Performanz und ihre räumlichen Bedingungen: Perspektiven einer Kunstgeschichte 9783205792260, 9783205787914


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Performanz und ihre räumlichen Bedingungen: Perspektiven einer Kunstgeschichte
 9783205792260, 9783205787914

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Felicitas Thun-Hohenstein

Performanz und ihre räumlichen Bedingungen Perspektiven einer Kunstgeschichte

2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch

Gesellschaft der Freunde der bildenden Künste

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: © Roberta Lima, Please Help Yourself, Live Pervormance, Cairo Biennale 2008. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer Foto  : Anja Manfredi Lektorat: Thomas Mießgang Korrektorat: Herbert Hutz Herstellung und Satz: Carolin Noack Druck und Bindung: General Druckerei GmbH Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78791-4

Für Lauren und Benedikt

Danksagung Mein Dank für das Vetrauen in meine , zunächst an der Akademie der bildenden Künste Wien als Habilitation vorgelegte , Arbeit gilt meiner Familie , vor allem meiner Mutter Heide Thun-Hohenstein und meinem verstorbenen Bruder ­Volker Thun-Hohenstein. Meinen FreundInnen und KollegInnen möchte ich in besonderer Weise für kontinuierlichen Austausch , kritische Lektüre , emotionalen Support und geduldige Krisenberatung danken. Zu besonderem Dank bin ich Almut Krapf verpflichtet , die durch ihre kollegiale und unbeirrbare Haltung entscheidend zum Entstehen dieses Buches beigetragen hat.

Inhalt 1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Die performative Wende – Versuch einer historischen Genealogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Readymade zur Rauminszenierung –    Duchamps performative Geste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schwarze Quadrat –    Malewitschs in den universalen Raum implodierende subjektive Geste . . Der organlose Körper –    Artauds subjektivistische Rite de Passage . . . . . . . . . . . . . . Die Emanzipation des Subjekts vom Bild –    Pollocks und Newmans Kampf gegen die zweidimensionale Fläche . .

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3. Zur Begrenztheit der Theorien des Blicks . . . . . . . . . . . . 75 Raumkrise und Raumobsession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt . . . . . . . . . . . . . . .102 Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Anwendung von Raumkategorien . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Theatralität und Performanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Der ephemere Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Das Objekt als mnemotechnischer Agitator . . . . . . . . . . . . . . 143 Objektverlöschung in digitalen Räumen . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Aesthetic of Indifference / Ästhetik der Immanenz . . . . . . . . . . .148 5. Performanz und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 5 Differenzierungen von Ort und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Ephemeres Material als Gegenstand der Kunstgeschichte . . . . . . . . 164

6. Körperräume, institutioneller Raum, sozialkommunikativer Raum, exterritorialer Raum . . . . . . . . . . 169 Erfahrungsräume, phantasmagorische Räume, Raumsimulakren und  -metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .184 Beispiel methodologischer Herangehensweisen anhand einer   integralen Sicht auf Arbeiten von Carolee Schneemann, Eva Hesse   und Josephine Pryde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Abbildungsnachweis und Courtesy . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen […] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander.1

Das theoretische Werk von Michel Foucault steht beispielhaft für die obsessive Beschäftigung des 20. Jahrhunderts mit der Reflexion über Raum und die Möglichkeiten räumlichen Erlebens. Die Kultur- und Sozialwissenschaften diagnostizierten seit den 1990er-Jahren einen spatial turn oder topographical turn, der die Bedingungen räumlichen Erlebens grundsätzlich veränderte und vielfach zu einer krisenhaften Erfahrung führte. Raum ist im Lichte der gesellschaftspolitischen und wahrnehmungspsychologischen Paradigmenwechsel des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur gegebenes geografisches Faktum, sondern, angesichts zweier Weltkriege, Territorium, das mit militärischen Mitteln in großem Stil erobert werden will und somit in seinen Grenzverläufen und Einflusszonen instabil wird. Das Erleben der res extensa erfährt aber auch in befriedeten Zonen eine fundamentale Transformation  : Vor allem der öffentliche Raum wird von einer Zone der Begegnung und des kommunikativen Austausches immer mehr zu einem Plateau kommerzieller Interessen und einem Reich der Zeichenfülle, das seine ursprüngliche Rolle als Agora und Ort eines demokratischen Disputes infrage stellt. Auch die gesamtgesellschaftliche Beschleunigung durch neue Verkehrsmittel wie Autos, Hochgeschwindigkeitszüge und vor allem Flugzeuge berührt die Frage nach dem Erleben des Raumes. Wie vor allem Paul Virilio in „Geschwindigkeit und Politik“ ausgeführt hat, wurde Geschwindigkeit im 20. Jahrhundert zu einem entscheidenden Machtdispositiv, aber auch zu einem Medium einer neuen Erkenntnis von Raumverhältnissen  : Die planetarische Dimension, frü1

Michel Foucault, Andere Räume, in  : Karlheinz Barck  /  Peter Gente (Hg.), Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34.

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1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren

her unendlich groß und weitläufig, scheint plötzlich beherrschbar, andererseits ergeben sich durch leichte Erreichbarkeit selbst peripherer Orte Gefühle der Einschränkung und einer globalen Enge. Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Kulturen und Milieus wird unter dromologischen Bedingungen nicht mehr moderiert, sondern ereignet sich hektisch und abrupt  –  wie Jumpcuts im Film. Dazu kommen jene virtuellen Räume, die mit zuerst analogen, später digitalen Mitteln geschaffen wurden und die unsere traditionelle Vorstellung von Dimensionalität aushebeln, respektive von der Wahrnehmung in den Bereich der Projektion und Halluzination verschieben  : Kino und Fernsehen, großflächig verspiegelte Innenstädte, die Raumwirkungen multiplizieren und zeitgenössische Phänomene wie Cyberspace oder Web 2.0. Neuere Versuche, die globale, aber auch virtuelle Dimension des Raumerlebens theoretisch zu fassen, wie beispielsweise von Arjun Appadurai, unterscheiden Orte (places) von tatsächlichen Lebensräumen (locations) und konstatieren eine immer größer werdende Kluft zwischen identifikatorisch besetzten Orten (places of identification) und den jeweiligen Lebens- und Handlungsbereichen. Des Weiteren sieht Appadurai in der Eröffnung neuer virtueller Räume durch ein medial vernetztes kollektives Begehren den Versuch, einer als traumatisch erlebten Enträumlichung der Welt halluzinatorisch und projektiv zu begegnen.2 Die Verbindung von Krisenvorstellungen und existenziellen Ängsten ist fundamental in der menschlichen Kultur verankert  –  Unsicherheit, das Experiment, tief in die Psyche eingekerbte neue Erkenntnisse und Erfahrungen bewirken grundlegende Veränderungen in den Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung und sind ein Motor evolutionärer Energien. Die These, die dem thematischen und strukturellen Ansatz dieses Buches zugrunde liegt, besagt daher, dass der Bereich der Kritik und mehr noch jener der Kunst aufgrund des ihnen innewohnenden relationalen Wesens, welches von einer Dynamik der Inklusion und Offenheit bestimmt ist, zur individuellen und kollektiven Bewältigung der von vielen Kulturen und Gesellschaften als krisenhaft und daher negativ erlebten Entwicklungen in der räumlichen Erfahrung beitragen können. Vor allem die Kunst kann im gleichberechtigten Austausch mit den Wissenschaften, im Prozess der Hinterfragung und Veränderung von Perzeptionsmechanismen und deren Verarbeitung wie in Laborsituationen Prozesse direkter Erfahrungswerte Wahrnehmungssituationen konstruieren, 2

Vgl. dazu  : Arjun Appadurai, Globale ethnische Räume, in  : Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt  /  Main 1998, S. 11–40.

1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren 1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren 

die nicht den Zwängen des Messbaren unterworfen sind, sondern ein freieres Agieren ermöglichen. Insofern bietet sie durch die Thematisierung tief liegender kollektiver Veränderungsparadigmen grundsätzliche und ganz unmittelbar erlebbare Modellerfahrungen an und stellt Materialien und mediale Dispositive zur emanzipativen Bewältigung von ontologischen „Kehren“ durch fundamentale Änderungen der perzeptiven Bedingungen bereit. Daraus folgt, dass hier dem Terminus Krise, zumindest im Kontext der Kunst, a priori keine negative Bedeutung zugeschrieben wird, sondern vielmehr der Status eines kulturellen Intensitätsmomentes, welches thematisch aufgegriffen und erfahrungshaft zugänglich gemacht werden kann. Aus dieser Sicht wird Krise grundsätzlich zur Chance, die eine weitere Intensivierung der Auseinandersetzung mit jenen produktiven Systemen, in denen der Raum und die Möglichkeiten seiner Vorstellung schon bisher behandelt wurden, nach sich zieht. Im Rahmen dieser Schrift sind vor allem jene soziologischen und sozialgeografischen Ansätze von Belang, die seit den 1970er-Jahren Raum nicht mehr als statisches Phänomen, als einen äußerlich begrenzten Container, denken, sondern Raum als eine soziale Tatsache etablierten, die im Prinzip nur aus der gesellschaftlichen Entwicklung heraus verstanden werden kann. Dies bedeutet vor allem, dass dem Raum als Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses eine eminent performative Komponente zukommt, der sich durch Handlungen formiert und gleichzeitig auf diese Handlungen zurückwirkt. Die Kunst konnte sich im Verlauf der Geschichte der Moderne und der damit zusammenhängenden Genealogie ihrer Avantgarden, von der Limitation durch politisch-ideologische Machtstrukturen und Raumkonzepte sowie deren repräsentative Festschreibungen im Bereich auch ideologisch wirkender architektonischer Stratifikationen, seien es nun Kathedralen, Universitäten oder Konzernzentralen, nachhaltig befreien. Hier verstehe ich den bis heute andauernden Geschichtsprozess auch als einen kontinuierlichen, emanzipatorischen Kampf in eigener Sache, bei dem die Kunst für sich kongenialen Erkenntnismehrwert aus den Möglichkeiten der von ihr konstruierten Erfahrungsprozesse generiert. Daher steht am Anfang meiner Überlegungen der Versuch, diesen emanzipativen Prozess der Kunst historisch zu verankern und aus der Geschichte der Kunst des 20.  Jahrhunderts interpretativ zu stützen. Im Mittelpunkt der Argumentation stehen dabei jene avantgardistischen Positionen, die bereits früh dem Parameter des Raumes einen entscheidenden Platz in der Reflexion über die Basisstrukturen von Kunst zugewiesen haben. Dass dies vor allem das zentrale Thema des avantgardistischen Gestus von Kunst war, ergibt sich aus einer

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1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren

komplementären Parallelbewegung von Kunst- und Kulturwissenschaften. Ich gehe von der Annahme aus, dass der Werkprozess, das Entstehen des Kunstwerks, im Kontext der Avantgarde auf einem diskursiven Wechselverhältnis von Kunst und Kritik auf baut. Der Prozess der kontinuierlichen Selbstreferenz und kritischen Selbstreflexion, auf den die Kunst heute nicht mehr verzichten kann, weist ihr einen grundsätzlich prozessualen Charakter zu und fixiert ihre souveräne Position gegenüber den konkurrierenden erkenntnistheoretischen Systemen der Theologie und Philosophie. Ein solcher interdisziplinärer und zwischen Anschauung und Reflexion vermittelnder Ansatz ist beispielhaft in Werk und Person des russischen Denkers Pavel Florenskij verkörpert. Schon anhand seiner biografischen Eckdaten lässt sich erkennen, dass Florenskij jenem theoretischen Universalismus huldigt, der den grundsätzlichen Forderungen der künstlerischen Avantgarden der Moderne entspricht. Die avantgardistische Selbstverpflichtung der Kunst, Realität nicht nur zweidimensional repräsentativ, sondern grundsätzlich und prozessual zu gestalten, spiegelt sich in seiner Biografie, die ihn gleichermaßen als Denker, Mystiker und Naturwissenschaftler ausweist. In welchem Umfang Florenskij mit seinem um 1920 entstandenen Text „Raum und Zeit“ zur Wirkungsgeschichte der modernen Avantgarden in der Kunst beigetragen hat, wird erst jetzt zunehmend deutlich – eine Folge des intellektuellen Austausches, der nach der Aufhebung der ideologischen Trennung Zentraleuropas vom osteuropäischen Kulturraum eingesetzt hat. In seinen Aufsätzen hat sich Florenskij besonders gegen die seit der Renaissance in der westlichen Perzeption und theoretischen Reflexion dominierende Vorstellung von der Zentralperspektive ausgesprochen. Er argumentiert, dass diese den Betrachter zum passiven Konsumenten eines äußeren, repräsentativen Scheins in der Kunst mache und ihn auf eine eingeschränkte Perzeption beschränke, die den vielfältigen Wahrnehmungspotenzialen des Menschen nicht entspräche. Laut Florenskij werde demgegenüber das Sehen durch die Aktivität des Betrachters / der Betrachterin, seine / ihre Bewegungen im Raum und die Synthese von räumlichen Eindrücken und sich bewegenden Körpern im Raum geprägt. Er wendet sich radikal gegen das kartesianisch-kantisch-euklidische Weltbild, welches das Ich zum distanziert beobachtenden, prinzipiell passiven Subjekt erzogen hätte. Seine Theorie prononciert stattdessen die Bedeutung von empirischem Erfahren zur Erkenntnis von Wirklichkeit als für die Kunst der Moderne entscheidende Komponente. Florenskij lehnt auch die dem westlichen Denken zugrunde liegende antinomische Sicht einer reinen Kunst, die durch

1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren 1. Zur Einführung  : Vom kartografischen Blick zum synchronistischen Erfahren 

andere machtorientierte Systeme instrumentalisiert wird, ab. Vom Standpunkt einer Kunstgeschichte aus, die sich mit dem Entwurf neuer Kategorien und Leitlinien zur stärkeren Betonung der performativen Entwicklungen in der Kunst gegenüber einer statischen Sicht auf das Primat des Objekts beschäftigt, bieten gerade diese Ideen Florenskijs eine historische Grundlage zur Neubewertung von Kategorien. Florenskijs Einfluss auf die russische Avantgarde und den Suprematismus ist beträchtlich und seine Analysen zur Funktion von Räumlichkeit und Zeit in der Kunst von so großer Tragweite, dass sie auch jenseits ihres gesellschafts- und kulturhistorischen Kontextes anwendbar sind. Sie bieten Anregungen für eine synthetische Neuinterpretation der Entwicklungsgeschichte der Kunst unter dem Aspekt der Performanz vor allem unter Berücksichtigung jener Werkbegriffe, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Transfer zwischen Europa und den USA entstanden sind. Eine solche Interpretation würde sich weniger an äußeren Formen wie Material, Werkzeug, Stil und Zeitmoden orientieren als vielmehr an grundlegenden Strukturen, die sich prozessual in Raum und Zeit entfalten. Sie würde mehr als zuvor die Kunst als gleichberechtigten Faktor neben Wissenschaft, Philosophie und Religion positionieren, ihr eine aktiv gestaltende Funktion im Umgang mit Wirklichkeit zuweisen und damit einem zentralen Imperativ der Moderne bzw. der Avantgarde Rechnung tragen. Im Rahmen dieses diskursiven Zusammenhanges wird daher in dem Kapitel Die performative Wende  –  Versuch einer historischen Genealogie versucht, durch eine alternative historische Verankerung die orthodoxen Genealogien einer Entwicklungsgeschichte der Kunst des 20.  Jahrhunderts durch die Betonung des performativen Elements zu revidieren. Eine solche historische Annäherung ist, vor allem was die Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg betrifft, entscheidend von der Theorie- und Diskursbildung in den USA geprägt. Der in dieser Zeit sich ausformende, dynamisch wirkende Theorieansatz, aber auch das amerikanische Verteilungssystem per se, üben ab den 1940er-Jahren sowohl auf die Entwicklungen in Europa als auch in der Folge im globalen Maßstab nachhaltigen Einfluss aus. Daher wird hierbei wiederholt auf dieses auch für die Gegenwartskunst immer noch entscheidende Paradigma Bezug genommen. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage nach den Ursachen und Konsequenzen der Diskussionen um die Moderne und Postmoderne als diskursiver Subtext mitreflektiert werden. Dabei gehe ich davon aus, dass die in das Projekt der Moderne eingelagerte Entelechie, ihre zum Utopischen drängende Fortschrittsdynamik, sich historisch noch nicht erledigt hat  ; dass vielmehr gerade

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heute im entscheidenden Debattenfeld, das die Kunst in Bezug auf Globalisierung und Ethnifizierung ihrer Agenda besetzt, das aktivistische Konzept der historischen Avantgarde vor allem auch im Sinne ideologischer und ethischer Kontextualitäten benötigt wird. Die seit den 1970er-Jahren in akademischen Milieus und Avantgardezirkeln ausgerufene posthistorische Moderne mit ihrer Betonung des Heterogenen und eines universalen Relativismus scheint aus dieser Sicht limitiert und zumindest in ihren Auswirkungen zu sehr von einer der Kunst übergeordneten und strategisch-politisch geleiteten affirmativen Dynamik geprägt. Ausgehend von der Annahme einer performativen Wende in der Kunst um 1960, soll hier im Weiteren anhand von Eckpunktanalysen unter performativstrukturellen Aspekten ein interdisziplinäres Deutungsangebot gemacht werden. Dies, um letztlich zu einer Verdeutlichung jenes Prozesses zu kommen, der, vor allem seit den 1960er-Jahren, zu einer Emanzipation performativer Strategien in der Kunst und somit einer ästhetischen Neubewertung der räumlichen Dimension geführt hat. Als entscheidende kunsthistorische Eckpunkte einer in Bezug auf die transatlantische Austauschdynamik ausgewogenen historisch-theoretischen Konstruktion, von der letztlich auch auf die weiteren Entwicklungen der Kunst seit der performativen Wende geschlossen werden kann, werden folgende thematische Blöcke skizziert  : –– eine Interpretation des performativen Gestus bei Marcel Duchamp im Hinblick auf seine einflussreiche Position bei der Entwicklung der europäischen, aber vor allem amerikanischen Avantgarden der 50er- und 60er-Jahre  ; –– eine Bezugnahme auf die Bedeutung des Suprematismus und des Werkes von Malewitsch für die neo-avantgardistischen Positionen nach der performativen Wende vor allem in Bezug auf die performative Geste, die sich im Ideenkomplex „Schwarzes Quadrat“ manifestiert  ; –– d ie Bedeutung des theoretischen Werkes, der späten Zeichnungen, aber auch der subjektiven Körperpräsenz Antonin Artauds als europäischer Bezugspunkt für die Performanzpositionen der Neo-Avantgarden  ; –– eine Analyse der sich von europäischen ästhetischen Normen emanzipierenden amerikanischen Avantgarde und deren theoretische Kontextualisierung durch Clement Greenbergs Modernism. Das Werk Marcel Duchamps wird im Rahmen meiner Argumentation in eine homologe Beziehung zu den Theorien Florenskijs gestellt. So verschieden ­d iese

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beiden aus zwei unterschiedlichen europäischen Kulturkreisen stammenden Ansätze auch sind, beiden kommt, im Sinne einer theoretischen Grundlagenarbeit für die Entwicklung des Kunstwerks in Raum und Zeit, grundsätzliche Bedeutung zu. Die Ausweitung des Werkbegriffes in den Bereich des konzeptiven, gedanklichen Gestus bei Duchamp unter demonstrativer Nutzung desillusionierender Materialien hat eine ähnliche kunst- und kulturtheoretische Relevanz wie Malewitschs Akt eines spirituellen Ikonoklasmus, repräsentiert durch die Installation des „Schwarzen Quadrats“ in der Ausstellung „Letzte futuristische Ausstellung.0,10“ in Petersburg. Bereits in diesem Spannungsfeld zeichnen sich jene Parameter ab, die 40 Jahre später Grundlagen eines einsetzenden Paradigmenwechsels sind. Bedenkt man, dass sich die alten kulturellen und gesellschaftspolitischen Strukturen Europas im Zeitraum zwischen 1914 und 1945 durch die existenzielle Grenzerfahrung zweier Weltkriege fundamental verändert haben, müssen vor allem aus europäischer Sicht die Avantgarde-Bestrebungen zwischen Paris und Moskau auch als Trauerarbeit im Angesicht der Apokalypse verstanden werden, als verzweifelte Versuche, angesichts des allgemeinen Sogs in den Abgrund neue und gültige Gesetzmäßigkeiten als künstlerische Vision zu antizipieren. Dass dies häufig mit großen individuellen Opfern und subjektivem Leidensdruck verbunden war, wird anhand einer weiteren, für die Entwicklung vor allem der europäischen kulturellen Identität bedeutenden Position, dem Werk Antonin Artauds, formuliert. Die Positionen Duchamps, Malewitschs und Artauds wurden deshalb gewählt, weil in ihren Werken, exemplarisch und in demonstrativer Auseinandersetzung mit ihrem jeweiligen gesellschafts- und kulturpolitischen Kontext, die Umrisslinien für jene zukünftigen, ab den 1950er-Jahren einsetzenden Entwicklungen zu erkennen sind, die, als Neo-Avantgarden bezeichnet, die letzten bereits historischen Fundamente für die Entwicklung und Rezeption der Gegenwartskunst bieten. Die kulturellen Bedeutungsverschiebungen und paradigmatischen Umschichtungen zwischen Europa und den USA finden parallel zu einer ab den 1950er-Jahren einsetzenden Medien- und Kommunikationsrevolution mit bedeutenden Auswirkungen auf die Kunst statt. Die performative Wende in der bildenden Kunst ist engstens verzahnt mit medialen Entwicklungen, die über rein reproduzierende Bild- und Filmtechniken hinausgehen. Durch elektronische Digitalisierung der Daten wird eine neue, immens beschleunigte Bildkommunikation ermöglicht, die über die Dynamik der notwendigen perzeptiven Adaptionsleistungen wieder auf den Werkbegriff in der Kunst zurückwirkt.

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Dabei ist auffallend, dass die bildende Kunst von Beginn an nicht affirmativ, sondern vielmehr kritisch-analytisch reagiert. Somit kann die Hypothese aufgestellt werden, dass die Auswirkungen der Medienentwicklung auf die Wahrnehmungs- und Reflexionsmöglichkeiten des Subjekts, genauer  : die Veränderung der Weltwahrnehmung in expandierenden medialen Environments, zu einer verstärkten Präsenz des Körpers in der Kunst geführt haben. Es geht jetzt vermehrt um ästhetische Schnittstellen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Authentizität und Virtualität, zwischen bewusstem Gewahren und halluzinatorischem Schein. Und der Körper des Künstlers / der Künstlerin ist gewissermaßen die Instanz, über deren biologische und psychische Konstitution paradigmatische perzeptive Transformationen verhandelt werden. Als unmittelbare historische Anknüpfungspunkte dieser Reaktivierung der direkten, auch körperlichen Präsenz des Subjekts in der Kunst wird in der historischen Skizze vor allem auf die Positionen von Artaud und Pollock Bezug genommen. Beide Werke haben bis heute massiven Einfluss auf verschiedene künstlerische Genealogien ausgeübt. Vor allem im direkten Vergleich lassen sich grundlegende strukturelle Parameter der durchaus unterschiedlichen Entwicklungen diesseits und jenseits des Atlantiks herausdestillieren. Wenn die um 1960 einsetzende Performatisierung des Kunstwerks mit ihren weitreichenden Folgen, vor allem im Einflussbereich des amerikanischen Kunstmilieus, immer wieder ausschließlich auf den „allover“-Gestus in der Malerei Pollocks zurückgeführt wird, so greift dies zu kurz. Man muss, vor allem aus europäischer Perspektive, das Werk Artauds hinzufügen, um der Diversifizierung der Ansätze in den Positionen der Neo-Avantgarden der 60er-Jahre gerecht werden zu können. Durch diese bipolare Versuchsanordnung zur Theoriebildung scheinen mir für die kunsthistorische Interpretation und Analyse jener um 1960 stattfindenden paradigmatischen Veränderungen, die zur ästhetischen und theoretischen Konstitution des „performativen Plateaus“ geführt haben, zwei Deutungsmöglichkeiten plausibel. Einerseits eine neue Perspektivierung der europäischen Avantgarden, exemplarisch festgemacht am Werk und der Person Artauds, die sowohl künstlerisch als auch lebenspraktisch legitimiert ist, um die klassische Moderne und vor allem die surrealistische Bewegung in ein Verhältnis zu den neoavantgardistischen Entwicklungen unter der Prämisse der Performativität zu setzen. Andererseits eine radikale Formulierung des Topos vom „Künstler als exemplarisch Leidenden“,3 den Artaud geradezu idealtypisch in Leben und 3

Vgl. dazu  : Susan Sontag, Kunst und Antikunst, München 1980, S. 75 ff.

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Werk verkörpert hat und der den sehr unterschiedlichen, dem Körper gegenüber indifferenten Entwicklungen im amerikanischen modernism eine Position der Viszeralität und einer nachgerade existenziellen Grausamkeit entgegenstellt – was metaphorisch auch als europäischer Reflex auf die Katastrophenerfahrung des 20. Jahrhunderts zu lesen sein mag. Meine Annahme ist, dass in der wechselseitigen Beleuchtung der künstlerisch-theoretischen Konfigurationen, die von Duchamp und Malewitsch, von Artaud und Pollock geschaffen wurden, jene grundsätzlichen Strukturen sichtbar werden, aus denen die Neo-Avantgarden der späten 1950er- und 1960er-Jahre jene wesentlichen paradigmatischen Veränderungen in der Kunst ableiten konnten, die sich a posteriori als performative Wende in der Kunst charakterisieren lassen – als Schwerpunktverlagerung vom Objekt zum Prozess. Anders formuliert bedeutet das, dass das Kunstwerk nicht länger die ihm zugeschriebene Autonomie und Kontextunabhängigkeit behaupten kann, sondern sich erst im diskursiven Wechselspiel mit den umgebenden theoretischen Milieus und im Status der permanenten Selbstreflexion als gültige ästhetische Setzung manifestiert. Dies ist letztlich ein Zeichen dafür, dass die Kunst jene am Beginn der modernen Avantgarden stehenden Forderungen nach Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Selbstreferenz und bewusstem sozialpolitischem Handeln erst zum Zeitpunkt der Erosion des Projektes der Moderne ästhetisch zu bearbeiten imstande war. So könnte man vielleicht die These wagen, dass sich der postmoderne Relativismus auf lange Sicht nur als diskursives Zwischenspiel in einer immer noch teleologisch orientierten Moderne erweist, die ihrer endgültigen Vollendung harrt. Die seit den 1960er-Jahren vermehrte Kontextualisierung hat die Kunst in ein „erweitertes Feld der Kultur“4 gerückt und kann als Beginn der Erfolgsgeschichte der Kulturwissenschaften gesehen werden, da die traditionell etablierten Denkdisziplinen sich aufgrund fehlender Flexibilität nur zögernd auf die neuen von der Kunst selbst vorgegebenen Entwicklungen einstellen konnten. Heute hat die Diskussion zwischen den traditionellen Disziplinen und den Kulturwissenschaften einen produktiven Charakter angenommen. Vor allem jene Analysen, welche sich mit der Frage der methodischen Zugänglichkeit der Entwicklungen der Kunst nach der performativen Wende beschäftigen, kommen 4 Sabine Flach, Körper Szenarien. Zum Verhältnis von Körper und Bild in Videoinstallationen, München 2003, S. 21.

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nicht umhin, diesen das kontextuelle Feld der Kunst mitgestaltenden diskursiven Prozess mit zu bedenken. Ich gehe mit Sabine Flachs Feststellung, dass die Kontextualisierung der künstlerischen Arbeit „sich deutlich auf eine anthropologische Reformulierung des Körperdiskurses als eine wesentliche Diskussion des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts“ konzentriert, weitgehend konform.5 Allerdings mit der Einschränkung, dass die von Flach festgestellte Reformulierung des Körperdiskurses weniger ein Element des ausgehenden 20.  Jahrhunderts ist, sondern, zeitlich vorgelagert, bereits die Entwicklungen der Moderne bestimmt hat. Dies muss vor allem im Zusammenhang mit der künstlerischen Ausfaltung des Feminismus ab den 1950er-Jahren betont werden. Somit lässt sich festhalten, dass der Hang zum Performativen in dem Moment künstlerisch relevant wurde, als der Körper aus der immanenten Logik des Projekts der Moderne heraus endgültig in den Mittelpunkt der ästhetischen Konzepte gesetzt wurde.6 Spätestens zum Zeitpunkt dieser paradigmatischen Verschiebung erhebt die Kunst analog zum Programm der Avantgarde endgültig den Anspruch auf eine bislang noch nicht hinreichend definierte Position neben Technik und Wissenschaft als gestaltende geistige Kraft. Eine reine Konzentration dieser Entwicklung auf die Präsenz des Körpers im künstlerischen Prozess wäre jedoch eine Verkürzung der tatsächlichen Tragweite dieser Entwicklung. Es geht auch um eine Erweiterung des Kunstbegriffs in einen geistig-halluzinatorischen Raum jenseits der physischen Gegenwart. In der Performanz schreibt sich der Geist des Werkes als transitorische Geste in den Raum und die in ihm gelagerten Objekte ein. Diese Form der performativen Körperpräsenz kann sich im Bereich der Kunst in jeder medialen Form, natürlich auch in der Malerei, vermitteln und ist keineswegs auf das performative Kunstwerk im Sinne von Happening, Aktion oder Performance beschränkt. Die wesentlichen Entwicklungen der Kunst seit der performativen Wende sind vom Dualismus der Körperpräsenz oder der repräsentativen Absenz des Leibes und seiner Perzeptionsmechanismen ge5 Ebd., S. 21. 6 Hier nehme ich insofern eine konträre Position zu Flach ein, als meine These auf der Kontinuität der Avantgarde aufbaut und eine Kategorisierung der geschichtlichen Entwicklung in Moderne und Postmoderne mit all den Konnotationen vermeiden möchte. Daraus folgt, dass die Präsenz des Körpers bzw. des Körperbildes nicht, wie Flach betont, ein Phänomen der ästhetischen Praxis der Postmoderne sein kann, sondern dass seine Verhandlung kontinuierlich im Zentrum der Moderne steht.

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prägt – mit seinen sich in Raum und Zeit entwickelnden Koordinaten und den Objekten, an denen diese Koordinaten festgemacht werden. Mein theoretischer Versuch zielt darauf, die hier dargestellte inhaltliche Dynamik in den Entwicklungen der Kunst seit etwa 1960 in ihrer historischen Dimension begreif bar zu machen und im Themenspektrum um die diskursive Fixierung neo-avantgardistischer Positionen, um Literalismus und psychophysischen Naturalismus zu verankern. Dabei ist vor allem herauszuarbeiten, wie im Bereich der europäischen Entwicklungen dem Körper in seiner materiellen und viszeralen Präsenz mehr Bedeutung zugeschrieben wird als in der amerikanischen Kunst. In der Anfangszeit der Neo-Avantgarden, also in den 1960erJahren, beschäftigten sich zahlreiche europäische Künstler / -innen in einer modifizierten Weiterführung der surrealistischen Tradition mit dem Körper als biophysischer Einschreibfläche von sozialer und politischer Relevanz. Die amerikanische Kunst verabschiedet sich vorerst mit dem Abstrakten Expressionismus der New York School weitgehend vom Anthropozentrismus des Surrealismus7 und konzentriert sich zunehmend auf die Spiegelungen des Körpers und die materiellen Spuren seines Gestus. Als komplementäre ästhetische Setzung zu dem von Greenberg und Fried vertretenen Diskurs eines strengen und materialspezifischen Formalismus entwickelt sich eine Kunst, die den Körper weniger in seiner psychophysischen Präsenz, sondern eher als limitiertes, oberflächliches Trägermedium von Zeichen definiert. Dieser in der Dialektik des transatlantischen Austausches angelegte Widerspruch ist für mich eine der großen Herausforderungen in der geschichtlichen und strukturellen Analyse der letzten Jahrzehnte. Im Zusammenhang mit der Thematisierung einer performativen Wende ist sie dazu geeignet, die Koordinaten einer Matrix festzulegen, die eine synthetische und interdisziplinäre Bearbeitung der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Werkbegriffe überhaupt erst möglich macht. Die diskursive Begleitung der Kunst durch die Kulturwissenschaften hat in einer reziproken Bewegung zum Terrainverlust der Kunstgeschichte nach der performativen Wende zu einer Vielzahl von Einzeldiskursen geführt, die heute das kulturelle Feld bestimmen. Ein wesentlicher Hinweis darauf, wie intensiv diese Debatte geführt wird, sind zweifellos die Konzepte von Großausstellungen wie der documenta X und 11. Bei beiden Veranstaltungen 7

Barnett Newman bezeichnet diese „Fixierung“ der europäischen Kunst als „alte Geometrie“, die von der amerikanischen Kunst überwunden werden muss. Siehe dazu  : Barnett Newman, The Sublime Now, in  : Tiger’s Eye, 1, 6, New York 1948, S. 51–53.

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war die Präsentation von Kunstobjekten entscheidend in ein beinahe gleichwertiges Diskursszenario eingebettet. Ausstellungen wie auch Museen und Ausstellungshallen schaffen seit einigen Jahren bevorzugt wissenschaftlichästhetische Laborsituationen bzw. sie verstehen sich als kulturelle / kulturhistorische Archive und Container. Parallel dazu wächst die Kritik am antidiskursiven White Cube, dessen Funktion zunehmend als lediglich repräsentativ und systemkonform kritisiert wird. Wie bereits ausgeführt, ist eines der Resultate dieser Entwicklung ein disziplinärer Diskurs über die Funktionalität und Produktivität von Theoriesystemen wie den Kulturwissenschaften. Ich stimme mit der holländischen Kulturtheoretikerin Mieke Bal überein, dass innerhalb der zu führenden Debatte um die Kunst die kontinuierliche Evaluierung der diskursiven Werkzeuge unumgänglich ist. Vor allem mit dieser Frage beschäftigt sich das Kapitel „Zur Begrenztheit der Theorien des Blicks“. Dabei wird einerseits versucht, den aktuellen Stand der Auseinandersetzung wiederzugeben, um weiters über Texte von Mieke Bal und Lawrence Grossberg auf die Diskussion über Funktion und Position der Kulturwissenschaften und der Kunstgeschichte als Denkfelder einzugehen. Ich knüpfe an die Forderung von Bal nach der Notwendigkeit der Einführung einer methodologischen Stringenz an, die den Kulturwissenschaften ihrer Meinung nach fehlt. Sie appelliert an die über Jahrzehnte entwickelten methodologischen Möglichkeiten der Kunstgeschichte und erhofft sich aus der Kombination der analytischen Strategien eine produktivere Deutungsperspektive im Hinblick auf die Kunst. Auch Grossberg identifiziert die Kulturwissenschaften als „globale intellektuelle Ware“ und bezeichnet sie kritisch als ein „globales Phantasma“. Er sieht sie innerhalb der gefährlichen Dynamik „einer idealisierten, aber leeren Vision einer politisch und / oder intellektuell informierten Praxis“.8 Grossberg leitet diese Problematik von der grundsätzlichen Offenheit der Kulturwissenschaften her, die die Gefahr einer phantasmagorischen Beliebigkeit in sich birgt. Seine kritische Bestandsaufnahme impliziert wie bei Bal die Notwendigkeit, der diagnostizierten Ungenauigkeit durch eine präzise methodologische Struktur zu begegnen. Vor allem in Bezug auf das Nachdenken über den Entwurf einer methodologischen Konstruktion von Raummodellen unter dem Aspekt der Performanz stellt ein Dialog zwischen Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften eine notwendige wechselseitige Befruchtung dar. Letztlich könnte dieser Austausch zur 8

Lawrence Grossberg, What`s going on  ?, Wien 2000, S. 195.

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Entwicklung eines terminologischen Apparates führen, der den Entwicklungen in der Gegenwartskunst mit ihren Anforderungen an permanente Selbstreflexion ihrer Bedingungen und Kontexte entspräche. Eine kategoriale Neuorientierung, potenziell in Form eines work in progress, welche die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts mit ihrem zentralen Thema der Subjektivierung bis in die direkte Involvierung des Körpers und der daraus folgenden veränderten Perzeptionsdynamik unter dem Parameter der Performanz neu entwerfen und reflektieren kann. Vor allem die Kunstgeschichte ist dabei deshalb gefordert, weil sich zunehmend herausstellt, dass die in den letzten Jahren breit diskutierten Blicktheorien für eine umfassende Analyse zu kurz greifen und die Entwicklung neuer interpretatorischer Instrumente unumgänglich ist. Selbst bei der offenen Theorie des „kartografischen Blicks“ in der Kunst von Buci-Glucksmann, die tatsächlich geeignet ist, Entwicklungen in der Kunst der Moderne von den Niederländern bis zu zeitgenössischen Positionen gültig zu beschreiben, ist die räumliche Dimension zugunsten eines umfassenderen synthetischen Ansatzes zurückgedrängt. Performanz entwickelt sich in der Kunst innerhalb eines reziproken kommunikativen Bezugsnetzes mit den Elementen Raum, Körper, Bewegung, Rezipient / -in. Körper meint in diesem Zusammenhang nicht nur den menschlichen Körper, der in vielen Kunstwerken faktisch als Zeichenträger bzw. als aktiver Partizipant im Zentrum des performativen Kunstwerks steht, sondern könnte auch ein Überbegriff für das Kunstobjekt sein, welches immer in aktivem Bezug zum Künstler / -innen-Subjekt oder dem Rezipienten / der Rezipientin innerhalb eines kommunikativen Prozesses gedacht ist. Das Subjekt als faktischer Körper bzw. repräsentiert durch Körper, in die sein Text oder eine andere Form der existenziellen Präsenz eingeschrieben ist, kann sich letztlich nur im Raum konstituieren. Nachdem die Kunst in der Moderne zu einer autonomen Kraft geworden ist, kann sie legitime Aussagen über die Bedingungen des Raumes, ähnlich den Wissenschaften, machen. Dabei geht sie allerdings im Vergleich zum wissenschaftlichen Begreifen des Raumes von anderen Prämissen aus. Hier schließe ich mich der Kritik von Merleau-Ponty an, für den „Wissenschaft mit den Dingen umgeht, ohne sich auf sie einzulassen“ 9, und der der Kunst und hier vor allem der Malerei die Möglichkeiten zuschreibt, „aus jener Schicht unverarbeiteter Sinneserfahrungen“ zu schöpfen, „von der das aktivistische Denken nichts wissen will“.10 9 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 1984, S. 13. 10 Ebd., S. 14.

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Sowohl Merleau-Ponty als auch Florenskij beklagen die Unfähigkeit des modernen Denkens, sich zu einer Erkenntnis des „Bodens der sinnfälligen Welt“ zurückzuversetzen. Das animistische Denken jenseits der kartesianischen Ratio sei in der Moderne zu einer Art absoluter Konstruktionssucht geworden. Der Mensch sei in der von einer solchen Denkkultur geprägten Welt zu einem „manipulandum“ mutiert und befinde sich in einem Kultursystem, „wo es kein Richtig und Falsch mehr für den Menschen und die Geschichte gibt“ und in dem er sich in einem „Schlaf oder Alptraum“ befinde, „aus dem nichts ihn zu wecken vermag“.11 Wie bei Florenskij wird der Malerei auch bei Merleau-Ponty deshalb so viel Gewicht zugeordnet, weil es für ihn in erster Linie der Maler ist, der „der Welt seinen Körper leiht“ und „damit die Welt in Malerei verwandelt“.12 Damit hat er in seinem 1945 erschienenen Hauptwerk „La Phenomenologie de la perception“ nahezu zeitgleich mit den Selbstporträts Artauds und dem Beginn der „Drippings“ von Pollock eine philosophische Reflexion entwickelt, die in der Tradition der Avantgarde steht und die tatsächlichen Entwicklungen in der bildenden Kunst der 1950er- und 1960er-Jahre antizipiert. Für die Kunstgeschichte stellt sich nun die Aufgabe, jene Denk- und Begriffswerkzeuge zu entwickeln, die es möglich machen, die Entwicklungen in der bildenden Kunst unter dem oben beschriebenen Imperativ der Performanz und der Präsenz des Körpers zu begreifen und zu beschreiben. Performanz ist ohne Raum nicht zu denken. Deshalb konzentriert sich dieses Buch auf die Herausarbeitung von Produktionsenergien in der Kunst, die dieses inzwischen allgegenwärtige Mitbedenken des Räumlichen konstituieren. Die kontextuellen Bedingungen dafür habe ich versucht, in „Raumkrise und Raumdominanz“ einzukreisen und dabei nach den Gründen und Bedingungen der zunehmenden Diskussion um das Raumdenken und seine Thematisierung in der Kunst zu fragen. Dabei stellt sich vor allem die Frage nach der Begründung und den unmittelbaren Folgen des bereits thematisierten Krisenszenarios als Motivation für die Entwicklung alternativer Möglichkeiten, Techniken und psychologischer Determinanten im Umgang mit Raumvorstellungen in der Kunst. Fundamental ist hier vor allem die soziologische Erkenntnis von einem „vielgestaltigen Relationsraum, der, unabhängig von fest gefügten Grenzen, sozial und temporär definiert ist“.13 11 Maurice Merleau-Ponty, 1984, a. a. O., S. 14. 12 Ebd., S. 15. 13 Paul-Gerhard Klumbies / Ingrid Baumgärtner / Franziska Sick (Hg.), Raumkonzepte  : Disziplinäre Zugänge, Göttingen 2009, S. 13.

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Die Kapitel „Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt“ und „Jenseits der Objekte“ beschäftigen sich mit der Frage nach den Relationen zwischen dem Kunstobjekt, seiner Funktionalität und seinem Entstehungsprozess in Bezug auf performative Werkkonzeptionen. Alle dabei angeschnittenen Themenkreise stellen den Versuch dar, die diskursive Matrix für die im Folgenden entworfene Struktur von Raumkategorien zu bilden, mit der ein veränderter und adäquater Blick auf die Entwicklungen in der modernen und gegenwärtigen Kunst unternommen werden kann. Wesentlich scheint mir, dass mit dem Rüstzeug dieser Systematik eine graduelle perspektivische Verschiebung weg von der schon von Florenskij beklagten Passivität des Blicks zu einer umfassenderen Perzeptionsdimension sichtbar wird. Denn die Kunst selbst scheint mir, im Unterschied zum Diskurs, längst an einem Niveau angelangt zu sein, wo der „Beschauer“ zum „Erleber“ mutiert und sich, konträr zu den kategorischen Imperativen einer rein analytisch-rationalen Weltsicht, eine andere, direktere, reifere und ganzheitlichere Sicht auf die „sinnfällige Welt“ ausbildet. In diesem Sinn bleibt die Kunst dem Diskurs trotz aller reziproken kausalen Verbindungen vorgeordnet.

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2. Die performative Wende – Versuch einer historischen Genealogie Pawel Florenskij spricht in seinem Text Raum und Zeit im Kapitel „Die Bedeutung der Räumlichkeit“ bezüglich der Malerei davon, dass man den Zugang zum Kunstwerk grundsätzlich „nur über die Einsicht in seine räumliche Organisation“14 findet, und setzt sich kritisch mit der umfassenden Gültigkeit der perspektivischen Sicht auseinander. Dieser Ansatz ist im Lauf der Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert weitgehend in den Hintergrund gerückt. Die Gewichtung verschiebt sich in der Moderne von einer isolierten Sicht auf das autonome Kunstobjekt hin zu einer Rezeption, in der die Dominanz des Handelns vor dem Objekt betont wird. Zunehmend tritt das Kunstobjekt zugunsten eines Gestus in den Hintergrund, wodurch ihm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft kein Primär-, sondern vielmehr ein Stellvertretercharakter zukommt. Das Illusionistische des Bildnerischen wird vom Faktischen der ästhetischen Handlung abgelöst. Das Kunstwerk transformiert sich vom autonomen Konstrukt zum Werk- und Denkzeug, das auf einen weit über die faktische Präsenz hinausgehenden Werkcharakter im Sinne der Idee Foucaults von heterotopen Räumen als „Reservate[n] der Imagination“15 verweist. Fragen des Raumes im Sinne von Florenskijs Kritik am zentralperspektivischen Sehen, am euklidischen Raum und damit am Positivismus der Wissenschaft und dem Naturalismus in der Kunst treten nun in den Hintergrund. Spätestens mit diesen paradigmatischen Verschiebungen kann vom Einsetzen einer performativen Wende in der bildenden Kunst gesprochen werden. Dieser Paradigmenwechsel vollzieht sich im Kontext grundsätzlicher Entwicklungen in der Kunst und deren Impulsen für die analytische Reflexion dieser Tendenzen, festgemacht am Kunstwerk selbst. Im Grunde genommen 14 Pawel Florenskij, Raum und Zeit, Berlin 1997, S. 11. 15 Siehe dazu  : Catherine David, Das politische Potential der Kunst. Gespräch mit Jean-François Chevrier und Benjamin Buchloh, in  : Katalog der documenta X, Ostfildern / Ruit 1997, S. 388 ff.

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finden zwei strukturkritische Prozesse innerhalb der bildenden Kunst statt, die sich letztlich ineinander verzahnen  : einerseits die Abkehr von der reinen Oberflächenwirkung und dem perspektivischen System zugunsten flexibler und handlungsgeleiteter Strukturen des Kunstwerks in Raum und Zeit. Grundsätzliche Schritte dazu sind bereits im 19. Jahrhundert auszumachen, aber erst drei spätere maßgebliche Positionen, nämlich das Werk von Marcel Duchamp, Kasimir Malewitsch und Antonin Artaud, weisen den Weg zu dem ab 1950 stattfindenden, breit angelegten paradigmatischen Wechsel  ; andererseits mit der vollständigen Entmaterialisierung des Kunstwerks, das sich als interaktives und partizipatorisches Aktionsfeld neu konstituiert und dessen Objektcharakter sich zunehmend auflöst. Performativität meint also nicht nur eine Kunst, die sich „theatralisch“16 artikuliert, sondern sie ist ein ungleich tieferer Prozess, der in die eigentlichen Strukturen des Kunstwerks und in der Folge in das gesamte System Kunst eingreift. Die ästhetische Produktion lässt die Bereiche der fixierten Textur und der Auseinandersetzung an der Oberfläche hinter sich und entwickelt sich hin zu einem künstlerischen Dispositiv, das durch Mehrdimensionalität, Bewegung, Transparenz und Kommunikation charakterisiert ist. Nach dem Performativen in der Kunst zu fragen heißt entsprechend auch nicht, eine neue Klasse von Kunstwerken zu definieren. Vielmehr bedeutet es, eine Ebene der Bedeutungsproduktion zu konturieren, die in jedem Kunstwerk vorhanden ist, die aber nicht immer bewusst und aktiv gestaltet wird, nämlich seine realitätserzeugende Dimension.17

Unter diesen Vorzeichen bricht die bildende Kunst das holistische Verständnis von Kunst und Kultur als geschlossenem Bedeutungszusammenhang auf und lässt homogenisierende und expansive Perspektiven – man könnte mit Deleuze / Guattari auch sagen  : deterritorialisierende und reterritorialisierende Vektoren – zueinander in ein performatives Spannungsverhältnis treten. Eine vollständige historische Genealogie der performativen Wende in der bildenden Kunst liegt bis heute nicht vor. Historische Modelle wie jenes der Amerikanerin RoseLee Goldberg greifen entschieden zu kurz – und sind stark durch ihr Umfeld und ihren Ursprung in der amerikanischen Performance Theory determiniert –, weil sie nicht auf die entscheidenden Strukturände16 Vgl. dazu die Verwendung des Begriffs „theatrical“ in Michael Frieds Text Art and Objecthood, in  : Artforum, V, 10, Los Angeles 1967, S. 12–23. 17 Dorothea von Hantelmann, How to do things with art, Zürich-Berlin 2007, S. 11.

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rungen Bezug nehmen. Neben diesem 1979 vorgelegten historischen Modell ist vor allem in den 1990er-Jahren eine Reihe von Büchern erschienen, die das Thema ahistorisch behandeln.18 Ein umfassendes und integratives Modell steht bis dato aus, wenngleich ein Ansatz dazu in der Programmatik der documenta X, 1997, von Catherine David zu erkennen ist. Diese Ausstellung war geprägt vom Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme grundlegender theoretischer Bedingungen in der Kunst, die eben von einem Strukturwandel, vom Objektcharakter hin zur Dominanz des Konzeptuellen und Reflexiven ausgeht. Allerdings hat sich gezeigt, dass im Fall der documenta die Ästhetik des Kunstwerks tendenziell von der analytischen Qualität der Sprache überlagert wurde. Diese Entwicklung mag auch mit der vor allem im Europa der 1960er-Jahre einflussreichen strukturalistischen und marxistischen Kritik zu tun haben, die grundsätzlich dem Text eine größere Bedeutung in der demiurgischen Durchdringung gesellschaftspolitischer und kunsttheoretischer Sachverhalte zuordnet als dem Bild. Der Grund für die retardierte Entwicklung in der Interpretation ist möglicherweise in dem zu eng gefassten Ansatz zur Analyse performativer Kunstproduktion zu finden. Die Selbsteinschränkung bei der Verwendung der diagnostischen Kriterien könnte in einer kategorialen Unschärfe bei der Frage nach Wesen, Bedeutung und Substanz des performativen Elements in der bildenden Kunst begründet sein – was eine theoretische Nivellierung komplexer struktureller Abläufe zur Folge hätte. Ein anderer Grund liegt in einer disziplinären Dissonanz, da sich die Performance Theory bzw. die homolog entstandenen Cultural Studies aus ihrer eigenen Entstehungsgeschichte heraus weitgehend gegen die Konstruktion historischer Strukturen und Genealogien entschieden haben. Andererseits ließ das Beharren der Kunstgeschichte auf ihrer eigenen Herkunft und Tradition mit einer fetischistischen Konzentration auf das zweidimensionale und statische Kunstwerk eine Sicht auf neue permutierende Strukturen, die sich in Raum und Zeit entwickeln, nicht zu. 18 Aus ästhetischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive siehe  : Andrew Parker / Eve Kosofsky Sedgwick (Hg.), Performativity and Performance, London / New York 1995  ; Paul Schimmel (Hg.), Out of Actions  : Between Performance and the Objekt, LA-MOCA 1998  ; Amelia Jones / Andrew Stephenson (Hg.), Performing the body / Performing the text, London / New York 1999  ; Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt / Main 2002  ; Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt / Main 2002  ; Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt / Main 2002.

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Im Gegensatz zu solchen historisierenden Entwicklungsmodellen versuche ich, einen integrativen diskursiven Ansatz auszuarbeiten, mit dessen Hilfe der Einstieg in die Auseinandersetzung mit Grundstrukturen der Gegenwartskunst gefunden bzw. erleichtert werden kann. Zwei Thesen stehen am Ausgangspunkt meines methodischen Vorhabens, das u. a. auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem integralen Deutungsansatz von Goldberg inkludiert. Die erste These lautet  : Bei der Geschichte der performativen Wende handelt es sich grundsätzlich um eine Entwicklung, die innerhalb des Kontextes der bildenden Kunst stattgefunden hat. Diese Festlegung markiert bereits eine fundamentale Differenz zur Position Goldbergs, die ihr Modell explizit im Hinblick auf Zusammenhänge der Performance-Art mit Entwicklungen im Avantgarde-Theater ausgearbeitet hat. So verständlich und nachvollziehbar es ist, dass Goldberg in den 1970er-Jahren auf eine Definition der PerformanceArt als Genre oder Disziplin fokussierte und dafür einen historischen Kontext erarbeiten wollte, so muss dieser Versuch aus heutiger Sicht als problematisch bezeichnet werden. Wie eine historische Spurensuche in der Kunst zeigt, kann man zwar, vor allem im Milieu von Fluxus und Happening-Kunst in den 1960er- und 1970erJahren, von einer Anhäufung performativer Gesten bis hin zu semi-theatralischen Aufführungen sprechen. Bei genauerem Blick auf die einzelnen Werkpositionen wird man aber erkennen, dass nur sehr wenige von ihnen die Live Performance sui generis und für sich stehend entwickelt bzw. fortgeführt haben. Im Werk zahlreicher Künstler / -innen sind Performance, Happening oder Aktion transitorische Phasen, gewissermaßen Rites de Passage, an deren Ende andere Werkmodelle und Werkkategorien stehen. Die Performance hat im Blick auf die Gesamtentwicklungen in den Werken dieser Künstler / -innen oft den Charakter einer befreienden bzw. erneuernden Geste, die Altes, Eingefrorenes überwindet, experimentelle Freiräume öffnet und den Weg zu neuen Werkbegriffen bzw. Werkdimensionen aufschließt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass deshalb der autonome Status der Performance infrage gestellt würde. Ihr meist zu Singularität, Authentizität und Konventionsbruch strebender Gestus, der an die individuellen Akteure gebunden ist, schließt jedoch die Möglichkeit der Wiederholung aus, und so bleibt die Einmaligkeit der performativen Geste eine der Grundstrukturen dieser Kunstform auf dem Weg zu einer neuen theoretischen Bestimmung des Werkbegriffes bzw. des Wesens eines Kunstobjekts. Daraus ergibt sich, dass Performativität und Performance-

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kunst weitgehend fundamental unterschiedliche Ansätze verfolgen. Denn Performativität im Butler’schen Sinne gründet auf ein nicht-autonomes und nichtsubjektivistisches Verständnis von Handeln. Daraus ergibt sich die Conclusio, dass die Einengung des Themas auf eine Geschichte der Performance-Art zwar eine gewisse Legitimität beanspruchen darf, aber, was die Tragweite der damit verknüpften sozialen, politischen und ästhetischen Konnotationen betrifft, viel zu kurz greift. Es stellt sich daher die Frage, ob die kunsttheoretische Konstitution der Performance-Art als Genre sui generis und dessen Historisierung sinnvoll bzw. zielführend war. Die zweite These geht davon aus, dass nur dann eine theoretische Homöostase in der Darstellung eines fortlaufenden Entwicklungsprozesses erreicht werden kann, wenn die performative Wende kontinuierlich im Kontext eines transatlantischen und in der Folge globalen Kunstaustausch-Dispositivs verhandelt wird. Goldbergs Modell hingegen basiert auf einer spezifisch amerikanischen Sicht auf die genannten Entwicklungen. Dieser Blick hatte sich vor allem nach der Implosion der politischen Topografie Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der daraus folgenden Erosion der europäischen Kulturdominanz verfestigt. In den 1940er- und 1950er-Jahren hatte sich mit Künstler(inne)n wie Arshile Gorky, Jackson Pollock oder Barnett Newman in der amerikanischen Kunst eine Avantgarde formiert, die noch in einem engen Zusammenhang mit den europäischen Entwicklungen stand. Erst mit der Gruppe um John Cage, Robert Rauschenberg und Jasper Johns und dem amerikanischen Literalismus der 1960er-Jahre entstand eine genuin amerikanische Position, die bis heute im Austausch und in der Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in der europäischen Nachkriegskunst und einer inzwischen immer globaler agierenden Neo-Avantgarde Wirkung und Einfluss entfaltet. Der Auf bruch und die Leistungen des amerikanischen Abstrakten Expressionismus hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zweifellos starke transatlantische Auswirkungen. In der Auseinandersetzung mit den Teleologien der Moderne und der gestischen Expressivität in den Werken Pollocks und Newmans ist jener energetische Entwicklungsstrang zu erkennen, der einerseits die Kunst international zu Reaktionen zwang, andererseits innerhalb der Entwicklung der amerikanischen Kunst zu paradigmatischen Verschiebungen führte. Trotz des bedeutenden Einflusses des Abstrakten Expressionismus wäre es jedoch allzu vereinfachend, die Entwicklung der internationalen Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschließlich als Reaktion auf die Dominanz dieser Gruppierung zu interpretieren.

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Um die Entwicklungen im Wechselspiel zwischen der amerikanischen Aufbruchs- und der europäischen Aufarbeitungskunst verstehen zu können, ist eine integrale Sicht auf die Produktionsästhetik der Abstrakten Expressionisten von großer Bedeutung. Der starke Einfluss dieser Gruppe verdankt sich nämlich nicht nur der Kunst, sondern auch der begleitenden Theorie, die bald eine internationale Wirkmächtigkeit erlangte – vor allem durch die ideologische Stringenz der Position Clement Greenbergs. Die theoretischen Arbeiten Greenbergs und Frieds und in weiterer Folge die Fortführung eines eigenständigen kunsthistorischen Diskurses in den USA durch die bis heute einflussreiche Gruppe um die Zeitschrift „October“ konstituierten eine dogmatische und von einer partikularen Sichtweise geprägte demiurgische Annäherung an die Grundelemente der Moderne. Parallel zum Höhepunkt des Abstrakten Expressionismus konstellierte sich eine neue radikale Bewegung, die – unter Berufung auf die gestischen Exaltationen Pollocks und andere rezente Entwicklungen – an einer explosiven / expansiven Neudefinition der künstlerischen Parameter arbeitete. In den ästhetischen Strategiespielen von John Cage und Allan Kaprow wurden die Fundamente für die Dominanz des Performativen über das Objekthafte im darauffolgenden Jahrzehnt gelegt. Cage und seine Studenten Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Allan Kaprow bezogen sich auf die uneingelösten Entelechien der Moderne und die bereits damals im Ansatz vorstrukturierten Befreiungsenergien, die die Kunst in Richtung Multidimensionalität, Performanz und intermediale Oszillationskraft erlösen wollten  –  auch gegen und über die von Clement Greenberg und Michael Fried noch einmal gezogenen Demarkationslinien, die Kunst nach dem Prinzip des Exklusionsverfahrens definierten. Dem Widerstand der Denkschule Greenbergs ist es geschuldet, dass eine Ästhetik, die aleatorische Prinzipien mit neuen künstlerischen Raumkonzepten verknüpfen wollte – man denke beispielsweise an die Gemeinschaftsarbeiten von John Cage und dem Choreografen Merce Cunningham –, in den USA wenig Resonanz fand und vorerst eher in Europa sowohl praktisch als auch theoretisch reüssierte. Dies gilt für die Entwicklung des Happenings und seiner Varianten ebenso wie für die performativen Versuchsanordnungen im Bereich einer Kunst, die in immer stärkerem Ausmaß die Dimension der Wahrnehmung prononcierte  –  besonders für jene Genres, die das Subjekt, im Besonderen das Künstler / -innen-Subjekt, durch die unmittelbare Präsenz des Körpers als Signifi-

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kant einer nomadischen Suchbewegung ins Zentrum ihrer Produktionsästhetik stellten. Ebenso trifft diese Dynamik auf jene Kunstpositionen zu, die neue mediale Möglichkeiten für die Vermittlung und Wahrnehmung performativer Prozesse nutzten und den intermedialen Aspekt der Kunst betonten. Im medienästhetischen Bereich der Pop-Art und in deren analytischer und selbstreflexiver Variante der Appropriationskunst liegen aus heutiger Sicht die ursächlichen Leistungen der amerikanischen Kunst der 1960er-Jahre. Aufgrund dieser kunsttheoretischen Disposition stellt sich die Frage, ob die europäische, aber auch außereuropäische Kunst eine größere Offenheit und Flexibilität im Vergleich zu den dominierenden Entwicklungen in der amerikanischen Kunst beanspruchen kann. Zwei unterschiedliche argumentative Positionen müssen in diesem Fall berücksichtigt werden – einerseits die kritische Sicht der amerikanischen Künstler / -innen auf den Status quo der europäischen Produktion  : Barnett Newman verwendet den Ausdruck „geometrisch“ als Synonym für eine kulturell und politisch erstarrte Situation, die aus der Sicht des Künstlers und Kritikers nur als fatale Sackgasse interpretiert werden kann  ; andererseits die dynamische Produktivkraft einer aufstrebenden jungen Nachkriegsgeneration, die programmatisch an die Versprechen der europäischen Moderne anschließt und, sowohl in der künstlerischen Praxis als auch in der theoretischen Entbergungslust, eine generelle Bereitschaft zu offenen Systemen und performativen Kunstformen aus dem Geist von Dada, Surrealismus et al. erkennen lässt. Im Wesentlichen lässt sich in der Alten Welt eine asynchrone Amalgamierung europäischer und amerikanischer Avantgarde-Strategien diagnostizieren  : Eine verspätete Rezeption der durch Faschismus und Krieg unterbrochenen Tradition der Moderne trifft auf eine nahezu zeitgleiche Appropriation rezenter amerikanischer Kunstversuchsanordnungen – die ihrerseits wiederum viel dem europäischen Modell der Moderne verdanken. Dieser transkontinentale Energie- und Wissenstransfer führte in Europa ebenso wie auch auf anderen Kontinenten, die  –  wie Mittel- und Südamerika – im Wirkungsbereich der westlichen Kulturhegemonie waren, zu wesentlichen Fortschritten in der Kunst. Eine Genealogie der performativen Wende nur aus den Avantgarde-Bestrebungen im New York der 1940er- und 1950er-Jahre abzuleiten bedeutet daher eine verkürzte und – im Sinne eines arrogierten amerikanischen Deutungsmonopols – ideologisch zugespitzte Darstellung. Insofern kommt dem historischen Ansatz Goldbergs, die die Performance-Art aus der Praxis des Avantgarde-Theaters bzw. intermedialen Phänomenen im Rahmen der Avantgarden der Moderne entwickelt, eine gewisse Berechtigung zu, da die

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Radikalität der performativen Wende ab 1960 ohne solche historischen Bezüge, die weit in die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückreichen, nicht nachvollziehbar ist. Das aus heutiger Sicht entscheidende Problem der Theoriebildung Goldbergs liegt jedoch in der Hypostasierung der performativen Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre als eigenes Genre. Diese Isolierung der performativen Geste von ihrem „Quellcode“ in der bildenden Kunst und die damit einhergehende Verankerung im Kontext des Avantgarde-Theaters kann in Anbetracht der Entwicklungen in der Kunst der 1980er- und vor allem 1990erJahre nicht mehr aufrechterhalten werden. Goldbergs historisches Modell muss heute auch als Dokument einer inneramerikanischen kunsthistorischen Debatte gelesen werden. In ihr spiegeln sich die interpretativen Flügelkämpfe des theoretischen Diskurses der Zeit nach Greenberg, und es scheint, als ob seine strikte Ablehnung von allem Prozessualen und Performativen und sein wiederholt vorgebrachter Vorwurf der „Theatralik“ zu einer Spaltung in der theoretischen Rezeption der Entwicklungen der 1950er- und 1960er-Jahre geführt hat. Die Dominanz der Greenberg’schen Position war über die 1960er-Jahre hinaus so stark, dass Goldberg ihren theoretischen Ansatz zur performativen Ästhetik lieber in kritischer Distanz zum diskursiven Milieu der bildenden Kunst ausarbeitete. In den mit dem begrifflichen Instrumentarium der Literaturtheorie entwickelten Performance-Theorien eines Victor Turner und Richard Schechner aus den 1970er-Jahren fand die Theoretikerin die Möglichkeit einer methodologischen Verankerung ihres Thesenapparates. Weiters eröffnete die Herleitung der performativen Geste in der Kunst aus der Geschichte und dem Ausdrucksvokabular des Theaters die Möglichkeit, das amerikanische Avantgarde-Theater historisch in ein Verhältnis zu europäischen Traditionen zu setzen und so die Produktionen einer explizit amerikanischen Theatergeschichte im High-Art-Bereich, losgelöst von der in der US-amerikanischen Kultur dominierenden Unterhaltungsdimension des Low-Art-Bereichs, wie z. B. Vaudeville-Theater, Musical-Kultur, Filmindustrie, vorzustellen. Aus heutiger Perspektive ist dieses bipolare Modell allerdings nicht aufrechtzuerhalten. Die Tendenz zu Expansion und Intermedialität in der Kunst der 1960er-Jahre lässt es vielmehr geraten erscheinen, die Geburt des Performativen aus dem Geist der fine arts zu begründen. Drei künstlerische Positionen der europäischen Moderne, die in der historischen Genealogie Goldbergs nur peripher behandelt werden, sind in diesem Zusammenhang besonders zu beachten  : Marcel Duchamp, Kasimir Malewitsch und Antonin Artaud.

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Seit Duchamp das Readymade als vielfältig schillerndes „Denkzeug“ in die Kunstpraxis eingebracht hat, tritt das Denken – das gedankliche Handeln, die imaginative Aktion –, nicht mehr hinter das Objekt zurück, sondern wird zu einem wesentlichen Parameter zeitgenössischer Werkbegriffe. Erst im komplexen Zusammenspiel von konzeptueller Geste und materieller Realisation erfüllt sich die Vorstellung vom Kunstwerk als Medium der Erkenntnis und als Widerstandsmodul gegen die Kontingenzen der alltäglichen Unzulänglichkeit (vgl. Abb. 1). Duchamps Narrativität wird durch das Werk von Kasimir Malewitsch konterkariert, dem es im politischen Kontext der Russischen Revolution und im ästhetischen Versuchslabor des Suprematismus gelang, die jahrhundertealten kanonisierten Vorstellungen vom künstlerischen Gehalt des Bildes durch radikale Reduktion der Darstellungsparameter und der motivischen Vielfalt ad absurdum zu führen. Damit erweiterte er den denkbaren Raum der malerischen Möglichkeiten lange vor Pollock ins Unendliche (vgl. Abb. 2). Die dritte wesentliche Position ist das theoretische Werk von Antonin Artaud, der in radikaler Zuspitzung surrealistischer Motive und in seinem idiosynkratischen Lebensvollzug als „exemplarisch Leidender“ die für den performativen Gestus der Nachkriegszeit konstitutiven Fragen nach der Subjektverortung bzw. dem Status des Autors und seines Körpers in der Kunst gestellt hat (vgl. Abb. 3). Die Echowirkungen und strukturellen Veränderungspotenziale dieser drei Werkkomplexe in der Geschichte des Kunst des 20. Jahrhunderts markieren die historische Grundlage für die seit den 1950er-Jahren erfolgenden paradigmatischen Verschiebungen in Bezug auf Wahrnehmungskategorien, körperliche Präsenz / Absenz und räumliche Konzeptionen in den ästhetischen Strategien eines von einem expandierenden Medien-Environments ummantelten kulturellen Dispositivs. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat eine Generation amerikanischer Künstler / -innen mit dem Anspruch eines neuen und freieren ästhetischen Ausdrucks auf.19 Vor allem der All-over-Gestus in der Malerei Pollocks wurde im amerikanischen Selbstermächtigungs-Diskurs immer wieder als Ursprung einer Genealogie der Performance-Art instrumentalisiert. Tatsächlich vollzieht Pol19 Vgl. dazu die Formulierung der alten europäischen Geometrie in Barnett Newmans Text The Sublime Now, in  : Tiger’s Eye,1, 6, New York 1948, S. 51–53.

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locks gestische Malerei exemplarisch einen entscheidenden Schritt in Richtung Körperlichkeit – der Prozess als solcher wird zu einem wesentlichen Ingrediens eines künstlerischen Resultates, das sich auch als Spur einer ästhetischen Verausgabung lesen lässt (vgl. Abb. 4). Die während des Malvorganges erfolgende Erweiterung der zweidimensionalen Bildfläche in den Raum, demonstrativ in den Filmdokumenten Hans Namuths festgehalten, muss als ganz wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der performativen Dimension in der Kunst gewertet werden. Dennoch gilt es in Hinblick auf die spätere Entwicklung eine komplexere Perspektive anzustreben, da eine Einengung des Sachverhaltes auf Pollocks Geste eine unzulässige Simplifizierung darstellen und die vielfältigen Konnotationen, Intermedialitäten und transitorischen ästhetischen Schrittfolgen im Ursprungsmilieu einer performativen Darstellungslust unterschlagen würde. Das Werk Pollocks, vor allem aber die Position von Barnett Newman konfigurierten in ihrer theoretischen Aufarbeitung zu einem wirkmächtigen diskursiven Plateau, das der amerikanischen Kunst die Abkoppelung von europäischen Traditionsinstanzen und die Ausformung eines eigenen ästhetisch beglaubigten Standpunktes ermöglichte. Die europäischen Kunstwissenschaften sind daher bis heute zunehmend mit der kraftvollen Dynamik einer Theorieproduktion US-amerikanischer Provenienz konfrontiert. Dass diese Dynamik aber auch auf Interpretationsperspektiven und Wertungen Einfluss nimmt, die für ein politisch-ideologisches Erkenntnisinteresse instrumentalisiert werden können, liegt auf der Hand. Hier besteht gerade auch für die europäischen Kunstwissenschaftler / -innen Handlungsbedarf für eine kritische Analyse der Verteilungsstrukturen, die ganz maßgeblich bis in museums- und bildungspolitische Mechanismen hinein wirksam sind.20 Eine wesentliche Unterstützung fanden bestimmte amerikanische Avantgarden der 1960er-Jahre wie der Konzeptualismus und der Minimalismus in den theoretischen Beiträgen, die im diskursiven Milieu der Zeitschrift „October“ entstanden. Zugleich stellt sich allerdings die Frage, inwieweit der Dogmatismus der von der „October“-Gruppe vertretenen theoretischen Position bestimmte amerikanische Entwicklungen der 1960er- und 1970er-Jahre zuungunsten anderer bevorzugte und diesbezüglich stark system- und marktimmanent agierte. Vor allem die Ignoranz der Wirkmächtigkeit einer surrealistischen Tradition weit 20 Vgl. dazu  : Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of Modern Art, 1983.

2. Die performative Wende – Versuch einer historischen Genealogie 2. Die performative Wende – Versuch einer historischen Genealogie 

über die 1940er-Jahre und die New York School hinaus hatte sowohl für tagesaktuelle Debatten wie auch für die vertiefte Bearbeitung durch die Kunstwissenschaften bzw. kunstgeschichtliche Analyse und Aufarbeitung der Entwicklungen der Avantgarden in der Kunst des 20. Jahrhunderts weitreichende Folgen. Es ist im Rahmen der inneramerikanischen Diskurse verständlich, dass eine jüngere Kritiker / -innen-Generation sich gegen die Hegemonie des Abstrakten Expressionismus und gegen die Positionen Greenbergs und Frieds aussprach. Die Dominanz US-amerikanischer Kunstpraxis und Theorie seit den 1950er-Jahren muss jedoch aus der Perspektive der darauffolgenden Kunstentwicklungen kritisch hinterfragt werden. Ein zeitgenössischer theoretischer Ansatz kommt nicht umhin, das transatlantische Wechselspiel in der Entwicklung der Kunst-Avantgarden mitzureflektieren und die unterschiedlichen genealogischen Stränge synthetisch zu verknüpfen – vor allem der performative Parameter bedarf einer Neubewertung im Lichte eines stark veränderten gesellschaftlich-ästhetischen Verhältnisses zu realen und virtuellen Raumkonzeptionen und jenem künstlerischen Dérive, das sich die erweiterten dimensionalen Möglichkeiten zunutze macht. Die performativen Neo-Avantgarden der 1960er-Jahre diesseits und jenseits des Atlantiks provozierten eine theoretische Auseinandersetzung, die sich cum grano salis auf eine Auseinandersetzung zwischen amerikanischem Literalismus und europäischem psychophysischem Naturalismus zuspitzen lässt. Verkürzt könnte man diesen Konflikt auch als Auseinandersetzung zwischen konstruktivistischer und anthropozentrischer Position beschreiben.

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Vom Readymade zur Rauminszenierung – Duchamps performative Geste Thus, Duchamps thinking led in two interconnected directions, both providing alternatives to the gestural aesthetics that dominated fifties painting. Via Cage, Duchamps example led artists to try to fuse art and life in events that resembled theater more than painting and sculpture, for instance, by using aesthetically disreputable materials found in ‘life’, or to work in the gap between the two, as Rauschenberg did, the direction that was of lesser interest to Duchamp himself. Or it led, as in the case of Johns, in the direction of a Neo-Duchampian art in the service of the mind, an art based on conceptions about what art could be, on visual and verbal mixtures, paradoxes, ambiguities, and games.21

Marcel Duchamp, geboren 1887 bei Rouen, starb 1968 in Paris, kontrollierte aber selbst über den Tod hinaus die posthume Präsentation seines letzten Hauptwerks „Étant donnés“. Zehn Jahre später, als die Pop-Art durch ihren Erfolg längst zum Mainstream geworden war, entwarf der amerikanische Kunsthistoriker Irving Sandler eine Version der Kunstgeschichte, welche die jenseits des Abstrakten Expressionismus stattgehabten amerikanischen Avantgarde-Entwicklungen der 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahre auf den Ursprungsimpuls Duchamps zurückführte – eine bis heute gerne verwendete Deutungsperspektive. Duchamp wurde im Zuge der hitzigen Debatten um die theoretischen Erkenntnispotenziale von Moderne vs. Postmoderne in den 1980er-Jahren immer mehr zur Referenzfigur, mit der postmoderne Theoretiker / -innen eine ungebrochene Kontinuität der Avantgarde bis zu den Werken der Pop-Art, insbesondere von Warhol und der Arbeiten von Konzeptualisten wie Kosuth oder Baldessari, nachzuweisen versuchten.22 Duchamps Einfluss auf die Entwicklung der amerikanischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist tatsächlich beträchtlich. Seine nahezu hegemoniale Präsenz als historischer Inspirations-Fluchtpunkt für die Avantgarde-Bestrebungen der Nachkriegszeit erscheint allerdings übersteigert und verzerrt. Dies liegt auch in der Tatsache begründet, dass Duchamps Werk, aufgewertet durch seine Selbststilisierung zum enigmatischen Rectus durch die biografische Verbundenheit mit 21 Irving Sandler, The New York School. The Painters and Sculptors of the Fifties, New York / London 1978, S. 170. 22 Die Duchamp-Literatur bietet unzählige Ansätze und Instrumentalisierungsbestrebungen von Irving Sandler über feministische Attacken und Benjamin Buchlohs marktaffirmative postmoderne Ausschließungstheorien bis zu Amelia Jones’ Reanimationsversuchen.

Vom Readymade zur Rauminszenierung – Duchamps performative Geste

den USA,23 als einzige der amerikanischen Kunstkritik unmittelbar zur Verfügung stehende klassische Avantgarde in den Auseinandersetzungen zwischen den modernistischen und postmodernen Fraktionen strategisch instrumentalisiert wurde. Duchamp hatte sich kurz nach der erfolgreichen Präsentation seines spätkubistischen Gemäldes „Nue descendant un escalier“ (1912) auf der 1913 stattfindenden Armory-Show in New York, die ihn in den USA bekannt machte, von der Malerei zurückgezogen. Ab 1912 arbeitete er an seinem ersten Hauptwerk, „La Mariée mise à nu par ses célibataires, même“, meist als „Das Große Glas“ betitelt. Duchamp wies in einem Kommentar explizit darauf hin, dass das großformatige Kunstobjekt keinesfalls ein Bild sei, sondern eher als „delay“ bezeichnet werden sollte. Use ‘delay’ instead of picture or painting … It’s merely a way of succeeding in no longer thinking that the thing in question is a picture – to make a delay of it in the most general way possible, not so much in the different meanings in which delay can be taken, but rather in their indecisive reunion.24

Erst 1923 beendete Duchamp die Arbeit an diesem von ihm als unvollendet bezeichneten Werk sowie an den begleitenden Skizzen und Texten, die er selbst erstmals 1934 in einer kleinen Auflage publizierte und die inzwischen in vielen Sprachen vorliegen. Die Rezeption des Werks „Großes Glas“ sollte nicht dem musealen Ritual eines ästhetisch kontemplierenden Blickes unterworfen werden  ; deshalb fügte er ein amorphes Textkonvolut hinzu, das eine Vielzahl von subjektiven Interpretations-Digressionen ermöglicht. Darüber hinaus wollte er die Dominanz der optischen Perzeption durch die Möglichkeit des akustischen Kommentars konterkarieren. Duchamp setzte damit erste Schritte zu einer erst später einsetzenden, umfassenderen Entwicklung der performativen Dimension. Sandler formuliert dies wie folgt  : „Duchamps search for an alternative to a ‘retinal’ art led him to elevate the intellectual component of art above all.“25 Noch viel bedeutender für seinen Einfluss auf die Avantgarde-Entwicklungen des 20. Jahrhunderts waren jedoch Duchamps Experimente, in denen er ab 1913, noch in Paris, gewöhnliche Gegenstände aus ihrem Alltagskontext herauslöste und ihnen in einem quasi numinosen Akt der relationalen Funktionsbestim23 Duchamp reiste nach seinem frühen Erfolg in der Armory-Show immer wieder in die USA und übersiedelte 1942 endgültig nach New York, wo er 1955 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. 24 Zitiert nach  : Calvin Tomkins, Duchamp – A Biography, New York 1996, S. 1. 25 Irving Sandler, The New York School, a. a. O., S. 164.

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mung und der strategischen Dislozierung ausschließlich ästhetische Qualität zuordnet. Dies gelang ihm, indem er beispielsweise in der Arbeit „Trebuchet“ eine serienmäßig hergestellte Garderobevorrichtung statt an der Wand auf dem Boden mitten in seinem Zimmer befestigte  ; in „Fahrrad-Rad“ befestigte er eine Fahrradfelge auf einem Schemel  ; ein Pissoir betitelte er mit „Fountain“, signierte es mit einem Pseudonym und stellte es, auf einem Sockel liegend, aus. Mit diesen Gesten, den „Readymades“ revolutionierte und veränderte Duchamp nicht nur das Kunstwerk, sondern auch dessen kontextuelle Bedingungen und damit auch seine gesellschaftliche Wirkung und Funktion. Duchamp zog sich ab den 1920er-Jahren für einige Jahre aus dem Kunstkontext zurück und konzentrierte sich auf das professionelle Schachspiel. Damit begründete er den später von ihm ironisch genährten Mythos vom Künstler, der die Kunst zugunsten des Schachspiels aufgab.26 Mit dieser Strategie versuchte er das Rollenmodell der subjektivistischen Künstlerpersönlichkeit bzw. deren Geniestatus zu unterlaufen und kritisch zu reflektieren – mit ambivalentem Erfolg. Duchamps Misstrauen gegenüber retinaler Perzeption und seine Strategie des „interesselosen Wohlgefallens“ im Verhältnis zum Kunstwerk und der gesellschaftlichen Stilisierung des Künstlers zum auratischen Demiurgen beeindruckten John Cage. Duchamp lernte ihn 1942 kennen und machte später über ihn die Bekanntschaft mit einer neuen Generation von Künstler(inne)n und Kritiker(inne)n, die den Konzeptualisten und Enigmatiker in der Folge als historischen „Übervater“ inthronisierten. Cage war in den 1950er-Jahren Lehrer von Rauschenberg, Kaprow und Johns und stimmte mit Duchamps reservierter Haltung gegenüber den Positionen der Abstrakten Expressionisten überein. Es stellte sich heraus, dass Duchamp über diese Kontakte und den damit etablierten neuen Kontext seine kritisch distanzierte Haltung zur Malerei und einem der ästhetischen Distinktionslust unterworfenen Blick sowie die performative Geste des Readymades perpetuieren konnte. Proportional zum Bedeutungszuwachs von New York erreichte auch Duchamps Popularität einen Höhepunkt. Gegen Ende der 1950er-Jahre erhielt sein Werk vor allem durch die ab 1959 vorliegende Monografie Robert Lebels auch in Europa wieder umfassendere Beachtung. 26 Als Höhepunkt mit immensen Auswirkungen auf die Duchamp-Rezeption kann die während Duchamps Retrospektive im Pasadena Art Museum hergestellte und viel publizierte Fotoserie bezeichnet werden, in welcher der Künstler mit einer nackten Frau, Eve Babitz, vor dem „Großen Glas“ eine Partie Schach spielt. Die Wirkung dieses Fotos erinnert an Hans Namuths Foto- und Filmserien über Jackson Pollock oder Yves Kleins „Sprung in die Leere“ von 1960 und reiht sich in die Genealogie der über die Fotografie dokumentierten performativen Gesten ein.

Vom Readymade zur Rauminszenierung – Duchamps performative Geste

Erst nach seinem Tod wurde die zweite große Arbeit, an der der Künstler seit 1946 in einem geheimen Atelier gearbeitet hatte und deren Existenz auch engsten Freunden nicht bekannt war, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht  : die Rauminstallation „Étant donnés“. Sie wurde 1969 auf Wunsch des Künstlers ohne Ankündigung und öffentliche Präsentation in die schon vorhandenen Duchamp-Bestände des Philadelphia Art Museum integriert und ist die Antithese zur selbst gewählten Pose des Künstlers, der nach eigener Aussage in den 1920er-Jahren die Kunst zugunsten des Schachspiels aufgegeben hatte. Welche ästhetischen chocs erlebt / erleidet der / die Betrachter / -in nun bei der Betrachtung von „Étant donnés“  ? In unmittelbarer Nachbarschaft der Skulpturen Brancusis, dessen Kunst durch Duchamp in den USA bekannt gemacht und in den Handel eingeführt wurde, befindet sich in Philadelphia eine umfassende Kollektion von Werken Duchamps, die von den amerikanischen Sammlern Walter und Louise Arensberg zusammengetragen und dem Museum gestiftet wurde. Der Raum wird vom „Großen Glas“ dominiert, mit dem die letzte Arbeit Duchamps auf vielen Interpretationsebenen unmittelbar korrespondiert. Am Ende des Ausstellungsparcours aber betritt man einen kleineren Raum und ist unmittelbar mit einer roh verputzten Wand konfrontiert. Genau in der Mitte befindet sich eine von alten, gebrannten Ziegeln umrahmte Öffnung mit einer alten Holztür, die der Künstler im Zuge seiner regelmäßigen Aufenthalte im kleinen nordspanischen Ort Cadaques 27 mitgebracht hatte. Diese Tür besitzt allerdings keinerlei Öffnungsvorrichtung und lässt den rätselhaften Eindruck entstehen, dahinter befände sich ein verschlossener, unzugänglicher Raum  –  ein Mysterium. Erst beim Näherkommen bemerkt der Besucher zwei kleine Löcher, die sich in der Mitte dieser Tür etwa auf Augenhöhe befinden (vgl. Abb. 5 und 6). Ein Blick durch diese kleinen Öffnungen enthüllt nun nicht, wie man aufgrund der handwerklichen Machart der Tür bzw. der gesamten Präsentationsinszenierung erwarten würde, einen düsteren Raum, vielmehr erschließt sich ein hell beleuchtetes perspektivisches Landschaftspanorama – ein Blick aus der artifiziellen und ritualisierten Rauminszenierung des Museums in die 27 In unmittelbarer Nähe von Cadaques befindet sich in Port Lligat die Villa von Salvador Dalí, mit dem Duchamp regelmäßig Kontakt hatte. Dieses kleine Dorf nördlich von Barcelona war ein bei den Surrealisten beliebter Badeort und wurde nach dem Krieg auch von Richard ­Hamilton besucht. So entstanden dort teilweise die Gemeinschaftsarbeiten von Hamilton und Dieter Roth, dessen wichtige Rauminstallation „Tibitabo“ in Cadaques erstmals in einer Galerie gezeigt wurde.

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Natur. Dieser Blick ist allerdings von einer Ziegelmauer eingeschränkt, die sich hinter der Tür befindet und in der sich eine weitere, roh aus der Mauer geschlagene Öffnung auftut. Der Blick kann somit nicht vollständig frei im weiten Raum schweifen, sondern wird auf eine wesentliche Szene fokussiert  : ein nackter weiblicher Körper, der mit weit gespreizten Beinen auf einer aus Zweigen und Laub gebildeten Fläche auf dem Rücken liegt und seine Vagina aus kurzer Distanz dem Blick präsentiert  ; das Gesicht wird von blonden Haaren verdeckt. Der Körper liegt so nahe bei der Maueröffnung, dass beide Füße und der rechte Arm sich außerhalb des Sichtfeldes befinden. Der linke Arm ist erhoben und hält eine alte, schwach flackernde Gaslampe. Im Hintergrund sieht man den Horizont einer weiten Baumlandschaft, einen blauen Himmel mit einigen Schönwetterwolken und in der Ferne einen in hellem Licht funkelnden Wasserfall als einzigen Bewegungsablauf in diesem hell beleuchteten Panorama, das einen ambivalenten Eindruck zwischen naturalistischer Illusion und starker Verfremdung hinterlässt. Das von Duchamp verwendete Licht erinnert an starkes, klares herbstliches Sonnenlicht. Teile des Panoramas liegen in leichtem Schatten, während der Körper wie auch der weit hinten liegende Wasserfall stark angestrahlt werden. Der Blick konzentriert sich unwillkürlich auf den durchschnittlich attraktiven Körper einer Frau mittleren Alters. Blondes Haar fällt auf ihre Schultern, ihre Achseln sind unrasiert. Im Gegensatz dazu ist ihre Genitalzone vollkommen nackt und ungeschützt, magisch wird der Blick von der offen Dalíegenden, anatomisch nicht naturalistisch dargestellten Vulva angezogen. Es ist den Besucher(inne)n weder möglich, die Installation „Étant donnés“ zu betreten, noch können sie den Betrachter-Standpunkt durch eine Umkreisung räumlich definieren. Duchamp war es wichtig, dass er durch die a priori festgelegten Einschränkungen den Blick der Betrachter / -innen wie auch ihre möglichen Bewegungen in Bezug auf den Akt des optischen, wie Duchamp sagt, „retinalen“ Sehens, gänzlich seiner Kontrolle unterwirft. Die feministische Kritik setzt bei dieser apodiktischen Determinierung an und kritisiert die Geste des „adulatory fixings that links Duchamp to the questionable, authoritarian politics of bourgeois culture“.28 „Étant donnés“ ist in diesem Sinne keine offen zu rezipierende bzw. erlebbare Rauminstallation, sondern ein – in kommunikativer Hinsicht  –  hermetisch versiegeltes Kunstwerk, das die Besucher / -innen 28 Amelia Jones, Postmodernism and the En-Gendering of Marcel Duchamp, Cambridge (Mass.) 1994, S. 206.

Vom Readymade zur Rauminszenierung – Duchamps performative Geste

in die negativ besetzte Position eines Voyeurs / einer Voyeurin und dessen / deren spannungsgeladener Fetischisierung des Blicks zwingt. Da immer nur eine Person das Kunstwerk betrachten kann, finden sich die Besucher / -innen mit dem Gefühl begrenzter Zeit konfrontiert, da sich ja meist mehrere Personen im Raum befinden. Man muss daher den Akt des Sehens wie vor einem Publikum absolvieren und fühlt sich dabei beobachtet und zum flüchtigen Blick gedrängt, denn jede Reaktion kann von anderen registriert und beurteilt werden. Duchamp hat mit dieser Rauminstallation, die durch ihre Konzentration auf den Akt des Sehens eher einem Panorama entspricht, einen ironisch-dekonstruktiven Kommentar zur Hypostasierung des distanzierten Blicks in der Kunstbetrachtung vorgelegt. Eine Versuchsanordnung, die die Rezeption von der analytisch-strukturellen Achse in Richtung eines unmittelbar emotionalen, vielleicht sogar leicht traumatisierten Erlebens verschiebt. Die kunsttheoretische und akademische Duchamp-Literatur hat im Laufe der Jahre umfangreiche Interpretationsversuche dieser auch im Kontext seiner anderen Werke ungewöhnlichen Arbeit vorgelegt. Jasper Johns Kategorisierung von „Étant donnés“ als „strangest work of art in any museum“29 mag aus heutiger Sicht zwar überholt sein, trotzdem steht dieses Werk, so wie die Readymades, im Zentrum der avantgardistischen Entwicklungen zur performativen Wende in der bildenden Kunst. Duchamps Arbeit an „Étant donnés“ umspannt exakt jenen Zeitraum, in dem die entscheidenden ästhetischen Paradigmenwechsel in der Kunst der zweiten Jahrhunderthälfte stattfanden. Artauds späte zeichnerische Körperbeschwörungen sowie die ersten konzeptuellen Schritte Pollocks und Newmans, die kurze Zeit später zu den „Drippings“ und „Zips“ führten, fallen chronologisch mit den ersten Entwürfen zu „Étant donnés“ zusammen. Die Fertigstellung des Werkes wiederum findet zu einem Zeitpunkt statt, als Künstler / -innen wie Schneemann, Beuys, Brus oder Nauman längst die Emanzipation des Körpers als Ausdrucksmedium einer ins Performative geweiteten Kunstästhetik vollzogen hatten. Im Kontext der auch von Duchamp beeinflussten Avantgarde-Entwicklungen der 1950er- und 1960er-Jahre erscheint „Étant donnés“ allerdings wie ein selbstreferenzielles, hermetisches Konstrukt aus dem Geist der Retromanie. Denn zu Beginn der 1960er-Jahre war die Instrumentalisierung der Positionen Duchamps in der beginnenden Auseinandersetzung zwischen Modernism und Postmodernism durch den amerikanischen Mainstream schon so weit 29 Zitiert nach  : Calvin Tomkins, Duchamp – A Biography, a. a. O., S. 451.

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fortgeschritten, dass sich bereits Gegenbewegungen formierten. Ben Vautier sprach von einem „Duchamp-Schock“30 und Beuys führte mit Tomas Schmit und Bazon Brock die programmatische Aktion „Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet“ durch. Für die Neo-Avantgarden war vor allem Duchamps auch bei „Étant donnés“ wieder demonstrierter ästhetischer Solipsismus sowie sein mechanistischer Kunstbegriff, der ideologische Zugriffe aus den verschiedensten Lagern ermöglichte, ein kritischer Angriffspunkt. Beuys formuliert diese Kritik so  : Duchamp hat demonstriert, dass das Kunstleben ein künstlerisches Ding ist, das eigentlich in keinem Zusammenhang steht mit dem menschlichen Tun im Ganzen, sondern nur in der Isolierung und durch die Isolierung funktioniert. Dieses Experiment hat er gemacht. Und das hat nachhaltig als eine Art Kulturschock gewirkt auf die Menschen. Und es hat stilistische Folgen bis in die Gegenwart gehabt. Aber leider nur stilistische.31

Die hier kritisch diagnostizierte indifferente Haltung von Duchamp gegenüber den Möglichkeiten der Kunst, emanzipatorische und politische Wirkungen zu entfalten, wird sowohl durch eine Äußerung des Künstlers wie auch durch eine im Gesamtwerk auffallende Indifferenz, ja geradezu Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Realitäten seiner Zeit bestätigt  : „Ich gestehe dem Künstler die soziale Rolle, derzufolge er sich zum Schaffen verpflichtet fühlt und dem Publikum etwas zu schulden glaubt, einfach nicht zu. Alle derartigen Vorstellungen sind mir zuwider.“32 Diese Haltung verschließt sich gegenüber jeglicher politischer Dimension der Kunst und reduziert ihre Rolle auf einen isolierten, potenziell affirmativen Formalismus, der Robert Smithson zum durchaus humoristischen Kommentar veranlasste, Duchamp sei eigentlich ein „WoolworthSpiritualist“,33 indem er vor allem mit den „Readymades“ eine Geste gesetzt habe, die schlichten Alltagsobjekten Kunst-Mehrwert verleihe, während den Neo-Avantgarden zugebilligt werden müsse, den Fetisch Warenwert in der Kunst zumindest hinterfragt zu haben. Wie Beuys attackiert auch Smithson Duchamp scharf und wirft ihm sein indifferentes Konzept zur Kunst und seine, wie er formuliert, „mechanistische“, ja „kartesianische“ Weltsicht vor  : „Ich habe 30 Ben Vautier, in  : Paris-New York, Centre Pompidou, Paris 1977, S. 624. 31 Dieter Koepplin, Interview mit Joseph Beuys am 1. Dezember 1976, in  : Joseph Beuys  : The secret block for a secret person in Ireland, Kunstmuseum Basel 1977, S. 25. 32 Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, S. 123. 33 Philip Ursprung, Grenzen der Kunst, München 2003, S. 276.

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nun mal zufällig keine mechanistische Weltsicht, sodass ich Duchamp vor dem Hintergrund meiner eigenen Entwicklung wirklich nicht akzeptieren kann. Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem dialektischen Blickwinkel und einem mechanistischen.“34 Seit die leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Moderne und Postmoderne an Urgenz verloren hat, wird auch Duchamps Position wieder differenzierter betrachtet. Die von Beuys und Smithson formulierte Kritik in einer Epoche, als die Positionen der Neo-Avantgarden noch um Legitimität rangen, ist mittlerweile integraler Bestandteil der Auseinandersetzung mit Werk und Wirkung von Marcel Duchamp und perpetuiert seinen Mythos auf einer neuen, metadiskursiven Ebene  : It is in anger that I want to finish this book. Against Duchamp, first. Who is this aloof prodigy who manages to trap the viewers into making his pictures, sacralizing his objets-d’art, and overrating his silence  ? Who is this cool disciple of Pyrrho who fosters beauty of indifference, this grinning ironist incapable of enthusiasm and commitment  ? Who is this misogynous young man who paints his sisters Yvonne and Magdaleine, torn in tatters  ? Who is this charming bachelor who pictures an idealized bride in the fourth dimension of his glass and neglects his perhaps boring but rich bride-in-life, Lydie Sarazin-Levassor, to go and play chess all night during their honeymoon on the Riviera  ? Who is this tactician who embarks on the Rochambeau in 1915 having invented melancholic stratagems against compulsory military service and who leaves his friend Apollinaire behind to be wounded at Verdun  ? Who is this strategist of his own fame who manages to wriggle his way through the second World War smuggling Boites en valise across de demarcation line, and then to embark for America once again this time on the SS Serpa Pinto  ? Who is this Narcissus who poses as a woman after having considered taking on a Jewish name, and who doesn’t seem to notice, later on, that six million Jews are wiped from the surface of the earth  ? Who is this dandy who plays chess souvereignly but eschews every concrete historical battle fought by the foot soldiers of the avant-garde  ? Who is this salon revolutionary, who is he  ? Un anarchiste de droite  ? Are we all pawns in his game  ? How can we have sympathy for the man  ? Yet, how can we avoid being under his spell  ?35

34 Robert Smithson, Kulturelle Gefängnisse, in  : Gesammelte Schriften, Köln 2000, S. 310 f. 35 Thierry de Duve, Kant after Duchamp, Cambridge (Mass.) u. a. 1996, S. 454 f.

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Das „Schwarze Quadrat“ – Malewitschs in den universalen Raum implodierende subjektive Geste Das Entstehungsdatum des Bildes „Schwarzes Quadrat“ von Kasimir Malewitsch lässt sich heute nicht mehr genau festlegen.36 Es muss aber irgendwann zwischen 1913 und 1915 gewesen sein. Mit diesem „Urbild“ des sogenannten „Suprematismus“ gelingt dem russischen Künstler der Durchbruch zu einer völlig neuen Dimension in der Kunst. Das Objekt selbst ist denkbar einfach, wenn auch formal intelligent und von hoher Sensibilität. Es handelt sich um eine etwa 80 x 80 cm große Leinwand, auf der im Verhältnis von etwa zwei Dritteln zur Gesamtgrundfläche ein weiß umrandetes schwarzes Quadrat steht (vgl. Abb. 2). Röntgenuntersuchungen haben gezeigt, dass unter dem etwa mittig angeordneten schwarzen Quadrat eine abstrakte geometrische Komposition in der Manier des russischen Konstruktivismus liegt. Malewitsch war also während des Entstehungsprozesses einer kompositorischen Studie mit mehreren abstrakt geometrischen Farbfeldern zum Entschluss gekommen, einen weiteren entscheidenden reduktionistischen Schritt zu setzen. Es ist nicht zur Gänze geklärt, ob der Künstler die gesamte Bildfläche schwarz übermalt hat oder ob er schon zu Beginn die schwarze quadratische Form auf die Leinwand setzte. Drei Herstellungsweisen sind theoretisch vorstellbar  : Der Künstler hätte das Bild vollständig weiß grundieren und dann ein schwarzes Quadrat auf den weißen Grund setzen können. Auch die Variante, dass die gesamte Fläche zuerst schwarz bemalt und in der Folge durch eine weitere umrahmende weiße Übermalung das mittig stehende Quadrat herausgearbeitet wurde, wäre denkbar. Drittens hätte der Künstler zuerst das schwarze Quadrat in seinem relationalen Verhältnis zur Gesamtfläche mehr oder weniger präzise mittig auf die Gesamtfläche stellen und nach dem Trocknen weiß einrahmen können. Die Tatsache, dass bei einer vollständigen weißen Grundierung aufgrund des Bleigehalts von weißer Ölfarbe im Röntgenverfahren die ursprünglich darun36 Malewitsch malte das „Schwarze Quadrat“ in zwei Fassungen. Die genauere Datierung der ersten Fassung ist nicht mehr ganz feststellbar. Die zweite Fassung wurde vom Künstler 1929 für eine Retrospektive seines Werkes in der Tretjakow-Galerie hergestellt. Der Grund dafür war vermutlich der schlechte Zustand der Urfassung, da durch die unterschiedlichen Pigmente bei der Übermalung die Fläche des schwarzen Quadrats inzwischen mit Craquelés durchzogen war. Die zweite quasi gereinigte Fassung ist optisch perfekter und zeigt möglicherweise Malewitschs Konzeption purer, weil nicht durch materialästhetische Zerfallserscheinungen nachträglich ästhetisiert.

Das „Schwarze Quadrat“ – Malewitschs in den universalen Raum implodierende subjektive Geste

ter liegende farbige Komposition nicht erkennbar gewesen wäre, spricht gegen die erste Variante. Eine schwarze Gesamtübermalung der Bildfläche wäre theoretisch möglich gewesen, würde aber auf einen umfassend destruktiven, im suprematistischen bzw. kubo-futuristischen ästhetischen Zusammenhang eher unwahrscheinlichen, expressiven Gestus hinweisen – dennoch, eine solche Variante verbleibt im Bereich des Möglichen. Restauratorische Untersuchungen haben gezeigt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die dritte Variante des Entstehungsprozesses zutrifft. Demzufolge hätte sich Malewitsch während eines präzise strukturierten Arbeitsprozesses in einemAugenblick der Rupture – eines konstruktiven Bewusstseinsrisses im automatisierten Ablauf künstlerischer Programme  –  zur Durchführung einer reduktionistischen, ikonoklastischen Geste entschlossen. Er übermalte die ursprüngliche, aus mehreren geometrischen Feldern bestehende, farbige Komposition mit einem schwarzen Quadrat, das in seinen Dimensionen vermutlich intuitiv und subjektiv bestimmt wurde. Die Größe des schwarzen Quadrats im Verhältnis zur weißen Fläche war schon häufig Anlass für weitreichende Interpretationen. Wesentlich ist aber darüber hinaus, dass Malewitsch in der Folge das ursprünglich frei auf der Fläche stehende schwarze Quadrat weiß umrahmte und die schwarze und weiße Farbe und damit beide Flächen in einer quadratisch umlaufenden Linie präzise ineinandergepasst sind. Wesentlich ist auch, dass es sich beim schwarzen Quadrat nicht um ein streng geometrisch abgezirkeltes Quadrat handelt, sondern dieses leicht verschoben ist. Ingold weist darauf hin, dass die Form des Quadrats „im Unterschied zum Dreieck, Kreuz oder dem Kreis keinerlei hierarchische Gliederung aufweist“. Daher ist es auch von „symbolischen Konnotationen weitgehend frei“ und „ermöglicht also dem, der sich seiner bedient, jene höchste Subjektivität“.37 Innerhalb dieses von Malewitschs Bildobjekt ausgelösten rezi-proken Subjektivierungsprozesses ging es dem Künstler in erster Linie um einen grundsätzlichen Akt mystischer Erfahrung, und es wurde häufig auf die homologe Beziehung des „Schwarzen Quadrats“ zur Ikone als religiösem Kultobjekt hingewiesen. Die Vermutung, dass es dem Künstler um die Herstellung eines transzendentalen Gegenstandes ging, wird auch dadurch bestärkt, dass er sich um Lebendigkeit im Ausdruck bemühte. Einerseits vermied er durch die Verschiebung der quadratischen Form im Verhältnis zum Quadrat des Gesamtbilds jegliche 37 Felix Philipp Ingold, Welt und Bild. Zur Begründung der suprematistischen Ästhetik bei Kazimir Malevic (II), in  : Wiener Slawistischer Almanach, Bd. 12 / 1983, S. 125.

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leblose Exaktheit, andererseits wurde durch die Tatsache des direkten Aufeinandertreffens der Farben Schwarz und Weiß an der quadratischen Linie die Atmosphäre einer interferenziellen Energie-Aura entwickelt, ein Flimmern und Flirren, das dem / der Betrachter / -in Schwerelosigkeit suggeriert. Christine Buci-Glucksmann verweist auf diesen Gefühlszustand des Schwebens und zitiert eine Feststellung von Malewitsch, die er 1919 in seinem Text Gegenstandslose Welt und Suprematismus im Einklang mit den Forderungen Florenskijs propagiert hat, nämlich dass „der Weg des Menschen durch den Raum verläuft“.38 In diesem Zusammenhang sind vor allem zwei Tatsachen von Bedeutung  : erstens die von Ingold festgestellte extreme Subjektivität und zweitens der Umstand, dass das Werk durch die ihm zugrunde liegenden formal-technischen Entscheidungen des Künstlers von einem Bild zu einem Objekt transformiert wird. Dieser für die Kunst des 20.  Jahrhunderts bedeutende Prozess wird durch die Art und Weise, wie Malewitsch das Kunstwerk bei der Ausstellung „Letzte Futuristische Ausstellung. 0.10“ in St. Petersburg 1915 präsentiert hat, noch verstärkt. Sowohl in der Herstellungsweise als auch in der Präsentation geht es um die Entwicklung eines avantgardistischen Gestus, der in radikaler Verschmelzung von Subjekt und Objekt die Trennung von Repräsentation und Realität auf heben will. Wie Fotografien der Ausstellung zeigen, hatte der Künstler das „Schwarze Quadrat“ an jener Stelle des Raumes angebracht, an der im traditionellen russischen Haushalt die Ikone hängt, nämlich vor einer Raumecke direkt unter der Zimmerdecke (vgl. Abb. 7). Diese Geste will zweierlei ausdrücken  : zum einen das Einbringen des Werkes in das ikonografische Bezugsfeld der russischen Orthodoxie – mit einer impliziten Referenz auf das Abbilden des menschlichen Gesichtes im Rahmen von Ikonendarstellungen  ;39 zum anderen die formalistische Intervention einer räumlichen Präsentation des Bildes, das durch sein Vorragen auf die Grenzlinie zwischen Malerei und installativem Objekt gerückt wird – eine strategische Geste, die das Bild zu einem Element der Dimensionalität des Raumes macht. Doch die Tendenz zum Performativen verdankt sich nicht nur der ungewöhnlichen Hängung, sondern ist bereits a priori in die künstlerische Handhabung der Bildoberfläche eingeschrieben. 38 Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick in der Kunst, Berlin 1997, S. 194. 39 Simmen berichtet von einer überraschenden Analyse des amerikanischen Malers Ellsworth Kelly, der auf die Gleichsetzung von Kopf und Quadrat verwiesen hat. Siehe dazu  : Jeannot Simmen, Kasimir Malewitsch. Das Schwarze Quadrat. Vom Anti-Bild zur Ikone der Moderne, Frankfurt / Main 1998, S. 42.

Das „Schwarze Quadrat“ – Malewitschs in den universalen Raum implodierende subjektive Geste

Die formalen Lösungen während des Malprozesses selbst, die Tatsache, dass konzeptuelle Erwägungen und theoretische Erkenntnisarbeit demonstrativ vor die simple, wenn auch präzise durchgeführte Motivik des Bildes gereiht werden, lassen das Werk möglicherweise noch vor Duchamps „Flaschentrockner“ zum ersten performativen Objekt in der modernen Kunst werden. Zudem zeigt das „Schwarze Quadrat“, wie eine künstlerische Arbeit, die in der Tradition der Malerei steht und als solche auch ganz bewusst den Aspekt des religiösen Kultbildes im Subtext mitschwingen lässt, sich in ein Objekt mit neuen inhaltlichen und ästhetischen Dimensionen transformiert. Die Art der performativen Geste ist hier eine völlig andere als bei Duchamp. Das Zusammenspiel beider Positionen markiert jedoch um 1915 den Beginn eines Prozesses, der, wie de Duve festgestellt hat, während der Dauer des 20. Jahrhunderts und in der Abfolge der verschiedenen Avantgarden zu einer radikalen Neubestimmung der Funktion und Rolle von Kunst und Künstler / -in geführt hat  : Something unprecedented in the whole history of art surfaced in the sixties  : it had become legitimate to be an artist without being a painter, or a poet, or a musician, or a sculptor, novelist, architect, photographer, choreographer, filmmaker, etc. A new ‘category’ of art appeared – art in general, or art at large – that was no longer absorbed in the traditional disciplines.40

De Duve verlegt den Zeitpunkt für diese Paradigmenverschiebung in die 1960er-Jahre, da die grundlegenden Veränderungen ab diesem Zeitpunkt als „legitim“ gewertet wurden. Tatsächlich aber beginnt der Prozess der Hypostasierung des Prozessualen im Verhältnis zum materiell gegebenen Kunstwerk, der in der Folge zu einer Neubestimmung der Position und Funktion des Künstlers / der Künstlerin führte, bereits mit Malewitsch und Duchamp: Der in ihren Werken radikal sichtbar werdende Subjektivierungsanspruch versetzt sie in die Lage, das Kunstobjekt an einen Nullpunkt zu bringen und von dort aus neu zu formulieren. Dass dieser Vorgang in erster Linie ein gedanklicher, also konzeptueller ist, wird anhand der Objekte „Schwarzes Quadrat“ und „Flaschentrockner“ erstmals demonstriert. Joseph Kosuth hat dies im Zusammenhang mit seinem Interesse am Strukturalismus und an einem linguistic turn so formuliert  : „In fact it is Marcel Duchamp whom we can credit with giving art its own identity … All art [after Duchamp] is conceptual (in nature) because art 40 Thierry de Duve, Kant after Duchamp, Cambridge (Mass.) 1996, S. 375.

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only exists conceptually.“ 41 Hätte sich Kosuth in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur an Duchamps habitueller Praxis, das Objekt mit dem Text „Das ist Kunst“ zu versehen, sondern auch an Malewitschs Position orientiert, wäre seine apodiktische Definition von Kunst weniger eindimensional ausgefallen. Der in Objekten wie dem „Schwarzen Quadrat“ oder dem „Flaschentrockner“ demonstrativ gesetzte Akt der Reduktion und der Profanisierung ist allerdings nur vor dem Hintergrund der in den Avantgarden angestrebten Transformation der ästhetischen und sozialen Funktion der Kunst vorstellbar – mit der Forderung nach einem völlig neuen, autonomen Status. Malewitsch formuliert dazu  : „Es ist Sache des Künstlers, die Kunst zu ihrer Suprematie zu führen und nicht zur ,Kunst‘ der Wiedergabe von Erscheinungen.“42 Die hier knapp skizzierten Anfänge haben, wie de Duve feststellt, zu einerRevolution in der bildenden Kunst geführt. Der von Malewitsch und Duchamp antizipierte Paradigmenwechsel wurde von den Neo-Avantgarden der 1960erund 1970er-Jahre im Rahmen neuer materieller und vor allem medialer Bedingungen endgültig vollzogen. Den Positionen von Duchamp und Malewitsch können somit grundsätzliche Gemeinsamkeiten zugeschrieben werden  ; dennoch gibt es auch fundamentale Gegensätze, die sich bereits in Form und Funktion, vor allem aber im Verhältnis der beiden Objekte „Schwarzes Quadrat“ und „Flaschentrockner“ zu ihrem räumlichen Umfeld festmachen lassen. Duchamps Objekt bezieht seine Signifikanz vor allem aus der Kombination eines simplen Gebrauchsgegenstandes wie eben dem „Flaschentrockner“ mit dem erhabenen Pathos des Kommentars  : „Das ist Kunst“. Hier geht es um einen Prozess, der im linguistic turn als Performativität der Sprache bezeichnet werden wird. Die Benennung eines bestimmten Objekts durch ein Subjekt demonstriert sozusagen die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst. Malewitschs Ansatz unterscheidet sich insofern, als sein „Schwarzes Quadrat“ zwar eine vergleichbare ästhetische Strategie verfolgt, aber einen Perzeptionsakt unter völlig anderen Bedingungen inauguriert. Malewitsch arbeitet im Gegensatz zu Duchamps purer konzeptueller Geste nach wie vor mit traditionellen Mitteln. In den Neo-Avantgarden der 1960er-Jahre wurde dieser Bezug zur Materialität und zur gegenständlichen Determinierung als „literal“ bezeichnet. 41 Joseph Kosuth, Art after Philosophy I and II. Studio International 1969, S. 80. Zitiert nach Thierry de Duve, Kant after Duchamp, a. a. O., S. 375. 42 Kasimir Malewitsch, Suprematismus – Die gegenstandslose Welt, Werner Haftmann (Hg.), Köln 1962, S. 215.

Das „Schwarze Quadrat“ – Malewitschs in den universalen Raum implodierende subjektive Geste

Zu betonen ist in Bezug auf das „Schwarze Quadrat“ von Malewitsch die Tatsache, dass es dem Künstler gelungen ist, eine Form zu entwickeln, die sich zur Gänze von der euklidischen Geometrie und damit von der Zentralperspektive, die jahrhundertelang sowohl die Kunst als auch das gesamte Denken der modernen Welt bestimmte, abgesetzt hat. Die Art des Quadrats, der sowohl in der Farbmaterie als auch im Farblicht lebendig und auratisch bleibende Kontrast eines positiven und negativen Pols, versetzt die Betrachter / -innen in einen Zustand intuitiven, ja geradezu meditativen Empfindens. Die InterferenzSchnittstelle zwischen dem schwarzen Quadrat und seinem weißen Umfeld bietet trotz der reinen geometrischen Form keinen illusionistischen räumlichen Anhaltspunkt, wird aber dennoch vom Auge als klar definiertes räumliches Konstrukt gelesen. Allerdings handelt es sich hier um eine neue Qualität von Raum, und in der Anschauung finden sich die Betrachter / -innen in eine Art von Wahrnehmung versetzt, bei welcher die Dualität des Blicks zugunsten eines unmittelbaren Raumerlebens aufgehoben ist. Das Objekt als solches verliert seine Materialität  ; die Betrachter / -innen treten unwillkürlich in den Bereich einer visionären, nahezu transzendentalen Räumlichkeit ein. Nach der Definition von Löw handelt es sich hier nicht mehr um einen Raum, der absolut gedacht wird. Denn ein solcher geht von einer Unterscheidung zwischen Raum und Körper aus. Malewitsch hingegen gelingt es mit einfachsten Mitteln, für die Kunst der Zukunft eine neue Form der Perzeption zu entwickeln, indem er den inaktiv erlebten illusionistischen Raum aufhebt und den Betrachter(inne) n ein ganzheitliches Raumgefühl suggeriert, das eine Agitation der Körpermotorik mit sich bringt und potenziell handlungsmotivierend wirkt. Malewitschs künstlerische Intervention führt somit über den distanzierten Blick hinaus in ein offenes Imaginationsfeld fluktuierender räumlicher Manifestationen. Die Konzeption des Raumes als res extensa mit der potenziellen Ausdehnung ins Unendliche bei gleichzeitiger Relativierung dimensionaler Parameter zwingt die Betrachter- bzw. Benutzer / -innen, ihre Körper in ein Verhältnis zu dem sie umgebenden Environment zu setzen. Eine Versuchsanordnung, die Mobilität vonseiten des Rezipienten nachgerade einfordert. Dies entspricht nach Martina Löw der Vorstellung von einem relativistischen Raum, der sich erst aus der Anordnung und Bewegung der Körper ergibt. Da sich diese Körper [Handlungen] immer in Bewegung befinden, sind auch die Räume in einen permanenten Veränderungsprozess eingebunden. Räume existieren demnach nicht unabhängig von Körpern. Während im absolutistischen Denken Räume

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die unbewegte und für alle gleichermaßen existente [deshalb homogene] Grundlage des Handelns sind, geht im relativistischen Denken die Aktivität des Handelns unmittelbar mit der Produktion von Räumen einher.43

Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ funktioniert also wie ein Modellobjekt, über dessen wahrnehmungstechnische Anregungen faktisch erlebbar wird, was in der Physik und Philosophie der Moderne in Laborsituationen entwickelt wurde – ein emanzipativer Schritt für die Kunst, die nun auf Augenhöhe mit der Wissenschaft perzeptive Paradigmenverschiebungen verhandelt. Die von Malewitsch im historischen Kontext seiner Epoche noch isoliert und unter repressiven politischen Bedingungen vertretenen Theorien erleben erst 50 Jahre später unter völlig anderen gesellschaftlichen Umständen eine breite Rezeption und konnten zu einem diskursiven Plateau für eine bis heute wirkende wahrnehmungspsychologische ästhetische Theoriebildung ausgebaut werden. Bemerkenswert dabei ist, dass es sich bei Malewitsch um eine Position handelt, die sich im Gegensatz zu jener von Duchamp nicht unmittelbar aus der Analyse des Strukturalismus resp. des linguistic turn, die die Debatten seit den 1960er-Jahren entscheidend mitgeformt haben, erschließt. Im Zusammenhang mit der Konstruktion der historischen Genealogie eines ebenfalls in die Zeit um 1960 datierbaren performative turn ist es deshalb unabdingbar, in Bezug auf das „Schwarze Quadrat“ auf einen weiteren bedeutenden diskursiven Kontext zu verweisen. Simmen bezieht sich auf Ellsworth Kelly, der ein etwa um 1908 / 09 entstandenes Selbstporträt des damals 30-jährigen Künstlers Malewitsch als Ursprung für das „Schwarze Quadrat“ identifiziert und daraus die Gleichung Kopf = Quadrat zieht 44 – die Anthropomorphisierung einer vorgeblich formal-geometrischen Arbeit. Dazu kommt die spirituelle Aufladung des Suprematismus in den manifestartigen Schriften des Künstlers sowie die Hängung des Werkes in der Ausstellung im Stile von Ikonen in russischen Wohnzimmern. Simmen zieht daraus den Schluss, dass sich der „Künstler (Selbstporträt als Ikone) Christus (formal) gleichsetzt“. Damit wird er „scheinbar (negativ göttlich) eleviert. Das Absolute ist aber nicht personifiziert, sondern wird ungegenständlich und von unbestimmbarer Schwärze in nicht definierter Helle“ 45. Die hier erfolgende inhaltlich-symbolische Determinierung des Objekts durch den Prozess einer 43 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt / Main 2001, S. 18. 44 Jeannot Simmen, Kasimir Malewitsch, a. a. O., S. 42. 45 Ebd., S. 48.

Das „Schwarze Quadrat“ – Malewitschs in den universalen Raum implodierende subjektive Geste

extremen Subjektivierung verweist auf eine weitere, für die Performanz entscheidende Komponente in der Entwicklung der Avantgarde, bei der sich der Künstler immer wieder faktisch oder als ästhetische Repräsentation in das Zentrum des Kunstwerks stellt. Dazu kommt, dass bei der Raumerweiterung, die im „Schwarzen Quadrat“ angelegt ist, eine performative Vitalisierung durch das aktive Handeln im relativistischen Raum einsetzt. Es findet somit ein synthetischer Prozess des Ineinanderfallens von Idol, Künstlerpersönlichkeit und Betrachter / -in statt. Hier lässt sich der Ursprung einer Genealogie ansetzen, die von den „Raumwirkungen“ der Selbstporträts Artauds, die ab 1945 entstanden, bis zu den schamanistischen und kultischen Stilisierungen des Selbst in der Performance-Art der 1960er- und 1970er-Jahre bei Burden, Schneemann, Pane, Nauman oder Abramovic reicht. Sowohl bei Malewitsch als auch bei Artaud, bei beiden im Kontext einer abstrahierten (Malewitsch) bzw. figurativen (Artaud) Selbstdarstellung, wird die zweidimensionale Oberfläche, die der materielle Garant für den Illusionismus des euklidisch-newtonschen spatialen Denkens ist, durch eine mehr oder minder konsequent inszenierte Extension in den unendlichen Raum erweitert. Vor allem die Kunst seit der performativen Wende in den späten 1950er-Jahren nutzt die in der ästhetischen Praxis der Moderne angelegten Möglichkeiten der dialektischen Verkoppelung von Subjekt und Objekt nach Maßgabe der neuen flexiblen dimensionalen Parameter zu künstlerischen Befreiungsgesten  : Die Kulturrevolution beflügelt auch jene neuen sozialen Bewegungen, die im Umfeld des Mai ’68 alternative Lebens- und Gesellschaftsmodelle propagieren.

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Der organlose Körper – Artauds subjektivistische Rites de Passage Anfang 1923 entschloss sich Antonin Artaud, einige seiner Gedichte an Jacques Rivière, der das damals führende Literaturmagazin Nouvelle Revue Française herausgab, zur Veröffentlichung zu schicken. Dies war der Beginn einer Beziehung, die zu einem faszinierenden Briefwechsel zwischen den beiden Männern und letztlich zu Artauds Bekanntschaft mit den Surrealisten führte. Er war 27 Jahre alt, litt unter psychisch-physiologischen Beschwerden, darunter andauernden Kopfschmerzen, und wurde mit starken Opiaten behandelt. In den vorangegangenen sieben Jahren war er immer wieder, auch für längere Zeiträume, in Marseille in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen. 1923 lebte er aber bereits in Paris, und sein Arzt brachte ihn in Kontakt mit führenden Persönlichkeiten des Literatur- und Theaterlebens. In einem ersten publizierten theoretischen Text, der 1921 im Magazin le bulletin de l'œuvre erschien, stellte Artaud die „absolute gültigkeit eines werks“ infrage und verwies auf dessen „abhängigkeit von psychischer gestimmtheit und dem werturteil des rezipienten“.46 Dieses Thema steht letztlich im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Jacques Rivière und verweist bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf eine Dynamik, die sich durch Artauds gesamtes Werk zieht und zu einem zentralen Topos in dessen späterer Rezeption und der bis heute andauernden Faszination wird. Es zeigt, dass sich sein Denken kontinuierlich kritisch mit der Frage nach Werkkonzepten und der subjektiven Position des Künstlers als psycho-physischer Entität im Verhältnis zu seinem eigenen Werk und dessen gesellschaftlicher Wirkung dreht. Gleichzeitig revoltiert Artauds Werk gegen jede starre Komposition und gegen eingeschliffene ästhetische Traditionen und Kategorien. Im Mai 1923 erreichte Artaud ein kurzer Brief Rivières, in dem ihm dieser mitteilt, dass zwar eine Veröffentlichung der Gedichte nicht möglich sei, er ihn aber gerne zu einem Gespräch treffen würde. Dieses fand am 5. Juni 1923 statt und noch am selben Abend verfasste Artaud einen ausführlichen Brief an Rivière, in dem er zu umstrittenen Themen, die sich am Nachmittag ergeben hatten, unmissverständlich Stellung nahm. Artaud stimmte der Argumentation Rivières zu, dass seine Texte für eine Veröffentlichung zu fragmentarisch, zu 46 Zitiert nach  : Elena Kapralik, Antonin Artaud. Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs, Batterien 3, München 1977, S. 23.

Der organlose Körper – Artauds subjektivistische Rites de Passage

ungenau wären, und begründete diese Defizienz mit der „tiefen Unsicherheit [seines] Denkens“. Er gestand ein, dass „eine Zeitschrift wie die Nouvelle Revue Française ein gewisses formales Niveau und eine große Reinheit des Inhalts verlangt“, stellte aber ebenso die Frage, ob „die Substanz meines Denkens denn so verwirrt [sei] und seine generelle Schönheit durch die Unreinheiten und Unschlüssigkeiten, mit denen es übersät ist, so wirkungslos gemacht (würde), dass es literarisch nicht existenzfähig“ wäre. 47 Weiters gab er Rivière zu verstehen, dass es bei seinem Gefühl „der Inexistenz“ nicht um das „Mehr oder Weniger an Existenz ging, das zu dem gehört, was man gewöhnlich Inspiration nennt, sondern um eine totale Abwesenheit, einen wirklichen Verlust“, und dass es daher um „nichts weniger als die Frage [ginge], ob ich das Recht habe oder nicht, weiterhin zu denken, in Versen oder in Prosa“.48 Rivière, vermutlich von Artauds Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber verunsichert, argumentierte in einem kurzen Antwortbrief nochmals mit literarischer Kritik und ermunterte den Dichter zu geduldiger Weiterarbeit. Dieser war durch die gut gemeinten Ratschläge ursprünglich eher verärgert, versuchte jedoch ein halbes Jahr später in einem Schreiben erneut auf die Subjektivität und die Idiosynkrasien seiner Produktion hinzuweisen und legte Rivière einen weiteren Text zur Beurteilung vor. Er schrieb  : „Zum Schluß sende ich Ihnen, lege ich Ihnen also das letzte Erzeugnis meines Geistes vor. Im Verhältnis zu mir taugt es nur wenig, obwohl es dennoch besser ist als nichts. Es ist eine Notlösung.“ Und er verband dies mit der Forderung  : Seien Sie deshalb wirklich kompromißlos, mein Herr. Beurteilen Sie diese Prosa jenseits jeder Frage der Tendenz, der Prinzipien, des persönlichen Geschmacks  ; beurteilen Sie sie mit der Barmherzigkeit Ihrer Seele, der Ihrem Geist wesentlichen Luzidität, überdenken Sie sie mit Ihrem Herzen. Sie läßt wahrscheinlich auf ein existierendes Hirn und eine existierende Seele schließen, denen ein gewisser Platz zusteht. Lassen Sie diese Seele zugunsten ihrer greifbaren Ausstrahlung nur dann fallen, wenn Ihr Gewissen mit aller Kraft protestiert  ; wenn Sie aber einen Zweifel haben, so möge er sich zu meinen Gunsten auflösen. Ich verlasse mich auf Ihr Urteil.49

Bereits im Eingangssatz bezeichnet Artaud seinen zweiten langen Brief an Rivière als „Beichte“, in der er „bis zum Äußersten [seiner] selbst gehen [wür47 Antonin Artaud, Frühe Schriften, Batterien 18, München 1983, S. 16. 48 Ebd., S. 17. 49 Antonin Artaud, Frühe Schriften, a. a. O., S. 23.

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de]“  ;50 der gesamte Brief vermittelt das Gefühl einer pulsierenden Spannung zwischen der Abstraktion des Textes und dem verzweifelten Versuch Artauds, diese flüchtigen Textfragmente durch Beschwörung seiner eigenen Körperlichkeit psychophysisch zu verankern und damit greif bar und statisch zu machen. In weiteren Briefen schreibt Artaud von einer „Krankheit, die die Seele in ihrer tiefsten Wirklichkeit angreift und ihre Äußerungen infiziert“51 und formuliert  : „Ich verlange nicht mehr, als mein Hirn zu spüren.“52 Artauds Briefe waren von einer so eminenten autobiografischen Intensität, dass Rivière ihm schließlich vorschlug, statt der Gedichte die gemeinsame Korrespondenz unter einem Pseudonym zu publizieren. Artaud antwortete  : Warum lügen, warum etwas, das der Aufschrei des Lebens selbst ist, auf die literarische Ebene bringen wollen, warum dem, was aus der unausrottbaren Substanz der Seele besteht, was wie die Klage der Wirklichkeit ist, romanhaften Schein verleihen  ?53

Er bestand damit demonstrativ auf einer auch für sein späteres Werk symptomatischen schonungslosen Authentizität. In einer weiteren Beschwörung seines subjektiven Zustands definierte Artaud die Defizienz als Ursprungsdynamik seiner Kunst und sah darin ein Unterscheidungsmerkmal zur Produktion seiner Zeitgenossen  : Ich bin mir völlig des Stockens und Gestotters meiner Gedichte bewußt  ; Gestotter, das an das Wesen der Inspiration selbst rührt und das meiner unauslöschlichen Unfähigkeit entstammt, mich auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Aus physiologischer Schwäche, Schwäche, die sogar an die Substanz dessen rührt, was man Seele nennt, und die die Emanation unserer um Gegenstände geronnenen Nervenkraft ist. Aber an dieser Schwäche leidet das ganze Zeitalter, z. B. Tristan Tzara, André Breton, Pierre Reverdy. Aber ihre Seele ist nicht physiologisch, nicht substantiell angegriffen  ; sie ist es in allen Punkten, wo sie sich mit etwas anderem verbindet, aber nicht außerhalb des Denkens. 54

Nachdem Rivière 1925 tatsächlich den Briefwechsel veröffentlicht hatte, war es nicht zuletzt diese Stelle, die André Breton so stark beeindruckte, dass er Artaud einlud, sich der surrealistischen Bewegung anzuschließen. Breton erkannte die außergewöhnliche kreative Substanz in den dunklen und einem ekstatischen 50 51 52 53 54

Ebd., S. 20. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 35. Antonin Artaud, Frühe Schriften, a. a. O., S. 36.

Der organlose Körper – Artauds subjektivistische Rites de Passage

Denken verpflichteten Formulierungen, und Artauds Charakterisierung seiner kreativen Energie als „physiologisch“ berührte sich mit Bretons Vorstellungen von einem „psychischen Automatismus“ als Basisstrategie surrealistischen Denkens. Unabhängig aber von diesem biografischen Detail macht der in diesem Briefwechsel gepflegte Austausch deutlich, dass die grundlegenden Obsessionen und strukturellen Parameter von Artauds künstlerischer Produktion bereits zu Beginn seiner Lauf bahn ausgeformt sind. Schon hier wird jenes performative Element sichtbar, das immer dann ins Zentrum des kreativen Aktes rückt, wenn von der Kunst, resp. vom Text ein Wirklichkeitsbezug, eine authentische Haltung, eingefordert wird, welche zwangsläufig den Körper, besser noch : das Körperbewusstsein, ins Spiel bringen. Dieses von Artaud zeit seines Lebens apodiktisch geforderte Körperbewusstsein, diese erhoffte Einheit von Denken und Körper als einem physiologisch determinierten Akt, an den er geradezu spirituelle Heilserwartungen knüpfte, ist die Kernidee und das eindrucksvolle Vermächtnis dieses Künstlers und Denkers. Artaud beklagt in den Briefen an Rivière sein Unvermögen, sich auf einen durchgehenden Gedankenfluss zu konzentrieren. Der durch seine Gesundheitsprobleme als zersplittert und zerfallen erlebte Körper, sein defizientes physiologisches Körperbewusstsein, wirkt restriktiv auf den Denkprozess. Gleichzeitig ist er aber von diesem neurophysiologischen Vorgang fasziniert und adaptiert eine Akzeptanzstrategie, indem er geschlossene ästhetische Systeme, durchkomponierte poetische Strukturen und eine kohärente Narration zugunsten offener künstlerischer Versuchsanordnungen, einer Bewusstheit für das Fragmentarische und einer Aufwertung des Gestischen aufgibt und damit implizit die konventionell-ästhetische Argumentation Rivières kritisiert. In dieser paradigmatischen Perspektivenverschiebung zeigt sich die ganze visionäre Qualität Artauds. Aus einer subjektiven Krise heraus plädiert er unter hohem Einsatz für die Akzeptanz eines offenen, halluzinatorischen Denkprozesses und stellt damit nachfolgenden Generationen ein Reflexions- und Praxismodell zur Verfügung, das den apodiktischen Appellen, welche von den technisch-wissenschaftlichen Entwicklungen im atomaren, digitalen und biotechnischen Zeitalter an den menschlichen Geist gestellt werden, nicht affirmativ, sondern kritisch und mit dekonstruktivem Aplomb gegenübertritt. Wir wissen, dass Antonin Artaud  –  nach seinem Ausstieg aus dem hochkulturellen Pariser Milieu und der Such-Reise zu den Tarahumara-Indios im mexikanischen Hochland und der magischen Spurensuche in Irland  –  einer verzweifelten, ja nahezu pathologischen Sinnkrise unterlag. Die vom Geist des

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Totalitarismus infizierte europäische Gesellschaft befand sich am Vorabend der von Artaud nachweislich vorgefühlten kataklysmischen Explosion des Zweiten Weltkrieges. Dem reaktionären und rassistischen Habitus der Epoche geschuldet, entstanden in dieser Zeit zahlreiche Auffanglager der Psychiatrie, in denen man von den Machthabern als „rassisch minderwertig“ definierte und andere gesellschaftlich unerwünschte Personen sammelte und wegschloss. Artaud wurde im September 1937 in einem öffentlichen Park in Dublin wegen „Herumtreiberei“ verhaftet. Weil er sich wehrte, steckte man ihn in eine Zwangsjacke und schob ihn nach Frankreich ab, wo er für die nächsten neun Jahre in der hermetisch abgeriegelten Schattenwelt verschiedener Asyle und Pavillons verschwand. Neun Jahre – eine einzige Agonie. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutsche Wehrmacht wurde er auf Vermittlung seines Freundes, des Dichters Robert Desnos, der später im Lager Theresienstadt umkam, in das Asyl von Rodez im äußersten Südwesten des Landes verlegt. In dieser Abgeschiedenheit schien Artaud vor dem Zugriff der Nazi-Schergen sicher zu sein. Doch der ehemalige Dandy, Schauspieler und Theoretiker des „Theaters der Grausamkeit“ traf dort in der Person des Arztes und Anstaltsleiters Ferdiere auf eine andere Art von dämonischem Vollstrecker. Es ist wichtig, sich diese biografischen Fakten vor Augen zu führen, um einen kontextuellen Rahmen für jenes „Basiswissen“ zu schaffen, das uns zunehmend verloren zu gehen droht. Die Suche nach diesem Basiswissen ist ein zentraler Parameter jener „posttraumatischen“ und vor allem feministischemanzipatorisch geprägten künstlerischen Positionen, die in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts im Milieu der global ausstrahlenden europäischen und amerikanischen Theoriezusammenhänge entwickelt wurden. Artauds Sein in der Zeit – selbst im Hinblick auf die politische und kulturelle Katastrophe Europas noch von existenzieller Exponiertheit gekennzeichnet – ist als eine einzige gewaltige Metapher im Zusammenhang mit der Diskussion um die Notwendigkeit der Neukonstituierung des Subjekts zu lesen. Denken wir uns sein Leben als psychogeografisches Szenario, finden wir Pfade, Abgründe, Schründe, Höllentore von apokalyptischer Dimension. Es macht wohl die kontinuierliche, ja stetig wachsende Präsenz und das Faszinosum Artauds aus, sich heute den Zusammenhang seiner Lebenswirklichkeit und den daraus hervorgegangenen künstlerischen Objekten, also Texten, Filmen, Tonaufnahmen, Dokumenten und vor allem seinen Zeichnungen und Notizbüchern, als große Synthese vorzustellen, als ein, bei aller Insistenz des Fragmentarischen und Partikularen, megalomanes Meta-Narrativ. Eine Geschichte, deren Metaphorik

Der organlose Körper – Artauds subjektivistische Rites de Passage

immer wieder angerufen wird, wenn es um die Reflexion über die Neukonstitution Körper / Seele-Dialektik in der posttraumatischen Phase der Avantgarden sowohl in der Kritik als auch in der Kunst seit den 1950er-Jahren geht. Artauds Positionen zu verstehen und zu akzeptieren gilt als Test jener offenen Strukturmodelle, die von den europäischen Gesellschaften nach denMegakatastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts meist nur als utopische Projektionen, selten jedoch als kulturelle und politische Realitäten implementiert wurden. Sein radikaler Impetus weist weit über wohlfeile Gesten der Dissidenz hinaus und manifestiert sich im kontinuierlichen, bewussten und kritischen Wahrnehmen der sowohl als Zeichen- und Textträger wie auch als Schutzmembran zu definierenden Oberflächen. Ob es sich nun um jene eines Textes handelt, einer Sprache oder vor allem auch, wie es Artaud in den Zeichnungen deutlich sichtbar macht, solche des Körpers. Während später Künstler / -innen wie Brus, Burden, Abramovic, EXPORT, Mendieta oder Hatoum die Verletzungen des Körpers durch mechanische Intervention von außen zum metaphorisch-symbolischen Imaginationsraum machen konnten, bewegte sich Artaud in einem psychodramatischen und rabiat-therapeutischen Umfeld, das solche Gesten unterband. Vielmehr isolierte es ihn in der schlimmsten möglichen Form, nämlich durch den Versuch der Zerstörung seiner radikalen Subjektkonstitution durch das oktroyierte Programm institutioneller Heilungsmöglichkeiten – eine perfide Rückholaktion des, wie es Deleuze oder Guattari formulieren würden, anorganischen Körpers in einen kollektiven repressiven Organismus. Eine andere Form der Liquidierung, gegen die sich Artaud in seiner eigenen (Meta-)Wirklichkeit verzweifelt ausgesprochen hatte und die ihn letztlich für die folgenden Generationen zu einem Brennpunkt und Identifikationssubjekt machte. Artaud setzte sich in ein permanentes Konfliktverhältnis mit den ihn umgebenden kollektiven Systemen – sei es jenes der Surrealist(inn)en im Kontext der von ihm als ideologische Klammer empfundenen internationalen Linken oder das am Horizont dunkel aufziehende Armageddon des Faschismus und Totalitarismus. Der kataklysmische Druck, dem er sich ausgesetzt sah, veranlasste ihn, die immer noch graduell repräsentative Geste endgültig zu verlassen und eine tatsächlich radikale Intervention zu wagen. Dies drückte sich unter anderem in der Form der realen physischen Fortbewegung und letztlich einer inneren Strindberg’schen „Reise nach Damaskus“ aus – einer Art geistiger Seelenwanderung, für die später die Begriffe des Displacements und des Nomadismus gefunden werden sollten.

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In diesem Sinne sind die in seinen letzten Lebensjahren entstandenen Zeichnungen als Landkarten, eigentlich Wanderkarten, für die Reise über den eigenen, durch die grausamen Interventionen entstellten und auch symbolisch deformierten Körper zu lesen. Sie erzählen von Artauds einsamen Wanderungen über die wüsten Ebenen und durch die Canyons und Schründe seiner physischen Außenhaut, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit, den von seinem existenziellen Epizentrum getrennten Geist, jenen durch die Wirkung von Elektroschocks ausgelösten ekstatisch-halluzinatorischen Zustand wieder vergessen zu können. Seine Verzweiflung äußert sich in textuellen TouretteAnfällen, in Glossolalien und zu Schrift gewordenen Schreien, aber auch in sichtbaren Gesten der Verletzung von Oberflächen, die entweder in repräsentativer, aber oft auch faktischer Form seine Zeichnungen kennzeichnen. Paule Thevenin, die selbst von Artaud porträtiert wurde, verweist in Bezug auf dessen zeichnerisches Werk, das zum größten Teil zwischen 1944 und 1948 entstanden ist, auf den vom Künstler gebrauchten Begriff der „geschriebenen Zeichnung“. Aus dem interdisziplinären Ansatz, der sein gesamtes Werk durchzieht und der dazu tendiert, Literatur, Zeichnung, Malerei und Theater in einem synthetischen Akt zu verknüpfen, entstehen jene Arbeiten, von denen Thevenin schreibt, dass „er auf ihnen den ganzen Raum besetzen muß, ihn mit Zeichen und Wörtern bevölkern muß, ihn in allen Richtungen mit den verschiedensten Waffen bestücken muß, nicht die geringste Lücke offenlassen kann, durch die der böse Zauber eindringen könnte. Kein Quadratzentimeter ist freigelassen“55. Diese Besetzung „de[s] ganzen Raum[es]“ auf einem weißen Blatt verhält sich homolog zu einer ständigen Präsenz des Körpers, ja zu einem symbolischen Eindringen in den eigenen Körper, jenem schon oben angesprochenen Prozess, der der Kunst einen Conduit zur „Wirklichkeit“ aufschließen soll  ; einer Wirklichkeit im Übrigen, die Artaud als „Exkrement des Geistes“ verdinglicht. Artaud ist besessen von der Idee der organischen Verdinglichung, durch deren literarische Metaphorisierung er seine Selbstkonstitution visionär beschwört (vgl. Abb. 8). Was aus meiner Milz oder meiner Leber herauskam, hatte die Form von Buchstaben eines uralten und geheimnisvollen, von einem riesigen Mund gekauten Alphabets, das aber grauenhaft unterdrückt, stolz, unleserlich war, das seine Unsichtbarkeit eifersüchtig 55 Paul Thevenin, Die Suche nach der verlorenen Welt, in  : Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits, München 1986, S. 29.

Der organlose Körper – Artauds subjektivistische Rites de Passage

hütete, und diese Zeichen wurden im Raum in alle Richtungen herumgefegt, während es mir vorkam, als stiege ich zu ihnen hinauf, aber nicht ganz allein. Unterstützt von einer ungewohnten Kraft. Aber viel freier als vormals, da ich auf der Erde allein war. Irgendwann kam so etwas wie ein Wind auf, und die Räume wichen zurück. Auf der Seite, wo meine Milz war, klaffte eine riesige Leere, die grau und rötlich anlief wie das Ufer des Meeres. Und auf dem Grund dieses Meeres erschien die Gestalt einer gestrandeten Wurzel, eine Art J mit drei Zweigen auf seiner Spitze und darüber einem traurigen, wie ein Auge erstrahlendes E. – Flammen loderten aus dem linken Ohr des J, und indem sie es von hinten umgingen, schienen sie ihm alle Dinge nach rechts zu schieben, auf die Seite, wo meine Leber war, aber weit darüber hinaus.

Diese Textpassage aus dem Band 9 der Œuvres Completes von Artaud liest sich wie eine unglaublich plastische Beschreibung jener Zeichnungen, die er vor allem während des Zeitraums schuf, als er auch mit Elektroschocks behandelt wurde. Etwa Mitte der 1930er-Jahre wurde diese Methode häufig zur Behandlung pathologischer Krisen angewandt – selbst fortschrittlichste Ärzte vertrauten auf die damals noch unter experimentellen Umständen erprobten und eingesetzten Elektroschocks. Allein 1943 und im darauffolgenden Jahr wurden Artauds Gehirn und Körper von insgesamt 51 Stromstößen erschüttert – für seinen Arzt Dr. Ferdiere, der selbst intensiv an Surrealismus, Literatur, der Erforschung sexueller Obsessionen und Drogenexperimenten interessiert war, Teil einer erfolgreichen Therapie. Er sah später sogar die Existenz von Artauds bemerkenswertem bildnerischen Œuvre der letzten Lebensjahre als Konsequenz seiner Behandlungsmethoden an. Artaud selbst beschrieb die Therapie so  : „Ich fiel in den Tod. Ich weiß wie der Tod ist.“ Der Assistent Dr. Ferdieres berichtete, die Intensität der meist ohne Anästhesie verabreichten Elektroschocks sei teilweise so massiv gewesen, dass Teile des Gehirns nachhaltig erschüttert und zerstört wurden. Artaud spricht davon, dass er während der Behandlungen einen Zustand erreichte, bei dem er sich von außen beim Sterben zusehen konnte – also eine Form der Verdoppelung bzw. Multiplikation des Selbst, ein gespenstisch stiller, schwebender Akt der Distanzierung und Selbstbeobachtung. Derrida weist Artaud bereits in einem frühen Text zu Beginn der 1960erJahre wegen der in seinem Werk dominierenden radikalen Repräsentationskritik „historische Bedeutung“ zu.56 Dabei bezieht er sich im Wesentlichen auf 56 Jacques Derrida, Das Subjektil ent-sinnen, in  : Antonin Artaud. Zeichnungen und Portraits, München 1986, S. 99.

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Artauds Einfluss auf das Theater und dessen begleitende Theorien – ein Theater, das damals wie heute trotz aller Experimente strukturell noch von bildungsbürgerlichen Konventionen gefesselt ist. Im Gegensatz zum Wirkungsbereich des Dramatischen hat die bildende Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen eminenten Innovationsschub durchlaufen und eine neue, expansive Ästhetik des Performativen entwickelt, die ihrerseits wieder auf das Theater zurückwirkte. Die Präsenz dieser Geste schafft eine delikate Homöostase zwischen Repräsentation (Zitat, Simulation) und Repräsentationskritik (Situationismus, medienkritische Ansätze). Das Kunstwerk per se – und das gilt auch für die traditionalistisch-statischen zweidimensionalen Künste – wird dabei tendenziell immer mehr von der immanenten Entelechie des Performativen bestimmt  –  während die prozessuale Geste ihrerseits häufig zum objekthaften Artefakt petrifiziert. In diesem doppeltcodierten Ablauf wird das Kunstwerk nach Artaud, wie bereits erwähnt, zum „Exkrement des Geistes“ und definiert einen Raum und Rezeptionsansatz, in dem die Informationen fließen und nicht festgelegt sind. Es markiert eine Situation, die der brasilianische Künstler Hélio Oiticica als „critical ambivalence“ bezeichnet hat. Eine große Anzahl von strukturellen, formalen und inhaltlichen Versuchsanordnungen in den Künsten, von den Schmerzmetaphern bis zum metaphorischen Einsatz fluider Körperentäußerungen, die in den ­p erformativen Avantgarden vor allem seit den 1960er-Jahren entwickelt wurden, verweisen auf die von Artaud ständig beschworenen subversiven Qualitäten des expansiven Körpers. Derrida hat dies in seinen Mutmaßungen über Artauds Zeichnungen und dessen Gebrauch des Begriffs „Subjektil“ so umschrieben  : Es ist notwendig zu durchbohren, zu werfen, sich mit aller Kraft, mit all seinen Kräften gegen das Subjektil zu werfen, Projektil zu werden und sich auf der Seite der Zielscheibe aufzufangen, bereits auf der anderen Seite, und auch auf der anderen Seite der Wand, die ich bin. Ich durchdringe die Membran und meine eigene Haut. Ich bin geworfen, noch bevor ich werfen kann, bei der Geburt.57

Hier gibt Derrida einen Hinweis auf den Urgrund der Geste des Durchdringens  –  wenn Artaud in seinen Zeichnungen beispielweise immer wieder mit einer Zigarette das Papier durchbrennt (vgl. Abb. 9). 57 Jacques Derrida, Das Subjektil ent-sinnen, a. a. O., S. 107.

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Dieses demonstrative Durchbohren der Oberfläche, der Wand, der Membran ist auch eine Widerstandsmetapher, die sich wie ein roter Faden durch eine mögliche Ikonografie der posttraumatischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zieht und zumindest seit Artauds universellem Gegenentwurf zur konstant-abstrakten und systemimmanenten Wahrnehmungs-Avantgarde des Konstruktivismus intensiv körperlich konnotiert bleibt. Es ist bemerkenswert, dass die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Geste des aggressiven Durchdringens besessen zu sein scheint. Eine skizzenhafte Genealogie zeigt die Entwicklung von Artauds Zeichnungen und Tagebüchern über Jean Buñuels „Andalusischen Hund“ bis zu Lucio Fontanas Bildobjekten. Performative Gesten ziehen sich vom faktischen Durchspringen von Papierflächen bei Takashi Murakami über die Verletzungsphantasmagorien der inszenierten Aktionsfotografie Rudolf Schwarzkoglers bis zum tatsächlichen Aufritzen der Körperoberfläche in der Aktion „Zerreißprobe“ von Günter Brus um 1970 und Chris Burdens „Shoot“ von 1971. Diesen Gesten des Durchbohrens und der schmerzhaften Penetration, in denen sich maskuline Aggression symbolisch manifestiert, steht die performative Demonstration der lustvollen Konvulsion, des Ausscheidens als Reaktion auf das Eindringen gegenüber. Neben den schon erwähnten Schmerzmetaphern ließe sich ebenso die Traditionslinie einer grundsätzlichen performativen Geste entwickeln, die auf einen symbolisch codierten Akt des Konvulsivischen, der Entäußerung verweist. Es ist in diesem Zusammenhang von Relevanz, dass sowohl Artaud als auch eine Anzahl anderer Künstler ikonografische Äquivalente des Fäkalen entwickelt haben. Hier wäre an Jackson Pollocks Drippings und ihre spätere Paraphrasierung in Andy Warhols Pissbildern zu denken, an Piero Manzonis Künstlerscheiße, an den Braunfetischismus in den Arbeiten von Joseph Beuys, die frühen Schlammorgien Otto Muehls und deren spätere Entsprechungen in den Aktionen Paul McCarthys. Weiters an Dieter Roths fäkale Konnotationen durch die Verwendung von Schokolade über seinen Schimmelobjekten und Scheiße-Gedichten bis zu den monströs-exkrementalen Materialkonglomerationen seiner großen Installationen der 1990er-Jahre. Auch bei manchen Arbeiten von Mike Kelley, Raymond Pettibon oder Martin Kippenberger steht in Bezug auf den Modus der Entäußerung ein analfixierter Gestus im Mittelpunkt der Produktionsprozesse. Nur in Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater, das sich explizit auf Artauds „Theater der Grausamkeit“ beruft, mutiert das Fäkale im Akt einer quasi-religiösen Transsubstantiation zu Blut. Vergleicht man den Ansatz Carolee Schneemanns mit jenem von Otto Muehl – ein sowohl in ästhetischer wie auch biografischer Hinsicht absolut zuläs-

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siger Vergleich – zeigen sich bei aller Verwandtschaft im materialästhetischen Gestus zugleich fundamentale Differenzen. Schneemanns „Meat Joy“ und „Die Versumpfung einer Venus“ (vgl. Abb. 10, 11) von Muehl wurden in geringer zeitlicher Distanz um 1963 / 64 realisiert. Beide Werke sind Performances, in denen die abstrakt gestische Malerei des Action Painting in eine neue Raum-ZeitQualität transformiert wurde – Basis der performativen Echtzeit-Realisierung ist die Verwendung von realen und sensorisch kontextualisierten Materialien. In der Verwendung der Mittel sind die Strategien der beiden Künstler / -innen somit vergleichbar, keineswegs jedoch in den künstlerischen Ergebnissen. Muehl agiert autoritär-destruktiv, definiert den weiblichen Körper als tendenziell freie Einschreibfläche und als handhabbares Objekt. Er greift inhaltlich aggressiv bourgeoise kunstgeschichtliche Mythen wie das Thema der Venus auf und geriert sich ähnlich wie Yves Klein in seinen Anthropometrien als autoritärer „Macher“ und „Regisseur“. Dies alles wird in der intimen Abgeschlossenheit des Ateliers inszeniert und allenfalls medial nach außen vermittelt. Schneemanns „Meat Joy“ hingegen zielt schon im konzeptionellen Ansatz auf öffentliche Aufführung, Kommunikation und Entwicklung einer gemeinschaftlichen Perspektive. Die Künstlerin agiert unter Verzicht auf hierarchische Abstufungen im Kontext einer Gruppe von Akteurinnen innerhalb eines demokratischen, psychodramatischen Ablaufs, bei dem es um Aspekte der Befreiung und der Communitas geht und nicht um die Darstellung einer regressiven Verengung durch Verschnürung, Entcodierung und Degradierung des Körpers zum Material. Muehls Position und die performative Arbeit, „Versumpfung der Venus“, ist aus heutiger feministischer Perspektive im Rahmen der Ambivalenz verschiedener Haltungen zu bewerten, die sich in letzter Konsequenz auf Artauds performativen Durchbruch zurückführen lassen. Von einem feministischen Standpunkt aus gesehen macht nämlich Muehls aggressiv-dekonstruktiv fixierter, maskuliner Zugang zum Universum des konvulsivisch sich entäußernden Körpers stellvertretend für viele andere Künstler / -innen die Position Artauds a posteriori zwiespältig. Der französische Künstler bereitete zwar mit seiner ästhetischen Determinierung des Körpers als Bilderoberfläche und referenziellen Fluchtpunkt den Boden für performativ-gestische Ästhetiken der darauffolgenden Jahrzehnte. Eine Einengung der aktivistisch-mobilisierenden Potenziale auf einen maskulinen Blickwinkel führt jedoch zu einer Reduktion auf Elemente des Durchdringens, Penetrierens und Verletzens aus dem Geist einer aggressiv-expansionistischen Geste – MoDalítäten, die von Artaud in seinen Zeichnungen durchaus auch evoziert werden. Man kann den auf der Blickachse des male gaze entfalteten Positi-

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onen den subversiven Charakter und damit die Möglichkeit zur kataklysmischen Bewusstseinssteigerung nicht prinzipiell absprechen. Zweifelhaft bleibt allerdings, ob sie dazu beitragen konnten, einen paradigmatischen Schub in Richtung zukunftsorientierter emanzipatorischer Körperkonzeptionen zu bewerkstelligen. Unter diesem Vorbehalt muss die Leistung der feministischen Bewegung und der exponentiell wachsenden performativen Aktivitäten von Künstlerinnen, die das Gesamtbild neu konfiguriert und substanziell erweitert haben, historisch angemessen eingeordnet werden. In rezenten historischen Interpretationen der Performance- und Körperkunst wird daher kontinuierlich eine phallozentrische Sichtweise in eine gendermäßig balancierte umgeschrieben und damit so bedeutenden Positionen wie beispielsweise jener von Carolee Schneemann oder Mona Hatoum mehr historisches Gewicht gegeben. Noch wichtiger aber, als die Möglichkeit, unter dem Thema des „organlosen Körpers“ die jüngere Kunstgeschichte strukturell umzuschichten, scheint die Frage nach der relationalen Bewertung von Artauds Werk in Bezug auf die sich abzeichnende rezeptionsästhetische Neukonstitution des Subjekts in der Kunst. Denn in jedem Fall ist all den Arbeiten, bei denen Performanz und Körperagitation im Vordergrund steht und das Primat des Handelns vor dem Objekt zum Programm wurde, eine massive subversive Befreiungsenergie eigen. Dieses grundsätzliche emanzipatorische Element führt uns zurück zum Werk Artauds und der eindimensional idealistischen Rezeption seiner Position als jener eines organlosen, schwebenden, fluiden, schweigend „genießenden“ Körpers durch Deleuze / Guattari. In der Auseinandersetzung mit den Entwicklungen im Bereich der performativen Präsenz des Körpers in der bildenden Kunst wird die auf Artaud zurückgehende Chiffre eines „organlosen Körpers“ mehr denn je verwendet. Gerade im Hinblick auf die These vom phallokratischen Charakter eines erheblichen Teils der Geschichte der performativen Kunst sei aber darauf hingewiesen, dass Deleuze den Begriff erstmals im Zusammenhang mit einer Arbeit über das klinische Phänomen des Masochismus verwendet hat. Den subjektivistischen und wertenden Erklärungen Freuds und Lacans, die Masochismus als eine Erscheinung beschrieben haben, bei der Lustgewinn nur aus Verlust erzielt werden kann, stellt er dabei eine positivere und offenere Interpretation entgegen. Aus den literarischen Texten Sacher-Masochs leitet Deleuze eine vom Begehren geleitete Inszenierung ab, in der es nicht um Bestrafung und Versklavung und damit um die Schwächung des Ichs geht, sondern vielmehr um eine Bestätigung der Wunscherfüllung des Ichs, einen Prozess der Stärkung und des Genießens. An anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass die Deleuze’sche

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Interpretation als Subversion des ödipalen Gesetzes und dessen Substitution durch einen anderen, weiblichen kategorischen Imperativ zu verstehen sei  : Das männliche Subjekt könne sich von seiner festgeschriebenen Geschlechterposition lösen und in einem Akt der Gender-Dekontamination und der Deterritorialisierung zu einem Begriff von existenzieller Freiheit gelangen. Angesichts solcher weitreichender interpretatorischer Ansätze wird die mehrdimensionale Perspektive von Artauds künstlerischem Erbe besonders plastisch – auch im Rahmen der Rezeptionsgeschichte seines Werkes außerhalb der bildenden Kunst. Einerseits lässt sich sein Werk zwar als Beginn einer linearen und phallozentrischen Genealogie deuten, andererseits liegt aber gerade in der philosophischen Interpretation und Neubewertung seiner künstlerischen Hinterlassenschaft durch Deleuze / Guattari, kristallisiert in der Metapher vom „anorganischen Körper“, enormes Potenzial für eine Trajektorie, die ins Offene, ins Grenzenlose hinausweist und somit eine zwischen den Binarismen der Orthodoxie fluktuierende Position einnimmt. Deleuze legt den Schwerpunkt einerseits auf die subversive Kraft der Kritik, das Unterminieren etablierter Deutungs-Patterns, andererseits betont er die Relativität des Textes und die Qualität des performativen Zeichens – oder der performativen Geste, die entweder zu stark narrativ ausgeprägten Formen führt oder sich im Bereich metaphorisch-rätselhafter, aber umso eindrücklicherer Bilder bewegt. In bisherigen Analysen stand dabei meist die Metaphorik des Durchdringens und Verletzens im Mittelpunkt – durch Artaud selbst exemplarisch vorgeführt in jenen Zeichnungen, in denen er in ekstatisch-halluzinatorischer Abundanz mit der Bleistiftspitze oder auch mit einer glühenden Zigarette die Oberfläche des Zeichenblatts durchdringt, durchbohrt und in letzter Konsequenz „verletzt“. Dieser symbolische Zerstörungsakt unterminiert die Bedeutung des zweidimensionalen Zeichenblattes als Trägermedium repräsentativ-illusionistischer Kunst  ; die immer wieder durchgeglühten Seiten seiner Tagebücher markieren ein Schlachtfeld, auf dem Artaud gegen die Orthodoxie der Literatur, des Textes und der Schrift kämpft. Viele Künstlerinnen haben aber innerhalb der Geschichte der performativen Kunst bzw. einer Kunst, bei der das Handeln vor das Objekthafte gereiht wird, dem maskulin-aggressiven Gestus auch einen idealisiert-femininen Entwurf gegenübergestellt und so im Einklang mit dem grundsätzlich emanzipatorischen Ansatz von Deleuze / Guattari der bisher zu reduktionistisch-patriarchalen Interpretation des Artaud’schen Werkes und Einflusses weitere Entwicklungsdimensionen hinzugefügt.

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Auf zwei Positionen soll in diesem Zusammenhang beispielgebend hingewiesen werden  : Erstens der in der Frühgeschichte der Performance-Art einzuordnende multidimensionale Werkkomplex der Amerikanerin Carolee Schneemann, deren stärkste Arbeiten dem performativen Bereich zuzuordnen sind und die damit zu einer Vorreiterin in der Formulierung und Ausfaltung einer feministischen Kunst wurde. Zweitens die Ästhetik der um zwei Generationen jüngeren palästinensischen Künstlerin Mona Hatoum, deren faszinierende Objekte und Rauminstallationen die Auswirkungen der Intensität, Dynamik und mobilen Körperlichkeit performativer Akte auf die Aussagequalität neuer statischer Kunstwerke besonders deutlich erkennen lassen. Schneemanns Verherrlichung der energetischen Fruchtbarkeit der Vulva, die Betonung des Kollektiven in ihren frühen Arbeiten und die Tatsache, dass in der Performance „Interior Scroll“ in einem Akt assoziativer Parallelität die der Vulva entnommenen emanzipatorischen Texte dem fruchtbar-positiven Akt des Gebärens bzw. der Menstruation gleichgestellt werden, ist ein idealistisch-utopisches Gegenmodell zur de(kon)struktiv obsessiven phallokratischen Sphäre. Der agitativ-programmatische Charakter des Werkes von Schneemann, die Radikalität ihrer Kritik am Objekt und die Tatsache, dass sie als erste und einzige Künstlerin bereits in den frühen 1960er-Jahren das Thema der handlungsgeleiteten und handlungsmotivierenden Kunst aufgriff, hat sie lange Zeit in eine konfrontative Position zum maskulin dominierten Mainstream der posttraumatischen Avantgarden gesetzt. Inzwischen gehört sie zu den role models einer in den 1960er-Jahren ausgearbeiteten femininen Position in der Kunst. Ihre Arbeiten sowie jene von Louise Bourgeois, Hannah Wilke oder Maria Lassnig inspirierten jüngere Künstlerinnen, die sich einerseits politisch konkreter und aggressiver äußern, andererseits aber auch freier, unbeschwerter und weniger programmatisch arbeiten. Positionen wie jene von Adrian Piper, Ana Mendieta, Cindy Sherman, Pipilotti Rist, Sue Williams, Tracey Emin, Carola Dertnig oder Elke Krystufek seien hier stellvertretend angeführt. Mona Hatoums Arbeiten nehmen in diesem Kontext eine exponierte Stellung ein  : Ihr Werk ist nur aus dem biografischen Zusammenhang ihrer erzwungenen Emigration aus dem von permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen erschütterten Libanon zu verstehen. Es ist wahrscheinlich gerade diese Dimension stark physisch orientierter, katastrophischer Lebenserfahrungen, die ihren Objekten und räumlichen Bildfindungen eine besondere und einzigartige Faszination verleiht.

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Guy Brett 58 hat in einem Text über ihre Arbeiten einleitend jene grundsätzliche Frage gestellt, die letztlich die Rezeption aller performativen Positionen innerhalb des Artaud’schen Traditionszusammenhanges determiniert  : Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Sprache und Literatur in Bezug auf Erfahrungen, die so intensiv und inkommensurabel sind, dass sie die Möglichkeiten des lingualen Codes überschreiten. Diese Frage ist schließlich auch der Kern der in diesem Kapitel einleitend beschriebenen Auseinandersetzung zwischen Antonin Artaud und Jacques Rivière und rückt in der paradigmatisch die Entwicklung der Kunst seit Artaud bestimmenden Genealogie, bei der das Handeln vor dem Objekt steht, ins Zentrum.

58 Siehe dazu  : Guy Brett, Survey. in  : Guy Brett et al., Mona Hatoum, London 1997, S. 34 ff.

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Die Emanzipation des Subjekts vom Bild – Pollocks und Newmans Kampf gegen die zweidimensionale Fläche Der amerikanische Kunsthistoriker Richard Shiff charakterisiert Barnett Newman als einen „Denker, der seine Ideen nicht nur beim Malen, sondern auch beim Schreiben zu entwickeln verstand“.59 Er spricht damit ein Thema an, das gerade in einer Zeit, in der sich die moderne amerikanische Kunst von den europäischen Avantgarden zu emanzipieren versuchte, von großer Bedeutung war. In der Tat verstand es Newman, mit Eloquenz in epigrammatischen, scharfen Texten über die Methoden und Teleologien einer neuen amerikanischen Kunst zu schreiben und diese durchaus im Sinne einer amerikanischen Selbstermächtigung ideologisch und ästhetisch von der europäischen Kunst abzugrenzen. Der Aufschwung der amerikanischen Malerei war immer wieder Thema, sowohl in seinen pamphlethaften Texten wie auch in den mit Engagement und Enthusiasmus verfassten Briefen. Vor allem in seiner Antwort auf die Rezension einer Ausstellung neuer Arbeiten von Adolph Gottlieb, die Clement Greenberg 1947 verfasst hatte, versuchte Newman, die Unterschiede zwischen Europa und den USA herauszuarbeiten. Dabei bezeichnet er Miró und Mondrian als die beiden „originellsten europäischen Maler“, wenngleich auch diese ihren „Ausgangspunkt in der sinnlichen Natur“ hätten. Demgegenüber sei die unmittelbare Leistung und Charakteristik der amerikanischen Kunst darin zu sehen, dass diese „eine bedingungslose abstrakte Welt, die nur metaphysisch begreif bar“ wäre, schaffe.60 Weiters führte er aus, dass der Betrachter „von den europäischen Künstlern über schon bekannte Bilder in ihre geistige Welt eingeführt“ werde und dass dies eine „transzendentale Kunst“ sei. Deshalb setze sich der europäische Künstler „mit der Transzendenz der Dinge“ auseinander, „während sich der Amerikaner mit der Realität der transzendentalen Erfahrung“ beschäftige.61 Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang bemerkenswert  : Zum einen charakterisiert die Position Newmans sehr gut die in dieser Zeit herrschende Aufbruchsstimmung in New York. In den 1940er- und 1950er-Jahren formierte sich eine junge amerikanische Künstler / -innen- und Kritiker / -innen-Genera59 Richard Shiff, Einführung, in  : Barnett Newman. Schriften und Interviews 1925–1970, Bern / Berlin 1996, S. 11. 60 Barnett Newman, Antwort auf Clement Greenberg, in  : Barnett Newman, Schriften und Interviews, a. a. O., S. 156. 61 Ebd., S. 157.

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tion und initiierte jenen Prozess, der New York zum bis heute unangefochtenen Zentrum eines transatlantischen und in der Folge global ausstrahlenden Netzwerkes der Produktion, Definition und Verteilung künstlerischer Leistungen werden ließ. Andererseits ist es verblüffend, mit welcher Unreflektiertheit Newman der amerikanischen Kunst jene Leistungen zuschreibt, die in den europäischen Avantgarden und vor allem im Suprematismus Malewitschs schon drei Jahrzehnte früher vollbracht worden waren. Man kann seine Haltung nur mit der subjektiven Position als Künstler und dem damit verbundenen Erkenntnis- und Durchsetzungsinteresse legitimieren. Weniger verständlich ist es, wenn Shiff noch in den 1990er-Jahren die Urheberschaft dieses im Rahmen der Avantgarde und auch der Neo-Avantgarden bedeutenden paradigmatischen Schrittes für Newman und die amerikanische Kunst beansprucht. Noch zu diesem Zeitpunkt führt er die Legende der unumschränkten Hegemonie des Abstrakten Expressionismus im Sinne der von Irving Sandler vorgenommenen Kategorisierung als „Triumph of American Painting“ weiter. Vor dem Hintergrund des Niederganges der europäischen Kultur als Folge totalitärer Ideologien und Nationalismen sowie ihrer apokalyptischen Konsequenzen, diskreditiert der von Newman begonnene und von mehreren Generationen von Kritiker(inne)n weitergeführte Diskurs die Leistungen der europäischen Avantgarde als eine Kunst der „Schönheit“ und unterstellt ihr damit eine „ästhetisierte Verkommenheit“, während der amerikanischen Malerei das Gefühl für echte Tragik und Mut zur Hässlichkeit und somit Authentizität zugeschrieben wird. Newman hat dies so formuliert  : Ich glaube, daß einige von uns hier in Amerika, befreit vom Ballast der europäischen Kultur, eine Antwort finden, indem unsere Kunst das Problem des Schönen konsequent ausklammert, wo auch immer es anzutreffen ist.“62 Unter „einige von uns“ versteht der Autor vor allem sich selbst und Jackson Pollock – den Mikro-Kanon einer neuen gestischen Avantgarde.

Willem de Kooning schreibt Pollock die avanciertesten Leistungen innerhalb der Gruppe der New Yorker Abstrakten Expressionisten zu, wenn er feststellt  : Every so often a painter has to destroy painting. Cezanne did it, Picasso did it with cubism. Then Pollock did it. He busted our idea of a picture all to hell. Then there could be new paintings again.63 62 Barnett Newman, Antwort auf Clement Greenberg, a. a. O., S. 19. 63 Rudi Blesh, Modern Art USA  : Man, Rebellion, Conquest 1900–1956, New York 1956, S. 253.

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So wie Newman verknüpft auch de Kooning die New York School weniger mit den entscheidenden strukturellen Paradigmenwechseln der europäischen Moderne als vielmehr mit den großen und erfolgreichen Künstler(inne)n, an deren Leistungen sich die New Yorker Maler / -innen in direkter Konkurrenz messen lassen mussten. Solche strategischen Äußerungen zeigen den unbändigen Willen und das Selbstbewusstsein der Abstrakten Expressionisten, die an die Positionen der europäischen Avantgarden anschließen und diese letztlich im Sinne einer Kontinuität der Moderne weiterführen wollen. Wir stehen also in den 1940er-Jahren vor dem Phänomen einer Abgleichung der Konzepte der Moderne und der Avantgarde mit den Werten einer selbstbewusst agierenden amerikanischen Kultur, der es in der Euphorie der Nachkriegszeit gelingt, einer durch die erlebte Agonie entweder ausgelöschten oder sich ins Exil geflüchteten europäischen Moderne neue Energie zuzuführen. Fast gleichzeitig kam es aber ebenfalls in New York zur Ausbildung einer Gegenströmung um den Musiker John Cage, der bereits Ende der 1940er-Jahre dem expressiv-abstrakten Gestus der Maler / -innen ein Konzept entgegengesetzt hatte, welches von Gesten der Leere, des Zufalls und der Distanzierung geprägt war. Anfang der 1950er-Jahre bildete sich um Cage mit dem Musiker David Tudor, dem Tänzer Merce Cunningham und den Malern Robert Rauschenberg, Jasper Johns und anderen eine Gruppe, die das ästhetische Kontrastprogramm zum Abstrakten Expressionismus genreübergreifend künstlerisch ausformulierte. Die weitere Entwicklung in der amerikanischen Kunst legt den Schluss nahe, dass die von Greenberg und den Abstrakten Expressionisten entwickelte Position der 1940er- und 1950er-Jahre weniger, wie die Künstler es selbst propagierten und ihre Hagiographen es bis heute darstellen, eine erste amerikanische Avantgarde war, sondern eher eine noch stark mit den europäischen Traditionslinien verbundene Entwicklung. Die erste eigenständige Leistung in der amerikanischen Nachkriegskunst liegt eher in der aus der nationalen Entwicklung begründeten Aufhebung von High- and Low-Konzepten durch Rauschenberg und Johns, die wiederum einen unmittelbaren Einfluss auf die darauffolgende Pop-Art und ihre zahlreichen Varianten ausübten. Die konzeptuelle Dissonanz zwischen diesen beiden Bewegungen, welche die amerikanische Kunst der 1950er-Jahre hegemonial beherrschten, hat zur bis heute andauernden Kontroverse zwischen den Theorien des Modernism und Postmodernism geführt – eine ursprünglich inneramerikanische Diskussion, die aufgrund der weltweiten Strahlkraft der amerikanischen Kultur zu einem Diskurs von globaler Dimension wurde. Die Konzepte der modernen Avantgarde fanden mitt-

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lerweile in Europa eine zeitgenössische Fortsetzung und wurden durch die in den 1960er-Jahren sich auf den Abstrakten Expressionismus und insbesondere auf Pollock und Newman berufenden transkontinentalen Neo-Avantgarden mit neuer kreativer Energie aufgeladen. Dieser Reaktivierungsprozess findet seinen historischen Referenzpunkt in den 1940er-Jahren, als die Abstrakten Expressionisten eine fruchtbare, weil kritische Auseinandersetzung mit den Positionen der Surrealisten aufnahmen, die sich damals im New Yorker Exil befanden. Vor allem in den Arbeiten Gorkys, Rothkos und Pollocks ist diese Haltung immer präsent. Newman übte in seinen Texten, die auch repräsentativ für die Positionen der anderen Künstler gelesen werden können, eine grundsätzliche Kritik an den Arbeiten der American Abstract Artists (AAA),64 die in den 1930er- und 1940er-Jahren eine puristischgeometrische Abstraktion propagierten und während des Krieges von den europäischen Exilanten Léger, Mondrian, Glarner oder Ozenfant Unterstützung erhielten. Über deren strukturelle Ausgangsposition schreibt er  : Das hartnäckige Insistieren abstrakter Künstler, Inhalte seien zu eliminieren und die Kunst müsse gereinigt werden, hat zu einem ähnlichen Resultat geführt wie in der mohammedanischen Kunst, die alle anthropomorphen Formen um jeden Preis ausschalten wollte. Beides sind fanatische Entwicklungen, die eine abstrakte Reinheit anstreben und die Kunst zu einer bloßen Arabeske verkommen lassen.65

Newman fügt also der ideologisch motivierten Kritik, welche die amerikanischen Realisten an der konstruktivistischen Abstraktion übten, einen alternativen formalistischen Ansatz hinzu und formuliert schon früh Ideen, die sich auch im kohärent argumentierten Modernism Greenbergs finden. Für die historische Genealogie der performativen Wende ist aber vor allem relevant, dass Newman für den Abstrakten Expressionismus ein Kontinuum des Anthropomorphen einfordert – ein Umstand, der nicht ganz 30 Jahre später auf eine ganz andere Art und Weise in der Auseinandersetzung um Michael Frieds Text Art and Objecthood zu harten Auseinandersetzungen innerhalb der Interpretationskonkurrenten um die Genealogie der Avantgarden führte und die Diskussion bis heute belebt. In der Weiterführung seiner Argumente stellt Newman der AAA den Surrealismus als eine auch im Jahr 1945 noch diskussionswürdige Position gegenüber. 64 Barnett Newman, Antwort auf Clement Greenberg, a. a. O., S. 102 / 103. 65 Ebd., S. 114.

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Er sei zwar in weiten Bereichen zur „Masche“, also zu einem formal leeren Akademismus, verkommen, dennoch plädiere er für eine objektive Beurteilung der Leistungen des Surrealismus  : Jetzt, wo der Surrealismus zugrunde geht, ist es bei den Kunstkritikern und Künstlern in Mode gekommen, auf dem Sterbenden noch herumzuhacken. Vielleicht ist es wirklich notwendig, daß die Pioniere einer neuen Kunstbewegung gegen den Einfluß ihrer Vorläufer anrennen, besonders wenn diese eine Akademie vertreten. Doch die neue Richtung ist jetzt so gut in Fahrt gekommen, die neuen Schößlinge so kräftig, daß es möglich sein sollte, den Surrealismus objektiv zu beurteilen. (…) Wir sehen heute klarer  : daß nämlich die Thematik des Surrealismus für unsere Zeit die wichtigste überhaupt gewesen ist und zudem ausgesprochen zeitgemäß.66

Was die Ablehnung der „Akademie“ Bretons und deren Ausstellungsaktivitäten in renommierten New Yorker Galerien betrifft, befand sich Newman in bester Gesellschaft. Auch Antonin Artaud hatte 1947 seine Teilnahme an amerikanischen Projekten Bretons abgelehnt.67 Newman steckte als einer der Ersten in seinen nun vor mehr als einem halben Jahrhundert verfassten Texten das Gelände für eine Diskussion ab, die den Diskurs in der transkontinentalen bzw. globalen Kritik bis heute beflügelt. Er arbeitete mit Clement Greenberg an einer Neubestimmung des Begriffs der Moderne mit dem Ziel einer Entideologisierung der stark trotzkistisch geprägten europäischen Moderne und deren Umformulierung in eine formalistische, möglichst ideologiefreie Theorie, die allerdings postwendend von der Fortschrittsdynamik der amerikanischen Politik der Nachkriegszeit funktionalisiert wurde. 1958 eröffnete in der Kunsthalle Basel die vom Museum of Modern Art organisierte Wanderausstellung „The New American Painting“. Diese Ausstellung hatte auf die europäische Kunstszene eminente Auswirkungen. Anhand der Exponate von Pollock, de Kooning, Newman, Still, Guston, Motherwell, Kline, Rothko und Francis wurde 66 Barnett Newman, Antwort auf Clement Greenberg, a. a. O., S. 102. 67 In Briefen an Breton schreibt dieser im Februar 1947  : „Nein, ich kann absolut nicht an einer Ausstellung teilnehmen, insbesondere nicht in einer Galerie, umso mehr, als es in Ihrem Projekt noch etwas gibt, bei dem ich mich vor Ekel schüttle. Nämlich den Parallelismus zwischen surrealistischer Aktivität und Okkultismus, Magie – ich glaube an keinen Begriff, keine Wissenschaft oder Kenntnis mehr, schon gar nicht an eine verborgene Wissenschaft (…). Dagegen lehnt sich meine gesamte Physiologie auf, denn ich sehe nicht, wie es auf der Welt etwas geben könnte, in das man initiiert werden müßte. Jede Erfahrung ist entschieden persönlich  …“ Siehe dazu  : Auszüge aus Briefen Artauds an Breton, in  : Politics – Poetics. Das Buch zur documenta X, Ostfieldern-Ruit 1997, S. 395.

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2. Die performative Wende – Versuch einer historischen Genealogie

demonstriert, dass die New Yorker Abstrakten Expressionisten jene gestalterischen Elemente der Malerei, die ursprünglich in Paris bzw. Europa entwickelt worden waren, in neue ästhetische Dimensionen überführt hatten. Schon 1959 dominierte diese neue Richtung die zweite documenta und befand sich auf einem ersten Höhepunkt ihrer internationalen Ausstrahlung. Vor allem Jackson Pollock und Barnett Newman entfalteten, jeder mit seiner spezifischen Methode und formalen Gestaltungspraxis, eine antizentristisch über die Bildfläche hinausweisende Dynamik. Damit einher ging die Verweigerung des illusionistischen Bildauf baus zugunsten einer authentischen Präsenz des Subjekts – ein potenzieller Endpunkt für die abstrakt-gestische Malerei. Bei Pollock wird dieser Moment der höchsten Zuspitzung in der kurzen Geste der bis 1950/51 entstandenen Drippings und der darauffolgenden Erschöpfung und Orientierungslosigkeit spürbar. Die künstlerische Krise und die damit verbundene persönliche Tragik machten ihn zu einer der exemplarisch leidenden Künstlerfiguren des 20. Jahrhunderts und zum modernen Mythos. Während Pollock ab 1947 mit den Drippings trotz aller Interpretationen um einen sehr bewussten, fast figurativen Auf bau letztlich eine Geste gesetzt hatte, welche die Bildfläche in den Raum erweiterte, findet ein ähnlich paradigmatischer Prozess bei Newman erstmals 1948 mit seinem Bild „Onement I“ statt. Später sagte der Künstler über dieses Werk  : „Ich spürte, daß es zum ersten Mal nicht um Bildermachen ging.“ 68 Sowohl in Pollocks als auch Newmans Ansatz wurde die Arbeit am Bild zum performativen Akt, bei dem nicht mehr ausschließlich das Bild, sondern der über das Bildobjekt ausgelöste Produktions- bzw. Perzeptionsprozess in den Vordergrund rückte. Sowohl Pollocks Drippings als auch „Onement I“ bereiten so jenen Arbeiten der literalistischen Neo-Avantgarden den Weg, gegen die Fried später in einer missverstandenen Fortführung des Greenberg’schen Modernismus polemisierte. In der Literatur wird dieser Schritt bis heute hauptsächlich Jackson Pollock zugesprochen. Diese einseitige Betonung verdankt sich vor allem der Faszination, die von Hans Namuths filmischen und fotografischen Dokumentationen ausgeht. Es kam in der Folge sogar zu Berichten im Magazin „Life“ – Jackson Pollock wurde zu einem household name. Es gilt allerdings festzuhalten, dass Barnett Newmans Beitrag zur Erweiterung der Bildfläche in den Raum und zur Verlagerung der aktiven Perzeption in Richtung des Subjekts zumindest ebenso bedeutsam ist. Es geht bei beiden Künstlern im Wesentli68 Richard Shiff, Einführung, a. a. O., S. 19.

Die Emanzipation des Subjekts vom Bild – Pollocks und Newmans Kampf gegen die …

chen um die Herstellung eines notwendigen und räumlich gefühlten relationalen Verhältnisses zwischen dem Objekt und dem Subjekt.69 Eine ausgewogene Darstellung der Innovationsleistungen ist für eine umfassende Darstellung der Genealogie einer performativen Wende von Bedeutung, weil das Werk Newmans ein wichtiges Bindeglied zwischen der ersten suprematistischen Avantgarde Malewitschs und den neo-avantgardistischen Positionen der 1960er- und 1970er-Jahre bildet.

69 Es ist bemerkenswert, dass Paul Schimmel in einem einführenden Text zur Ausstellung „Out of actions – between performance and the object 1949–1979“ zwar die bisher einseitige Position Pollocks zugunsten der Arbeiten von Cage, Fontana und Shimamoto relativiert, andererseits aber den Ansatz von Barnett Newman nicht erwähnt.

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3. Zur Begrenztheit der Theorien des Blicks Die Geschichte der Kunst des ausgehenden 19.  und des 20.  Jahrhunderts ist in starkem Ausmaß von Technisierung und Medialisierung geprägt – mit der Konsequenz einer maximalen Beschleunigung der Bildproduktion auf allen Ebenen. Die Kunst bzw. die künstlerische Praxis befindet sich in einem intensiven Dialog mit den Agenturen des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts, die mit zunehmender Akzeleration die globale Wirklichkeit verändern. Dabei beschränkt sich ihre Rolle nicht auf reflexions- und kritiklose Affirmation epistemologischer Umschichtungen  –  vielmehr versucht sie, vor allem in ihren avantgardistischen Ausprägungen, auf kognitive Dissonanzen, gesellschaftspolitische Verwerfungen und Veränderungen in der ontologischen Konstitution des Subjekts hinzuweisen, die die neue mediale und szientifische Weltordnung mit sich bringt. Die zeitgenössische Kunst erhebt den Anspruch, Realität nicht nur zu repräsentieren, sondern darüber hinaus tatsächlich selbst zu gestalten. Vom Beginn des 20.  Jahrhunderts an bis heute, von den historischen Avantgarden bis zur gegenwärtigen Kunst- und Ausstellungspraxis, hat die Frage nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit und Bedeutung von Kunst an Aktualität nichts verloren. Vor allem die Geschichte der bildenden Künste des vergangenen Jahrhunderts ist auch unter dem Aspekt der Ausbildung enthierarchisierter Diskurs- und Handlungsplateaus sowie der Inszenierung von strategischen Tabubrüchen und Grenzüberschreitungsphänomenen zu betrachten. Nachdem die Kunst heute nicht mehr in religiöse und politische Zusammenhänge eingebunden ist und sich somit von ihrer strengen gesellschaftlichen Funktionalisierung „befreit“ hat, also nach modernem Verständnis einen autonomen Status besitzt, stellte sich die Frage nach ihrer zeitgenössischen Relevanz in der Gesellschaft. Die historischen Avantgarden, die Futuristen, Dadaisten und die russischen Konstruktivisten, beanspruchten für sich das Recht der Gedankenfreiheit, das, jenseits des belle et inutile einer repräsentativen Konzeption der Ästhetik, konkrete gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Wirksamkeit einfordert. Es ging um die Überschreitung oktroyierter Grenzver-

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3. Zur Begrenztheit der Theorien des Blicks

läufe und konventioneller Rahmungen in der Absicht, in Bereiche unmittelbarer Wirklichkeitsgestaltung vorzustoßen. Diese Selbstermächtigung zum freien und selbstreflexiven Handeln brachte die Kunstproduktion aber auch in einen Zustand der permanenten Krise, da sie nun gezwungen war, in immer kürzeren Abständen die Rahmenbedingungen ihres Tuns theoretisch zu hinterfragen und zu legitimieren. Im Hinblick auf diese Entwicklungsdynamik manifestiert sich der werkkritische Ansatz als zentraler Parameter der Moderne – Selbstreferenz wird zum dekonstruktiven Prozess. Wir beobachten in der Abfolge der Avantgarden eine Pendelbewegung zwischen analytischer Selbstreferenz, die Kritik an der Werkbegrifflichkeit übt, und einem aktivistischen Gestus der Dekonstruktion. In dieser Dialektik werden die petrifizierten traditionellen Werkkategorien gelockert und aufgebrochen, die Position des schöpferischen Subjekts wird hinterfragt und prozessual neu definiert. Die Folge dieser radikalen paradigmatischen Umwälzungen ist, dass die Kunst nach der „Umwertung aller Werte“ auf die Basis aller Ästhetik zurückverwiesen wird, nämlich auf die letzte Gültigkeit und Autonomie des Subjekts und seiner Erfahrungsmöglichkeiten. Die Erforschung der Dialogbeziehungen zwischen Kunst und Subjekt, ob Autor / -in oder Rezipient / -in, hat sich in der Kunst des 20. Jahrhunderts zu einem zentralen Thema entwickelt. Dies gilt für den intimen Austausch zwischen Kunstwerk und Betrachter / -in, beispielsweise im Museum, ebenso wie für die Bedingungen und Austauschbeziehungen diverser Kunstbegrifflichkeiten und manifestgestützter Theorien in der kollektiven Matrix gesellschaftlicher Realität. Vor allem in den Avantgarden der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts manifestiert sich selbstreferenzielle Zurückgeworfenheit auf das Subjekt als zentrales Paradigma mit weitestgehenden Konsequenzen auch und vor allem für die kunstwissenschaftliche Rezeption. Es scheint, als erreiche ein Thema, das sich im Entwicklungsprozess der Moderne angedeutet hat, um 1960 endgültig ein Reifestadium. Das direkt erfahrende Subjekt integriert sich in das Kunstwerk und rückt somit das Thema der Körperdarstellungen und Körperinszenierungen ins Zentrum. Die Präsenz des Subjekts  –  in unmittelbarer Körperlichkeit oder als abwesender Bezugspunkt, der die ästhetischen Konfigurationen determiniert  –  bestimmt ab nun die strukturellen Eckpunkte sowohl der Konstruktionsbedingungen des Kunstwerks als auch dessen Umfeldreferenzen. Theoretiker und Philosophen wie Walter Benjamin, Antonin Artaud, Jacques Lacan und Michel Foucault haben in Korrespondenz mit dem Surrealis-

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mus als der wohl folgenreichsten avantgardistischen Bewegung in der Kunst des 20. Jahrhunderts die Position des Körpers als Austragungsort und Matrix jeglicher Kultur definiert und diesen für die Kunst nicht nur in seiner repräsentativen Dimension, sondern vor allem auch als reale Gegenwart emanzipiert.70 Dieser hier nur kurz skizzierte grundlegende Prozess hat insofern radikale Folgen, als durch ihn die Vorstellung von einem absoluten Sehen infrage gestellt wird und nunmehr von einer ganzheitlichen Perzeptionsdynamik ausgegangen werden muss. Die Kunst bewegt sich vom Okularzentrismus weg, hin zu einer umfassenden, die Erlebnisfähigkeit des gesamten Körpers umfassenden Rezeption. Das distanzierte Sehen spielt keine dominierende Rolle mehr, der herkömmliche Dualismus der visuellen Perzeption wird zugunsten eines Synchronismus aufgebrochen. Für die Methoden der Kunstwissenschaft hat der radikale Wechsel hin zu einer umfassenderen und vor allem performativen Dimension der Wahrnehmung nachhaltige Konsequenzen. Im Grunde bedeutet diese Entwicklung den Anfang vom Ende der Dominanz jener Theorien des Blicks, die der Kunstgeschichte zugrunde liegen und die nicht mehr in der Lage sind, die prozessuale Dimension und den fluktuierenden Charakter der performativ orientierten Kunst seit den 1960er-Jahren angemessen widerzuspiegeln. Neue analytische Methoden müssen daher synchronistische Theorien sein, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Simultaneität einer spatialen und bewegungsorientierten prozessualen Kunst erfassen zu können. Dieses Instrumentarium kann sich nur im Bewusstsein der Gegenwart eines kontinuierlich kommunizierenden Beziehungsgeflechtes von Raumkoordinaten, funktionalistischen ästhetischen Objekten und dem Gestus des anwesenden oder abwesenden Subjekts entwickeln. Veränderungen der Methoden der Kunstwissenschaften sind deshalb notwendig, weil die dem theoretischen Diskurs grundsätzlich vorgelagerte Kunst Ästhetiken, Methoden und Strategien entwickelt hat, welche die Kunstwissenschaften in eine ständige Anpassungsdynamik zwingen  : Sie sind angehalten, permanent neue Theoriewerkzeuge zu entwerfen, mit denen die wechselnden Kunstbegriffe und die daraus entstehenden Kunstwerke analysierbar 70 Siehe dazu  : Sabine Flach, Körper-Szenarien. Zum Verhältnis von Körper und Bild in Videoinstallationen, München 2003, S. 21 ff. Flach identifiziert hier Benjamin, Lacan, Foucault und Sartre als grundlegende theoretische Positionen, die den Körperimperativ in die kunsttheoretische Diskussion einführen.

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und vermittelbar gemacht werden können. Die zunehmend enigmatische Akzelerationsdynamik der Kunst lässt heute allerdings kaum mehr die Entwicklung eines umfassenden theoretischen Ansatzes zu. Wir stehen vor einem Gesamtbild, das von Aufsplitterungstendenzen, diskursiver Dekonstruktion, Orientierungslosigkeit und subjektiven Obsessionen geprägt ist. Deleuze und Guattari haben diesem Zustand mit dem Begriff des „Rhizoms“ einen treffenden Namen gegeben.71 Der damit apostrophierte Umstand eines kontinuierlichen Verzweigens sowie einer Dialektik von Konstruktion und unmittelbar darauf folgender Dekonstruktion, hat intertextuelle Wucherungen und eine zunehmende Inkommensurabilität gegenwärtiger Diskurse zur Folge. Vor allem die radikale Beschleunigung durch die mediale Revolution der Digitaltechnologie katapultierte das theoretische Dispositiv in eine gedankliche Taxonomie, die diese Veränderungen als eine Folge von unterschiedlichen „Wenden“ (turns) definiert.72 Das Fortschreiten im diskursiven Feld stellen wir uns heute als einen immens verzweigten kollektiven Denkprozess vor, der an Knotenpunkten Problemkulminationen zur Folge hat, deren Häufung schließlich zu radikalen paradigmatischen Umschichtungen führt.73 Einer der letzten war der sogenannte linguistic turn, der im Zusammenhang mit dem starken Einfluss des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus vor allem im Bereich der Theorie in den USA starke und komplexe Resonanzwirkungen hatte. Nun, relativ kurze Zeit nach der strukturalistischen Analyse der Kunst durch Prononcierung ihres prozessualen Textcharakters kommt es unter dem Eindruck der enorm gewachsenen Produktion von Bildern im Zuge der Hypermedialisierung unserer Realität zu neuerlichen methodologischen Adaptionen. So ortet beispielsweise der amerikanische Literatur- und Kunstwissenschaftler W. J. T. Mitchell die Notwendigkeit zu einem pictorial turn, wie er es in Anlehnung an einen Begriff von Richard Rorty nennt. Als Grund für die Notwendigkeit einer verstärkten Hinwendung zum erneuten Betrachten und zur notwendigen Erforschung von Bildern nennt er den Umstand, dass wir beim gegenwärtigen Stand der technologischen Entwicklung in einer Kultur leben, die den pictorial turn bereits vollzogen habe. Unsere Kultur sei so vollständig von Bildern beherrscht, dass dies nicht mehr als 71 Siehe dazu  : Gilles Deleuze / Felix Guattari, Rhizom, Berlin 1977. 72 Richard Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt / Main 1987, S. 289. 73 Siehe dazu  : Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns, Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2007.

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isoliertes Phänomen, sondern als ein gesamtgesellschaftlicher globaler Prozess betrachtet werden müsse.74 Für die Bildwissenschaften, und darunter vor allem die Kunstgeschichte, erhofft er damit zu Recht einen Aktualitätsschub und sieht diesen bereits teilweise durch das jüngst intensiver auftretende Interesse an den ikonologischen Theorien von Erwin Panofsky verwirklicht. Gleichzeitig fordert er allerdings für die Wissenschaften, dass ein Reagieren auf die Allmacht des pictorial turn nicht die „Rückkehr zu naiven Mimesis-, Abbild- oder Korrespondenztheorien von Repräsentation oder eine erneuerte Metaphysik von piktorieller ,Präsenz‘“ bedeuten dürfe.75 Vielmehr müsse dieser neue Ansatz „eine postlinguistische, postsemiotische Wiederentdeckung des Bildes als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität“ bedeuten.76 Diese von Mitchell in Bezug auf das Bild eingenommene Position scheint eine analoge Position zu jenem analytischen Muster einzunehmen, das im Hinblick auf die performativen Entwicklungen in der bildenden Kunst zum Tragen kommen sollte. Im deutschen Sprachraum war es Gottfried Boehm, der 1994 in dem von ihm herausgegebenen Band Was ist ein Bild  ? 77 programmatisch einen iconic turn forderte. Während es Mitchell und vielen anderen Theoretiker(inne)n im anglo-amerikanischen Sprachraum vor allem um eine ideologiekritische und subversive, mit anderen Worten, politische Kraft des Visuellen ging, für die die Debatten der Cultural Studies wichtige Impulse gaben, konzentriert sich Boehm auf eine Eigensprachlichkeit wie Eigenlogik des Bildes, die explizit auf die Tradition der Hermeneutik zurückgreift. Boehm versteht dabei den iconic turn als konsequente Fortsetzung des linguistic turn, als Versuch, „das Bild als ‚Logos‘, als sinnstiftenden Akt zu verstehen“.78 Beiden Positionen ist der Versuch gemeinsam, eine Eigensprachlichkeit von Bildern begrifflich zu fassen. Sie überschreiten die Grenzen der klassischen Kunstwissenschaften und versuchen Bildlichkeit als ein der Sprache inhärentes Prinzip herauszuarbeiten. Unterschiede bestehen jedoch in der Frage, inwiefern der iconic oder pictorial turn auch eine gesellschaftliche Reflexion notwendig 74 Siehe dazu  : W. J. Thomas Mitchell, Der Pictorial Turn, in  : Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 18.  75 W. J. Thomas Mitchell, Der Pictorial Turn, a. a. O., S. 18. 76 Ebd., S. 19. 77 Vgl. dazu  : Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild  ?, München 1994. 78 Gottfried Boehm in Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 29.

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mit einschließen müsse. Sowohl Mitchell wie auch Boehm haben jedoch nachdrücklich und überzeugend herausgearbeitet, dass das „Bild“ ein neues Paradigma darstellt, das es theoretisch in den Blick zu nehmen gilt.79 Der pictorial turn steht also am Beginn einer ganzen Reihe von Blicktheorien, die in den letzten Jahren entwickelt wurden. Angesichts dieser diskursiven Hausse stellt sich die Frage, inwieweit diese tatsächlich notwendige integrale, analytische Werkzeuge sein können, um jene wesentlichen Entwicklungen in der Kunst der letzten Jahrzehnte umfassend zu bearbeiten, die dem Sehen das optisch leicht fassbare Kunstwerk als „Objekt der Begierde“ zunehmend entzogen haben. Die Kunst selbst ist längst dazu übergegangen, als Teil des produktiven Prozesses das Bild zu erforschen und seine Bedeutung neu zu bewerten – vor allem wenn, wie bereits erläutert, das avantgardistische Selbstverständnis der Kunst der Moderne u. a. darauf beruhte, dass sie ihre gesellschaftliche Funktion als Lieferantin potenziell affirmativer und systemstabilisierender Objekte kritisch reflektierte. Wenn also heute zeitgenössische Theorien die Analyse des „reinen Sehens“ zum Thema haben, um die kulturelle Dominanz des Okularzentrismus als hierarchisches Prinzip und Kontrollmechanismus kritisch zu hinterfragen, so scheinen sie dies auf demselben kognitiven Plateau zu tun wie die performative Kunst. Beide verfolgen im Prinzip das Ziel, der systemaffinen Hegemonie der massenmedialen Bildwelt in einer globalisierten Gesellschaft eine ideologiekritische, piktografische Alternative gegenüberzustellen. Für die disziplinär systematisierte Kunstgeschichte bedeutet dieser Ansatz  –  im Gegensatz zu den Kulturwissenschaften – die Notwendigkeit einer umfassenden Diskussion. Für W. J. T. Mitchell steht fest, dass die Kunstgeschichte erst sehr spät auf den linguistic turn „aufmerksam“ geworden ist, und er beklagt den unreflektierten Umgang mit der Terminologie, die durch diese paradigmatische Wende in der Theoriebildung implementiert wurde.80 In der Annahme, dass das Kunstfeld mittlerweile im Zeichen eines pictorial turn stehe, liegt für Mit79 Boehm und Mitchell sind nicht die einzigen Vertreter dieses neuen Bild-Paradigmas. Im deutschen Sprachraum haben insbesondere Hans Belting und Horst Bredekamp auf unterschiedliche Weise versucht, die Frage nach dem Bild aus ihrer Beschränkung auf die Kunstgeschichte zu befreien. Vgl. dazu  : Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001  ; Horst Bredekamp, A Neglected Tradition  ? Art History as Bildwissenschaft, in  : Critical Inquiry, Bd. 29, 2003, S. 418. 80 Mitchell nimmt hier auch kritisch Bezug auf die innerdisziplinäre und methodologische Diskussion um die Positionierung einer transdisziplinären Theorie, die beispielsweise von Mieke Bal als Synthese des Fachstreits zwischen Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte andenkt. W. J. T. Mitchell, Der Pictorial Turn, a. a. O., S. 38.

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chell die Hoffnung auf eine Renaissance der Kunstgeschichte. Statt sich in der Position der theoretischen Marginalität behaglich einzurichten, könnte sie wieder ins intellektuelle Zentrum rücken. Dies hätte aber konsequenterweise zur Folge, dass sich ihr Betätigungsfeld nicht mehr nur auf die Meisterwerke der westlichen Malerei beschränkt, sondern „vielmehr eine breite, interdisziplinäre Kritik, die auch parallele Anstrengungen in anderen Bereichen berücksichtigt“, gefragt ist.81 Dabei denkt Mitchell insbesondere an den Ansatz, die Kunstgeschichte durch das Einbeziehen weiterer Medien im größeren Kontext einer visuellen Kultur anzusiedeln, die für ihn maßgeblich durch Film und Video bzw. digitale Technologie determiniert ist. Mitchells Ansatz ist problematisch in dem Sinne, als er die fraglos vorhandene pure Dominanz des Bildes, gleichgültig in welcher medialen Ausformung, als primäre Argumentationshilfe nutzt, um der Kunstgeschichte als per definitionem für das Bild zuständige kritische Disziplin Legitimation und zusätzliches fachliches Terrain zuzuordnen. Im Umkehrschluss heißt dies allerdings, dass er damit der Produktion von Bildern nach wie vor Priorität in den bildenden Künsten einräumt. Dies entspricht zwar der allgemeinen Bildlastigkeit im Bereich der heutigen Alltagsrealität, ist jedoch nicht mehr so ohne Weiteres auf die Situation der Kunst anzuwenden, die spätestens seit den 1950er-Jahren die performative Dimension als zentrales Agens in einer Weise integriert hat, die zunehmend alle piktoriellen Parameter mitbestimmt. Deshalb auch der interdisziplinäre Kontextualisierungsbedarf, den die Kunstwissenschaften integral zu realisieren versuchen und dem die Kunstgeschichte hinterherhinkt. Im Gegensatz zu Mitchells Ansatz versuche ich – um in seiner und Rortys an Lacan anschließenden Terminologie zu bleiben – einem performativen Turn zu folgen und die Konsequenzen einer solchen Wende für den methodologischen Ansatz der Kunstgeschichte zu analysieren. Voraussetzung dafür ist allerdings die These, dass der von Mitchell festgestellte pictorial turn, den er unter anderem mit der televisionären Ikonografisierung der Berichterstattung von CNN im Golfkrieg begründet, zwar ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist, für die Kunst aber nur noch bedingt zutrifft  : Ihre Protagonisten haben sich in einem lang andauernden Entwicklungsprozess von der Macht des Bildes selbst frei gemacht und agieren im Rahmen von neuen ästhetischen Konfigurationen, die nicht ausschließlich piktoriellen Perzeptionsdimensionen verpflichtet sind. Dies soll allerdings weder „kulturkritische Ikonoklasmen“ noch „futu81 Ebd., S. 18.

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ristische Technoeuphorie“ 82 antizipieren, sondern nur der inzwischen von der Kunst selbst entwickelten enthierarchisierten Diversifikation der verschiedenen Sprachmöglichkeiten Rechnung tragen. Die französische Philosophin und Kulturtheoretikerin Christine BuciGlucksmann hat im Gegensatz zu Mitchell ein Modell des Denkens über die performativen Positionen der Kunst entwickelt. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht die Annäherung an einen Zustand, der für sie zur zentralen energetischen Achse einer Kultur der Aufhebung der Perspektiven hin zu einer neuen Realitätswahrnehmung und einem ästhetisch modulierten Körpergefühl gehört, das sich für sie in den Gesten der Umkreisung und des Fließens manifestiert. Daraus entwickelt sie eine Theorie des Schwebens und der Leichtigkeit, eine Hypostasierung des Virtuellen als poetische und kosmische Levitation von Kräften und Elementen. Für die Blicktheorien im Rahmen der Gegenwartskunst orientiert sich Buci-Glucksmann vor allem an Robert Smithsons Position eines entropischen Blicks und entwickelt eine Theorie des kartografischen Blicks,83 anzuwenden im Rahmen einer weiter gefassten Vorstellung der ästhetischen Moderne, deren Beginn sie bei der panoramatischen Sicht der niederländischen Malerei ansetzt. Buci-Glucksmann entwickelt ihre methodischen bzw. begrifflichen Konstruktionen aus dem atmosphärischen Fluidum eines Körpergefühls, das für sie zu einem Paradigma menschlichen Begreifens von Realität wird. Dabei bezieht sie sich auf jene poetischen Entfesselungsdiskurse der französischen Theorie, die die Präsenz des Körpers als zentralen und direkten Bezugspunkt ästhetischer Perzeption in den Vordergrund rücken. Darüber hinaus impliziert ihr Ansatz eine neue Dimension im Umgang mit den bisher vorherrschenden Konzepten des 82 Vgl. dazu  : Christian Kravagna, Vorwort, in  : Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 8. 83 Vermutlich greift Buci-Glucksmann mit dem „kartographischen Blick“ auf die Verwendung des Begriffs „Kartographie“ durch Robert Smithson zurück. In einem Interview aus 1972 nimmt Smithson immer wieder auf diesen Begriff Bezug  : „ … Mit der Zeit entdeckte ich ein Gebiet der Abstraktion, das tatsächlich in kristallinen Strukturen verwurzelt ist. Genau genommen habe ich die erste Arbeit dieser Art 1964 gemacht. Sie heißt Enantiomorphic Chambers. Und ich glaube, es war genau diese Arbeit, die mich von meiner Beschäftigung mit der Geschichte befreite  ; ich hatte es mit Rastern und Feldern und leeren Oberflächen zu tun. Die kristallinen Formen erinnerten an Kartographie. (…) Anders gesagt, wenn wir uns ein abstraktes Bild vorstellen, zum Beispiel von Agnes Martin, dann gibt es da eine Art Raster, das wie eine Landkarte ohne Länder aussieht. Also fing ich an, das Raster als eine Art mentales Konstrukt von Materie zu verstehen, und mein Interesse am Physischen begann sich zu entwickeln …“ Zitiert aus dem Interview mit Robert Smithson für die Archives of American Art / Smithsonian Institution 1972, in  : Robert Smithson, Gesammelte Schriften, Köln 2000, S. 274.

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Visuellen. Wenn sie nämlich ein Gefühl des Schwebens und Bewegens als wesentliche kulturelle Betriebsenergie etabliert, hat dies selbstverständlich eine völlig neue Vorstellung von Perzeption zur Folge. Bewegung, Schweben, Levitation sind ja Körpergefühlswerte, die nicht mehr nur ausschließlich über einen rein visuellen Zugang erlebt werden können, sondern sich letztlich synthetisch-ganzheitlich, quasi dezentralisiert im Wahrnehmungsfeld situieren. Wenn es also um die Frage geht, ob die Krise des Raumes nicht eher eine Krise der Perzeptionstheorien ist, weil selbst die aktuellsten Theorien des Blicks noch zu statisch gedacht sind, wäre dies anhand eines critical reading des Ansatzes von Buci-Glucksmann, insbesondere anhand ihres Textes zum entropischen Blick Robert Smithsons, zu überprüfen. Dabei stellt sich die Frage nach einer Kritik der Begriffe und Kategorien, die Buci-Glucksmann einführt, und nach deren Neubewertung oder Neudefinition unter dem Hinweis auf eine umfassendere Perzeptionsdynamik. Mit dem Titel ihres 1996 vorgelegten Buches L'oeil cartographique de l'art bezieht sich Buci-Glucksmann auf die Verwendung des Begriffs der Kartografie durch den amerikanischen Künstler Robert Smithson. Die daraus entwickelte Theorie eines „kartographischen Blicks“ ist zweifellos ein integraler Denkansatz, der einen interessanten interpretativen Zugang auch zu Entwicklungen in der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Gleichzeitig bietet dieser theoretische Ansatz aber auch die Möglichkeit eines weit gefassten, komparatistischen Überblicks über die Entwicklungsgeschichte einer modernen europäischen visuellen Wahrnehmung von der Renaissance bis heute. Indem sie den zentralen Begriff ihrer Theorie als „kartographischen Blick“ bezeichnet, führt Buci-Glucksmann eine strukturelle Interpretationsmethode ein, welche die Wahrnehmungsfragen von Kunst in binäre Konstruktionen zwischen Immobilität und Bewegung, zwischen Stehenbleiben und Reisen einordnet. Sie unterscheidet dabei zwischen Kartografien in der Kunst, wie beispielsweise bei Smithson, und einer grundsätzlichen Kartografie der Kunst. Zwei Elemente scheinen hier entscheidend zu sein  : erstens die Tatsache, dass die im Begriff „Kartographie“ angelegte Definition des Kunstwerks zu einer sehr funktionalen Sicht auf das Kunstobjekt im Sinne eines Werkzeugs führt und damit den gedanklichen, konzeptuellen Charakter des Kunstwerks herausarbeitet. Dies hat eine Neudefinition der Bedeutung des Kunstobjekts zur Folge, weil dem Objekt selbst nicht mehr notwendigerweise ein abgeschlossener Werkcharakter zugrunde liegen muss. Die auratische Präsenz des Kunstobjekts wird zugunsten einer ganzheitlicheren Sicht im Sinne eines konzeptuellen Gestus zurückgedrängt. Dem einzelnen Werk kommt eher eine stellvertreten-

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de Funktion zu  : Wie ein „Schlüssel“ oder Conduit führt es zur tatsächlichen künstlerischen Setzung, nämlich dem dahinter stehenden ausgeformten Gestus, der gedanklichen oder auch atmosphärischen Konzeption. Dieses Konzept muss nicht unbedingt mit dem Werkbegriff gleichgesetzt werden  ; es führt aber in der Summe letztlich zu einer umfassenderen Vorstellung von der Präsenz künstlerischer Objekte. In den Strategien der (Neo-)Avantgarden gibt es somit keine umfassende Repräsentanz des Einzelobjekts mehr  ; erst in der Kombination, in der Bewegung, Blickänderung und Akkumulation der diversifizierten und partikularisierten Blickrichtungen wird eine Gesamtaussage möglich. Mit der damit einhergehenden Hermetik, den „Verschlüsselungen“ des Werks, formuliert in seinen jeweiligen ästhetischen Manifestationen, reagiert die Kunst aus der Position einer avantgardistischen Arkanwissenschaft auf die erlebte Dystopie eines kontrollierenden Zugriffs gesellschaftlicher Machtapparate, wie sie unter anderem auch in Form der im 19. Jahrhundert entwickelten Museumskonzeption manifest wird. Im Zentrum der Kunst der Moderne stehen immer ein Gestus der Freiheit und ein Drang zur Überwindung von Raumgrenzen und anderen von der Gesellschaft gesetzten Barrieren. Daraus ergibt sich die in Buci-Glucksmanns Begriff der Kartografie angelegte Tendenz zu einer unabdingbaren, umfassenden Verräumlichung des Denkens über die Kunst. Darunter verstehe ich, dass wir heute die Inhaltlichkeit und Bedeutung  –  den „content“  –  eines Kunstwerks bzw. Kunstbegriffs nur mehr decodieren können, wenn wir imstande sind, die jeweiligen Schlüsselobjekte innerhalb einer räumlichen Matrix zu erkennen. Das von Buci-Glucksmann konzeptiv eingeführte Denkmodell des ikarischen bzw. kartografischen Blicks, der sich an der Landkarte bzw. dem Globus festmacht, bietet für diesen analytischen Prozess eine ansprechende Metapher. In einem offenen Raum, im Ozean der Bilder, der Objekte und der faktischen und konzeptuellen Gesten, kann eine Positionsbestimmung nur mehr unter Berücksichtigung von räumlichen Koordinaten erfolgen. Der Rezipient von Kunst muss unter diesen Umständen wie ein Navigator agieren und versuchen, die Bedeutungsposition des Kunstobjekts aus der Festlegung der diskursiven Längen- und Breitengrade zu erfassen. Die Aufgabe der Kunstwissenschaften und vor allem auch der Kunstgeschichte ist es, die dafür geeigneten Meridiane zur Verfügung zu stellen. Aus dieser Sicht ergibt sich notwendigerweise eine Änderung des Blicks auf das Kunstobjekt per se. Denn der zu be-greifende Inhalt lässt sich nicht mehr nur an der physischen Präsenz allein festmachen. Die in diskursiven Zusammenhängen gern verwendete Definition des Kunstobjekts als Werkzeug greift

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zu kurz, weil die Kunst inzwischen von Werkbegriffen ausgeht, die einen wesentlich prozessualeren, konzeptuelleren und ganzheitlicheren Charakter besitzen. Der Schwerpunkt hat sich in Richtung einer sensorischen Totalität, einer ästhetischen Multidimensionalität verlagert. Doch was sind die hier zur Verfügung stehenden Werkzeuge  ? Wie könnte man sie sich vorstellen  ? Auch dafür eröffnet die Theorie von Buci-Glucksmann der Kunstgeschichte erweiterte Möglichkeiten, denn der Begriff des Kartografischen ist durchaus eine Alternative zur sozusagen „handwerklichen“ Sicht auf das Kunstwerk. Während der Begriff „Werkzeug“ in Bezug auf das Kunstobjekt eher etwas Gebrauchstechnisches bezeichnet, impliziert der Terminus des Kartografischen Bewegungsmodi und dimensionale Qualitäten, die weit über die vom traditionellen Kunstverständnis hergeleiteten Vorstellungen von der Materialbearbeitung hinausweisen. Natürlich sind auch Landkarten und Globen Werkzeuge, allerdings evozieren sie nicht nur das direkt Einwirkende, ja Modellierende im Sinne der Herstellung einer Skulptur, sondern bezeichnen eher eine Funktionalität der Orientierung, des Reisens, der Bewegung, der Geschwindigkeit, der Migration und Emigration und der subjektiven Verortung in örtlichen Raumstrukturen. Wir nähern uns hier einer terminologischen und diskursiven Alternative, die dem Modell einer Kritik des dualistischen Denkens folgt, wie es die Theoretiker Florenskij, Schmitz oder von Förster für die theoretischen Strategeme der Moderne konstatiert haben. Der in der modernen Kunst geforderten holistischen Position entspricht das distanziert-analytische Sehen, das den Blicktheorien zugrunde liegt, nicht mehr. Die Theorie des kartografischen Blicks von Buci-Glucksmann hingegen trägt der nachmodernen Sehnsucht nach einer synthetischen Perspektive insofern Rechnung, als sie mit der Vorstellung des Reisens und der Bewegung verbunden ist  –  und somit einem „nomadischen“ Lebensgefühl entspricht, das sich der problemlosen Beförderung von Menschen und Gütern verdankt und heute vielfach den Charakter eines globalen Dérive angenommen hat. Die existenzielle Extension der körperlichen Navigationsmöglichkeiten in Weltaußenräume und Kunstinnenräume – in der vielfältigen Bedeutung des Wortes  –  definiert somit eine fortgeschrittene Episteme, die das Resultat der dromologischen Akzelerationen des 20. Jahrhunderts ist – und zwar sowohl im physischen als auch im virtuellen Bereich. Buci-Glucksmanns Theorie ist eine transparente Struktur, welche an die Wirklichkeit appelliert, sie zusammenfügt und konstruktiv auf baut. Im Prozess einer radikalen Blickveränderung, deren Beginn sie mit dem „Weltblick“

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der Renaissance und hier vor allem der niederländischen Malerei ansetzt, entwickelt sie das offene methodologische System einer quasi chronologisch nachvollziehbaren Abfolge von allegorischen, tautologischen, entropischen und letztlich virtuellen Perspektiven. Diese Konstruktion bezeichnet sie als nicht abgeschlossenes Feld – ihre Theorie des Blicks hat etwas Liquides, Oszillierendes und ist von einer Tendenz zur Selbstauflösung und diskursiven Implosion gekennzeichnet. Bei aller Flexibilität des theoretischen Apparates, der ein weites Feld interpretativer Anwendungen für die Analyse der Kunst der Moderne aufschließt, ist jedoch auch Buci-Glucksmanns Blick nach wie vor auf das kartografische Objekt, entweder als mnemotechnische Spur oder als stellvertretendes Werkzeug, fixiert und lässt eine Kategorisierung und Strukturierung von der das Objekt erst mit Inhalt füllenden Raum- und Umfeldbedingungen vermissen. Das Kunstwerk bleibt auch in dieser Theorie im Stadium des reinen Objekt- bzw. Bildwesens. Ihre Theorie entfaltet jedoch eine historische Konzeption der Existenz von Phasen revolutionärer Veränderungen des Blicks. Einen solchen paradigmatischen Sprung setzt sie am Beginn der Neuzeit mit den radikalen Veränderungen in der niederländischen Malerei an. Anders als in der Renaissance wird der Blick nicht mehr durch ein Fenster definiert – und damit metaphorisch gerahmt und fixiert. Hier ergeben sich Ähnlichkeiten zur Frühzeit der Moderne, in der begonnen wurde, den Illusionismus des Bildes, der, ähnlich wie der Blick durchs Fenster, die Suggestion des Sehens in eine andere Wirklichkeit erzeugt, dekonstruktiv zu unterminieren. Das statische, gleichsam erstarrte Schauen durch das Fenster in der Renaissance-Malerei wird in der flämischen Malerei durch eine Art von Flugblick – Buci-Glucksmann bezeichnet ihn als „Weltblick“ – ersetzt. Der fixierte und beinahe wissenschaftlich distanzierte Blick, der durch ein Fenster in die Landschaft hinausschweift, wenn die Landschaft zentralperspektivisch sehr weit nach hinten reicht, wird von einer Art Implikation des Unendlichen abgelöst, einer panoramatischen Perspektive, die Buci-Glucksmann als den „ikarischen Blick“ – eine Teleologie des Sehens – bezeichnet. Die Möglichkeit des schweifenden Blicks, den die vorgestellte fliegende Bewegung impliziert, ruft eine Irritation des perspektivischen Raumes, seines Zentrums und seines Horizontes hervor. Das Starre der Zentralperspektive wird durch die Bewegung abgelöst, und es verblüfft, in welchem Ausmaß sich dieses entwicklungsgeschichtliche Modell auf den Beginn der Moderne in der Kunst, auf die Strategien und Ziele der Avantgarden des 20. Jahrhunderts anwenden lässt.

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Allerdings hat der umfassende dekonstruktive Ansatz der Avantgarden eine performative Bewegung ausgelöst, die auch mit einer radikalen Blicktheorie wie jener von Buci-Glucksmann nicht mehr zu fassen ist – vor allem der zentrale kunststrategische Aspekt der Verdrängung des Objekts in den sekundären Bedeutungsbereich echappiert diesem theoretischen Zugriff. Bedenkenswert ist allerdings die These der Theoretikerin, dass wir uns heute inmitten einer perzeptiven Revolution befinden, die jenem epistemologischen Bruch gleicht, der am Beginn der Neuzeit von der Zentralperspektive der Renaissance zum panoramatischen und somit „kartographischen“ Blick geführt hat. Die in der flämischen Malerei eingeführte Bewegungsdynamik des „Weltblicks“ habe bereits am Beginn der Moderne jene Wahrnehmungsparameter adressiert, die in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts zur Obsession der Thematisierung des materiell gegebenen Raumes in der Kunst führte. Um die dabei entstandenen Kunstwerke verstehen zu können, müssen wir unser kognitives Repertoire über den Blick hinaus erweitern und zusätzliche perzeptive Eigenschaften entwickeln. Auch hier bietet Buci-Glucksmann einen Ansatzpunkt, wenn sie der Karte bzw. dem Globus als Metaphern für das Kunstobjekt zwei ontologische Regime zuordnet  : das der „Anwesenheit“ und das der „Abwesenheit“. Der von Buci-Glucksmann vorausgesetzte aktive Perzipient ist angehalten, die Wirklichkeit visionär zu evozieren, gewissermaßen zu halluzinieren. Dies entspricht dem Lesen einer Landkarte, in der man sich die Welt durch die Decodierung von Abstraktionen erschließt, ohne wirklich über sie zu verfügen. Denn die Grundlage dieser halluzinatorischen Erschließung von Wirklichkeit sind die Koordinaten und stellvertretenden Muster der Karte. Die Karte hat somit eine gewisse mimetische Anmutung, aber sie behauptet keinen mimetischen Illusionismus, sondern animiert zur aktiven Beteiligung der Psyche des Beschauers, zu einer potenziell umfassenderen Form der Perzeption. Eine Landkarte bzw. ein Globus markiert etwas, ohne die in Abstraktionen verklausulierte Wirklichkeit als Besitz zu behaupten. Hier bringt Buci-Glucksmann in Anknüpfung an Deleuze / Guattari das Prinzip der Unterscheidung zwischen Kartografie und Kopie zur Anwendung. Nach Deleuze / Guattari ist die Karte das genaue Gegenteil einer Kopie, weil die Kopie in ihrem ureigenen Wesen noch immer etwas mimetisch abbildet, während die Karte nur einen Anlassfall darstellt und lediglich Abstraktionen an die Stelle der realen Präsenz setzt.84 84 Vgl. dazu  : Gilles Deleuze / Felix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 23.

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In Hinblick auf das Prinzip des Performativen wird anhand des Diskurses um die Eigenschaften der beiden hier sichtbar werdenden entgegengesetzten Pole, nämlich der Karte und der Kopie (im Gegensatz zu dem in den Avantgarden dekonstruierten Original), ein entscheidendes konstitutives Element sichtbar. Denn im Gegensatz zur Kopie steht die Karte für einen performativen Gestus bzw. initiiert einen solchen im Sinne von Vorstellung und visionärer Phantasmagorie. Anders als die Kopie ist die Karte sozusagen offen, rhizomatisch  –  und sie erlaubt horizontale Extensionen und Konnexionen. Das Akkumulieren der Karten bzw. der kartografischen Blicke führt zu einem Atlas, das heißt zu einem Archiv, einer Sammlung verschiedener Informationen, die stellvertretend für die Wirklichkeit einstehen. Daraus kann man für die Kunst nach der performativen Wende zwei weitere grundlegende Parameter ableiten  : jenen der Abwesenheit und jenen der Akkumulation. Konkretes Beispiel für eine Ästhetik der Ansammlung aus der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre beispielsweise die bedeutungsstiftende Relation zwischen dem Kunstobjekt (Bild) und dem akkumulativen Apparat des sogenannten „Atlas“ im Werk Gerhard Richters, dem Modellfall einer zeitgenössischen Performanzposition in der bildenden Kunst. Ähnliche akkumulative Muster finden sich in den Werken von Smithson, Roth, Beuys oder Nitsch. Buci-Glucksmanns Theorie wurde maßgeblich von Robert Smithsons Wahrnehmungsexperimenten angeregt. In Bezug auf den für Performanz so wesentlichen Parameter der Abwesenheit muss hier auch das von Smithson entwickelte Prinzip der „site“ und „nonsite“ genannt werden. Erst im Verhältnis zum reziproken Koordinatensystem von Anwesenheit (Akkumulation) und Abwesenheit, „site“ und „nonsite“, kann auch das performative Prinzip von beispielsweise Bruce Naumans „object and nonobject“ oder Rachel Whitereads Negativabgüssen von Räumen als Teil eines dialektischen performativen Gestus begriffen werden. Buci-Glucksmanns Theorie schließt mit einem euphorischen Kapitel, in dem sie affirmativ die Moderne als Vorbereitung auf die zukünftigen Anforderungen an die menschliche Psyche im heraufdämmernden Zeitalter der digitalen Kommunikation, Biogenetik und Robotik interpretiert. Smithsons Position und seine Praxis des entropischen Blicks sind damit ein phänomenologisches Training, um das eigene Sehen wahrzunehmen – mit dem Ziel der Ausbildung eines neuen Raum- und Bewegungsbewusstseins. In Bezug auf Naumans „non-objective spaces“ stellt sie einen Zusammenhang mit einem Zustand der Levitation, einem Gefühl des schwerelosen Schwebens und der

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potenziellen Auflösung des Körpers her und folgt damit Guattaris / Deleuzes Konzept der organlosen und damit vom Leid befreiten Körpermaschine im Sinne einer Abwesenheit des Subjekts. Damit vertritt Buci-Glucksmann eigentlich eine Ästhetik der Affirmation, deren Fortschrittsfaszination die gegenwärtigen realen, gesellschaftlichen und globalpolitischen Krisenbedingungen ignoriert und der Kunst eine kritiklose, potenziell esoterische Entlastungsfunktion zuordnet  : Leichtigkeit, Levitation, die eutopische Alternative des Weltalls und die eskapistischen Virtualitäten des Cyberspace. Die Problematik zeitgenössischer Subjektkonstitution, das Leiden an der Gesellschaft und der komplexe Austausch zwischen Kunst und Politik von poetischer Leichtigkeit und liquider Eleganz, geborgen in einer auf das Kosmische ausgerichteten Entelechie, dennoch nicht ganz ausgeschlossen. Buci-Glucksmann spricht zwar von einem energetischen Element, das Himmel und Erde, das Ikarische und das Kartografische miteinander verbindet – die repressiven Apparate, die die körperliche Extensionslust der Subjekte reterritorialisieren und in ein Korsett von Orthodoxien und Kontrollfunktionen zwängen, werden jedoch nicht vollständig ausgeblendet. Die Balance, die Buci-Glucksmanns Theorie und Sicht auf die Kunst zwischen brüchig-problematischer Materialität und poetisch-abstrakter Referenzialität zu halten versteht, ähnelt der Aura von Arbeiten der deutschen Performance- und Installationskünstlerin Rebecca Horn. Über deren Werk schreibt die Theoretikerin, dass es die Zirkulation positiver und negativer Energien in Gang setzen sowie Zustandsschwankungen und die binäre Dialektik von Tod und Leben, Männlichem und Weiblichem, Ordnung und Zufall kartografieren würde. Hier verwendet sie das Begriffswerkzeug „Kartographieren“ im Sinne einer Wiedergabe, Darstellung, Aufzählung oder eines Vermittelns. Rebecca Horns Installationen, den verkehrt aufgehängten, sich skurril und ruckartig bewegenden Flügeln, die scheinbar jeglichen Gesetzen der Schwerkraft enthoben sind, schreibt Buci-Glucksmann diese Art von energetischer Poesie zu. Von dort zieht sie den Bogen zu den negativen, tragischen Räumen von Bruce Nauman, der damit provozierend und schockhaft die Denkprozesse hinter der Materialität der Dinge zu entbergen versucht. Sowohl in Naumans als auch Horns Gestus erkennt Buci-Glucksmann eine existenzielle Dimension, die vielleicht der Urgrund jeder Kunstproduktion ist  : den Hang zum Gewaltsamen und ein Gefühl von Unerträglichkeit und Aussichtslosigkeit angesichts der menschlichen Existenz. Was für Nauman gilt, also die immanente Kritik an der Gewalttätigkeit, ist letztlich in mehr oder weniger ausgeformter Charakteristik für

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alle anderen performativen Kunstwerke, die Räume entwickeln und mit ihren Gesten füllen, von Relevanz. In letzter Konsequenz geht es um die Schaffung von Räumen, in denen Erfahrungen gemacht werden können. Diese Erfahrungen sind aus der Tradition der Avantgarde heraus nicht systemaffin, sondern handeln von Reflexion, Analyse, Kritik und neuen Erkenntnisperspektiven.

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Raumkrise und Raumobsession Beschleunigung und die daraus resultierenden dimensionalen Veränderungen des Raumes gehören zu jenen Parametern, welche die Entwicklung der Kulturen des 20. Jahrhunderts grundlegend gestaltet haben. Foucault bezeichnet es als das Jahrhundert des Raumes, während das 19. Jahrhundert vom Paradigma der zeitlichen Prozesse und der Fetischisierung des Fortschrittsgedankens der Geschichtsphilosophie geprägt gewesen sei. Tatsächlich haben sich für den modernen Menschen  –  also jenen Teil der Menschheit, der am beinahe ungezügelten Fortschritt der industriellen Revolution und jener der Informationstechnologien teilnehmen kann – die Möglichkeiten, Raum theoretisch und praktisch zu begreifen, radikal verändert. Da sich gegenwärtig der Schwerpunkt auf Informationsvermittlung – also Medialität im Allgemeinen – konzentriert, dominieren horizontal strukturierte Räume. Die Intensität, die Komplexität und Geschwindigkeit des Informationsflusses und die dabei erzeugte Bilddichte haben unmittelbaren Einfluss auf die Kunst und verlangen ihr Reaktionen ab. Auf annähernd zweidimensionalen Ebenen, in den real mit flachen Microchips konstruierten Systemen, bewegen sich die Bilder und Textzeichen mit rasender Geschwindigkeit, und ihre Dynamik heizt die neuen Bildflächen, die Projektionsräume, Displays, Interfaces und Schirme mit pulsierender Energie. Neue Generationen von technischen Geräten bewegen Informationen in Größenordnungen, die in ihrer Quantität, Dichte, Geschwindigkeit jegliche kognitive Kapazität des Menschen übersteigen und dem Bewusstsein den Eindruck eines unendlich großen Informationsraums vermitteln. Diese explosive Entwicklung des Raumes, dem ja durch seine virtuelle Natur in gewisser Weise ein imaginärer Charakter zukommt, ist ein kulturgeschichtlicher Vorgang, der mit bereits stattgehabten, ebenso grundlegenden paradigmatischen Veränderungen in der Humankultur verglichen werden kann. Er entspricht in seiner epistemologischen Relevanz dem vor etwa 3.000 Jahren in den Hochkulturen Chinas, des Indus-Tals und des Zwischenstromlands erfolgten Übergang einer Gesellschaft von nomadisierenden Jägern und Sammlern zu potenziell urbanisierten, also sesshaften Betreibern von Ackerbau und Produzenten handelbarer Güter. Vergleichbar ist diese Entwicklung aber auch mit dem Beginn der modernen Welt  : der Epoche der europäischen Erfindungen des 18. Jahrhunderts, der Industrialisierung und dem Beginn eines global orientierten Warenverkehrs, der im Grunde schon vor etwa 600 Jahren durch den

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Gebrauch von Kompass, Schiffsverkehr und Segeltechnik, der Kenntnis ozeanischer Windverhältnisse und der Entwicklung wirkungsvoller Waffen, wie beispielsweise Schiffskanonen, initiiert wurde. Die Raumkonzepte der Bewohner / -innen der ersten Hochkulturen haben Bauten hervorgebracht, die in ihren Dimensionen und geometrischen Grundformen, den aufgetürmten Materialkonglomeraten der Ziggurate und Pyramiden, den monolithischen und mystisch minimalisierten Zylindern, Quadern und Kegeln bis heute zum Kernbestand des architektonischen Wissens zählen. Das 20. Jahrhundert hat sie in der Form der rituellen Abstraktions- und Minimalisierungstendenzen von amerikanischen Literalisten wie Donald Judd und Richard Serra, vor allem aber in der Entwicklung einer monumentalen Repräsentationsarchitektur variativ neu appropriiert. Damals wie heute vermitteln uns diese Primärformen das Gewaltige, ja Starre des Festsetzens, die Autorität der Raumergreifung durch kulturelle Besetzung und erste Urbanisierung. Dem steht die Betonung des Illusionismus der Perspektiven gegenüber, eine Dynamik des expandierenden Transportwesens, die vom Austausch begehrter Rohstoffe und Güter – dem Transport von Gewürzen, von Gold, Weihrauch und Genussmitteln wie Tabak, Kaffee und Tee – geprägt war und die neuzeitlichen Künste und die Architektur bis in das 20. Jahrhundert dominierte. Diese Mobilisierung gesamtgesellschaftlicher Bewegungsenergien gleicht strukturell durchaus den aktuellen, beschleunigten Austauschprozessen der digital organisierten Informationen  ; nur wechseln im Imperium der Codes nicht mehr materielle Objekte, sondern deren abstrakte zweidimensionale Repräsentationen Ort und Besitzer / -innen  –  ein Vorgang, der von den Beteiligten die Fähigkeit zur Erkenntnis abstrakter Räume erfordert. Börsen, das Internet, digitale Waffensysteme werden von intelligenten, reaktionsschnellen Multitaskern innerhalb extrem hierarchisch strukturierter Organisationen wie den großen, global operierenden Banken, Finanzdienstleistern und Technologiekonzernen sowie den Agenturen des politisch-militärischen Komplexes entwickelt und im Zeichen des Profits benutzt. Hoch spezialisierte Fähigkeiten, wie das Steuern von F-16-Kampfjets, erfordern eine Charakterstruktur, die digitale Kompetenz mit einer gewissen menschlichen Unreife verknüpft und so die Möglichkeit zur Manipulation durch hierarchisch Höhergestellte offenlässt. Das ideale Alter, um in diesem Bereich die notwendigen Höchstleistungen zu erbringen, liegt zwischen 25 und 28 Jahren. Sowohl die Kunst als auch die Architektur sind geprägt von Paradigmen und Metaphern der Selbstbeobachtung und Selbstbespiegelung  –  als ob der Geist den Körper verlassen und von außerhalb, in angemessener Geschwindigkeit um

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sich selbst kreisend, kritisch-analytisch auf seine physische Repräsentation blicken könnte. Das Monolithische wurde im Zuge der zunehmenden Observanz des Selbst und der Seinsverhältnisse abgelöst vom dramatischen Bewegungsillusionismus der Kathedralen, der Freskenmalerei, der Panoramen des 19. Jahrhunderts und letztlich der Kinematografie. Seit mehr als 100 Jahren läuft dieser Prozess des faktischen Eindringens in die Mikro- und Makrostrukturen der Dinge und der psychischen Innenräume als Folge revolutionärer Durchbrüche mit ständig wachsender Geschwindigkeit ab. Dies und die Plausibilität der Suggestion, dass mit den Möglichkeiten der medizinischen und biotechnischen Wissenschaften Grundstrukturen des Lebens kontrolliert und gestaltet, ja durch den Austausch von Körperteilen und genetische Plug-ins prothetische Selbstvergrößerungen durchgeführt werden können, übersteigt die bisher dem Bewusstsein genügenden, kreisenden Bewegungen der kontemplativen Selbstbespiegelung. Die Harmonie der konzentrischen Kreise wird zu einem pulsierenden Zoomen zwischen Mikro- und Makrobereichen, ähnlich den Pulsschlägen der Quasare und den unmittelbaren Bewegungen der durch die Arterien und andere Verkehrswege im Körperinneren vordringenden Mikrokameras der Chirurgen  ; ein Vorgang, den die Kunst inzwischen aufgegriffen, wissenschaftlich „entzweckt“ und formal neu konfiguriert hat. Ganz allgemein werden wir mit einer Pornografie des Organischen konfrontiert, die uns visuell aufschließt, den Körper auf eine andere Art transparent werden lässt, ihn entheiligt, entkodiert und psychodramatisch distanziert. Bewegung ist Raum. Und diese andere Qualität der Bewegung, diese gewaltige Expansion der Raumvorstellung nach außen, aber auch nach innen, ist ein neuer fundamentaler Parameter, den Virilio als „exzentriert“ beschreibt. Als Folge davon beobachtet er eine „egozentrische“ Regression, die, wie er meint, bereits eingesetzt hat und zu einer Rückkehr kleiner Kommunen wie beispielsweise „Stadtstaaten“ führen wird. 85 In der Kunst hat dieser Prozess mit der Rückkehr zum Körper, zur Performanz und damit zum Raum bereits begonnen. Folgt man Virilios Gedanken, so bewegt sich das postmoderne Subjekt auf einer existenziellen Achse mit den Endpunkten exozentriert und egozentriert  ; man könnte diesen Polen die entsprechenden für unser Thema wesentlichen Begriffe des Weltraums bzw. der 85 Paul Virilio im Gespräch, in  : Umzug ins Offene. Vier Versuche über den Raum, Wien-New York 1998, S. 8.

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Raumwelten zuordnen. Im Sinne eines dualistischen Modells würde am Endpunkt des exzentrierten modernen Vektors die positivistische, von der Technik gestützte unendliche Ausdehnung des Raumes stehen, während die Gegenbewegung dazu eine egozentrische Konzentration auf den Körper und die eigene Subjektivität bedeutet. Die Kunst übernimmt dabei die Rolle eines Regulativs und schafft visionäre Gegenwelten, die, an den Peripherien entwickelt, kritisch aufklärend Räume verkleinern. Die modulierende, retardierende Funktion von Kunst ist heute insofern relevant, als sie den visuellen Jumpcuts, die die gegenwärtige Bilderflut bedingt, andere, die Geschwindigkeit reduzierende, umfassendere Wahrnehmungsmöglichkeiten aufschließt. Sie hinterfragt die Visualität per se und ergänzt den dabei entstehenden diversifizierten Wahrnehmungsraum um Angebote alternativer Perzeptionsmöglichkeiten. Die Kunst arbeitet an einer Strategie, die das traditionelle dualistische Wahrnehmungsmodell durch ein holistisches ersetzen kann. Foucault beschreibt das 20. Jahrhundert als die Epoche des Raumes, und Virilio erforscht die Gesellschaft unter den Aspekten von Raum und Geschwindigkeit. Die Beschleunigung der Zeitabläufe seit dem 19. Jahrhundert führt zu jenem dromologischen Universum, in dem Ereignis und Echtzeitanalyse beinahe zusammenfallen. An die Stelle der Chronologie tritt unter zeitgenössischen medialen und technologischen Bedingungen die allumfassende Simultaneität. Diese theoretischen Konzeptionen sowie eine generell wachsende Sensibilisierung für Raumerfahrungen verweisen auf eine existenzielle Irritation, die die Positionierung des Selbst im chronotopischen Gefüge betrifft. Die uns zur Verfügung stehenden Bilder und Raumkonzepte scheinen mit den immens ausgeweiteten Möglichkeiten des Menschen im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert nicht mehr übereinzustimmen. Mit der Emanzipation der Kunst als potenziell nicht mehr funktionalisiertes, antimimetisches Gestaltungsdispositiv hat sich die Bedeutung des räumlichen Parameters wesentlich von den bisher angewendeten Zuschreibungen entfernt. Genau auf diese Entwicklung, die zu Beginn der Moderne in der Kunst einsetzt, bezieht sich Pawel Florenskij, wenn er um 1920 in seinem Hauptwerk Raum und Zeit schreibt  : Der Raum im künstlerischen Schaffen mag auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, ein Gegenstand nur speziellen Interesses zu sein. Ein Gegenstand, der jedenfalls nicht unabdingbar erscheint.86 86 Pawel Florenskij, Raum und Zeit, a. a. O., S. 9.

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Damit markiert Florenskij den Ausgangspunkt seiner Thesen, die auf den Paradigmenwechsel hin zum Räumlichen im Allgemeinen und im Besonderen in der Kunst verweisen, und formuliert in der Folge sein grundsätzliches Credo  : „Nur über die Einsicht in seine räumliche Organisation findet man den Zugang zum Kunstwerk.“ 87 Nachdem er massive Kritik am Illusionismus der Zentralperspektive übt, schreibt er der Kunst folgendes Telos zu  : Das Ziel der Kunst ist es, den sinnlichen Schein, die naturalistische Kruste des Zufälligen zu überwinden und das Beständige und Unveränderliche, das allgemein Wertvolle und Bedeutende in der Wirklichkeit sichtbar zu machen. Anders ausgedrückt  : Das Ziel des Künstlers ist die Umgestaltung der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit jedoch ist nur eine bestimmte Organisation des Raums  ; und folglich ist es die Aufgabe der Kunst, den Raum umzuorganisieren, d. h. ihn auf eine neue Weise zu organisieren, ihn auf ihre eigene Weise einzurichten.88

Martina Löw definiert Raum als „soziales Phänomen“ das im Prinzip nur aus der gesellschaftlichen Entwicklung heraus verstanden werden kann. Dies bedeutet vor allem, dass dem Raum als Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses eine eminent performative Komponente zukommt. Laut Löw, die in erster Linie an einer Soziologie des Raumes arbeitet, konstituiert sich dieser als Synthese von sozialen Gütern, anderen Menschen und Orten in Vorstellungen, durch Wahrnehmung und Erinnerungen, aber auch im Spacing durch Plazierung jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Gütern und Menschen.89

Mit Spacing und Synthese werden in diesem Zusammenhang zwei neue, grundlegende Begriffswerkzeuge für Untersuchungen in Bezug auf die Entstehung und Wirkung räumlicher Strukturen eingeführt. Grundsätzlich konstatiert Löw vor allem in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung, welche die gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsressourcen mit dimensionalen Extensionen in die Krise geführt hätte. Als Ursachen dieser Entwicklung nennt sie unter anderem die Einführung neuer Informations- und Freizeittechnologien sowie die massenhafte Nutzung schneller Transporttechnologien. Ich hingegen gehe davon aus, dass diese Krise bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hat und in immer stärkerem Ausmaß zum zentralen Thema der modernen 87 Ebd., S. 11. 88 Ebd., S. 154. 89 Martina Löw, Raumsoziologie, a. a. O., S. 263.

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Kunst wurde. Erst durch jenen progredierenden Prozess, bei dem die expandierende Raumzeit die Perzeptionsmöglichkeiten überwölbte und die menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten herausforderte, können wir wie Florenskij eine Krise des illusionistischen Bildes, das auf der Basis der eu-klidischen Geometrie entwickelt wurde, feststellen. Dem stellt der russische Philosoph ein kritisches Raumbewusstsein gegenüber, welches theoretische Werkzeuge zur Überwindung der Zentralperspektive und des ihr zugrunde liegenden euklidischen Systems zur Verfügung stellt. In den Worten Florenskijs klingt noch eine revolutionäre Grundstimmung durch, die sich der Epoche der sozialen und politischen Umwälzungen in Russland verdankt, aber bis heute repräsentativ für den Auftritt und die Konzepte der Avantgarden der Moderne ist. Inzwischen lässt sich aber zweifelsfrei konstatieren, dass eine Krise des Bildes kausal und zeitlich parallel mit einer krisenhaften Entwicklung des Raumgefühls verbunden ist. Damit wird der Raum zum entscheidenden Thema der Moderne und die Auseinandersetzung mit ihm vor allem in der künstlerischen Avantgarde zur Obsession. Spätestens seit Duchamp und Malewitsch setzt also in der bildenden Kunst eine Entwicklung ein, die sich, über Zwischenstadien und Ausformungen in den Neo-Avantgarden der 1960er-Jahre, endgültig als ein Hauptstrang der Kunst durchgesetzt hat  : die Extension der ästhetischen Konfigurationen in den materiell gegebenen bzw. konzeptuellen Räumen. Bedenkt man den heutigen Stellenwert einer Kunstform wie beispielsweise der Rauminstallation, ist zweifellos nachzuvollziehen, warum Anthony Vidler in seinem Buch Warped Space den Raum als wichtigstes Paradigma der Moderne bezeichnet hat.90 Doch die Rauminstallation ist nur eine mögliche Manifestation in der Vielzahl von Positionen, welche die Kunst unter dem Paradigma des Raumes entwickelt hat. Noch wesentlicher als die dimensionale Ausdehnung selbst ist jedoch das Moment des Prozesses bzw. das Element der Performanz in der Kunst per se. Denn nach Löw gilt die Regel, dass sich Raum ja erst durch Spacing und Synthese, also durch eine aktive Teilhabe, konstituiert. Bei diesem Prozessualen in der Kunst, bei der Performanz, die ja nur durch die Synthese von Raum und Zeit entstehen kann, setzt Lawrence Grossbergs Kritik an der heutigen Obsession mit dem Thema Raum an  : Sie würde allzu schnell in eine isolierte Sicht dessen, was Löw den „absoluten Raum“ nennt, bzw. in die relativistisch gedachten rhizomatischen Raumkonzepte von Deleuze / Guattari umschlagen. Dem 90 Vgl. dazu  : Anthony Vidler, Warped Space, Architecture and Anxiety in Modern Culture, Cambridge (Mass.) 2000.

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begegnet Grossberg mit dem Argument, dass Raum in geschichtsphilosophischen Entwürfen immer als ein von der Kategorie der Zeit abhängiges Element gesehen wurde, und er besteht darauf, dass eine aktive, bewusst engagierte und damit auch politische Konzeption von Raum und Zeit conditio sine qua non ist.91 Löw bietet in ihrer Raumsoziologie zwei unterschiedliche Konzeptionen von Raum an  : einmal die sogenannte absolutistische, das heißt eine Vorstellung vom Raum als Behälter von Dingen und Menschen. Hier wird der Raum quasi statisch, als Realität sui generis und nicht als Folge menschlichen Handelns definiert und zumSynonym für Erdboden, Territorium oder Ort. Unter die Bezeichnung „absolutistisch“ fallen deshalb auch Vorstellungen, welche die euklidische Geometrie als einziges Bezugssystem für die Konstitution des Raumes hypostasieren und gegen die Florenskij und die gesamte moderne Avantgarde bis heute revoltieren. In Abgrenzung zur absoluten Vorstellung von Raum schlägt Löw aus der Position einer zeitgemäßen Soziologie einen prozessualen Begriff vor. Sie verbindet damit die Hoffnung, „daß nur, wenn nicht länger zwei verschiedene Realitäten  –  auf der einen Seite der Raum, auf der anderen die sozialen Güter, Menschen und ihr Handeln  –  unterstellt werden, sondern statt dessen Raum aus der Struktur der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet wird, die Veränderungen der Raumphänomene erfaßt werden“ 92 können. Diese Betonung der Konstitution des Raumes in Verbindung mit der Platzierung von Körpern und Objekten ist ein aktivistischer Prozess, für den ich den Begriff „Gestus“ vorschlage – ein Denkmodell, das auch auf die Entwicklungen im Bereich der künstlerischen Avantgarden von Duchamp bis heute anwendbar ist und das gleichzeitig die Basis für jenen Prozess bildet, den man als performative Wende bezeichnen kann. Performanz in der Kunst manifestiert sich also in der Wechselbeziehung zwischen Gestus und Objekt / Körper und konstituiert dabei eine mehrdimensionale Matrix. Meine These ist, dass letztlich bei den Strukturen und Kategorien dieser räumlichen Matrix vor dem Hintergrund ihrer diskursiven Genealogie aus dem Prozess der Platzierung und Synthese anzusetzen ist, um über konkrete methodologische Möglichkeiten nachzudenken, mithilfe derer die Entwicklungen in der Kunst der Moderne und der Gegenwart beschreibbar gemacht werden können. 91 Vgl. dazu  : Lawrence Grossberg, What’s going on  ? Cultural studies und Popularkultur, Wien 2000. 92 Ebd., S. 264.

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Aus der Definition eines prozessualen bzw. performativen Raumes folgt, dass dieser niemals vom menschlichen Körper abgekoppelt gedacht und gesehen werden kann. Die Gesetze des Raumes bzw. – wie Dietmar Kamper formuliert – „die fundamentalen Gesetze der Raumorientierung sind zuallererst im Körper selbst angelegt“.93 Hier erhebt sich nun die Frage, ob die ausgerufene Krise des Raumes nicht primär auf eine Krise des Körpers zurückgeführt werden muss. In der Tat fordern die technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Moderne zuallererst eine Adaptionsleistung des Körpers im Hinblick auf seine Perzeptionsmechanismen. Vor allem die spektakulären Neuentdeckungen im Bereich der Biotechnologie, Medizin und Robotik provozieren eine profunde Anpassungsproblematik des menschlichen Selbstbewusstseins sowie eine tief greifende Identitätskrise in einem letztlich von ihm selbst gestalteten gesellschaftlich-technologischen Umfeld. Allerdings scheint mir Kampers Ausgangsthese einer existierenden Dynamik, eines „Umzug[es] ins Offene“ einigermaßen idealistisch-utopisch zu sein. Immerhin zeichnet er für den Ablauf eines Menschenlebens folgenden Prozess einer linearen Entwicklungsbewegung „von der [Bauch-]Höhle über die Wiege, das Zimmer, das Haus, den Hof, den Marktplatz, die Stadt, das Land, das Meer, den Globus bis zum Weltraum und so weiter“ vor. Diese Bewegung repräsentiere gleichzeitig auch eine generell vorherrschende Struktur „vom Kleinen ins Große, aus der Nähe in die Ferne, vom Körperlich-Materiellen zum Abstrakt-Geistigen, von der Tiefe des Raumes auf die Bildfläche, vom Geborenwerden, das abhängig ist, zur Autonomie, die alles selber machen will, von der Determination zur autopoietischen Konstruktion, von der rhythmischen Zeit zur absoluten Beschleunigung“.94 Liest man Kampers allzu abstrakte und nachgerade hierarchisch wertende Auflistung von Entwicklungsschüben in Bezug auf den Raum, kommt man allerdings nicht umhin, mit Maresch und Werber diese euphorische Sicht als „ungeahnte“, „höchst unerwartete, ja erschreckende Renaissance“ 95 des Raumes zu werten. Angesichts politisch nachhaltig wirkender Phänomene wie den nach einem Terrorangriff einstürzenden Türmen des World Trade Center in 93 Dietmar Kamper, Vorwort, in  : Umzug ins Offene. Vier Versuche über den Raum, Wien-New York 1998, S. 8. 94 Ebd., S.10. 95 Rudolf Maresch / Niels Werber, Permanenzen des Raums, in  : Rudolf Maresch / Niels Werber (Hg.), Raum, Wissen, Macht, Frankfurt / Main 2002, S. 7.

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New York äußern Maresch und Werber indirekt Kritik an der abstrakt-idealistischen Abgehobenheit nachmoderner Theorien, wie sie in den Begriffen Rhizom, Netzwerk, Globalisierung oder „Atopia“ festgeschrieben sind. Unter dem Eindruck des weltweiten, exterritorial operierenden Terrorismus stellen sie fest, dass „Deleuze und Guattari bisher ziemlich vergeblich erklärt hätten, daß ihre so beliebten Unterscheidungen zwischen Staatsapparat und nomadischen Organisationen, Struktur und Rhizom oder Territorialisierung und Deterritorialisierung relativistisch weder Gutes noch Schlechtes, sondern Besonderheiten seien“. Maresch und Werber führen die Tatsache, dass von einer „Krise des Raumes“ gesprochen wird und der Raum also als neues Problemfeld und Forschungsgebiet von Wissenschaft, Philosophie und Kunst derzeit wiederentdeckt wird, unter anderem auf einen „gravierenden Wahrnehmungswandel und Bedeutungsumschwung“ 96 zurück. Als einen der Gründe dafür bezeichnen sie die Tatsache eines Zusammenbruchs der bipolar organisierten Weltordnung durch das Ende des Kalten Krieges und die Auflösung der Sowjetunion. Diese Implosion imperialen Selbstverständnisses habe ein „neues Bewusstsein für Orte und Plätze, für die Weiten und Tiefen von Räumen sowie für die Geschichte und Besonderheiten schon vergessener Landschaften und Regionen geweckt“. Ein weiterer Grund für die Umwertung des Blickes seien die Sorgen und Ängste, hervorgerufen durch die sogenannte „Bevölkerungsbombe“ mit ihren soziokulturellen Folgen wie „Vertreibung, Landflucht, Migration und Exklusion, Fremdenhass und Verinselung“. „Konkurrenz- und Differenzierungsdruck, den globale Verflechtungen und Digitalisierung auf Kulturen, Nationen und Gemeinschaften ausüben“, würde ebenfalls zu einer gesteigerten Bewusstseinsbildung für Raumthematiken führen.97 Als „erschreckend“ kann die Dominanz des Räumlichen deshalb bezeichnet werden, weil diese Entwicklung möglicherweise als Bestätigung jener Prognosen zu werten sein könnte, die der modernen Welt im Rahmen der Globalisierungsdynamik zunehmend Kriege zwischen und innerhalb der Kulturen voraussagen. Vor allem seit dem 11. September 2001 ist immer mehr vom „Clash of Civilizations“ die Rede. Den relativistischen Euphorien der postmodernen Vernetzungs- und Globalisierungsvertreter werden soziokulturelle und politische Alltagsfakten wie das Festhalten an Nationalismen, Essenzialismen, Traditionalismen und Mythenbildungen entgegengesetzt. Maresch und Werber 96 Ebd., S. 8. 97 Ebd., S. 9.

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kritisieren die unscharfe Terminologie, die im soziologischen Milieu gern zur Determination und Instrumentalisierung von Raumvorstellungen verwendet wird  : Wann immer in „zahlreichen Komposita vom ,sozialen Raum‘, ,virtuellen Raum‘, ,ästhetischen Raum‘ oder ,politischen Raum‘, vom ,Erlebnisraum‘, ,Erfahrungsraum‘, Verdichtungsraum‘ oder ,Gestaltungsraum‘ die Rede war, bleiben Rückschlüsse auf den Gegenstand selbst selten, so daß der Raum als theoretisch reflektierter Terminus jahrzehntelang ein kümmerliches Dasein fristete“.98 Dies mag für den Diskurs sowohl im Bereich der Philosophie als auch der Kulturwissenschaften zutreffen. Wie ich jedoch anhand des theoretischen Ansatzes von Florenskij und der von mir skizzierten Genealogie des Raumes in Kritik und Kunstpraxis der Moderne darzulegen versucht habe, war das Thema, vor allem unter dem Aspekt des Performativen, im Zentrum der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Auch wenn geschichtsphilosophische und kulturpolitische Konstrukte nicht unmittelbar mit künstlerischen Raumkonzeptionen gleichgesetzt werden können, werden inzwischen doch in der avantgardistischen und zeitgenössischen Moderne nicht nur modellhaft Raumkategorien entwickelt, erprobt und umstrukturiert, sondern in der Folge wie in einer Laborsituation praktisch angewandt. Denn die Kunst hat im Lauf ihrer Anbindung an szientifische Gestaltungsmodelle durchaus den Anspruch erhoben, mit den von ihr entwickelten perzeptiven Zugriffen auf die Raumvorstellung wirklichkeitsgestaltend bzw. -verändernd zu wirken – und dabei eine agitativanalytische und keine systemstabilisierende Position einzunehmen. Darüber hinaus hat das System Kunst bereits früh und unmittelbar die gedankliche Freiheit entwickelt, Raum nicht nur in einem buchstäblichen oder physischen Sinn zu verstehen, sondern vor allem seine vieldimensionalen, auch virtuellen Aspekte zu prononcieren. Prozess, Kommunikation, Aktion und  –  wie Löw es für die Soziologie definiert hat – Platzierung und Spacing vermitteln bestimmte Eigenschaften, die es ermöglichen, damit gestaltend zu arbeiten. Im dem von der Moderne und den Neo-Avantgarden aufgeschlossenen Raum verbinden sich Sprache, Medium, Gestus, Körper, Bewegung, Visualität zu diskursiven Topografien, die vor allem durch ihre handlungsmobilisierende Charakteristik emanzipatorische Perspektiven entwerfen. Wenn die Kulturwissenschaften heute grundsätzlich von einer Krise des Raumes sprechen, so möchte ich für die Kunstwissenschaften hier insofern widersprechen, als für die Kunst dieser offene Zustand weniger als Krise denn als 98 Ebd., S. 12.

Raumkrise und Raumobsession

Chance gesehen werden kann. Erst die Erschließung des Raumes, die von der Avantgarde bis heute geforderte und erkämpfte Erweiterung der Gestaltungsund Diskursmöglichkeiten über die Repräsentanz, das Symbol, den Text, die Fläche, den Körper und damit das unmittelbare Subjekt hinaus haben der Kunst jenen umfassenden Stellenwert gegeben, der ihr heute bei der Mitgestaltung von Lebensrealitäten zukommt, und ihren diskursiven Begleitsystemen wie den Kulturwissenschaften und vor allem der Kunstgeschichte grundlegende Herausforderungen gestellt hat und damit eine intensive und produktive diskursive Auseinandersetzung garantiert.

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Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt Die Entwicklungen in der bildenden Kunst, vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, als man begann, von einer Übergangsphase der Moderne in die Postmoderne zu sprechen, haben es notwendig gemacht, das Bewusstsein vom performativen Gestus als wesentliche Bedingung zeitgenössischer Werkbegrifflichkeiten mitzubedenken und zunehmend als autonomen Akt mit Werkanspruch zu definieren. Performativer Gestus heißt, dass tendenziell bereits entweder der Ablauf des Erarbeiteten bzw. des bewussten Gestaltens oder aber auch der nur gedankliche Entwurf die kommunikativen und ästhetischen Eigenschaften eines Kunstwerks besitzen kann. Dieser grundlegende Wechsel in der kritischen Wahrnehmungsperspektive hat starke Auswirkungen, sowohl in rezeptionsästhetischer Sicht als auch im Hinblick auf Eigenschaften und Eigenheiten des künstlerischen Objekts als jenem sichtbar und manifest werdenden Teil des Werkes, der im traditionellen Sinn, die wahre Dimensionalität verkürzend, als das „Kunstwerk per se“ identifiziert wird. Die Ausweitung der Sicht auf die ontologischen Potenziale der Kunst als Folge einer Erweiterung der Form und der Definition dessen, was Kunst und Kunstwerk bedeuten können, die Dynamik und Radikalität dieses Kernbereichs des Wirkens der Moderne und Postmoderne also, ist so zu einem Schlüsselthema aktueller wissenschaftlicher Arbeit im Bereich der Ästhetik und der Philosophie geworden. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ausdehnung von Kunst in den intermedialen Raum stellt sich die Frage nach der Repräsentativität des Kunstwerks im Sinne seiner traditionellen disziplinären Ausformungen. Neue technologische Entwicklungen im Bereich der Ausdrucksmöglichkeiten verlangen nach einer Erweiterung des theoretischen Blickfelds mit nachhaltigen Echowirkungen in allen von der Kunst bespielten Feldern – im unmittelbaren Bereich der Kreation und ihrer Rahmenbedingungen, aber auch vor allem in den Systemen der Vermittlung und des Diskurses über die Kunstpositionen im institutionellen Bereich. So sehr diese Entwicklung analytisches, abstraktes und konstruktives Denken voraussetzt, resultiert aus dem dabei entstehenden  –  im Sinne Kristevas  –  melancholischen Definitionsverlust als Resultat einer Bewusstwerdung der Unzulänglichkeit empirischen Erkennens, aber auch ein Prozess, der als Konzentration auf das Nahe, Unmittelbare, das Ursprüngliche, ja das Archaische beschrieben werden könnte. Hier folge ich der Argumentationslinie Kristevas, die gerade in der performativen Kunst die zunehmende Präsenz des Subjekts, des Eigenen, des Ichs, die reale Gegenwart des Körperlichen erkennt und

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

daraus auf die Mutation des Künstlers / der Künstlerin zum Objekt subjektiver Kontemplation und modellhafter, experimenteller Erkenntnislust schließt. Nachdem auf der Ebene schneller, oberflächlicher Debatten lange Zeit die Auseinandersetzung zwischen dem Lager der Moderne und der nachmodernen Position, die das Ende der herkömmlichen, teleologisch orientierten Avantgarde-Konzeptionen ausgerufen hatte, dominierte, wurde auf einem analytischeren Niveau ein unterschiedlicher Weg beschritten. Hier geht man von einem integralen Konzept der Entwicklung des menschlichen Denkens aus und vertritt daher ein synthetisches Modell. Demzufolge sind beide Dynamiken und Stoßrichtungen des Denkens interdependent, keine kann ohne die andere existieren und beide bereichern einander in ihrer kulturellen Fusion innerhalb der ablaufenden Kommunikationsprozesse und Auseinandersetzungen. Ebenso verweisen sie auf den Umstand, dass Kunst heute nicht mehr ohne kulturelles Umfeld gedacht und konzeptuell entworfen werden kann. Kunst und Kultur zeigen in ihrer reziproken Kausalität, dass die ästhetische Hervorbringung immer in Sichtverbindung zur Gesellschaft steht. Davon geben die gebräuchlichen terminologischen Verknüpfungen wie „Kunst und Politik“, „Kunst und Technologie“, „Kunst und Wissenschaft“ und der simplifizierte Ruf nach „Kunst und Leben“ Auskunft. Was die performativen Gesten und Formeln der Kunst in der Tradition der Moderne und auch in der kulturellen Gegenwart einzigartig macht, ist die Tatsache, dass der Körper als zentrales Agens des Performativen die Eigenschaft besitzt, eine viszerale Beziehung zur Wirklichkeit, jenseits von Abstraktion und Immaterialität, herzustellen. Darüber hinaus erlaubt das performative Kunstwerk dem Betrachter zu erkennen, dass der Körper selbst Objekte hervorbringt und dass eine solche prozessuale Kunst ein einmaliges Medium ist, das die Perzeption und Kontemplation jener Wahrheit ermöglicht, nach der das hergestellte Objekt nichts anderes als eine haptische Projektion des menschlichen Körpers ist. In der performativen Kunst oszilliert diese Projektion zwischen Objekt und Subjekt, zwischen physischem Vorhandensein und Immaterialität, zwischen Bewegung und Stillstand. Indem sie die unzähligen Möglichkeiten aufzeigt, wie durch die künstlerische Aktivität Konzeptuelles und Physisches, Emotionales und Politisches, Psychologisches und Soziales, Sexuelles und Kulturelles aneinandergekoppelt werden, macht sie die allzu oft vergessene Interdependenz und die Konnektivität der menschlichen Austauschräume deutlich. Der Körper ist das Medium des Realen in all seinen unterschiedlichen Präsenzdimensionen und granularen Verschwindensformen. Indem die performative Kunst dieser Wechselbeziehung

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3. Zur Begrenztheit der Theorien des Blicks

Gestalt verleiht, macht sie auch die Relationalität des Individuums im Rahmen von Kunst und Kultur sichtbar. Auf diese Weise agiert die Performanz stellvertretend für jede Kunst – ob sie es will oder nicht –, wenn sie das Verhältnis zwischen Sehen und Bedeutung, zwischen künstlerischer Produktion und ontologischen Seinsverhältnissen ins Blickfeld rückt. Vor allem in der Kunst seit den 1950er-Jahren trat ein neues Gestaltungsprinzip auf, bei dem sich die performative Geste im Sinne einer Autonomisierung des Entstehungsaktes zwischen Subjekt und Objekt schob und sich in dieser existenziellen Zwischenzone einen offenen Deutungs- und Produktionsraum eroberte. Einer der Gründe dafür ist die subjektive Agitation des physischen Apparates, die zur Folge hat, dass sich die Idiosynkrasien des Subjekts durch die Emanzipation des Gestus in direkter Weise auf das Objekt übertragen  : ein quasi-transzendentaler Akt, der allerdings noch im stillgestellten Gegenstand das Prozessuale unter der Außenhaut schimmern lässt. Kristeva definiert den Ansatz der modernen Avantgarde als eine Position, die „den Bruch betont und das Neue bestätigt“.99 Dem steht mit der Konstruktion einer „Kontinuität zwischen Anciens und Moderne“100 die nachmoderne Position gegenüber. Kristeva bezeichnet beide Strategien und Denkfelder als legitim, da ihrer Meinung nach Bruch und Kontinuität nur Kehrseiten von ein- und derselben Medaille darstellen. Entscheidend sind ihrer Meinung nach ausschließlich die jeweiligen Akzentsetzungen. In der Folge kreiert sie ein elegantes Modell der pulsierenden und hermetischen Interaktion zwischen Moderne und Nachmoderne. Sie spricht von einem die moderne Kunst dominierenden Faktor einer psychischen Abtrennung und einer Zerstäubung des Bildes. Dieser Mechanismus dringe, wie sie formuliert, in „prä-narzisstische“ Bereiche der Psyche vor. Während dieser moderne Mechanismus in der psychoanalytischen Interpretation Kristevas mit der Zertrümmerung des subjektiven Ichs experimentiert, würde die Postmoderne dieses „problematische Subjekt“ in einem „Moment psychischer Ökonomie“ von analytischer Selbstkontrolle wiederum rekonstruieren. Kristevas modellhafte Interpretation der beiden Denkkonzepte, die den kulturwissenschaftlichen Diskurs der Nachkriegszeit geprägt haben, eignet sich in ihrer Klarheit dazu, als Bezugspunkt für die Schaffung eines Begriffsdualismus zu gelten, der sich für das Schreiben über Kunst besser eignet als die Abstrak99 Vgl. dazu das Interview mit Julia Kristeva in  : Flash Art 121, Mailand 1986, S. 44–46. 100 Ebd., S. 46.

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

tion der Begriffe Moderne und Postmoderne. Erst integrale Sichtweisen können letztlich die für die neue Entwicklung notwendigen Distanzperspektiven produzieren und einzelne Themen einer vorläufigen wissenschaftshistorischen Klärung zuführen. Doch ist die Frage zu stellen, warum Geschichtsschreibung überhaupt eine panoramatische Sicht eines gewissen Zeitraums anstreben sollte. Wäre ein solcher Ansatz nicht eine regressive, systemerhaltende und statische Ausgangsposition, der die Dynamik der Detailsicht, die sich nicht auf das Integral konzentrieren muss, entgegensteht  ? Der Standpunkt, den Kristeva hier einnimmt, ist per se ein inklusiver und entspricht einem harmonisierenden, ganzheitlichen Ansatz. Sie betont die Möglichkeit und vor allem die Produktivität der Simultaneität von Kontinuität und Bruch als parallele Elemente im Ablauf von Zeit und sieht Unterschiede bloß in der jeweiligen Prononcierung. Durch diese Sichtweise ermöglicht sie eine distanzierte Interpretation von Geschichte nicht in der Form eines linearen, progredierenden, mechanistischen Begriffs von Zeit, sondern eher als einer pulsierenden Bewegung, einem harmonischen Balancespiel des Ansaugens und Ausstoßens, des Konstruktiven und Dekonstruktiven. Folgt man Kristeva, steht im Zentrum der modernen Avantgarden in der Kunst der Mensch als atomisiertes, nomadisches und zerstückeltes Subjekt, das tendenziell gegen sein Wiedererkennen im Spiegel der Ideologien agiert. Die Zerteilungsdynamik einer solchen Position äußert sich als grundsätzlich dekompositionelle Geste mit der Tendenz zum Performativen, zum Beweglichen, zum Prozess der Dekonstruktion, ja zur Selbstzerstörung. Diesem aggressiven Ablauf einer ausstoßenden Bewegung wird in Kristevas Modell eine rekonstruierende Dynamik gegenübergestellt. Die beschleunigte Entwicklung der Moderne hat das Subjekt in eine Position der ekstatischen Entäußerung und der Todesangst geführt und macht eine Umkehr des Bewegungsablaufs unabdingbar. Dem Ausstoßen folgt ein Ansaugen, ein Prozess der Rekonstruktion. Kristeva sieht darin den Versuch der Wiedervereinigung des Ichs, bei dem der dekonstruierende, fragmentarische Gestus der Moderne durch einen regressiven Akt der Konstruktion eines kohäsiven postmodernen Objekts abgelöst wird und sich das Subjekt durch die eklektische Kombinatorik von Inhalten welcher Art auch immer, ob Ideologien, Theorien oder Mythen, rekonstruiert. Es ist die Technik des Remix, angewendet auf epistemologische Umbruchsparadigmen. Die hier sichtbar werdende und emphatisch vertretene Position einer Harmonisierung von Moderne und Postmoderne, die sich als perspektivische Verbreiterung und diskursive Palimpseststruktur manifestiert, wird auch in den Thesen des Amerikaners Hal Foster exemplarisch deutlich. Foster, der

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als einer der Herausgeber von „October“ im amerikanischen Diskurs um die Postmoderne involviert ist, beklagt in seinem Aufsatz Whatever happened to Postmodernism  ?, dass das kritische Erkenntnispotenzial und die subversive Komponente der postmodernen Position durch ihre modische Verbreitung in der medialen Sphäre aufgeweicht und geschwächt wurde. The notion was not only emptied by the media  ; again, it was disputed within the left, often with good reason. Despite its adieu to master narratives, the Lyotardian version of postmodernism was sometimes taken as the latest proper name of the West, now melancholically obsessed with its postcolonial decline (or the premature reports thereof ). So, too, despite its focus on capitalist fragmentation, the Jamesonian version of postmodernism was sometimes considered too totali-zing, not sensitive enough to cultural differences of many sorts. Finally, the art-critical version of postmodernism was sometimes seen to seal modernism in the formalist mold that we wanted to break. In the process the notion became incorrect as well as banal.101

Die Reaktion auf diesen Substanzverlust der postmodernen Theoriebildung ist der Versuch einer Revitalisierung von avantgardistischen Denkmodellen / -modulen der Moderne. Dies bedingt aber eine Fusion der kognitiven Strukturen und sowohl Kristeva als auch Foster treffen sich an einer kulturtheoretischen Schnittstelle, deren apriorisches Erkenntnisparadigma wie folgt lauten könnte  : Wenn es schon nicht möglich ist, eine solche Fusionierung wieder herbeizuschreiben, so ist doch der Zeitpunkt gekommen, Moderne und Postmoderne aus erkenntniskritischer Distanz auf einer diskursiven Meta-Ebene miteinander zu versöhnen  : I believe modernism and postmodernism are constituted in an analogous way, in deferred action, as a continual process of anticipated futures and reconstructed pasts. Each epoch dreams the next, as Walter Benjamin once remarked, but in so doing it revises the one before it. There is no simple way now  : every present is nonsynchronous, a mix of different times  ; thus there is no timely transition between the modern and the postmodern.102

Moderne und Postmoderne sind aus der Sicht von Kristeva und Foster somit keine unversöhnlichen Gegner mehr wie noch in den 80er- und 90er-Jahren  ; angesichts neuer Entwicklungen und Erkenntnisperspektiven sollte es möglich sein, aus dem theoretischen Reservoir des vergangenen und gegenwärtigen 101 Hal Foster, The Return of the Real, Cambridge (Mass.) 1996, S. 206. 102 Ebd., S. 207.

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

Jahrhunderts ideologiefrei und wertneutral neue Denkwerkzeuge zu formen, die einer zeitgenössischen gesellschaftspolitischen, ästhetischen und medialen Situation angemessen wären. Im Folgenden soll nun modellhaft angenommen werden, dass die Begriffe „Gestus“ und „Objekt“ mit den ihnen zugeordneten fundamentalen Eigenschaften jeweils der „Moderne“ und „Postmoderne“ entsprechen. Nehmen wir an, das gestische, performative Element, in welcher Form auch immer es sich manifestiert, repräsentiere die dekonstruktiven und damit prozessualen Tendenzen und Entwicklungen der Moderne, während das „Objekt“ als die statische, stabilisierende Form des im Sinne Kristevas rekonstruktiven Prozesses dem postmodernen Standpunkt entspräche. Eine solch kategoriale Zuordnung der Begriffe darf jedoch keinen starren und unflexiblen Binarismus markieren. Ansonsten wären wir nur wieder bei der eindimensionalen Auseinandersetzung zwischen Moderne und Postmoderne angelangt. Im Sinne der Produktivität und des Herausforderungspotenzials, welches die Kunst für das systematische Denken innerhalb der kulturtheoretischen und philosophischen Diskurse bedeutet, ist vielmehr eine dialektische Sicht auf diese beiden nur scheinbar entgegengesetzten Positionen gefordert. Dies bedeutet, dass wir mit kritischer Distanz auf die Austauschmechanismen und die liquiden Wechselbeziehungen der den beiden Modellen zugrunde liegenden Dynamiken der Destruktion bzw. Dekonstruktion und der Rekonstruktion blicken. Moderne und Postmoderne befinden sich in diesem Sinne wie der Gestus und das Objekt in einem kontinuierlichen reziproken Verhältnis, bei dem sich das Subjekt einerseits ekstatisch entfaltet, um in der Folge wieder kontemplativ auf sich selbst zu blicken. Diese dialektische Situation liegt im Übrigen wohl auch Flussers Forderung nach einer Theorie der Gesten zugrunde. Als Grundlage für eine von ihm hier angedachte Theorie identifiziert er die methodologischen Möglichkeiten des distanzierten Bewusstseins von einer „kulturellen Umgebung“ als entzifferbaren Text und definiert somit das Objekt als semantisch aufgeladenen Teil eines umfassenden intertextuellen Gewebes  : Das Resultat der Dialektik, das Erzeugnis oder Werk, wäre, in der Sicht der Theorie, als in Material erstarrte Geste zu betrachten und dementsprechend zu untersuchen. Jedes Werk (zum Beispiel ein Hochhaus, ein Schlager oder eine Wirtschaftsstatistik) wäre in theoretischer Hinsicht etwa so zu beziffern, wie die Grafologie Briefe entziffert  : als vom Material veränderte Geste, welche trotzdem vermag, eine Freiheit zu enthüllen. Damit wären weite Bereiche der Kunstkritik in die Kompetenz einer allgemeinen Theorie der Gesten gerückt. Damit hätte aber auch die kulturelle Umgebung,

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in der wir uns befinden, den Charakter eines entzifferbaren Textes gewonnen, denn ihre Phänomene würden als gefrorene Gesten betrachtet. Der Begriff der kodifizierten Welt würde so methodologisch fruchtbar werden.103

Im Anschluss an diesen Gedankengang schlage ich zur Konzentration auf die Eigenschaften und Funktionen des Raumes die Einführung des Begriffspaars „Gestus und Objekt“ vor, um in Arbeiten über Phänomene der Gegenwartskunst der von Flusser skizzierten paradigmatischen Umschichtung Rechnung tragen zu können. Schon die Reihung der beiden Begriffe verweist auf eine aktualisierte Perspektive in Bezug auf den analytischen Ansatz. In der Tat geht es im Rahmen des thematischen Spektrums immer auch um tendenzielle Gewichtungen und Verortungen des jeweiligen Kunstwerks zwischen expliziter Performance und seinem statischen, in Flussers Diktion „gefrorenen“ Zustand. Das Kunstwerk nach der performativen Wende konstituiert sich durch die Mobilisierung und Agitation der Objekt-Körper in vorgegebenen oder entworfenen bzw. konstruierten Räumen. Aus diesem energetischen Wechselspiel entsteht der jeweilige ganzheitliche Werkbegriff, den ich hier im Sinne der Prozesshaftigkeit der Performanz als etwas Bewegtes, als Gestus bezeichnen möchte. Im Erkennen dieser bedeutenden Dimension des transitorischen, vielfach medial vermittelten Gestaltungsparadigmas, das sich in der Kunst der letzten Jahrzehnte sukzessive aufgebaut hat, in der Akzeptanz der performativ-agitativen, auch subversiven Energie im Lebenszentrum der Kunst, äußert sich nach dem Eklektizismus der postmodernen Diskussion eine neue Dimension teleologisch orientierten utopischen Denkens, das sich vom ubiquitären Relativismus wieder abzusetzen beginnt. Sowohl die revolutionären Entwicklungen in den Technologien und Wissenschaften als auch die politischen und sozio-ökonomischen Umwälzungen, ob global oder transatlantisch, fordern neue Horizontbestimmungen und existenziell-politische Kartografien ein. Während viele Künstler / -innen und Denker / -innen diese Herausforderung angenommen haben und in ihren Werken den zeitgenössischen „Weltgeist“ kritisch zu reflektieren bemüht sind, müssen die Kunstwissenschaften und vor allem die Kunstgeschichte erst die notwendigen methodischen und begrifflichen Werkzeuge entwickeln, die für eine Tiefenstrukturanalyse unabdingbar sind. Die von mir in diesem Kapitel vorgeschlagene Terminologie scheint mir einen angemessenen Zugriff auf die Entwicklungen in der Kunst der Moderne und Postmoderne zu ermöglichen – insbesondere die Positionen nach der per103 Vilém Flusser, Theorie der Gesten, Düsseldorf 1993, S. 227.

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

formativen Wende in den 1950er-Jahren lassen sich unter Anwendung dieser Begriffswerkzeuge besser beschreiben und nachvollziehen, weil die inhaltlichen Determinationen, die mit diesen Termini verbunden sind, ohne Verlust an definitorischer Präzision auf die Positionen der Kunst anwendbar sind. Die Begriffe Gestus und Objekt werden insbesondere in jenen Denksystemen verwendet, die das Subjekt-Objekt-Modell der Bewusstseinsphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts attackierten. Sowohl die analytische Sprachphilosophie als auch die psychologische Verhaltenstheorie ersetzen das intuitive und kontemplative Wissen durch Vorgehensweisen, die sich nicht auf Spekulation berufen. Sie schlagen stattdessen Analysen vor, die bei sprachlichen Ausdrücken bzw. verhaltensorientierten Modellversuchen ansetzen und der allgemeinen Verifizierung im Sinne einer szientifischen Kontrolle offenstehen. Es handelt sich beim logischen Positivismus und Behaviorismus also um dominante Denkweisen der Moderne, auf deren entwickeltes und vorbereitetes Begriffswerkzeug eine zeitgemäße Kunsttheorie und Kunstgeschichte zugreifen können. Dabei beziehe ich mich vor allem auf die Positionen von G. H. Mead und Émile Durkheim, da deren theoretische Ansätze im Bereich des Kommunikativen eine große Schnittmenge haben. Weiters nehme ich auf die „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas sowie die „Theorie der Gesten“ von Vilém Flusser Bezug. In der Erörterung der Bedeutung von „Objekt“ verweise ich auf die Arbeit des amerikanischen Kunsthistorikers George Kubler. Kubler, der in den 1960er-Jahren in Yale lehrte, definierte die Aufgabe der Kunstgeschichte als Wissenschaftsdisziplin prägnant mit den Worten  : „Die Formen der Zeit zu erfassen, ist das Ziel, das wir uns gesetzt haben.“104 Er legte damit das Schwergewicht auf die Beschäftigung mit der Gegenwartskunst – mit der Arbeit an seinen Theorien eines historisch erweiterten und integral gedachten Kunstbegriffs hatte er schon vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Damit war er für die Post- und Neo-Avantgarden der 1960er-Jahre ein wichtiger theoretischer Bezugspunkt. Robert Morris oder Robert Smithson gehörten zu jenen Künstlern, für die Kublers kunsttheoretischer Ansatz Bestätigung ihrer eigenen Ideen über die Möglichkeiten und dimensionalen Erweiterungen von Kunst war. 104 George Kubler, Die Form der Zeit  : Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt / Main 1982, S. 69.

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Kublers grundlegende Position bestand darin, die Vorstellung von Kunst definitorisch auszuweiten  ; in einem ersten Schritt eskamotierte er die Vorstellung von Kunst als Dispositiv der Eliten, mit dem Distinktionsgewinn erwirtschaftet werden konnte. In Kublers Definition umfasste der Begriff alle von Menschen geschaffenen Dinge. Dieser strategische Reduktionismus, gekoppelt an eine ästhetische Nivellierung, trifft sich auf einer grundsätzlichen Ebene sowohl mit dem Satz Poppers von den „Produkten des menschlichen Geistes“ als auch mit G. H. Meads Aussage, dass die „Handlung dem Auftreten von Dingen“105 vorausgehen würde. Der von Kubler verwendete Begriff der „Dinge“ (im englischen „objects“, also „Objekte“) zeigt im Kontext der Ausweitung des Kunstbegriffes sehr gut den freien Umgang, der gerade für die oben genannten Künstler gilt. Morris und Smithson stehen stellvertretend für eine Auf bruchsgeneration von Künstler(inne)n, die auf der Suche nach Möglichkeiten waren, sich von den repräsentativen und hierarchisch kodifizierten Strukturen und Institutionen, die in der Gesellschaft für die Vermittlung und Kontemplation von Kunst vorgesehen sind, nämlich den Museen und Archiven, zu befreien. Kubler verwendete den Begriff „Geschichte der Dinge“ als Alternative zu „Kunstgeschichte“ deshalb, weil er den in der Anthropologie üblicherweise gebrauchten Begriff der „materiellen Kultur“ als nicht adäquat empfand. Trotz dieser an sich kritischen Haltung gegenüber einer Fixierung auf das Materielle und trotz der von Kubler durch seine „Geschichte der Dinge“ visionär antizipierte Befreiung und Erweiterung der Möglichkeiten von Kunstgeschichte verbleibt seine Theorie allzu sehr in einer Konzentration auf das statische „Ding“, das Kunstwerk als „Objekt“. Seit den 1950er-Jahren hat sich die Kunst in Bereiche entwickelt, in denen die ästhetische Praxis innerhalb expandierender medialer Dispositive auch den Entwurf neuer methodologischer Ansätze, ja ganz neuer disziplinärer Wissenschaftstheorien erfordert. Es scheint, als würden die revolutionären Entwicklungen in der Kunst analog zu jenen in den Naturwissenschaften und der Technologien die Geisteswissenschaften vor methodologische Probleme stellen. In Bezug auf die Frequenzbreite der Möglichkeiten des Begriffs der Geste bzw. des Gestus ist Flussers nur skizzenhaft vorliegende „Theorie der Gesten“, die durch seinen plötzlichen Unfalltod nicht weiter ausgeführt werden konnte, ein interessanter Ansatz. Flusser setzt mit seinem Theorieentwurf zu einer umfassenden Neugestaltung des methodischen Umgangs mit den Entwicklungen in der 105 George Herbert Mead, Philosophie der Sozialität, Frankfurt / Main 1969, S. 139.

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

Kunst bzw. der allgemeinen kulturellen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte an – mit im Grunde fundamentalen Auswirkungen auf die Geschichtsphilosophie. Er imaginiert eine Wissenschaft, deren Wesen durch drei grundlegende Imperative charakterisiert ist  : Interdisziplinarität, Antiakademismus und Antiideologismus. Diese Begriffe kennzeichnen Flussers unmittelbares Begehren nach einem Zustand der Freiheit, in dessen Zentrum er das Bewusstsein der Geste analog zum „Aktiv-in-der-Welt-Sein“ sieht. Dies setzt allerdings ein selbstbewusstes, starkes und autonomes Subjekt voraus. Folgt man Kristevas Theorie von den rekonstruktiven Potenzialen der Postmoderne, so ist der Entwurf Flussers das idealtypische nachmoderne Wissenschaftsmodell, das auch für die Kunstwissenschaften neue Möglichkeitshorizonte entwirft. Als wesentlichste Eigenschaften schreibt Flusser der Geste eine kommunikative Dimension und die Fähigkeit, Freiheit körpermotorisch zu artikulieren, zu. Weiters bezeichnet er ihre epistemologische Überdetermination als charakteristisch. Der mechanische Akt des „Etwas-Tuns“, also beispielsweise eine Bewegung mit der Hand auszuführen, sei zu gut erklärbar. Würde man also eine ausschließlich mechanische Erklärung vornehmen, ginge diese laut Flusser am Kern der Sache vorbei, da eine ganze Reihe von „inneren“, an der Bewegung beteiligten Kräften dabei unberücksichtigt bliebe. Die bei einer inneren Sicht ins Spiel kommenden Vektoren wären physiologische, psychologische, kulturelle, ökonomische und eine Reihe weiterer Aspekte. Jede dieser letztlich methodologischen Erklärungen und auch ihre interdisziplinären Verschränkungen machen zwar die Geste besser erkennbar, dennoch vermitteln sie aufgrund ihrer grundsätzlichen Überdeterminiertheit für Flusser den begrifflichen Wesenskern noch immer nicht zufriedenstellend. Damit würde man in den Bereich der Spekulation über eine Dialektik der Bewusstseinsbildung eindringen. Man weiß, dass man eine Geste vollziehen wollte – oder eben auch nicht. Dies bringt Flusser zu einer vorläufigen Definition der Geste, die diese nicht archaischmechanisch beschreibt, sondern als grundlegendes Problem des Bewusstseins, das er als unmittelbaren Ausdruck des Innerlichen bezeichnet, als einen grundsätzlichen Zustand der Freiheit. In seinem typischen, vermeintlich dialektisch angelegten Diskurs geht Flusser aber noch einen Schritt weiter, indem er angibt, dass in dieser Definition noch nicht alles Wesentliche in Bezug auf die Möglichkeiten der Geste gesagt wäre. Er verändert seinen Blickwinkel und entwickelt einen positiv-negativen Blickwinkel bzw. eine „Sicht der gegenüberliegenden Perspektive“. Dabei erweitert er die Beschreibung der Eigenschaft der Geste als „Freiheit

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des Aktiven-in-der-Welt-Seins“ um den Gedanken, dass es wesentlich sei, das „Element der Verhüllung“ hinzuzufügen. Dies bringt ihn zu einer letzten Beschreibungsstufe, auf der er die Geste als „eine Bewegung, durch die sich eine Freiheit ausdrückt, um den Gestikulierenden vor anderen zu enthüllen oder zu verhüllen“,106 beschreibt. Durch das Einbeziehen des Empfängers / der Empfängerin in eine Geste im Rahmen dieser Definition wird das Nachdenken über Gesten letztlich zu einer Metatheorie von Kommunikationsverhältnissen – ein Teil dieses Bereichs ist auch das Nachdenken über das Kunstwerk als Objekt, das durch seine Determiniertheit als Kommunikationsmaschine bedeutend geprägt ist. Legt man Flussers Überlegungen auf das Kunstwerk an, ergeben sich folgende Fragen  : Wie verhält sich das Kunstobjekt gegenüber einer solchen Theorie der Gesten  ? Ist das Objekt, in unserem Fall das Kunstobjekt, dem gestischen Element untergeordnet in dem Sinn, als es sozusagen die materielle Konkretion der Geste ist, oder kann die Geste im Abstrakten auch die Form eines Kunstwerks annehmen  ? Ist Geste also im performativen Sinn unmittelbarer Ausdruck einer Willensäußerung  ? Den Kausalitätszusammenhang von Objekt und Geste formuliert Flusser so  : „Der Mensch ist zwar vollständig in der Welt, aber so, daß er der Welt gegenübersteht. Die Welt ist ihm als Umwelt Objekt. Das gestattet ihm zu gestikulieren  : als Subjekt zu handeln.“107 Mit dieser Definition befindet sich Flusser auf konträrem und ideologiekritischem Kurs gegenüber der postmodernen Position, als deren wesentlichsten Parameter Foster den in den 1960erJahren proklamierten Tod des Subjekts immer wieder anspricht. Er bezeichnet damit den Zustand, in dem die Postmoderne jenen Punkt erreicht, den man auch als „anthropozentrische Denunziation“ bezeichnen könnte. Die dabei stattfindende Entleerung der Wirklichkeit vom Bewusstsein des Subjekts als Präsenz des Humanen erscheint wie eine Vorbereitung auf neue technologische Dimensionen, die sich jenseits der menschlichen Kapazitätsgrenzen entfalten. Die Wirklichkeit ist heute entsubjektiviert, weil sich in ihr Maschinenkonzepte, virtuelle Mechanismen als zukünftige Grundstrukturen menschlichen Lebens abzeichnen. Um diese Tatsache überhaupt ertragen zu können, hat die Psyche einen Gestus des Aus-sich-Heraustretens entwickelt, eine ex-zentrische Perspektive, die existenzielle Ereignisse medial fragmentiert und forma106 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf 1993, S. 83. 107 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, a. a. O., S. 83.

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

lisiert. Besonders sichtbar wird dies in den neu entwickelten Möglichkeiten der Kriegsführung, bei denen intelligente Maschinen den direkten Kampfeinsatz von Menschen nicht mehr notwendig machen. Der Krieg wird zu einem virtuellen Spiel ohne Menschen und ist somit auf der Seite jener, die über diese Technologie verfügen, erträglicher geworden. Die Grausamkeit und zwingende Realität des Todes durchdringt nicht die Kontrollschranke der Virtualität und wird medial ausgefiltert. Vor diesem Hintergrund wird Fosters Forderung nach einer Rückkehr des Realen, unter der er auch eine Rückkehr des Subjekts versteht, ein Akt des Auflehnens der Kunst gegen diese virtuelle Dimension des Verlusts von Wirklichkeit und Authentizität. Setzt also am Ende des Diskurses um die Postmoderne ein idealistischer Rückholprozess jener Werte ein, welche die Moderne und ihre Avantgarden durch Performanz determiniert haben – reconstructing modernism  ? Das performative Kunstwerk, gleichgültig ob Happening, PerformanceArt, Body-Art oder Aktion, ist ein ephemeres und partizipatorisches Ereignis auf einer Zeitachse. Als solches ist es in erster Linie direkt erlebbar und verliert nach der Realisation seine unmittelbare Gegenwärtigkeit. Es kann a posteriori nur noch in Form repräsentativer Objekte oder medialer Vermittlung vergegenwärtigt werden. Der dabei stattfindende transformatorische Prozess bedeutet jedoch nicht grundsätzlich eine Tendenz zur Preisgabe des Kunstobjekts, sondern weist in die Richtung eines neuen, expansiven und freien Werkund Kunstbegriffs. Denn im performativen Kunstwerk erreicht letztlich der Akt des Denkens selbst Plastizität, er wird zum Gestus, der als Werk für sich selbst stehen kann. Geschichte, auch die Geschichte der Kunst, konfrontiert uns mit dem Problem des Erkennens vergangener Realitäten und der Auseinandersetzung mit der individuellen und kollektiven Erinnerung. Das Nachdenken über Vergangenheit und ihre medial vermittelte oder narrative Vergegenwärtigung ist nicht statisch, sondern ein Zustand ständig fließenden Verknüpfens von Informationen, ein unaufhörlicher Vorgang. Die für diesen Prozess notwendigen Bedingungen sind auch durch die subjektiven Interessen des Moments und deren Projektion in die Zukunft im Sinne von Erwartungshaltungen und Visionen bestimmt. Erkenntnis von vergangener Realität bildet sich aus einer Summe von Informationen als Ergebnis eines entweder direkten oder überkommenen Kommunikationsflusses. Die Garanten und Überbringer dieses Informationsaustauschs nehmen vielfältige Gestalt an und wurden im Zeitalter der Aufklärung und Moderne in Form von Informationsmaschinen in ihrer In-

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3. Zur Begrenztheit der Theorien des Blicks

tensität und Produktivität potenziert. Solche Informationsmaschinen, die synkretistisch Bedeutungszusammenhänge stiften, gehören in ihrer Eigenschaft als profanisierte Kulträume zu den symbolischen Kernzonen der modernen Gesellschaften. Sie bilden ein Spektrum, das von Totalität bis zu kollektiver Teilhabe reicht und bieten die Möglichkeit zu manipulativer Einflussnahme und ideologisch vorstrukturierter Didaktik, aber auch zu freier Selbstfindung und Selbstbespiegelung. Ihre höchst entwickelten Formen sind die Bibliothek, das Archiv und das Museum. Ebenfalls in diese Kategorie gehören die neuen Medien, deren Datenflüsse letztlich radikal beschleunigte und fragmentierte Komponenten solcher Institutionen sind. Diese Vermittlungsmaschinen und Kulträume repräsentieren die äußere Macht der sie schaffenden und betreibenden Gesellschaften und stellen in ihren komplexen Organisationsformen selbst Symbole im Zeitfluss dar. Eine der komplexesten dieser Informationseinheiten ist das Kunstwerk. Es ist Träger der individuellsten, aber möglicherweise auch am stärksten dem Kollektiv verpflichteten Metasprache, denn es verwendet nicht nur die herkömmliche gesprochene oder geschriebene Sprache, sondern erfindet in seiner je eigenen Form neue Informationssysteme, in denen akkumulierte und multivalente Bedeutungsebenen idiosynkratisch strukturiert werden. Das ästhetische Objekt wird damit sozusagen zum Testfall der gesellschaftlichen Kommunikationsbereitschaft. Der / die Künstler / -in als Erzeuger / -in dieses Objekts ist der / die Agitator / -in, der / die das Kollektiv mit seiner / ihrer verschlüsselten Botschaft herausfordert und zu Reaktionen zwingt. Daraus folgen Bewegung und Erkennen. Das Kollektiv wie der / die Einzelne sind aufgerufen, diesen Kommunikationsfluss auf allen Ebenen zu garantieren. Das ästhetische Objekt besitzt also in erster Linie eine energetische, man könnte auch sagen sinnstiftende Komponente, die sich letztlich aus einem Kommunikationsprozess speist. Sie kann am Quantum der agitatorischen Potenziale, mit denen das Objekt ausgestattet ist, gemessen werden. Nun ist aber eine gut funktionierende Message des kollektiven Bewusstseins abhängig von einem Wechselverhältnis aus Kommunikationsoffenheit bei gleichzeitiger Verhüllung. Die individuelle Metapher als zentraler Bestandteil der Verhüllungsstrategie der Kunst funktioniert wie eine Energiequelle. Das Ausmaß ihrer Komplexität steht in Wechselwirkung mit der Gültigkeitsdauer des ästhetischen Objekts. Im Idealfall würde diese energetische Quelle niemals verlöschen und ihr Agitations- und Mobilisierungspotenzial wäre daher unendlich. Das Verlangen nach dem Besitz solcher Objekte, das Sammeln und Ausbeuten ihrer sinnstiftenden Eigenschaften stehen im Zen-

Das Subjekt zwischen Gestus und Objekt

trum der Konzeption der Informationsmaschinen und legitimieren überhaupt erst ihre Existenz. Die idealistische Konzeption des Sammelns kann jedoch vom modernen / von der modernen, aus seinem / ihrem Selbstverständnis heraus zum autonomen Schaffen neigenden Künstler / -in – nicht bedenkenlos hingenommen werden. Denn ist er / sie in diesem Punkt Kollaborateur / -in, wäre die Kunst unter dem Diktat eines kollektiven Funktionszwanges und würde ihre im 20. Jahrhundert erkämpfte Autonomie verlieren. Der Kommunikationsfluss würde einfrieren und wäre damit seiner energetischen Fähigkeiten beraubt. Deshalb befinden sich die Künstler / -innen der modernen Avantgarden stets in einem kritischen und potenziell dekonstruktiven Verhältnis zu der von der normativen Kraft des Faktischen gesteuerten Informationsmaschine und suchen kontinuierlich nach einem Ausweg aus der Gefahr der Petrifizierung. Dieses Pattern verweist auf Karl Poppers Forderung nach der „Falsifizierbarkeit“ legitimer Theorien. Denn, so wie eine Theorie nicht immun sein darf und für Gegenbeweise offen sein muss, hat auch das Objekt durch seine Rätselhaftigkeit und Interpretationsoffenheit seine Resilienz unter Beweis zu stellen. Die hier versuchte Skizze, in der Grundprobleme der Kunst der modernen Avantgarden kritisch analysiert werden, verweist auf eine „andere“ Dimension, die Künstler / -innen den Kunstwerken zugemessen haben. Die Gewichtung verschiebt sich vom hermetischen, autonomen Werk, das in einen verständlichen, gesellschaftlich sanktionierten Kanon eingebettet ist, hin zur tendenziellen Betonung des Prozesshaften, der Bewegung, dem Mitbedenken der Umfeldbedingungen des Kunstwerkes und des dialektischen Verhältnisses von Objekt und dem Gedanken als Form. Flusser bezeichnet die performative, mehrdimensionale Komponente als „Enigma“, als ein „Rätsel, welches durch Entzifferung gelöst wird“.108 Das Einbringen der subjektiven „Verhüllung“ durch das Performanzprinzip und die dadurch erfolgende Reduktion / Absenz des Kunstobjekts wären in diesem Kontext als Reaktion der Kunst auf das verstärkte Kommunikationsund Vermittlungsraster, in welches sie das Kollektiv eingewoben hat und durch welches das Kunstwerk in einem ständigen Prozess der Versachlichung steht, zu deuten. Diese wesentlichste Eigenschaft des „enigmatischen“ Elements, das Unterlaufen der beharrenden und systemstabilisierenden Tendenzen der Interpretation und Musealisierung, wird also zur immanenten Strategie für die Erhaltung des Befreiungspotenzials von Kunst. 108 Vilém Flusser, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, a. a. O., S. 91 ff.

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Abb. 1 : Marcel Duchamp , Fountain 1917 , Foto des nicht erhaltenen Originals von A ­ lfred Stiglitz , veröffentlicht in The Blindman 1917 (Philadelphia Museum of Art)

Abb. 2: Kasimir Malewitsch , Schwarzes Quadrat , 1913–15 , Öl auf Leinwand , 79 × 79 cm (Tretjakow Galerie , Moskau)

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Abb. 3: Antonin Artaud , L’aprojection du veritablé corps , 18. Nov. 1946–Dez. 1947 oder Jänner 1948 , Graphit und Wachskreide , 54 × 75 cm (Musée National d'Art Moderne , Centre Georges Pompidou)

Abb. 4: Jackson Pollock bei der Arbeit an One : Number 31 , 1950 ; Fotos : Hans Namuth

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Abb. 5 und 6: Marcel Duchamp , Étant donnés : 1 °la chute d’eau , 2 ° le gaz d’eclairage , 1946–66 , Mixed Media , Assemblage , 243 × 178 cm (Philadelphia Museum of Art , Geschenk der Cassandra Foundation) Außenansicht , Innenansicht

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Abb. 7: Kasimir Malewitsch , Das schwarze Quadrat , 1913 , Ausstellungsansicht „Letzte Futuristische Ausstellung. 0.10“ Petrograd 1915  (Vgl. dazu. Von Aage A. Hansen-Löve , Kazimir Malevic. Gott ist nicht gestürzt ! , München 2004 , S. 307)

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Abb 8: Antonin Artaud , Selbstportrait , 11.5.1946 , 65 ,5 × 50 cm , Bleistift auf Papier (Privatsammlung)

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Abb. 9: Antonin Artaud , Sort a Roger Blin (recto) , 22. Mai 1939 , Tinte , violetter Tintenstift , Gouache ; das Papier versengt , 21 × 13 ,5 cm (Bibliothèque Nationale de France , Paris)

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Abb. 10: Carolee Schneemann , Meat Joy , Live Performance , Judson Church , NYC 1963 / 64 ; Foto : Al Giese

Abb. 11: Otto Muehl , Versumpfung der Venus , Live Performance , Friedrichshof 1963 / 64  ; Foto : Ludwig Hoffenreich

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Abb. 12: Bruce Nauman , Slow Angle Walk , Studio Performance 1969 (Video Data Bank Chickago)

Abb. 13: Robert Smithson , Spiral Jetty , Great Salt Lake , Utah , 1970 (Dia Art Foundation)

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Abb. 14: Carolee Schneemann , Interior Scroll , Live Performance , East hampton , NY 1975 ; Foto : Anthony McCall

Abb. 15: Dieter Roth , Schimmelmuseum , 1990–98 (Dieter Roth Foundation , Hamburg)

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Abb. 16: Dorit Margreiter , Aporia (Kairo Version) , 2008, Installationsansicht , Cairo Biennale ; Foto : Anja Manfredi

Abb. 17: Dorit Margreiter , Aporia (Kairo Version) , 2008 , Videostill

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Abb. 18: Roberta Lima , Please help yourself , Live Performance , Cairo Biennale 2008 , Videostills

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Abb. 19 und 20: Josephine Pryde , Valerie , Installationsansichten , Wien 2004 ; Fotos : Matthias Herrmann

Abb. 21: Eva Hesse , Ohne Titel , 1970 , Installationsansicht  (Whitney Museum of American Art , New York)

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Abb. 22: Carolee Schneemann , Water Light / Water Needle , Live Performance , Aerial Kinetic Theater at St. Mark’s Church , NYC; Foto : Charlotte Victoria

Abb. 23: Eva Hesse , Ohne Titel  (7 poles), 1970, Installationsansicht (Musée National d'Art Moderne , Centre Georges Pompidou)

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4. Anwendung von Raumkategorien Aus einer unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen dem Greenberg’schen Modernism und dem aus der europäischen Tradition entwickelten Strukturalismus kam es zur Kollision unter dem Schlagwort „Moderne gegen Postmoderne“. Aus heutiger Sicht und auf der Basis der tatsächlichen Entwicklungen im Bereich der Ästhetik kann jedoch festgestellt werden, dass sich unter der Annahme eines Primats der Performanz eine bis heute klar darstellbare und ununterbrochene Entwicklungslinie jener grundlegenden Parameter verfolgen lässt, die am Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext der frühen Avantgarden entstanden sind. Wir haben es also weder mit einem Ende der Geschichte noch mit einem Ende der Kunst zu tun, auch nicht mit einem Ende disziplinären Nachdenkens über Kunst, sondern mit einer konstruktiv und dialektisch fortschreitenden Entwicklung einer modernen Avantgarde, die inzwischen breiten Raum gewonnen hat und dazu führte, dass sich die Kunst neben der Philosophie und der Religion als ein weiteres grundlegendes Element der kulturellen Produktion etablieren konnte. Diese Position hat sie deshalb erobert, weil sie in der Konfrontation der Avantgarde mit den zuvor unbekannten apokalyptischen Zuspitzungen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert einen performativen Gestus des freigeistigen Handelns entwickeln konnte, der sie jenseits der systemimmanenten Kontrollversuche von Machtdispositiven situiert und einen kritischen Blick auf den Terror der Orthodoxie ermöglicht. Aus diesem emanzipatorischen und systemkritischen Gestus, der in Permanenz frei und selbstständig in offene und hierarchieferne Räume tendiert, bezieht die Kunst ihre gestalterische Kraft. Die dabei entwickelten Formen, die sich entlang von zeitlich und räumlich organisierten Koordinatensystemen ausfalten, werden unter der Prämisse eines freien und experimentellen Kommunikationsprozesses empirisch und phänomenologisch erprobt und zur Verfügung gestellt. Die Bedingungen für die daraus folgende performative Wende wurden durch die Möglichkeit eines selbstbewussten / selbstbestimmten Handelns in eigens dafür konstruierten respektive imaginierten Räumen geschaffen. Wel-

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4. Anwendung von Raumkategorien

che inhaltlichen Ziele dieses Handeln, also der Gestus des Künstlers / der Künstlerin, verfolgt und welche Resultate es zeitigt, ist u. a. abhängig von der Qualität der dafür entworfenen Räume. Die Dialektik des Performativen ist somit das Resultat einer reziproken Beziehung zwischen Gestus und Raum. Wesentlich ist, dass der kulturelle Kontext der Kunst die freie Raumwahl und Raumgestaltung garantiert. Erst aus diesem Kausalzusammenhang heraus kann Kunst jene Produktivkräfte entwickeln, die ihren gestaltenden Zugriff auf die Wirklichkeit ermöglichen. Daraus folgt, dass für die gegenwärtige Situation der Kunst zwei Parameter überragende Bedeutung haben und daher in allen Kunstwerken, welche Form auch immer sie im Zeitalter der Intermedialität und der Immaterialitäten annehmen, ständig präsent sind  : einerseits der freie Gestus in entweder abstrakter oder tatsächlich vollzogener Form und andererseits das spatiale Environment, in dessen Koordinatensystem sich dieses Handeln produktiv entwickelt. Die Tatsache, dass sich die Avantgarde schockartig von den Konventionen eines in den Gegebenheiten des euklidischen und Newton’schen Raumes verharrenden starren Denkens und Begreifens hin zu offeneren und prozessualeren Perzeptions- und Reflexionsschemata entwickeln konnte, hat die Kunst und das Denken subjektiviert. Betont werden vor allem die Performanz des abstrakten Denkens und ein kommunikativer Prozess, der sich innerhalb bestimmter medialer Möglichkeiten entwickelt. Neben Gestus und Raum sind daher Perzeption und Kommunikation weitere Eckpunkte, die in der Interaktion von schaffendem Subjekt und seinem Umfeld jene Matrix ausbilden, die Gesetzmäßigkeiten der Produktion von zeitgenössischer Kunst determinieren. Wenn also heute über die Performanz des Kunstwerks gesprochen wird, so heißt das, dass parallel dazu immer auch die begleitende Theoriebildung mitreflektiert werden muss. Zweifellos versetzt uns diese Dynamik in eine Situation der Ambivalenz, in ein Gefühl der Unsicherheit und eines diskursiven Schwebezustandes. Gerade deshalb bin ich jedoch der Meinung, dass theoretische Methodik, also der Versuch, auf der Basis von Kontemplation, Intuition und einer möglichst präzisen formalen Analyse einzelner Kunstwerke Strukturhomologien und ein Koordinatensystem zu konstruieren, dazu verhelfen kann, der Inhaltlichkeit und den Mysterien der performativen Gesten in der Kunst näherzukommen. In diesem Sinne vertrete ich eine entgegengesetzte Meinung zu Rebentisch, wenn diese sich in der Einleitung zu ihrer Studie über die „Ästhetik der Installation“ wie folgt positioniert  :

4. Anwendung von Raumkategorien

Eine Warnung vorweg  : Mir geht es im Folgenden nicht darum, aus den künstlerischen Experimenten, die heute unter den Begriff der Installation fallen, Typen zu destillieren, um schließlich zu einer klar konturierten Gattungsdefinition zu gelangen. Zwar lassen sich einige allgemeine Züge installativer Kunst benennen, und diese werden im Folgenden auch zu diskutieren sein. Aber eine darüber hinausgehende Typisierung erscheint schon angesichts der phänomenalen Vielfalt installativer Praktiken nicht sinnvoll. Warum festschreiben, was sich derart in Bewegung befindet  ? Und mir geht es auch nicht darum, die Genese installativer Kunst zu rekonstruieren oder einen vorläufigen Überblick über deren aktuelle Vielfalt zu geben. Wer sich unter dem Titel dieses Buchs kunstgeschichtliche Einordnungen zu einer bislang in dieser Hinsicht noch wenig erschlossenen Kunstform erhofft hat, wird wohl weitgehend enttäuscht werden. Denn ,Ästhetik der Installation‘ soll hier von der philosophischen Ästhetik her verstanden werden.109

109 Juliane Rebentisch, Ästhetik der Installation, Frankfurt / Main 2003, S. 7.

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4. Anwendung von Raumkategorien

Theatralität und Performanz Mag sein, dass der dekonstruktive Gestus der Avantgarde affirmative Theorien wie jene von Clement Greenberg und in der Folge Michael Fried zu einer argumentativen Gegenbewegung veranlasst hat, die bis heute zur Debatte um die Performatisierung des Kunstwerks gehören. Bei einer Gesamteinschätzung sollte man allerdings ins Kalkül ziehen, dass die Position Frieds, die erstmals in seinem 1967 in „Artforum“ veröffentlichten Text Art and Objecthood formuliert ist, auf eine seit den 1950er-Jahren geführte Diskussion innerhalb der amerikanischen Kunstszene zurückzuführen ist. Parallel zu den Leistungen einer ersten genuin amerikanischen Avantgarde, dem Abstrakten Expressionismus, entwarf vor allem Greenberg eine aus amerikanischer Sicht unter dem Begriff Modernism revidierte und adaptierte Definition der Avantgarde und der Moderne. Es handelt sich dabei um eine homogene kunsthistorische Theorie, die im Lauf der 1960er-Jahre mit dem Auftritt der Postmoderne zu einer radikal gegenläufig argumentierenden Bewegung geführt hat. Beim Disput um Modernism und Postmodernism handelte es sich somit um eine in weiten Bereichen inneramerikanische Diskussion, die nur bedingt mit den Entwicklungen in der europäischen Kunst korrespondierte. Allerdings muss festgehalten werden, dass die Folgen dieser oft erbitterten und polemisch wertenden Auseinandersetzung durch die strategisch eingesetzte, machtvolle internationale Ausstrahlung des amerikanischen Kunstsystems auch außerhalb der USA zu vielen diskursiven Missverständnissen und Fehlinterpretationen geführt hat. Bei Frieds Text handelt es sich um einen im damaligen Kontext provokanten Aufsatz, der bis zu einem gewissen Grad im Zentrum dieser Diskussion steht. Er ist in der Argumentations-Architektur präzise gebaut, in der Programmatik und den Schlussfolgerungen aber, wie sich aus heutiger Sicht zweifelsfrei sagen lässt, realitätsfremd, da er die Tragweite der neo-avantgardistischen Entwicklungen im Rahmen der performativen Wende nicht angemessen berücksichtigt. Dennoch blickt dieser Text auf eine beachtliche Erfolgsgeschichte zurück, weil sich an ihm das Thema der Performatisierung in der bildenden Kunst gut festmachen und dualistisch entwickeln lässt. Der Aufsatz ist aber auch deshalb irritierend, weil er sich explizit gegen Positionen der Neo-Avantgarde wendet, obwohl gerade diese im Gegensatz zu den Arbeiten von Rauschenberg, Johns, Cage und später der Pop-Art die von Greenberg erhobenen Forderungen in gewisser Weise variativ weiterführen.110 110 In diesem Kontext ist beispielsweise die Tatsache aufschlussreich, dass Allan Kaprow in Hinblick auf den unmittelbaren Ursprung und eine Entstehungsgeschichte des Happenings weniger auf Cage als auf Pollock verweist und damit in dieser Diskussion durchaus Stellung bezieht.

Theatralität und Performanz

Seit Anfang der 1990er-Jahre, als begonnen wurde, die Frage der Performanz in der bildenden Kunst auch in der Kunstgeschichte zu thematisieren, wurde der Text immer wieder als Referenz herangezogen. Fried entwickelt darin am Beispiel einer Skulptur des amerikanischen Minimalisten Tony Smith eine Kritik der Subjekt / Objekt-Kontextualisierung. Entscheidend dabei ist die ins Spiel gebrachte Verräumlichung, in der sich das Objekt in seinem Verhältnis zum Subjekt definiert und erst in diesem Austauschverhältnis seine Wirkung entfaltet. Hier findet endgültig ein für die performative Wende entscheidender Paradigmenwechsel statt, bei dem der Körper zum zentralen Thema der Kunst wird. Sabine Flach weist in ihrer Arbeit über den Zusammenhang von Körper und Bild in Videoinstallationen darauf hin, dass es sich dabei nicht um Arbeiten handelt, „die in der Tradition einer Re-Figuration der künstlerischen Praxis zu verstehen sind“ und die „sich an einem überlieferten Körperbild orientieren, das neu erarbeitet werden soll“, sondern dass erstmals „die Bedingungen der Wahrnehmung zum Inhalt der künstlerischen Arbeit werden“.111 Fried bezeichnet diese anthropomorphe Prozessualisierung als „theatralisch“ und denunziert mit der Assoziationsbreite dieses Begriffs das Kunstobjekt als Kulisse. Allerdings erscheint diese Position gerade im Hinblick auf den relativ späten Veröffentlichungszeitpunkt und vor dem Hintergrund der damals bereits stark entwickelten multimedialen und performativen Kunstbegriffe der Neo-Avantgarden als anachronistisch und wenig produktiv. Die beiden von Fried in Bezug auf die vermeintlich neuen Entwicklungen eingeführten Schlüsselbegriffe sind „literalistisch“ und „theatralisch“. Unter „literal“, also buchstäblich, versteht er die von den Künstler(inne)n in ihren Manifesten und programmatischen Texten auch immer wieder selbst formulierte Tendenz zum Wesentlichen, zu den Bausteinen und auch zu den mnemotechnischen bzw. kulturgeschichtlichen Wurzeln von Kunst und Ästhetik. Hier gelingt es ihm, einen haltbaren Begriff einzuführen, der qualitativ über die journalistischen Kategorisierungen, wie Minimal-Art, Land-Art, Performance-Art, ConceptArt etc., in den Neo-Avantgarden hinausführt. Flach weist zu Recht darauf hin, dass Fried „die beobachteten Spezifika jedoch nicht positiv im Sinne eines neuen Impulses für die Situation der Kunst (interpretiert)“, sondern diese vielmehr „aufgrund der  –  scheinbaren  –  Unvereinbarkeit mit den Prinzipien der modernen Kunst“ ablehnt.112 111 Sabine Flach, Körper-Szenarien, a. a. O., S. 47. 112 Ebd., S. 45.

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4. Anwendung von Raumkategorien

Frieds noch 1967 geäußertes Unvermögen, sich mit den paradigmatischen Veränderungen in den Entwicklungen der Neo-Avantgarden substanziell auseinanderzusetzen, zeugt letztlich von einer fehlgeleiteten kunsthistorischen Orientierung an den Positionen des amerikanischen Modernismus. Dies mag mit dem Umstand zusammenhängen, dass sich die New Yorker Schule des Abstrakten Expressionismus und damit auch deren ideologischer Hauptrepräsentant Clement Greenberg um jeden Preis von einer direkten europäischen Genealogie absetzen wollten. Die Gründe dafür lägen einerseits im Bestreben, die amerikanische Entwicklung in der Konkurrenzsituation mit der europäischen Kunst aufzuwerten, andererseits habe dabei auch politisches Kalkül geherrscht, da man bestrebt gewesen sei, die Kunst aus den Auseinandersetzungen des beginnenden Kalten Krieges herauszuhalten.113 Aus diesen Gründen setzt sich die ästhetische Theorie Greenbergs von den europäischen Avantgarden, insbesondere von den Positionen Duchamps, des Suprematismus, des Dadaismus, aber auch des Surrealismus ab und orientiert sich an einer prä-avantgardistischen und tendenziell auch unpolitischen Reinheitslehre in der Malerei. Hätte Greenberg weniger monokausal und politisch substanzieller argumentiert und damit die tatsächlich bedeutenden Leistungen in den europäischen Avantgarden bis hin zu den revolutionären intermedialen bzw. psychodramatischen Entwicklungen des Surrealismus integriert, wäre Fried später nicht in den programmatischinhaltlichen Zwiespalt geraten, der eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieser neuen amerikanischen Kunsttheorie der Moderne unterbunden hat. Der im Kern reizvollen und auch schlüssigen Position Greenbergs wäre Kontinuität beschieden worden, und die Spaltung zwischen den amerikanischen und verschiedenen internationalen theoretischen Ansätzen wäre vermutlich nie eingetreten – oder zumindest diskursiv überbrückbar gewesen. 113 Der in den 1950er-Jahren einsetzende Erfolg des Abstrakten Expressionismus mündet unter anderem in eine Utilitarisierung seiner Leistungen, um damit eine neue Siegerästhetik zu vermitteln. Die freie, offene und dynamische Geste, die großen Formate waren ideal dafür geeignet, ein neues, demonstrativ präsentiertes Selbstbewusstsein einer modernen Konsumgesellschaft zu zeigen. Die Tatsache, dass beispielsweise Pollocks Drippings erstmals über einen Artikel im Flagship der gehobenen amerikanischen Lifestyle-Presse, dem Magazin „Life“, einem breiten amerikanischen Publikum bekannt gemacht wurden, zeigt diese Entwicklung auf. Verstärkt wurde diese Tendenz auch durch den aktiven Export dieser Kunstrichtung in Form großer Wanderausstellungen, die das Museum of Modern Art im Nachkriegseuropa veranstaltete. Dies führte letztlich auch dazu, dass bereits die zweite documenta von der Präsentation des amerikanischen Expressionismus dominiert war. Siehe dazu auch Serge Guilbauts Buch How New York Stole the Idea of the Avantgarde. Abstract Expressionism, Freedom, and the Cold War, Chicago 1983.

Theatralität und Performanz

Denn im Grunde liegt die inhaltliche Sollbruchstelle nicht zwischen dem Abstrakten Expressionismus und den Positionen der literalistischen NeoAvantgarden, sondern in einer inneramerikanischen Auseinandersetzung zwischen der Neuformulierung von Positionen einer Ästhetik der Immanenz gegen solche einer Ästhetik der Indifferenz, die sich in den 1950er-Jahren entwickelt hatte und die amerikanische Kunst bis heute dominiert. Inzwischen zeigt sich deutlich, dass Greenberg, Fried und die darauffolgende amerikanische Debatte es aus hegemonialen Gründen unterlassen haben, durch eine Weiterentwicklung der Theorie des Modernism und dessen Korrektur durch eine Akzeptanz der historischen europäischen Avantgarden eine theoretische Verbindung zwischen dem Abstrakten Expressionismus und den literalistischen Neo-Avantgarden der 1960er-Jahre zu stiften. Gerade weil die Nachkriegs-Avantgarden auf der zentralen Rolle der Subjekt- bzw. Körpererfahrung bestehen, hätte  –  wie Flach hinweist  –  eine revidierte und korrigierte Theorie des amerikanischen Modernismus eine konsistente Traditionslinie etablieren können. Indem die Bedingungen der Wahrnehmung zum Inhalt der künstlerischen Arbeit werden, hat der Kontext eine Verlagerung erfahren, denn mit dem Einsatz des Körpers werden die Themen des Kunstwerkes im unmittelbaren Vollzug umgesetzt. Damit wird die künstlerische Arbeit über den Einsatz des Körpers erneut zu einem Ort der reinen Selbstreferenz und setzt damit mutatis mutandis die Parameter der Kunst des Modernismus fort.114

Aus heutiger Sicht eröffnet sich in der Reinterpretation und der Verknüpfung der unterschiedlichen Positionen der europäischen Kunst vor dem Zweiten Weltkrieg mit den Vorstellungen Greenbergs bzw. den Leistungen der Abstrakten Expressionisten die Möglichkeit einer kontinuierlichen Genealogie der Avantgarde bis heute. Eine tatsächlich alternative Perspektive mit hohem Innovationspotenzial kann man jedoch jener Entwicklung in der Kunst zuweisen, bei der es sich, im Gegensatz zu den noch europäisch orientierten Abstrakten Expressionisten, tatsächlich um den repräsentativen Ausdruck eines nach dem Krieg sich ausformenden kulturellen amerikanischen Selbstbewusstseins handelte. Dieses Phänomen ist von Moira Roth als „Ästhetik der Indifferenz“ prägnant beschrieben worden.

114 Sabine Flach, Körper-Szenarien, a. a. O., S. 47.

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4. Anwendung von Raumkategorien

Der ephemere Blick Für Christine Buci-Glucksmann verbindet sich der Blick, der aufgrund der Beweglichkeit der Anschauungsobjekte bzw. der Bewegungen des Betrachters häufig ephemer, also kurzfristig, vielleicht sogar beiläufig bleibt, mit einer Traditionslinie künstlerischer Positionen, die für sie von einer „Leichtigkeit des Seins“ bestimmt sind. Sie nennt in diesem Zusammenhang die Mobiles von Alexander Calder, schwingende Skulpturen von Vassilakis Takis, Neon-Ikonen von Dan Flavin oder die Lichtarchitekturen von James Turrell. Den Werken dieser Künstler – die Liste gibt nur eine kleine Auswahl einer umfangreichen Anzahl von ähnlichen Positionen  –  sei „das Hängende, das Schwebende, das allenthalben an das Unwahrnehmbare des Sichtbaren reicht und den Betrachter / die Betrachterin in eine Zone nicht optischer, sondern eher taktiler und musikalischer Sinnlichkeiten entführt“,115 gemeinsam. Buci-Glucksmanns These leitet sich von der Beobachtung her, dass die Kunst in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts nach der Erfindung der Abstraktion einen Grad von „ikarischer“ Leichtigkeit erlangt habe, die zu einem mehrdimensionalen Begreifen von Wirklichkeit führen könne. Unter dem Begriff einer „Ästhetik der Immanenz“ entwickelt sie in der Folge eine Genealogie, die, ausgehend von den Suprematisten, und hier im Besonderen von Kasimir Malewitsch, über Lucio Fontana bis zu Yves Klein reicht. In den Werken dieser Künstler / -innen fände ein Prozess statt, bei dem es um das „Verschwinden einer Dingwelt“ und das Eintreten in einen Zustand geht, in dem eine Qualität virtueller Schwerelosigkeit den Menschen auf ein Zeitalter vorbereitet, in dem sich „die Kultur eines partiellen, lückenhaften, in Wellen verlaufenden Unbewußten“116 entwickle, die „Maschinenkultur eines Vor-Bewußten, das mit dem Unbewußten Freuds nichts mehr gemein habe“.117 Die Kunst erhebt sich über die Ebenen der Materialität hinaus in die mehrdimensionalen Räume eines „luftigen Materialismus“ auf dem Weg zu einer unendlichen Ausweitung räumlicher Möglichkeiten. Diese ansteigende Dynamik findet Buci-Glucksmann auch in Paul Cezannes flimmernden Farbstudien eines immer gleichbleibenden Motivs und in Paul Klees Mikroperspektiven, die 115 Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick in der Kunst, a. a. O., S. 193. 116 Florence de Meredieu, Le crustacé et la prothése, in  : Paysages virtuels, Paris 1988  ; zitiert nach  : Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick in der Kunst, a. a. O., S. 205. 117 Ebd., S. 206.

Der ephemere Blick

stetig zum Urpunkt führen. Ähnliche visuelle Effekte schreibt sie den „Concetti Spaziali“ Lucio Fontanas, den Farbreduktionen Robert Rymans oder den Videoinstallationen Bill Violas zu. Was versteht nun Buci-Glucksmann unter dem Ephemeren und inwiefern ist dieser Ansatz eines Blickwerkzeugs geeignet, um methodische Aussagen zu den Entwicklungen in der Kunst nach der performativen Wende machen zu können  ? Sie definiert die Qualität des ephemeren Herangehens an ein Kunstwerk in einem ersten Schritt negativ und betont, dass es sich dabei weder um „einen stillgestellten, reinen Augenblick noch eine reine Zeit, die sich wiederfinden ließe, noch auch das Jetzt einer heterogenen Zeit“ handle. Dem stellt sie das Perzeptionsereignis einer Art „Zittern oder der Moiré der Zeit, einer Art Unschärfe, die die Zeit verschleiert“, gegenüber. 118 Dieses „Zittern der Zeit in seiner Zerbrechlichkeit“ verweise auf etwas, das nur für einen Moment besteht, sich im Zustand einer ununterbrochenen Schwingung oder Veränderung befindet und auf eine Art Zwischenraum hindeutet, ein Gebiet, in dem die Dinge sich zwischen „Erscheinen und (…) Verschwinden“ bewegen. Dieser hier beschworene Moment eines sich ständig in Bewegung befindenden prozessualen Ablaufs lässt sich metaphorisch mit den zentralen Parametern der Kunst nach der performativen Wende verknüpfen. Buci-Glucksmann basiert ihre Überlegungen zum ephemeren Blick auf künstlerische Positionen, die sich cum grano salis mit der Herstellung von offenen, nachgerade esoterischen Räumen befassen. Aus ihrem Text kann über weite Strecken auf eine starke und positive Faszination von dieser „spirituellen“ Dimension in der Gegenwartskunst geschlossen werden. Die Philosophin wirft aber auch einen kritischen Blick auf den gesamtkulturellen Kontext, der diese „transzendentale Wende“ stimuliert hat. Dabei stellt sie fest, dass das „ununterbrochene Zapping der Bilder, des museal Sichtbaren, künstlerischer Moden, die Diktate des ,Look‘ und die Überflutung durch eine Bilderwelt, in der die Geschwindigkeit jeden körperlichen und sozialen Bezugspunkt zerstört hat“, die Kunst „heimgesucht“ hätten.119 Sie sieht allerdings eine zwingende Notwendigkeit, dass die Kunst sich konkret mit einem Realitätsparadigma, das in akzelerierender Manier auch von „Gewalt, Ausschluß und geplantem Tod“ gezeichnet ist, auseinanderzusetzen habe. Denn „die Kriege, die simuliert und anhand digitaler Karten geplant werden“ und die möglicherweise nur deshalb geführt 118 Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick in der Kunst, a. a. O., S. 218. 119 Ebd., S. 219.

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4. Anwendung von Raumkategorien

werden können, weil unsere Kultur inzwischen den Typus des hochtalentierten Halluzinopathen hervorgebracht hat, welcher sich in den digitalen Welten zurechtfindet, „sind deshalb nicht weniger tödlich“. Die Thematik der „negativen Räume“ fände sich beispielsweise im Kern des Werkbegriffs von Bruce Nauman, der – wie viele andere Künstler / -innen der Neo-Avantgarden angesichts der mit Hybris belasteten Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts – räumliche Modelle entwirft, um „das Denken über und hinter die Dinge“ zu erweitern und damit zu einem mehrdimensionalen kritischen Bewusstsein zu gelangen.120 So gesehen erscheint die Betonung des „Ephemeren“ bzw. die Entwicklung eines ephemeren Blicks nichts anderes zu sein, als die Initiation eines Bewusstseinszustandes, der den Menschen befähigt, dem totalitären Zugriff einer zunehmend schneller werdenden, digitalisierten Maschinenwelt ein kritischemanzipatorisches Denken entgegenzusetzen. Die Basis für diesen Prozess findet sich bereits in der von den klassischen Avantgarden geforderten Aufgabe der passiven Kontemplation und einer distanzierten Sicht zugunsten eines umfassenden Perzeptionskonzepts. Dieses beruht in erster Linie auf der Leistung der Kunst nach der performativen Wende, Modelle für die Öffnung der Räume und eine Kontextualisierung der in ihnen getätigten idiosynkratischen Gesten auszuarbeiten. Hier setzt der von Buci-Glucksmann formulierte ephemere Blick an und antizipiert neuartige, holistische Wahrnehmungskategorien. Das Apriori für diesen Weg ist aber gleichwohl, dass die Kunstwissenschaften an der kategorialen Erfassung dieser Raummodelle arbeiten und damit in Grundzügen eine zukünftige Sprache entwerfen, die nicht mehr zweidimensionaler Text, sondern vieldimensionaler performativer Gestus ist.

120 Ebd., S. 225 f.

Das Objekt als mnemotechnischer Agitator

Das Objekt als mnemotechnischer Agitator Raum konstituiert sich nach Löw in erster Linie als ein Beziehungsverhältnis von Körpern. In dem Augenblick, in dem das Kunstwerk sich über den Kontext des Raumes definiert – ein Prozess, der im Zentrum der performativen Wende steht –, wird es zu einem interaktiven, prozessualen Ereignis. Oder anders formuliert  : Die Stellung der Körper und der dabei umgesetzte Gestus, der Kern des Kunstwerks überhaupt, lassen den Raum entstehen. In diesem Zusammenhang umfasst der Begriff Körper jeden beliebig vom Künstler eingesetzten oder gestalteten Gegenstand, somit auch den menschlichen Körper oder den Körper des Künstlers selbst – der Raum ist also ursächlich mit der menschlichen Geste verknüpft. Ein Raum ohne diese Konnotation aus dem Anthropomorphen und dem Anorganischen ist Natur und somit unmittelbare Wirklichkeit ohne jegliche Einschreibung von Bedeutung. Mit der Moderne und ihren literalen Avantgardismen verweist die Kunst auf urgeschichtliche Prozesse, in denen durch den Körper-ordnenden Gestus Raum und damit Beziehung entsteht. Die Kunstgeschichte der Moderne ist also nicht mehr ausschließlich eine Objektgeschichte, sondern sie mutiert zumindest partiell auch zu einer Wirkungsgeschichte der Körper in deren relationalem Verhältnis zur res extensa. Dieser Prozess ist performativ und aus ihm heraus konstituiert sich der Raum. Den Körpern, also den Kunstobjekten, kommt in diesem Beziehungsprozess umfassende funktionale Bedeutung zu. Sie repräsentieren gewissermaßen den Text, mit dem sich die Bedeutung des Kunstwerks vermittelt. Anders ausgedrückt  : Dem Körper kommt im performativen Dreieck von Leib, Gestus und Raum entscheidender Werkzeugcharakter zu. Wenn sich die Kunst nach den revolutionären Durchbrüchen der Moderne heute primär als räumlich gedachter Prozess darstellt, dann wäre Kunstgeschichte einerseits als Geschichte des Raumes, aber auch jener Werkmittel zu schreiben, aus deren gestischer Aufladung mit „Sinn- oder Sinnlosigkeitsgehalten“ das Kunstwerk erst entsteht. Daraus folgt, dass Kunstgeschichte heute eine synthetische bzw. zumindest synchrone Sicht auf den Raum und die sich in ihm ordnenden Körper haben muss. Aus dem phänomenologischen Blickwinkel der Kulturwissenschaften und im Sinne eines modernen kulturanthropologischen Ansatzes lässt sich Wirklichkeit grundsätzlich nach diesem methodischen Anwendungsmuster analysieren. An den „Körpern“ wie an jedem anderen Objekt lassen sich Vorstellungen und Wissen von Tätigkeiten, Lernprozessen und Erinnerungen – also

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Textualitäten in der breitesten Definition des Wortes – festmachen, denn der Raum als solcher kann sich ausschließlich prozessual entwickeln. Martina Löw beschreibt den Entstehungsprozess „von Raum als Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen“ und betrachtet ihn in seiner in der Moderne entwickelten relativen Charakteristik121 als „relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen“.122 Ebenfalls entscheidend für diesen Ansatz ist der von Löw eingebrachte Begriff des „Spacing“. Darunter versteht sie einen für die Raumkonstituierung unabdingbaren Prozess der Anordnung oder des In-Beziehung-Setzens von Körpern (auch im Sinne von Objekten). Denn erst aus der sowohl im mikro- als auch im makroorganisatorischen Bereich erfolgenden Platzierung von Körpern entsteht eine sogenannte „Syntheseleistung“ – ein Prozess, in dem über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsvorgänge Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst werden. Daraus folgt Löws These, dass Raum eine „relationale (An)Ordnung“ von Lebewesen und sozialen Gütern ist. Raum konstituiert sich durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letztere ermöglicht es, „Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen“.123 Erst im performativen Prozess, dem Anordnen, dem In-Beziehung-Setzen, der Kommunikation von Körpern bildet sich also Raum, und damit kommt den Körpern bzw. Objekten maßgebliche Bedeutung zu. Umgesetzt auf das Kunstwerk können wir daraus den Schluss ziehen, dass jene dimensionale Extension, die uns die Moderne aufgeschlossen hat, sich aus dem Verhältnis von Performanz und Objekt entwickelt. Eine methodische Approximation an den Bedeutungsgehalt des zeitgenössischen Kunstwerkes ergibt sich somit am nachhaltigsten aus der systematischen Erforschung von Raumkonzepten, die in der Kunst Anwendung finden.

121 Im Gegensatz zur prämodernen Charakteristik des Raumes als einem absoluten Konstrukt. 122 Martina Löw, Raumsoziologie, a. a. O., S. 158. 123 Martina Löw, Raumsoziologie, a. a. O., S. 159.

Objektverlöschung in digitalen Räumen

Objektverlöschung in digitalen Räumen Die Moderne ist ursächlich verbunden mit mehreren technologischen und medialen Revolutionen. Die Erfindung von Fotografie, Film, Telefon, die Echtzeitübertragung der elektronischen Bildmedien und die sich noch im Anfangsstadium befindliche digitalisierte Parallelwirklichkeit der vernetzten Computer prägen die Ästhetik der modernen Welt und breiten sich viral aus. Während Fotografie und Film noch dem analogen Abbildmechanismus unterliegen, handelt es sich allerdings bei den elektronischen Medien und durchaus auch bei der Telefonie um mediale Entwicklungen, die völlig neue Perzeptions- und damit Produktionsmethoden zur Folge haben. Vor allem die Demokratisierung der Cybertechnologie des Computers für ein Massenpublikum, ein kulturelles Phänomen, das unsere Wirklichkeit erst seit etwa 20 Jahren massiv verändert, ist mit psychischen Adaptionsleistungen verbunden, die das Verhältnis zwischen Realität und Simulation, zwischen Wirklichkeit und Virtualität neu bestimmen – und dem Entstehen von halluzinierten oder tatsächlichen Parallelwirklichkeiten Vorschub leisten. Diese Entwicklung hat starken Einfluss auf das Raumbewusstsein des modernen Menschen ausgeübt und provoziert neue Diskurse und Methoden, in denen sich die Theoretiker / -innen mit der unmittelbaren oder medial gespiegelten / konstruierten Wirklichkeit auseinandersetzen. Die amerikanische Soziologin Saskia Sassen beschreibt Telematik und digitale Globalisierung als fundamentale Kräfte, die zur kontinuierlichen Neuorganisation des Raumes führen.124 Manuel Castell bezeichnet die Folgen der Kräfte, die von dieser Medienrevolution entfesselt wurden, als Herausbildung eines „Space of flows“  : Durch diese vielfältigen gesellschaftlichen Prozesse und technologischen Veränderungen entsteht eine Gesellschaft, die durch Ströme beherrscht wird  : Ströme von Botschaften, Ströme von Informationen, Ströme von Anweisungen, Ströme von Technologien, Ströme von Waren, Ströme von Arbeit.125

In den Modellen von Sassen und Castell finden wir genau jene Dynamiken und Strukturen wieder, die auch die Entwicklungen in der bildenden Kunst sowohl in der Phase der klassischen Avantgarden als auch der Neo-Avant124 Siehe dazu  : Saskia Sassen, Cyber-Segmentierungen. Elektronischer Raum und Macht, in  : St. Münker / A. Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt / Main 1997, S. 215–235. 125 Manuel Castell, Space of flows – Raum der Ströme. Eine Theorie des Raumes in der Informationsgesellschaft, in  : P. Noller u. a. (Hg.), Stadt-Welt, Frankfurt / Main – New York 1994, S. 124.

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garden nach der performativen Wende geprägt haben. Die Dominanz von Raumvorstellungen, neue Modelle jenseits der Euklidik und ein performatives Denken in mehrdimensionalen mobilen Strukturen sind Parameter, die von den Avantgarden reflektiert und experimentell durchgespielt wurden – daraus resultierte ein Grundlagenkatalog für wesentliche Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts. All diese theoretischen und praktischen Ansätze stellen heute vielfach die Wirklichkeit der Stadt als Thema und Herausforderung ins Zentrum einer bildnerischen Auseinandersetzung mit der Realität. Es geht vor allem um das urbane Umfeld als homogensten, durch Spacing von Körpern entstandenen Raum, als Behälter verlöschender Objekte und als Metapher. Die konzentrische Raumstruktur der Metropolen wird zusehends von einem fragmentierten Nutzungsmuster überlagert, das gleichermaßen durch Konzentrations- als auch Dekonzentrationsprozesse gekennzeichnet ist und zu unterschiedlich dimensionierten Zentren und Peripherien führt. Die Figuration von Zentrum und Peripherie muß heute neu gedacht und dargestellt werden. Es handelt sich nun um ein relationales Modell räumlicher Strukturen.126

Die Frage ist, wie die Kunst sich in einer Wirklichkeit verortet, die von einem niemals endenden Output von Objekten dominiert wird. Einem permanenten Güterkreislauf zwischen Produktion, Konsumtion und Entsorgung – kapitalistische Akkumulation zwischen Warenfetischismus und Sakralisierung des Banalen. Ein Prozess, der auch auf das Kunstobjekt abstrahlt und somit zu einem zentralen Thema der Moderne wird. Zwei Ansätze, beide in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen der Kunst nach der performativen Wende, müssen hier ins Spiel gebracht werden  : einerseits – heute fast schon eine Tautologie – die Implosion der Objekte, seien sie nun organisch oder anorganisch, und die Neukonzeption des Körpers als fluktuierende Entität zwischen Präsenz und Verschwinden, andererseits die Distanzierung von der Materialität der Objekte durch das Zwischenschalten einer medialen Ebene und deren ästhetische Antizipation durch den Minimalismus, der letztlich über die Konzeptualität direkt in den Bereich der Medienkunst führt. Sabine Flach beschreibt in ihrer Arbeit umfassend das Verhältnis von Körper und Bild und stellt dar, wie unter dem hier knapp skizzierten paradigmatischen Wechsel das Kunstwerk sich tendenziell vom Objekt löst. In diesem Prozess 126 Peter Noller / Klaus Ronneberger, Die neue Dienstleistungsgesellschaft. Berufsmilieus in Frankfurt / Main, Frankfurt / Main – New York 1995, S. 40.

Objektverlöschung in digitalen Räumen

führt das Kunstwerk dabei nach wie vor einen Reduktionismus mit sich, der in der Dematerialisierung der künstlerischen Arbeit mündet. Dabei werden die kontingenten Aspekte des Kontextes immer deutlicher in die künstlerische Arbeit integriert. Das Kunstwerk wird also eindeutig zu einer Situation, deren herausragende Qualitäten Räumlichkeit, Performativität und eine Orientierung am Konzept sind.127

Die von Flach genannten Qualitäten „Räumlichkeit, Performativität und eine Orientierung am Konzept“ sind die entscheidenden Parameter der Kunst nach der performativen Wende. Räumlichkeit versteht sich hier allerdings nicht nur in einer materiellen, sondern auch in einer halluzinatorischen Dimension. Denn über die mediale Vermittlung wird der Schritt der Rezipient(inn)en in eine Interzone zwischen Realität und Phantasmagorie inauguriert, in eine phantasmatische Unendlichkeit sich ständig verändernder digitaler Räume. In der dimensionalen Multiplizität dieses Systems verlöschen potenziell sowohl Körper als auch Objekte. Konkrete Perzeptionserfahrungen, die bisher im Mittelpunkt der Kunst standen, werden durch halluzinatorisch-psychedelische Wahrnehmungsdistortionen abgelöst, medientechnologische Kräfte infiltrieren die Kanäle des decodierenden Bewusstseins und schaffen ein neues Plateau der meta-realen Weltwahrnehmung.

127 Sabine Flach, Körper-Szenarien, a. a. O., S. 46.

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Aesthetic of Indifference / Ästhetik der Immanenz Der intensiv geführte Disput um das Ende der Avantgarde und damit die Ablöse der amerikanischen Moderne128 durch ein postmodernes Konzept in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist einer der effizientesten, aber auch problematischsten amerikanischen Kulturexporte. Im Bereich der bildenden Kunst steht hinter diesem Diskurs letztlich eine Konfrontation zweier stilistischer Paradigmen, die die amerikanische Nachkriegskunst bestimmt haben  : die Ästhetik der New York School sowie jene einer Gruppe von Künstler(inne)n um John Cage. Bereits Ende der 1940er-Jahre und vor allem in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre begannen John Cage, Robert Rauschenberg und Jasper Johns mit der Formulierung einer Alternative zur Position der Malerei der New York School. Während die Abstrakten Expressionisten und ihre Theoretiker Rosenberg und in diesem Kontext vor allem Greenberg auf einer Position der Reinheit und der Autonomie des bildnerischen Ausdrucks als diskurslose Leistung beharrten, entstand in der Gruppe um Cage im Rahmen der Workshops am Black Mountain College eine andere, brüchigere Form des Denkens. Dies zeigte sich unter anderem im Verzicht auf Kanonisierung und einem offenen interdisziplinären Ansatz  –  es handelte sich bei der locker gewirkten CageGruppierung ja um ein Zusammentreffen von Musiker(inne)n , Tänzer(inne)n und Maler(inne)n . Aus heutiger Sicht wird immer deutlicher, dass die Theoriemodelle des amerikanischen Modernism und Postmodernism als Kampfwerkzeuge dienten, mit denen man Positionen unter ideologisch strengen Maßstäben und Regeln akzeptieren oder ausschließen konnte. Dies gilt für die Stringenz der Greenberg’schen Theorie genauso wie in späterer Folge für die Gegenbewegung postmoderner Denkschulen. Die intensiv geführte Auseinandersetzung erzeugte einen abgeschlossenen Diskurs, der erstaunlich weit reichende Konsequenzen hatte und polemische Energien entfesselte. Auf der Strecke blieb allerdings eine diversifizierte und vor allem synthetische Analyse der möglichen Kontinuität in 128 Hier soll darauf verwiesen werden, dass es verschiedene Konzepte der Moderne gibt. In diesem spezifischen Fall handelt es sich um die von Clement Greenberg entworfene Theorie des amerikanischen Modernism, auch als Modernity bezeichnet. Die Greenberg’sche Theorie zeichnet sich durch die Betonung eines strengen Formalismus auf Kosten der gesellschaftspolitischen Komponenten der klassischen Moderne und vor allem deren Avantgardismus-Konzeptionen aus.

Aesthetic of Indifference / Ästhetik der Immanenz

der Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts  ; es kam, wie Philip Ursprung beschreibt,129 zu vereinfachenden und teilweise unbrauchbaren Modellen. So wurden auf der Suche nach der historischen Legitimation der jeweiligen Position in völlig unzulässiger und vor allem auch geradezu moralisch wertender Weise immer wieder Pablo Picasso und Jackson Pollock für die modernistische Kritik vereinnahmt, während man sich im Fall postmoderner Strategien auf Marcel Duchamp berief – eine Komplexitätsreduktion, die aus heutiger Sicht längst ad absurdum geführt wurde. Gemeinsam ist beiden amerikanischen Konzepten eine Tendenz zur politischen Neutralisierung der künstlerischen Inhalte. Vor allem die Postmodernity und ihr Abrücken von einem linearen Geschichtsmodell, im Extrem als „Ende der Geschichte“ propagiert, vertritt einen zunehmend formalistisch-affirmativen, allenfalls medienkritisch-distanzierten Zugang zur Position und Funktion der Kunst in der Gesellschaft. Was die historischen Entwicklungen in den USA unmittelbar nach dem Krieg betrifft, ist es unter anderem den sozialgeschichtlichen Studien von Serge Guilbaut zu verdanken, dass mittlerweile eine facettenreichere Sicht auf die transatlantischen Zusammenhänge möglich wurde. Wenn Guilbaut beklagt, dass es für die Entwicklung der Kunst in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts immer wieder zur selben kanonisierten Kunstgeschichtsschreibung kommt,130 bedeutet dies vor allem, dass an einem alternativen, den einengend dualistischen Argumentationsring um die Moderne und Postmoderne sprengenden Geschichtsmodell gearbeitet werden muss. Guilbaut fordert von der Kunstgeschichte, die Strategeme, die oft hinter wirkmächtigen, kanonischen historischen Modellen stehen, kritisch zu analysieren, transparent zu machen und anhand alternativer Positionen ein diversifizierteres und stärker konturiertes Geschichtsbild zu entwerfen. Die Auseinandersetzung zwischen den Künstler(inne)n um Cage und der von Greenberg theoretisch eingehegten Gruppe der Abstrakten Expressionisten und ihre Folgen für die Entwicklungen der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann für einen solchen Prozess als Anschauungsmodell gelten. Vor allem da es gerade in diesem Fall durch eine Aufwertung der performativen Entwicklungen und deren historische Herleitung die Möglichkeit einer zusammenfassenden alternativen Interpretation gibt. Deren Kern ist die 129 Vgl. dazu  : Modernismus und Postmodernismus, in  : Philip Ursprung, Grenzen der Kunst, München 2003, S. 36. 130 Vgl. dazu  : Serge Guilbaut, How New York Stole the Idea of the Avantgarde, a. a. O., S. 32 f.

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Konstruktion eines historischen Kausalzusammenhanges, der über die kritische Lektüre des Nachkriegsdiskurses zwischen Moderne und Postmoderne auf einen aktualisierten Kontinuitätsanspruch avantgardistischer Konzepte verweist und damit den Anspruch der Kunst auf gesellschaftspolitische Deutungskompetenz untermauert. 1952 kommt es mit dem „Event Nr. 1“ zur ersten direkten multimedialen Zusammenarbeit der Gruppe um Cage am Black Mountain College. Für die später auch im internationalen Maßstab gewürdigten Performanzentwicklungen in der amerikanischen Kunst handelt es sich dabei um eine Veranstaltung, der ebenso wie Pollocks Drippings ein wichtiger Stellenwert für nachfolgende avantgardistische Konzepte zukommt. Für unsere Theoriebildung ist es wichtig, die Gegensätze zwischen diesen beiden ästhetischen Konfigurationen herauszuarbeiten, denn sie markieren die für die weiteren Entwicklungen der Kunst in den 1960er- und 1970er-Jahren dominanten Richtungen. Ebenso relevant ist aber die Betonung der Tatsache, dass es sich sowohl bei Pollock als auch bei der Gruppe um Cage um Entwicklungsgenealogien handelt, die sich als spezifisch amerikanische Ausprägung in eine Geschichte der Performanz in der Kunst einreihen. Der Begriff einer „Aesthetic of Indifference“ wurde von der amerikanischen Kunsthistorikerin und Feministin Moira Roth entwickelt und in ihrem 1977 in „Artforum“ veröffentlichten und viel beachteten gleichnamigen Text vorgestellt. Darin vermittelt sie die These, dass aufgrund der speziellen politischen Situation der McCarthy-Ära „a growing number of intellectuals consciously espoused indifference as a virtue, as the correct way to deal with a uncertain world“.131 Als Hauptvertreter / -innen dieser Entwicklung einer „Aesthetic of Indifference“ bezeichnet sie Cage, Cunningham, Rauschenberg und Johns. Formuliert wurde diese Catchphrase vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund einer  –  globalstrategisch gesehen  –  amerikanischen „Siegergesellschaft“, die sich aber gleichzeitig im McCarthy’schen Furor einer puritanischen Paranoia nach innen repressiv gebärdete. In diesem Manichäismus sieht Roth u. a. die Wurzel der „bizarre disjunction of art and politics that emerged in the 1960s“. Sowohl der Gruppe um Cage und Rauschenberg als auch der Pop- und Minimal-Art in den 1960erJahren schreibt sie eine Haltung der politischen Neutralität, Passivität, Iro131 Moira Roth, difference / -indifference  : musings on postmodernism, marcel duchamp and john cage, Amsterdam 1998, S. 34.

Aesthetic of Indifference / Ästhetik der Immanenz

nie und Verneinung zu. „‘Amusement’ and ‘Indifference’ became positive values.“ Und speziell die frühen Arbeiten von Jasper Johns bezeichnet sie als „warehouse of Cold War metaphors“.132 Marcel Duchamp wird in dieser Charakterisierung der aktuellen amerikanischen Kunst die Rolle eines Spiritus Rector und role models zugewiesen. Duchamps Distanziertheit (detachment), sowohl in seinem Charakter als auch im generellen Gestus seiner Kunst, beeindruckte die amerikanischen Künstler und Künstlerinnen. Er kultivierte eine Haltung, die sich von der emphatischen Produktionslust der Abstrakten Expressionisten grundsätzlich unterschied  : intelligente Distanz. Wenn Roth schreibt  : „Cool intelligence was the ideal“,133 so leitet sie davon ab, dass die Geste einer künstlerischen Selbstermächtigung aus dem Geist der intelligenten Distanz von nun an zur Grundhaltung einer erfolgreichen amerikanischen Kunst gehörte und im Zentrum einer „Aesthetic of Indifference“ stand. Die hier Duchamp zugeschriebene Schlüsselrolle und die, im Hinblick auf gesellschaftspolitische Wirkmächtigkeit, problematischen Effekte der von ihm vertretenen Haltung meint Buci-Glucksmann, wenn sie in der „Topologie“ des „Hindurchsehens, der Ströme, des Hauchdünnen und der Sprachspiele eine neue Leichtigkeit des Virtuellen“ vorweggenommen sieht. Und sie ordnet diesem „technologischen Taumel der Simulakren“, ähnlich der Position von Roth, herrschaftstechnisch determinierte „Schwerkräfte eines geo-politischen Blicks“ zu, „der sich in der omnivisionären Transparenz des auf die Welt geworfenen Techno-Blicks verbirgt. Ein Blick des Todes aus der Distanz, der ethnischen Säuberung und des Völkermordes.“134 Einer solchen, der amerikanischen Mainstream-Kunst der 1950er- und 1960er-Jahre, vor allem der Popund Minimal-Art, zugeschriebenen „Ästhetik der Gleichgültigkeit“ steht laut Buci-Glucksmann das europäische Konzept einer Erfahrungsästhetik gegenüber. Dabei handelt es sich um eine Kunst, „in der das Virtuelle sich nicht als Form, sondern als Kraft äußert, ja sogar als spirituelle Kraft“.135 Diese dem amerikanischen Formalismus entgegengesetzte Qualität sieht sie in den europäischen Neo-Avantgarden, beispielsweise in Yves Kleins performativem Malgestus, verwirklicht. 132 Ebd., S. 35 ff. 133 Ebd., S. 39. 134 Christine Buci-Glucksmann, Der kartographische Blick in der Kunst, a. a. O., S. 203 f. 135 Ebd. S., 200.

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Ursprung verweist darauf, dass bereits Anfang der 1950er-Jahre tonangebende Kritiker wie Greenberg, Hess und Rosenberg eine Stagnation der Schwungkraft des Modernism feststellten. Tatsächlich hatte die New York School mit dem Erfolg der Drippings von Pollock einen vorläufigen Höhepunkt erreicht und Rauschenberg 1951 mit seinen „White Paintings“ und etwas später mit der Arbeit „Erased de Kooning Drawing“ (1953) einen Negativabguss jener Werte gefertigt, welche dem Abstrakten Expressionismus zugrunde lagen. Roths Interpretation einer „Ästhetik der Indifferenz“, aus der Position der in den 1970er-Jahren voll einsetzenden feministischen Emanzipation verfasst, prononciert somit einen durchgehend kritischen bis negativen Ansatz. Eine ähnlich negative Sichtweise, wenn auch aus anderen Gründen, vermittelt sich auch über Buci-Glucksmanns Kritik am Gestus von Duchamp. Beiden Positionen steht eine Interpretation von Jonathan Katz gegenüber, der sowohl für das Stück „4'33"“ von John Cage, die „White Paintings“ von Robert Rauschenberg und dem mit „Disappearance II“ betitelten Bild von Jasper Johns eine bei Weitem positivere Bewertung einfordert. Er argumentiert durchaus schlüssig, dass es sich hier nicht um Repräsentationen einer „Ästhetik des Indifferenten“ handelt, sondern um emanzipatorische Gesten der Negation, die in erster Linie gesetzt wurden, um hermetisch versiegelte ästhetische Traditionsräume aufzusprengen  : The argument I want to make here is, that this is not silence at all, but rather the ,performance‘ of silence, and that – we shall find – is a very different thing.136

Heute, in einer Phase der einsetzenden Historisierung solcher diametral entgegengesetzter Positionen, blicken wir nicht mehr so sehr auf die Gegensätze, sondern verfügen über das erkenntnistheoretische Werkzeug, um die strukturellen Gemeinsamkeiten zu analysieren. Katz’ Verwendung des Begriffs „Performance“ in Zusammenhang mit den frühen entscheidenden Arbeiten von Cage, Rauschenberg und Johns bezieht sich auf jenen Gestus, der im Zentrum meiner bisherigen Argumentation steht. Damit ergibt sich die Möglichkeit, durch das Einsetzen von Performanz als dem zentralen paradigmatischen Strukturelement, die auf Polemik und ideologische Unversöhnlichkeit beruhenden Dichotomien zwischen Indifferenz und Immanenz, zwischen Postmoderne und 136 Jonathan D. Katz, Identification, in  : difference / -indifference  : musings on postmodernism, marcel duchamp and john cage, Amsterdam 1998, S. 53.

Aesthetic of Indifference / Ästhetik der Immanenz

Moderne und zwischen amerikanischer und europäischer Kunstentwicklung aufzubrechen und vermeintlich heterogene Diskurse zu synthetisieren. Dabei ergibt sich die Chance, die der transatlantischen Wechselwirkung tatsächlich zugrunde liegenden kontinuierlichen Parameter in ihren multiplen Ausformungen objektiv darstellen zu können. Denn all diesen variativen Setzungen, sei es nun der Abstrakte Expressionismus, die von Roth so bezeichnete Gruppe der „Ästhetik der Indifferenz“ oder die in den 1960er-Jahren anschließenden literalistischen oder medienanalytischen Bewegungen, liegen unter dem Aspekt einer performativen Wende die Elemente der räumlichen Extension des Kunstwerks und eines durch Kommunikationsgesten aufgeladenen Spacings der Körper und Objekte zugrunde.

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5. Performanz und Raum In den vorangegangenen Kapiteln habe ich versucht, die diskursiven und disziplinären Voraussetzungen meiner These zu umreißen  : Dass Performanz zuallererst ein ästhetischer Gestus ist, in dessen Zentrum das Öffnen neuer Räume steht. Dieser Prozess kann im übertragenen, metaphorischen Sinn vor sich gehen, er kann medial-konzeptueller Natur sein, er kann sich aber auch faktisch manifestieren oder im Bereich von Simulakren stattfinden. Im Rahmen der Vielzahl von Möglichkeiten kann es zu einer breiten Diversifizierung der Ausdruckscharakteristika kommen, allen gemeinsam jedoch ist der grundsätzliche Anspruch auf eine verstärkte sozialpolitische und kommunikative Rolle der Kunst. Darin zeigt sich die noch immer ungebrochene Haltung der künstlerischen Avantgarde, die der Kunst eine aktivistische und gesellschaftsverändernde Gestaltungsdynamik zuordnen möchte. Die Apodiktik des Anspruchs auf eine erweiterte Rolle der Kunst, sei sie nun modernistisch-linear oder postmodern-dezentralisiert gedacht, bringt die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in jedem Fall sowohl in den Kontext einer kontinuierlichen und nachhaltigen Institutionskritik als auch in einen Prozess der notwendigen, ununterbrochenen Selbstbestimmung und selbstbezüglichen Strukturanalyse. Der Prozess der Reflexion und das Realisieren erweiterter Räume im Kunstwerk führt die Kunst selbst, als Gestus, zu einem idealtypisch definierten Freiraum und fordert eine Autonomie, die ihr bis dato nicht zukam. Erst aus dieser Position der avantgardistischen Autonomie sieht sie sich in der Lage, zunehmend konkrete Gestaltungsansprüche zu formulieren. Es geht nicht mehr um eine absolute und schon gar nicht um eine repräsentative Kunst, sondern in erster Linie um die Position einer Selbstbestimmtheit, innerhalb derer sich die Kunst entfalten und in kommunikative Interaktion treten kann. Demnach ist die performative Wende mit einer grundsätzlichen Politisierung der Kunst verbunden – nicht im Sinne von Ideologien, sondern als Prozess einer direkten Funktionszuweisung. Der amerikanische Neo-Avantgardist Robert Smithson hat diesen paradigmatischen Schritt folgendermaßen formuliert  :

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5. Performanz und Raum

„Die Entwicklung der Kunst sollte nicht metaphysisch, sondern dialektisch sein.“ Die tatsächliche Radikalität seiner Position wird allerdings zur Gänze erst in der danach erhobenen Forderung sichtbar  : Die Dialektik, die ich meine, sucht eine Welt außerhalb des kulturellen Gefängnisses. Ich habe auch kein Interesse an Kunst, die einen ,Prozess‘ innerhalb der metaphysischen Grenzen des neutralen Raums suggeriert. In einer solchen behavioristischen Spielerei ist keine Freiheit.137

Die von Smithson hier angedeutete Institutionskritik, die sich nicht nur an die Museen richtet, sondern die Rolle und Funktion von Kunst in der westlichaufgeklärten Gesellschaft generell infrage stellt, kann grundsätzlich als ein der Avantgarde-Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immanenter gemeinsamer Nenner bezeichnet werden. Er fordert soziale und politische Interaktion, eine Aufhebung des distanzierten Blicks zugunsten echter Erlebnisfähigkeit, eine Politik der direkten, dualistischen und erweiterten Wahrnehmung. Smithson veröffentlichte seinen manifestiven Text anlässlich der Ablehnung seiner Teilnahme an der von Harald Szeemann 1972 kuratierten documenta 5. Bei dieser Ausstellung wurden auf einem ersten Höhepunkt des Disputs um die Postmoderne und den von ihr postulierten „Tod der Avantgarde“ die verschiedenen Positionen der Neo-Avantgarden komprimiert dargestellt. Smithson nützte seine Einladung zu einem manifestartigen Akt der Negation – einer Geste, die von Rauschenbergs „White Paintings“ über Naumans „A Cast of the Space under My Chair“ und Brus’ „Zerreißprobe“ bis zum „Haus für Schweine und Menschen“, das Carsten Höller und Rosemarie Trockel auf der documenta X zeigten, einen zentralen Nervenstrang der Neo-Avantgarden repräsentiert. In diesem für die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zentralen Text, den Smithson mit „Kulturelle Gefängnisse“ betitelte, argumentiert der Künstler gegen die „Apparate“, welche die Macht der Kunst limitieren. Er reanimiert damit ein Thema, das vor allem in den letzten drei Jahrzehnten, die von einer ungebrochenen Konjunktur des Kunstsystems und damit auch des Museumswesens geprägt waren, die Kunst in vielfältigen Ausformungen kennzeichnet  : Die Künstler werden in verlogene Kategorien gezwängt. Manche Künstler glauben, sie könnten diesen Apparat beherrschen, während tatsächlich der Apparat sie beherrscht. So unterstützen sie letztlich ein kulturelles Gefängnis, über das andere be137 Robert Smithson, Kulturelle Gefängnisse, in  : Gesammelte Schriften, Köln 2000, S. 185.

5. Performanz und Raum

stimmen. Nicht die Künstler selbst sind eingesperrt, sondern ihre Arbeiten. Museen haben Säle und Zellen, nicht anders als Irrenhäuser und Gefängnisse – nämlich neutrale ‚Ausstellungsräume‘.138

Philip Ursprung verweist darauf, dass Smithsons paradigmatischer Text in der deutschsprachigen Kunstgeschichte der letzten 30 Jahre keine Beachtung mehr gefunden hat. Den Grund dafür sieht er in einer in den 1970er-Jahren einsetzenden Phase der „Konsolidierung und Entpolitisierung“ bzw. der museal-pragmatisch zweckgebundenen Orientierung der Kunstgeschichte. Dem ist prinzipiell zuzustimmen und die Argumentation noch insofern zu verstärken, dass gerade im Lauf der 1970er-Jahre – also im Zuge des Triumphs von Pop-Art und Minimal- bzw. Concept-Art  –  das sich dynamisch entwickelnde und amerikanisch dominierte Kunstsystem mit seinem Kraftzentrum New York zunehmend marktorientiert agierte und die deutsche Kunst  –  so wie auch die Wirtschaft  –  den Anschluss nicht verlieren wollte.139 Aus heutiger Sicht kann man durchaus konstatieren, dass die in den 1980er-Jahren bereits voll entwickelte Marktdynamik des amerikanischen Systems, beispielsweise in Form von dominanten und mit hohen Summen operierenden Galerien, zu einer teilweise unkritischen Funktionalisierung der kunsthistorischen und kritischen Instanzen geführt hat. Mit dieser Entwicklung ist schließlich jene Dominanz der Pop- und Minimal-Art zu erklären, die zu einem partiellen Zurückdrängen der Neo-Avantgarden auf den europäischen Markt140 und zu einem hegemonial-protektionistischen Auftritt des amerikanischen Systems geführt hat. Wie erfolgreich die deutsche Strategie 138 Ebd. 139 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus beachtenswert, dass die beiden vermutlich engagiertesten europäischen Großsammler sich im Besonderen auf die amerikanische Kunst konzentrierten  : Der deutsche Peter Ludwig wandte sich in erster Linie dem Bereich der Pop-Art zu, der Italiener Conte Panza neben der Pop-Art in besonderer Weise der Minimal-Art. Möglicherweise ist es gerade auch aus dieser marktbildenden Situation heraus verständlich, dass in den späten 1970er-Jahren durch die deutsche neoexpressive Malerei (Baselitz, Lüpertz, Penck, Immendorf und vor allem Kiefer) sowie der neuen italienischen Malerei (Chia, Clemente etc.) in einer Gegenbewegung die europäische Kunst den amerikanischen Markt mit retromodernistischer Kunst beschicken konnte. 140 Als besonders gutes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Umstand zu nennen, dass in den 1980er-Jahren so bedeutende europäische Positionen wie die Werke von Joseph Beuys oder Arnulf Rainer in der Hochblüte des transatlantischen Kunstmarkts durch die Exporte der neuen Malerei, vor allem der Präsenz Anselm Kiefers, bei Weitem in den Schatten gestellt wurden. Weder Beuys noch Rainer sind ihrer tatsächlichen Bedeutung entsprechend in den wichtigen amerikanischen Museumssammlungen aliquot vertreten.

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letztlich war, zeigt sich darin, dass sich der in den 1960er- und 1970er-Jahren vorhandene latente Konflikt zwischen amerikanischer und deutscher Kunst in den 1980er- und 1990er-Jahren umso spürbarer entspannte, als die Logik des Marktes die Austauschdynamik intensivierte. Das amerikanische System besteht bis heute, ist aber durch generelle Neugewichtungen in der transatlantischen politischen Entwicklung etwas differenzierter einzuschätzen. Ursprungs Analyse ist daher zuzustimmen, wenn er sagt, dass Smithsons „Forderung nach einer dialektischen Kunst ein kritisches Potenzial (enthält), das auch nach dreißig Jahren noch immer nicht ausgeschöpft ist“.141 Ich würde dem sogar hinzufügen, dass mit zunehmender Akzeptanz der Bedeutung der performativen Wende Positionen wie der von Smithson besonderes Gewicht zukommen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellsten Entwicklungen in der Kunst haben sie sich als besonders ergiebig erwiesen, denn in der Kunst der 1990er-Jahre fand ein Paradigmenwechsel im Denken über Kunst statt, der auf einen verbreiteten Stilpluralismus und eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zurückzuführen ist. Nach wie vor dominiert im internationalen Kunstmarkt das Prinzip der Indifferenz, das längst auch die Logik von Sammlungen – ob privat oder museal – affiziert. Allerdings kann seit Jahren auch festgestellt werden, dass die inhaltlichen Kompetenzträger, die im Rahmen von musealen Strukturen über Ankäufe entscheiden, die Herausforderung der Nachkriegs-Avantgarden aufgenommen haben. So finden etwa im Sammlungs- und Ausstellungsbereich Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten und Bedingungen der Historisierung und Vermittlung jener Entwicklungen statt, die die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ihre Weiterführung der Parameter der klassischen Avantgarden nachhaltiger geprägt haben, als man dies den bisher stark systemimmanent argumentierenden Interpretationen der Kunstgeschichte entnehmen konnte. Ursprung verweist im Zusammenhang mit der Position Allan Kaprows und dem amerikanischen Happening, welches als einflussreiche, wenn auch relativ flüchtige Geste innerhalb der Ausformungen der performativen Wende charakterisiert werden kann, auf die bis heute andauernde Gleichgültigkeit, die vor allem im Bereich des amerikanischen Kunstsystems den Leistungen der frühen performativen Avantgarden entgegengebracht wurde  : vom Happening über die transatlantisch ausstrahlende Fluxus-Bewegung bis zu internationalen Entwicklungen im Bereich der Performanz wie dem Wiener Aktionismus, der japanischen Gutaj-Group oder den performativen Positionen der südamerika141 Philip Ursprung, Grenzen der Kunst, a. a. O., S. 38.

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nischen Avantgarde. Als schlagendes Beispiel für das „stillschweigende Übergehen der Geschichte des Happenings, also eines von Sammlern, Händlern und Konservatoren vernachlässigten Bereichs“, führt er den Umstand an, dass in der 1993 in Berlin gezeigten Ausstellung „Amerikanische Kunst im 20.  Jahrhundert“ Happening und Fluxus lediglich in einem Katalogtext erwähnt wurden und im Ausstellungsbereich selbst mit keinen Exponaten vertreten waren.142 Diese abstinente Haltung ist im Großen und Ganzen auch in Sammlungen und in der musealen Vermittlung zu beobachten. Allerdings dürfte die von Ursprung stark betonte Anpassung der Pop- und Minimal-Art an die Verwertungslogik des amerikanischen Kunstmarkts – beispielsweise nennt er die Attitüde, große leere Räume mit wenigen Objekten repräsentativ zu füllen – nur einer der Gründe für den „Triumph“ dieser Kunstformen gewesen sein. Auch die von ihm ins Feld geführten Schwierigkeiten der Museen und Ausstellungsmacher mit einem ephemeren und evasiven Materialbestand scheinen mir nicht der eigentliche Grund für eine fehlende Vermittlungsinitiative zu sein. Viel wesentlicher und ursächlicher für diese in unzähligen Überblicksausstellungen der späten 1980er- und 1990er-Jahre immer wieder perpetuierte Entwicklung ist das Fehlen kunsthistorischer Theorieansätze. Die gegenüber aktuellen Ausdifferenzierungen des Feldes oft resiliente Kunstgeschichte hat es bisher weitgehend verabsäumt, durch das plausible und stringent argumentierte Herausarbeiten historischer Genealogien, die bis in die Anfänge der modernen Kunst zurückreichen, die Basis für eine neue Sichtweise auf die Entwicklungen der Neo-Avantgarden zu legen. Der politische Zusammenbruch Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat auch hier insofern Auswirkungen gezeigt, als eine bisher geschriebene Geschichte der Entwicklungen großteils durch Brüche und weniger durch die Darstellung von Kontinuitäten geprägt war. Die dabei innerhalb der historischen Erzählung entstandene Lücke wurde von der amerikanischen Theoriebildung ab den 1950er-Jahren mit dem Konflikt um die Konzepte von Modernism und Postmodernism bis zur Behauptung von „Geschichtslosigkeit“ und dem „Ende der Kunstgeschichte“ gefüllt und damit erst die Voraussetzungen für eine Entwicklung geschaffen, die hauptsächlich durch Dynamiken von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde. Im Gegensatz dazu möchte ich mit meiner These einer Kunst, die bis heute von den Parametern der Avantgarde geprägt ist, ein alternatives und inte-grales Modell vorlegen, in dessen Zentrum das Herausbilden, Begreifen und Erleben neuer 142 Ebd., S. 39.

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räumlicher Parameter steht. Vor allem weil die theoretische Auseinandersetzung mit dem Raum und die Ausarbeitung neuer Raumkonzepte zweifellos die Wahrnehmungsparadigmen unserer modernen Kultur entscheidend mitgestalten. In dieser Debatte erscheinen vermeintlich kontradiktorische und einander exkludierende Modelle wie die auch heute noch nachhaltig wirkenden Diskurse um Modernismus und Postmodernismus bzw. um die ästhetischen Konzepte von Indifferenz und Immanenz neutralisiert und aufgehoben. Positionen, die nicht kompatibel erscheinen, wie Happening und Fluxus bzw. Minimal- und Concept-Art, lassen sich als Arbeit an ein und demselben Thema, nämlich dem Zusammenhang von Performanz und Raum, darstellen. Dabei ist vor allem auf die unterschiedlichen Lesarten von räumlichen Parametern hinzuweisen und auf die Tatsache, dass sich Raum durch einen umfassenden Hang zum Performativen nicht mehr als statisches Konstrukt, sondern als liquide, fluktuierende, modellierbare Architektur im Sinne geografischer oder – wie es bei Christine Buci-Glucksmann heißt – kartografischer Strukturen manifestiert. In der Erarbeitung einer kunsthistorisch anwendbaren Terminologie orientiere ich mich an der Position des amerikanischen Kunst- und Architekturhistorikers Anthony Vidler. Ich stimme mit seiner Annahme überein, dass es vor allem in den 1950er- und 1960er-Jahren in Bezug auf den „uneingeschränkten und ungehinderten Modernismus“ zu einer Gegenbewegung kam, die „zu einer Konzentration auf partikularere Formen des Raumes, zur Entstehung von Gegenüberstellungen von ,Ort‘ als Gegensatz zu ,Raum‘ in Architektur und Kunst und Theorie“143 geführt hat. Diese von Vidler konstatierte Entwicklung inaugurierte einen Prozess, dessen Ziel nicht mehr die ausschließliche Konzentration auf eine unendliche Erweiterung abstrakter Räume war, sondern die Markierung besonderer Orte, des Ortes der Kultur per se sowie die Betonung individueller Kulturen in individualistischen Räumen – eine, wie Vidler formuliert, „anthropologische Sicht räumlicher Differenzierung“. Er charakterisiert in komprimierter und inhaltlich verdichteter Form jenes Phänomen, das ich als performative Wende bezeichne. Performanz entspricht im Kontext der bildenden Kunst dem von Martina Löw in ihrer soziologischen Analyse von Raumkonstitution herausgearbeiteten Prozess des Spacings.

143 Vgl. dazu  : Bauen, Wohnen, Fürchten. Interview mit Anthony Vidler von Juliane Rebentisch und Beate Söntgen, in  : Texte zur Kunst, 12, 47, Berlin 2002, S. 53–61.

Differenzierungen von Ort und Raum

Differenzierungen von Ort und Raum Für den hier versuchten skizzenhaften Entwurf der Methodologie einer auf den Raum konzipierten Kunstgeschichte ist die Unterscheidung zwischen Ort und Raum fundamental. Auch Löw bezeichnet diese terminologische Differenzierung als „wesentliche Begriffsbestimmung“ und bietet für Orte folgende Definition an  : „Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert oder, wie es Jörg Brauns ausdrückt, im Ort ist ,das Eigene, Unverwechselbare, Nichtvergleichbare aufgehoben‘. Dieses Eigene hat auch Albert Einstein vor Augen, wenn er den Ort definiert als ,einen mit einem Namen bezeichneten (kleinen) Teil der Erdoberfläche‘. Orte entstehen im Spacing, sind konkret benennbar und einzigartig. Die Benennung forciert die symbolische Wirkung von Orten.“144 Gleichzeitig verweist Löw aber auch auf die Möglichkeit, Räume im Unterschied zum Ort mit einer umfassenderen Bedeutung, wie bereits ausgeführt, durchaus auch im Sinne von Atmosphären, zu konstituieren. Im Sinne von soziologischer Relevanz definiert sie die „Konstitution von Räumen durch (strukturierte) (An)Ordnungen von sozialen Gütern und Menschen an Orten“. Performanz ist demnach, „wenn Räume im Handeln geschaffen werden, indem Objekte und Menschen synthetisiert und relational angeordnet werden“.145 Sie verweist darauf, dass der Raum als Totalität gesehen werden kann, es aber genauso möglich ist, dass er sich als per se nicht sichtbares Gebilde manifestiert, das zwar durch soziale Güter und deren Platzierung fassbar, als ganzheitliches Konstrukt aber nicht mehr optisch erkennbar, sondern nur mehr „stofflich wahrnehmbar“ ist. Löw spricht hier von der Möglichkeit, „den ein- und ausschließenden Charakter von Räumen und auch das Ende von Räumen zu spüren“.146 Hier kommen wir zu einer Phänomenologie des Raumes, die beispielsweise für den Bereich der raumbezogenen Kunst oder auch das Genre der Rauminstallation von Bedeutung ist. Sowohl Martin Heidegger als auch die Theorie des deutschen Phänomenologen Hermann Schmitz sprechen davon, dass Räume für den Menschen intuitiv gestimmt sind. Aus dieser Tatsache leitet Löw ihre Definition vom atmosphärischen Raum ab  : Wenn eine Fußgänger-unterführung angsterregend, ein Arbeitszimmer nüchtern und ein Sonnenuntergang über dem Meer romantisch wirkt, so sei dies auf dessen Gestimmt144 Martina Löw, Raumsoziologie, a. a. O., S. 198. 145 Ebd., S. 204. 146 Ebd.

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heit zurückzuführen. Nun könnte man annehmen, daß Gestimmtheit nicht mehr ist als die Projektion von Gefühlen auf die umgebenden Räume, gäbe es nicht das Phänomen des ‚Umgestimmt-Werdens‘ durch Räume. Man betritt zum Beispiel hektisch ein kleines Geschäft, um noch schnell vor Ladenschluß die nötigen Einkäufe zu tätigen, und wird durch ruhige Musik, angenehme Gerüche etc. in eine Stimmung der Gelassenheit versetzt. Räume entwickeln demnach eine eigene Potentialität, die Gefühle beeinflussen kann. Diese Potentialität der Räume werde ich im Folgenden ,Atmosphäre‘ nennen.147

Für unseren Zweck ist entscheidend, dass die von Löw hier festgehaltene Potenzialität des Raumes ursächlich mit direkten Wahrnehmungsprozessen zu tun hat, die erst in ihrer gesamtheitlichen Wirkung, also über das duale Sehen hinaus, eine vollständige Perzeption des im Raum sich entfaltenden Kunstwerks und seiner Bestandteile ermöglicht. „Atmosphären sind demnach die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung.“148 Die hier von Löw vorgenommene Kategorisierung von raumspezifischen Möglichkeiten lässt sich gut anhand einer auf Video festgehaltenen Performance von Bruce Nauman verdeutlichen (vgl. Abb. 12). In „Slow Angle Walk (Beckett Walk)“ aus dem Jahr 1980 bewegt sich der Künstler insgesamt genau eine Stunde lang über die Konturen eines auf dem Boden seines Ateliers markierten Quadrats. Nauman wählt für die Art der Bewegung die Form eines verfremdeten, abgezirkelten Ganges, der die Geometrie des Raumes und des am Boden markierten Quadrats aufnimmt. Dies hat zur Folge, dass die Geste der Vorwärtsbewegung die gewohnte Art des Gehens verfremdet. Weiters bewirkt die exzentrische Körpermotorik durch die feststellbaren Ermüdungserscheinungen eine auf den Raum übergreifende anthropomorphe und affektive Dimension. Dieser Effekt ist auch auf dem Videotape, auf dem diese nur einmal aufgeführte Performance dokumentiert ist, deutlich feststellbar. Sabine Flach weist darauf hin, dass „die Energie, die durch diesen Bewegungsprozess erzeugt wird, nicht mehr die eines Körpers [ist], sondern zu einer Qualität des Raumes [transformiert wird]“.149 Nauman selbst bezeichnet seine Arbeit als performative Studie zu raumkonstituierenden Prozessen, und er verdeutlicht seinen Ansatz anhand einer von ihm gemachten Alltagsbeobachtung  : 147 Ebd. 148 Ebd., S. 205. 149 Sabine Flach, Körper-Szenarien, a. a. O., S. 129.

Differenzierungen von Ort und Raum

Es ist wie eine Frau, die ich einmal in einem Restaurant sah. Sie setzte sich auf einen Stuhl, ließ ihr Feuerzeug auf den Tisch fallen, warf ihre Handtasche dazu – so daß sie alleine, mit allem, was ihr so gehörte, einen Riesenanteil des Raumes in Anspruch nahm.150

Naumans frühe performative Arbeiten sind von diesem experimentellen Gestus und seinem Interesse an grundlegenden Strukturen gekennzeichnet. In seinem Frühwerk verbindet sich ein Kunstbegriff, der nach wie vor mit dem Begriff „Primary Structures“ sehr gut charakterisiert ist, mit den Selbsterfahrungstendenzen, die sich aus der umfassenden Analyse und Dekonstruktion von repräsentativen Positionen in der Kunst – sei es im Bereich der Bildkunst oder der skulpturalen Kunst  –  gebildet haben. Alle in der Isolation des Studios realisierten Experimente, beispielsweise „Bouncing Two Balls between the Floor and the Ceiling with Changing Rhythms“ (1968), „Walking in an Exaggerated Manner around the Perimeter of a Square“ (1968), „Stamping in the Studio“ (1968) oder „Wall-Floor Positions“ (1968), die durch Film- bzw. Videodokumentationen erhalten sind, handeln von Prozessen der Subjektkonstitution in der Auseinandersetzung mit Raumdimensionen und demonstrieren exakt jenes performative Element des „Placing“, das Löw als grundlegend für die Herstellung von Räumen bezeichnet. Die ins Zentrum der Kunsterfahrung rückende Subjekt-Raum-Konstituierung ist anhand der minimalistisch verknappten performativen Konstrukte Naumanns besonders exemplarisch zu demonstrieren. Bemerkenswert dabei ist, dass es Nauman innerhalb der Entwicklung seines Gesamtwerks gelungen ist, Strukturen des Minimalismus zu durchbrechen und die performativen Arbeiten mit subjektiven, ja teilweise narrativen Inhalten aufzuladen. Damit wirkt sein Werk wie die harmonische Synthese der transkontinentalen Dispute zwischen Postmoderne und der Kontinuität modernistischer Genealogien bzw. Konzepten von indifferenter und immanenter Ästhetik. Als Folge der primären Strukturentwicklung steht nicht mehr das Objekt im Zentrum der Analyse, sondern das relationale Verhältnis von Raum und Subjekt, dessen Performanz sich allenfalls im Objekt materiell konkretisiert und daran abzulesen ist. Die Gewichtung liegt daher klar auf einem Prozess, der weit über das Kunstobjekt hinausführt und den ästhetischen Charakter nicht mehr am Objekt festmacht, sondern an den hinter den Objekten stehenden performativen Gesten. 150 Zitiert nach Coosje van Bruggen, Bruce Nauman, Basel 1988, S. 115.

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Ephemeres Material als Gegenstand der Kunstgeschichte In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde von der am Objekt affirmativ festhaltenden Kunstgeschichte immer wieder behauptet, dass die performative Kunst sich prinzipiell gegen die Fortführung des Projekts einer ästhetisch autonomen Kunst wende. In Wahrheit verlässt die Kunst auch nach der performativen Wende zu keinem Zeitpunkt das Feld der Ästhetik, sondern hält selbst in den exponiertesten Werkpositionen an der Konzeption ihrer ästhetischen Geschlossenheit bzw. einer graduellen Geschlossenheit des Kunstobjekts fest. Unter Geschlossenheit verstehe ich, dass das Kunstobjekt trotz all seiner performativen Aufladung und Kontextualisierung immer auch einen ästhetischen Eigenwert haben kann. Allerdings hat sich im Zuge der Expansionsdynamik der Moderne zwischen Objekt und Werkbegriff eine interpretative Hohlstelle aufgetan, in die die performative Geste hineinstieß. Die definitorische Festlegung des Kunstbegriffs endet somit nicht mehr mit dem abgeschlossenen, vollendeten, autonomen Kunstobjekt  ; wir haben es vielmehr mit einem Prozess der Ephemisierung der gültigen Objekte zu tun. Während auf der einen Seite des Spektrums die Autonomie des Objekts sich in materieller Konkretion manifestiert, beispielsweise in Form eines entsprechend gerahmten Bildes oder einer auf dem Sockel präsentierten Skulptur, kann sich auf der anderen Seite im Bereich des Konzeptiven die Ästhetik einer Idee zeigen, deren flüchtige mediale Vermittlung zu Recht Anspruch auf autonomen Status erheben kann. Im Hinblick auf eine neue Determination des Werkbegriffes wurde bereits frühzeitig durch Duchamps Readymade ein paradigmatischer Wechsel vorbereitet, der vor allem im Zuge der expandierenden Medien-Environments der 1950er- und 1960er-Jahre aufgegriffen und kritisch analysiert wurde und die Möglichkeiten des ästhetischen Gestus stark erweiterte. Während Duchamps konzeptuelle Intervention aber noch am materiellen Objekt festgemacht und mit Titel und Signatur versehen ist, bewegt sich die Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre in einem radikaleren Raum der medial ephemeren Werke. Viele von Bruce Naumans oder, mehr noch, Dan Grahams Arbeiten sind nur mehr in Form medialer Vermittlungsdispositive wie Film oder Video existent. Die Analyse der Möglichkeiten und Wirkungsweisen der Medien selbst wird zu einem wesentlichen Thema  ; dem stehen bei Joseph Beuys, Marina Abramovic oder viel später beispielsweise bei Matthew Barney Objekte gegenüber, die ursächlich mit den performativen Konzepten verknüpft sind, aus denen sie

Ephemeres Material als Gegenstand der Kunstgeschichte

hervorgehen. Sie erheben allerdings innerhalb dieser Synthese sehr wohl auch den Anspruch auf Autonomie und damit auf die Existenz einer ihnen eigenen repräsentativen Ästhetik. Zwischen diesen hier beispielhaft herausgehobenen Positionen hat sich ein weiter subjektiv-unorthodoxer Bereich der Differenzierung geöffnet, und gerade die sich hier ausbildenden vielfältigen Strukturen und Formen sind es, die für die Kunstgeschichte ein reiches analytisches Feld, aber auch eine große interpretative Herausforderung darstellen. Eine Kunstgeschichte der performativen Wende muss, wenn es um das Thema der ephemeren Materialien und die unmittelbare Entstehungsgeschichte der Performatisierung in der bildenden Kunst geht, auf Allan Kaprows frühen Text The Legacy of Jackson Pollock verweisen, in dem grundlegende, erst später tatsächlich realisierte Entwicklungstendenzen bereits vorweggenommen sind. Auch heute ist Kaprows Konzeption des Happenings und vor allem seine Eigendefinition als Künstler-Vermittler für eine weniger objektbezogene als vielmehr prozessorientierte Kunstgeschichte der performativen Gesten immer noch eine Herausforderung. Auf diese Extremposition verweist Philip Ursprung, wenn er sich auf die Diskussion um eine Einbeziehung der Texte Kaprows in sein künstlerisches Œuvre bezieht. Kaprows Forderung, „den Text als gleichberechtigtes Medium innerhalb eines künstlerischen Feldes“ aufzufassen, sei aufgrund der vorhandenen Interferenzen zwischen seinem kunsthistorischen und dem künstlerischen Œuvre gerechtfertigt.151 Kaprow kommt in seiner zukunftsweisenden Interpretation von Pollocks’ Drippings als einer Geste, welche die flache Leinwand radikal in den Raum erweitert, zu seiner berühmten Feststellung  : Pollock, as I see him, left us at the point where we must become preoccupied with and even dazzled by the space and objects of our everyday life, either our bodies, clothes, rooms, or, if need be, the vastness of Forty-Second Street. Not satisfied with the suggestion through paint of our other senses, we shall utilize the specific substances of sight, sound, movements, people, odors, touch. Objects of every sort are materials for the new art  : paint, chairs, food, electric and neon lights, smoke, water, old socks, a dog, movies, a thousand other things that will be discovered by the present generation of artists.152

Zwei wesentliche Punkte formuliert Kaprow in seinem bereits 1957 – also zehn Jahre nach Pollocks erstem Dripping – entstandenen Schlüsseltext  : zum einen 151 Siehe dazu  : Philip Ursprung, Grenzen der Kunst, a. a. O., S. 366. 152 Vgl. dazu  : Allan Kaprow, The Blurring of Art and Life, Berkley 1996, S. 7–9.

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das im amerikanischen Kontext nach dieser apodiktischen Geste Pollocks nicht mehr von der Hand zu weisende Primat des Raumes und zum anderen den in der Flüchtigkeit des Performativen verankerten Status der Einmaligkeit bzw. Vergänglichkeit. Ein für die objekt- und materialbezogene bildende Kunst entscheidender Wechsel, der allerdings, so ephemer und alltäglich die für das Placing verwendeten Elemente auch sind, keineswegs zur von Michael Fried festgestellten sekundären Kulissenhaftigkeit des Kunstwerks wurde. Ursprung verweist auch auf die Tatsache, dass „um 1970 die Verschiebung der Hierarchie künstlerischer Medien ein zentrales Thema war“.153 Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass sowohl der Kunstmarkt als auch die Vermittlungsdispositive des Ausstellungswesens die medialen Entwicklungen in den bildenden Künsten, die mit der performativen Wende einsetzten, weitgehend absorbiert haben. Mit den neuen technischen Möglichkeiten der Digitalisierung von empfindlicher Film- und Videokunst ist nun auch eine Vermittlungskontinuität im Bereich von Film- und Videomaterial gesichert und das Selbstverständnis der Museen und Sammlungen verändert sich vom White Cube hin zum Container für ephemeres Material. Der Begriff des Ephemeren steht nicht nur für „vorübergehend“ und „kurzfristig“, sondern umfasst auch die periodische Schrift, das Tagebuch, das prozessuale Festhalten, ja sogar das Voraussehen von Ereignissen. Über diesen entscheidenden Parametern wirkt die performative Wende auch auf das vermeintlich statische Medium der Malerei. Eine Entwicklung, die sich sehr gut am Werk Gerhard Richters festmachen lässt, der über sein vom gemalten Bild dominiertes Werk sagt, dass es ihm nicht um die Malerei gehe.154 Richter hat für die Position, die auch das gemalte figurative Bild innerhalb der Performatisierung des Kunstwerks einnehmen kann, maßgebliche Kriterien gesetzt, und man muss sich angesichts der Bedeutung des zentral in seinem Werk stehenden Materialcontainers „Atlas“ die Frage nach den strukturellen Parametern und der heutigen Position des gemalten Bildes stellen. Über den „Atlas“ hinaus ist aber auch festzuhalten, dass am Beginn seines Werkes unter der im deutschen Kontext ironisch gewendeten Betitelung „Kapitalistischer Realismus“ performative Projekte standen, für die Richter sogar den Terminus 153 Philip Ursprung, Grenzen der Kunst, a. a. O., S. 369. 154 Vgl. dazu   : Unser Mann in Venedig. Fragen an Gerhard Richter, Bonn, Deutsche Zeitung /  Christ und Welt vom 14. 4. 1972  ; zitiert nach  : U. Loock / D. Zacharopoulos, Gerhard Richter, München 1985, S. 8.

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„Happening“ verwendet hat.155 In Anlehnung an den für die offizielle DDRKunst stehenden Begriff „Sozialistischer Realismus“ realisierten Konrad Lueg (Konrad Fischer), Sigmar Polke und Gerhard Richter 1963 in einem Düsseldorfer Kaufhaus die Aktion „Demonstration für den Kapitalistischen Realismus“. Ähnlich wie die frühe stark performativ besetzte Pop-Art eines Claes Oldenburg, setzen sich diese Arbeiten mit der medial geprägten Bildsprache der Konsum- und Lebensgewohnheiten der 1960er-Jahre auseinander. Wie kann man nun, auf der Grundlage dieser Überlegungen, den Stellenwert des gemalten Bildes im Gesamtkontext des Richter’schen Werks bestimmen  ? Einerseits ist festzustellen, dass den im traditionellen kunsthistorischen Kontext als autonom zu lesenden Bild-Objekten eine breite internationale Beachtung zuteilwurde. Andererseits präsentierten die Kurator(inn)en der documenta X sein Werk als einen der wesentlichen historischen und strukturellen Bezugspunkte eben nicht mit den bekannten Bildern, sondern vielmehr durch eine Gesamtpräsentation des damals aktuellen Status der sich ständig erweiternden Materialsammlung seines „Atlas“. Richters Position steht somit in gewisser Weise stellvertretend für eine Diskussion um die Möglichkeiten einer neuen Kontextualisierung des gemalten Bildes im Zuge der Mediendiskussion, die durch die performative Wende ausgelöst wurde. Die hier angedeuteten knappen Analysen der Positionen Kaprows, Naumans oder Richters zeigen die Vielfalt und Diversifikation der von Künstler(inne)n in den letzten Jahrzehnten gesetzten Gesten. Wie auch immer sich diese ästhetischen Realisierungen formal und medientechnisch manifestieren mögen  : Immer geht ihnen die apriorische Entscheidung des Künstlers / der Künstlerin voraus, dass die Gesten unter dem Prätext der Kommunikabilität gesetzt wurden, sodass sie auf die eine oder andere Weise den Rezipient(inn)en übermittelt werden können. Selbst wenn, wie in vielen Performances oder Aktionen, die nichtmimetische Geste nur unter den Bedingungen der Einmaligkeit vollzogen werden konnte, so ist heute klar, dass deren mediale Übersetzung untrennbar mit dem Kunstwerk verbunden ist und daher auch der Form der reinen Dokumentation als visuell abstrahiertem Abzug eines stattgehabten Ereignisses die Qualität eines potenziell autonomen Kunstwerks zukommt.

155 In  : Rolf-Gunter Dienst, Interview mit Gerhard Richter, Katalog der Biennale Venedig, 1972, S. 20.

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6. Körperräume, institutioneller Raum, sozial-kommunikativer Raum, exterritorialer Raum Während sich die alltägliche Tätigkeit eines praktischen Spacings im Verhältnis von Objekten und Körpern unter den Bedingungen einer zweckgerichteten Handlungssituation prozessual und räumlich entfaltet, werden in Wissenschaft und Kunst Planungs- und Durchführungsprozesse von raumkonstituierenden Handlungen entworfen, die noch nicht „mit dem praktischen Spacing abgestimmt sind“. Martina Löw sieht diesen von praktischen bzw. repräsentativen Zusammenhängen abgelösten Prozess „in erster Linie von Vorstellungen und Erinnerungen“ bestimmt.156 Aus der performativen Interaktion zwischen Gesten der Vorstellung und Gesten der Erinnerung – man könnte auch sagen  : der Kreation und der Tradition – werden neue Entwicklungen experimentell antizipiert und fließen im günstigsten Fall in die gesellschaftlichen Strukturen ein. Indem die Kunst in der Moderne die vom euklidischen Denken dominierten Raumvorstellungen verlässt, die ihr über Jahrhunderte zugewiesen wurden, erobert sie für sich innerhalb der umfassenden, gesellschaftspolitisch determinierten Episteme Möglichkeiten, neue Handlungsräume zu entwickeln. Im Zentrum dieses Prozesses stehen der Körper und seine Perzeptionsmöglichkeiten. Eine der wesentlichsten paradigmatischen Veränderungen der Raumkonstituierung in der bildenden Kunst ist der Umstand, dass die Avantgarde die mit der bildenden Kunst ursächlich verbundene Fetischisierung des Blicks relativiert und Modelle neuer ganzheitlicher Raumwahrnehmungen konzipiert, experimentell erprobt und schließlich künstlerisch realisiert hat. Die Voraussetzungen dafür wurden durch die Ausdehnung der künstlerischen Energien in den Raum und die dafür notwendigen, den Körper betreffenden Handlungsinstanzen geschaffen. Deshalb steht im Kontext einer Analyse der Entwicklungen der bildenden Kunst nach der performativen Wende das The156 Martina Löw, Raumsoziologie, a. a. O., S. 225.

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ma des Körpers und seiner Raumpräsenz im Zentrum – wobei einen wesentlichen historischen Bezugspunkt das Werk von Antonin Artaud darstellt. Dieses Korpus demonstriert erstmals radikal, wie die Kunst an der Relativierung eines Körperbilds arbeitet, das sich von der Vorstellung des geschlossenen Körpers herleitet. Löw beschreibt, wie sich diese Definition parallel zur ökonomischen Klassifikation des Körpers und zur Entwicklung der Chirurgie ausbildet und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hegemonial wird. „Die Vorstellung, daß ein Körperinneres wie ein verschlossenes Behältnis klar von einem Körperäußeren zu unterscheiden ist, wird ab dem 17., 18. Jahrhundert zur bis in die heutige Zeit andauernden Selbstverständlichkeit.“157 Während jedoch in den klassischen Avantgarden, vor allem im Kubismus und im Surrealismus, das Thema der Relativierung angesichts der gewaltigen Irritationen infolge der technologischen und gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen, mit denen sich das moderne Individuum in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts auseinandersetzen musste, noch weitgehend im Rahmen des übertragenen Kanons dualistischer Distanzierung und auf der repräsentativen Bildfläche abgehandelt wurde, kam es im Zuge der performativen Wende zu grundlegenden Änderungen. Löw stellt fest, dass „die theoretischen Versuche, Körper neu zu definieren, viele Ähnlichkeiten mit den Versuchen, heute Raum zu definieren“,158 aufweisen. Körper würden zunehmend nicht mehr als abgeschlossene, sondern als permeable, sich im Austausch befindliche Systeme gedacht. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass sich in der urbanen westlichen Welt ein Körperverständnis ausbildet, das von den Prinzipien zentralistischer Kontrolle und der Massenproduktion des „fordistischen Körpers“ abrückt und alternative Modelle formuliert, die sich an der kommunikativen Logik und (schein)individuellen Diversifikation von sozialen Netzwerken oder an medizinisch-wissenschaftlichen Modellen wie Immunsystemen orientieren. Löw verweist auch darauf, wie solche paradigmatischen Verschiebungen mit dem Auf brechen bisher selbstverständlicher Identitätskonstruktionen verbunden sind  : So wird beispielsweise der Körper zunehmend nicht mehr als unhinterfragte, biologische Basis einer eindeutig definierten, bipolaren Geschlechterordnung gesehen. Ein emanzipatorischer Prozess, den die bildende Kunst sowohl im Hinblick auf Positionen der klassischen Avantgarde, vor allem aber in ihren performativen Entwicklungen seit den 1960er-Jahren maßgeblich mitgestaltet hat. 157 Ebd., S. 117. 158 Ebd., S. 128.

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Die Implementierung des Körpers im Zentrum der Diskussion um die Erweiterung der Kunst in den Raum ist ein Thema, an dem sich bis heute leidenschaftliche theoretische Debatten und provokante Entwicklungen in der Kunst entzündet haben. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden der Körper und seine Inskriptionen als Aktionsfeld emanzipatorischer gesellschaftlicher Bewegungen entdeckt. Sowohl in der Aufarbeitung der totalitaristischen Ideologien, die zu den politischen Katastrophen des 20.  Jahrhunderts geführt hatten, als auch im Rahmen der feministischen Bewegungen wurde der Körper, der in subjektiv besetzten Räumen agierte, zum performativen Trägermedium sui generis. Am Körper machte die Kunst die Probe aufs Exempel und entwickelte ein gestikularisches Repertoire, das vor allem die Möglichkeiten der Institutionen herausforderte und darüber hinaus sogar ihre gesellschaftliche Funktion und Sinnhaftigkeit infrage stellte. Die Folge war eine zunehmende Kritik an der institutionellen Logik, die vor allem im Zuge der performativen Wende zu einem kritischen Diskurs und zu einer potenziellen Loslösung der Kunst von den staatlich vorgegebenen Norminstanzen der Sammlung, Vermittlung und Lehre führte. Drei Hauptstrategien werden dabei deutlich  : erstens die Weigerung vieler Künstler / -innen, im Zuge der Performatisierung „präsentationswürdige“ Objekte herzustellen. Der zunehmend ephemere Charakter der Kunstobjekte führte zu einer Subversion und Dekonstruktion institutionell vorgegebener Parameter. Dies bewirkte eine breit geführte Debatte, in deren Folge sich Autoritätsverhältnisse und Strategien der Institutionen von innen heraus zu verändern begannen. Eine zweite Strategie manifestierte sich in verstärkten Subjektivierungstendenzen der Künstler / -innen  : Mehr als je zuvor und im Gegensatz zu ritualisierten Stilvorgaben wurden individuell verschlüsselte Sprachen entwickelt, die Resilienz gegenüber den Analysen der theoretischen Vereinnahmungssysteme bewiesen. Man versuchte, vor allem für die Kunstgeschichte als einem potenziell orthodoxen Analysesystem Grenzen zu ziehen und die Disziplinen zu einer Reformulierung ihrer theoretischen Ansätze zu zwingen. Drittens entwickelte die Kunst Formen, die in ihrem konzeptuellen Anspruch über die Möglichkeiten der musealen Institutionalisierung und ihrer Gebundenheit an den mehr oder weniger leeren Raum (White Cube) weit hinausreichten. Diese maßgebliche Erweiterung erfolgte durch direkt einwirkende Kommunikation in eigens dafür geschaffenen analogen oder digitalen Aktionsfeldern. Nachdem die Kunst heute mehr denn je in souveräner Weise gesellschaftlich interagiert, situiert sie sich häufig im Zentrum politischer Auseinander-

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setzungen und versucht, aktiv und emanzipatorisch in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse einzugreifen. Am nachhaltigsten drückt sich dieser Ansatz in der Kombination mit Architektur, Städteplanung und ökologischen Modellen aus. Gleichzeitig beharrt die Kunst aber auch im Sinne ihrer literalistischen Ansatzpunkte innerhalb der Neo-Avantgarden auf der Möglichkeit, alternative Räume zu besetzen oder auf ihrem Recht auf Entwurf und Konstruktion exterritorialer Räume, in denen sie gleichsam unter Laborbedingungen autonome Erfahrungsmodelle erproben kann. Die bildende Kunst kann dabei heute insofern als Paradigma der zeitgenössischen Kultur gelten, als bei diesen experimentellen Versuchsanordnungen homogene und expansive Perspektiven in ein performatives Spannungsverhältnis gesetzt werden. Seit den Neo-Avantgarden hat sich ein Metakommentar zur Gesamtkultur ausgebildet, der ihren transitorischen Charakter kontinuierlich ins Bewusstsein hebt. Denn „cultural performance“ und „social drama“ meint im Anschluss an Arnold van Gennep159 nichts anderes, als dass die Performance entweder einen Zustand vorwegnimmt beziehungsweise einübt oder aber dass sie unsere Kultur als eine Übergangskultur und gesellschaftliche Transformationsphase markiert. In einer solchen Übergangszeit wird mit Bedeutungsmöglichkeiten und Selbstentwürfen experimentiert, um so neue Sinn- bzw. Werthierarchien auszubilden. In der Folge entsteht wiederum eine Phase stabiler disziplinärer Identität. Die geforderte rhizomatische Offenheit, die prinzipielle Durchlässigkeit einer Metakultur der Globalisierung haben aber auch ihren Preis. Homi K. Bhabha verweist darauf, wenn er formuliert, dass „unser Dasein heute von einem finsteren Gefühl des Überlebens geprägt [sei], einem Leben an den Grenzen der ‚Gegenwart‘, für die es keinen anderen Namen als die geläufige und kontroverse Instabilität des Präfixes ‚post-‘ zu geben scheint  : Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus … etc.“ Für Bhabha leben wir in einer Art „fin de siècle“, einem „Moment des Übergangs, wo Raum und Zeit sich kreuzen und komplexe Konfigurationen von Differenz und Identität, von Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen, Einbeziehung und Ausgrenzung erzeugen“.160 Dabei stellt er ein „Gefühl von Desorientierung, eine Störung des Richtungssinns, eine erkundende, rastlose Bewegung“ fest – eine atmosphäri159 Turner folgt Arnold van Gennep in dessen Modell der Übergangsriten. Diese regeln den Status- oder Positionswechsel von Individuen innerhalb von Gesellschaften und sichern so den Fortbestand der Gemeinschaft. 160 Vgl. dazu  : Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Stauffenburg-Verlag 2007, S. 1 ff.

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sche Diagnose, die auch auf die künstlerischen Kooperationsarbeiten von Dorit Margreiter und Roberta Lima unter dem Dachbegriff „synchronicity“ für die Biennale in Kairo 2008 anzuwenden wäre.161 Die Gemeinschaftsarbeiten der österreichischen und der brasilianischen Künstlerin zeichnen sich durch eine komplexe Vielschichtigkeit aus, mit der auf die Synchronizität des zeitgenössischen, mediengestützten Alltags kritisch reagiert wird. Alles ist in jedem Augenblick präsent – nicht die zeitliche Abfolge, das Nacheinander ist maßgeblich, sondern die Simultaneität der Ereignisse. Jedes einzelne Element ist zeitecht oder zeitnah verknüpft mit Sachverhalten, die direkte Auswirkungen auf alle anderen Ereignisse und Bilder haben. Beide Arbeiten stehen im Gegensatz zu einer Kulturtradition der linearen Erzählungen, von traditionellen Narrativen mit Anfang und Ende, einem Rhythmus aus Akzent und Pause, einer geschlossenen Form, eingefasst zwischen zwei Buchdeckeln oder zwischen Exposition und Coda. Der Titel „synchronicity“ lässt sich in seine drei assoziativ verknüpften Bestandteile Synthese, Chronos und City zerlegen und liefert im übertragenen Sinn die Koordinaten für die Präsentation zweier künstlerischer Pole, die sich, grundsätzlich voneinander unabhängig, für den Zeitraum dieses gemeinsamen Projekts auf einen Dialog einlassen. Dies ist vor allem deshalb möglich, weil bereits der jeweils zugrunde liegende Werkbegriff durch sein performatives und prozessuales Selbstverständnis die Analyse von Kommunikation herausfordert. Der Hinweis auf C. G. Jungs Theorie von den Archetypen und dem Vorhandensein eines kollektiven Unbewussten als Teil der menschlichen Erfahrungs- und Wissensgeschichte kann für die Annäherung an „synchronicity“ hilfreich sein. Denn synchron bedeutet in diesem Zusammenhang das zufällige Aufeinandertreffen von nicht kausal verknüpften Ereignissen. Performanz, Synchronizität und die Beschäftigung mit Erinnerung im Sinne von Rewriting History und deren kritische Verortung stellen die Koordinaten zur Verfügung, auf denen sich die Arbeiten beider Künstlerinnen im Sinne einer elaborierten Ars combinatoria treffen können (vgl. Abb. 16). Roberta Limas Performance „Please help yourself “ und ihre Einbindung in Margreiters Setting der Rauminstallation „Aporia“ in Kairo ist ein Beispiel, wie Kunst in Form einer komplexen metaphorischen Geste die Eindrücklichkeit einer unmittelbaren empirischen Verankerung in einer fluiden Bewegung zwischen Verräumlichung und Verortung reaktiviert. 161 Cairo Biennale 2008, Österreichischer Beitrag, Kuratorin  : Felicitas Thun-Hohenstein, siehe dazu  : Felicitas Thun-Hohenstein (Hg.), synchronicity, Köln 2009.

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Was denken und spüren wir, wie reagieren wir, wenn sich das vermeintlich sichere Gefühl von stabiler Wirklichkeit verflüchtigt ? Wenn im Sinne von Baudrillards grundlegendem Frühwerk „Agonie des Realen“, in dem er den Grundstein für seine Theorie der Simulation legte, Wirklichkeit und ihre hyperrealen Spiegel- und Zeichenwelten ein und dasselbe zu sein scheinen, wenn die mediale Routine des Lebens in eine „Hölle des Immergleichen“ führt, dann unterscheidet nur noch ein dünner, immer weniger greif barer Faden die verschiedenen Arten der Wahrnehmung. Er trennt sie und markiert Bhabhas „zwischenräumlichen Übergang“, den „Nicht-Ort“, der die Identität, das kulturelle Selbstbild, den Denkraum als Wirkung der Differenz hervorbringt. Das Bewusstsein um die Realität der modernen Simulakra, im Gegensatz zur erlebnisprallen Archaik der Vormoderne, tendiert zum Verwischen der Unterscheidung zwischen Original und Kopie, zwischen Realität und dem Imaginären. Medien und ihre Inhalte vermischen sich, das Realitätsprinzip insgesamt kollabiert, Zeichen und Bezugssysteme interagieren in frei flottierender Bewegung. Vor diesem hier skizzierten kritischen Panorama muss die „Dokufabel“ des in Los Angeles lebenden Kulturtheoretikers Norman Klein, die einen der Ausgangspunkte für die filmische Installation „Aporia“ von Dorit Margreiter bildet, gelesen werden. Margreiter hatte Klein um 2001 getroffen, als dieser gerade „The Vatican to Vegas  : A History of Special Effects“ schrieb. Bei diesem Buch handelt es sich um eine illustrierte Reise durch die Kultur von fünf Jahrhunderten eines optischen Illusionismus und anderer Kunstwunder – eine Analyse der kulturellen Täuschungsmanöver, mit denen die tatsächlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse verdeckt wurden. Von der Renaissance bis hin zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 und den politischen Reaktionen auf die Ereignisse vom 11. September werden von Klein verblüffende Beispiele angeführt. Dorit Magreiter arbeitete damals mit der Kulturtheoretikerin und Soziologin Anette Baldauf an einem Projekt über fünf städtebauliche Extremsituationen zwischen Las Vegas und Dubai und bat den amerikanischen Kulturtheoretiker und Essayisten um einen Text, den dieser bezeichnenderweise mit dem Satz „Everything I tell you over the next hour will be a lie“ einleitete und den damit eröffneten gedanklichen Interferenzen mit der Fortsetzung „What I just said is too accurate for a lie. The only way to really lie is by telling the truth“ einen weiten Handlungsfreiraum zur Verfügung stellte. In dieser interpretatorischen Arena trifft sich Margreiters Werkansatz, der grundsätzlich fasziniert ist von kritischer Analyse und De-

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konstruktion vermeintlicher Allmacht architektonischer Konstrukte und der Dominanz der Mediokratie als Brennpunkten hierarchischen Denkens, mit Kleins politisch-analytischem Ansatz. Mit Margreiters „Aporia“ entstand ein installatives work in progress, das sich variabel entfaltet und in dessen Struktur für dialogische Auseinandersetzung Platz ist. Margreiters Film, in der Kairo-Variante der Installation auf eine frei im Raum abhängende transparente Glasscheibe projiziert, simuliert einen Fensterblick und entfaltet einen gemächlichen Bildfluss von Dokumentaraufnahmen, bei dem Kopien städtebaulicher Ikonen, wie beispielsweise dem beiden Megahotels „The Venetian“ oder des ,Luxor‘ in Las Vegas, vor dem Auge des Betrachters vorüberziehen. Der Film ist aus drei szenischen Elementen zusammengesetzt. Die dokumentarischen Bilder sind mit Szenen, bei denen Kleins Text vorgetragen wird, aber auch mit bildlosen Phasen, die mehrere Minuten dauern, bei denen die Projektionsfläche völlig schwarz bleibt und der narrative Bild- und Textstrang unterbrochen wird, gegengeschnitten (vgl. Abb. 17). Auf der dokumentarischen Ebene zwischen Starrheit und Bewegung angesiedelt, spiegelt sich Kleins Kommentar, der von einer zeitgenössischen Kultur im Zeitalter ihrer (technischen) Reproduzierbarkeit erzählt, in repräsentativen Aufnahmen, auf die sich ebendieser Text kritisch bezieht. Der Film manifestiert sich als poetische, akustische und visuelle Beschreibung über die Repräsentation von historischen Orten und die Fiktionalisierung von Geschichte. In die eher traditionellen Dokumentaraufnahmen werden kurze, nur wenige Sekunden dauernde Szenen geschnitten, die in ihrer Fremdheit den gemächlichen Bildfluss radikal interpunktieren  –  so explosiv wie platzende Kaugummiblasen. Es handelt sich um Sequenzen, in denen sechs wechselnde Protagonist(inn)en in einem Filmstudio-Setting den Text von Klein vortragen. Diese Aufnahmen repräsentieren eine gestische Ebene im narrativen Strang der Dokufabel, die als lebendiges Gedächtnis agiert und Kontinuität herstellt, ohne auf Abschluss und Vollendung zu zielen. Prononciert wird das ästhetische Verhältnis von Bühne, Subjekt und deren Konvergenzpunkt, dem Gedächtnis. Gleichzeitig kennzeichnet Margreiter das Gedächtnis als metatheatralische Reflexion der Szene und ihrer Rezeptionsweise. Unter Rekurs auf das intermediäre Feld zwischen den Körpern und Blicken der Schauspieler / -innen und Betrachter / -innen stellt Margreiter das Gedächtnis als genuin ästhetische Kategorie vor. Tatsächlich wird der Text aber nicht von verschiedenen Protagonist(inn)en vorgetragen, sondern von einer einzigen weiblichen Stimme, die dieses installative Raumgefüge aus dem Off beherrscht und

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scheinbar im Namen des Autors spricht. Als eine akusmatische Stimme im Sinne Michel Chions entzieht sie sich der Verkörperung und streift, im Gegensatz zur täuschenden, visuellen Repräsentanz der Protagonisten, „disloziert“, ortlos, nomadisierend durch die psychoakustische Topografie. Die Künstlerin entwickelt so ein audiovisuelles Setting, das zu einem raumgreifenden Spiel der Komplikation zwischen nicht lokalisierbarer Stimme und der visuellen Evidenz des Bildes, von Versprechen und Bezeugen wird. Die Stimme aus dem „Off “ spricht davon, dass alles erfunden sei. Kern der Erzählung ist aber dennoch der Versuch einer empirischen Beweisführung, dass das Gegenteil zutrifft. Margreiter geht noch einen Schritt weiter und erlaubt der Tonspur im Sinne einer „Pornographie der Stimme“ als „voice out“ ihre körperliche Abstoßung zu inszenieren, als „voice in“ eine visuelle Doppelgängerin zu „bewohnen“, um sich als „voice through“ dann von den Körpern und Mündern wieder abzulösen. Getrennt von körperlichen Wesenheiten, in denen sie vorübergehend zu einer physischen Manifestation findet, zirkuliert sie als freies Objekt im Raum. Hier tritt ein weiterer Aspekt der Stimme neben ihrer üblichen Funktion als „Trägerin von Bedeutung“ und als „Gegenstand ästhetischen Genusses“ in Kraft. Sie entspricht dem Lacan’schen „objet petit a“, dem „Objekt klein a“, dem immer schon unerreichbaren Objekt des unstillbaren Begehrens. Die Stimme gehört nicht mehr zum Körper, aber noch nicht zur Sprache, nicht mehr zum Subjekt, aber noch nicht zum Anderen, nicht mehr zum biologischen Leben, aber noch nicht zum sozialen Dasein. Sie befindet sich an einer Schnittstelle „zwischen-beiden“, an einem eigentlich unmöglichen „nonplace“. Die einmontierten schwarzen Sequenzen im Film – der sprichwörtliche Schwarzfilm – dienen dabei als Signal für die Abkoppelung der Stimme vom Visuellen. Es scheint darum zu gehen, das utopisch-illusionäre Versprechen der Erzählung an die ikonoklastische Bedingung seines akusmatischen Entzugs zu binden. Dieser Bruch mit traditionellen filmischen Erzählweisen zum einen, aber auch die Verbindung von Fiktion und Dokumentation ziehen sich durch Margreiters Arbeit und spiegeln ihr Interesse, Prozesse des Filmemachens zum integralen Bestandteil des Werkes zu machen und Transparenz der zugrunde liegenden Produktionsenergien anzustreben. Von der Dekonstruktion des Bildes über die Analyse poetischer Sprachstrukturen führt diese Verfahrensweise zu einer neuen performativen Qualität metaphorischer Überhöhung, die sich im Bereich nicht-mimetischer Gesten entfaltet und eindrücklich darauf verweist, dass die Welt nicht das Double

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ihrer Fiktion ist, sondern ihr visueller Effekt. Denn offensichtlich werden die im Film gezeigten Konstrukte wie „The Venetian“, „City Walk“ oder das ,Luxor‘ von Architekt(inn)en und Städteplaner(inne)n entworfen, die, ähnlich wie Drehbuchautor(inn)en der globalen Filmindustrie, szenische Settings planen, bei denen sich die Besucher / -innen als Teil einer visuellen Inszenierung von Macht wiederfinden. Hier gilt das Prinzip der Mediokratie, welche die Welt als Film imaginiert und die Realität zur wertfreien Phantasmagorie mit unendlichen Variationen relativiert. „Aporia“ stellt also eine Art der Kartografie vor, die der These des radikalen Sozialgeografen Elisee Regus folgt, die besagt, dass Geografie „nichts anderes als die Fortsetzung von Geschichte und Raum“ sei. Der in Margreiters „Aporia“ angewandte Blick erinnert auch an Anthony Vidlers162 „anthropologische Sicht räumlicher Differenzierung“. Der Kunst- und Architekturhistoriker bezieht sich dabei auf eine Entwicklung, die in Architektur, Kunst und Theorie zu einer Konzentration führt. Es gehe nicht mehr ausschließlich um eine unendliche Erweiterung abstrakter Räume, sondern um Dimensionen besonderer Orte, im Speziellen um Orte der Kultur und um die Betonung individueller Kulturen in individualistischen Räumen. Der von Margreiter installativ gesetzte, distanzierte und durchaus „wissenschaftliche“ Blick, der durch ein „Fenster“ die Motive festhält und das zentralperspektivische Dogma der westlichen Kultur evoziert, wird aber von einer Art Implikation des Unendlichen konterkariert  ; einem panoramatischen Blick, den man auch als Teleologie des Sehens bezeichnen könnte. Die Möglichkeit des schweifenden Blicks, den die Bewegung als Teil des Bildregimes impliziert, löst, nicht zuletzt aufgrund der damit einhergehenden Relativierung von Wahrnehmung und des damit verknüpften Wertesystems, eine Irritation bei den Betrachter(inne)n , eine Art Melancholie, aus. Dies führt dazu, dass wir als Rezipient(inn)en andere, über diesen melancholischen Blick hinausgehende, perzeptive Eigenschaften entwickeln müssen. Wirklichkeit, die man nicht besitzt, muss imaginiert bzw. halluziniert oder, wie in der Kooperation von Margreiter mit Lima, durch einen dramaturgischen Quantensprung auf die Erlebnisebene der Körperperformance gehoben werden. Auf Minimalisierung folgt der perzeptive Overkill. Der fluide, enigmatische und dekonstruierte kartografische Medienraum Margreiters strebt letztlich nach einem starken Kontrapunkt in Form konkreter Objekte bzw. einer konkret erlebbaren, am besten subjektiv 162 Vgl. dazu  : Bauen, Wohnen, Fürchten  : ein Interview mit Anthony Vidler von Juliane Rebentisch und Beate Söntgen, in  : Texte zur Kunst, 12, 47, Berlin 2002, S. 53.

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einzuordnenden und intensiven Handlung. Denn es zeigt sich, dass die Karte zwar einen gewissen mimetischen Aspekt besitzt, dass sie aber eben nicht dazu geschaffen ist, einen mimetischen Illusionismus anzubieten. Allenfalls weckt sie in dem / der Betrachter / -in das Begehren nach Immersion – einem Akt des Eintauchens in eine als authentisch erlebbare Wirklichkeit. Roberta Limas subjektivistische Sichtweise setzt hier an und faltet sich in zwei Dimensionen aus. Zum einen ist da die Phase der Besetzung und der individuellen Appropriation des von Margreiter definierten Raumes durch die Performance, die sich in ihm ereignet. Zum anderen entstehen dabei Objekte und Artefakte, die später arrangiert werden und so das performative RaumZeit-Kontinuum über das faktische Ereignis hinaus verlängern. Limas Intervention für die Biennale in Kairo beginnt mit der physischen Inbesitznahme der von Dorit Margreiter gestalteten Rauminstallation in den Biennale-Hallen. Deren Installation stellt für die Performance Limas ein Aktionsfeld in Form eines etwa fünf mal fünf Meter hohen, ursprünglich als Transportkiste genutzten Sockels zur Verfügung. Das in seiner einfachen Funktionalität an archaische Urformen wie den „Thespiswagen“163 erinnernde Szenario wird durch Videotechnologie zu einem komplexen Medienraum erweitert. Drei Kameras erweitern das schwarze, quadratische Areal und übertragen das Geschehen in Echtzeit auf drei ebenfalls auf dem Podest angebrachte Flachbildschirme. Eine erfasst das Geschehen zentralperspektivisch von vorne, während eine zweite Kamera, die hoch oben an einer Projektionswand platziert ist, das Aktionsfeld und den umgebenden Raum von hinten abtastet. Auf diese in einem gewissen Abstand hinter dem Podest positionierte Wand wird nur während der Performance ein Film projiziert, den wiederum eine zentralperspektivisch ausgerichtete Videokamera aufzeichnet. Als drittes Element ist, ebenfalls ausschließlich während der Performance, eine Spycam im Bereich des Solarplexus am Kleid der Künstlerin angebracht und überträgt deren Handlungen in Großaufnahme. Die Performance fand in Kairo am Tag vor der Eröffnung in kleinem Rahmen statt – die direkte Konfrontation mit einem Publikum ist für Lima sekundär. In erster Linie geht es um einen Prozess der Selbsterfahrung durch das Installieren eines mittels Gesten entworfenen Handlungsraumes und das dabei 163 Thespiskarren oder Thespiswagen ist die Bezeichnung für den Wohnwagen wandernder Schauspieler oder für eine Wanderbühne. Der Name stammt von Thespis, dem ersten griechischen Tragödiendichter, der seine Theaterstücke auf einem Theaterwagen aufgeführt haben soll.

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entstehende Videomaterial. Der performative Raum wird danach zu einem Medienkunstwerk, das sich aus diversen in der Performance verwendeten Objekten konstituiert – beispielsweise Magazinen, aus denen Abbildungen ausgeschnitten wurden, und anderen im Rahmen der Aufführung verwendeten Instrumenten. Diese Objekte werden in Rahmenkästen arrangiert, damit dem profanen Handlungsraum entzogen und in Kombination mit Videodokumentationen aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert. Limas Performance dauerte insgesamt etwa 30 Minuten und begann in dem Moment, als die Künstlerin das schwarz bemalte Podest betrat (vgl. Abb. 18). Sie trug ein vorne zu öffnendes Kleid und flache Sandalen und setzte sich im Schneidersitz ins Zentrum der Bühne. Aus bereitliegenden Nachrichtenmagazinen schnitt sie Abbildungen der Köpfe legendärer brasilianischer Guerilleros / -as, unter anderem von Maria Bonita, aus, während im Hintergrund per Laserbeamer ein Film projiziert wurde. Es handelte sich dabei um eine Kompilation von Praktiken expliziter weiblicher Gewaltausübung, die die Künstlerin dem notorischen Hollywood-Subgenre „Girls with guns“ entnahm. Diese dramatische szenische Collage alternierte mit den bekannten Aufnahmen einer Überwachungskamera, welche Patty Hearst mit einem Gewehr im Anschlag bei einem Banküberfall zeigen. Dazu lief als akustische Spur das berühmte Bekennertonband, in dem Hearst ihren Eltern mitteilt, dass sie sich ideologisch ihren Entführern angeschlossen habe und den Guerillakrieg weiterführen wolle. Der Text endet mit der traditionellen Grußformel lateinamerikanischer Revolutionäre –  Venceremos. Als dritte visuelle Schicht wurden alte Stummfilmdokumentationen der brasilianischen Revolutionärin Maria Bonita, ihres Ehemanns und mehrerer Guerilleros im brasilianischen Busch als weitere Repräsentation einer gewaltbereiten Frau gezeigt. Während der Performance begann Lima damit, sich die beiden ausgeschnittenen Zeitungsartikel mit mehreren Nadelstichen auf ihre Oberschenkel zu nähen. Danach stand sie auf und stieg vom Podest. Im Sichtwinkel der zentralperspektivisch positionierten Kamera löste sie die beiden, nunmehr leicht blutbefleckten Ausschnitte, wieder von ihrer Haut. Die Nadeln und Fäden wurden gemeinsam mit den Zeitungsausschnitten in bereitliegende Glasrahmen gelegt, verschlossen und dann auf der Podestfläche in einem visuellen Spannungsverhältnis zu den Flachbildschirmen arrangiert. Die Atmosphäre während der Performance war konzentriert, aber trotz des schmerzhaften Vorgangs undramatisch. Die Körpersprache Limas deutete in keinem Moment auf den intensiven Schmerz hin, den sie bei den Nadelstichen und dem Durchziehen der Fäden hatte spüren müssen.

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Der zentrale Gestus in Limas Kairo-Performance ist die oberflächliche Aneignung der ikonografischen Spuren und der kollektiven Erinnerung an Persönlichkeiten wie Patty Hearst oder Maria Bonita in Form einer „Tätowierung“ von medialen Substraten auf die Haut, man könnte auch sagen  : durch schmerzhafte, textuelle Körpereinschreibung. Die Künstlerin definiert seit Jahren ihre Körperoberfläche als künstlerische Arbeits- und Ausdrucksfläche einer subjektiven Suche nach Identität und soziografischer Positionierung. Die ausgebildete Architektin war ursprünglich Teil des populärkulturellen Undergrounds der brasilianischen Tattoo- und Bodymodifikationsszene  ; während ihres Kunststudiums in Wien begann sie den Prozess einer methodischen, künstlerischen Selbstanalyse. In mehreren Performances recherchierte sie die Bedingungen, Eindrücke, Erkenntnispotenzialitäten und Folgen variabler performativer Settings ihres Körpers im Raum. Wobei Lima sehr bewusst auch den sozialen Raum registriert und bei ihren Performance-Konzepten mitbedenkt. Der Akt einer Verortung, einer Raumbesetzung – sie selbst spricht von „invading space“ – ist in der Arbeitsweise für die Künstlerin ein entscheidender Vorgang und wird zur existenziellen Geste einer subjektivistischen Positionierung, die zwangsläufig Kommunikation nach sich zieht. Erwünscht ist dabei eine Mehrdimensionalität, ein Moment von „synchronicity“, eine Konstruktion von Koordinaten  –  um hier wiederum den entscheidenden Ansatz der Kartografie ins diskursive Spiel einzubringen. Bewusst und mit analytischem Anspruch stellt die Künstlerin ihren Körper in ein räumliches Setting  ; andererseits begreift sie den Körper aber auch als räumliche Wesenheit und als Koordinate, die es mit den strategischen Methoden der Kunst zu untersuchen gilt. Der Körper wird bei Lima insofern zum Raum, als sie in einer ganz spezifischen Art in ihn eindringt. Die Oberfläche der Haut ist nicht nur zweidimensionale Arbeits- und Einschreibfläche, sondern gleichzeitig auch ein mögliches Portal ins Körperinnere, vermittelt durch die populären Kodizes einer gesellschaftlichen Randkultur bzw. auch durch die kollektive Erinnerung an Formen ethnischer, ritueller Kulturpraktiken, die gerade in Brasilien, dem Heimatland der Künstlerin, eine große Tradition haben. Der Ausgangspunkt von Limas Raumstudien wird durch die apriorische Annahme markiert, dass die grundsätzlich krisenhafte, aber auch ekstatische Sicht auf den eigenen, zum Teil entfremdeten und versachlichten Körper zusätzliche existenzielle Erkenntnisdimensionen freisetzen und Wahrnehmungspotenziale entfesseln kann.

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Die kulturell ritualisierte und ästhetisch erhöhte Form der Selbstverletzung im Tattoo bzw. der Körpermodifikation bieten ihr im Gegensatz zu den unmittelbaren tabubesetzten und stark sexualisierten Körperöffnungen des Mundes, des Anus und der Vagina einen offeneren, weniger radikalen und in der kulturellen Besetzung transparenteren Gestaltungs-, Untersuchungs- und Erfahrungsraum. Im Vergleich zu Arbeiten von Künstlerinnen wie Sue Williams, Mona Hatoum, Pipilotti Rist oder Eleanor Antin, die sich in Zeichnungen bzw. Videoarbeiten mit dem Eindringen in den Körper beschäftigten, ist Lima weniger an der feministischen Reflexion über expressive Gesten gewalttätigen Eindringens, sondern eher an einer strukturierten Inbesitznahme und Untersuchung interessiert. Sie orientiert sich an Techniken der metaphorischen Einschreibung durch Tattoos bzw. das in sexuellen Fetischkulturen gebräuchliche ornamentale Anbringen von Nadelmustern als ästhetischem Akt der Sublimation. Daraus erklärt sich auch ihr ursprüngliches Interesse an Recherchen zu früheren Formen der Burlesk-Kultur und den damit verbundenen Genderthematiken, die sie in einigen frühen Arbeiten durchgeführt hat. Die Geste des Annähens von ausgeschnittenen Fotografien in „Please Help Yourself “ lässt sich im Kontext dieses Bedeutungszusammenhangs interpretieren. Den beim Durchdringen der Haut und dem Einziehen des Fadens vollzogenen Akt der schmerzvollen Selbstverletzung sublimiert Lima mit der Assoziation einer schöpferischen Handlung. Die Tätigkeit des Nähens bezieht sich bewusst auf traditionelle Kulturleistungen von Frauen im Bereich der kunstvoll ornamentalen Stickerei. Das selbstverletzende Eindringen wird durch die konzeptive Verbindung mit der Ornamentik der weiblichen Geste des Stickens transzendiert und ästhetisch erhöht. In anderen Performances hat Lima das „In-Verhältnis-Setzen“ ihres Körpers mit dem umliegenden Raum experimentell durchgespielt  : „Inversion“ beispielsweise erprobt unter künstlerischen Rahmenbedingungen die extrem exponierte Raumerfahrung durch die Technik einer „Body-Suspension“  –  ebenfalls eine Ekstasetechnik aus der populären Undergroundszene der Bodymodifikation. Dabei werden, je nach Art der angestrebten Bewegung des Körpers im Raum, Haken in bestimmte Körperteile gesetzt und dieser im Rahmen einer kollektiven Performance in die Höhe gezogen, bis er, frei im Raum schwebend, bewegt werden kann. Lima ließ sich dabei an Haken, die an den Knien befestigt wurden, kopfüber in den Raum ziehen und wählte damit eine bewegungsdeterminierte Form der perzeptiven Raumverfremdung. Video- und Fotoaufnahmen sowie die genaue Aufzeichnung der Körper- und Raumerfahrungen in einer Broschüre sind Teil des Self-awareness-Prozesses, den die Künstlerin bei solchen Arbeiten durchläuft.

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Die dritte Variante der raumanalytischen Arbeit Limas ergibt sich aus der Beschäftigung mit der medialen Vermittlung ihrer performativen Gesten. Hier trifft sich der medienanalytische Ansatz Limas mit jenem von Margreiter, und die Frage des gemeinsamen Settings war in der Vorbereitung des synchronen Zusammenspiels der beiden Arbeiten für die Biennale in Kairo entscheidend. Nach diversen Performances, die entweder privat nur für die Kamera, halböffentlich im Kreis von Mitstudent(inn)en an der Wiener Akademie der bildenden Künste oder vor Publikum beim Donaufestival in Krems stattfanden, war die Arbeit in Kairo für Lima die erste Zusammenarbeit mit einer anderen Künstlerin. Dem Schwerpunkt der jeweiligen künstlerischen Position entsprechend, beschäftigte sich Margreiter mit dem Raumsetting im Verhältnis zur abgehängten Projektionsfläche ihres Filmes und dachte dabei auch an die mögliche Verortung der Performance Limas. Nach der gemeinsamen Erarbeitung der Typologie der Videoaufnahmen konnte sich Lima auf den für sie entscheidenden Akt der performativen Besetzung des von Margreiter entworfenen Areals konzentrieren – ein für sie entscheidender emanzipativer Gestus. Zur Verdeutlichung des strukturellen Zusammenspiels der beiden künstlerischen Positionen möchte ich nochmals auf die Theorie des kartografischen Blicks von Glucksmann verweisen und ihn mit dem Diskurs von Deleuze / Guattari über Karte und Kopie verknüpfen. Beide Künstlerinnen thematisieren in ihren Arbeiten den medienanalytischen Aspekt der Relation von Original und Kopie. Dies gilt ganz stark für „Aporia“, aber auch für Limas Auseinandersetzung mit Ikonen weiblicher Gewalt und deren Vermittlung und Geschichte. Dem in „Aporia“ angewandten kartografischen Blick auf die Kopien von Baudenkmälern der Weltkultur in Las Vegas, der diesen Ort zu einer phantasmagorischen 3D-Landkarte werden lässt, entspricht die Mutation der Haut von Lima zum Trägermedium, das wie eine Landkarte als Einschreibfläche für subjektive Koordinaten dient. Diese werden von der Künstlerin dazu verwendet, Identitätsprozesse zu recherchieren und ihr subjektives Verhältnis dazu zu überprüfen. Nach Deleuze / Guattari wäre die den kartografischen Blick evozierende Karte das genaue Gegenteil einer Kopie, weil die Kopie in ihrem eigensten Wesen noch immer etwas mimetisch vermittelt, während die Karte nur Abstraktionen von realen Verhältnissen darstellt und selbst nicht abbildet. Hier wird in der Auseinandersetzung mit den Eigenschaften der sichtbar werdenden Pole, nämlich der Karte und der Kopie, eine grundlegende Opposition angesprochen. Im Gegensatz zur Kopie steht die Karte für einen performativen

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Gestus bzw. initiiert einen solchen im Sinne von Vorstellung und visionärer Phantasmagorie. Sie ist ein offenes System und die Akkumulation der in sie eingetragenen Markierungen führt zu einem Atlas, das heißt zu einem Archiv verschiedener stellvertretender Informationen. Daraus kann man für „synchronicity“ zwei grundlegende Parameter, nämlich jenen der Abwesenheit und jenen der Akkumulation ableiten. Erst im Rahmen einer Dialektik von Anwesenheit (Akkumulation) und Abwesenheit, „site“ und „nonsite“, kann die Arbeit nachvollzogen werden. Die Rezipient(inn)en selbst müssen unter diesen Umständen wie Navigator(inn)en agieren und versuchen, die Bedeutungsposition des Kunstwerkes aus der Festlegung der diskursiven Längen- und Breitengrade zu erschließen. In einem Spektrum von Roberta Limas performativen Interventionen zu Margreiters dekonstruktivem und enthüllendem Blick auf die Dystopie einer postmodernen Relativierung von Kultur entstand ein produktiver Dialog, der wesentliche Aspekte des Extensionsprozesses der Kunst in den performativen Raum visuell und diskursiv verhandelt. Dies betrifft sowohl die Interventionen im sozial-kommunikativen Raum über mediale Dispositive oder in Form eines direkten Aktionismus als auch das Schaffen von subjektivistischen Freiräumen durch eine raffinierte Kombinatorik von künstlerisch-ästhetischen Strategien mit einem hohen Grad an Selbstreflexivität.

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Erfahrungsräume, phantasmagorische Räume, Raumsimulakren und -metaphern Aus heutiger Sicht ist es möglich, einen synthetisierenden Blick auf die für die weitere Entwicklung der Kunst entscheidenden Parameter der performativen Wende zu werfen. Geht man von der Annahme eines Primates der Performanz aus, das heißt eines relationalen Gestus von Subjekt und Objekt, aus dem heraus sich Raum konstituiert, so ist das Entstehen einer Vielzahl von möglichen Formen der Raumproduktion zu beobachten. Aus historischer Distanz scheint es heute möglich, diesen zusammenführenden Blick, jenseits der im Zuge des Kompetenzstrebens der amerikanischen Nachkriegskunst zu beobachtenden strategischen Auseinandersetzungen, assoziativ schweifen zu lassen und den Moderne-Postmoderne-Diskurs ebenfalls als bereits historisches Phänomen zu interpretieren. Denn all diesen rezenten Entwicklungen ist gemeinsam, dass es grundsätzlich um die Formulierung und Thematisierung von Raumvorstellungen, das Verständnis der Kräfte- und Kommunikationsströme innerhalb von Räumen und die Ausbildung eines Bewusstseins geht, welches geeignet ist, Räume neu zu erkennen und auch neu zu erleben. Dass ein solches Vorhaben ursächlich mit dem Entstehen einer umfassenderen Perzeptionsdynamik verbunden ist, liegt auf der Hand. Deshalb muss zuerst betont werden, dass das emanzipatorische Subjekt – vor allem auch in seiner Körperlichkeit – zentraler Bezugspunkt der Entwicklung der Kunst ist – ungeachtet der Werkbegriffe und Objektvorstellungen, die sich seit den 1960erJahren entwickelt haben. Diese Paradigmenverschiebung führt zu Veränderungen in der Vermittlung und Analyse von Kunst seit der performativen Wende. Es ist evident, dass sich Positionen nicht mehr in dem Sinne ideologisch manifestieren, wie es noch in den 1960er-Jahren der Fall war. Die den Diskurs bis heute dominierenden Post-Avantgarden gehören zu den letzten Gruppenentwicklungen mit Manifest-Charakter. Mittlerweile ist eine Tendenz zu immer stärkeren Subjektivierungsstrategien zu beobachten, die die üblichen – mit simplifizierenden Kategorien wie Pop-Art, Minimal-Art, Concept-Art, Body-Art etc. versehenen  –  Kategorisierungen inhaltlich nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen – vielfach waren sie im merkantilen Kunstsystem ohnehin nur als Etiketten im Sinne einer optimierten Verwertung der „Ware Kunst“ eingeführt worden.

Erfahrungsräume, phantasmagorische Räume, Raumsimulakren und -metaphern

Die differenzierte und vielseitige Entwicklung ist nicht zuletzt auch eine Folge der lange andauernden Konjunkturzyklen und der alltäglichen Präsenz der Kunst in den hoch entwickelten Industriestaaten. Selbst die bisher noch immer gültigen, an der medialen Vermittlung des Kunstwerks orientierten Kategorisierungen evaporieren in der intermedialen Dynamik zeitgenössischer Produktionsdispositive. Trotz einer meist oberflächlich geführten, häufig polarisierenden Debatte, wie beispielsweise der Streit um den Stellenwert der Malerei im Verhältnis zu den neuen Medien, stehen heute die Bereiche der Malerei, Skulptur, Rauminstallation und mediale Technologien wie Fotografie, Video und Computer grundsätzlich gleichwertig nebeneinander. Die damit einhergehende Stilvielfalt verhindert strikte Kategorisierungen und längerfristig gültige Stildefinitionen. Generationenmodelle, strategische Bewegungen und das Spiel mit der High / Low-Dichotomie sind vor allem Werkzeuge eines prosperierenden Kunstmarktes. Die Kunst der 1980er- und 1990er-Jahre vermittelte sich vorwiegend über multimediale und multifunktionale Kanäle und hatte sich von ihren oft aus dem ästhetischen Traditionszusammenhang der Nachkriegs-Avantgarden liegenden Bezugspunkten in neue Aktionsfelder wie Design, Medien, Werbung, Architektur, Film, Theater, Tanz und Musik ausgedehnt. Künstler / -innen wurden zu Kommunikationsmotoren, zu Mediator(inn)en und sogar zu Sozialtherapeut(inn)en. Sie können heute als politische (r) Aktivist / -in agieren oder sich auf die Autonomie der Exterritorialität zurückziehen. Dieses so stark diversifizierte und global vernetzte Feld der Kunst ist direkt mit dem theoretischen Kontext jener künstlerischen Statements verknüpft, die in den 1960erund frühen 1970er-Jahren die Parameter der performativen Wende aus ihrer eigenen Auseinandersetzung mit den historischen Positionen der Moderne und deren Verlängerungen in den 1950er-Jahren entwickeln konnten. In den 1960er-Jahren befanden sich die USA und Europa in einer neuen Phase ihrer interkulturellen Beziehungen. Während sich Europa nach der Mangelwirtschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit, den ersten Wiederaufbaujahren und dem Einsetzen einer Prosperitätsphase der Wirtschaft sozialpolitisch und ökonomisch neu definierte, politisch aber im Bedrohungsszenario des Kalten Krieges leben musste, befanden sich die USA in einer Epoche der sozialen und politischen Verunsicherung. Das Auf bruchsgefühl der 1950er-Jahre wurde durch den immer schwerer zu legitimierenden Vietnamkrieg und die fortdauernden sozialen Probleme im eigenen Land, wie etwa dem Rassismus in den Südstaaten, unterminiert. Eine Reaktion darauf

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war das Auf brechen eines generation gap in der weißen Bevölkerung, das Erstarken der Bürgerrechtsbewegung und das Entstehen von Protest-Milieus, aus denen sich Gegen- und Subkulturen formierten. Nicht nur in Europa, sondern auch in den USA wurde ein konsumorientiertes Gesellschaftsmodell unter dem Diktat der kapitalistischen Gewinnmaximierung ohne soziale und politische Verantwortung von links kritisiert. Auch in der kunstimmanenten Debatte brachen Widersprüche auf. Die Atmosphäre der sozialen und politischen Instabilität machte vor allem den amerikanischen Künstler(inne) n den systemaffinen und potenziell unkritischen Charakter des Abstrakten Expressionismus, der Pop-Art, der Colour-Field-Malerei, des Minimalismus und sogar von Repräsentanten des amerikanischen Happenings, wie beispielsweise Rauschenberg, Kaprow und Oldenburg, bewusst. Als Gegenreaktionen formierten sich sowohl in den USA als auch in Europa im Zuge der performativen Wende Kunstrichtungen, die die soziale und spirituelle Dimension von Kunst betonten und eine gesellschaftliche Wirkmächtigkeit in der Tradition der historischen Avantgarden einforderten. Diese Entwicklung wurde von einer Diskussion um die Neuorientierung der Rolle und Funktion des Künstlers / der Künstlerin begleitet sowie von Kritik an den gesellschaftlichen Strukturen und dem institutionellen Rahmen  ; im Bereich der Kunst betraf dies vor allem die Museen und Kunsthochschulen. Im Unterschied zu den USA erlegte sich die Kunst in Europa, vor allem in den Ländern mit rechtstotalitärer Vergangenheit wie Deutschland, Österreich und Italien, selbst die Verpflichtung auf, gesellschaftsdiagnostisch tätig zu werden und die unmittelbar zurückliegende Katastrophengeschichte zu reflektieren. Die nach innen wirkende Systemkritik dieses Ansatzes zeigt sich an der Notwendigkeit der Hinterfragung der breit gefächerten und inhaltlich nur schwach definierten Kategorisierungen wie Land-Art, Aktionismus, BodyArt, Performance-Art, Feminist-Art, Appropriation-Art etc. Es ist auffällig, in welch schneller Abfolge vom Verwertungs- und Distributionssystem der Kunst immer wieder „Markenbegriffe“ kreiert wurden, um neue Entwicklungen besser vermarkten zu können. Dass dabei strukturelle Gemeinsamkeiten durch strategisch inszenierte Konkurrenzkonstruktionen verdeckt wurden, ist für das Kunstsystem selbst ein vernachlässigbarer Nebeneffekt. Eine vertiefte historische Bearbeitung macht es aber notwendig, die für Kunstentwicklungen relevanten Genealogien aufzuspüren und die produktiven Energien, die hinter den offensichtlichen nationalistischen und chauvinistischen Interessen, hinter Machtstrategien und Marktnotwendigkeiten wirkten, herauszudestillieren.

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Die Betonung des Raumes, also jenes Elementes, das nach der performativen Wende zum kategorischen Imperativ in der Kunst wurde, macht es möglich, neue Ansätze zu entwerfen, mit deren Hilfe die Vielfalt der Positionen auf eine andere, tiefenstrukturell orientierte Art und Weise systematisiert werden kann. Im Gegensatz zu den im Kontext des Moderne-Postmoderne-Diskurses entwickelten, stark ideologisch argumentierenden Kategorien handelt es sich hier um ein Modell, welches eine integrale Vorgangsweise bei der Bearbeitung der historischen Strata vorschlägt und eine historisch begründete, logische Kontinuität in den Entwicklungen der Kunst des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Die zur Anwendung kommenden Raumkategorien orientieren sich dabei weniger an den im Rahmen von Kunstwerken entwickelten formalen Lösungen, sondern – im Sinne von „form follows function“ – an deren Funktion. Der performative Akt bzw. die performative Aufladung des Objekts sind entscheidend, um einen herkömmlich objektgebundenen und passiven Kunstbegriff zu überwinden und zu erweitern. Die Entwicklung eines partizipatorischen Kunstbegriffs in Hinblick auf gesellschaftlich umfassendere und vor allem direktere Interventions- und Erlebnismöglichkeiten steht im Vordergrund. Am Beginn dieses Prozesses standen für die im Entstehen begriffenen wesentlichen Positionen noch konventionelle Kunstformen wie Malerei und Skulptur. Direkt an die radikalen Entwicklungen des amerikanischen Modernismus der 1950er-Jahre und gleichermaßen an die Leistungen der klassischen Avantgarde anschließend, entwickelte sich dann ein über den Gestus der Dekonstruktion bzw. der Expansion des Bildes oder der Skulptur, über die traditionellen Grenzen hinweg vermittelter, stark räumlich-performativ geprägter Kunstbegriff, in dessen Zentrum immer das physisch integrierte, erlebnisfähige Subjekt steht. Trotz der in den 1950er-Jahren durch eine gewachsene Mobilität und einen Boom im Vermittlungs- und Medienbereich bereits vorhandenen umfangreichen Informationsmöglichkeiten, sind innerhalb dieser Entwicklungsgeschichte verschiedenste Traditionslinien und stilistische Ausformungen zu beobachten. Wie schon in den vorhergehenden Kapiteln ausgeführt, orientierten sich zahlreiche, neu entstehende Werkbegriffe an Positionen der amerikanischen Kunst der 1950er-Jahre. Bei Joseph Beuys, einem der einflussreichsten europäischen Nachkriegskünstler, kann beispielsweise über seine Kontakte zu Fluxus und Happening und besonders über seine Bekanntschaft mit dem koreanischen Künstler Nam Jun Paik ein gewisser Einfluss von John Cage nachgewiesen werden. Bei Günter Brus waren die expressiven Gesten Jackson Pollocks und Franz Klines ein Akt der ästhetischen Befreiung, auf den er mit Kritik und

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neuen Ideen antworten konnte. Selbstverständlich sind auch innereuropäische Querverbindungen wie unter anderem die Effekte und Wirkungsweisen der Art Brut, der Nouveau Realistes, Yves Kleins oder Piero Manzonis164 in diesem Zusammenhang zu rekonstruieren. Dennoch ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend vom kritischen Dialog zwischen der europäischen und der amerikanischen Kunst geprägt – durchaus auch mit bestimmten geografischen Schwerpunkten. In den 1960er-Jahren kann dabei noch eine gewisse Einseitigkeit zugunsten der dynamischen Entwicklung der amerikanischen Kunst konstatiert werden. Während die neuen ästhetischen Durchbrüche in der amerikanischen Kunst in Europa intensiv rezipiert, archiviert und produktiv gemacht wurden, war es für europäische Künstler / -innen schwierig, in den USA Fuß zu fassen.165 Im Hinblick auf neueste performative Entwicklungen befand sich, neben Paris und Turin / Mailand, einer der geografischen Schwerpunkte für den transatlantischen Austausch in Deutschland, wo eine junge Generation von Kunsthistoriker(inne)n und Museumsdirektor(inn)en nach der Zäsur der „Entarteten Kunst“ ihre großen Sammlungs- und Museumstraditionen – unter besonderer Berücksichtigung neuerer Entwicklungen – wieder reaktivieren konnte. Große Bedeutung kam in diesem Zusammenhang der Gründung der „documenta“ zu. Zwischen der deutschen Nachkriegs-Avantgarde, die entscheidend von der Ausnahmeerscheinung Joseph Beuys geprägt wurde, und der amerikanischen Neo-Avantgarde, die sich Ende der 1960er-Jahre unter dem Sammelbegriff „Anti Form“166 manifestierte, gab es ein komplexes wechselseitiges Austauschverhältnis. Nach dem erfolgreichen, staatlich subventionierten „Export“ der Abstrakten Expressionisten und dem Erfolg der Pop-Art auf dem Kunstmarkt entstand in den USA eine global ausstrahlende Dynamik, deren Kraft es zahlreichen Künstler(inne)n der amerikanischen Neo-Avantgarde ermöglichte, zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer Karriere in Europa auszustellen. Während beispielsweise Richard Serra, Bruce Nauman, Sol LeWitt, Robert Smithson oder Eva Hesse in Europa begeistert aufgenommen wurden und auf starkes Interesse stießen, ist die Rezeption des Werkes von Joseph Beuys, 164 Vgl. dazu  : Eva Badura-Triska / Hubert Klocker, Rudolf Schwarzkogler. Leben und Werk, Wien 1992. 165 Dirk Luckow hat dies im Anlassfall Joseph Beuys beeindruckend nachgewiesen. Siehe dazu  : Dirk Luckow, Beuys und die amerikanische Anti Form-Kunst, Berlin 1998, S. 12 / 13 ff. 166 Anti Form ist der Titel einer von Robert Morris für die Galerie Leo Castelli programmatisch kuratierten Ausstellung. Siehe dazu  : Dirk Lukow, a. a. O., S. 11.

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der mit diesen Künstler(inne)n in einem mehr oder weniger intensiven Dialog stand, in den USA bis heute zwiespältig. Ein Grund dafür liegt in der Radikalität seiner Definition des Körpers als Material und in der psychodramatisch eingesetzten und immer wieder als „bekennend“167 denunzierten Spiritualität von Beuys. Diese beiden Elemente waren den Interessen der Machtdispositive, die den transkontinentalen Austausch beherrschten, diametral entgegengesetzt, weil sie dem von der amerikanischen Avantgarde propagierten Ideal der Indifferenz nicht entsprachen. Als radikalste Initiative muss in diesem Zusammenhang die seit dem Beginn der 1960er-Jahre im Grenzbereich zwischen Kunst und Politik tätige „Situationistische Internationale“ mit ihrer zentralen Persönlichkeit Guy Debord bezeichnet werden. Deren Arbeit zielte unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderungen und ist in Europa in den letzten Jahren vor allem im Bereich von experimentellen architektonischen und städtebaulichen Modellen, wie jenen von Rem Koolhaas oder Bernard Tschumi, wieder einflussreich geworden. Aufgrund ihrer politischen Radikalität und ihrer Weigerung, marktkompatible Kunstwerke herzustellen, war die Situationistische Internationale im transkontinentalen Austausch der Neo-Avantgarden der 1960er-Jahre nicht präsent. Wie stark das Ideal der „Indifferenz“ auch auf inneramerikanische Entwicklungen Einfluss nahm, ist besonders an der Rezeption des Werkes von Carolee Schneemann zu beobachten. Das zentral ihr Werk bestimmende Beharren auf der unmittelbaren Rolle des Körpers als Zeichenträger und eine feministischemanzipatorisch motivierte strukturelle Mystifikation des weiblichen Körpers sind maßgebliche Ursachen für die von ihr lange Zeit eingenommene und zugeschriebene Außenseiterinnen-Position. Trotz dieser grundsätzlichen Unterschiede, die bis heute zu Auseinandersetzungen führen, liegt dem Gestus der hier genannten Künstler / -innen der gemeinsame Imperativ des performativ aufgeladenen Raumes zugrunde. Entscheidend ist, dass alle Positionen einen Werkbegriff prononcieren, bei dem der Körper als „großer Anwesender“ emanzipatorische Gesten in Relation zum Objekt setzt und damit das Kunstwerk, sei es ein Bild oder eine Skulptur, in den Raum erweitert. Dieser Raum wird im Sinne der Avantgarde als experimentelles Erfahrungslabor definiert. 167 Die bis heute nicht nur in den USA immer wieder verwendete Charakterisierung des Wiener Aktionismus als katholisch impliziert seine Denunziation als „anti-aufklärerisch“, „anti-emanzipativ“, als maskulinen Mystizismus und grundsätzlich konservativ.

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Obwohl bei allen hier erwähnten Positionen das Subjekt auch in seiner Körperlichkeit im Zentrum steht, muss betont werden, dass es sich dabei innerhalb der Strukturen des jeweiligen Gesamtwerkes oft um zeitlich begrenzte Ansätze handelt. Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass Live-Performances innerhalb eines künstlerischen Gesamtzusammenhanges oft eine aktivistische Durchgangsphase waren  –  mit Einflüssen nicht nur auf die Entwicklung des jeweils eigenen Werkes, sondern auch auf Werkbegriffe nachfolgender Generationen. Über die Befreiungsgeste der subjektiven Erfahrung durch die Künstler / -innen, die performativ in das eigene Werk eintreten, wird in den 1960erJahren der Kunstbegriff eminent erweitert. So ist die Rauminstallation als eine der heute bedeutendsten Kunstformen ohne die in den 1960er-Jahren durchgeführten Aktionen, bei denen das ganzheitlich erfahrende Subjekt in spezifisch dafür entworfenen Räumen agierte, nicht denkbar. In diesem Zusammenhang möchte ich die drei Werkpositionen von Joseph Beuys, Rudolf Schwarzkogler und Bruce Nauman auch aufgrund ihrer frühen Datierung als exemplarisch bezeichnen. Bei aller individuellen Idiosynkrasie sollen sie hier in ihren entscheidenden Grundstrukturen verglichen werden. Uwe Schneede bezeichnet die Aktionen als das eigentliche Zentrum des Gesamtwerks von Joseph Beuys.168 Nur in der Performanz kann der Künstler in seiner Kodifizierung als Heil-Priester (Schamane) das vorhandene Raum-Nichts mit einem in subjektiver Setzung idealtypisch definierten Koordinatennetz aus relational platzierten Objekten füllen. Im Zuge seines „Aufrufs zur Alternative“169, bei dem Beuys seinen Kunstbegriff ins gesellschaftlich Aktivistische erweiterte, entwickelte er Szenarien, die er zwar im Kontext von Kulturinstitutionen, in erster Linie der Museen durchführte, in denen er aber immer auch durch aktivistische Eingriffe und durch Objektplatzierung einen exterritorialen Alternativraum öffnete. So definierte er bei der in Wien erstmals durchgeführten Aktion „Eurasienstab“ (1966) gleich zu Beginn einen zweiten quadratischen exterritorialen Raum, indem er Filzwinkel zwischen Boden und Raumdecke klemmte und den Galerieraum durch das Anbringen eines Fettwinkels markierte. Beuys hat seinen performativen Kunstbegriff aus einem erweiterten Skulpturenbegriff entwickelt. Die Räume, in denen er seine magischen Erfahrungsrituale durchführte, wurden 168 Siehe dazu  : Uwe M. Schneede, Joseph Beuys – Die Aktionen, Ostfieldern-Ruit 1994, S. 18. 169 Titel eines programmatischen Artikels, den Beuys in der Frankfurter Rundschau vom 23. Dezember 1978 veröffentlicht hatte und in dem er die gesellschaftspolitischen Parameter seines erweiterten Kunstbegriffs ausführlich erörtert.

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durch präzise eingesetzte Objektpositionierungen verändert, ihre Symmetrien und Ebenen gebrochen, um ihnen in einem generativen Prozess neue Bedeutungen zuzuschreiben. Nach dem Abschluss der Performance wurden diese neu codierten Räume entweder als Installationen in einen neuen Seins- / Erscheinungsmodus überführt oder dekonstruktiv zergliedert, wobei die während der Aktion benützten Objekte nicht als Aktionsrelikte galten, sondern als Objekte mit dem Anspruch auf eine eigene genuine Existenz. Viele der bedeutendsten Gegenstände, wie zum Beispiel der etwa drei Meter lange und 50 Kilogramm schwere Kupferstab aus der Aktion „Eurasienstab“ wurden von Beuys in der exemplarischen Rauminstallation des „Beuys Block“ im Museum Darmstadt zu einem eigenen, für sein Gesamtwerk repräsentativen Erfahrungsraum kombiniert. Während es für den aktivistischen und stark gesellschaftspolitisch konnotierten Werkbegriff von Beuys entscheidend war, dass seine Aktionen vor und mit Publikum stattfanden, entwickelten sowohl Schwarzkogler als auch Nauman subjektivistische Modelle im Rahmen von Szenarien, die den Charakter von Experimenten unter Laborbedingungen besaßen. So unterschiedlich die kulturellen Milieus auch sein mögen, in denen die beiden Künstler ihre jeweiligen Werkbegriffe entwickelten, so sehr gleichen sich die paradigmatischen Grundstrukturen. Sowohl bei Schwarzkogler als auch bei Nauman entwickelten sich die Erfahrungsräume aus performativen Arbeiten, in denen das Körpervokabular analytisch erforscht wurde. Die Arbeiten sind auch insofern vergleichbar, als beide Künstler keinen Wert darauf legten, diese Körperexperimente vor Publikum durchzuführen, sondern sie allenfalls in medialer Spiegelung vermittelten. Schwarzkogler erreichte dies mit den Mitteln der Aktionsfotografie, Nauman hauptsächlich durch filmische Dokumentation. Während Schwarzkogler nach seiner 6. Aktion (1966), in der er selbst im White Cube agierte, seine Raumexperimente aufgrund seiner problematischen biografischen Situation nur mehr konzeptuell in Skizzen und Texten festhielt, realisierte Nauman, vorwiegend 1968, eine Serie von Kurzfilmen wie „Slow Angle Walk“ (1968), „Bouncing in the Corner, Nr. 1“ und „Bouncing Two Balls between the Floor and Ceiling with Changing Rhythms“ (1967 / 68), in denen er in streng ritualisierten Bewegungsabläufen mit Raum- und vor allem auch Zeiterfahrungen experimentierte. Paul Schimmel verweist auf das Interesse Naumans an Musik170 und an rhythmischen Geräuschen. In Sinne von organisierten Zeitabläufen werden unter anderem durch den Aufprall der Hand in „Bouncing in the Corner, Nr. 1“ oder in der Arbeit „Playing a Note on The Vio170 Paul Schimmel in  : Out of Actions. Between Performance and the Objekt, Los Angeles 1998, S. 70.

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line While I Walk Around the Studio“ durch das serielle Abspielen einer Note Geräusche erzeugt und formal als minimalistisch-multimedialer Faktor eingesetzt. Während in den frühen Filmarbeiten spezifische Räume allenfalls durch Markierungen am Boden angedeutet wurden, realisierte Nauman in der für die Entwicklung seines Werkes entscheidenden Arbeit „Walk with Contrapposto“ von 1968 seinen ersten „Corridor“. Damit vollzog er die Synthese aus seinen performativen und skulpturalen Konzepten und stieß in den Bereich interaktiver Erfahrungsräume vor. Die aus dieser Performance resultierende Installation, „Performance Corridor“, ist die erste einer umfangreichen Gruppe von Arbeiten, in denen er mit den „Corridors“, „Spaces“ und „Tunnels“ und später in seinen Videoinstallationen zukunftsweisende Arbeiten im Bereich einer synchronistischen Erfahrungskunst vorlegte. Im Sinne der in seinem Textmanifest „Ästhetisches Panorama“ erhobenen Forderung nach einer „Kunst als Purgatorium der Sinne“ entwirft Schwarzkogler in „kammer“ ein geschlossenes Aktionsfeld, in dem vom Rezipienten bestimmte Körperhaltungen und Tätigkeiten verlangt werden, die auf spezifische Erfahrungssituationen gerichtet sind. Der Künstler denkt den Körper in Gesten und Situationen, bei denen er beispielsweise mit rechtwinklig angezogenen Beinen und Armen in der Konfrontation mit einer Wärmequelle einen Schweißausbruch erlebt. Er lässt die Rezipient(inn)en mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor einem schwarzen Spiegel knien oder mit verbundenen Augen auf einem Bett liegen. Solche potenziell mystischen Exerzitien finden unter räumlichen Bedingungen statt, die „durch sorgfältig ausgewählte und plazierte Substanzen und Objekte zu Wahrnehmungen und Handlungen einladen, die weitere starke optische, akustische, haptische sowie Geschmacks- und Temperaturempfindungen bewirken“.171 Dass Schwarzkoglers performativ geprägtes Werk nicht ausschließlich Ansätze der Selbsterfahrung hatte, belegen, wenn auch – bedingt durch seinen frühen Tod – nur als konzeptuelle Entwürfe, seine Skizzen aus dem Jahr 1968. Darunter finden sich u. a. Entwürfe für die Gestaltung öffentlicher Plätze bzw. praktischer innenarchitektonischer Umsetzungen. Ähnlich wie bei Naumans „Spaces“ und „Tunnels“ manifestiert sich in diesen visionären Designs die Intention des Künstlers, über das Eigenexperiment zu Lösungen zu gelangen, bei denen der Betrachter im sozialen Raum direkt mit synchronistischen Erfahrungswelten konfrontiert werden soll. 171 Eva Badura-Triska, Kunst als Purgatorium der Sinne, in  : Rudolf Schwarzkogler. Leben und Werk, Klagenfurt 1992, S. 257.

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In Bezug auf die Arbeit „Pay Attention“ (1973), in der der Künstler in spiegelverkehrten Blockbuchstaben „PAY ATTENTION MOTHER FUCKERS“ formuliert, betont Schimmel, dass das Werk Naumans im Hinblick auf seinen präsumptiven experimentellen Charakter keine gedanklichen Freiräume erlaubt. „He not only makes art for us but also tells us how to see it.“172 Die Stringenz des Werkes von Nauman lässt sich auch bei den Arbeiten und konzeptuellen Ansätzen von Beuys und Schwarzkogler konstatieren. Bei allen Künstlern werden dem Rezipienten präzise, man könnte auch sagen apodiktische Anweisungen für partizipatorische Erfahrungen gegeben. Beginnend an einem Punkt 915 Meter südlich und 244 Meter westlich der nordöstlichen Ecke von Section 8, Township 8 Nord, Range 7 West  ; von dort 198 Meter in Richtung Süd 45° West  ; von dort 198 Meter in Richtung Nord 60° West  ; von dort 198 Meter in Richtung Nord 45° Ost  ; von dort 206 Meter in südöstlicher Richtung entlang der Mäanderlinie zum Ausgangspunkt. Größe des Grundstücks ca. 4,05 Hektar.

Für dieses kartografisch exakt definierte Grundstück konnte Robert Smithson 1970 einen 20 Jahre gültigen Pachtvertrag abschließen. Es handelt sich dabei um ein Grundstück am Great Salt Lake in Utah, den er folgendermaßen beschrieb (vgl. Abb. 13)  : Als ich diesen Ort sah, vibrierte er bis an den Horizont  ; er erschien wie ein immobiler Zyklon, und das flimmernde Licht erweckte den Eindruck, als würde die ganze Landschaft beben. Ein latentes Erdbeben verbreitete sich in der zitternden Stille, wurde zu einer kreisenden Empfindung ohne Bewegung. Der Ort begann zu rotieren, umschloß sich selbst in einer immensen Rundung. Aus diesem kreisenden Raum tauchte die Möglichkeit der ‚Spiral Jetty‘ auf […] Keine Ideen, keine Konzepte, keine Systeme, keine Strukturen, keine Abstraktionen konnten gegen diese Evidenz bestehen. Meine Dialektik von Ort und Nicht-Ort verwirbelten zu einem unbestimmbaren Zustand, in dem Festes und Flüssiges ineinander verliefen. Es war, als schwankte das Festland in pulsierenden Wellen, während der See unbewegt stillstand. Das Seeufer wurde zum Rand der Sonne, eine brodelnde Krümmung, eine Explosion, die in einem glühenden Feuerschwall aufstieg. Kollabierte Materie fiel in den See und spiegelte sich in der Form einer Spirale. Jeder Gedanke an Klassifikationen oder Kategorien war sinnlos – es gab keine.173

172 Paul Schimmel, a. a. O., S. 79. 173 Robert Smithson, Gesammelte Schriften, Köln 2001, S. 179.

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Dieser euphorische Text des Künstlers verweist auf Erfahrungsdimensionen, die sowohl jenseits sprachlicher als auch visueller Vermittlungsmöglichkeiten liegen. Er sprengt damit die analytischen Möglichkeiten, die der linguistic turn bereitstellt ebenso wie das kognitive Erkenntnispotenzial der Blicktheorien. Ursprung erwähnt in diesem Zusammenhang die Gültigkeit des Ansatzes von Henri Lefebvre, der im Sinne eines performativen Raum-Primates von einer „Hegemonie des Raumes“ spricht.174 Tatsächlich übt die monumentale Dimension von Smithsons Installation eine suggestive Kraft aus. Innerhalb einer Woche wurde eine insgesamt 500 Meter lange und fünf Meter breite Linie, bestehend aus schwarzem Lavagestein, weißen Salzkristallen und Schlamm, knapp über der Wasseroberfläche in Form einer Spirale in den See hineingezogen. Durch die geografische Abgelegenheit wird „Spiral Jetty“ meist entweder im Rahmen einer fotografischen Reproduktion oder des von Smithson parallel zur Entstehung gedrehten Films ausschließlich visuell rezipiert. Dies bedeutet allerdings eine Rekalibrierung der tatsächlichen Dimension der Arbeit, und Ursprung weist deshalb zu Recht auf den Umstand hin, „daß ‚Spiral Jetty‘ meistens irrtümlich als malerisch wirkende Skulptur in einer vermeintlich unberührten Landschaft aufgefaßt wird“.175 Im Gegensatz dazu kann man der metaphorischen Exuberanz des Künstlertextes entnehmen, dass sich die wirkliche Dimension dieser Makro-Installation erst dann erschließen lässt, wenn man sich auf den Erfahrungsprozess einer direkten Begehung einlässt. Schon ihre Lage entspricht nicht der isolierten optischen Vermittlung durch Abbildungen, denn die Installation befindet sich an einem Ort, den Smithson als „site“, im Gegensatz zu „nonsites“, bezeichnet hat. „Sites“ sind reale Orte von der Qualität kulturanthropologischer Hohlstellen. Sie sind, wie beispielsweise Schottergruben, aufgelassene Bergwerkshalden oder leer geräumte Einflugschneisen großer Flughäfen, Territorien zwischen kultureller Organisation und den Wucherungen natürlicher Biotope  –  und als solche weitgehend energielos. „Spiral Jetty“ liegt in der Nähe aufgelassener Erdölförderanlagen und besitzt per se nicht die Konnotation eines magischen Ortes, wie die in diesem Zusammenhang oft assoziierten monumentalen Geoglyphen der peruanischen Nazca-Kultur. Erst „sites“ garantieren nach Smithson die Möglichkeit einer perzeptiven Konzentration, die dem Rezipienten das Eintauchen in einen phantasmagorischen Erlebniszustand erlaubt – der Zustand eines schwindelnden Schwebens, einer 174 Vgl. dazu  : Philip Ursprung, a. a. O., S. 322. 175 Ebd., S. 317.

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Levitation, von der schon Nauman und Beuys sprachen. Smithson imaginiert die Spiralenform im flimmernden hellen Licht der Landschaft um den Great Salt Lake als „immobilen Zyklon“, als einen „vibrierenden“ Raum ohne Idee, Konzepte, Systeme, Strukturen, der die Empfindung eines Kreisens „ohne Bewegung“ hervorrufen würde. Mit diesem Erfahrungsangebot antizipiert der Künstler einen Perzeptionszustand, der der Hyperrealität entspricht  –  einem existenziellen Status, der von Baudrillard im Zusammenhang mit seiner Theorie des medialen Simulakrums postuliert wurde. Dieser Zustand wiederum ist vergleichbar mit den perzeptiven Veränderungen durch die gesamtgesellschaftliche Akzeleration im Sinne Paul Virilios. Kernthese seiner Argumentation ist, dass unsere Gesellschaft durch immer schnellere Verkehrsmittel und schließlich den Computer als „last vehicle“ so weit beschleunigt wird, dass sie schlussendlich in einen „rasenden Stillstand“ verfällt176 oder, wie es Smithson in Hinblick auf seine Vorstellungen der Ultramoderne metaphorisch formuliert, „die Zeit den Raum [verschlingt]“.177 Das Misstrauen gegenüber dem illusionistischen Bild hat in der Kunst der Avantgarden zu einem Untersuchungsprozess der Möglichkeiten einer veränderten und ausgeweiteten Perzeption geführt. Von der Dekonstruktion des Bildes über die Analyse poetischer Sprachstrukturen führt dieser Ansatz zu einer neuen performativen Qualität von Metaphorik, die sich im Bereich nicht-mimetischer Gesten entfaltet. Nach der Abstraktion und der Eroberung des phantasmagorischen Raumes der Simulakren kehrt die Kunst vor allem in den 1980er- und 1990er-Jahren, entsprechend ihrem avantgardistischen Mandat, über konkrete Aussagen und ästhetische Appelle wirklichkeitsgestaltend und gesellschaftsverändernd zu intervenieren, zu narrativen Techniken und der ästhetischen Darstellung existenzieller Erfahrungen zurück und besinnt sich der rhetorischen Möglichkeiten der Metapher. Auch in der amerikanischen Kunst, die in den 1960er- und 1970er-Jahren mehr als die europäische von literalistischen und reduktionistischen Paradigmen sowie medienästhetischen Analysen bestimmt war, entstehen in den 1980er-Jahren im Bereich der Rauminstallationen entweder skulpturale oder mediale Arbeiten, die stark erzählerisch und metaphorisch angelegt sind. Bill Violas, Robert Gobers oder Kiki Smiths suggestive Arbeiten können dafür als Beispiele gelten. Vor allem aber die Werke von Carolee Schneemann und Dieter Roth müssen in diesem 176 Siehe dazu  : Paul Virilio, Fluchtgeschwindigkeit, München / Wien, 1996. 177 Robert Smithson, Gesammelte Schriften, a. a . O., S. 91.

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Kontext als Schlüsselpositionen betrachtet werden, da sie gegen die literalen Tendenzen der neo-avantgardistischen Positionen der 1960er-Jahre an einer Rekonstruktion der Metapher – auch als Mittel aktivistischer Beweisführung und Strategie politischer Durchsetzungsfähigkeit – arbeiteten. Nach Ricoeur gibt es zwar nur eine Struktur der Metapher, die jedoch gleichzeitig zwei verschiedene Funktionen erfüllt  : nämlich eine rhetorische und eine poetische.178 In der Moderne hat die Metapher die Funktion eines Argumentationsinstrumentes verloren  ; sie wurde in erster Linie als poetisches Konstrukt verwendet. Im ursprünglichen Sinn der aristotelischen Ästhetik galt die Metapher aber als Kunst der Beweisführung innerhalb des rhetorischen Prozesses. In der performativen Konkretheit der Neo-Avantgarden kommt den entwickelten Metaphern im Bereich emanzipatorischer Forderungen, beispielsweise als Aktivismus in der feministischen Revolution, wieder die Rolle eines Mediums der Wahrheitsfindung zu. Schneemanns Performance „Interior Scroll“ kann als Beispiel gelten, wie die Kunst in Form einer komplexen performativen Raummetapher die Eindrücklichkeit der direkten Beweisführung reaktiviert (vgl. Abb. 14). „Interior Scroll“ wurde in den 1970er-Jahren zweimal als Publikumsperformance durchgeführt und in den 1990er-Jahren in veränderter Form nochmals für Videoaufnahmen realisiert.179 Die Performance von 1975 besitzt im Kontext der feministischen Bewegung den agitatorischen Charakter einer rhetorischen Überzeugungstat. Schneemann definiert dabei ihren Körper als Aktionsfeld und ihre Vulva als Aktionsraum. Die Künstlerin beschreibt den Ablauf der Performance wie folgt  : Stan (Brakhage) introduced me to the film audience while I sat wrapped in a sheet on the small Victorian stage under its hand painted drop curtain and proscenium arches. I read my introductory statement. At the end of the statement I unwrapped the sheeting and slowly applied stripes of mud to my body from a bowl filled from the Telluride mining stream. Then the scroll was extended and read.180

178 Siehe dazu  : Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, München 1986, S. 19. 179 Diesmal in Form einer kommunalen Gruppenerfahrung in einer unterirdischen Grotte, deren Boden mit Wasser bedeckt war. Dieses Setting erweitert die performative Metaphorik des gebärenden Entnehmens der „Textschlange“ aus dem „vulvic space“ in den mythischen Umraum der Grotte und macht die ursprünglich rhetorische Einzelaktion der Künstlerin aus den 1970erJahren, also der „Kampfphase“ der feministischen Bewegung, zu einer poetischen kollektiven Erfahrung von Frauen, die diese Performance gemeinsam mit der Künstlerin durchführten. 180 Carolee Schneemann, „More Than Meat Joy“, a. a. O., S. 237.

Erfahrungsräume, phantasmagorische Räume, Raumsimulakren und -metaphern

Auf dem zusammengefalteten Papierstreifen, den sie in einer metaphorischen Geste aus ihrer Vulva zog, befand sich eine Textcollage, die auf einen Disput der Künstlerin mit einem Filmemacher, den sie als Strukturalisten bezeichnete, zurückgeht. Die den Aussagen des Filmemachers entspringende Indifferenz konfrontierte sie mit der konkreten Präsenz ihrer metaphorischen Körpergeste. then you are back to metaphors and meanings my work has no meaning beyond the logic of its systems I have done away with emotion intuition inspiration –  those aggrandized habits which set artists apart from ordinary people – those unclear tendencies which are inflicted upon viewers181

Während Schneemanns Performance ihre Wirkung als politisch raumgreifende rhetorische Geste im Kontext des emanzipatorischen Feminismus entwickelte, kann das Werk Dieter Roths, eines weiteren für die aktuellen Entwicklungen in der Raumkunst einflussreichen Neo-Avantgardisten, in seiner Gesamtheit als institutionskritische Metapher gelesen werden. Schon der Titel eines seiner letzten Hauptwerke  –  des ursprünglich in Hamburg befindlichen und heute nur mehr virtuell begehbaren „Schimmelmuseums“ – verweist auf die institutionskritische Dimension im Werk des Künstlers, das insgesamt von den metaphorischen Gesten der Verwesung, Zersetzung und der Dokumentation eines zeitlichen Verlöschens geprägt ist182 (vgl. Abb. 15). Roth richtete das „Schimmelmuseum“ in einem Zeitraum von mehreren Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1998 im Verlauf eines raumkonstituierenden Pro181 Carolee Schneemann, „More Than Meat Joy“, a. a. O., S. 237. 182 Letztendlich zerstört wurde das „Schimmelmuseum“ jedoch weder von der natürlichen Vergänglichkeit noch von gemeinem Ungeziefer, sondern von der Unfähigkeit und dem Unwillen der „Dieter Roth Foundation“, mit den Widersprüchen und der Widerständigkeit dieser Kunst umzugehen. Unterbricht man den Verfallsprozess, wie geschehen, löst man Teile aus dem Kunstwerk heraus, um es als einzelnes Bild oder einzelne Skulptur im zukünftigen Dieter-RothArchiv unter „idealen Bedingungen“ zu präsentieren, beginnt man zwangsläufig eine Konservierung, die nicht im Sinne des Künstlers war, und begeht damit gewaltsam die Zerstörung dieses Kunstwerks, das als wichtigstes künstlerisches Vermächtnis Dieter Roths galt.

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zesses ein. Der Innenraum des Gebäudes, ursprünglich eine Werkstatt, wurde von zwei massiven, nach oben durch die Zwischendecke brechenden Türmen dominiert. Der sogenannte „Selbstturm“ erreichte bis zum Tod des Künstlers eine Höhe von etwa zehn Metern. Er bestand aus Selbstbildnis-Büsten in Schokoladeguss, die auf eine 1968 erstmals hergestellte Skulptur mit dem Titel „Portrait of the Artist as Vogelfutterbüste“ zurückgehen. Die Architektur des Turmes ergab sich aus quadratischen Glasplattenflächen, die mit einer Anzahl seriell organisierter Büsten gefüllt wurden und dadurch einen Sockel für die jeweils nächste Glasplattenfläche bildeten. Die Konstruktion der mit Hunderten Büsten gefüllten Glasflächen im „Schimmelmuseum“ stieg bis zu einer Höhe, die einen Durchbruch in den ersten Stock des Gebäudes notwendig machte. Durch das aufgetürmte Gewicht sackte der Turm mittlerweile im unteren Bereich wieder langsam in sich zusammen. Der weniger stabile „Zuckerturm“ erreicht keine vergleichbare Höhe. Er gehorcht demselben Konstruktionsprinzip, doch sind die Selbstbildnis-Büsten durch einen weiteren Prototypen aus Roths Formenrepertoire, dem „Löwenselbst“ ersetzt. Vor allem beim „Zuckerturm“ war am Fundament ein kontinuierlich stattfindender Zerfallsprozess zu beobachten. Roths Installation war, im Sinn der poetischen Dimension der Metapher, ein zentrales Stilmittel, welches sich durch sein Gesamtwerk zieht und als metaphorische Symphonie auf das performative Element der Konstruktion und Dekonstruktion zu lesen ist – ein autopoetischer Gestus, der die in der Avantgarde erreichte Autonomie der Kunst zelebriert. Mit metaphorischen Narrationen, wie sie in den Werken von Roth und Schneemann entwickelt wurden, werden paradigmatische Strukturen der Avantgarde synthetisiert. Die Präsenz des Körpers als Textträger im Werk Carolee Schneemanns steht in einer Traditionslinie der Malerei, die über Pollock bis auf Artauds emanzipatorische Gesten zurückgeführt werden kann. Roths abwesende Anwesenheit des Körpers kann unter anderem in die Genealogie des Readymade eingeschrieben werden  –  als suggestive Performanz einer sich in Raum und Zeit entfaltenden Ästhetik, wie sie etwa in Marcel Duchamps metaphorischem Nachlass „Étant donnés“ sichtbar gemacht wird. Nur eine integrale Methodik auf der Basis einer performativen Raumkonstitution mit dem Ziel, der visuellen eine ganzheitlichere, holistische Wahrnehmungsdimension hinzuzufügen, kann die hier evozierten komplexen Strukturen in der Analyse (be) greif bar werden lassen.

Beispiel methodologischer Herangehensweisen anhand einer integralen Sicht …

Beispiel methodologischer Herangehensweisen anhand einer integralen Sicht auf Arbeiten von Carolee Schneemann, Eva Hesse und Josephine Pryde Im Sinne eines möglichen synthetischen Blicks auf Kunstentwicklungen möchte ich nun beispielhaft für meine Unternehmung ein Analysemodell vorstellen. Dies unter dem Primat der Performanz, also dem relationalen Gestus zwischen Subjekt und Objekt, aus dem heraus sich Raum definiert. Wie verschieden sich dieser Imperativ ausdrückt und in welcher Form der emanzipatorische Gestus überhaupt in Angriff genommen wird, möchte ich anhand dreier Arbeiten von Carolee Schneemann, Eva Hesse und Josephine Pryde aufzeigen, deren Entstehungsdaten sich über einen Zeitraum von 40 Jahren verteilen. Die offensichtliche Bezugnahme der Arbeit „Chains“ und der Installation „Valerie“ (vgl. Abb. 19 und 20) von Pryde, die 2004 in der Wiener Secession zu begehen war, auf eines der wesentlichsten Werke aus der Zeit der Neo-Avantgarden der 60er-Jahre, nämlich Eva Hesses „Untitled“ von 1970, ermöglicht mir die Formulierung von Fragestellungen innerhalb eines thematischen Bogens, der von einer retrospektiv orientierten Position der Gegenwart zurück ins Zentrum der bis heute starke Wirkung entfaltenden Positionen der NeoAvantgarden der 60er-Jahre reicht (vgl. Abb. 21). Ich denke, dass mit diesem komparatistischen Ansatz grundsätzliche inhaltliche und potenziell kritische Argumentationslinien sichtbar werden können. Eva Hesses 1970 entstandene Arbeit „Untitled“ möchte ich darauf hin mit einer Live-Performance in Verbindung bringen, die Carolee Schneemann unter dem Titel „Water Light / Water Needle“ 1966 in der St. Mark’s Church in New York durchgeführt hat (vgl. Abb. 22). Was ist nun das selbst bei einer oberflächlichen Betrachtungsweise augenfällig Gemeinsame in diesen drei Arbeiten  ? Zuallererst handelt es sich um Werke von Künstlerinnen. Dieser Hinweis ist durchaus legitim und relevant, wenn man sich die mittlerweile umfangreiche Rezeption der Werke von Schneemann und Hesse im Kontext einer feministischen Auf bruchsbewegung in der Kunst vergegenwärtigt und diese mit der Distanziertheit konfrontiert, welche die mit diesem Kontext spielende Arbeit Prydes vermittelt. Weiters steht im Zentrum aller drei Arbeiten eine sich dynamisch dreidimensional entfaltende Struktur, ein den Raum dominierendes, wucherndes

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Geflecht. Während dies aufgrund des appropriativen Zusammenhanges der Arbeiten von Hesse und Pryde evident ist, erkennt man dieses Element in der Performance Schneemanns erst auf den zweiten Blick. In vielen Arbeiten der amerikanischen Künstlerin spielen Seile, Fäden und gewebeartige Materialstrukturen eine wesentliche Rolle. Man denke an die von Schneemann wiederholt realisierte Performance „Up To and Including Her Limits“ aus den Jahren 1973 bis 1976. Auch in der von mir ausgewählten Arbeit „Water Light / Water Needle“ und den verschiedenen Varianten dieser Performance, die Schneemann teilweise auch outdoor als kommunale Aktivitäten ohne Publikum durchgeführt hat, nehmen Geflechtstrukturen, die bei der Performance in der New Yorker St. Mark’s Church unter der Decke angebracht worden waren, eine zentrale Position ein. Als dritten gemeinsamen Umstand möchte ich anführen, dass sich jede Arbeit nur dann zur Gänze erschließt, wenn man die jeweilige Struktur in einen Zusammenhang mit subjektiver Präsenz bringt. Anders ausgedrückt  : Alle drei Arbeiten appellieren an interaktive Möglichkeiten – also einem der zentralen Paradigmen im Spannungsfeld von Kunst und Performanz. Die 1966 in New York von Schneemann erstmals durchgeführte Aktion „Water Light / Water Needle“ unterscheidet sich, so wie auch die vorherge-gangene bekanntere Arbeit der Künstlerin „Meat Joy“, von den New York-Happenings eines Kaprow, Dine, Oldenburg oder auch Morris durch die radikalere Definition des Körpers als Ursache und Wirkungsziel eines psychodramatisch ablaufenden Analyseprozesses.183 Die Arbeit ist gekennzeichnet durch eine explizit ausgespielte Multimedialität sowie einen stark sensorisch und kommunikativ orientierten Ansatz. In einem zwischen Tanztheater und gruppendynamischer Übung pendelnden performativen Szenario möchte Schneemann durch expressives Platzieren von Körpern und deren simultane Konfrontation mit verschiedenen Objekten einen kommunal besetzten atmosphärischen Raum herstellen. Die ausgewählten Gegenstände orientieren sich zum Teil an Materialien aus dem Bereich der Malerei bzw. Assemblage. Abfallmaterial wie Stofffetzen, altes Papier, Schnüre und transparente Plastikfahnen bilden einen offenen, nicht nach euklidischer Perspektive organisierten Aktionsraum. Das Ereignis könnte überall stattfinden und wird ausschließlich durch den Prozess des relationalen 183 Carolee Schneemann, More Than Meat Joy, documenttext, New York 1979, S. 63.

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Handelns zwischen den Körpern determiniert. Die Interaktion zwischen den durch ihre angedeutete Nacktheit auch stark sexuell konnotierten Körpern wird innerhalb des an den Prinzipien eines rituellen Handelns orientierten Aktionsfeldes einerseits durch inszenatorische Vorgaben der Künstlerin, andererseits durch die starke sensuelle Wirkung der Objektkonfigurationen bestimmt. Wie die Happenings von Kaprow waren auch die Arbeiten Schneemanns auf die Qualität der momentanen und temporär begrenzten Interaktionen der Beteiligten konzentriert. Die Herstellung dauerhafter Objekte stand dabei nicht im Vordergrund, die Arbeiten bleiben allerdings in der medialen Dokumentation durch Fotografie und Film weiterhin vermittelbar. Schneemanns Kunstbegriff ist radikal aktivistisch und gewissermaßen als momentaner „situationistischer“ Akt konzipiert. In den Werken der deutsch-amerikanischen Künstlerin Eva Hesse manifestiert sich andere, flackernde und pulsierende Energie. So wie Schneemann war sie ursprünglich Malerin, beeinflusst von den Abstrakten Expressionisten – ihre frühen Bilder erinnern zum Teil an Arshile Gorky, aber auch an den rohen figurativen Duktus Karel Appels. Mitte der 1960er-Jahre, nach einem einjährigen Aufenthalt in Düsseldorf, dehnte sie ihre Malerei mit dem frühen Schlüsselwerk „Hang Up“ in den Raum aus und begann mit der Produktion von eigenständigen Objekten, die im Kontext der transatlantischen neoavantgardistischen Skulptur unverwechselbar waren. Mit dem Wandobjekt „Hang Up“ positionierte sie sich in kritischer Distanz zur männlich dominierten New Yorker Szene der Minimal- und Pop-Art. Immer wieder wird, vor allem im Kontext feministischer Kunst, auf ihre Verwendung von „weichen“ Materialien verwiesen, die in starkem Kontrast zu den harten und präzise konturierten Objekten der abstrakten Werke aus der Minimal-Art stehen. Hesse verwendet stark sinnlich aufgeladene bis fetischistische Materialien wie Gummi, Hanfseile, Latex, Netze und entwickelt sowohl in der Formen- als auch der Materialsprache eine sensorische Sensibilität, die stark kommunikative und partizipatorische Implikationen bedingt. Die ihrem Werk zugeschriebene Empfindsamkeit, aber auch die unzweifelhaft vorhandenen sexuellen Subtexte bringen ihre künstlerischen Vorstellungen, vor allem im Kontext der feministischen Positionen, in einen konzeptuellen Zusammenhang mit Carolee Schneemann. So unterschiedlich die beiden Positionen sich auch darstellen mögen  : Im Kontext einer performativen Raumdynamik stehen bei den Arbeiten beider Künstlerinnen zweifellos partizipatorische Strategien im Zentrum.

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So wie Hesse verwendet auch Schneemann in ihren performativen Arbeiten synchronistisch erfahrbare Materialien. Ihre Performances sind, gleichfalls analog zu Hesses Objektkonfigurationen, von einem surrealen und stark sexuell gefärbten Humor bestimmt und partizipatorisch konzipiert. Die Werke von Eva Hesse sind allerdings Exempel für eine andere Qualität der Performanz  : Das Subjekt in seiner unbedingten Körperlichkeit agiert nicht mehr im Rahmen von Erfahrungsszenarien, die durch homogen gestaltete Umfeldbedingungen determiniert sind. Vielmehr lädt das performativ aufgeladene Werk den Rezipienten zu einer Partizipation ein, die sich u. a. in gestikulatorischer Exaltation mit den Objekten äußern kann. Wir haben es im Werk von Eva Hesse also mit potenziell benutzbaren Objekten zu tun  –  ähnlich wie etwa bei Arbeiten von Beuys. Während jedoch die Gegenstände, die Beuys verwendet, eine klare funktionale Bestimmung implizieren, bleiben die Arbeiten von Hesse in einem irritierend bekannt-unbekannten Bereich biomorpher Material- und Formvaleurs. In diesem Sinne appellieren sie, wie beispielsweise etwa zehn Jahre später die ersten Passstücke des österreichischen Künstlers Franz West, an phantasmagorische Bewusstseinsräume, die sich durch einen zur Partizipation einladenden skulpturalen „Schlüssel“ öffnen lassen. Wie stark aber Hesses Werk auch in räumliche Prozesse hineinspielt, lässt sich an einem ihrer letzten Werke, dem 1970 entstandenen, unbetitelten, aber üblicherweise mit „7 poles“ bezeichneten Objektensemble, nachvollziehen (vgl. Abb. 23). Diese großformatige, skulpturale Struktur setzt sich aus sieben L-förmigen Stäben aus verschiedenen, durchscheinenden Materialien wie Aluminiumdraht, Fiberglas und Polyethylenbinden zusammen und war im ursprünglichen Modell als Einheit konzipiert. Durch den schlechten Gesundheitszustand von Hesse, aber auch aufgrund der durch die Übergröße auftretenden Transportschwierigkeiten blieben die einzelnen Teile individuell und f lexibel und wurden nicht dauerhaft zu einem skulpturalen Ensemble verbunden. Aussagen von Freund(inn)en und Mitarbeiter(inne)n der Künstlerin bestätigen, dass Hesse durchaus mit einer prinzipiellen Benützbarkeit der einzelnen Teile sowie dem immer neuen Arrangieren in Ausstellungen einverstanden war. I think Eva wanted this artwork to be played with. I walked into the room one day, and she had just finished the drawing. I looked at it and laughed. She was pleased with my

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response because she had meant the work to be funny – funny and yet dire at the same time. When the work was exhibited publicly, the arrangement was very organized. I had the feeling that it should not be that way.184

Die aus der visuellen Assoziation entstandene Bezeichnung des Werkes kann allerdings im Englischen nicht nur als „7 Stäbe“ sondern auch als „7 Pole“ gelesen werden. Dies impliziert einen performativen Vorgang, bei dem durch das Gestikulieren mit den einzelnen Objekten die Perzipient(inn)en sich vor die Aufgabe gestellt sehen, durch subjektives und relationales Positionieren der sieben einzelnen Teile einen Raum zu konstituieren, der in seiner abstrakten Materialität und organischen Formentfaltung auf biomorphe und phantasmagorische Raumkonstrukte von suggestiver Leichtigkeit und Offenheit verweist. In dieser letzten ausgereiften Arbeit von Hesse zeigt sich also die Qualität eines Objektes, welches durch den performativen Prozess offene und variable Erfahrungsräume aufzuschließen imstande ist. Es stellt sich nun die Frage, in welchem Verhältnis die zwei hier skizzierten Positionen der Neo-Avantgardistinnen Schneemann und Hesse zu der 2004 entstandenen Arbeit von Josephine Pryde stehen. Zweifellos dominiert auch bei Pryde das Moment der Interaktivität. Allerdings manifestiert sich diese nicht mehr als ein humanistischer Appell im Sinne eines sozial orientierten „get involved“. Dieser Ansatz bei Schneemann und, wenn auch minimalistisch reduziert, bei Hesse, entspricht dem gesellschaftspolitischen Programm der Neo-Avantgarde der 60er-Jahre. Ein grundsätzlicher Handlungsrahmen war damals – das zeigen die Arbeiten von Schneemann und Hesse deutlich – jene medien- und technologiekritische Einstellung, die gerade von Künstlerinnen – von Bourgeois über Schneemann und Hesse bis zu VALIE EXPORT mit dem Tapp- und Tastkino  –  deutlich formuliert wurde. Inzwischen erlebte diese Position allerdings eine gründliche Revision und der idealistische Romantizismus der 1960er-Jahre ist einer Art souveräner und zynischer Kampf bereitschaft gewichen, die auf den erhöhten Druck von Machtstrukturen verweist. Dieser gesellschaftspolitische Wandel determiniert aus meiner Sicht die ästhetische Aura von Prydes Installation „Valerie“ 2004 in der Secession. Schneemann und Hesse huldigen einer biomorphen Materialästhetik, wobei Hesse bereits ein Distanzkriterium setzt, wenn sie das verwendete Seilmaterial durch einen dünnen Latexüberzug künstlich verfremdet und isoliert. Bei Pryde 184 Elisabeth Sussmann (Hg.), Eva Hesse, Katalog, London 2002, S. 305.

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hingegen wird ganz bewusst ein irritierender Kontrast zwischen demonstrativer, ja aggressiver Andersartigkeit des Materials und einem direkten Zitatbezug auf die Arbeit Hesses hergestellt. Die Verwendung von Fahrradketten konnotiert im Gegensatz zu Hesses „Untitled“ von 1970 eine Bandbreite alternativer und heute aktueller popkultureller Referenzen, mit denen sie nicht nur einen völlig anderen feministischen Diskurs initiiert (z. B. die Maschinenästhetik von Pop- und Metal-Underground bzw. diversen Fetischkulturen, Riot-Girl-Kultur, Techno-Chic usw.), sondern, unabhängig von ideologischen Spekulationen, die jeweiligen Zeichen gerade durch die materielle und konzeptuelle Engführung mit den Arbeiten von Hesse im Hochkunstbereich verortet. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Ansatz nicht allzu sehr eine strategische und potenziell affirmative Ebene der Medienkunst mit einer Brückenfunktion zu Werbung und Consumerism bedient. Hat nicht gerade dieser radical chic die Young British Art (= YBA) so populär gemacht und unterläuft somit reformistisch die gesellschaftskritische / -analytische Agenda der Post-Avantgarden  ? Was die unmittelbare Performanz, also die Präsenz des Subjekts im Kunstwerk betrifft, ein Aspekt, der in diesem Zusammenhang eher dem Werk Schneemanns als dem von Hesse zuzuordnen ist, so operiert die Arbeit Prydes nach der gleichen Logik. In Schneemanns Performance geben die Seilstrukturen eine geometrisch verschobene Raummatrix vor. Sie verändern das Szenario, indem den kommunizierenden Körpern in diesem Environment die Möglichkeit zu alternativen synchronistischen Erfahrungen und zu gemeinschaftlich erlebten Kommunikationsekstasen eingeräumt wird  –  es handelt sich um die Herstellung einer zeitlich begrenzten und flüchtigen, gleichwohl intensiven Sozialität. Davon kann in der Arbeit von Josephine Pryde keine Rede sein. Sie verortet das Subjekt in der Form zweier künstlich verfremdeter Frauenporträts medial distanziert im Raum. Zwar hängen diese beiden relativ kleinformatigen Fotografien in unmittelbarer Nähe zur Gewebestruktur der Metallketten, aber sie sind von dieser durch eine nicht als Hängefläche benützte Stellwand getrennt. Die Isolierung der beiden Elemente entspricht dem distanziert-kritischen Ansatz der Künstlerin, deren Intention klar in der Evokation und Analyse kulturanthropologischer Zeichen und kunstgeschichtlicher Erinnerungswerte liegt. Die beiden Fotografien zeigen dieselbe Person im Sinne eines diskreten Ansatzes serieller Verfremdung in verschiedenen Ansichten. Darüber hinaus verwendet die Künstlerin die in der Pop-Kultur der 1970er-Jahre populäre Amateurtechnik der Solarisation – ein weiteres medientechnologisches Verfremdungs- und Distanzierungsstilmittel, um die isoliert-abstrakte Zeichenhaftigkeit der Arbeit noch stärker zu prononcieren.

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Die hier von Pryde exemplarisch vorgeführten Stilmittel sind ein Beleg für die explosionsartige und nachhaltige Entwicklung der Kunst im Bereich der Echtzeitmedien, von der Videotechnologie bis zum Internet. Damit haben sich das ästhetische Handlungsfeld und seine kontextuellen Rahmen beträchtlich erweitert  –  eine drohende Isolation und Selbstentmündigung konnte so verhindert werden. Es entspricht einer grundsätzlichen Haltung der 1990er-Jahre, soziale und kulturelle Veränderungen u. a. als Effekte der Medien zu begreifen  –  in den 1960er-Jahren galten sie lediglich als Hilfsmittel zur Implementierung des gesellschaftlichen Wandels. Aber auch der medientechnologisch orientierte Ansatz hat historische Wurzeln, die von der Technikfaszination der italienischen Futuristen bis zu Marshall McLuhan reichen. Der kanadische Theoretiker sah schon 1964 die Medien als die eigentliche – von den Künstlern allerdings nicht anerkannte – Verwirklichung der in den Künsten formulierten Träume von neuen Wahrnehmungsformen. Ihre heutige, wissenschaftlich fundierte Form finden sie in Medientheorie-Ansätzen wie dem Friedrich Kittlers, der postuliert, dass es nur möglich ist, den „Output von Medien weiterhin mit Kunst zu verwechseln, weil bei technischen Geräten Design und Schrauben dafür sorgen, daß sie black boxes bleiben“. Denn die Deckelhauben der Geräte sind für Kittler nicht von Künstlern, sondern „schon laut Beschriftung, nur vom Fachmann zu öffnen. Was darunter abläuft, in den Schaltkreisen selber, ist keine Kunst, sondern ihr Ende in einer Datenverarbeitung, die vom Menschen Abschied nimmt.“185 Dennoch möchte ich die Antwort auf die Frage offenlassen, ob aus einem Schulterschluss von Avantgarde und Technologie auf eine rein affirmative Haltung der Kunst zu Technologie und Consumerism geschlossen werden kann. Die Notwendigkeit dieser Diskussion scheint mir allerdings evident  –  gerade aufgrund der Gemeinsamkeiten, aber auch starken Unterschiede von Arbeiten aus einer Epoche, in der die paradigmatischen Strukturen der gegenwärtigen Kunst entwickelt wurden. Trotz fundamentaler Unterschiede in der individuellen Werkgestaltung liegt dem Gestus der Arbeiten der hier genannten Künstlerinnen der gemeinsame Imperativ des performativ aufgeladenen Raumes zugrunde. Entscheidend ist, dass alle Positionen sich auf einen Werkbegriff zurückführen lassen, bei dem der Körper als Bezugspunkt in Relation zum Objekt emanzipatorische Gesten 185 Friedrich A. Kittler, „Fiktion und Simulation“, in  : Ars Electronica (Hg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 57.

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setzt, auch wenn er wie bei Pryde nur mehr als Zeichen repräsentiert ist und damit das Kunstwerk, sei es ein Bild oder eine Skulptur, in den Raum erweitert. Dieser Raum wird im Sinne der Avantgarde als kritisches Erfahrungslabor definiert. Als ästhetisches Dispositiv zur Aufsprengung von Orthodoxien, von Sinnkohärenzen und repressiven Strukturen, um im Sinne Derridas oder Foucaults dem Anderen oder dem Wahnsinn einen Platz zu verschaffen. Oder, um es mit Kittler zu sagen  : „Der Zusammenstand heterogener Heterogenitäten macht nicht nur nicht Sinne  ; er sprengt auch die Strukturen.“186

186 Friedrich Kittler, Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980, S. 10.

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Abbildungsnachweis und Courtesy Die Bildrechte wurden nach bestem Wissen und Gewissen abgeklärt. Sollten wir dennoch ein Urheberrecht verletzt haben, bitten wir um Kontaktaufnahme. Umschlag © Anja Manfredi / S.  119 (oben) © VBK, Wien 2012 / S.  119 (unten) © VBK, Wien 2012 / S.  120 (oben) © VBK, Wien 2012 / S.  120 unten © Hans Namuth Estate / S.  121 © VBK, Wien 2012 / S.122 © VBK, Wien 2012 / S.  123 © VBK, Wien 2012 / S. 124 © VBK, Wien 2012 / S. 125 oben © Carolee Schneemann / S.125 unten © VBK, Wien 2012 / S. 126 oben © VBK, Wien 2012 / S. 126 unten © VBK, Wien 2012 / S.  127 oben © Carolee Schneemann / S.  127 unten © Dieter Roth Foundation / S. 128 oben © Anja Manfredi / S. 128 unten © Dorit Margreiter / S. 129 © Roberta Lima / S. 130 oben © Matthias Herrmann / S. 130 unten © Estate of Eva Hesse / S. 131 oben © Carolee Schneemann / S. 131 unten © Estate of Eva Hesse

ANDREA ELLMEIER, DORIS INGRISCH, CLAUDIA WALKENSTEINER-PRESCHL (HG.)

GENDER PERFORMANCES WISSEN UND GESCHLECHT IN MUSIK. THEATER. FILM. (MDW GENDER WISSEN, BAND 2)

„mdw Gender Wissen“ ist eine Buchreihe der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/mdw. Die Publikationen dieser Reihe tragen dazu bei, die Wirkmächtigkeit von Gender (soziales Geschlecht) in Wissens- und Kunstproduktionen an der mdw sichbar zu machen. Ein zentrales Anliegen ist es, Kunst, Wissenschaft und Geschlecht/Gender zusammen zu denken. Band 2 der Reihe „mdw Gender Wissen“ thematisiert und reflektiert Gender Performances in Musik, Theater und Film. Die Gendertheorie geht heute von einer performativen Konstitutierung von Gender aus, d. h. die wiederholende Praxis konstituiere erst das Geschlecht/Gender, die jeweilige Geschlechterzugehörigkeit. Demgemäß betont das Motto der Reihe „mdw Gender Wissen“ Potenziale und Möglichkeiten: „Alles, was einmal geworden ist, kann sich im Interesse einer Geschlechterdemokratie auch wieder (ver)ändern.“ 2011. 184 S. BR. 33 S/W-ABB. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-78651-1

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

EvA-MARIA LANdWEhR

Kunst des Historismus (UTB 3645 S)

Der Rückgriff auf historische Kunststile war keine Erfindung des 19. Jahrhunderts – doch sein pluralistisches Stilhandeln verhielt sich diametral zu den elitären ‚renovationes‘ früherer Jahrhunderte: Statt einer Geschichte für wenige gab es nun viel Geschichte für alle. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit brachte eine Kunst hervor, die von den aktuellen sozialen, konfessionellen und politischen Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit erzählt. Restaurative, nationale und nostalgische Sehnsüchte motivierten ebenso stark wie der Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg. Dieses Buch betrachtet die jeweiligen Auftraggeber, erklärt den assoziativen Einsatz der historischen Stile, und befasst sich mit der theoretischen und praktischen Welt der Kunstschaffenden und Kunstrezipienten. 2012. 248 S. 22 S/W-ABB. BR. 185 X 120 MM | ISBN 978-3-8252-3645-8

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ARIANE MENSGER

DIE SCHEIBENRISSE DER STAATLICHEN KUNSTHALLE KARLSRUHE

Die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe besitzt mit über 1.100 Blatt den weltweit größten Bestand an Vorzeichnungen für Glasgemälde – sogenannte Scheibenrisse. Die Zeichnungen lassen sich rund 30 Künstlern aus dem 15. bis 17. Jahrhundert zuordnen, die unter anderem in Zürich, Basel, Schaff hausen und Straßburg tätig waren. Die Glasmalerei erlebte zu dieser Zeit eine große Blüte, die mit dem Brauch zusammenhing, sich gegenseitig kleine Glasgemälde zu stiften, um Bündnisse, Ämterbesetzungen, Ehe-Allianzen oder Freundschaften anzuzeigen. Die Karlsruher Scheibenrisse sind ein in Größe und Qualität einmaliger Bestand, der in den vergangenen Jahren erstmals wissenschaftlich bearbeitet wurde. Mit dem Bestandskatalog wird dieses Material nun vollständig der Forschung und Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Er ist ein unverzichtbares Nachschlagewerk für alle Kunstsammlungen, Galerien und Privatsammler im In- und Ausland, die sich mit den vielgestaltigen Phänomenen der Altmeisterzeichnung und der Glasmalerei befassen. 2012. XVI, 616 S. IN 2 TEILBDN. 1216 S/W- UND 11 FARB. ABB. GB. MIT SU. IM SCHUBER. 245 X 305 MM. | ISBN 978-3-412-20721-2

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