser in Asche verwandelt werden sollten« (GSK, S. 311). Wie man an Tempelhofs Fußnoten sehen kann, verknappt Archenholz die Antwort Tauenziens zu ihrer Essenz. Bei Tempelhof werden hingegen die Schreiben zwischen Laudon oder seinen Untergebenen und Tauenzien bzw. dem Magistrat von Breslau als separate Dokumente in Fußnoten direkt zitiert.104 Nicht die Details des schriftlichen Austausches sind bei Archenholz entscheidend, sondern Tauenziens Härte und Standhaftigkeit. Archenholz erzählt dann von einem zweiten Austausch, dessen Quelle unklar ist – bei Tempelhof wird dieser nicht genannt, in dem Laudon seine Drohungen verstärkt: »Es hieß: das Kind im Mutterleibe sollte nicht geschont werden. Tauenzien antwortete: ›Ich bin nicht schwanger, und meine Soldaten auch nicht‹« (GSK, S. 311). Unabhängig davon, ob dieser Austausch erfunden ist oder möglicherweise auf mündlichen Quellen basiert, ist entscheidend, dass das Schreibduell wie ein wörtliches Rededuell immer mehr zugespitzt wird. Laudon wird immer verzweifelter; die schlagfertigen, präzisen Antworten Tauenziens – hier die Dekonstruktion der Bildersprache Laudons von den nicht zu schonenden Frauen und Kindern – gewinnen alle Phasen des Duells, sodass Laudon neu einsetzen muss. Gleichzeitig unterstreicht Archenholz die faktischen Gefahren für den preußischen Kommandanten, der sich eines Entsatzes der Stadt keineswegs so sicher ist (GSK, S. 312). Dies führt letztlich zum Abzug von Laudon, der von Archenholz als »unüberdacht« (GSK, S. 313) bezeichnet wird. Mit anderen Worten ist General Laudon durch Tauenziens standhafte und ehrenvolle Verteidigung zu dieser ›Unüberlegtheit‹ gezwungen worden. Ehre, Mut, Einsicht und militärische Talente, die Archenholz Tauenzien zu Beginn zugeschrieben hatte (GSK, S. 309), haben gesiegt, und eine materiell eigentlich katastrophale Lage in einen Triumph verwandelt. Dabei ist zudem wichtig, dass Archenholz den Ehrbegriff bei der eigentlichen Darstellung der Ereignisse und des Duells nicht mehr nennt. Er ist selbstverständlich; er entsteht durch die Handlungen und die Beredsamkeit Tauenziens, die sich vor den Augen des Lesers vollzieht, bzw. wird durch diese bewiesen. Wie bereits erwähnt, übernimmt Archenholz die meisten historischen Einzelheiten von Tempelhof.105 Im Unterschied zu Archenholz ist bei die104 105
Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 91–93. Ein gutes Beispiel ist der beinahe wörtlich übernommene Satz zu den wenigen Handlungsmöglichkeiten Laudons. Bei Archenholz heißt es: »[N]ichts blieb ihm also übrig, als Unterhandlung und Feuer« (GSK, S. 311); bei Tempelhof: »Es blieb ihm daher nichts üb-
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sem aber von der ausweglosen Situation Friedrichs und Tauenziens nichts zu spüren. Stattdessen beschreibt Tempelhof von Beginn an Laudons logistische Probleme, die diesen dazu zwingen zu verhandeln und zu drohen. Das Schreibduell der beiden Generäle wird berichtend in seinem Inhalt zusammengefasst, um dann die reale Kriegssituation zu beschreiben, in der die Armee des Prinzen Heinrich näher und die Russen weiter entfernt waren, als Laudon es in seiner Rhetorik, die Tauenzien zur Aufgabe bewegen sollte, vorgab. Tauenzien wird nicht explizit gelobt; die einzige Wertung zu seinen Gunsten ist seine Standhaftigkeit.106 Darüber hinaus betont Tempelhof in seiner Bewertung der Ereignisse die »Schnelligkeit« des Prinzen Heinrich, der Friedrich aus einer problematischen Lage in Schlesien gerettet habe.107 Bei Archenholz hingegen wird Tauenziens Standhaftigkeit vollzogen; die Aktionen von Prinz Heinrich werden nur beiläufig berichtet. Diese konkrete Episode demonstriert die preußischen Werte und ihre qualitative Überlegenheit, die die quantitative Überlegenheit der Österreicher aussticht.
6.
Nationalerzählung
Wie oben gesehen inszeniert Archenholz zum Ende des Jahres 1757 den preußischen Triumph durch den Sieg in der Schlacht bei Leuthen. Friedrich, »von allen Seiten umringt«, befindet sich »am Rande des Abgrundes«, bevor er sich »plötzlich [wieder] erhebt […] um mehr als jemals zu triumphieren« (GSK, S. 139). Auf den ersten Blick scheint Archenholz vornehmlich die Größe des preußischen Königs, die Tapferkeit der Preußen und als Krönung des von zahllosen Schlachten, Treffen und Gefechten geprägten Kriegsjahres 1757 den Krieg selbst zu feiern. Archenholz resümiert: »So endigte ein Feldzug, der in der ganzen Weltgeschichte ohne Beispiel ist« (GSK, S. 138). Diese Einzigartigkeit des Feldzugs von 1757 wird im Weiteren genauestens zelebriert. Nach der einmaligen Anzahl an Schlachten kommt Archenholz auf die Feldherrn zu sprechen: »Große Feldherren, die zu den seltensten Produkten der Natur gehören« (GSK, S. 138). Dies sind Friedrich und in geringerem Maße bezüglich von Kämpfen in den west-
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rig, als Unterhandlung und Feuer« (Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 90). Die Erzählungen Milbillers sind hingegen alle an Archenholz angelehnt und stellen den Charakter Tauenziens ins Zentrum dieser Kriegsepisode (Milbiller: Geschichte Deutschlands, S. 231; und Schmidt [Milbiller]: Neuere Geschichte der Deutschen. Bd. 14, S. 191). Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 95. Tempelhof: Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Bd. 4, S. 97.
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fälischen Gebieten Prinz Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel. Darüber hinaus hat das Kriegsjahr zukünftige Feldherren wie Laudon und zahllose Generäle, die sich im weiteren Kriegsverlauf großen Ruhm erwerben werden, hervorgebracht. Die Feier der Generäle schließt mit einer Hommage an das »edle Blut« großer, im Jahr 1757 gefallener Feldherrn ab (GSK, S. 138). Von hier geht Archenholz zu allen Soldaten über: Über 700000 Krieger waren in Waffen gewesen. Und von welchen Völkern! Es waren nicht weichliche Asiater, die von jeher mit zahllosen Heeren die Felder bedeckten, und den Griechen, Römern und Britten Anlaß zu auffallenden Triumphen gaben. Es waren keine zusammengeraffte [sic!] Kreuzfahrer, die in ungeheuren Schwärmen wie die Heuschrecken ganze Provinzen überschwemmten, sich ohne alle Kriegskunst herumschlugen, und aus fanatischem Eifer Menschen mordeten. (GSK, S. 138f.)
Archenholz feiert den Krieg, doch der Übergang von den Generälen zu den Soldaten ist die entscheidende Schnittstelle. Es wird nicht mehr der Krieg als solches gefeiert, sondern der Krieg der aufgeklärten, westlichen Zivilisation, der jeder Barbarei entgegensteht.108 Pathetisch verneint Archenholz noch einmal, dass asiatische Völker und unorganisierte Kreuzfahrer an diesem Krieg der zivilisierten Völker beteiligt gewesen wären: »Nein! es waren alles kriegerische Nationen, die hier auf Deutschem Boden kämpften; keine der hohen Kultur des achtzehnten Jahrhunderts unwürdig, und einige derselben den tapfersten Völkern der Vorwelt gleich; mehr als eine einzeln fähig durchs Schwert einem Weltteil Gesetze zu geben« (GSK, S. 139). Wie bei Forster wird ein Geschichtsmodell der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts vertreten. Der Fortschritt der westlichen Zivilisation ist hierin allen anderen Völkern überlegen. Selbst die sonst bei ihm so gepriesenen Leistungen der Griechen und Römer wertet Archenholz hier ab, da sie vornehmlich mit den unterlegenen asiatischen Völkern zu tun hatten. Auffällig ist Archenholz’ explizite Verwendung der Ausdrücke ›Nation‹ und ›auf Deutschem Boden‹, womit die Funktion der Deutschen Nation als Ursprung und Garant der europäischen und weltweiten Zivilisation angedeutet wird. Allerdings sind in Archenholz’ Nationenbegriff nur die Anfänge des substantialistischen, apriorischen Nationenbegriffs des 19. Jahrhunderts, nach dem alles der Nation entstamme und in sie münde, zu erkennen.109 108 109
Siehe zur Entgegensetzung von Zivilisation und Barbarei bei Archenholz auch Fohrmann: Der Ruhm des Königs, S. 390. Fohrmann: Der Ruhm des Königs, S. 389. Fohrmann führt gerade mithilfe präziser Analysen von Bilddarstellungen Friedrichs II. vor, wie dieser in der Überlieferung zum preu-
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Im folgenden Absatz wird der Kriegsverlauf des Jahres 1757 wie im Zeitraffer, wiederum in parataktischem Satzbau, zusammengefasst (GSK, S. 139). Die Kriegswenden bis zur Schlacht bei Leuthen mit ihren Konsequenzen werden damit zum Triumph des aufgeklärten Europas stilisiert. Der Krieg – aus Archenholz’ Perspektive etwas Erhabenes – findet seine bis dahin höchste Form in der europäisch aufgeklärten Kultur. Deren Dominanz wird noch einmal deutlich, wenn Archenholz das Jahr 1757 mit der Erkenntnis des britischen Premierministers, William Pitt den Älteren, schließt, »daß Amerika in Deutschland erobert werden müßte« (GSK, S. 140). Deutschland wird zum Zentrum der europäischen Aufklärung durch den erhabenen Krieg, von dem aus die Welt erobert (und zivilisiert) werden kann. Hier wird offensichtlich, wie die in der Analyse des Kriegsjahres 1757 erkannte Zweiteilung Archenholz’ gesamte Geschichte notwendig prägt. Die Feier des Krieges – des kriegerischen Genies Friedrichs – bei Leuthen wird parallel geführt mit der Feier der deutschen Nation, des Nationalstolzes,110 der durch den kollektiven Sieg über die Franzosen in der Schlacht bei Roßbach symbolisiert wird. Archenholz inszeniert Deutsch-
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ßischen Gesetz wird, zur »Prosopopoie des Willens, der sich zur Idee des Staates dehnt und ›schafft‹ und ›gründet‹« (S. 406). Zur Bedeutung des Siebenjährigen Krieges in der Entwicklung eines deutschen Nationalismus in theoretischen und literarischen Texten des 18. Jahrhunderts, siehe Hans Peter Herrmann: Individuum und Staatsmacht. Preußisch-deutscher Nationalismus in Texten zum Siebenjährigen Krieg. In: H.P. Herrmann/ Hans-Martin Blitz/Susanna Moßmann: Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1996, S. 66–79. Bei Thomas Abbt in ›Vom Tode für das Vaterland‹ wird der Krieg zum Mittel nationaler Läuterung für den Einzelnen und die nationale Gemeinschaft. Vgl. hierzu auch Planert: Wann beginnt der ›moderne‹ deutsche Nationalismus?, S. 48–50. Zur umfassenden Forschungsdebatte über den Nationenbegriff und zur Entstehung der deutschen Nation und des deutschen Nationalismus, siehe z. B. Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung. München 1985; und insbesondere Jörg Echternkamp: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840). Frankfurt a.M. 1998. Echternkamp sieht für die 1770er Jahre die Sprachgemeinschaft als stärkstes Bindeglied für die nationale Gemeinschaft, während »nach der Jahrhundertwende die in ihr [der Idee der Sprachgemeinschaft] schon angelegte historische Komponente das Übergewicht [gewann]« (Ebd., S. 306). Zur Bedeutung Friedrichs des Großen und des Siebenjährigen Krieges für das deutsche Nationalbewusstsein und eine deutsche Nationaldichtung, siehe auch Goethe: Autobiographische Schriften I. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Teil. 7. Buch. In: Werke. Bd. 9, S. 279–281; vgl. zudem Schieder: Friedrich der Große. Für einen medienwissenschaftlichen Überblick zur Berichterstattung über den Siebenjährigen Krieg um 1800, siehe Holger Dainat: Der Siebenjährige Krieg in den Medien. In: »Krieg ist mein Lied«. Der Siebenjährige Krieg in den Medien. Hrsg. von Wolfgang Adam/H. Dainat. Göttingen 2007, S. 9–26.
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land als den Mittelpunkt der Zivilisationsentwicklung der Menschheit. Dies gelingt mit Hilfe des historischen Gegenstandes des Siebenjährigen Krieges und der Figur Friedrichs. Gleichzeitig wird über den fehlenden Mut der französischen Soldaten und deren mangelhafte Kriegskunst gespottet. Während die Franzosen im fernen Paris ihre »lächerliche Niederlag« bald vergaßen, wird der Sieg für die Deutschen zum nationenbildenden Mittel: »[…] und das Wort Roßbach tönte noch viele Jahre nachher, vom Baltischen Meer bis zu den Alpen, ohne Ansehn des Standes allen Franzosen entgegen, die man beschimpfen wollte« (GSA, S. 117). Um die Relevanz des Siebenjährigen Krieges und der Figur Friedrichs zu unterstreichen, inszeniert Archenholz die Größe des Preußenkönigs und der Preußen, die den notwendigen Verlauf des Krieges garantieren. Um jedoch diese kriegerische Brillanz und Größe über das überraschende Standhalten gegen zahlenmäßig weit überlegene Gegner in einem Krieg zu einem menschheitsgeschichtlich relevanten Ereignis bzw. einer Epoche machen zu können, muss Archenholz zum einen den Übergang vom Krieg zur Kultur schaffen, zum anderen benötigt er eine bindende Entität, die diese neue Epoche der Menschheitsgeschichte zusammenhält. Letzteres ist die deutsche Nation. Für ersteres verwendet Archenholz auf den ersten Blick eher unscheinbare Mittel. Wie oben bereits diskutiert111 markiert er schon auf der ersten Seite seines Vorberichts sein Werk im Vergleich zur militärischen Geschichtsschreibung von Tempelhof auch als »politische und Zivil-Geschichte« des Krieges (GSK, S. 11). Auch wenn der Schwerpunkt auf den militärischen Handlungen liegt, ist die Darstellung von Reflexionen über die politische Situation durchsetzt. Der Historiker beschäftigt sich immer wieder ausführlich mit dem Effekt des Krieges auf die Zivilbevölkerung. Dies wird deutlich in der Darstellung der Effekte von Belagerungen und Bombardierungen der Städte, insbesondere in der Preußischen Belagerung und Bombardierung von Dresden (GDK, S. 299–307), in Reflexionen über die Finanzierung des Krieges (zum Beispiel GDK, S. 47–50, S. 332–338, S. 366–371), über die ›Werbung‹ von neuen Rekruten (GDK, S. 268) und in historischen Exkursen über die Kultur, Wissenschaften und Künste der damaligen Zeit (um 1760). Besonders wichtig für die gezeigte Textstruktur ist Archenholz’ Darstellung von Friedrichs Interesse an Kultur und Künsten (GSK, S. 399–403). Auch wenn Archenholz von Friedrichs Ablehnung der deutschen Künste berichtet, deren Aufleben Mitte des 18. Jahrhunderts Friedrich aufgrund seiner Fixierung auf die franzö111
Siehe V.1.
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sische Kultur nur in Maßen zur Kenntnis nimmt, so ist für Archenholz’ Text entscheidend, dass durch Friedrichs kulturelles Interesse Krieg und Kultur zusammengebracht werden können. Zentral für den Übergang vom Krieg zur Kultur ist der Geniebegriff. Wie bereits gesehen inszeniert Archenholz das Genie Friedrichs in den Schlachten und taktischen Entscheidungen im Krieg als qualitatives Moment, das letztlich die quantitative Überlegenheit von Friedrichs Gegnern übertrifft. Die Entwicklung in Kultur und Wissenschaft wird durch den Geniebegriff zu der im Krieg parallel geführt. Dem bei Friedrich für den Krieg inszenatorisch bewiesenen Genie steht das neu entstehende Genie in den Künsten und Wissenschaften zur Seite.112 Archenholz kennzeichnet hierbei den Übergang vom Gelehrtentum und dem französischen Klassizismus zum Genie. Das Originalgenie ist als Quelle der Kunst anders als die Geschichtsschreibung von der äußeren Natur unabhängig.113 Doch zugleich wird der Geniebegriff in den 1760er Jahren noch eng an rhetorische und poetische Regeln angelehnt,114 womit er letztlich Archenholz’ zwischen Rhetorik und Ästhetik befindlicher Geschichtsschreibung entspricht. Dies wird besonders durch das bereits mehrfach erwähnte, für Archenholz’ Text typische Stilmittel des Vergleichs von Friedrichs Handlungen und strategischen Überlegungen mit denen der Griechen und Römer deutlich. Auf den ersten Blick scheint dies ganz dem Muster der antiken Geschichtsschreibung zu entsprechen, im Sinne exemplarischer Geschichtsschreibung. Die Geschichte gibt das Vorbild zum Handeln der Menschen; es gilt der Topos der ›Historia Magistra Vitae‹, die Archenholz’ Geschichtsschreibung ganz vormodern zu machen scheint. Andererseits überwindet Archenholz die alte Rhetorik durch die Vorstellung des Genies in Krieg und Kultur. Die Inszenierung des Genies Friedrich115 er112
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Für einen historischen Überblick zum Geniebegriff in der deutschen Ästhetik und Literatur, siehe Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur. Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1. Von der Aufklärung bis zum Idealismus. 3. Aufl. Heidelberg 2004. Zum historischen Hintergrund und zur Wortgeschichte des Begriffs ›génie‹ im Französischen, siehe Hubert Sommer: Génie. Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von der Renaissance zur Aufklärung. Hrsg. von Michael Nerlich. Frankfurt a.M. u. a. 1998. Christian Begemann: Der Körper des Autors. Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering. Germanistische Symposien-Berichtsbände 24. Stuttgart/Weimar 2002, S. 44–61, insb. S. 46. Für Lessings Geniebegriff, siehe Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 1, S. 74–95. Zur Inszenierung des ›nationalen‹ Genies von Friedrich dem Großen in der Literatur, siehe Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert. Stuttgart 1982, S. 108–120.
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möglicht es, die Analogie und den Anspruch, aus der Geschichte lernen zu können, zugunsten einer ästhetischen Geschichtsdarstellung zu überschreiten.116 Die Entwicklung der Deutschen wird hymnisch gepriesen: »Nie war bei einem Volk eine Geistes-Revolution schneller und bewundrungswürdiger; nie zeigte sich menschliche Größe in mehr mannigfaltigen Gestalten, als jetzt« (GSK, S. 400). Archenholz nennt Winckelmann, den Astronomen Euler und den Maler Mengs; er führt sich entwickelnde Sparten wie das Recht, die Naturkunde, die Theologie und die Medizin an. Für letztere ist Archenholz’ Erzählung der Veränderung besonders einprägsam: »Die Ärzte hörten auf, bei den Kranken Griechische Gelehrsamkeit zu zeigen, und fingen an, verständlich zu reden und zu schreiben« (GSK, S. 401). Die Dichtung – insbesondere mit den Gewährsleuten Wieland, Klopstock und Lessing – steht über allem.117 Sie garantieren den »National-Ruhm des Deutschen Genie’s bei der Mitwelt« (GSK, S. 401f.).118 Dieses Bild entspricht exakt der zuvor zitierten Aussage, dass nur von Deutschland aus Amerika bzw. die Welt erobert werden kann. Der Übergang von der Gelehrsamkeit zu Genie und verständlichem Schreiben ist genau das, was Archenholz’ Geschichtsschreibung für die Geschichte erreicht. Um 1790 herum wird die Geschichte zum Prozess, sie wird erzählbar, und bei Archenholz wie auch bei Schiller in ihren Notwendigkeiten inszenierbar. Der Geschichtsprozess kann sich vollziehen. Als Ganzes, über die individuellen Kriegsereignisse hinaus, ist dies aber nur möglich, wenn der Krieg auf die Kultur übergreift. Gleichzeitig wird das Deutsche zum Garanten des Fortschritts der Menschheitsgeschichte, die mit dem Krieg zwischen hochzivilisierten Völkern eine neue höchste Epoche erreicht hat. Diese Auffassung Archenholz’ wird besonders im bereits am Anfang dieses Kapitels erwähn116
117
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Dies übersieht Kunisch, wenn er argumentiert, dass Archenholz die Geschichte noch vorwiegend als Lehrmeisterin ansieht (Johann Wilhelm von Archenholz, S. 786). Der rhetorische Vergleich besteht vornehmlich auf der Textoberfläche und wird in der Inszenierung des Geschichtsprozesses überwunden. Zum historischen Kontext von Friedrichs Literaturbegriff, siehe Uwe Steiner: Die Sprache der Gefühle. Der Literaturbegriff Friedrichs des Großen im historischen Kontext. In: Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von Brunhilde Wehinger. Berlin 2005, S. 23–49. Archenholz preist die deutschen Dichter mit Vergleichen zu griechischen und römischen Dichtern. Bei diesem Vergleich ist entscheidend, dass Archenholz nicht von der Nachahmung der Griechen und Römer spricht, sondern von der vergleichbaren Bedeutung. Damit gibt er seiner ›deutschen‹ Epoche des 18. Jahrhunderts im Sinne von Humboldt und dem Historismus etwas Eigenständiges. Die Epoche steht für sich und zumindest zur damaligen Zeit an der höchsten Stelle zivilisatorischen Fortschritts.
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ten Schluss der Geschichte des Siebenjährigen Krieges erkennbar: »Nun fing die große Kultur-Epoche der Deutschen an; ein National-Glück, das durch den Willen des Schicksals von jeher bei den berühmtesten Völkern unter den schrecklichsten Kriegen erzeugt wurde« (GSK, S. 497). Im Vergleich mit den Griechen Alexanders, den Römern Augustus’, dem republikanischen Italien der Medicis und den Franzosen Ludwig XIV. sieht Archenholz den Gipfel der jeweiligen Zivilisationen im Einklang mit deren »Ruhm der kriegerischen Taten« (GSK, S. 498). Kunst bzw. Kultur und Krieg korrespondieren miteinander, wodurch der Krieg einen ganz anderen Stellenwert erhält, als wenn man ihn unter Gesichtspunkten aggressiver Eroberungspolitik oder berechtigter Selbstverteidigung119 betrachtet. Nur weil das Gewinnen eines Krieges nicht als isolierte historische Begebenheit, sondern als historischer Prozess zur Sprache gebracht wird, kann der Krieg Bedeutung für die Zivilisationsentwicklung Deutschlands, Europas und der Welt haben. Hierin liegt die bereits gesehene textuelle Funktion der Schlacht bei Roßbach.120 Obwohl diese Schlacht auch die Niederlage der deutschen Reichstruppen beinhaltete, wird sie bei Archenholz wie in der weiteren Überlieferung zum »National-Triumph« der Deutschen (GSA, S. 115), der die Überlegenheit der deutschen Kultur gegenüber der in der Zivilisationsgeschichte zuvor vorherrschenden französischen Kultur demonstriert. Ein »merkwürdiges Beispiel« (GSK, S. 116), in dem sich die ganze Überlegenheit des zivilisatorischen Prozesses krönt, ist die Episode darüber, wie ein preußischer Reiter einen Franzosen gefangen nehmen will. Hinter ihm taucht ein Österreicher mit dem Schwert über dem Kopf des preußischen Reiters auf, doch auf ein »Bruder Deutscher! […] laß mir den Franzosen« entfernt sich der Österreicher mit einem »Nimm ihn« (GSK, S. 116).121 Die deutsche Kultur, die durch das ganze Buch durch die gesehene Inszenierung von preußischen Werten demonstriert und intensiviert wird, überwindet damit bei Archenholz den Krieg auch unter den Deutschen. Sie schafft die Möglichkeit einer gemeinsamen deutschen Identität und Nation und setzt sich deshalb konsequent zum Ende des Siebenjährigen Krieges durch, womit eine neue Menschheitsepoche eingeleitet wird. Diese Entwicklung geht nach dem Krieg dann vollständig auf die Bereiche der Künste und Wissenschaften über: 119
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Zu dieser Diskussion in der Geschichtswissenschaft, siehe z. B. Kunisch: Friedrich der Große, S. 329–352; sowie zur Kriegsschuldfrage Bringmann: Friedrich der Große, S. 168–170. Siehe V.4. Bei Tempelhof/Lloyd wird diese Episode nicht erwähnt.
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Der durch den beständigen Anblick außerordentlicher Kriegs-Szenen erhöhete Geist der Deutschen nahm jetzt eine andre Richtung, und umspannte das unermeßliche Feld der menschlichen Forschungen. Die Musen, gleich nach ihrer beglückenden Erscheinung auf Deutschlands Fluren durch das Kriegsgetümmel geschreckt, kehrten nun in ihre jetzt ruhigen Wohnsitze zurück, und bemühten sich, das bisher rauhe Leben der Krieger und der Kriegsgenossen durch ihre Töne sanfter zu stimmen. (GSK, S. 498)
Von dieser konsequenten Darstellung der im »erhöhete[n] Geist« der Deutschen sich vollziehenden, fortschreitenden Zivilisation schließt Archenholz sein Buch mit einem scheinbaren Rückfall in die belehrende Geschichtsschreibung ab, die das Prozesshafte und Singuläre des Geschichtsprozesses nicht zu erkennen scheint.122 Archenholz vergleicht den »glücklichsten Erfolg in Germanien« mit dem Höhepunkt des Alten Roms, wo jeweils Krieg, Künste und Wissenschaften gemeinsam »triumphierten« (GSK, S. 498). Im letzten Absatz scheint er diesen rhetorischen Vergleich sogar noch zu verstärken, wenn er den Siebenjährigen Krieg als »eine der denkwürdigsten Weltbegebenheiten« charakterisiert und schließt, dass der Krieg »für die Feldherren, Staatsmänner, und Philosophen, jedes Volk und jedes Zeitalter, lehrreich sein wird« (GSK, S. 498). Dieses Lehrreiche entsteht vornehmlich aus dem Gedanken, dass der Siebenjährige Krieg zahllose Anschauungsbeispiele für Militärs und Politiker bietet, die für konkrete Handlungen in Kriegen und Konflikten von Relevanz sind. Archenholz zeigt aber zugleich in seinem Geschichtstext, dass Geschichte fortschreitet. Der Triumph Preußens bzw. Germaniens, die Entstehung der deutschen Nation aus dem Geiste von Krieg und Kultur,123 ist eben gerade keine Kopie oder Wiederholung der Alten. Gerade deshalb wird der Siebenjährige Krieg als Kampf ausgebildeter Zivilisationen – aus Archenholz’ eurozentrischer Sicht – zu etwas, das alle Kriege der Alten überschreitet. Die Entstehung der deutschen Nation ist etwas Neues im fortschreitenden Prozess der Menschheit, von der nächsten Epoche wiederum zu übertreffen. Ein genaues Lesen aller verwendeten rhetorischen Vergleiche zeigt, dass der Vergleich zu Griechen und Römern – mit Ausnahme einzelner militärischer Techniken wie der schiefen Schlachtordnung von Friedrichs Heer bei Leuthen – von den gegenwärtigen Akteu122
123
Kunisch vertritt diese Auffassung (Johann Wilhelm von Archenholz, S. 786), womit er unterschätzt, dass Archenholz’ Geschichtsbegriff zwar noch von der ›historia magistra vitae‹ geprägt ist, seine Geschichtsdarstellung aber über oberflächliche Geschichtsvergleiche aufgrund der Inszenierung des Geschichtsprozesses hinausgeht. Der Ausdruck »Die Geburt der Nation aus dem Geist des Krieges« stammt von Helmut Scheuer: Die Dichter und ihre Nation – Ein historischer Abriß. Deutschunterricht 42,4 (1990), S. 4–46, hier: S. 16.
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ren nie als Lehre aus der Vergangenheit genutzt wird. Archenholz nutzt diese Vergleiche, auf der Darstellungsebene der Geschichtsschreibung, um zunehmend die Größe der Preußen und die Konsequenz der kriegerischen Entwicklungen hervorzuheben. Wie sich zum Beispiel die römische Epoche zur höchsten Blüte entwickelt hat, so geschieht dies in dieser Erzählung des Siebenjährigen Krieges für die deutsche Kultur. Die Vergleiche belehren nicht mehr, sondern intensivieren den geschichtlichen Prozess. Archenholz’ geschichtsphilosophisches Modell besitzt eine eingeschränkte Zukunftskomponente. Archenholz beschränkt seine Darstellung auf den siebenjährigen Krieg. Die Vergangenheit wird durch die Vergleiche insbesondere mit der Antike in den Geschichtsprozess eingebunden. Die Zukunft wird als blühende Kulturepoche der Deutschen und indirekt der Menschheit stilisiert, doch Archenholz bezieht keinerlei konkrete Entwicklungen der dreißig Jahre zwischen dem Ende des Krieges und dem Verfassen seiner Geschichte mit ein. Damit wirkt die Inszenierung des notwendigen Fortschreitens der Zivilisation zukunftsoffen. Das einzige gegenwärtige Moment, um 1790, das den Text, ohne explizit genannt zu werden, prägt, ist Archenholz’ eigene Geschichtsschreibung und deren neuer Stil. Geschichte wird erzählbar, weil trotz ihrer Zufälligkeit historische Ereignisse als Prozess inszeniert werden können, womit letztlich auch die deutsche Geschichtsschreibung zu den Kriegskünsten, anderen Wissenschaften und bildenden Künsten aufschließen kann.
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VI. Romantische Universalgeschichtsschreibung und das (vorläufige) Ende performativer 1 Geschichtsschreibung um 18001
1.
Das Verhältnis von Poesie, Philosophie und Geschichte
Folgt man der einschlägigen Literatur zur Geschichte der deutschen Geschichtsschreibung scheint es im deutschen Sprachraum im Unterschied zum Beispiel zur französischen Geschichtsschreibung eines Michelet keine romantische Geschichtsschreibung zu geben.2 Präziser gesagt ist auf den ersten Blick keine romantische Realgeschichtsschreibung erkennbar, die sich auf historische Ereignisse, Personen und Handlungen konzentriert. Gerade die deutschen Frühromantiker wie die Brüder Schlegel und Novalis haben sich zwar ausgiebig mit der Geschichte, ihrem sprachund erkenntnistheoretischen Status sowie ihren ästhetischen und hermeneutischen Voraussetzungen beschäftigt, doch ist dies vorwiegend einer Geschichtsphilosophie bzw. Theorie der Geschichte, die oft entweder in Poesie oder in Philosophie aufzugehen scheint, gewidmet. Entsprechend konzentriert sich die Forschung auf die Geschichtsphilosophie und das Geschichtsdenken der deutschen Frühromantiker,3 bei denen Künste und 1
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In diesem Kapitel werden Friedrich Schlegels und August Wilhelm Schlegels Werke mit den folgenden Siglen, ggf. Bandangabe, und Seitenangabe zitiert: KFSA = Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe in 35 Bänden. Hrsg. von Ernst Behler, unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner und anderer Fachgelehrter. Paderborn u. a. 1958ff.; AWSVE = August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über Encyklopädie (1803). Hrsg. von Frank Jolles/Edith Höltenschmidt. In: Kritische Ausgabe der Vorlesungen. Begründet von Ernst Behler und Frank Jolles. Hrsg. von Claudia Becker. Bd. 3. Paderborn u. a. 2006. Zu Michelets Ziel, »das schöpferische Prinzip des menschlichen Gemeinsinns in der Gegenwart wiederzubeleben«, und dessen geschichtsreligiösen Grundlagen, siehe jüngst Philipp Müller: Geschichtsreligion in der historischen Erzählung. Jules Michelets Geschichte der Französischen Revolution. In: Baumeister, Martin/Moritz Föllmer/P. Müller (Hrsg.): Die Kunst der Geschichte. Historiographie, Ästhetik, Erzählung. Göttingen 2009, S. 169–187, hier: S. 186. Siehe insbesondere Klaus Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794– 1808). Ein Beitrag zur politischen Romantik. Tübingen 1984; Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität – Goldenes Zeitalter. Die Geschichtsphilosophie Friedrich Schlegels im Unterschied zu der von Novalis. In: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Hrsg. von Klaus Detlef Müller et al. Tübingen 1988, S. 138–158; Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideenge-
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Wissenschaften zusammenfallen. Der Name der Schlegels taucht in jüngeren Forschungsarbeiten zur deutschsprachigen Geschichtsschreibung wie die im Einleitungskapitel dieser Untersuchung ausgiebig diskutierten Monographien von Fulda und Süßmann nur am Rande auf.4 Und dies geschieht in der Regel, um das geschichtstheoretische Denken des Historismus zu erklären und dann an der Geschichtspraxis Rankes fortzuführen.5 Eine eigenständige romantische Geschichtsschreibung zwischen Aufklärungsgeschichtsschreibung und Historismus ist auf den ersten Blick nicht auszumachen.
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schichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965, insb. S. 305–328; Mario Zanucchi: Novalis – Poesie und Geschichtlichkeit. Die Poetik Friedrich von Hardenbergs. Paderborn u. a. 2006; Edith Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel. Paderborn u. a. 2000; Hans Dierkes: Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchung zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen 1980; Walter Jaeschke: Die durchaus richtige Bestimmung des Begriffs. Zum Geschichtsdenken des frühen Friedrich Schlegel. In: Das neue Licht der Frühromantik. Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie. Hrsg. von Bärbel Frischmann/ Elizabeth Millán-Zaibert. Paderborn u. a. 2009, S. 97–110; Günter Niggl: Die Anfänge der romantischen Literaturgeschichtsschreibung. In: Die deutsche literarische Romantik und die Wissenschaften. Hrsg. von Nicholas Saul. München 1991, S. 265–281. Eine poetologische Untersuchung leistet Gary Handwerk: Beyond Beginnings. Schlegel and Romantic Historiography. In: Idealism without Absolutes. Philosophy and Romantic Culture. Hrsg. von Tilottama Rajan/Arkady Plotnitsky. Albany, NY 2004, S. 93–112. Handwerk konzentriert sich ausgehend vom frühen Friedrich Schlegel vorwiegend auf Schlegels Literaturgeschichte und argumentiert, dass Schlegel versucht, eine Geschichte ohne Anfänge zu definieren, womit er sich von den europäischen Metageschichten des 19. Jahrhunderts, die auf einer Erzählstruktur mit Anfang, Mitte und Ende basieren, absetze (S. 109). Vgl. zur Literaturgeschichtsschreibung der Schlegels und ihrer nationalbildenden, ordnungsstiftenden Funktion auch Jürgen Fohrmann: Literaturgeschichte als Stiftung von Ordnung. Das Konzept der Literaturgeschichte bei Herder, August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In: Kontroversen, alte und neue, Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Hrsg. von Albrecht Schöne. Göttingen 1985. Bd. 11. Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp/Eberhard Lämmert. Tübingen 1986, S. 75–84; siehe hierzu auch Claude D. Conter: Kulturtransfer bei Herder und den Brüdern Schlegel. Eine Herausforderung für die nationale Literaturgeschichtsschreibung. KulturPoetik 10 (2010), S. 25–47. Zum Begriff der Naturgeschichte der Poesie bzw. Kunst bei August Wilhelm Schlegel, siehe Claudia Becker: »Naturgeschichte der Kunst«. August Wilhelm Schlegels ästhetischer Ansatz im Schnittpunkt zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik. München 1998. Auf die universalgeschichtlichen Arbeiten August Wilhelm Schlegels geht Becker allerdings nicht ein. Süßmann: Geschichtsschreibung oder Roman, S. 199–212, bleibt auf die Fragmente und vornehmlich die Literaturgeschichtsschreibung der Brüder Schlegel beschränkt. Zudem diskutiert er für die Schlegels ausschließlich deren Geschichtsbegriff, nicht deren praktische Geschichtsschreibung. Fulda behandelt Friedrich Schlegels Geschichtsbegriff im Rahmen idealistischer Geschichtstheorie und deren Einfluss auf Ranke (Wissenschaft aus Kunst, S. 315–325).
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Doch die theoretischen Aussagen der Frühromantiker scheinen ein performatives Schreiben, wie es in dieser Untersuchung vorgeführt wird, geradezu herauszufordern. Auch sie sind geprägt von der Verschiebung des Geschichtsbegriffs zu einer als ein Ganzes konzipierten Geschichte.6 Das Kontingente und Besondere interessiert, nicht mehr das Exemplarische.7 Konsequenterweise sind auch die Romantiker auf der Suche nach einem Gesetz, das diese ganzheitliche, aber von Zufällen geprägte Geschichte bestimmt.8 Friedrich Schlegel formuliert entsprechend in den Beilagen zu seinem Studiumsaufsatz ›Vom Wert des Studiums der Griechen und der Römer‹ den universalhistorischen Anspruch, einen »Leitfaden der Anordnung a priori für die Universalgeschichte« finden zu wollen, »ohne die Rechte des Verstandes zu beleidigen, oder den Tatsachen der Erfahrung Gewalt anzutun«.9 Wie in allen in diesem Buch untersuchten Texten stellt sich auch hier die Frage, ob Schlegel die Synthese von Theorie und Besonderem, Verstand und Erfahrung durch seine Darstellungsweise oder ausschließlich konzeptuell – damit jenseits aller zufälligen Ereignisse und Strömungen der Realgeschichte – erstellen möchte. Die zweite grundlegende theoretische Prämisse ist auch bei Friedrich Schlegel die Temporalisierung der Geschichte. Im 89. Athenäums-Fragment schreibt er: »Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet« (KFSA 2, S. 176).10 In diesem oft zitierten Fragment steckt der Grundgedanke von Schlegels frühromantischer Geschichtsphilosophie, wonach neue Perspektiven für die eigene Zeit geschaffen werden und Geschichtsdarstellung auf der Verknüpfung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft basiert.11 Allerdings deutet der Begriff des Propheten eine religiöse 6 7 8
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Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 13. Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 14. Der Romantiker sieht statt eines linearen Fortschritts die Hetereogenität des Geschichtlichen (Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 255). Friedrich Schlegel spricht in seiner Auseinandersetzung mit Condorçets Fortschrittsbegriff von der »Ungleichheit der Fortschritte in den verschiedenen Bestandteilen der menschlichen Bildung« ([Über] Esquisse d’un Tableau Historique des Progrès de l’Esprit Humain. Ouvrage Posthume de Condorçet (1795). In: KFSA 7. Studien zur Geschichte und Politik. Hrsg. von Ernst Behler. 1966, S. 3–10, hier: S. 7); siehe hierzu auch Behler: Unendliche Perfektibilität, S. 152–154; sowie Jaeschke: Die durchaus richtige Bestimmung, S. 101. Friedrich Schlegel: Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer (1795–1796). In: KFSA 1. Studien des klassischen Altertums. Hrsg. von Ernst Behler. 1979, S. 621–642, hier: S. 629. Vgl. zu Schlegels ›Leitfaden a priori‹ auch Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 68f. sowie Dierkes: Literaturgeschichte als Kritik, S. 77. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: KFSA 2. Hrsg. von Ernst Behler. 1967, S. 165–255, hier: S. 176. Vgl. auch Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 25f.; S. 71; S. 243f.; S. 256. Für Novalis und sein triadisches Geschichtsverständnis, siehe Mähl: Die Idee des
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Beteiligung und Parteilichkeit an, die zumindest dem wissenschaftlich orientierten Geschichtsschreiber nicht zu Eigen ist.12 Wie schafft es der romantische Historiker diese Zusammenhänge des geschichtlichen Ganzen, der Verzeitlichung sowie der notwendigen Parteilichkeit darzustellen? Zur Beantwortung dieser Frage sei ein kurzer Umweg über Novalis’ geschichtstheoretische Ideen gewählt, da sich dessen Arbeiten als erste bei den Frühromantikern zumindest als poetische Geschichtsschreibung diskutieren lassen. Novalis schreibt im 93. Blüthenstaub-Fragment zur darstellerischen Umsetzung der oben genannten geschichtstheoretischen Ziele: Der Geschichtsschreiber organisirt historische Wesen. Die Data der Geschichte sind die Masse, der der Geschichtsschreiber Form giebt, durch Belebung. Mithin steht auch die Geschichte unter den Grundsätzen der Belebung und Organisazion überhaupt, und bevor nicht diese Grundsätze da sind, giebt es auch keine ächten historischen Kunstgebilde, sondern nichts als hie und da Spuren zufälliger Belebungen, wo unwillkührliches Genie gewaltet hat.13
Der Geschichtsschreiber muss mit den Daten der Geschichte darstellerisch umgehen. Die beiden Prinzipien, die Novalis nennt – Belebung und Organisation – führen dazu, dass ein Geschichtsganzes dargestellt und das Zufällige der Geschichte überwunden werden kann.14 Für Novalis können also erst auf der Ebene der Darstellung zum einen die Ge-
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goldenen Zeitalters, S. 305–328. Siehe zudem Laurie Ruth Johnson: The Art of Recollection in Jena Romanticism. Memory, History, Fiction, and Fragmentation in Texts by Friedrich Schlegel und Novalis. Tübingen 2002. Johnson zeigt, wie Friedrich Schlegel und Novalis durch fragmentarisierte Erinnerungstexte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenbringen (S. 161f.). Johnson konzentriert sich aber letztlich vollends auf theoretische und poetische Fragestellungen, insbesondere auf die Darstellung eines Geschichtsbewusstseins, sodass Fragen nach einer Geschichtsschreibung mit referentiellen Anspruch, die Wirklichkeit darzustellen, von vornherein ausgeblendet werden. Ihre Überlegungen beschränken sich daher vornehmlich auf frühromantische und idealistische Geschichtsmodelle. Siehe VI.4 bezüglich Schlegels Reflexionen zum Standort bzw. zur Perspektive sowie zur Parteilichkeit des Historikers. Novalis: Blüthenstaub-Fragment 93. In: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Bd. 2. Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl. München/Wien 1978, S. 271. Für Novalis theoretische Reflektionen über Zufall, Kontingenz und Wahrscheinlichkeit, siehe Franziska Bomski: Zwischen Mathematik und Märchen. Die Darstellung des Zufalls und ihre erkenntnistheoretische Funktion bei Novalis. In: Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Hrsg. von Astrid Bauereisen/Stephan Pabst/Achim Vesper. Würzburg 2009, S. 163–191. Bomski sieht »eine Theorie der Darstellung« bei Novalis entstehen, die »das poetische Modell als vermittelnde Ebene zwischen phänomenale und transzendente Wirklichkeit schaltet« (Ebd., S. 190).
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schichtsdaten strukturiert werden und zum anderen – für Novalis entscheidend – belebt, also im Sinne eines lebendigen oder dynamischen Organismus zur Anschauung gebracht werden. Von dieser Auffassung her ist es nur konsequent, dass Novalis letztlich den Begriff ›Realgeschichtsschreibung‹ vollkommen auflöst. Bereits die »bloße Geschichte«, also noch nicht systematisierte historische Abläufe, ist durch ihre Musikalität und Plastik gekennzeichnet: HISTORIK. Die bloße Geschichte (Bewegung, Bildung) ist musicalisch und plastisch. Die musicalische Geschichte ist die Philosophie. Die plastische Geschichte ist die Kronick – die Erzählung – die Erfahrung. Jede Materialien Masse ist Kronik – Jede Beschreibung ist Erzählung. Erst dann, wenn der Philosoph, als Orpheus erscheint, ordnet sich das Ganze in regelmäßige gemeine und höhere gebildete, bedeutende Massen – in ächte Wissenschaften zusammen.15
Für Novalis kann also erst der Dichter – personifiziert durch die Figur des Orpheus – die einzelnen historischen Daten, Fakten und Ereignissen so darstellen, dass das Allgemeine der Geschichte zur Anschauung gebracht wird. Der Dichter wirkt als Geschichtsphilosoph und garantiert den Wahrheitsanspruch der Geschichte, weil er das Rhythmische, das die Ordnung in den historischen Einzelheiten schafft, zur Darstellung bringt. Dies wird zum Beispiel in Novalis’ Rede ›Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment‹ (1799) deutlich. Novalis beschreibt hierin die Geschichte als eine »Oszillation, ein Wechsel entgegengesetzter Bewegungen«, deren Stoff von »fortschreitenden, immer mehr sich vergrößernde[n] Evolutionen« geprägt sei.16 Novalis’ eigenes Darstellungsverfahren spiegelt diese theoretische Aussagen: Geschichte wird zu etwas Prozesshaftem, Offenem und Unendlichem. Novalis stellt die offene Zukunft dar: »Eine gewaltige Ahndung der schöpferischen Willkühr, der Grenzenlosigkeit, der unendlichen Mannigfaltigkeit, der heiligen Eigenthümlichkeit und der Allfähigkeit der innern Menschheit scheint überall rege zu werden.«17 Novalis musikalisiert bzw. rhythmisiert seinen Text, sodass das historisch Konkrete – wie geschichtstheoretisch gefordert – zunehmend poetisch entgrenzt wird. Zugleich spiegelt der Stil von Novalis’ Erzähler und Redner den jeweiligen Inhalt der dargestellten Epoche:18 Das Pathos und das 15 16 17 18
Novalis: Das allgemeine Brouillon 2, 461. In: Novalis, Werke II, S. 571. Novalis: Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment. In: Novalis, Werke II, S. 732–750, hier: S. 735. Novalis: Die Christenheit oder Europa, S. 745. Allgemein zur Komplementarität von Stil und Gehalt in ›Die Christenheit oder Europa‹, siehe die rhetorische Analyse der Rede von Ira Kasperowski: Mittelalterrezeption im Werk des Novalis. Tübingen 1994, hier: S. 65–68.
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Hymnische spiegeln die geheimnisvolle Ursprungsepoche, eine klare und argumentative Darstellung reflektiert die scheiternden Epochen der Reformation und Aufklärung, und der durch Bildersprache erzeugte Predigtstil spiegelt den die Rede abschließenden Utopiegedanken wider. Doch Novalis’ Europa-Rede sprengt letztlich durch ihre poetischmusikalische Auffassung den Rahmen von Geschichtsschreibung und schwenkt in Fiktion bzw. in geschichtstheologische Poesie über.19 Ein historiographischer Wahrheitsanspruch im engeren Sinne ist nicht mehr gegeben. Die wenigen Namen wie Luther oder historische Epochen werden abstrahiert, um die geschichtsphilosophische Funktion zu erfüllen. Das Besondere wird zugunsten des Allgemeinen ausgeblendet. Die Performativität, also Darstellung und Inhalt in Einklang zu bringen, führt den Romantiker letztlich anders als in allen in diesem Buch untersuchten Texten von einem außertextuellen Wirklichkeitsanspruch fort. Mit anderen Worten nutzt Novalis seine performative Kompetenz nicht, um Gesetze und 19
Die Novalisforschung hat die Rede vorwiegend unter rhetorischen und ideengeschichtlichen Gesichtspunkten als politische Rede, als poetischen Text, als protestantische Kanzleirede oder einfach als Bestandteil des Novalisschen geschichtsphilosophisch-mystischen Ideengebäudes betrachtet. Eine Ausnahme bildet ein neuerer Aufsatz von Walter Moser, der die Rede als einen narrativen Durchgang durch die Geschichte Europas im Rahmen eines mit der Aufklärung einsetzenden Modernediskurses liest, in dem die utopische Frühromantik auf eine erste große Krise der Modernität reagiert (Novalis’ ›Europa‹. In: Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven. Hrsg. von Daniel Weidner. München 2006, S. 217–233, hier: S. 219f.). Uwe Japp untersucht sowohl die Idee als auch zumindest andeutungsweise das Darstellungsverfahren in den Geschichten der europäischen Literatur beider Schlegels (Die diskursive ›Imagination‹ Europas bei August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Colloquium Helveticum 39 (2008), S. 101–118). Ansonsten vgl. für einen Überblick Dennis F. Mahoney: Friedrich von Hardenberg (Novalis). Stuttgart/Weimar 2001, S. 105–108. Mahoney selbst wählt den Begriff der »romantisierten Religion«. Siehe auch Christoph Schneider: Europa als einheitlich-christlicher Kulturraum. Novalis’ Schrift ›Die Christenheit oder Europa‹ von 1799. In: Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts/Imagining Europe in the 18th Century. Hrsg. von Dominic Eggel/Brunhilde Wehinger. Hannover 2009, S. 169–185, insb. S. 183, der letztlich behauptet, ›Europa‹ sei in Novalis’ Schrift nur von einer untergeordneten Bedeutung. Der poetische Anspruch wird aus dieser realpolitischen Perspektive etwas unterschätzt. Für einen ideengeschichtlichen Kommentar der Rede, die als poetische Konstruktion zum ›ewigen Frieden‹ gelesen wird, siehe Wilfried Malsch: ›Europa‹. Poetische Rede des Novalis. Deutung der französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte. Stuttgart 1965. Kasperowski (Mittelalterrezeption) liefert eine genaue Analyse der historischen Quellen und der rhetorischen Struktur der Rede. Die frühe Novalisforschung war vornehmlich damit beschäftigt, die historische Unzulänglichkeit der Novalisschen Mittelalterdarstellung und ihr Märchenhaftes anzuprangern (vgl. Kasperowski: Mittelalterrezeption, S. 41–43). Johnson argumentiert zu Recht, dass die Rede einen fiktionalisierten Realitätsanspruch verfolgt (The Art of Recollection, S. 128). Auffällig bleibt allerdings, dass sich bis auf Kasperowski und bedingt Moser kaum jemand mit dem Stil und Ton der Rede beschäftigt. Der textuelle Effekt der Rede wird nicht untersucht.
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Ganzheitlichkeit in der Geschichte historiographisch darzustellen, sondern um das Historische poetisch zu überformen und so ihre Gesetzlichkeit auszudrücken bzw. zu symbolisieren. Jedes Besondere der Geschichte wird im frühromantischen Modell letztlich zum Spielball der höher geordneten Poesie, wie es zum Beispiel im Schlegelschen Diktum der »progressive[n] Universalpoesie« (KFSA 2, S. 182) als eine übergeordnete, alle Gattungen vereinende Poesie gefasst wird. Poesie und Wissenschaft kommen assoziativ zusammen.20 Im frühromantischen Geschichtsbegriff fallen die poetische und die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte zusammen. Bei Friedrich Schlegel wird erst ab seiner Einleitung zur ›Geschichte der europäischen Literatur‹ von 1803–0421 eine Trennung von Geschichte und Poesie sichtbar,22 weil Schlegel Künste und Wissenschaften mit besonderer Betonung von der Differenz zwischen Poesie und Philosophie zu unterscheiden beginnt: »Die Poesie vereinigt alle Kunst, die Philosophie ist Wissenschaft aller Wissenschaften. Poesie ist Musik, ist Malerei in Worten; die Philosophie vereinigt den Geist, die Form und Methode aller anderen Wissenschaften« (KFSA 11, S. 10). Aufgrund dieser Trennung von Künsten und Wissenschaften kann auch die Geschichte als etwas Eigenständiges wahrgenommen werden. Klaus Behrens argumentiert, dass sich hierdurch Schlegels Geschichtsbegriff von der prognostizierten Zukunft bzw. Fortschritt auf die Vergangenheit verschiebt.23 Die Ordnungsprinzi20
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Siehe zum frühromantischen Ziel einer erstrebten Synthese von Kunst und Wissenschaft die Untersuchung frühromantischer Sprachtheorie von Jochen A. Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin/New York 1999, S. 275–289. Bär macht diese Synthese, die ihre »spezifische Individualität« bewahrt (Ebd., S. 307), allen voran am Konzept der frühromantischen dialogischen Enzyklopädie fest (Ebd., S. 291f.). Jonas Maatsch bezeichnet dies mit dem Ausdruck »Enzyklopädie als lebendige Entwicklung« (»Naturgeschichte der Philosopheme«. Frühromantische Wissensformen im Kontext. Heidelberg 2008, S. 103). Zum Enzyklopädiebegriff der Romantik im Zusammenhang von August Wilhelm Schlegels ›Vorlesungen über Encyklopädie‹, siehe auch VI.3.2. Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur (1803–1804). In: KFSA 11. Wissenschaft der Europäischen Literatur. Vorlesungen, Aufsätze und Fragmente aus der Zeit von 1795–1804. Hrsg. von Ernst Behler. 1958, S. 1–185. Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 224; vgl. auch Handwerk: Beyond Beginnings, S. 101, der sich allerdings auf Schlegels Literaturgeschichtsbegriff konzentriert. Sowohl Handwerk (Ebd., S. 103) als auch Matthias Schöning (Im Zeichen Europas. Friedrich Schlegels topographische Neuordnung seines Denkens. Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 18 (2008), S. 123–138, hier: S. 134f.) deuten eine Verschiebung von einem genetischen Ganzheitsdenken des Frühromantikers zu einer klassifikatorischen Erfassung von nach Sprachen unterschiedenen Literaturen an. Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 224f. Hiermit setzt sich Schlegel wiederum – wie schon 1795 – von Condorçets Fortschrittsdenken ab.
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pien einer heterogenen Geschichte werden nun besonders bedeutsam.24 Was die ideengeschichtliche Arbeit von Behrens nicht beantworten kann, ist, was dies für die Darstellung und Inszenierung von Geschichte bedeutet. Was passiert mit dem performativen Element der Geschichte, wenn die Vergangenheit stärker im Vordergrund steht? Diesem soll an den praktischen historiographischen Umsetzungen von Friedrich und August Wilhelm Schlegel nachgegangen werden: zuerst als philosophischem Reisebericht in Friedrich Schlegels ›Reise nach Frankreich‹ (1803), dann in der Universalgeschichtsschreibung beider Schlegels – Friedrich Schlegels ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ (1805–06) und August Wilhelm Schlegels Berliner ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ (1803) – sowie abschließend in Friedrich Schlegels politischer Realgeschichtsschreibung, in den Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹ (1810–11). Die Verschiebung vom philosophischen Reisebericht über die Universalgeschichte zur Realgeschichtsschreibung entspricht dabei dem Verlauf dieser Untersuchung von Forster über Herder zu Schiller und Archenholz. Die Schlegels können die historiographische Entwicklung bzw. die Facetten der Inszenierungen von Geschichte widerspiegeln und zugleich die Schnittpunkte zeigen, an denen eine historiographische Inszenierung von Geschichte möglich bzw. nicht mehr möglich ist.
2.
Imaginäre Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Friedrich Schlegels ›Reise nach Frankreich‹
Um 1803 beginnt also die Geschichte im romantischen Denken der Schlegels einen stärker eigenständigen Wert jenseits von übergreifender Philosophie und Poesie zu erhalten. Genau an dieser Kippstelle nutzt Friedrich Schlegel ganz im Sinne von Forsters oben im zweiten Kapitel untersuchter Zivilisationsgeschichtsschreibung eine Reisedarstellung, um Geschichte in universaler Bedeutung performativ zu erschreiben. Friedrich Schlegels philosophische Reisebeschreibung ›Reise nach Frankreich‹25 leitete 1803 den ersten Band der von Schlegel begründeten und in Paris herausgegebenen Zeitschrift ›Europa‹ ein.26 Schlegel hatte den Text im 24 25 26
Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 224. Friedrich Schlegel: Reise nach Frankreich. In: KFSA 7, S. 56–79. Siehe den Kommentar von Ernst Behler. KFSA 7, S. XXXIX. Vgl. auch Behrens zum auf das Verhältnis Europa – Orient erweiterten geschichtsphilosophischen Kontext (Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 171–185); sowie zum Verhältnis von Europa und Moderne in Schlegels Zeitschriftenprojekt Leonhard Herrmann: Transzendentale Histo-
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Sommer und Herbst 1802 geschrieben. Die Reise führte Schlegel von Dresden über Meißen, Leipzig, Weimar, Eisenach, Frankfurt, zum Rhein und dann von Mainz über Metz nach Paris. Die tatsächliche Reise fand zwischen Januar und Sommer 1802 statt.27 Es handelt sich bei der ›Reise nach Frankreich‹ auf den ersten Blick nicht um Geschichtsschreibung, sondern um einen philosophischen Reisebericht.28 Bei genauerem Hinsehen wird aber deutlich, dass der Text genau vorführt, wie die Romantiker nach ihren poetischen und philosophischen Maßstäben Geschichte erzählen konnten. Anders als Novalis’ Mythologisierung und Poetisierung, die jedes Reale zum Teil des Poetischen macht, kreiert Friedrich Schlegel eine anti-erzählerische Darstellung, die zuerst einmal verstärkt auf eine imaginative Erschließung eines Raumes setzt.29 Entsprechend beginnt Schlegel seine Darstellung mit den Worten: Der Augenblick stand mir noch oft lebhaft vor Augen, in welchem wir von dem Dome zu Meißen auf die Elbe und das romantische Tal heruntersahen, das mir so teuer ist, weil ich hier zuerst die Natur in schönerer Gestalt sahe, und mehr als einmal nach einem Zwischenraum von mehrern Jahren dieselbe geliebte Gegend voll von Erinnerung und doch mit dem frischen Reiz eines neuen Eindrucks wieder sahe. (KFSA 7, S. 56)
Schlegel scheint zuerst den gegenwärtigen Reiseeindruck zu beschreiben; doch der zweite Teil des Zitats verdeutlicht, dass der gegenwärtige Ein-
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riografien. Europa als geschichtliches Deutungsmuster in der Romantik. In: Europavorstellungen des 18. Jahrhunderts/Imagining Europe in the 18th Century. Hrsg. von Dominic Eggel/Brunhilde Wehinger. Hannover 2009, S. 187–204, insb. S. 193–196. Siehe Behler in KFSA 7, S. XL. Dierkes sieht zurzeit von Schlegels Paris-Aufenthalt dessen Loslösung von der progressiven Universalhistorie zu einer erweiterten geschichtsphilosophischen Perspektive (Literaturgeschichte als Kritik, S. 288). Zu Schlegels Betonung des Raumes in seinen an Europa interessierten Texten, siehe Meike Steiger: Eine »Große Karte« Europas. Friedrich Schlegels Reise-, Literatur- und Kunstbeschreibungen um 1800. In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hrsg. von Hartmut Böhme. Germanistische SymposienBerichtsbände. Bd. 27. Stuttgart/Weimar 2005, S. 313–327. Steiger zeigt Schlegels unterschiedliche Strategien der Abschließung gegen die reale Welt in dessen Reise-, Kunstund Literaturbeschreibungen. Dadurch werde unmittelbare Sinnlichkeit »durch die Imagination gemeinschaftsbildender Emotionsräume wie ›Europa‹ und ›Nation‹ substituiert« (Ebd., S. 314f.). Von Steiger abgesehen lesen die meisten Interpreten die ›Reise nach Frankreich‹ vornehmlich als programmatischen Text, in dem das untergegangene Europa beklagt und eine neue Einheit Europas unter deutscher Führung gefordert wird, so z. B. Hans-Joachim Hahn: Schlegels ›Europa‹-Denken. Germanität zwischen Frankreich und Indien. Jahrbuch für Internationale Germanistik 40,1 (2008), S. 93–104, insb. S. 100–103; sowie Jure Zovko: Zwischen Moderne und Tradition. Schlegels Europa-Idee. Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 18 (2008), S. 139–149, hier: S. 147.
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druck nur deshalb so wertgeschätzt wird, weil sich das Reisesubjekt an einen vorherigen Eindruck derselben Landschaftsszene erinnert. Es ist das Wiederbeleben vergangener Impressionen, keine reine Naturerfahrung der Gegenwart.30 Liest man dann den ersten Satz noch einmal, in dem Schlegel das ästhetische Konzept des ›Vor-Augen-Stellen‹31 zitiert, wird deutlich, dass die Vorstellung der Natur und der Anblick des Meißener Doms von vornherein durch die Imagination geleitet, also von Schlegel als ästhetisches Produkt präsentiert werden. Die zweite Hälfte des ersten Absatzes über Dresden ist dann völlig dem Vergangenem gewidmet, das Reisesubjekt ›Schlegel‹ erinnert sich an seine Studien der Kunstwerke des Altertums; zugleich wird diese Erinnerung prägend für alles, was zwischen dieser Zeit und der Wiederkehr nach Dresden passiert ist: »und da lebte ich oft und noch zuletzt die glücklichsten Tage unter Menschen, bei denen ich mich einheimischer fühle, als bei allen andern« (KFSA 7, S. 56). Schlegels Geschichtsmodell in der ›Reise nach Frankreich‹ basiert auf Erinnerungsdenkmälern, nicht auf Geschichtserzählung, die Fakten versprachlicht.32 Zuerst einmal macht Schlegel die Reisebeschreibung selbst zum Denkmal: »[I]ch möchte Dir ein kleines Denkmal einer Reise geben […]« (KFSA 7, S. 56).33 Schlegel nutzt hier die Bedeutung des Denkmals im weiteren Sinne, wonach jedes Zeugnis der kulturellen Entwicklung ein Denkmal für die Vergangenheit sei.34 Der Reisebericht stellt also die Reise monumentalisch zur Schau. Neben dem Reisebericht als Denkmal gibt es in der ›Reise nach Frankreich‹ – wie bereits in Schlegel Darstellung des Meißener Doms gesehen – zahlreiche wirkliche Denkmäler bzw. Erinnerungsorte,35 die das Reisesubjekt während seiner Reise sieht und zur An30 31
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Vgl. auch Steiger: Friedrich Schlegel, S. 317. Zur Geschichte und Theorie des rhetorischen Konzeptes des Vor-Augen-Stellens, siehe Rüdiger Campe: Vor Augen Stellen. Über den Rahmen historischer Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Gerhard Neumann. Germanistische-Symposien-Berichtsbände. Bd. 18. Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225. Campe sieht in der Kritik der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert eine moderne Ästhetik und Literatur – als Rhetorik der Rhetorik – entstehen. Auch bei Friedrich Schlegel lässt sich im Sinne von Campes Beobachtungen zeigen, dass das Konzept der humanistischen Rhetorik Teil einer ästhetischen Textbewegung ist. Allgemein zu romantischer Erinnerung in Bezug auf Geschichtsdarstellung, siehe Johnson: The Art of Recollection. Formal ist die Reise an Tieck adressiert (KFSA 7, S. XL). Peter Springer: Denkmalsrhetorik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 527–536, hier: Sp. 527. Der Begriff ›Erinnerungsorte‹ wird in der Mentalitäten- und Gedächtnisgeschichte als Metapher für materielle und immaterielle Gedenkstätten, Symbole und Texte der großen Erinnerung eines Kollektivs, oft einer Nation, verwandt. Erinnerungsorte besitzen einen Überfluss an symbolischer Bedeutung und halten ein kollektives Bewusstsein im Netz
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regung seiner Einbildungskraft nutzt. Dies entspricht der Bedeutung von Denkmal im engeren Sinne als ein für die Dauer bestimmtes Werk.36 Mit Hilfe von Nietzsches Überlegungen in ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie‹ für das Leben lässt sich das Konzept vom Denkmal in Schlegels Reisebericht auf die Geschichtsschreibung übertragen. Nach Nietzsche fungiert monumentalische Geschichtsschreibung durch Analogien und »verführerische Aehnlichkeiten«,37 die es ermöglichen, die Gegenwart mit dem monumentalen Vergangenen zu vergleichen. Gleichheit dominiert das Ungleiche oder Neue. Geschichtsschreibung bezieht dabei ihre Autorität aus dem Vergangenen.38 Das Denkmal ist bei Nietzsche als Modus von Geschichtsschreibung anti-narrativ, weil es nicht auf temporale Strukturen wie Anfang und Ende angewiesen ist, sondern auf ein Modell und die Möglichkeit von dessen Wiederholung. Schlegel geht jedoch über Nietzsches Modell hinaus und kann auf einer zweiten, die Verräumlichung überschreitenden Ebene historische Prozesse ausdrücken, weil er durch das Reisesubjekt, das die Vergangenheit in Erinnerungsorten und -denkmälern erlebt, den Betrachter in die Darstellung einbeziehen kann. Dieser verbindet Gegenwart und Vergangenheit über eine analoge Struktur hinaus. Das erste Denkmal, das explizit historisch fungiert, also nicht nur auf die persönliche, subjektive Vergangenheit des Reisesubjekts verweist, ist die Wartburg bei Eisenach. Wieder beginnt das Subjekt mit der real-gegenwärtigen Natur und Landschaft, bevor eine Verschiebung zur deutschen Vergangenheit vollzogen wird. Das Subjekt räumt ein: »aber weder von der einen [der Wartburg] noch von dem andern [dem Rhein] wirst Du eine geographische Beschreibung von mir erwarten […]. Ich kann nur von den Betrachtungen und von den Empfindungen reden, die sie in mir erregt haben« (KFSA 7, S. 58). Und diese Empfindungen führen dann zur subjektiven Geschichte, in der das Reisesubjekt impressionistisch die Größe der (deutschen) Vergangenheit wieder zu erfahren in der Lage ist:
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von Erinnerungsfäden zusammen, siehe Etienne François/Hagen Schulze: Einleitung. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hrsg. von E. François/H. Schulze. 4. Aufl. Bd. 1. München 2002, S. 9–24, hier: S. 15–18. Springer: Denkmalsrhetorik, Sp. 527f. Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgi Colli/Mazzino Montinari. München 1988, S. 243–334, hier: S. 262. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil, S. 264.
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Wenn man solche Gegenstände sieht, so kann man nicht umhin, sich zu erinnern, was die Deutschen ehedem waren, da der Mann noch ein Vaterland hatte. Man fühlt es recht und glaubt es zu verstehen, beim Anblick solcher Felsenschlösser, wie die Wartburg, warum die Alten auf den Höhen des Landes in ihren Burgen lebten und welche Lebensfreude damit verbunden war. (KFSA 7, S. 58).
Schlegel beginnt hier objektivierende Geschichte und subjektive Erinnerung miteinander zu verschmelzen. Die Größe der deutschen Vergangenheit ist die historische These, die jedoch nur durch die subjektiven Empfindungen eingeholt werden kann, wodurch Gegenwart und Vergangenheit zusammenkommen.39 Das mittelalterliche vergangene Leben wird dann in einem beschreibenden Gedicht erfasst: »Auf Berges Höhen / Da wohnten die Alten, / Die Alten, die Ritter des herrlichen Landes« (KFSA 7, S. 58, 1–3). Im Mittelpunkt steht exemplarisch für alle ›Männer‹ ein die Naturzyklen und die Kultur erlebender Mann. Nach dem Lied fährt das Reisesubjekt elegisch fort: »Diese Poesie ist nun verschwunden und auch die Tugend, die mit derselben verschwistert war« (KFSA 7, S. 60). Die Geduld sei zur ersten Nationaltugend geworden. Schlegel verwendet einen unscheinbar wirkenden Trick, um die Größe der deutschen Vergangenheit zu kreieren. Statt über den Verlust der alten Zeiten selbst zu lamentieren, klagt sein Reisesubjekt darüber, dass die Poesie, die Lieder über die alte Zeit verloren gegangen seien. Damit wird aus historiographischer Sicht für das Subjekt bewirkt, dass nicht das Vergangene selbst, sondern diese Lieder im Augenblick der Anschauung der Erinnerungsorte wiederbelebt werden. Diese Technik ermöglicht dann den nächsten Schritt, die Darstellung historischer Realität: Aber was uns betrifft, so wollen wir festhalten an dem Bilde oder vielmehr an der Wahrheit jener großen Zeiten, und uns nicht verwirren lassen durch die gegenwärtige Armseligkeit, unter welcher dieses Volk nicht weniger erliegt, wie andre minder bedeutende. Vielleicht wird der schlummernde Löwe noch einmal erwachen und vielleicht wird, wenn wir es auch nicht mehr erleben sollten, die künftige Weltgeschichte noch voll sein von den Taten der Deutschen. (KFSA 7, S. 61) 39
Diese These unterscheidet sich von Steiger, die einerseits auch eine performative Qualität von Schlegels Sprache in der ›Reise nach Frankreich‹ erkennt, aber diese ausschließlich räumlich als »Reflexions- und Emotionsraum« und als »mental map von ›Europa‹« beschreibt (Steiger: Friedrich Schlegel, S. 319f.). Ihr entgeht damit, wie Schlegel das Zeitliche einer geschichtsphilosophischen Bewegung auf dem Umweg des Raumes wieder in die Darstellung einbringt.
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Der Verlust der Vergangenheit ist genau das, was Schlegels universalgeschichtlichen Ansatz praktisch ermöglicht. Die wiederbelebte Poesie begründet die Verbindung zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Wenn die Poesie wiederbelebt wird, wird auch die große Vergangenheit der Deutschen als reale, auf die Zukunft gewandte Geschichte wieder möglich. Somit unterscheidet sich Schlegels Begriff eines Denkmals der Geschichtsschreibung auch von Nietzsches monumentaler Geschichtsschreibung, da Schlegel das Denkmal verwendet, um in seinem Reisebericht ein reales und dynamisches Denkmal40 zu kreieren. Es ist gerade nicht die ausschließliche Wiederbelebung des Vergangenen. Das zweite Gedicht in Schlegels ›Reise nach Frankreich‹ ist eine Hymne auf den Rhein, dessen geographischen Gegebenheiten für Schlegel wiederum keine Rolle spielen. Das Reisesubjekt kommt an den Rhein, der zwei historiographische Funktionen erfüllt. Einerseits ist er ein Speicher von Erinnerungen, insbesondere von dem, was verloren und »schweigend« betrauert wird: »Die Felsen, so die Ritter sich erkoren, / Schweigend dunkle Klagen trauren, / Noch zerstückt die alten Mauern / Traurig aus dem Wasser ragen, / Wo in alter Vorzeit Tagen / Hohe Helden mutig lebten« (KFSA 7, S. 63, 5–10). Andererseits ist der Rhein der Ort der Trauer für das Reisesubjekt. Die Lieder, die im Rhein versunken waren, erwachen im Herzen des Reisenden wieder: »Wo ich wandre, wo ich weile, / Glühen Männer, blühen Lieder / Und ich fühle wohl Vertrauen, / Auf des Herzensfels zu bauen, […] Alles aus dem eignen Herzen / Wo die Lieder all verschlungen / Alle Herzen wiederklungen, / Hohe Freunde dann verbündet, / So der Freude Reich gegründet« (KFSA 7, S. 64, 45–48, 54–58). Hinzu kommt die Funktion des Rheins als Grenze, zwischen Deutschland und Frankreich in der Realität, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Reiseerzählung. Im zweiten Teil der ›Reise nach Frankreich‹ – ›Bemerkungen‹ – reflektiert das Reisesubjekt über den Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich auf der Reise jenseits des Rheins. Hierbei löst es sich wiederum von den konkreten Reiseerfahrungen und behandelt die allgemeinen Eigenschaften des französischen Charakters.41 Dabei stellt das Reisesubjekt besonders die Universalität der französischen Nation, die letztlich die »ganz individuelle Bildung der 40
41
Hier schließt Schlegel an die Dimensionen einer Denkmalsrhetorik an, die immer auch neben der memorialen Funktion eine appellative Funktion erfüllt, also eine Art Zukunftsappell ausdrückt (vgl. Sprenger: Denkmalsrhetorik, Sp. 528). Siehe auch Steiger (Friedrich Schlegel, S. 318) dazu, wie Schlegel, statt einzelne Menschen darzustellen, ausschließlich am abstrahierten Kollektiv interessiert ist.
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Deutschen« so zu ergänzen scheint, dass »alle Verschiedenheit […] fast gänzlich unsichtbar werden muß« (KFSA 7, S. 67). Den Franzosen fehle die Phantasie, deshalb müssten ihre Sinne »unaufhörlich beschäftigt werden« (KFSA 7, S. 70). Wenn das Reisesubjekt Metz und die alten Viertel in Paris beschreibt, wählt es eine räumliche Darstellung: Man sieht »Boutique an Boutique in allen Straßen, und kaum ist ein Haus davon ausgenommen; alles scheint ein Gewerbe zu sein, alles geschieht auf der Straße, oder ist nach der Straße zu ausgestellt, und das Leben scheint aufgelöst in ein allgemeines Kaufen und Verkaufen, Verzehren und Zubereiten« (KFSA 7, S. 69). Schlegel beschreibt ein »seltsames Gedränge nicht bloß von Menschen sondern auch von Gerüchen und dann wieder von Erscheinungen für das Auge erzeugt« (KFSA 7, S. 69). Doch wie bereits zuvor gesehen, ist es ja gerade die Phantasie, die Einbildungskraft, die es dem Reisesubjekt ermöglicht, in die Vergangenheit zu reisen, und den Kontakt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herzustellen. Damit schafft die Reise des den Rhein überschreitenden Subjekts letztlich nicht nur die Temporalisierung der Zeiten, sondern auch die Synthese von Deutschem und Französischem in einer Idee von Europa, wie im dritten Abschnitt der ›Reise nach Frankreich‹ deutlich werden wird. Zum Ende des zweiten Abschnitts stellt das Reisesubjekt das neue, moderne Paris dar. Auf der einen Seite dominieren die visuellen und Geruchseindrücke; es ist alles Sinneswahrnehmung. Der Mangel an Phantasie im alten Paris indiziert den Zustand der gegenwärtigen europäischen Kultur. Sie braucht die Beschäftigung der Sinne, das Schauspiel. Doch nur wenige Straßenzüge entfernt vom lauten und geschäftigen Getümmel finden sich wie auf einem einsamen Landsitz Eleganz, Bequemlichkeit und Ruhe (KFSA 7, S. 69). In diesen ruhigen Teilen von Paris dominiert die Architektur, die im Stile von Musik die Einbildungskraft bestimmt: »dessen Architektur durch einen großen Stil unser Gemüt heiter und erhaben stimmte« (KFSA 7, S. 69). Schlegel wiederholt damit in der Dichotomie des alten und neuen Paris den Kontrast von deutschem und französischem Charakter. Dieser Kontrast in den Räumen der französischen Städte kann nun mit der Phantasie, mit den Vorstellungen aus der deutschen Vergangenheit gefüllt werden. Hierdurch entsteht im dritten Teil der ›Reise nach Frankreich‹ – ›Betrachtungen‹ – die Möglichkeit, die utopische Idee eines zukünftigen Europas,42 die in der modernen Architektur 42
Vgl. Herrmann für die allgemeine These, dass die Geschichtsschreibung der Romantik dem von Differenzen gezeichneten empirischen Europa der Gegenwart ein transzendentales Europa entgegenstelle (Europa als geschichtliches Deutungsmuster, S. 201).
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von Paris widergespiegelt wird, auszudrücken. Der Reisende ist in diesem Teil verschwunden. Der Leser hört die Stimme des Philosophen, der ein neues, »eigentliche[s] Europa« (KFSA 7, S. 78), das erst noch entstehen muss, imaginiert.43 Das nördliche Europa als Synthese von Deutschland und Frankreich stellt die Zukunft der Menschheit dar, und diese universale Zukunft liegt in der Geschichte begründet.44 Schlegels Darstellungsstrategie kann daher in Bezug auf die Europa-Idee wie folgt zusammengefasst werden: Das alte Europa ist völlig zerstört. Weil es nicht mehr in der historischen Realität existiert, sondern nur noch in Erinnerungsorten bzw. Denkmälern, kann das Reisesubjekt die Ruinen des Vergangenen45 durch Lieder, die es selbst schreibt und rezitiert, wiederbeleben. Dieser Prozess ermöglicht die Verbindung der beiden im Zentrum Europas gelegenen Nationen Deutschland und Frankreich. Daher wird das Reisesubjekt im dritten Teil der ›Reise nach Frankreich‹ zum philosophischen Subjekt, das in der Lage ist, über das heutige, gegenwärtige Frankreich zu schreiben und Visionen für die Zukunft Europas darzustellen. Romantische Universalgeschichtsschreibung wird also möglich, weil die Geschichte nicht erzählt, sondern aus Ruinen und räumlichen Darstellungen entsteht. Die Verräumlichung kann genutzt werden, eine Landkarte von der deutschen Vergangenheit zur französischen Gegenwart zu zeichnen. Dies wiederum ermöglicht das philosophische Argument und die offene Vorhersage der universalgeschichtlichen Zukunft Europas und garantiert damit den allgemeinen Verlauf der Geschichte. Einerseits kann man Friedrich Schlegels Zweischritt von einer Verräumlichung, die eine erneute Verzeitlichung ermöglicht, parallel zu Georg Forsters Inszenierung von Zivilisationsgeschichte in der ›Reise um die Welt‹ lesen. Doch zugleich hat in den gut 25 Jahren, die zwischen den beiden Texten liegen, eine Verlagerung von der empirischen Beobachtung, von Natur und Kultur, zur nur von der Empirie angestoßenen Einbildungskraft stattgefunden. Zwar wird der Geschichtsprozess zwischen 43
44
45
Vgl. Behler in KFSA 20, S. VVIX–XXXIV, zur ›Reise nach Frankreich‹ und den Fragmenten ›Zur Geschichte und Politik bis zum Jahre 1813‹. Dem zersplitterten realen Europa wird eine europäische Vision entgegengesetzt. Siehe u. a. Friedrich Schlegels Argumentation, dass Europa geographisch wandelbar und eine »Idee« sei (Fragmente ›Zur Oesterreichischen Geschichte I. 1807‹. 188. Fragment. In: KFSA 20. Fragmente zur Geschichte und Politik. Erster Teil. Hrsg. von Ernst Behler. 1995, S. 135). Harro Zimmermann sieht in seiner Schlegel-Biographie hingegen nur die Frankreichkritik (Friedrich Schlegel oder die Sehnsucht nach Deutschland. Paderborn u. a. 2009, S. 188–194), übersieht also die imaginäre Synthese, da er sich nicht mit Schlegels Darstellungsprinzipien beschäftigt. Zur Fragmentarität des Erinnerten, siehe auch Steiger: Friedrich Schlegel, S. 321.
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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der ›Reise nach Frankreich‹ ebenso inszeniert wie in der ›Reise um die Welt‹, doch die bei Forster bestehende dauerhafte Spannung zwischen Subjekt und Objekt wird bei Friedrich Schlegel zugunsten einer imaginären Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlagert. Damit stellt sich umso mehr die Frage, was passiert, wenn der Romantiker die Rolle der Einbildungskraft weiter reduziert und das Geschichtsobjekt und den Wirklichkeitsanspruch der Geschichte stärker betont. Kann er dann immer noch performativ Geschichtsprozesse darstellen?
3.
Romantische Universalgeschichtsschreibung bei Friedrich und August Wilhelm Schlegel
Die universalgeschichtlichen Versuche beider Schlegels sind – ebenso wie oben bei Forster und insbesondere bei Herder46 gesehen – von der Aufgabe geprägt, das notwendig Allgemeine von Universalgeschichtsschreibung bzw. Geschichtsphilosophie mit dem Realen und Erfahrungshaften von Geschichte zu verbinden und die Spannung zwischen Philosophie und Geschichte, zwischen Allgemeinem und Besonderem zu versprachlichen. Einerseits scheint die Universalgeschichte aufgrund ihrer Hybridität, sowohl der Geschichte als der Philosophie anzugehören, das geeignete Genre, um diese Aufgabe zu bewältigen. Andererseits muss die Universalgeschichte immer der Herausforderung begegnen, dass der Universalhistoriker unmöglich ein eigenständiges und kritisches Studium der Dokumente und Ereignisse aus allen so unterschiedlichen Zeiten und Kulturen vornehmen kann. Friedrich Schlegel reflektiert, ähnlich zu der bereits in der ›Reise nach Frankreich‹ gesehenen Abstrahierung vom Einzelnen und Konkreten der Nationalcharaktere und von geographischen Begebenheiten, dass die Universalgeschichte nur Resultate aufzeigen kann. Sie stellt also nur die allgemeinen politischen und moralischen Verhältnisse einer Kultur, nicht ihre konkreten Sitten und Taten dar.47 Der Universalhistoriker muss einige Begebenheiten und Fakten aus einer unendlichen Menge herauslösen, um damit Abläufe oder andere Formen 46
47
Zu einem Vergleich der Schreibstile von Herder und den Brüdern Schlegel, siehe auch Stephan Jaeger: Schreibstile. Herders ›Ideen‹ in den historiographischen und universalhistorischen Vorlesungen der Gebrüder Schlegel. In: Herder und seine Wirkung/Herder and His Impact. Hrsg. von Michael Maurer. Heidelberg, im Druck. Friedrich Schlegel: Vorlesungen über Universalgeschichte (1805–06). In: KFSA 14. Hrsg. von Jean-Jacques Anstett. 1960, S. 85.
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von Sinn auszudrücken. Hingegen dienen in der Philosophie der Geschichte Ereignisse nur zur Illustration oder zur Rechtfertigung von Gesetzen. Sie ist also deduktiv und exemplarisch; erst für die Universalgeschichte entsteht die Spannung zwischen realen historischen Begebenheiten und dem Plan bzw. den allgemeinen Gesetzen, nach denen die Geschichte verläuft.48 Theoretisch besteht für die Philosophie der Geschichte also eher eine argumentative und organisatorische Herausforderung in der Geschichtsdarstellung. Für die Universalgeschichte geht es hingegen darum, wie die Spannung (oder sogar der Widerspruch) zwischen Plan und historischen Ereignissen überwunden werden kann. Was passiert also in der Darstellungsweise der Universalgeschichte bei den Brüdern Schlegel? Dieser Frage soll im Folgenden an Friedrich Schlegels Kölner Privatvorlesungen ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ (1805–06)49 und August Wilhelm Schlegels Berliner ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ (1803) nachgegangen werden. 3.1.
Friedrich Schlegels ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹
Friedrich Schlegel markiert in seinen ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ in der ›Prolegomena‹ die Unterscheidung zwischen universeller und spezieller Geschichte. Letzterer fehle der Zusammenhang (KFSA 14, S. 4). Die bisherigen Überlegungen zur performativen Geschichtsschreibung lassen darauf schließen, dass dieser Zusammenhang entsprechend der Vorstellungen einer ›progressiven Universalpoesie‹ durch Poesie, als mit Hilfe ästhetischer Darstellung gelingen könnte. Wenn Schlegel zugleich einen referentiellen Wahrheitsanspruch auf eine historische Wirklichkeit außerhalb seines Textes beibehielte, dann würde Geschichte performativ inszeniert werden. Doch zumindest Schlegels theoretische Vorgabe scheint diesem zu widersprechen: Das eigentlich Unterscheidende zwischen der Universalgeschichte und der Spezialgeschichte ist also die Wissenschaftlichkeit der ersteren, welche der schönen Form der Darstellung des einzelnen historischen Kunstwerks widerspricht, eine solche nicht zuläßt. Die spezielle Geschichte ist rein historisch, ist die eigentliche Geschichte; die Universalgeschichte ist aber eine philosophische Geschichte. (KFSA 14, S. 4f.) 48 49
Vgl. Anstett in: KFSA 14, S. XIX. Anstett geht davon aus, dass das von Sulpiz Boisserée auf Notizenbasis erstellte Manuskript einer privaten Vorlesung Schlegels entstammt, dieser aber parallel eine öffentliche Vorlesung gegeben habe (KFSA 14, S. XI–XVII).
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Die Philosophie wird zur höchsten Disziplin erhoben. Die Poesie wird damit – entgegen der frühromantischen Programmatik – herabgestuft. Die ›schöne Form der Darstellung‹ kann also genutzt werden, um einzelne historische Ereignisse anschaulich oder interessant darzustellen, das Universalgeschichtliche wird aber nicht mehr durch die Darstellung sondern durch den philosophischen Gedanken garantiert. Somit überwiegen die epistemologische Dimension und die logische Schlussfolgerung. Die ästhetische Wirkung auf den Leser kann hingegen nur das Besondere der speziellen Geschichte, nicht aber das Allgemeine der Universalgeschichte garantieren. Das poetische Modell der Frühromantik, wie oben bei Novalis und in Schlegels Vorstellung einer alles vereinigenden Gattung gesehen, scheint aufgegeben. Ein klassifikatorisches scheint ein genetisches Ordnungssystem zu ersetzen. Strukturell entwickelt Friedrich Schlegel ein spiralförmiges Ursprungsund Unendlichkeitsmodell für Kulturepochen, das mit sieben Perioden auf dem Schlüsseltext der ›Offenbarung‹ basiert (KFSA 14, insbesondere S. 241–253).50 Die Geschichte an sich wird in alte und neue Geschichte zweigeteilt.51 Letztere beginnt mit Alexander dem Großen »weil einesteils seine Monarchie die erste kosmopolitische Begebenheit ist, die von Europa ausging, und weil auch andernteils von dieser an bis auf die jetzige Zeit eine Begebenheit sich genau an die andere reiht« (KFSA 14, S. 5). Schlegel macht, konsequent seine Überlegungen aus der Zeitschrift ›Europa‹ fortsetzend, wie zuvor bei Herder und indirekt bei Forster gesehen, Europa zum Zentrum der neueren Geschichte. Dies wird im zweiten Buch in der Zusammenfassung des Einflusses der griechischen Bildung besonders deutlich. Schlegel stellt fest, dass die Mittelmeerländer – also Griechenland und Italien – durch ihre Lage im »Mittelpunkt der gebildeten Welt« von der Natur zur Weltherrschaft bestimmt gewesen wären (KFSA 14, S. 86f.). Doch alle Mittelmeerländer seien wieder »ausgeartet«, das innere Asien größtenteils gar »verwildert«, sodass Europa sich auf sich selbst beschränken müsste, »und für diesen Fall ist nur Deutschland zu einer Universalmonarchie gelegen« (KFSA 14, S. 87). Die deutsche Universalmonarchie wird nun zu Schlegels Fluchtpunkt. Schlegels Begründung ist anders als in der Inszenierung in der ›Reise nach Frankreich‹ rein geogra-
50 51
Vgl. zu den Geschichtsmodellen in den Vorlesungen auch Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 202–206. Siehe Behler: Unendliche Perfektibilität, S. 148f., für die Verlagerung auf die neue Geschichte in dem Augenblick, in dem Schlegel von der Vorstellung des ›Leitfadens der Geschichte a priori‹ ausgeht.
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phisch: Deutschland ist bergig und kann insbesondere die flachen slawischen Länder leicht beherrschen. Somit kommt Schlegel zur Schlussfolgerung, dass es in der Geschichte drei Universalmonarchien gebe: »eine asiatische, eine vom Mittelmeer (eine griechische oder italische) und endlich eine deutsche« (KFSA 14, S. 87).52 Schlegel nimmt hier eine logische Deduktion vor, um universalgeschichtliche Gesetze herauszustreichen. Eine wirkliche Erklärung, warum es zum Beispiel zur Entartung der Mittelmeerkultur kommt, wird nicht geliefert. Sowohl die programmatische Verschiebung von der Poesie zur Philosophie,53 als auch die Dominanz logischer Deduktion, um die deutsche Universalmonarchie als Fluchtpunkt der Universalgeschichte zu setzen, scheinen also einer performativen Geschichtsschreibung in den ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ zuwider zu laufen. Die nächste Frage ist, ob sich dies ändert, wenn statt programmatischer Geschichtstheorie und allgemeiner Textstruktur, Schlegels Darstellungsweise untersucht wird. Für eine solche Analyse müssen zuerst einmal zwei Einschränkungen vorgenommen werden. Einerseits handelt es sich wie bei allen in diesem und in dem folgenden Teilkapitel untersuchten Texten der Brüder Schlegel um Vorlesungen, also um eine Textgattung, die unter Umständen eine geschliffene Rhetorik enthält, aber zugleich in eine dialogische Kommunikationssituation zwischen Vortragendem und Zuhörern eingebettet ist. Der Text ist damit weniger selbstbezüglich, und es erscheint unwahrscheinlicher, dass textuelle Welten inszeniert werden. Zum anderen liegen als Text der ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ nur Sulpiz Boisserées Notizen, nicht eine von Schlegel autorisierte Fassung der Vorlesungen vor,54 wodurch es anders als in den unten untersuchten ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ von August Wilhelm Schlegel sowie in den Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹ von Friedrich Schlegel schwierig bzw. spekulativ ist, einen eigenen Schreibstil Schlegels auszumachen. Dennoch lassen sich zumindest Schlegels grundsätzliche Darstellungsprinzipien und seine Argumentationsmuster bestimmen. 52 53
54
Vgl. zur Funktion der deutschen Universalmonarchie in Schlegels Geschichtsdenken auch Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 237–240. Siehe auch Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 187, für die neue Rolle von Religion und Politik im Geschichtsdenken Schlegels. Behrens (S. 188) scheint aber den Einleitungssatz der ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ überzuinterpretieren. Schlegel schreibt zwar, »daß die Geschichte die universellste, allgemeinste und höchste aller Wissenschaften sein müsse« (KFSA 14, S. 3), aber zum einen bezieht er sich hierbei bereits auf die Universalgeschichte, zum anderen bleibt das Philosophische dieser Geschichte das übergreifende Prinzip. Anstett in KFSA 14, S. XIIIf.
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Hierfür soll Schlegels Darstellung der Kreuzzüge kurz exemplarisch untersucht werden. Zuerst markiert Schlegel den Einfluss und die Folgen der Kreuzzüge. Dann bestimmt er ihre Ursachen: Den Kreuzzügen lag ein religiöses Prinzip mit der Schützung der Pilger vor den Sarazenen und Sicherung der heiligen Stätten vor heidnischer Herrschaft zugrunde (KFSA 14, S. 157). Im Weiteren argumentiert Schlegel, dass die große Menge an Kreuzzugsteilnehmern durch die übergroße europäische Bevölkerung und den Wohlstand der europäischen Länder der damaligen Zeit zu begründen sei (KFSA 14, S. 158). Die eigentliche Darstellung der Kreuzzüge geschieht nun aus der Retrospektive (KFSA 14, S. 158–160), bevor Schlegel die Gründe für das Scheitern der Kreuzzüge erläutert. Abschließend betont er trotz dieses faktischen Scheiterns ihre große Bedeutung für die Universalgeschichte. Die Kreuzzüge werden zur »größte[n] gemeinschaftliche[n] Begebenheit des ganzen Abendlandes« (KFSA 14, S. 161): »Daß alle Nationen bei den Kreuzzügen zusammenkamen und sich kennenlernten, konnte nicht anders als von großer Wirkung sein; durch dieselben wurde einigermaßen schon ein ausgebreitetes politisches System für Europa gegründet« (KFSA 14, S. 162). Dieser Effekt der Kreuzzüge, die Gründung und Ausbreitung eines politischen Systems für Europa, beendet die Schlegelsche Darstellung der Kreuzzüge. Sie wird nicht performativ vollzogen, sondern vorwiegend behauptet bzw. deduziert. Mit anderen Worten unterstützt Schlegels Darstellung die These von der im Mittelalter entstehenden Einheit Europas55 nicht. Diese Einheit wird logisch deduziert, weil auf den Kreuzzügen alle europäischen Nationen zusammenkamen. Schlegel inszeniert gerade nicht ein europäisches oder deutsches Prinzip, wie es seine These von der deutschen Universalmonarchie es erwarten lassen könnte. Das Vergangene wird als Vergangenes beschrieben und analysiert. Ganz anders als in seiner eigenen frühromantischen Programmatik vermischen sich Gegenwart und Vergangenheit nicht.56 55
56
Vgl. Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 186–198, zur Rolle des Mittelalters im Denken Friedrich Schlegels. Anders als in der ›Reise nach Frankreich‹ wird das Mittelalter zunehmend zum vereinigenden europäischen Raum (Ebd., S. 189f.) und ersetzt die Antike; siehe auch Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 231. Ähnlich funktioniert Schlegels Bewertung des Mittelalters in seiner Bedeutung für das Ganze der Geschichte. Das Mittelalter, das sich besonders durch die Lehnsverfassung der deutschen Länder auszeichnet (KFSA 14, S. 167), wird als »Hauptgegenstand des Ganzen« (KFSA 14, S. 168) markiert, von dem sich auch das gegenwärtige Zeitalter direkt begründet. Es gibt aber keine erzählerische Herleitung dieser Bedeutung. Zur ideengeschichtlichen Bedeutung des Mittelalters für Schlegels Geschichtsphilosophie, siehe Behrens: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, S. 231–233. Die politischen Grundlagen
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Letztlich ist Schlegel also auch in seiner Darstellung konsequent, indem er seinen programmatischen Forderungen für die Universalgeschichte entspricht. Als Universalhistoriker bleibt er Beobachter allgemeiner historischer Abläufe, die er mit einem Erklärungsmodell argumentativ zusammenbringen will. In § 9, ›Theorie und Charakteristik der Epochen der Geschichte überhaupt in Beziehung auf die Philosophie‹, dem vorletzten Paragraphen der Vorlesungen (KFSA 14, S. 247–253), entwirft er eine Aufstiegs- und Verfallgeschichte von sieben Perioden der Menschheit, wobei er die »Unregelmäßigkeit der reellen Geschichte« (KFSA 14, S. 251) deutlich herausstreicht. Auf die natürliche Entwicklung folgen Revolution, Krieg aller gegen alle, Streben nach Ordnung, Streben nach Bildung, Streben nach Tugend und abschließend das Reich Gottes (KFSA 14, S. 253), denen – abgesehen von der unaussprechlichen siebenten Periode – jeweils ein göttliches und ein böses Prinzip zugeordnet wird. Die siebente Epoche verbindet sich zyklisch wieder mit der ersten.57 Hierdurch kann Schlegel jede Form von Digression erklären. Nach Schlegel hat die Menschheit in der Gegenwart vier Perioden durchschritten. Das Mittelalter – wenn auch unvollendet – hat die Ordnung wieder hergestellt, und die Menschheit steht nun am Beginn der fünften Periode. Schlegel sieht es dabei als »sichtbare[n] Gang der neueren Geschichte«, dass die kleinen Staaten verschwinden (KFSA 14, S. 243). Das Zusammenlaufen auf die großen Staaten oder ein europäisches Einheits- bzw. Gleichgewichtsmodell wird aber anders als bei Herder wiederum nur als Ideenmodell behauptet und durch Beobachtung des Vergangenen untermauert. Die performative Dimension, die bei den zuvor untersuchten Autoren in der Geschichtsdarstellung ein Notwendiges des Geschichtsprozesses erzeugt, ist in Friedrich Schlegels Text nicht zu entdecken. Darstellung spielt zur Verbindung von reeller Geschichte und geschichtsphilosophischem Modell bzw. Geschichtsvision keine Rolle mehr. 3.2.
August Wilhelm Schlegels ›Vorlesungen über Encyklopädie‹
August Wilhelm Schlegels Darstellung der Universalgeschichte im zweiten Teil seiner 1803 in Berlin gehaltenen ›Vorlesungen über Encyklopädie‹58 ist von Friedrich Schlegels ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹
57 58
seiner Geschichtsphilosophie findet Schlegel nun nicht mehr in der Antike, sondern im Mittelalter. Vgl. Anstett in KFSA 14, S. LXI. Allgemein zu August Wilhelm Schlegels Arbeiten als Historiker, siehe Frank Jolles: August Wilhelm Schlegel als Historiker. Von seiner Göttinger Studienzeit bis zu seinem An-
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in vier Punkten zu unterscheiden: Erstens handelt es sich um sprachlich genau ausgearbeitete und für die Veröffentlichung vorgesehene Vorlesungen. Zweitens ist der Stil der Vorlesungen deutlich narrativer.59 Drittens betont August Wilhelm Schlegel an verschiedenen Stellen die Bedeutung der Form bzw. Darstellung und scheint somit stärker als Friedrich Schlegel an die frühromantische Sprachtheorie anzuknüpfen, wonach Darstellung und Gegenstand nicht voneinander zu trennen sind. Hinzu treten August Wilhelm Schlegels Meta-Reflexionen über die Funktion und insbesondere über den Stil von Geschichtsschreibung. Diese Unterschiede werfen die Frage auf, ob August Wilhelm Schlegel seine mit Friedrich Schlegel größtenteils vergleichbaren Universalitäts- und Ganzheitsansprüche anders als sein Bruder darstellen kann. August Wilhelm Schlegel unterteilt seine 43 Vorlesungen in drei Teile: Encyklopädie, Geschichte und Philologie. Im ersten Teil stellt er ein Ordnungssystem des Wissens vor. Die Enzyklopädie wird dem griechischen Ursprung des Wortes entsprechend als kreisförmig und alles umfassend beschrieben (AWSVE, S. 3). Dabei macht Schlegel in scharfer Abgrenzung von den französischen Enzyklopädisten deutlich, dass eine Enzyklopädie kein Lexikon bzw. eine »Anhäufung von einzelnen Bestandtheilen ohne innern Zusammenhang« (AWSVE, S. 7) sei.60 Das Zu-
59
60
tritt in Bonn 1818. In: Akten des VI. Germanistenkongresses Basel 1980 I. Hrsg. von Heinz Rupp/Hans-Gert Roloff (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Bd. 8.4). Bern u. a. 1981, S. 432–438, insb. S. 434–436 zu den Vorlesungen über Encyklopädie. Jolles betont, dass es sich um eine humanistische Enzyklopädievorstellung handelt, die das Naturwissenschaftliche weithin ausblendet (S. 434). Zu August Wilhelm Schlegel zwischen Poesie, Ästhetik und Wissen, siehe insbesondere York-Gothart Mix/ Jochen Strobel (Hrsg.): Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten. Berlin/New York 2010. Höltenschmidt spricht allerdings trotzdem davon, dass die ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ »sehr sachlich und nüchtern gehalten sind; sie verströmen nicht den romantischen Esprit der Berliner Literatur-Vorlesungen« (Kommentar in AWSVE, S. XXVII). Siehe zu August Wilhelm Schlegels Enzyklopädiebegriff auch Jolles: August Wilhelm Schlegel als Historiker, S. 433f. Jolles sieht A.W. Schlegel einen kritischen Enzyklopädiebegriff entwickeln, der die Spekulationen Friedrich Schlegels überwindet. Siehe zudem zum Enzyklopädiebegriff in den ›Vorlesungen über Enzyklopädie‹, Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 490–492. Sie beschäftigt sich aber vorwiegend mit dem hohen Stellenwert der Philologie in Schlegels System des Wissens (Ebd., S. 492–506); außerdem Maatsch: »Naturgeschichte der Philosopheme«, S. 103–106; Bär: Sprachreflexion, S. 289–303; sowie Susanne Holmes: Synthesis der Vielfalt. Die Begründung der Gattungstheorie bei August Wilhelm Schlegel. Paderborn u. a. 2006, S. 220–227. Holmes sieht die Geschichtsvorlesungen in den ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ aber vornehmlich als »historischen Abriss« (S. 223), mit dessen Inhalt oder Form sie sich nicht weiter beschäftigen muss. Zum deutschen bzw. germanischen Nationalgeist als bindendem Prinzip Europas in den ›Vorlesungen über Enzyklopädie‹, siehe Ulrich Fröschle: »Deutschland als der Orient Europa’s« – August Wilhelm Schlegel und die Rhetorik des
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sammengehörige darf nicht auseinander gerissen und die »natürliche Ordnung und Gliederung« (AWSVE, S. 8) darf nicht in willkürlicher alphabetischer Anordnung zerstört werden. Schlegel fordert stattdessen wie sein Bruder ein philosophisches System. Für dies seien insbesondere zwei Kriterien entscheidend: Erstens spricht Schlegel davon, dass die Enzyklopädie »von einem höheren Standpunkte aus, dem der Philosophie und Historie, eine Übersicht des gesamten menschlichen Wissens verschaffen [solle]« (AWSVE, S. 9). Wenn der Enzyklopädist in der Lage sei, einen höheren Standpunkt einzunehmen, durch den sich die »Gränzen und Berührungspunkte der Wissenschaften« (AWSVE, S. 10) zeigen lassen, scheint er jenseits aller hermeneutischer Perspektivität über das Wissen zu verfügen, eine »Landcharte« (AWSVE, S. 9) zu entwerfen.61 Zweitens ist für die Enzyklopädie nicht nur der Stoff der Wissenschaften, sondern auch ihre Form grundlegend: »Allein nicht bloß für die Vermehrung der Wissenschaften soll die Encyklopädie Winke geben, sondern auch für die Vervollkommnung in Ansehung ihrer Form: und hiezu ist es erfoderlich in ihren innersten Geist einzudringen« (AWSVE, S. 9). Diese beiden Kriterien lassen zwei Schlüsse zu. Bis zu einem gewissen Punkte gestaltet August Wilhelm Schlegel seine Enzyklopädie als Geschichte der einzelnen Wissenschaften, die in ein systematisches Verhältnis zu setzen sind, um so das Ganze erfassen zu können. Doch zugleich nennt er das Kriterium der Form. Der Enzyklopädie kommt als ein ›Winke geben‹ ein eher andeutender Charakter zu, der das Ganze der Form garantiert. Damit scheint die Enzyklopädie über eine kausal-logische Darstellung, die die Struktur und Abläufe des Geschichtsprozesses erläutert, hinauszugehen. Diese Spannung zwischen Form und Inhalt bzw. Darstellung und Struktur in August Wilhelm Schlegels Enzyklopädiebegriff wird deutlicher, wenn man das Verhältnis von Philosophie und Geschichte in den universalgeschichtlichen Texten der Brüder Schlegel vergleicht. Für Friedrich Schlegel in den ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ dominiert – wie bereits gesehen – die Philosophie. Auch nach August Wilhelm Schlegel sind Philosophie und Geschichte zuerst einmal Gegensätze, und die Philosophie befindet sich auf einer als Transzendentalphilosophie den anderen Wissenschaften übergeordneten Reflexions- und Bewusstseins-
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»unsichtbaren Keime[s]«. In: Der Europäer August Wilhelm Schlegel. Romantischer Kulturtransfer – romantische Wissenswelten. Hrsg. von York-Gothart Mix/Jochen Strobel. Berlin/New York 2010, S. 275–292, insb. S. 277–280 Dies erscheint sachlicher als der »große Standpunkt«, von dem bereits Friedrich Schlegel gesprochen hat (siehe VI.4).
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ebene (AWSVE, S. 4).62 Die Geschichte ist immer praktisch; die Philosophie zerfällt in Theorie und Praxis (AWSVE, S. 29), oder wie er nach Friedrich Schlegel in den ‹Athenäums-Fragmenten‹ zitiert: »Die Historie ist die Wissenschaft vom Wirklich-werden alles dessen, was praktisch nothwendig ist« (AWSVE, S. 29).63 Philosophie wird also durch Vernunftgesetze, die Notwendigkeit und Allgemeinheit ausdrücken, jenseits aller Erfahrung definiert. Geschichte bzw. Historie64 ist die Kenntnis einzelner Beobachtung oder Wahrnehmung. Es ist das In-Erfahrung-Bringen (AWSVE, S. 12). Dies führt zur besonderen Herausforderung an die Universalgeschichte, das Besondere und Allgemeine vereinen zu können, ohne dass eine Seite die Überhand gewinnt. Nicht im Philosophie-Begriff, sondern in der stärkeren Betonung der praktischen Erfahrungsseite der Geschichte liegt der Unterschied von August Wilhelm Schlegels Universalgeschichtsbegriff zu dem seines Bruders. Der praktischen Erfahrung steht die vernunftmäßige Erschließung der Gesetze der Geschichte entgegen.65 August Wilhelm Schlegel macht gleichzeitig sehr deutlich, dass Geschichtsschreibung von ihrer Form und Darstellung abhängt, um das Allgemeine und Ganze ausdrücken zu können: »Die Historie ist die Kunst, Massen von Menschen als Individuen zu charakterisiren, und als solches ihr Handeln darzustellen; sie faßt endlich in ihrer höchsten Allgemeinheit das Handeln des ganzen Menschengeschlechtes so zusammen« (AWSVE, S. 15). Er macht die Universalgeschichte zu seinem eigenen Projekt. Wie oben bereits in der Darstellung seines Enzyklopädiebegriffs gesehen, kritisiert er die universalgeschichtlichen Kompendien, die nur Spezialgeschichten und Materialien anhäufen und fordert eine »lebendige Anschauung der Vergangenheit« (AWSVE, S. 266), die gerade der jüngsten aufklärerischen Geschichtsschreibung nicht zu Eigen sei. Stattdessen solle Geschichtsschreibung das Charakteristische und Bedeutende, den »Sinn für die Zeitalter und die darin liegende Beziehung auf das Ganze« 62 63 64 65
Vgl. Holmes: Synthesis der Vielfalt, S. 221. »Der Gegenstand der Historie ist das Wirklichwerden alles dessen, was praktisch notwendig ist« (KFSA 2, S. 178 = Athenäums-Fragment 90). August Wilhelm Schlegel verwendet die Begriffe Geschichte und Historie als Synonyme (AWSVE, S. 11). Methodologisch führt Schlegel dann im dritten Teil der Vorlesungen die Philologie – Sprach- und Literaturgeschichte – als vermittelndes Glied zwischen Philosophie und Geschichte ein: »In der Sprache stellt sich sowohl nationale Individualität dar, als sie auf der andern Seite nach allgemeinen Gesetzen des menschlichen Geistes construirbar ist, und so hat auch die Philologie, ihren philosophischen und ihren historischen Theil« (AWSVE, S. 285).
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(AWSVE, S. 266) darstellen. Diese Forderung nach einer anschaulichen Geschichtsschreibung, die zugleich das Ganze ausdrücken kann, wäre paradigmatisch für eine performative Geschichtsschreibung. August Wilhelm Schlegel verwendet nun ein Drittel seines Vorlesungstextes explizit für politische Geschichte bzw. Nationengeschichte. Er bespricht also keineswegs nur die Geschichte der Wissenschaft, der Geschichtsforschung und der Geschichtsschreibung, sondern stellt die Geschichte der einzelnen Völker in relativ prägnanter Erzählung, Ereignisse in ihrer zeitlichen Folge erzählend, vor. Damit wird er letztlich selbst zum Geschichtsschreiber. Der Geschichtstheoretiker bzw. Enzyklopädist und deren analytischer Verstand treten zurück. Es gibt relativ wenig reflexive Einschübe. Es stellt sich die Frage, ob Schlegel seine eigene Schreibweise in seiner schriftlichten Darstellung derart gestaltet, dass das Ganze der Geschichte, die Temporalisierung der Zeiten und historische Notwendigkeiten zur Anschauung gebracht werden, oder ob es bei einer rein programmatischen Forderung für eine anschauliche Geschichtsschreibung, die das Ganze der Geschichte und den Sinn der Zeitalter erfassen soll, bleibt. August Wilhelm Schlegel unterteilt die Geschichte in die alte und die neue Geschichte. Erstere geht bis zum Untergang des westlichen Römischen Reichs (AWSVE, S. 151). Ein kurzer Blick auf Schlegels Darstellung der Kulturen der Alten Welt verdeutlicht, dass dieser davon ausgeht, dass der Universalhistoriker genug über die abgeschlossene Alte Welt weiß; die Darstellung ist hier weniger bedeutsam, weil die Struktur, Gesetze und Hauptdaten der Geschichte erschlossen sind. Der Universalhistoriker schaut zurück und beschreibt. Dies ist durchaus mit Herders ›Ideen‹ vergleichbar, zum Beispiel wenn Herder das sich in der phönizischen Kultur entwickelnde Neue für die Menschheit nicht direkt mit anderen Kulturen in Beziehung setzt, sondern einfach als einen durch die Phönizier bewirkten Wandel berichtet.66 Anders als bei Herder ist aber bei Schlegel für die Alte Welt jedes Gegenwärtige und Prozesshafte aus der Darstellung entschwunden. Die Wirkung der Phönizier existiert nur noch als Vergangenes (AWSVE, S. 181f.); es gibt keine Temporalisierung der Zeiten, weder innerhalb einer Epoche noch über diese hinausgehend. Schlegel betont aber ausdrücklich, dass nicht nur die alte, sondern auch die neue Geschichte universalgeschichtlich sei und nicht nur als europäische Staatengeschichte erfasst werden könne. Er rezipiert hierbei den Begriff der Universalgeschichte auf zwei Ebenen: Einerseits erstreckt sie sich auf alle bekannten Völker und Länder, andererseits verknüpft sie Be66
Vgl. III.4.1.
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gebenheiten »zu einem großen Zusammenhange«, »die Erzählung [wird] an Einem Faden fortgeführt« (AWSVE, S. 151). Die schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Fadenmetapher67 erfasst August Wilhelm Schlegels grundsätzliches Projekt für die Geschichte: Er sucht einen »hindurchgehenden Faden [in der neueren Geschichte, S.J.], an welchen sich in der Erzählung die Hauptbegebenheiten anreihen lassen« (AWSVE, S. 158).68 Das gegenwärtige Europa soll seinen Ursprung im Mittelalter finden, insbesondere »durch Deutsche Eroberer auf den Trümmern der Römischen Weltherrschaft« (AWSVE, S. 261).69 Anders als in den Geschichtsdarstellungen, die in den vorherigen Kapiteln untersucht wurden, setzt August Wilhelm Schlegel also sein Modell für das gegenwärtige und zukünftige Europa in der Vergangenheit an. Inszeniert Schlegel die neue Geschichte als ein universalgeschichtliches Moment? Bei der Beantwortung dieser Frage ist auffällig, dass auch er – wie Herder, Schiller und Archenholz – den Topos vom Schauplatz der Geschichte, auf dem Kollektivakteure auftreten, verwendet, also die Geschichte mit der Gattung des Dramas in Verbindung bringt (u. a. AWSE, S. 153, S. 159). Die entscheidende Veränderung in der Universalgeschichte der Menschen findet für ihn statt, wenn mit dem ›Auftritt‹ Deutschlands eine nationale Einheit der europäischen Nationen erreicht wird: »Es tritt also ein einziges herrschendes Volk auf den Schauplatz« (AWSVE, S. 159).70 Schlegel sieht nun einen »ritterliche[n] Geist« aus einer Synthese der »Tapferkeit des Nordens« und einem religiösen orientalischen Idealismus entstehen (AWSVE, S. 159). Dieser Rittergeist dient als der Faden, der die Universalgeschichte garantiert (AWSVE, S. 165). Wenn Schlegel 67
68 69
70
Vgl. VI.1. Nach Alexander Demandt fungiert der Faden im 18. Jahrhundert als »von Individuen geknüpfte Kontinuität des Wissens«, als Leitfaden der Natur bzw. Vernunft (Metaphern für Geschichte, S. 317). Bei den von Demandt nicht gesondert genannten Schlegels wird es stärker der Leitfaden der Erzählung bzw. des Konstrukts des Universalhistorikers / Geschichtsphilosophen. Diese Auffassung dürfte gerade durch Herders Verwendung der Fadenmetapher für den Fortgang der Geschichte in ›Auch eine Philosophie‹ (siehe z. B. FHA IV, 11) angeregt worden sein (vgl. auch III.2 im Herder-Kapitel). Siehe zu dieser Suche August Wilhelm Schlegels nach den einheitsbildenden Prinzipien der neueren Geschichte auch Jolles: August Wilhelm Schlegel, S. 434f. Zu einer detaillierten ideengeschichtlichen Darstellung von August Wilhelm Schlegels Mittelalterrezeption, siehe Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 172–186; S. 199–229. Zum ideengeschichtlichen Europabild August Wilhelm Schlegels, siehe auch Dorota Masiakowska: Vielfalt und Einheit im Europabild August Wilhelm Schlegels. Frankfurt a.M. u. a. 2002, zum Konzept der europäischen Gemeinschaft im Mittelalter insb. S. 251f. Vgl. Höltenschmidt zur ideologischen Setzung des deutschen Nationalgefühls, das weitaus stärker als bei Friedrich Schlegel jede kosmopolitische Idee verdrängt (Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 185f.).
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dann am Ende der 23. Vorlesung die neuere Geschichte einsetzen lässt (AWSVE, S. 206), wird das Deutsche Reich mit einem kurzen Überblick über seine politische Struktur und geographische Ausdehnung beschrieben, bevor ein kurzer Bericht der politischen Ereignisse unter einigen deutschen Kaisern folgt. Geschichte geschieht in dieser dreiseitigen Darstellung des Deutschen Reiches nicht; der Schauspieltopos überträgt sich nicht auf die historiographische Darstellungsweise. Die Bedeutung des Rittergeistes als Faden der Geschichte wird nur programmatisch behauptet. Im Weiteren spricht Schlegel in Bezug auf die Herrschaft von Karl V. vom Verfall der inneren Einheit Deutschlands: »Es ist aus dem ehemaligen nach außen hin strebenden Mittelpunkte Europa’s das vorzugsweise leidende Land geworden. Deutschland hat eigentlich aufgehört zu seyn, und wann es sich aus dem jetzigen Zustande von Ohnmacht, Nullität und Zertheilung wieder zusammen finden wird, ist schwer zu sagen« (AWSVE, S. 217). Insgesamt stellt Schlegel die neuere Geschichte im Folgenden genau in dem Modus der Staatengeschichte dar, die er zuvor abgelehnt hat. Er arbeitet ein Land nach dem anderen in zusammenfassenden Erzählungen ab. Wie Herder in den ›Ideen‹ schließt er dann seine Darstellung der neueren Geschichte mit einem zusammenfassenden Rückblick ab (AWSVE, S. 261–265; FHA 6, S. 897f.). Auf vorwiegend erzählende Passagen folgt der analytische Rückblick. Zum Ende des zweiten Teils der ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ kommt Schlegel jedoch wieder darauf zurück, wie die Form von Geschichtsschreibung auszusehen hat, um universalgeschichtliche Ziele und das Ganze der Geschichte auszudrücken: »So viel über das Einzelne, an welches die Foderung der Anschaulichkeit gemacht wird. Zum Begriff eines Kunstwerkes gehört aber wesentlich, daß es ein Ganzes sey, eine Einheit in sich habe. Es fragt sich also, wie bey einer historischen Erzählung dieß erreicht wurde?« (AWSVE, S. 272). Die Geschichtsschreibung oder die Kunst der historischen Darstellung ist für Schlegel einer von drei Bestandteilen der Realgeschichte, die Schlegel als »politische Geschichte«, als »Leben der Nationen« (AWSVE, S. 63) bezeichnet. Die ersten beiden Bestandteile sind die Geschichtsforschung und »der Körper oder die Masse der Geschichte selbst« (AWSVE, S. 63). Schlegel stellt nun einen normativen Standard dafür auf, was erfolgreiche Kunst der Geschichtsschreibung ausmacht. Er bezeichnet die Geschichte als »Poesie der Wahrheit« (AWSVE, S. 273): »Die Einheit eines historischen Kunstwerks ist nun unstreitig von derselben Art wie die poetische, nur daß in der Poesie Stoff und Form der schaffenden Fantasie anheim gestellt ist, da hingegen die historische Kunst sich an ein gegebnes anzuschließen hat« (AWSVE, 337
S. 273). Die Fähigkeit der Geschichtsschreibung, wahre Universalgeschichte zu schreiben, wird von Schlegel an einem klassizistischen Kunstideal gemessen. Die Werke Herodots und Thukydides werden als »die beyden ältesten historischen Kunstwerke aus dem klassischen Alterthum« und als »bis jetzt unerreichte Muster der Vollendung im großen Styl« beschrieben (AWSVE, S. 274). Ironischerweise ist es also Schlegels bereits bei Schiller diskutierter Begriff des »großen Stils«,71 der der Geschichte das Moment des Ganzen in der Geschichtsdarstellung geben soll. Der durch Herodot und Thukydides gesetzte ästhetische Standard wird nach Schlegel von fast allen nachfolgenden Historikern nicht erreicht. Er macht zum Beispiel deutlich, dass die pragmatische Geschichtsschreibung des Polybios nur todte Belehrungen« liefere, die den Leser nicht erreichen (AWSVE, S. 276). Hingegen führe der darstellende Historiker den Verstand des Menschen »an den Schauplatz, hier mag er selbst das Gewebe der feinen leitenden Fäden durchschauen so gut er kann. Eine solche Geschichte ist wie das Schauspiel der Weltbegebenheiten selbst, jeder Fassungskraft gerecht […]« (AWSVE, S. 276). Die Aufklärungshistoriker können diese Darstellungsleistung nicht vollbringen: Voltaire sei ein »Stifter der historischen Freygeisterey«, Robertson zeichne sich durch eine »charakterlos[e] Schreibart« aus und Gibbon durch eine »manierirt[e] Schreibart, die durch steife pretiöse Eleganz einförmig wird« (AWSVE, S. 281). Der einzige jüngere Historiker, den Schlegel preist, ist Johannes Müller als der deutsche Historiker, der als erster der neueren Geschichtsschreiber »die Größe des Mittelalters gehörig begriffen« habe (AWSVE, S. 282), und damit an die Alten anschließen könne.72 Oben im Kapitel zu Schiller wurde festgestellt, dass sich anders als in der ästhetischen Theorie der ›schöne Stil‹ in der praktischen Geschichtsschreibung nicht prägen lässt, da es keinen stabilen Bereich zwischen Geschichtsschreibung und Literatur gibt.73 Während Schiller in der ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ deutlich näher am geschlossenen Stil der schönen Diktion ist, den er in seiner Ästhetik entwickelt hat, verliert er – anders als im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹ – durch diesen Erzählstil die Möglichkeit, die Notwendigkeiten eines teleologischen Ge71 72
73
Siehe IV.3.2. Schlegels Bewertung von Müllers Geschichtsschreibung ist letztlich weniger stilistischen, sondern inhaltlichen Kriterien geschuldet. Hierzu zählt eine ethische Idealisierung des Mittelalters in der Idee von der altgermanischen Freiheit und im Entstehen der Schweizer Eidgenossenschaft (Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 216f.). Siehe IV.9/IV.10.
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schichtsverlaufes auf der Ebene der Darstellung inszenieren zu können. Bei August Wilhelm Schlegel ist ein ähnliches Phänomen zu erkennen. Er setzt einen ästhetischen Standard, durch den Geschichte als »Poesie der Wahrheit« wirken und das universalgeschichtliche Ganze zum Ausdruck bringen soll, kann dies aber selbst in seiner Geschichtsschreibung nicht umsetzen. Damit verbleibt zwischen dem ästhetisch-normativen Anspruch und der praktischen historiographischen Darstellung eine nicht zu überwindende Lücke. Das Paradoxe daran ist, dass August Wilhelm Schlegel von der Programmatik her der ideale Apologet einer modernen performativen Geschichtsschreibung sein könnte, in der der notwendige Geschichtsprozess als etwas sich Vollziehendes inszeniert würde. Sein Interesse an der Anschaulichkeit der historischen Darstellung zeigt dies. Doch letztlich bleibt der Romantiker in seiner ästhetischen und historischen Ideologie gefangen, u. a. weil Schlegels aggressive Verfechtung des Rittergeistes, des Deutschtums und der Größe des Mittelalters jedes verzeitlichende Element, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenführen könnte, aus seiner Darstellung herausgenommen hat. In gewisser Weise gibt er dies in seiner letzten Vorlesung zu, wenn er sich nach den ausführlichen Darstellungen von Geschichte und Philologie nur äußerst kurz mit der Philosophie beschäftigt: »Wir können also, wenn wir unsern Vortrag nicht aus einem encyklopädischen in einen philosophischen verwandeln wollen, nur einen Blick auf die Geschichte der Philosophie und die Epochen ihrer äußern Gestaltung werfen« (AWSVE, S. 368). August Wilhelm Schlegel zieht sich auf die systematische Entfaltung eines historischen Wissenstableaus zurück; eine Darstellung des Geschichtsprozesses und seiner Notwendigkeiten ist dem Romantiker nicht möglich.74
4.
Romantische Ereignisgeschichtsschreibung. Friedrich Schlegels Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹
Ernst Behler notiert zu Friedrich Schlegels Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹, die 1810 in 21 Einzelvorlesungen in Wien gehalten und ein Jahr später bei Karl Schaumburg und Comp. gedruckt wurden:75 74
75
Zu demselben Schluss kommt auch Maatsch für die ›Vorlesungen über Enzyklopädie‹ im Ganzen (»Naturgeschichte der Philosopheme«, S. 105). Schlegel unternimmt es nicht, eine historisch-genetische Darstellung derselben selbst durchzuführen. Friedrich Schlegel: Über die neuere Geschichte. In: KFSA 7, S. 125–407. Friedrich Schlegel hat sich bei der Verwandlung einer mündlichen Vorlesungsfassung in eine schriftliche
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Mit diesen Vorlesungen wurde von Schlegel erstmals ein Gebiet bearbeitet und in einer weitreichenden Publikation dargestellt, mit dem die Romantiker zwar seit Bestehen der ersten Schule schon immer geliebäugelt hatten, das aber – außer in phantastischen Essays wie ›Die Christenheit oder Europa‹, oder in Vorlesungen vor kleinem Kreis – bislang noch nicht systematisch behandelt worden war: die Geschichte.76
Behler sieht »die romantische Bewegung zu einer ›historischen Schule‹«77 werden, wobei diese weiterhin Geschichtsphilosophie zu sein anstrebt und »›nicht bloß bei der Herzählung von Namen, Jahreszahlen und äußern Tatsachen‹ stehenbleiben, sondern ›den Geist großer Zeiten, großer Menschen und Ereignisse‹ darstellen und darüber hinaus ›auf den Menschen, auf sein Schicksale‹ in Beziehung setzen soll.«78 Nach Behler wird in dieser Zusammenführung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft das bereits zitierte Athenäums-Postulat vom Historiker als »rückwärts gekehrte[m] Prophet[en]« verwirklicht.79 Wie August Wilhelm Schlegel in den ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ spricht Friedrich Schlegel vom »großen Standpunkt der Geschichte« (KFSA 7, S. 129): »Daß die Geschichte parteiisch geschrieben werde, ist eine allgemeine Klage. Im gemeinen und buchstäblichen Sinne sollte diese Klage gar nicht stattfinden können, sobald man sich zu einem großen Standpunkt der Geschichte erhoben hat« (KFSA 7, S. 129).80 Schlegel erkennt wie Forster, Herder und Schiller die Relativität der historischen Erkenntnis. Anders als Herder, der einen solchen Standpunkt explizit in die Zukunft verbannt,81 sieht Schlegel aber gerade Parteilichkeit als Notwendigkeit, um zu einer höheren Erkenntnis zu kommen, womit er sich zugleich von den Objektivitätsansprüchen der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts absetzt.82 Es kommt Schlegel also weniger auf unverfälschte Nachahmung, sondern auf »wahrhafte« Geschichtsschreibung (KFSA 7, S. 129) an, wenn der Historiker dadurch die Prinzipien der Geschichte verdeutlichen kann.
76 77 78 79 80 81 82
Veröffentlichung an den Wiener Vorlesungen seines Bruders orientiert, anders als dieser aber stärker die rhetorische Diktion von Vorlesungen beibehalten (Behler in KFSA 7, S. LXXIV). Behler in KFSA 7, S. XC. Behler in KFSA 7, S. XCI. Behler in KFSA 7, S. XCI. Behler in KFSA 7, S. XCI. Siehe für eine Diskussion von Friedrich Schlegels parteilichem Objektivitätsbegriff, Dierckes: Literaturgeschichte als Kritik, S. 86. Vgl. III.3. Vgl. auch Dierkes: Literaturgeschichte als Kritik, S. 86f.
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In der Erzählung zeigt sich die Parteinahme und nur so kann der »große Standpunkt der Geschichte« gelingen.83 Gemäß den theoretischen Reflexionen Schlegels in den Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹ ist die Idee der Temporalisierung für darstellende Ereignisgeschichtsschreibung noch äußerst wirksam. Schlegel markiert das Ziel, dem Leser »ein gedrängtes Gemälde der Geschichte vor Augen zu stellen« (KFSA 7, S. 160). Das ästhetische Konzept des ›VorAugen-Stellens‹ wirkt also nicht nur für die Einbildungskraft des Reisesubjektes,84 sondern auch für den Leser von Geschichtsschreibung. Wie bei August Wilhelm Schlegel wird zwar die Anschaulichkeit des Vergangenen im Gegenwärtigen betont. Vergangenheit und Gegenwart müssen sich ineinander verschränken. Friedrich Schlegel reflektiert, warum längst bekannte Tatsachen immer wieder dargestellt werden müssen. Hierbei hebt er besonders hervor, »daß die schöne Erinnerung der Vorzeit, die großen Gegenstände der Geschichte einen unvergänglichen Reiz in sich tragen, daß sie in einem gewissen Sinne immer neu bleiben, in ein um so helleres Licht vor uns treten, je mehr sich unser eigenes Leben erweitert« (KFSA 7, S. 160). Für Schlegel besteht also ein ständiges Wechselverhältnis von Vergangenheit und Geschichte. Doch gleichzeitig ist sich Schlegel der Struktur, die er der Geschichte geben will, sicher. Der Historiker, nicht der Leser der Geschichtsdarstellung oder das die Denkmäler und Erinnerungsorte erfahrende Reisesubjekt, bestimmt, was Teil des »gedrängten Gemäldes der Geschichte« ist. Hiermit deutet sich bereits an, dass Schlegel einerseits in der explizit politischen Ereignisgeschichtsschreibung eine Form der Geschichtsdarstellung findet, die die Verzeitlichung und den Prozess der Geschichte ausmachen kann. Doch gleichzeitig scheint es nicht mehr im Sinne von Schiller oder Archenholz um eine präsentische Inszenierung von Geschichte zu gehen. Vielmehr gelingt Schlegel eine Synthese von Struktur und Darstellung. Wie August Wilhelm Schlegel verwendet auch Friedrich Schlegel die Metapher vom »Faden der Geschichte« (z. B. KFSA 7, S. 162). Schon in der ersten Vorlesung definiert er den Faden, dessen Ursprung im Mittelalter und in der älteren deutschen Geschichte liegt, in präzisen Worten: 83
84
Nur die alte Geschichte oder Weltgeschichte könne nach Schlegels 91. Fragment ›Zur Geschichte‹ von 1810 »rein factisch und wissenschaftlich« behandelt werden. »Die neuere – vaterländische – Staatengeschichte dagegen muß und soll subjektiv behandelt werden. – Hier soll der Darsteller sein Vaterland, seinen Glauben und s[eine] Staatsgrundsätze nicht verläugnen« (KFSA 20, S. 275). Vgl. auch aus den Fragmenten ›Zur Geschichte und Politik 1811 und 1812 bis December‹ das 303. Fragment (KFSA 20, S. 333). Vgl. VI.2.
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Die Einrichtungen, Gesetze und Sitten derselben, bis auf unsre Zeit, haben ihren ersten Grund in der ältesten Verfassung der Deutschen, und man muß sich vor Augen stellen, was Europa vor und nach den Kreuzzügen war […]. Ein kurzes Gemälde der alten Germanen, eine gedrängte Darstellung des Mittelalters, wird daher unsere Betrachtungen über die neuere Geschichte eröffnen. (KFSA 7, S. 130)
Schlegel erzählt also seine Geschichte mit einem festen Prinzip im Hintergrund. Alles Deutsche wird damit zum Leitfaden bzw. leitenden Prinzip der Geschichte, selbst in der Darstellung der Römer: »Nach ihm [dem römischen Kaiser Trajan] war der wichtigste und entscheidendste deutsche Krieg der sogenannte Markomannische, längs der ganzen südlichen Donaugrenze, unter Marc Aurel. […] Das Übergewicht der Deutschen war jetzt entschieden und der Untergang des römischen Reichs leicht vorherzusehen« (KFSA 7, S. 167). Der deutsche Einfluss nimmt zu und führt zum unvermeidlichen Untergang des römischen Reichs, dem es an einer festen Grundlage und Verfassung mangele (KFSA 7, S. 168). Es wird also zunehmend erkennbar, wie zuerst das Deutsche Schlegel eine sinnhafte Geschichtserzählung ermöglicht. Anders als bei Schiller oder Archenholz ist der Gestus aber nicht präsentisch, sondern verknüpft rückblickend historische Ereignisse, die durch das Erzählprinzip des Deutschen zusammengehalten werden. Zum Beispiel gibt Schlegel umgehend eine heuristische Erklärung der Funktion des Frankenreiches, dem eine Nebenrolle in der deutschen Geschichte zukommt: »Am wichtigsten für das Ganze der Geschichte ist die allmähliche Ausbildung der fränkischen Verfassung, die auch auf Deutschland schon unter den Merowingern viel Einfluß gehabt hat« (KFSA 7, S. 186). Anders als die geraffte, präsentische Darstellung in Herders ›Ideen‹ (FHA 6, S. 775)85 stellt Schlegel das Reich der Franken in einem beschreibenden und analytischen Gestus vor, in dem er die geographischen, kulturellen und politischen Faktoren untersucht, die zum Entstehen des fränkischen Reiches unter Chlodwig, zu daraus entstehenden Problemen, zur Größe und Höhe des Reiches unter Karl dem Großen und letztlich zum Verfall dieses Reiches beigetragen haben. Universalgeschichtlich findet sich in dem Abschnitt überraschend wenig; es bleibt eine scheinbar kausal argumentierende Beschreibung einer vergangenen Zeit, die irgendwie – ohne dass dies spezifiziert würde – bedeutsam gewesen sein muss. Anders als in seinen ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ verschwinden also die Regeln der Geschichte im Erzählen, 85
Vgl. Jaeger: Schreibstile.
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doch sind sie zugleich als Leitprinzipien präsent, was die erzählerische Einheit ermöglicht, durch die Schlegel die Geschichte als Ganzes präsentieren kann. Dies wird noch deutlicher, wenn man Friedrich Schlegels Darstellung des Rittertums bzw. Rittergeistes hinzuzieht.86 Schlegel nennt das Rittertum – neben Papst- und Kaisertum – als eine der drei allgemeinen europäischen Gewalten des Mittelalters (KFSA 7, S. 221). Auch wenn er die Kreuzzüge wegen eines »Mangel[s] an Einheit« als misslungen bewertet (KFSA 7, S. 226), sieht er in ihnen den wahren Rittergeist entstehen: »Unter den Wirkungen der Kreuzzüge ist die höhere Belebung und Erweckung des Rittergeistes die vornehmste« (KFSA 7, S. 227): Nebst dem Einfluß, welchen die weitere Ausbildung des Rittertums auf die Verfassung Europas hatte, ist die Wirkung der Kreuzzüge auf den Handel, seine Ausbreitung und Richtung, eine der auffallendsten und sichtbarsten. So wie dies beitrug, die Macht der Städte und des Bürgerstandes zu erhöhen und zu vermehren, so hat es auch mitgewirkt, die Künste zu entwickeln und zu einer neuen Blüte zu beleben; doch beschränkt sich diese Einwirkung größtenteils auf den mächtigen Anstoß, welchen die große Begebenheit dem Geiste der Europäer gab […]. (KFSA 7, S. 228f.)
Schlegel stellt durch retrospektives Erzählen zuerst die Auswirkungen der Kreuzzüge dar und führt dann die gesellschaftlichen Veränderungen weiter, bevor diese im »Geiste der Europäer« vereinigt werden. Das eigentliche Historische oder Besondere – historische Handlungen oder einzelne Ereignisse – werden also von vornherein zugunsten der Darstellung von Resultaten ausgeblendet. Diese Resultate werden narrativ in eine Erzählsequenz verwandelt, die zum europäischen Einheitsgedanken führt. Am Beispiel von Schlegels Darstellung des deutschen Königs Rudolf von Habsburg kann dies weiter verdeutlicht werden. Schlegel stellt zuerst als allgemeine Aussage fest, dass der Rittergeist in Deutschland eine patriotische Richtung nahm, um »durch Mut und Tapferkeit das Recht und das Vaterland wiederherzustellen« (KFSA 7, S. 237). Verstärkt durch einige Vergleiche zu den Leistungen von Rudolfs Vorgängern und Nachfolgern, preist Schlegel dessen Tugend und baut Rudolf dadurch mit Hilfe der Theatermetaphorik zum Modell dieses für die Geschichte notwendigen Rittergeistes auf: 86
Vgl. hierzu im Allgemeinen Höltenschmidt: Die Mittelalter-Rezeption der Brüder Schlegel, S. 191. Höltenschmidt zeigt auch eine enge Parallelisierung von Literatur und Geschichte zur Zeit des Rittertums, die bei beiden Schlegels erkennbar ist (Ebd., S. 231).
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In das hellste Licht tritt Rudolfs Charakter in seinem großen Kampfe mit dem mächtigen Ottokar; ein Schauspiel, wie die Geschichte nur wenige darbietet. Auf der einen Seite Tapferkeit, mit Milde und Weisheit gepaart, auf der andern Seite Heldenmut, aber ein stürmischer, herrschsüchtiger, leidenschaftlich grausamer, von Stolz verblendeter. Glück und Sieg entschieden diesmal für die Tugend. (KFSA 7, S. 237)
Schlegel verwendet wie Archenholz die Ausgangsposition sich theatralisch gegenüberstehender Kräfte. Doch daraus ergibt sich keine Darstellung des Kampfes, sondern der Historiker berichtet aus der Retrospektive, seine Distanz zum Gegenstand beibehaltend, wie sich das eine Prinzip durchgesetzt hat, und sich so als Grundprinzip für »Wiederherstellung Deutschlands« (KFSA 7, S. 241) behaupten und reifen kann. Historische Ereignisse, die zu diesem historischen Gesetz der deutschen und allgemeiner europäischen Einheit nicht passen, benennt Schlegel als »Zwischenreich[e]« oder »Zeit[en] der Verwirrung« (KFSA 7, S. 241) und kann somit die Notwendigkeiten seines Geschichtsmodells hervorheben – entsprechend preist er die »großen Kräfte«, die in der deutschen Staatsverfassung vorhanden seien (KFSA 7, S. 241) – und Zufälligkeiten, die eine andere Richtung weisen, ignorieren. Schlegel identifiziert den Bund der Hanse und das Eidgenossenschaftsmodell der Schweizer als Ausdruck »deutscher Kraft und deutscher Bildung«, im Bundessinn der frühesten germanischen Verfassung begründet (KFSA 7, S. 242f.). Diese Kraft wird anders als beispielsweise bei Archenholz in Schlegels Geschichtsschreibung nicht vollzogen, sondern in der Erzählung als logische Schlussfolgerung festgestellt. In gewisser Weise beschreibt Schlegel sein Verfahren selbst, wenn er bezüglich Kaiser Maximilians Rolle in der Geschichte festhält: »Was er außerdem für Europa, für Deutschland, und überhaupt für sein Zeitalter war, und gewirkt hat, das wird, eben weil er nicht immer alles was er gewollt, ausführen konnte, am deutlichsten erhellen, wenn wir nicht sowohl seine Taten und Geschichte wiederholen, sondern vor allem die Gedanken, die ihn geleitet haben, betrachten« (KFSA 7, S. 260). Die Grundsätze Maximilians, die historische Kräfte und Prinzipien ausmachen, sind also wichtiger als die historischen Handlungen und Ereignisse. Anders als bei Schiller und Archenholz sind sie auch nicht mehr an die Darstellung dieser Handlung und Ereignisse gebunden. Damit wird auch Schlegels politische Ereignisgeschichtsschreibung zu einer Sekundärgeschichtsschreibung, die zwar stärker als die Zivilisations-, Menschheitsgeschichts- oder Universalgeschichtsschreibung die primäre Ebene historischer Personen, Handlungen und Ereignisse als Grundlage hat, aber diesen dennoch sehr ähnelt. 344
Auch Friedrich Schlegel ist – wie oben für seinen Bruder gesehen – in ›Über die neuere Geschichte‹ stark auf das Mittelalter als Ideal konzentriert. Insofern sieht auch er eine Verfallsgeschichte zum Ende des Mittelalters, zeigt aber anders als August Wilhelm Schlegel einen fortschreitenden Prozess zum europäischen Ganzen auf Basis der Werte des Altertums und Mittelalters. Insbesondere die Reformation als solche führt zum Verfall der mittelalterlichen europäischen Einheit,87 sodass es Schlegels Ziel ist, dieser Verfallsgeschichte etwas entgegenzuhalten, das die für die Entwicklung der Menschheit notwendigen Prinzipien und Werte aufrechterhält. Dies lässt sich gerade in seiner Darstellung von Karl V. sehen, die durchaus mit Schillers Darstellung historischer Personen, einschließlich Karl V., im ›Abfall der vereinigten Niederlande‹, Herders Fokussierung auf große historische Personen und Archenholz’ Inszenierung von Helden vergleichbar ist. Schlegel spricht von Karls »Eintritt in die Welt«, von »seinem Kampf mit der Welt und mit dem Zeitalter« (KFSA 7, S. 287): Karl war in die Schranken des Ruhms gerufen; er folgte unerschüttert diesem Rufe, der drohenden Gefahr nicht achtend. Spanien verließ er in einem Zustande, wo die Gärung fast schon in Flammen ausbrach; in Deutschland wartete auf seine Entscheidung der große Kampf des Zeitalters, der Kampf, auf welchen die Augen aller Nationen der ganzen Mitwelt mit der gespanntesten Erwartung geheftet waren, wie noch jetzt die Betrachtung der Nachwelt oft dabei verweilt. (KFSA 7, S. 287)
Wieder scheint der Kampf nicht stattzufinden, sondern seine Voraussetzungen und Resultate werden berichtet. Interessanter ist die Perspektive des gerade Zitierten. Ähnlich zu Forster, Schiller oder Archenholz ist Wahrnehmung bei der Geschichtsdarstellung bedeutsam. Doch das Präsentische von Schlegels Darstellung geht gerade dadurch verloren, dass Schlegel die Perspektive der Mitwelt und der Nachwelt kombiniert, was ihm die anfangs diskutierte Überschauperspektive für den Historiker ermöglicht. Karl V. wird zur Verkörperung der Prinzipien, die Schlegel immer wieder auf den Rittergeist und den Lehnsadel des Mittelalters zurückführt (z. B. KFSA 7, S. 323). In der historischen Realität erreicht er sie allerdings letztlich nicht (KFSA 7, S. 298), sodass Karl V. von Schlegel mehr als Strukturelement für den fortlaufenden Faden der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung genutzt wird. Für die Gegenwart sieht Schlegel Hoffnung, für ein neues Ganzes in der Person von Kaiser Joseph II. Ernst Behler erkennt hier gerade in 87
Luther wird zumindest insofern positiv gesehen, dass er die Auswüchse der Reformation als entzündete »Flamme der Volksleidenschaft« im Zaum hält (KFSA 7, S. 280).
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der Bedeutung der österreichischen Monarchie das ›wahre Kaisertum‹ als Ideal und Prinzip der Schlegelschen Philosophie, das die Begriffe des ›Weltrepublikanismus‹ und ›Europas‹ in früheren Schlegel-Texten ersetze.88 Bei Schlegel selbst heißt es: [D]er Begriff von Österreich, als derjenigen Macht, welche mit allen andern Mächten innig verknüpft, und fern von den beschränkten Grundsätzen einer kleinlichen, politischen Selbstsucht, vielmehr auf das Große und Ganze gerichtet, der Mittelpunkt der gesitteten europäischen Staaten zu sein, die alte Würde und Verfassung Deutschlands und Italiens zu schützen, überhaupt aber die allgemeine Gerechtigkeit in Europa aufrechtzuerhalten, vor allen andern berufen sei. (KFSA 7, S. 380)
Das Haus Habsburg orientiert sich also an der Gesellschaftsordnung des Mittelalters und überwindet damit auf dem Weg zur Neuordnung und Einheit des zukünftigen Europas den dem Mittelalter folgenden, zunehmenden Verfall der europäischen Einigkeit, der einsetzte, als es keinen gemeinsamen morgenländischen Feind mehr gab (KFSA 7, S. 246f.). Österreich, das sich wegen seiner geographischen Lage nicht isolieren kann, sei »das Herz und der Mittelpunkt von Europa, mit allen bedeutendsten Staaten in der innigsten Verbindung, von jeher am meisten ein allgemeiner, wahrhaft kaiserlicher Weltstaat« (KFSA 7, S. 404). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ergänzen sich auch in diesem historischen Modell, wie Schlegel in seinen Schlussworten zum Kampf zwischen Altem und Neuem ausführt (KFSA 7, S. 406f.). Altertum, Mittelalter und Gegenwart kommen zusammen. Auf Basis der deutschen Adelsverfassung und durch eine »höhere Fügung göttlicher Vorsehung« kann das »wahrhaft Neue« entstehen und herbeigeführt werden (KFSA 7, S. 407). Zusammenfassend erscheint es also nicht möglich, Friedrich Schlegels Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹ als performativ zu bezeichnen. Vergleicht man sie mit Schiller oder Archenholz, sind die Vorlesungen weit weniger präsentisch. Weder der Geschichtsprozess noch die Wahrnehmungsprozesse von Geschichte werden inszeniert. Vergleicht man die Vorlesungen mit dem Herder der ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹, wird deutlich, dass die von Schlegel angesetzten historischen Prinzipien und Gesetze nicht durch den Text vollzogen werden, 88
Behler in KFSA 7, S. XCII. Allerdings bleibt der Europabegriff auch um 1809 in Schlegels Denken prominent, wenn er in einem Fragment notiert: »Der Gegenstand ist [nicht] eigentlich die neuere Geschichte allein, sondern überhaupt die von Europa. (Idee von Europa)« (250. Fragment. In: Zur Geschichte. 1809. October. KFSA 20, S. 258). Siehe auch Zimmermann: Friedrich Schlegel, insb. S. 196–203; S. 218–221.
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sondern als Erzählgerüst fungieren, dass den ›Faden‹ der Geschichtserzählung zusammenhält. Anders als die wissenschaftlichere, historistische Geschichtserzählung des weiteren 19. Jahrhunderts ist der geschichtsphilosophische Ganzheitsanspruch für die Geschichtsdarstellung weiterhin bedeutsam. Die Notwendigkeit des historischen Prozesses wird also nicht mehr inszeniert, sondern erzählt. Dies gelingt, weil der Historiker sich in eine Außenperspektive begibt, in der er Geschichte überschaut, doch zugleich beim Nachweisen historischer Gesetze und Prinzipien parteilich bleiben kann. Das Performative verschwindet also paradoxerweise gerade dann in der romantischen Geschichtsschreibung, wenn die Romantiker sich mit der realen Geschichte zu beschäftigen beginnen. Das Sinnbildungsdefizit der Aufklärungsgeschichtsschreibung wird zumindest in Friedrich Schlegels Vorlesungen ›Über die neuere Geschichte‹ ebenso wie bei Schiller oder bei Archenholz überwunden, aber nicht mehr als Inszenierung, sondern weil der Historiker die Prinzipien und Gesetze für den notwendigen Verlauf der Geschichte erkannt zu haben meint.
5.
Schlussgedanken. Auf dem Weg ins 19. Jahrhundert
Die vier Texte der Brüder Schlegel, die in diesem Schlusskapitel untersucht worden sind, spiegeln die Übergangsphase der Inszenierung von Geschichte im ausgehenden 18. Jahrhundert wider. Friedrich Schlegels ›Reise nach Frankreich‹ erscheint gerade deshalb performativ, weil die Einbildungskraft des Reisesubjekts es erlaubt, Geschichte zwischen Gegenwart, erinnertem Vergangenem und einer zukünftigen europäischen Vision imaginativ zu erfahren. Von dort werden die Interessen der Schlegels dann immer weniger poetisch und immer stärker auf historische Welten ausgerichtet. In Friedrich Schlegels ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ und im universalgeschichtlichen Teil von August Wilhelm Schlegels ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ wird die Temporalisierung und das Ganzheitliche vorwiegend programmatisch behauptet sowie gerade bei Friedrich Schlegel in Kausalschlüssen deduziert. In den Vorlesungen ›Über die Neuere Geschichte‹ gelingt es Friedrich Schlegel schließlich, ein stabiles Erzählgerüst aufzubauen, in dem der Geschichtsprozess erzählend zur Sprache gebracht werden kann. Insofern ist Schlegels Text zu Schillers ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ vergleichbar,89 nur dass Schillers geschichtsphilosophischer Anspruch dort 89
Siehe IV.9.
347
vornehmlich programmatisch verbleibt, während Schlegels geschichtsphilosophischer Anspruch wegen seiner Fokussierung auf die Ursprünge des deutschen Mittelalters und der europäischen Zukunft stärker als Teil von Erzählung und Argumentation in der Darstellung integriert ist. Es ist eine Erzählung über Geschichte. Das Vergangene wird explizit als etwas außerhalb des Textes Befindliches – eine historische Welt – markiert, das nun mit erzählerischen Mitteln dargestellt werden kann. Damit dreht sich die Bewegung der performativen Geschichtsschreibung vom zivilisatorischen Reisebericht, über die Universal- und Menschheitsgeschichte bis zur realen Ereignisgeschichte um. Gerade Friedrich Schlegels Ereignisgeschichte scheint sich ihrer Darstellungsprinzipien wegen der Parteinahme des Historikers so sicher, dass eine Inszenierung der Geschichte, ein Vollziehendes und Präsentisches des historischen Prozesses, nicht mehr benötigt wird. Aufgrund ihrer theoretischen und geschichtsphilosophischen Prägung braucht die deutsche Geschichtsschreibung eine performative Zwischenphase, in der der Prozess der Geschichte darstellbar und erzählbar gemacht wird. Formen stabiler nationaler oder transnationaler Identität – wie gerade bei Archenholz gesehen – können erst durch die Geschichtserzählung geschaffen, also erschrieben werden. In der späteren Romantik der Schlegels nach 1800 können diese Identitätsformen dann vorausgesetzt werden, was eine stabilere, durch den Historiker kontrollierte Geschichtserzählung schafft, die nicht mehr auf ihren performativen Vollzug angewiesen ist.90 Es zeigt, dass die Dichotomie ›Holismus – Perspektivismus‹, die zum Beispiel Dorothee Kimmich als Beginn modernen Geschichtsdenkens postuliert,91 letztlich für die Darstellungsformen der Geschichtsschreibung selbst zu grobmaschig ist. Die deutschsprachige Geschichtsschreibung entwickelt gerade wegen ihres ganzheitlichen, geschichtsphilosophischen Denkens neue Darstellungsformen: zuerst in den zivilisations- und menschheitsgeschichtlichen Prinzipien, die Forster 90
91
Eine weitere Entwicklung ist, dass das globale Bezugsfeld historischen und anthropologischen Wissens sich nach etwa 1820 in Expertenkulturen fragmentierte (Osterhammel: Die Entzauberung Asiens, S. 20), wodurch der Ganzheitsanspruch von Geschichtsschreibung zunehmend schwand. Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion. Kimmich zeigt für das europäische Geschichtsdenken, wie etwa zwischen 1830 und 1850 eine Verschiebung von einem holistischen zu einem perspektivischen Geschichtsdenken stattfindet, die sich zuerst in der Literatur niederschlägt, wo neue Strategien der Repräsentation von Geschichtlichkeit entwickelt werden. Dabei unterschätzt sie allerdings das Darstellungspotential dieser ›holistischen‹ Geschichtsschreibung und erliegt in gewisser Weise der Propaganda der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts.
348
und Herder zur Darstellung bringen, dann auch für realgeschichtliche Texte, in denen Schiller und Archenholz in der Lage sind, historische Ereignisse und geschichtsphilosophische Prinzipien zu inszenieren. Der Anspruch der Ganzheitlichkeit ist der Garant für die Notwendigkeit, Geschichte ästhetisch zu inszenieren. Geschichte ersetzt die ganzheitlichen Systeme der Metaphysik und Theologie und kann damit gerade durch den Anspruch der geschichtsphilosophisch geprägten Geschichtsschreibung die ästhetischen Voraussetzungen historiographischer Darstellungen schaffen, die gegen 1830 zum radikal konstruktivistischen und perspektivischen Modell des literarischen Umgangs mit Geschichte führen werden.92 Diese Untersuchung hat damit auch gezeigt, dass Geschichtsschreibung zwar viele Formen der Erzählung aus der Literatur übernimmt oder sich an diese anlehnt, wie beispielsweise Schillers Vereindeutigung fiktionaler Leerstellen,93 aber gleichzeitig auf ganz eigene Herausforderungen reagieren muss, um die Aufgaben einer Geschichtsschreibung mit referentiellem Wahrhaftigkeitsanspruch erfüllen zu können. Die Verschiebung zu stabileren Erzählformen im 19. Jahrhundert bedeutet aber keineswegs das Ende einer performativen Geschichtsschreibung als solches. Vielmehr werden immer dann Texträume inszeniert, in denen die Darstellung den Geschichtsinhalt überlagert, wenn Geschichtsschreibung besondere Darstellungsherausforderungen zu bewältigen hat, die nicht durch ein festes Erzählgerüst zu bewältigen sind. Für das ausgehende 18. Jahrhundert war diese Herausforderung, eine ganzheitliche Geschichte und einen von Notwendigkeiten geleiteten Geschichtsprozess, der das Zufällige der Geschichte überwinden kann, darstellen zu können. Neue Herausforderungen nach dem Auseinanderbrechen von Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft im beginnenden 19. Jahrhundert94 können zum Beispiel die Darstellung des kollektiven 92 93 94
Kimmich: Wirklichkeit als Konstruktion, S. 20f. Siehe IV.6. Hierbei ist allerdings immer zu beachten, dass Geschichtsschreibung und literarische Darstellung sich letztlich immer gegenseitig befruchten, wie Kathrin Maurer überzeugend für das Zusammenspiel von literarischem Realismus und akademischer Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert gezeigt hat (Discursive Interaction. Literary Realism and Academic Historiography in Nineteenth-Century Germany. Heidelberg 2006, insb. S. 159–161). Für Innovationen in der historischen Forschung und Geschichtsdarstellung des 19. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit ästhetischen Darstellungsanforderungen, siehe auch Philipp Müller: Erkenntnis und Erzählung. Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine. Köln/Weimar/Wien 2008. Siehe auch für eine performative Literaturgeschichtsschreibung Stephan Jaeger: Das Zerrbild Apollons. Heines künstlerische Erschreibung der Gegenwart durch Litera-
349
Bewusstseins von Minderheiten oder die historiographische Erfassung des Unsagbaren wie Kriegs-, Gewalt- oder Genoziderfahrungen sein. Sie sind immer dann möglich, wenn das Präsentische von Geschichte analytisch nicht erfasst oder kontrolliert werden kann.95 Die in der hier vorliegenden Untersuchung gezeigten Verschiebungen von einer rhetorischen Geschichtsschreibung zu einer ästhetischen Inszenierung von Geschichte im ausgehenden 18. Jahrhundert haben den Weg für die moderne Geschichtsschreibung bereitet, zwischen historischen und fiktionalen Welten eigene textuelle Welten darstellen und die poietische Kraft von Geschichtsschreibung ausnutzen zu können. Die von den Arbeiten von Hayden White und Paul Ricœur ausgehenden Erkenntnisse der Forschung zur Verfabelung von Geschichte in Geschichtsschreibung96 können so durch die Einsichten dieser Untersuchung um die Inszenierung von historischen Textwelten und den performativen Vollzug von Geschichte in Geschichtsschreibung erweitert werden.
95 96
turgeschichte. In: Kunst und Wissenschaft um 1800. Hrsg. von Thomas Lange/Harald Neumeyer. Würzburg 2000, S. 195–218. Siehe für erste Überlegungen in diese Richtung Jaeger: Erzählen im historiographischen Diskurs, insb. S. 128–133. Vgl. I.3.1 und I.3.2.
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Register
Personen und Werke Abbt, Thomas ›Vom Tode für das Vaterland‹ 283, 304 Alexander der Große 308, 328 Alfred der Große 175 Archenholz, Johann Wilhelm von 1–3, 30, 41–42, 48, 61, 68, 119, 179–180, 211, 213, 229, 250, 263–310, 318, 336, 341–342, 344–349 ›Gemälde der Preußischen Armee‹ 277 ›Geschichte des siebenjährigen Krieges‹ 1–3, 61, 180, 263–310 Aristoteles 15, 17–18, 196, 259 Attila 175 Augustus 308 Austin, John L. 35–36, 42–43 Bacon, Roger 152 Banks, Joseph 73 Benjamin, Walter 38 Bernhard von Weimar 253–254 Beulwitz, Karoline von 197–198 Bougainville, Louis-Antoine de 74, 102, 111 Briegleb, Johann Christian 283 Burgundius, Nicolaus 216 ›Historia Belgica‹ 216, 218–219, 223–228, 230–234, 238, 241, 257 Burke, Edmund 79 Certeau, Michel de 55–56, 236 Chladenius, Johann Martin 13, 269 Condorçet, Nicolas de, Marquis 313, 317 Cook, James 73–74, 78, 82, 88, 91–95, 98, 102, 109, 111, 114–115, 119–120 ›The Voyage of the Resolution and Aventure‹ 73, 91–93, 95, 98, 114, 120 Daun, Leopold Joseph Graf von 269, 271–272, 275, 285, 294 Derrida, Jacques 35 Descartes, René 152 Droysen, Johann Gustav 194
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Egmont, Lamoral, Graf von 209, 226, 230, 234, 242–245, 256–260 Elisabeth II. von Russland 290–291 Euler, Leonhard 307 Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel 303 Ferguson, Adam 10, 20, 79 Fichte, Johann Gottlieb: ›Über Geist und Buchstab‹ 203–204 Forster, Georg 40, 48, 65, 68, 71–121, 123–124, 137–138, 172, 178–179, 181–182, 195, 236, 239, 263, 275, 280, 298, 303, 318, 325–326, 328, 340, 345, 348 ›Ansichten vom Niederrhein‹ 72, 118 ›Cook, der Entdecker‹ 78 ›Die Kunst und das Zeitalter‹ 85 ›Leitfaden zu einer künftigen Geschichte der Menschheit‹ 79 ›Reise um die Welt‹ 71–121, 123–124, 178–179, 325–326 ›Über lokale und allgemeine Bildung‹ 75, 84 ›Voyage Round the World‹ 73 Forster, Johann Reinhold 73, 92–94 ›Observations Made during a Voyage round the World‹ 90–91 ›The Resolution Journal‹ 92–94 Foucault, Michel 11, 49–50, 56 Friedrich II. von Preußen 1–3, 42, 48, 61, 157, 213, 265–275, 277, 279–300, 302–309 ›Geschichte des Siebenjährigen Krieges‹ 271–274, 279, 282, 286, 290 Galilei, Galileo 152 Gatterer, Johann Christoph 26, 29, 178 ›Abhandlung vom Standort und Gesichtspunct des Geschichtsschreibers‹ 14 ›Abriß der Universalhistorie‹ 29
›Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte‹ 29 ›Von der Evidenz in der Geschichtskunde‹ 26, 230 Gibbon, Edward 20–25, 200, 338 ›The Decline and Fall of the Roman Empire‹ 21–25 Goethe, Johann Wolfgang von 18, 96, 256–261, 304 ›Egmont‹ 256–261 ›Über epische und dramatische Dichtung‹ 239 Goldsmith, Oliver 25 Gottsched, Johann Christoph 196 ›Versuch einer Critischen Dichtkunst‹ 17–18 Granvella, Kardinal (Antoine Perrenot de Granvelle) 208, 226 Gustav II. Adolf von Schweden 157, 206, 249–250, 253–254 Hannibal 293 Hawkesworth, John: ›A new voyage round the world, in the years 1768, 1769, 1770, and 1771‹ 91 Hegewisch, Dietrich Hermann 27 ›Geschichte der Deutschen‹ 27 Heine, Heinrich 349 Heinrich von Preußen (Prinz Heinrich) 298, 300, 302 Herder, Johann Gottfried 11, 30, 48, 65–66, 68, 71, 74–75, 82, 87, 119, 123–182, 195, 203, 211, 213, 260, 263, 275, 298, 318, 326, 328, 331, 335–337, 340, 342, 345, 349 ›Adrastea‹ 127, 133, 154, 177 ›Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit‹ 126–128, 130–131, 135–169, 177–179, 213, 336 ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ 123, 126–128, 130–133, 137, 140–147, 155, 157–179, 181, 326, 335, 337, 342, 346 ›Journal meiner Reise im Jahr 1769‹ 124 ›Shakespear Zweiter Entwurf‹ 124–125 Herodot 230, 338 Hesiod 7 Hodges, William 92, 95, 105, 114 Hoorne, Graf von (Philippe II. de Montmorency-Nivelle) 234, 244, 256 Hopper, Joachim: ›Recueil et Memorial des troubles des Pays Bas du Roy‹ 215–216, 226–227, 233 Huber, Ludwig Ferdinand 202
Hume, David 10–11, 20 Humboldt, Wilhelm von 189, 307 Illo (Christian von Ilow) 248 Iser, Wolfgang 35, 44–45 Jakobson, Roman 44 Jan von Thoulouse 237–238 Joseph II. 345 Kant, Immanuel 11, 75, 131–133, 137–138, 158, 167, 170, 179, 189, 200, 203 Karl V. 21, 242–243, 337, 345 Karl der Große 175–176, 342 Kolumbus, Christoph 74 Körner, Christian Gottfried 184–185, 187, 190, 197, 202–204, 214 Koselleck, Reinhart 8–15, 19, 31, 71, 144, 266, 289–290, 300 Laudon, Ernst Gideon von 299–303 Leibnitz, Gottfried Wilhelm 152 Le Roy Ladurie, Emmanuel 46 Lessing, Gotthold Ephraim 196, 203–204, 207, 306–307 ›Anti Goeze‹ 203–204 ›Briefe, die neueste Literatur betreffend‹ 184 ›Hamburgische Dramaturgie‹ 18, 207 Livius, Titus 14, 236 Luther, Martin 152, 157, 212–213, 338, 345 Macaulay, Catherine 25–26 Macchiavelli, Niccolò 236 Mansfeld, Peter Ernst, Graf von 257–258 Margaretha van Parma 208, 214, 227, 229–230, 240, 242, 244–246 Meinecke, Friedrich 127–128, 152 Meiners, Christoph: ›Grundriß der Geschichte der Menschheit‹ 71, 124 Mengs, Anton Raphael 307 Meteren, Emanuel von: ›Eygentliche und vollkommene Beschreibung des Niederländischen Krieges‹ 215–219, 224, 227, 231, 256, 258 Meursi, Joannis: ›Gulielmus Auriacus‹ 216, 233 Michelet, Jules 311 Milbiller, Joseph 280 ›Geschichte Deutschlands im achtzehnten Jahrhunderte‹ 272, 280, 284, 302 Mommsen, Theodor 195
379
Möser, Justus 19 Müller, Johannes von 29–30, 338 ›Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft‹ 263 Niebuhr, Barthold Georg 185, 187 Nietzsche, Friedrich: ›Vom Nutzen und Nachtheil der Historie‹ 321, 323 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 311, 313–316, 319, 328 ›Blüthenstaub-Fragmente‹ 314 ›Das allgemeine Brouillon‹ 315 ›Die Christenheit oder Europa‹ 315–316, 340 Oranien, Wilhelm von 42, 65, 193, 206, 209, 213–214, 218, 226, 230–234, 237–238, 241–246, 256–258, 283 Oxenstierna, Axel Gustafsson 254 Peter I. der Große von Russland 157 Peter III. von Russland 290–291 Philipp von Launoy 237 Philipp II. von Spanien 199, 208–209, 214, 230, 235, 242–246 Platon 7 Plutarch 244 Polybios 268, 338 Pütters, Johann Stephan: ›Teutsche Reichsgeschichte in ihrem Hauptfaden‹ 1–3, 179 Ranke, Leopold von 185, 187, 194–195, 312 Ricœur, Paul 23, 32, 34–35, 47, 53, 57, 59, 62, 235, 350 Robertson, William 20–21, 338 ›The History of Scotland during the Reigns of Queen Mary and of King James VI‹ 21 ›The History of the Reign of the Emperor Charles V‹ 21 Rosa, Salvator 97–98 Rudolf von Habsburg 343–344 Saldern, Friedrich Christoph von 279 Schiller, Friedrich 27, 29, 42, 48, 51, 58, 64–66, 68, 119, 126, 179, 181–264, 268–269, 271, 275, 280, 283, 289, 298, 307, 318, 336, 338, 340–342, 344–347, 349 ›Abfall der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung‹ 179,
380
181–194, 198, 201–202, 207–247, 250–254, 256, 259, 261, 263, 275, 338, 345 ›Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs‹ 185, 188, 190, 246–256, 261, 263, 338, 347 ›Kallias-Briefe‹ 204–205 ›Über Egmont. Trauerspiel von Goethe‹ 258 ›Über epische und dramatische Dichtung‹ 239 ›Von den notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen‹ 203–204 ›Wallenstein‹ 185–186, 206, 254, 261 ›Was heisst und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?‹ 200, 202, 235 Schlegel, August Wilhelm 30, 69, 120, 311–313, 316–318, 326–327, 329, 331–341, 345, 347–348 ›Vorlesungen über Encyklopädie‹ 311, 317–318, 327, 329, 331–339, 347 Schlegel, Friedrich 30, 69, 120, 311–314, 316–333, 336, 339–348 ›Athenäum-Fragmente‹ 313, 334, 340 ›Europa‹ 318, 328 ›Geschichte der europäischen Literatur‹ 317 ›Reise nach Frankreich‹ 318–326, 328, 330, 347 ›Über die neuere Geschichte‹ 318, 329, 339–347 ›Vorlesungen über Universalgeschichte‹ 318, 327–331, 333, 342, 347 ›Vom Wert des Studiums der Griechen und der Römer‹ 313 ›Zur Geschichte‹ 325, 341, 346 Schlözer, August Ludwig von 19, 26, 29, 128, 167, 178, 200, 211 ›Weltgeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange‹ 29 Schmidt, Michael Ignaz: ›Geschichte der Deutschen‹ 27, 246, 280 Searle, John 35 Sparrmann. Anders 92, 117 Spittler, Ludwig Timotheus 29, 183–185 Strada, Famiano 216, 218 ›De Belle Belgico‹ 216, 218–220, 222–224, 233, 238–239, 241, 243–245, 256–258 Tauenzien, Friedrich Bogislav von 299–302 Tempelhof, G.F. von 265, 269–270 ›Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland‹ 265, 269–270, 272–274,
276–279, 284–286, 288, 295, 301–302, 305, 308 Theoderich der Große 175 Theresa, Maria, Kaiserin von Österreich 273, 279, 294 Thukydides 338 Tilly, Johann t’Serclaes Graf von 250 Trajan (Marcus Ulpius Traianus) 24, 342 Vergil 103 Viglius ab Aytta [Wigle van Zwichem] 226–233, 240 ›Vita Viglii‹ 216, 226–228, 231, 234 Voltaire 11, 20, 133, 137, 173, 274, 338
Niederlande‹ 220–222, 224, 227–229, 233–234 Wallenstein (Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) 186, 206, 247–249, 254 Wallis, Samuel 88 Warnery, M. de 271 Watson, Robert: ›History of the Reign of Philip the Second‹ 199, 233, 235, 243–246 White, Hayden 20–21, 23, 38–39, 45, 52–56, 58, 62–63, 182, 350 Wieland, Christoph Martin 202, 307 Winckelmann, Johann Joachim 26, 307
Wagenaar, Jan: ›Allgemeine Geschichte der Vereinigten
Ziethen, Hans Joachim von 273, 275–276, 278–279
Begriffe Anschaulichkeit/Veranschaulichung (von Geschichte) 3, 26, 33, 106, 126, 133, 148, 176, 182, 207, 218, 232, 239, 246, 249–250, 261, 264, 287, 328, 335, 337, 339, 341 Ästhetisierung von Geschichtsschreibung 19, 27, 125, 189, 193, 202, 235, 242, 246, 256 Aufklärungsgeschichtsschreibung 8, 10, 20–23, 25, 28, 33–34, 64–65, 71, 75, 190, 203, 210, 261, 263, 280, 287, 298, 312, 347 Aufklärungshistorik 5, 14, 182 Augenzeuge, historischer 13, 29, 90, 201, 226, 268–271, 276 Beobachtung zweiter Ordnung 135, 239 Bildersturm 48, 209, 211–212, 214–225, 227, 229, 238, 244–245, 249, 256 Bildung 84, 110, 132, 136–138, 141, 144, 147–148, 150–152, 157, 160–161, 163, 169, 171, 173–176, 178, 189, 202, 313, 315, 323 Bühne der Geschichte 2, 42, 133, 181, 208, 229, 236–237, 239, 298 Deutschland, deutsche Nation (als Idee) 176, 254, 263, 295, 297, 304, 307–308 deutsche Identität/Kultur/Nationalbewusstsein 61, 176, 205, 296–297, 304–305, 308–310 deutsche Nation 30, 265, 304–305, 319, 321, 324–326
deutsche Nationalerzählung 330, 332, 336–337, 342, 344 Diskurs von Geschichte (Geschichtsdiskurs) 5–9, 19–20, 23, 25, 27, 30–31, 34–35, 38, 50–52, 55–57, 65–68, 186, 190, 193–194, 229, 259, 274, 283 Distanz (historische) 22–23, 32, 64, 83–84, 124 148–149, 151, 154–156, 161, 167–168, 170–171, 173, 178, 191, 217, 220, 237–239, 248–249, 274, 276, 344 Einbildungskraft 16–17, 47, 98, 121, 124, 130–132, 192, 195, 197, 321, 324–326, 341, 347 Enthusiasmus 229, 282–284 Entrhetorisierung von Geschichte 16, 25 Enzyklopädie 151, 317, 332–335 Ereignis (historisches) 2, 11, 33, 46–48, 62, 95, 143, 146, 150, 215, 217–218, 220, 222, 226, 271, 289–290, 295, 305 Erinnerungsort 320–322, 325, 341 Erzähltheorie (siehe auch Narratologie, narratologisch) 34, 59, 67 Erzählung, historische 3, 20–23, 25–26, 38–39, 45–51, 53–54, 56–57, 59–60, 63–64, 66, 76, 83, 100, 102, 107, 110, 113, 118, 134, 143, 146, 156, 164, 183, 192, 194, 236, 241, 247, 254, 263, 266, 277, 280, 286–287, 291, 296, 315, 335–337, 341, 344, 348–349
381
Europa (als Idee) 22, 77–78, 85, 104, 141, 150, 152–158, 164–165, 167–179, 281, 288, 294, 304, 308, 315–316, 318–319, 322, 324–325, 328, 330, 332, 336, 346 ›Faden der Geschichte‹ 79, 126, 136, 138, 149, 159, 313, 328, 336–338, 341–342, 345, 347 Fiktion (als Begriff) 23, 28, 49, 52–58, 60, 67, 75, 181, 258–261, 316 Fokalisierung 64–65, 247, 250 externe Fokalisierung 64, 237–238, 240 interne Fokalisierung 64, 67, 191, 237–241, 243–244, 247, 250, 290 Nullfokalisierung 64, 191, 240–241, 244, 247 Fortschritt 11–12, 21–22, 25–26, 48, 72, 78–83, 101, 109, 111–113, 116–118, 120–121, 124, 133–134, 137–139, 145, 152–154, 159–160, 171, 181, 208, 212, 223, 252–255, 261, 275, 291, 297, 303, 307, 313, 317 Ganzheit von Geschichte (ganzheitlich) 22, 28, 66, 87, 126, 157, 161–162, 168, 172, 181–182, 214, 264, 313, 317, 332, 347–349 Gattung des Menschen 93, 197 Gattung, literarische 10, 15–17, 53, 62, 317, 328 Genie 3, 13, 42, 61, 152, 179, 213, 286–287, 299, 304, 306–307, 314 Geschichtsphilosophie 5, 8, 10–12, 31–32, 51, 72, 79, 85, 124–127, 131–133, 136–137, 162, 173–174, 177, 206, 235, 240, 246, 255, 260, 311, 313, 326, 331, 340, 349 Geschichtstheologie, geschichtstheologisch 127, 214, 316 Geschichtswissenschaft 6, 23–24, 38, 45–46, 50, 55, 58, 61–62, 183, 186, 193–194, 255, 261, 308, 340, 349 moderne 8, 189, 194, 229, 261 Gesetz (der Geschichte) 8, 31–33, 66, 71, 120, 123, 126–127, 130, 132, 140–141, 159–160, 164–165, 167, 173, 179, 182, 199, 260, 265, 313, 316–317, 327, 329, 334–335, 344, 346–347 Grenztext/Schwellentext 65–67, 267 Hermeneutik, hermeneutisch 13, 72, 77, 93, 104, 124, 126, 130, 173, 311, 333 ›Historia Magistra Vitae‹ 9, 11, 33, 306, 309
382
Historismus 5, 8, 19, 21, 32–34, 65–66 Humanität 45, 117, 123, 127–129, 137–138, 141, 145–149, 153, 160, 162, 163–164, 168–169, 171–176, 178–179, 181, 189, 194, 203, 229, 264, 307, 312 Inszenierung 33, 36, 40–41, 43, 49 Inszenierung von Geschichte (Geschichtsinszenierung) 3, 5, 32, 43, 45, 49, 56, 58, 61–64, 66–69, 71, 78, 83–84, 87, 96, 100, 106, 108, 116, 126, 135, 137, 141, 147, 158, 162, 179, 181, 207–208, 215, 218, 221, 224, 236, 244, 252, 255–261, 265, 292–294, 300, 310, 318, 325, 341, 347–348, 350 Kalkül: historisches 290 militärisches 270, 274, 286 kalkulierte Rhetorik 232 Kollektiv, kollektiv 30, 48, 63, 109, 112–113, 175, 215, 250, 304, 320 Kollektivperspektive/Kollektivsubjekt 21, 27, 65, 67, 97, 102–104, 120, 161, 215, 223, 226, 239, 276, 288, 336, 349–350 kollektiver Strom/kollektive Notwendigkeit der Geschichte 215, 224, 226, 229, 249 Kollektivsingular ›Geschichte‹ 12, 17, 24, 31, 133, 226, 261, 266 Kontingenz, kontingent (siehe auch Zufall, historischer) 5, 28, 31–32, 56, 85, 87–88, 123–124, 130, 135, 178, 210, 214, 290, 313–314 Leerstelle 45 fiktionale 60–61 historische 60–61, 64, 234, 242, 246, 248, 254, 261, 349 ›linguistic turn‹ 49–51, 59, 62, 193–194 ›Literatur und Geschichte‹ 10, 50, 66, 343 Literaturbegriff, moderner 259 Literaturgeschichtsschreibung 30, 312, 349 ›locus amoenus‹ 96, 99, 103–104 Menschheitsgeschichtsschreibung, Menschheitsgeschichte 6, 30, 64, 66, 68, 71, 78, 84, 87–88, 100, 105–106, 108, 111–113, 123–124, 126–127, 131–132, 138, 141–142, 144–147, 149, 155, 157–161, 163, 166, 169, 172, 175–176, 178, 181, 195, 200, 263, 305, 307, 344–345, 348
Metapher 126–127, 131, 133–136, 142–143, 146, 162 Narrativitätsgrad 23, 29, 53, 56, 59, 62–64, 118, 134 Narratologie, narratologisch (siehe auch Erzähltheorie) 24, 59–60, 62–63, 162, 191, 255, 287 Notwendigkeit von Geschichte 12, 34, 45, 48, 64, 83, 133, 141–142, 144, 147, 165, 179–180, 182, 200, 214–215, 224–226, 229, 232, 240, 251, 264, 268, 284, 289–291, 293–294, 307, 335, 338–339, 344, 347, 349 Patriotismus 283, 297 Performanz, Performativität, Performatives, performativ 2, 5–7, 24, 33–48, 56–58, 66–67, 89–91, 95, 111, 117–120, 136–137, 142–143, 146, 149, 151, 163, 165–167, 181–182, 205, 207–208, 224, 236, 239, 260, 262, 280–281, 284, 287, 313, 316, 318, 322, 326–327, 330–331, 346–350 performative Geschichtsschreibung 5–8, 22, 24, 31, 33, 35–37, 40, 43–45, 47–49, 57–58, 60, 63, 71, 167, 195, 197, 220, 252, 281, 311, 327, 329, 335, 339, 348–349 performative Wende 38 Perspektivität von Geschichte 14, 32, 130, 333 Plan, historischer 128, 136, 138–139, 149, 151–153, 155, 158, 210–214, 221–222, 327 poetische Geschichtsschreibung 49, 60, 89, 350 Poiesis 45, 236 pragmatische Geschichtsschreibung 10, 23, 26, 29, 65, 71, 190, 210, 272, 280, 287, 298, 338 (das) Präsentische (von Geschichte/Geschichtsschreibung) 6, 29, 39–40, 42–43, 49, 107, 109–110, 142–144, 162, 164, 181–182, 218–219, 226, 238–239, 248–249, 277, 280, 298, 341–342, 345–346, 350 Prozess der Geschichte, Geschichtsprozess 3, 11–12, 22, 27, 32–35, 41–42, 45, 47–48, 63, 65, 68, 71, 79, 82–83, 87–88, 96, 100, 104, 112–113, 120, 123, 125, 134, 136–137, 139, 141, 145–148, 151–152, 158, 161, 165–169, 172–178, 181–182, 195, 207–208, 214–215, 223, 229,
235–236, 240, 242, 248, 266, 274–275, 280–281, 287, 289, 292–293, 296, 298, 307–310, 315, 321, 325–326, 331, 333, 339, 341, 346–349 Quelle, historische (historischer Quellenbegriff) 9, 23, 32, 55, 60, 63, 186–187, 192, 194, 198–202, 210–211, 215–216, 223–224, 231–232, 242, 250–251, 255, 260–261, 265, 268–272, 306 ›Querelles des Anciens et des Modernes‹ 9, 15 Realgeschichtsschreibung 6, 19, 48, 58, 68–69, 179, 181–182, 311, 315, 318 Rede: fiktive 16, 65, 226–228, 230–232, 234, 241 rhetorische 43, 147, 232, 248, 282–284, 286, 300, 316 Referenz, Referentialität 6, 17–18, 33, 36, 39–45, 57–59, 61, 66–67, 195, 206, 214–215, 222, 242, 251, 256, 259–260, 280–281, 284, 287, 314, 327, 349 Reisebeschreibung, Reisebericht 72–74, 100, 124, 320–321, 323, 348 philosophishe(r) 68, 75–76, 118, 176, 318–319 Re-Rhetorisierung, re-rhetorisieren 25, 33–34, 41–42, 235 Rhetorik (Beredsamkeit, Regelrhetorik) 5, 8, 17, 25, 41, 50, 74, 86, 190, 208, 218, 225–229, 231–235, 238, 248, 256, 265, 306, 320, 323 Rührung (auch ›movere‹) 41, 208, 235, 239, 258, 283 Schauplatz/Schauspiel der Geschichte 139, 150–151, 191, 237, 298, 327, 336, 338, 344 Schicksal 11–12, 28, 147, 149, 152, 157, 159, 206, 275, 281, 297 Sehnsucht 82, 98, 101, 103, 107, 114, 116–118, 120–121, 124 Kultursehnsucht 48, 72, 85, 102–104, 107, 110–111 Natursehnsucht 48, 72, 104, 109, 111, 113 Sekundärgeschichtsschreibung, Sekundärgeschichte 6, 68, 123, 178–179, 344 Selbstreferenz, Selbstreferentialität 12, 36, 42–44, 259, 262 Sinnbildungsdefizit 5, 27, 42, 64, 178–179, 181, 203, 263, 347
383
Sittlichkeit 80–83, 85–87, 100, 105, 116, 120 Stil 88, 93–94, 100, 112, 135–136, 143, 148, 179, 185–186, 194, 201–205, 220, 235, 246, 332 großer 204–205, 214, 324, 338 schöner 203–205, 207, 251, 262, 338 Temporalisierung, temporalisieren (siehe auch Verzeitlichung, verzeitlichen) 13–15, 32, 40, 45, 82–83, 88, 90–91, 95, 101, 103, 111, 113, 118, 121, 140–141, 144–145, 147, 161–162, 168, 178, 236, 261, 266, 313, 324, 335, 341, 347 Universalgeschichte 71, 178, 192, 200, 313, 318, 326–339, 342, 347 Universalgeschichtsschreibung 311, 318, 325–326, 344 Verfügbarkeit/Unverfügbarkeit von Geschichte 14–15, 206, 214, 240, 274 ›Vergangenheit, Gegenwart (und Zukunft)‹ 2, 14–15, 32, 40, 42–43, 110, 124–128, 141, 144, 190, 214, 223, 261, 266, 313–314, 318, 323–324, 326, 339–341, 346 Verräumlichung, verräumlichen 78, 100, 119, 121, 147, 172, 178, 321, 325 Verwissenschaftlichung von Geschichte 9, 16, 18–19, 23, 25, 158, 179, 192 Verzeitlichung, verzeitlichen (siehe auch Temporalisierung, temporalisieren) 14, 23, 25, 76, 95, 119, 124, 126, 137, 314, 328, 339, 341 Vollzug/Vollziehen (von Geschichte) 2, 6, 24–25, 36, 40, 45–46, 48, 82, 90, 135–136, 140, 142–144, 146, 164, 167, 181, 195, 208, 215, 223, 229, 234, 236, 238, 250–251, 254, 257, 262, 280–281, 301, 307, 309, 339, 348, 350 Vor-Augen-Stellen 319–320, 341–342 Wahrhaftigkeitspakt/Wahrhaftigkeit (der Geschichtsschreibung) 6, 16, 33, 57–58, 67, 282, 349
384
Wahrheit 9, 54, 56, 72, 77, 84, 91, 133, 196–201, 283 historische 9, 18, 25, 31, 74, 124, 174, 177, 182, 195–201, 205, 207, 209, 214, 229, 242, 265 philosophische 158, 174, 196–201, 204, 207, 235 poetische/literarische 31, 54–55, 186, 196–198, 201, 205, 265, 337, 339 Wahrnehmung (von Geschichte) 6, 13, 63, 65, 113–114, 124, 237, 260, 280, 345–346 Wahrnehmungsinszenierung/Inszenierung von Wahrnehmung 40, 44, 61, 72, 84, 95–96, 98, 108, 115, 240 Wandel, historischer 25, 140–144, 161–163 Welten: fiktive 47, 49, 60, 67, 350 historische 47, 49, 60–61, 67, 255, 347, 350 mögliche 60, 142 textuelle 7, 49, 60, 62, 64–66, 89, 229, 247, 329, 350 Weltgeschichte 29, 31–32, 71, 79, 163, 200, 202, 209–211, 213, 235, 239, 298, 302, 322, 341 Wissenschaftlichkeit 31, 74, 132, 188, 255, 327 Zivilisationsgeschichte, Zivilisationsgeschichtsschreibung 68, 71–72, 76–79, 81–83, 87–88, 90, 96, 103, 112–114, 116, 118–121, 124, 178, 191, 195, 236, 308, 318, 325 Zivilisationskritik 82, 85, 90, 97, 101, 112, 117 Zufall, historischer/Zufälligkeit, historische (siehe auch Kontingenz, kontingent) 12, 28, 31, 35, 83, 88, 130, 137–139, 152–153, 163–164, 181–182, 185, 200, 204, 207–215, 223–225, 229, 240, 242, 253, 260, 274, 289–290, 293, 300, 313–314, 344, 349