Pandemien Und Ihre Bekampfung: Wirtschaftsethische Und Moralokonomische Perspektiven (German Edition) 3428188004, 9783428188000


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Pandemien Und Ihre Bekampfung: Wirtschaftsethische Und Moralokonomische Perspektiven (German Edition)
 3428188004, 9783428188000

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Volkswirtschaftliche Schriften Band 575

Pandemien und ihre Bekämpfung Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski

Duncker & Humblot · Berlin

DETLEF AUFDERHEIDE / MARTIN DABROWSKI (Hg.)

Pandemien und ihre Bekämpfung

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann †

Band 575

Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. habil. Detlef Aufderheide

Dr. Martin Dabrowski

Business Ethics and Strategic Management School of International Business Hochschule Bremen Werderstr. 73

Katholische Akademie in Bayern Studienleiter/Leiter IT Mandelstraße 23

D-28199 Bremen

D-80802 München

Die Tagungsreihe „Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik“ wird in Kooperation zwischen der katholisch-sozialen Akademie FRANZ HITZE HAUS und der School of International Business, Hochschule Bremen durchgeführt.

Pandemien und ihre Bekämpfung Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven

Herausgegeben von

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski In Verbindung mit Karl Homann · Christian Kirchner † Michael Schramm · Jochen Schumann † Viktor Vanberg · Josef Wieland

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 978-3-428-18800-0 (Print) ISBN 978-3-428-58800-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. In Anlehnung an eine vielfach überlieferte Fußballlehrerweisheit lässt sich unsere Motivation als Tagungsveranstalter und Herausgeber gut zusammenfassen: Bereits kurz nach Übergreifen der Pandemie auf Mitteleuropa und insbesondere im Zuge der ersten Kontaktverbote – später auch, sprachlich etwas übertreibend, Lockdown genannt – im März 2020 zeichnete sich angesichts der sich gleichsam überstürzenden Ereignisse nicht nur ab, dass eine Reihe schwerer Wert- und Interessenkonflikte zu bewältigen sein würde, und zwar auf politischer, wirtschaftlicher und persönlicher Ebene gleichermaßen. Vielmehr war bei verständiger Betrachtung auch bald ersichtlich, dass dieser Pandemie zu einem noch unbekannten Zeitpunkt noch weitere, nicht minder schwere folgen können, für deren Bewältigung Lehren aus der aktuellen Entwicklung zu ziehen sind – nicht zuletzt mit Blick auf Erfolge und Misserfolge, auf überzeugende und weniger überzeugende Maßnahmen. Diese wurden zu Beginn der Covid-Pandemie zunächst unvermeidlich ad hoc und unter extrem großer Unsicherheit getroffen, ehe nach und nach mit wachsender wissenschaftlicher Erkenntnis und ruhigerer ethischer Reflexion eine besser fundierte Entscheidungsfindung möglich wurde und weiterhin sein wird. Hier war und ist Expertise aus unterschiedlichen Zweigen der Wissenschaft gefragt – und rationaler, Disziplinen übergreifender Diskurs zwingend geboten, auch wenn Erkenntnisse gerade unter derart komplexen Umständen unvollkommen bleiben müssen. Vor diesem Hintergrund haben wir sehr kurzfristig entschieden, Pandemien und Strategien zu ihrer Bekämpfung im Rahmen unserer Reihe zu Wirtschaftsethik und Moralökonomik als nächstes Thema in Angriff zu nehmen. Was wir im März 2020 vielleicht ahnen, ohne Zweifel aber nicht wissen konnten: Der ins Auge gefasste reguläre Termin Anfang Dezember 2021 erwies sich als verfrüht. Eine Tagung in Präsenz war uns (weiterhin) verwehrt. Angesichts früherer, sehr guter Erfahrungen mit dem persönlichen Austausch vor Ort sowie mit Blick auf erkennbare Erschöpfungstendenzen bei mehrstündigen Online-Diskussionen (Stichwort etwa mit Bezug auf ein rasch populär werdendes Meeting-Tool: „Zoom fatigue“) kam eine reine Online-Alternative nach reiflicher Überlegung nicht in Betracht. Die bereits durchgeplante Tagung musste also verschoben werden. Nachdem auch zum rasch angepeilten Ersatztermin im September 2022 einzelne aktiv Beteiligte aus gesundheitlichen Gründen eine bevorstehende Absage signalisierten, entschlossen wir uns nicht zuletzt wegen zunehmender Terminknappheit schweren Herzens zum Verzicht auf das gewohnte Format.

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Vorwort

Um so mehr freuen wir uns und sind dankbar, dass sämtliche Beteiligte sich bereit erklärten, eine aktualisierte Fassung ihrer Beiträge für den Tagungsband beizusteuern. Die Ergebnisse liegen Ihnen nun vor. Auch diese Publikation folgt dem Leitbild wechselseitigen Lernens: Im Sinne der Qualitätssicherung werden wie immer jedem Hauptbeitrag zwei Korreferate an die Seite gestellt, in denen jeweils Vertreter oder Vertreterinnen unterschiedlicher Fachdisziplinen zu Wort kommen sollen. Die Formel, dass unser Wissen wächst und zugleich immer vorläufig bleiben muss, gilt wohl für die verschiedenen Facetten und Aspekte der Bewältigung und Bekämpfung von Pandemien in besonderer Weise. Wir freuen uns, für die hier vertretenen Disziplinen den State of the Art per Sommer 2023 dem Leser und der Leserin zur Beurteilung und kritischen Reflexion vorlegen zu dürfen, und sehen weiterem Erkenntnisgewinn – normativem wie explikativem, theoretisch-konzeptionellem wie empirischem – mit Gelassenheit und Demut entgegen. Die bisher im Rahmen unserer Reihe behandelten Gegenstände und erreichten Untersuchungsergebnisse können den elf vorangegangenen Sammelbänden entnommen werden. Sie sind in den „Volkswirtschaftlichen Schriften“ (VWS) des Verlages Duncker & Humblot erschienen und auch als E-Books erhältlich. Für die inzwischen langjährig bewährte Zusammenarbeit in gleichermaßen kollegialer wie freundschaftlicher Atmosphäre sind wir unserem Verleger, Herrn Dr. Florian Simon, überaus dankbar. Dies gilt nicht zuletzt auch für unseren Beraterkreis. Die leider bereits verstorbenen Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h.c. Christian Kirchner, LL.M. und Prof. Dr. Dr. h.c. Jochen Schumann sowie die Herren Prof. Dr. Dr. Karl Homann, Prof. Dr. Michael Schramm, Prof. Dr. Viktor Vanberg und Prof. Dr. Josef Wieland haben uns mit eigenen Beiträgen zum Tagungsband oder beratend in der Vorbereitung der Tagungen über viele Jahre tatkräftig unterstützt. Bremen und München, im September 2023

Detlef Aufderheide und Martin Dabrowski

Inhaltsverzeichnis Nils Goldschmidt und Sarah Lange Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Arnd Küppers Die Pandemie und die Systemrivalität mit China – Korreferat zu Nils Goldschmidt und Sarah Lange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Schramm Gekippte Illusionen. Unsere Existenz jenseits des modernen Entnaturalisierungsprojekts – Korreferat zu Nils Goldschmidt und Sarah Lange . . . . . . . . . . .

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Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge Ethische Dilemmata in der Bekämpfung von Pandemien. Individuelle und kollektive Perspektiven im Widerstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Elmar Nass Nicht jede Antwort ist gut. Sozialethische Kritik am Lob des Einfachen – Korreferat zu Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Dagmar Schulze Heuling Sterben und Recht auf Leben – Korreferat zu Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerd Graßhoff Zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Verlauf der Corona-Pandemie . . . .

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Detlef Aufderheide Anmerkungen zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Zuge der Covid-19Pandemie – Korreferat zu Gerd Graßhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Uta Müller Wissen und Handeln. Überlegungen zur Rolle der Wissenschaften während der Covid-Pandemie – Korreferat zu Gerd Graßhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dirk Sauerland Marktwirtschaftliche Anreize und die Verantwortung von Pharmaunternehmen und Staatengemeinschaft bei der Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen 129 Tim Goydke Zwischen Markt und Moral. Verantwortung und Anreize in der Medikamentenund Impfstoffversorgung in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise – Korreferat zu Dirk Sauerland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

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Inhaltsverzeichnis

Eric Meyer Arzneimittel- und Medizintechnikversorgung in einer Pandemie – Angebotsund Nachfrageherausforderungen – Korreferat zu Dirk Sauerland . . . . . . . . . . . 167 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können Von Nils Goldschmidt und Sarah Lange

I. Zur Bedeutung von Kippmomenten in Zeiten des Wandels Wir leben in einem Zeitalter der Kippmomente – der anthropogene Klimawandel führt uns das drastisch vor Augen, auch wenn der Begriff bei vielen Menschen eher die Assoziation eines allmählichen Prozesses hervorruft. So kommt die aus individueller Perspektive langsam voranschreitende Erderwärmung für eine Krise eher schleppend daher. Bei Krisen denkt man an plötzliche Einschnitte, die sich zumeist durch ihren unvorhersehbaren Eintritt auszeichnen. Jedoch: Ein gefühltes Verständnis des Klimawandels als graduellen Prozess übersieht die Gefahr abrupter Klimaänderungen, wenn kritische Schwellen, sogenannte Kippmomente (Tipping Points) überschritten werden. Kippmomente bezeichnen Situationen, in welchen sich der Zustand eines Systems, beispielsweise eines Ökosystems, innerhalb kurzer Zeit radikal und oft dauerhaft verändert. Diese abrupten Systemänderungen können wiederum Rückkopplungsprozesse mit anderen Subsystemen in Gang setzen und Kaskadeneffekte hervorrufen. Das Auslösen eines Kippmomentes kann also die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt weiterer Kippmomente erhöhen. Besonders augenscheinlich ist dies bei Kippmomenten des Erdklimasystems. Sollte etwa das arktische Meereis schmelzen, würde dies eine Abnahme der Albedo, d. h. der Reflexionsfähigkeit der Erdoberfläche, bedingen. Durch eine verringerte Albedo der Erde wird weniger Sonnenstrahlung reflektiert, wodurch sich der Untergrund noch stärker erwärmt und zu einem weiteren Temperaturanstieg in der Atmosphäre führen kann. Diese Eis-Albedo-Rückkopplung gilt als einer der bedeutendsten positiven Rückkopplungseffekte im Klimasystem. Positiv bedeutet hierbei allerdings nicht, dass der Effekt wünschenswert wäre – ganz im Gegenteil. Ein positiver Rückkopplungsmechanismus verstärkt den Anfangsimpuls, in unserem Beispiel die Erderwärmung, ein negativer Rückkopplungsmechanismus schwächt ihn hingegen ab.1 Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf bringt die Bedeutung von Kippmomenten für das Erdklima wie folgt auf den Punkt: „Das Klimasystem ist kein träges und gutmütiges Faul-

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Mäder, Kipp-Punkte im Klimasystem – Welche Gefahren drohen.

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Nils Goldschmidt und Sarah Lange

tier, sondern es kann sehr abrupt und heftig reagieren.“2 Bestimmte Charakteristika von Kippmomenten lassen sich auch in gesellschaftlichen Krisensituationen beobachten. Am 9. November 1989 eröffnete Harald Jäger, diensthabender Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße in Berlin, den Übergang für reisewillige DDR-Bürger*innen. Rund 20.000 Menschen gelangten binnen einer Stunde nach Westdeutschland. Jägers Handeln und seine Auslegung der neuen Reiseregeln, die kurz zuvor der damalige Sekretär für Informationswesen, Günter Schabowski, mit einem „sofort, unverzüglich“ unterlegt hatte, veränderten die Welt. Wie für Kippmomente üblich, ließ sich der Niedergang der DDR bereits im Vorfeld erahnen, der genaue Zeitpunkt des Umbruchs war jedoch nicht vorhersehbar. Auch dieses äußerst erfreuliche Ereignis lehrt uns einiges über Kippmomente. Grundsätzlich bezeichnen sie eine Schwelle (threshold) von einem Zustand zum Nächsten. Für sozialwissenschaftliche Betrachtungen ist es sinnvoll, zwischen unmittelbaren (direkten) und mittelbaren (kontextualen) Kippmomenten zu unterscheiden.3 Der Moment, in dem Jägers und Schabowskis Handeln zur unverzüglichen Grenzöffnung führten, ist offensichtlich der unmittelbare Kippmoment. Allerdings hatten sich bereits im Vorfeld Dinge im Kontext des direkten Kippmomentes verändert; etwa aufgrund der Entspannungspolitik der 1970er-Jahre sowie der wirtschaftlichen Krise bzw. des anschließenden Verfalls der Sowjetunion in den 1980er-Jahren. Kontextuale Kippmomente verändern die Bedingungen im Umfeld, sodass die Wahrscheinlichkeit für einen direkten Kippmoment steigt. Wenn es darum geht, Kippmomente zu verstehen oder herbeizuführen, ist es oft sinnvoll, sich stärker auf ebendiese Veränderungen im Umfeld zu konzentrieren, als allein den unmittelbaren Auslöser zu beachten. Der kanadische Journalist Malcom Gladwell spricht in seinem Bestseller Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können in diesem Zusammenhang von der „Macht der Umstände“4. Wir wissen nicht, was genau in der Zukunft passieren wird. Aber wir können auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse erahnen, welchen Herausforderungen wir uns mit hoher Wahrscheinlichkeit stellen müssen und welche Szenarien es zu verhindern gilt. Die Bedeutsamkeit von Kippmomenten sollte uns nicht lähmen. Vielmehr gilt es, die Gesellschaft im Ganzen als auch Vertreter*innen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen und ökonomischer Denkschulen im Kleinen für ein gemeinsames Gestalten des vor uns liegenden Wandels zusammenzubringen. Kippmomente sind keine unabwendbaren Schicksale, die eintreffen müssen, sondern Weggabelungen

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Rahmstorf, Abrupte Klimawechsel. Für einen Überblick zu dieser Unterscheidung siehe Lamberson/Page, Tipping Points, Quarterly Journal of Political Science 7 (2), S. 175 – 208. 4 Gladwell, Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können. 3

Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können 11

verschiedener Zukunftspfade. Es liegt an uns, die richtigen Abzweigungen zu wählen.5 Das galt und gilt auch für die Coronapandemie.

II. Kippmoment Coronapandemie – und wie schlägt sich die Demokratie? Noch bis in die Wintermonate des Jahres 2022 hinein schien es so, als sei das nationale Krisenmanagement der parteistaatlichen Führung Chinas im Kampf gegen das Coronavirus dem Vorgehen westlicher Demokratien überlegen – zumindest, wenn lediglich die Letalitätsrate als Bewertungskriterium zugrunde gelegt wurde. Die Null-Covid-Strategie des Staatspräsidenten und Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) Xi Jinping beantwortete kleinste Virusausbrüche mit maximaler Abschottung. Hiermit stand die Volksrepublik – zumindest gemäß eigenen staatlichen Angaben – die ersten zwei Jahre der Pandemie im internationalen Vergleich gut da. 2020 war China die einzige große Volkswirtschaft mit einem positiven BIP-Wachstum.6 Den Kalkulationen der Weltbank zufolge lag das BIPWachstum Chinas im Jahr 2020 bei 2,2 Prozent. Im selben Berechnungszeitraum schrumpfte unter anderem in den USA und Deutschland das BIP im Vergleich zum Vorjahr um 2,8 bzw. 3,7 Prozent.7 Durch die vermeintlich erfolgreiche Eindämmung der Pandemie gewannen viele Chinesinnen und Chinesen erneutes Vertrauen in das „sozialistische“ System.8 Westliche Demokratien schienen die Ausbreitung von SARS-CoV-2 nur langsamer und zu deutlich höheren Kosten kontrollieren zu können. Für die autoritäre bzw. totalitäre Regierung Chinas ging es dabei um viel mehr als nur die Demonstration eines erfolgreichen Umgangs mit dem Coronavirus. In der systemischen Rivalität zwischen Autokratie und Demokratie, zwischen Kollektivität und individuellen Freiheitsrechten schien sich die chinesische Volksrepublik aufgrund ihrer autokratischen Durchsetzungsfähigkeit als krisenfesteres System zu positionieren. Wir argumentieren, dass diese Einschätzung aber höchstens als Momentaufnahme Bestand hatte und einer Analyse der langfristigen Auswirkung nicht standhält. Die Kommunikation eines vermeintlich resilienten Umgangs der chinesischen Führung mit dem exogenen Schock durch das Coronavirus zielte bereits zum Beginn der damaligen Epidemie auf eine möglichst positive Wahrnehmung des Landes in 5 Teile dieses und des vorausgehenden Absatzes wurden übernommen aus Goldschmidt/ Wolf, Gekippt – Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten. 6 Trotz dessen verzeichnete auch China in den letzten Jahren ein deutlich rückläufiges Wirtschaftswachstum; gemäß den Daten der Weltbank (siehe Fußnote sieben) lag das BIP der Volksrepublik 2007 bei 14,2 %, 2018 bei 6,7 % und – unter den Auswirkungen der Coronapandemie – 2020 bei nur noch 2,2 %. 7 World Bank Open Data, Countries and Economies. 8 Shen, Wie können die Chinesen mündig werden.

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Nils Goldschmidt und Sarah Lange

außenpolitischen Beziehungen und den Erhalt der Legitimation des Parteiregimes im Innern ab.9 Im Dezember 2019 untersuchten in China staatliche Labore erstmals Proben des neuartigen Virustyps. Medizinisches Fachpersonal erhielt durch die staatliche Gesundheitskommission das Verbot, Informationen über neue Infektionen nach außen zu tragen. Das Personal des öffentlichen Gesundheitswesens unterliegt seit der Restrukturierung der Partei- und Regierungsorgane im März 2018 den disziplinarischen Befugnissen der Parteizentrale. Der Fall des Arztes Li Wenliang, der frühzeitig auf die aufkommende Infektionskrankheit hingewiesen hatte und daraufhin behördlich zensiert wurde, ist das prominenteste Beispiel des aktiven staatlichen Vertuschungsdrucks. Eine Woche nachdem die Hauptnachrichtensendung des Staatsfernsehens CCTV ihn und weitere sieben Ärzt*innen als „Lügner“ bezeichnete, wurde Li aufgrund der damals noch „unbekannten“ Lungenerkrankung in ein Krankenhaus eingeliefert. Im Alter von 34 Jahren verstarb er an den Folgen der Covid-19-Erkrankung.10 Es zeigte sich bereits in den Anfängen der späteren Pandemie, dass die Handlungen der chinesischen Regierung höchstens zweitrangig durch wissenschaftliche Erkenntnisse motiviert waren. Primäre Antriebskraft war und ist der Machterhalt sowie die positive Darstellung des eigenen Wirkens nach innen und außen. Ende Dezember 2019 gelangten erste Informationen über das Coronavirus an die nationale und internationale Öffentlichkeit. Dabei wurden die Informationen nicht von der Regierung selbst veröffentlicht, sondern fanden durch die sozialen Medien ihren Weg in die internationale Presse. Am 31. Dezember desselben Jahres wurde schließlich der Ausbruch einer neuen Lungenentzündung mit noch unbekannter Ursache in der zentralchinesischen Metropole Wuhan bestätigt. Nachdem sich die Krankheit im Januar 2020 zur Epidemie entwickelte und von der WHO am 11. März 2020 offiziell zu einer weltweiten Pandemie erklärt wurde, signalisierte Xi Jinping den Übergang in einen nationalen Krisenmodus.11 Die pandemische Entwicklung der Infektionskrankheit COVID-19 zu verhindern, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Der Kippmoment war überschritten. Die rasche Verbreitung des Coronavirus und die darauffolgenden tragischen Ereignisse zeigen, wie schnell nationale und internationale Systeme kippen können. Sie verdeutlichen all jene Interdependenzen, die zuvor zwar vorhanden aber zumeist in systemischer Verborgenheit lagen.12 Auf einen Kippmoment im Gesundheitssystem folgten Kippmomente im politischen und ökonomischen Kontext – mit in großem Maße variierenden politischen Bewältigungsstrategien. Für die chinesische Bevölkerung begannen zweieinhalb Jahre extremer Einschränkungen, Überwachung und Repressionen im Namen des Infektionsschutzes. Immer wieder wurden ganze Städte abgeriegelt. Die Bewohner*innen der Stadt 9

Holbing, Vom Krisenherd zum Krisenheld: Chinas Umgang mit COVID-19. Yuan, Arzt Li Wenliang – Posthum ein Nationalheld. 11 A3M, Global Monitoring. 12 Goldschmidt/Wolf, Gekippt – Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten. 10

Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können 13

Ruili beispielsweise durften ihre Häuser für insgesamt mehr als zweihundert Tage nicht verlassen.13 Begleitet wurde die chinesische Null-Covid-Strategie von einer gezielten staatlichen Kommunikationsoffensive. Kritik begegnete das parteistaatliche Propagandasystem mit verschärften Zensurmaßnahmen, etwa im Zuge der Verordnung zur Internetzensur der nationalen Cyberbehörde am 5. Februar 2020.14 Die chinesische Regierung setzte damit jene Strategie fort, die sie bereits vor Eintreten der Kippmomente verfolgte. Kippmomente wie die Coronapandemie sind eine Bewährungsprobe für politische Systeme. Der democracy report 2021 des V-Dem Instituts (varieties of democracy) gibt Auskunft über das Ausmaß, in dem 144 Regierungen als Reaktion auf die Pandemie internationale Standards für Notfallmaßnahmen verletzten.15 Insgesamt verstießen im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung 55 autokratische Regime erheblich oder mäßig gegen internationale Normen. Dabei waren Beschränkungen der Medienfreiheit die am häufigsten erfassten Repressionsmaßnahmen. In den meisten Demokratien wurde gemäß des V-Dem reports verantwortungsbewusst gehandelt, wobei trotz dessen neun Demokratien schwere und 23 Demokratien moderate Verstöße gegen internationale Normen verzeichneten. Der aus sieben Indikatorfeldern zusammengesetzte Pandemic Democratic Index (PanDem Score) bewertet das Ausmaß, in dem staatliche Reaktionen auf Covid-19 gegen internationale Standards, etwa durch übermäßige Gewaltanwendung oder offizielle Desinformationskampagnen, verstoßen. Die verwendete Skala reicht von 0 (kein Verstoß) bis 1 (maximales Ausmaß). Als eines von 14 Ländern erreichte Deutschland einen PanDem Score von 0. China hingegen führt mit einem Wert von 0,75 die Kategorie jener Länder mit schwerwiegenden Verstößen an.16 Die drastische Null-Covid-Strategie der autokratischen Regierung Chinas konnte die Ausbreitung des Coronavirus innerhalb der Volksrepublik bis Anfang 2022 weitestgehend verhindern. Gerechtfertigt wurden die ausgeprägten Freiheitseinschränkungen der Bevölkerung damit, dass der chinesischen Regierung Menschenleben schlichtweg mehr wert seien als den Regierungen der westlichen Staatengemeinschaft. Glaubt man den offiziellen Daten, konnte China über die ersten zwei Pandemiejahre hinweg eine Sieben-Tage-Inzidenz (d. h. Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen binnen sieben Tagen) von nahe Null aufweisen.17 Auch mit Verweis auf den „Erfolg“ der chinesischen Strategie zur Pandemiebekämpfung wurde in Deutschland von verschiedenen mehr oder minder lauten Stimmen eine ZeroCovid- bzw. No-Covid-Strategie gefordert. Dabei unterscheiden sich die Vertreter*innen der beiden Strategien in ihren wirtschaftspolitischen Ansichten fundamental. Anhänger*innen der kapitalismuskritischen Kampagne #ZeroCovid sprachen 13

Böge (2023), Eine Stadt fragt sich, wofür all die Entbehrungen notwendig waren. Holbing (2020), Vom Krisenherd zum Krisenheld: Chinas Umgang mit COVID-19. 15 Alizada et al., Autocratization Turns Viral, Democracy Report 2021. 16 Pandemic Backsliding Project, Pandemic Backsliding: Democracy During COVID-19. 17 WHO, Coronavirus (COVID-19) Dashboard. 14

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Nils Goldschmidt und Sarah Lange

sich für eine gemeinsame europäische Strategie zur temporären Reduktion des öffentlichen Lebens, insbesondere wirtschaftlicher Geschehnisse, aus. Ziel sollte es sein, die Covid-19-Pandemie durch ein Absenken der Sieben-Tage-Inzidenz auf Null zu beenden. Zur Finanzierung dieser „solidarischen Pause“ in der Wirtschaft wurde eine europaweite Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen und höchste Einkommen, Unternehmensgewinne sowie Finanztransaktionen vorgeschlagen.18 Ivo Eichhorn, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Goethe Universität in Frankfurt am Main und Mitinitiator von #ZeroCovid, sagte dazu im Gespräch mit Dlf Kultur: „Wir fordern, dass nicht der Wirtschaft geholfen wird, sondern, dass diejenigen zahlen, die trotz der Riesenkrise profitiert haben.“19 Die eher marktliberalen Befürworter*innen einer No-Covid-Strategie verfolgten ebenfalls das Ziel, die Infektionszahlen drastisch zu senken, sprachen sich jedoch entschieden für eine Offenhaltung der Wirtschaft aus. Im Unterschied zu #ZeroCovid räumten sie dem Schutz der Wirtschaft einen prioritären Stellenwert ein. Striktere Einschränkungen im privaten Bereich sollten mögliche zukünftige Einschränkungen von Unternehmen verhindern. So vertrat der Ifo-Chef und Unterstützer der Initiative No-Covid Clemens Fuest in einem taz-Interview die Ansicht, dass es „wirklich sehr schlimm wäre“, wenn „wir jetzt eine dritte Infektionswelle bekommen, die uns womöglich dazu zwingt, auch große Teile der produzierenden Wirtschaft herunterzufahren“. Um dies zu verhindern, dürfe „alles, was Wirtschaftsverkehr ist, also Lieferanten und Berufspendler […] weiter die Grenzen überschreiten“, aber „aus Jux oder zum Einkaufen“20, das gehe nicht mehr. Was beide Strategien unabhängig von ihrer diametralen ökonomischen Denkrichtung übersehen, ist die Notwendigkeit der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz ihrer geforderten Maßnahmen. Vermeintliche oder tatsächliche First-best-Lösungen nutzen nichts, wenn die Bevölkerung sie nicht als solche anerkennt und bereit ist, sie und ihre Konsequenzen mitzutragen. Es ist daher nicht überraschend, dass in Kippmomenten, in denen entschiedenes und schnelles politisches Handeln gefragt ist, immer wieder Stimmen laut werden, die meinen, Demokratien seien zu langsam im Umgang mit Krisensituationen. In pluralistischen Demokratien wie Deutschland sind politische Ergebnisse im Idealfall das Ergebnis schrittweiser Verhandlungen, Diskussionen und Kompromisse. Prozesse der Kompromissfindung sind langsamer als zentralistische Vorgaben zur Ergebnisfestsetzung. Die Ergebnisse der im Prozess entwickelten Kompromisse selbst sind jedoch häufig tragfähiger und beständiger. Ein Kompromiss als Ergebnis eines partizipativen Prozesses ermöglicht, auch potenzielle Kritiker*innen des Ergebnisses einzuschließen, da sich diese im Prozess selbst konstruktiv einbringen können. Es geht um die Gestaltung der Kontexte. Hierdurch haben (nicht nur) politische Kompromisse länger Bestand und treffen auf eine breitere Akzeptanz als zentralistische Vorgaben. 18

Finkenzeller, „Zero Covid“ und „No Covid“: Der Unterschied zwischen Null und Nichts. Eichhorn im Interview mit dlf Kult, #zeroCovid: Kampagne fordert solidarischen europäischen Shutdown. 20 Fuest, im taz-Interview, „Wir können uns das noch leisten“. 19

Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können 15

In Autokratien wie China oder Russland können per Regierungsanordnung in kürzester Zeit Massentestungen oder flächendeckende Lockdowns angeordnet werden. Wie wenig nachhaltig solche Top-down Anordnungen ohne transparente Aushandlungsprozesse und mit fehlender Akzeptanz in der gesellschaftlichen Mehrheit sind, zeigte sich in China im Verlauf des Jahres 2022. Trotz strenger Sanktionierung kam es vermehrt zu Verstößen gegen die staatlichen Auflagen zur Pandemiebekämpfung. Vermutlich ab dem letzten Novemberwochenende 2022 folgten landesweite Proteste gegen die COVID-19-Maßnahmen, welche sich mancherorts zu Protesten gegen Xi Jinping und die Einparteiendiktatur der KPCh ausweiteten. Die Aufstände gelten als die umfangreichsten Proteste in China seit der ursprünglich studentischen Demokratiebewegung im Jahr 1989, welche durch die gewaltsame Niederschlagung in Peking ihr Ende fand. Nach Monaten sozialer Isolation zeigte sich vermutlich auch der chinesischen Bevölkerung trotz staatlicher Indoktrination, dass die Wertigkeit des Lebens nicht mit einem reinen Schutz des Überlebens gleichgesetzt werden kann. Die schlichte Output orientierte Haltung der Regierung (im Sinne einer maximal niedrigen Letalitätsrate) reichte zur langfristigen Befriedung der Bevölkerung nicht aus. Zwar stimmen wir damit überein, dass eine niedrige Letalitätsrate eine, wenn nicht die, wünschenswerte Zielgröße des Pandemie-Managements ist, der Prozess des Managements darf deshalb aber nicht außer Acht gelassen werden. Vielmehr gilt es auch hier einen von der betroffenen Solidargesellschaft akzeptierten Kompromiss zu finden, zwischen dem Recht auf Leben und dem Wie der Lebensgestaltung. Gleiches gilt für die Ausgestaltung des Wirtschaftssystems und den Schutz von Unternehmen in Krisensituationen. „Die Wirtschaft“ entwickelt sich nicht zum Selbstzweck, sondern zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im Zielkonflikt knapper Ressourcen. Im Kern aller wirtschaftspolitischen Entscheidungen sollte somit immer die Frage nach gesamtgesellschaftlichem Nutzen und Zusammenhalt stehen. Aufgrund von Externalitäten und Rückkopplungseffekten können nationale Interessen dabei nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind in den Zusammenhang globaler Interessen einzuordnen. Wirtschaftspolitische Empfehlungen, die aus dem ökologischen, sozialen und kulturellen Kontext herausgelöst getätigt werden, laufen Gefahr maßgebliche Bereiche der Wirklichkeit zu übersehen. Politische Festsetzungen auf Basis idealisierter ökonomischer Annahmen, eignen sich nur schlecht für den Umgang mit Kippmomenten. Insofern ist die gegenwärtige, diskursgeleitete Strategie der deutschen Politik in mancher Hinsicht besser als ihr Ruf: Sie versucht unter der Wahrung von Grundrechten und Freiheit Balancen zu schaffen, die von den Bürger*innen akzeptiert werden.21 Autoritäre und populistische Regierungen hingegen, die insbesondere in Krisenzeiten vermehrt Zustimmung finden, vertreten häufig ein Gesellschaftsbild, das sich an strikten und starren Ordnungsvorstellungen orientiert, die um jeden Preis einzuhalten sind. Im Unterschied zu der restriktiven Pandemiepolitik Chinas neigen genuin populistische Regierungen wie jene der mittlerweile abgewählten Präsidenten 21

Fratscher, Gesellschaftliche Akzeptanz als Schlüssel in der Corona-Pandemie, S. 70 f.

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Nils Goldschmidt und Sarah Lange

Donald J. Trump und Jair M. Bolsonaro zu einer ausgeprägten Marginalisierung der Gefahren einer Covid-19-Infektion. Dabei spiegelte weder das autoritäre Vorgehen Chinas noch der Populismus in den USA und Brasilien das gesamtgesellschaftliche Interesse wider. Politischer Populismus tritt in verschiedenen ideologischen Formen auf und ist häufig durch vermeintlich leichte, auf den ersten Anschein hin besser verständliche Lösungen für komplexe Probleme gekennzeichnet.22 So untersuchten Bayerlein et al. mithilfe ökonometrischer Modelle anhand einer Stichprobe von 42 Ländern mit wöchentlichen Daten aus dem Jahr 2020, wie erfolgreich populistische Regierungen mit dem Pandemieschock umgingen.23 Dabei bestätigen sich ihre Ausgangsthese, wonach populistisch regierte Länder unter anderem stärker von der Pandemie betroffen sind. Insgesamt überstieg die Übersterblichkeit in populistisch regierten Ländern die Übersterblichkeit in nicht-populistischen Ländern um 8 Prozentpunkte (bzw. 98 %). Auch die chinesische Regierung sah sich Ende 2022 aufgrund der hochansteckenden Omikron-Variante und einer rapide abnehmenden Akzeptanz der Null-CovidStrategie in der Zivilbevölkerung mit steigenden Infektionszahlen konfrontiert. Die Lockdown-Maßnahmen wurden immer härter, die Null-Covid-Strategie für die KPCh zunehmend teurer und die Stimmung in der Bevölkerung kippte. Anfang Dezember erfolgte eine abrupte Kehrtwende der chinesischen Corona-Politik. Die autoritäre Null-Covid-Strategie war gescheitert. Innerhalb weniger Tage und ohne vorherige Ankündigungen oder Maßnahmen zur Vorbereitung der Bevölkerung fielen so gut wie alle Corona-Regeln. Da es chinesischen Forschern*innen bislang nicht gelungen ist, einen eigenen mRNA-Impfstoff auf den Markt zu bringen, werden immer noch Vakzine der ersten Generation verwendet, die nicht an die Omikron-Virusvariante angepasst sind. Das Angebot kostenloser Impfdosen der Hersteller Biontech und Moderna seitens der EU hatte die Regierung in Peking abgelehnt.24 Was folgte waren Berichte über überfüllte Krankenhäuser, in Notaufnahmen abgewiesene Patient*innen und überlastete Krematorien.25 Mit dem Ende der Massentestungen stellte die Gesundheitskommission auch die Veröffentlichung von Neuinfektionszahlen ein. Die offiziellen Todeszahlen stehen in keiner Relation zu internationalen Schätzungen. Yanzhong Huang, Experte für chinesische Gesundheitspolitik am Council of Foreign Relations, gab in einem Gespräch mit der ZEIT an, dass niedrige Todeszahlen dazu genutzt werden, „die vermeintliche Überlegenheit des politischen Systems zur Schau zu stellen. Mit einer Zahl von nur 80.000 Toten kann man an dieser Erzählung festhalten. Denn, wenn man das durch eine Milliarde Infizierte teilt, ergibt sich eine extrem niedrige Fallsterblichkeit, wahrscheinlich die niedrigste 22

Spier, Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa. 23 Bayerlein et al., Populism and COVID-19: How Populist Governments (Mis)Handle the Pandemic, Journal of Political Institutions and Political Economy 2021 (2), S. 389 – 428. 24 Schmidt, Chinas Grenzen sind wieder geöffnet. 25 Simmank, Wie schlimm ist Chinas Corona-Welle?.

Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können 17

auf der ganzen Welt“26. Modellrechnungen von Jun Cai et al. (2022) schätzen die tatsächliche Zahl der Toten einer ersten Infektionswelle nach der vorherigen NullCovid-Politik hingegen auf eine bis eineinhalb Millionen.27 Die chinesische Bevölkerung leidet nach den Entbehrungen der letzten Jahre erneut unter ihrer autoritären und kompromisslosen Führung. Der Kompromissbildungsprozess parlamentarischer Verfahren in demokratischen Staats- und Gesellschaftsformen mag gerade in Kippmomenten einen trägen, ja zu trägen Anschein erwecken. Diesen Kosten kompromissorientierter Aushandlungsprozesse steht jedoch ihr Nutzen nachhaltigerer und gesellschaftlich akzeptierter Ergebnisse entgegen. Wenngleich es auch in westlichen Demokratien wie Deutschland zu Protesten gegen Schutzmaßnahmen im Zuge der COVID-19-Pandemie kam, ermöglichte unser demokratisches System prävalentere Ergebnisse, als sich aus den divergierenden Ausgangspositionen ableiten lassen.28 Der zunehmenden Kritik, derer demokratische Systeme aktuell verstärkt ausgesetzt sind, zeigt, dass die ihnen innewohnende Notwendigkeit andere Positionen und Werte auszuhalten, mittlerweile für viele Menschen als schwer erträglich erlebt wird. Eine mögliche Krise der Demokratie ist insofern auch als eine „Krise der Gemeinschaft, des Einanderaushaltens und des Zusammenfindens“ zu betrachten, wie es die Verfassungsrechtlerin Sophie Schönbergerin einem jüngst erschienenen Essay schreibt.29 Auch der Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer spricht von der Gegenwart als einer Zeit geringer Ambiguitätstoleranz, in der die Duldsamkeit anderer Sichtweisen abnimmt.30 Dabei war es gerade der demokratische, durch unterschiedliche Meinungen geprägte Diskurs, der zur überwiegenden gesellschaftlichen Akzeptanz und damit zum relativen Erfolg der deutschen Corona-Politik (trotz der geschehenen und in einer föderalistischen Organisationssystem vielleicht nur schwierig zu vermeidenden Fehler) beigetragen hatte.

III. Lehren aus der Pandemie für den Klimawandel Sicherlich lässt sich der Erfolg bzw. Misserfolg unterschiedlicher Staatsformen und ihrer jeweiligen Strategie zur Bewältigung der Coronapandemie nicht eins zu eins auf andere Krisensituationen und drohende Kippmomente übertragen. Wir sind jedoch der Ansicht, dass sich aus der vorausgehenden Analyse der chinesischen

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Bayerlein et al., Populism and COVID-19: How Populist Governments (Mis)Handle the Pandemic, Journal of Political Institutions and Political Economy, 2021 (2), S. 389 – 428. 27 Cai et al., Modeling transmission of SARS-CoV-2 Omicron in China, Nat Med 28, S. 1468 – 1475. 28 Zanetti, Spielarten des Kompromisses. 29 Schönberger, Zumutung Demokratie. 30 Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.

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und deutschen Pandemiepolitik durchaus einige Lehren für den erfolgreichen Umgang mit weiteren vor uns liegenden Kippmomenten ergeben. Nehmen wir den Klimawandel nochmals auf: Auf einer übergeordneten Ebene lässt sich der anthropogene Klimawandel selbst bzw. rückblickend das menschliche Erkennen desselben, der globalen Erwärmung und ihrer existenzbedrohenden Folgen für Mensch und Natur als eine Gruppe mehrerer, teils interdependenter Kippmomente betrachten. Vor mehr als 50 Jahren, am 2. März 1972, veröffentlichte der Club of Rome unter dem Titel „Grenzen des Wachstums“ den ersten umfassenden, wissenschaftlich fundierten Report zur Zukunft der menschlich bewirtschafteten Erde. Das 17-köpfige Forschungsteam unter der Leitung des Ökonomen Dennis Meadows untersuchte, wie sich die fünf Entwicklungsbereiche Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, nicht erneuerbare Ressourcen und Umweltschäden zukünftig beeinflussen – mit dem Ergebnis, dass es ein „Weiter so“ ohne massive Krisen nicht geben wird.31 Ein halbes Jahrhundert und viele Klimaberichte später ist es wissenschaftlicher Konsens, dass an einer Transformation unseres CO2 intensiven Wirtschaftens kein Weg vorbei führt – über das Wie sind sich Ökonom*innen und andere Wissenschaftler*innen jedoch keineswegs einig. In den Klimawissenschaften gilt die 1,5- bzw. 2-Grad-Marke globaler Erwärmung als entscheidender Schwellenwert. Wird sie überschritten, steigt die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten einzelner Kippmomente des Klimasystems stark an. Im Zuge des übergeordneten Kippmomentes Klimawandel sehen wir uns demnach mit vielen weiteren Kippmomenten einzelner Subsysteme konfrontiert. Neben der bereits erwähnten Schmelze des arktischen Meereises geht das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) von 15 weiteren Klima-Kippmomenten aus. Ihrem Schwellenverhalten liegen oft selbstverstärkende Prozesse zugrunde, die – einmal in Gang gesetzt – auch ohne weiteren externen Einfluss fortlaufen. Dadurch kann es passieren, dass der neue Gleichgewichtszustand nach dem Überschreiten eines Kippmoments erhalten bleibt, selbst wenn sich die Kontextbedingungen, z. B. durch geringere Treibhausgas Emissionen, wieder verändern.32 Vor dem Hintergrund der drängenden Handlungsnotwendigkeit sollte die Vermeidung nicht-umkehrbarer Kippmomente daher prioritär in die Festsetzung politischer Handlungslinien einfließen. Bereits in der Coronapandemie zeigte sich der Mehrwert einer Maßnahmenkombination zur Vorsorge und Mitigation (z. B. Test- und Maskenpflichten) sowie zur langfristigen Adaption (z. B. Förderung der Impfstoffentwicklung) von Kippmomenten. Auch mit Blick auf den Klimawandel bedarf es neben der Vorsorge und Beseitigung von Umwelt- und Klimabelastungen im Sinne einer aktiven Mitigation auch der Entwicklung vorausschauender Adaptionsstrategien für den Fall des Überschreitens einzelner Kippmomente. Angesichts des globalen Emissionsrestbudgets von nur noch 249 gt und einem globalen jährlichen CO2-Ausstoß von 42,2 gt zur 31

Meadows et al., The Limits to Growth. PIK, Kippelemente – Großrisiken im Erdsystem. Aktueller Forschungsstand: Kippelemente. 32

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Einhaltung der 1,5-Grad-Schwelle33 ist sowohl die Dringlichkeit einer ökologischen Transformation als auch die Notwendigkeit global-gedachter Adaptionsstrategien immens. Der Erfolg bzw. Misserfolg unterschiedlicher Strategien zur Bewältigung der Coronapandemie hat uns gezeigt, dass die gesellschaftliche Akzeptanz politischer Maßnahmen für deren langfristigen Erfolg entscheidend ist. Wir sind der Ansicht, dass eine Klima- und Umweltpolitik die auf demokratischen Entscheidungen sowie einer prozessualen Kompromissfindung beruht, nachhaltiger und damit erfolgreicher ist als totalitäre top-down Ansätze. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Politik der Behutsamkeit sprechen, um das Vertrauen in unsere politischen Institutionen zu stärken und Menschen zu Akteuren und Akteurinnen anstatt zu Objekten der Politik werden zu lassen. Behutsamkeit bedeutet aber keineswegs Behäbigkeit. Gerade weil die Zeit zum Handeln drängt, brauchen wir eine realistische und ambitionierte Politik für den Menschen – und zwar für den Menschen wie er heute ist. Der Energiepreisschock auf Grund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hat offenbart, welches Potenzial für schnelle Änderungen des Konsumverhaltens in marktbasierten Lösungen stecken kann. Allerdings hat er auch gezeigt, dass eine strengere Klimapolitik immer von einer entsprechenden Sozialpolitik flankiert sein muss und eine Verengung auf Bepreisung allein nicht zum Ziel führt. Die Verursachung der globalen Erwärmung korreliert eindeutig mit der sozio-ökonomischen Lebenslage, sowohl im innergesellschaftlichen Vergleich als auch auf globaler Perspektive. Der sich daraus ergebende Blick auf die Verursachungsgerechtigkeit zeigt, dass die bisherige deutsche Klimapolitik, etwa durch eine regressive Wirkung von Steuern, Abgaben und Umlagen im Bereich der Energieversorgung, die ökonomische Mittel- und Oberschicht tendenziell privilegiert.34 Um ein Beispiel zu nennen: Im Januar 2023 wurden in Deutschland trotz einer Inflationsrate von 8,7 % über 48.000 SUVs (und damit ähnlich viele wie im Vorjahr) zugelassen. Bei den Kleinwagen waren es mit 21.000 Fahrzeugen nur halb so viele Zulassungen; bei den Kleinstwagen gerade einmal 7.500 Stück.35 Effiziente Klimapolitik muss darauf ausgerichtet sein, den Treibhausgasausstoß dort zu reduzieren, wo die größtmöglichen Reduktionspotenziale vorhanden sind. Klimapolitik und Sozialpolitik schließen sich daher nicht, wie so häufig behauptet, aus, sondern lassen sich wirkungsvoll miteinander kombinieren.36 Eine weitere Bedingung für den Erfolg einer behutsamen und kompromissbasierten Vorgehensweise ist die direkte oder indirekte Beteiligung der betroffenen Akteur*innen. Und genau hier liegt eine besondere Herausforderung in Sachen Klima33

MCC, Verbleibendes CO2-Budget (Stand August 2023). Sommer/Schad, Sozial-ökologische Transformationskonflikte. Konturen eines Forschungsfeldes, ZfP 69 (4), S. 451 – 468. 35 KBA, Neuzulassungen von Personenkraftwagen nach Segmenten und Modellreihen im Januar 2023. 36 Schaffert, Sozial gerechter Klimaschutz, Blätter der Wohlfahrtspflege 1 (2023), S. 10 – 12. 34

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schutz. Wie die Modellierungen von Rebecca Chaplin-Kramer et al. zeigen, leiden Menschen des Globalen Südens am stärksten unter den Folgen von Klimawandel und Landnutzung und somit insbesondere den Externalitäten des Wirtschaftens der westlichen Industriestaaten.37 Bereits die Coronapandemie stellte Länder des Globalen Südens vor zusätzliche Herausforderungen. In polit-ökonomisch instabilen und teils durch bewaffnete Konflikte gezeichneten Ländern fehlte und fehlt es schlichtweg an der nötigen Infrastruktur und einem staatlichen Gesundheitswesen zur Eindämmung einer hoch-ansteckenden Viruserkrankung.38 Auch auf nationaler Ebene widerspricht der übermächtige Einfluss einzelner Interessensgruppen und Partikularinteressen der Vorstellung einer möglichst machtfreien und auf fairem Wettbewerb beruhenden Ordnung der Wirtschaft. Soziale Konflikte sind ein erwartbarer und gewöhnlicher Bestandteil sowohl von allmählichen Transformationsprozessen als auch von einschneidenden Kippmomenten wie der Coronapandemie oder dem Klimawandel. Sie ergeben sich aus bestehenden gesellschaftlichen Strukturen sowie verschiedenen normativen Vorstellungen. Je nach Konstellation der Konfliktparteien und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen handelt es sich z. B. um Interessens-, Wert- und/oder Wissenskonflikte.39 Dabei werfen Transformationskonflikte immer auch Fragen der individuellen Positionierung im sozialen und politischen Feld auf.40 Eine Abkehr von konsumorientierten und ressourcenintensiven Mustern der Lebensführung wird es ohne Transformationskonflikte nicht geben. Das Konfliktpotenzial sollte uns allerdings nicht abschrecken, sondern dazu ermutigen, polit-ökonomische Ordnungsmodelle zu wählen, die Kompromissfindung und Balance fördern. In einer Formulierung von Buchanan und Tullock geht dieser Gedanke in die folgende Überlegung über: „ […] whether it was not true that the means of obtaining the objectives, rather than the objectives themselves, was the issue. […] Perhaps the process, the means of compromise and agreement, are themselves a large part of the public interest.“41 Im Angesicht von Kippmomenten ist es nicht zielführend, auf First-best Lösungen ohne gesellschaftliche Akzeptanz zu beharren. In gleichem Maße darf jedoch die menschliche Adaptionsfähigkeit u. a. im Zuge von Diffusionsprozessen nicht aus dem Auge verloren werden. Um ein zukunftsfähiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem zu gestalten, müssen wir die Bürgerinnen und Bürger in ihren jetzigen habituellen und normativen Mustern anerkennen, dürfen jedoch nicht vergessen, wie sie sein könnten – um den

37 Chaplin-Kramer et al., Global modeling of nature’s contributions to people, Science 366 (6462), S. 255 – 258. 38 Weipert-Fenner, Corona-Krise: Welche Folgen hat die Pandemie für Länder des Globalen Südens. 39 Kropp/Sonnberger, Umweltsoziologie. 40 McCright et al., Political ideology and views about climate change in the European Union, Environmental Politics 25 (2), S. 338 – 353. 41 Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy.

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Prozess der gesellschaftlichen Transformation und die Veränderung individueller Lebensstile voranzutreiben.

IV. Die Soziale Marktwirtschaft als role model Um drohende Kippmomente abzuwehren und um die Resilienz von Systemen zu erhöhen, bedarf es folglich eines gesellschaftlichen Miteinanders, in dem sich unterschiedliche Vorstellungen mit Respekt begegnen und in welchem der politische Kompromiss der Normalfall ist. Wir sind davon überzeugt, dass die Soziale Marktwirtschaft hierfür ihren Teil beitragen kann. Ihr entscheidender Vorteil: Sie ist nicht nur ein Wirtschaftsmodell, sondern vor allem ein Gesellschaftsmodell. Das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft meint nicht nur soziale Sicherung, sozusagen als Reparaturbetrieb für Markt und Wettbewerb, sondern das Soziale ist vielmehr eine Richtschnur für die in einer Gesellschaft vorherrschenden und zugleich geforderten Grundhaltungen und Werte. In der Einleitung zu seiner 1947 erschienen Schrift Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in der zum ersten Mal der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ verwendet wird, schreibt Alfred Müller-Armack: „Die Wiederaufnahme der Grundsätze vernünftigen Wirtschaftens schließt keineswegs den Verzicht auf eine aktive und unseren sozialen und ethischen Überzeugungen entsprechende Wirtschaftspolitik ein.“42 Müller-Armack verstand die Soziale Marktwirtschaft als einen Stilgedanken. 1952, als die ersten Erfolge der wirtschaftlichen Erholung im Nachkriegsdeutschland erkennbar und spürbar waren, führt er hierzu aus: „Es handelt sich nicht nur um die Gestaltung einer ökonomischen Ordnung, vielmehr bedarf es der Eingliederung dieser Ordnung in einen ganzheitlichen Lebensstil.“43 Wirtschaft und Gesellschaft zusammenzuführen – auch hierin liegt ein Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Alfred Müller-Armack sprach in diesem Zusammenhang von „sozialer Irenik“. Abgeleitet vom griechischen Begriff eire´¯ ne¯e¯, den man mit Frieden übersetzen kann, meint Müller-Armack mit sozialer Irenik nicht nur die Versöhnung von wirtschaftlicher Effizienz und gesellschaftlichen Zielen, sondern zugleich die Versöhnung unterschiedlicher Vorstellungen innerhalb der Gesellschaft. Für seine Zeit sah Müller-Armack im Katholizismus, Protestantismus, Sozialismus und Liberalismus die vorherrschenden gesellschaftspolitischen Richtungen, die es miteinander zu verbinden galt. Nicht um diese einzelnen Positionen einzuebnen, sondern – so die Hoffnung von Müller-Armack – um in gegenseitiger Achtung an der sozialen Gestaltung mitzuwirken. Hieraus erwächst für ihn das Fundament für eine die Gesellschaft versöhnende Soziale Marktwirtschaft: „So kann unsere Hoffnung auf eine mögliche Einheit nur die Irenik sein, einer Versöh-

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Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, München 1946: Kastell, S. 6. Müller-Armack, Stil und Ordnung der Marktwirtschaft, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Bern/Stuttgart 1976: Haupt, S. 231 – 242, hier S. 237. 43

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nung, die das Faktum der Gespaltenheit als gegeben nimmt, aber ihm gegenüber die Bemühung um eine gemeinsame Einheit nicht preisgibt.“44 Wie wichtig der soziale Zusammenhalt und der Respekt für unterschiedliche Sichtweisen ist, auch 75 Jahre nach der Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft, zeigen uns die heutigen Krisen in ihrer ganzen Dramatik. Der Gedanke einer sozialen Irenik, die unterschiedliche Positionen in einer freiheitlichen Gesellschaft unter sich wandelnden Bedingungen immer wieder konstruktiv zusammenführt, ist auch heute noch die entscheidende Nahtstelle zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Zusammenhalt. Die genaue Ausgestaltung der Ordnung ist dabei immer wieder auszuhandeln: „Die Soziale Marktwirtschaft ist kein fertiges System, kein Rezept, das für alle Zeiten im gleichen Sinn angewendet werden kann. Sie ist eine evolutive Ordnung, in der es immer wieder nötig ist, Akzente neu zu setzten gemäß den Anforderungen einer sich wandelnden Zeit.“45 In diesem Sinne ist die Soziale Marktwirtschaft eine Friedensformel für eine stabile und resiliente Gesellschaft und die Grundlage für eine menschenwürdige Wirtschaftsordnung. Literatur Alizada, Nazifa/Cole, Rowan/Gastaldi, Lisa/Grahn, Sandra/Hellmeier, Sebastian: Autocratization Turns Viral, Democracy Report 2021, V-Dem Institut, Universität Goetheburg 2021, https://www.v-dem.net/documents/12/dr_2021.pdf. Bauer, Thomas: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 11. Aufl., Stuttgart 2018: Reclam, S. 30. Bayerlein, Michael/Boese, Vanessa A./Gates, Scott/Kamin, Kahrin/Murshed, Syed Monsoob: Populism and COVID-19: How Populist Governments (Mis)Handle the Pandemic, Journal of Political Institutions and Political Economy 2021 (2), S. 389 – 428. Böge, Friederike: Eine Stadt fragt sich, wofür all die Entbehrungen notwendig waren, FAZ, 10. 02. 2023. Buchanan, James M./Tullock, Gordon: The Calculus of Consent. Logical Foundations of Constitutional Democracy. Ann Arbor 1967: The University of Michigan Press, S. 283. Cai, Jun/Deng, Xiaowei/Yang, Juan/Sun, Kaiyuan/Liu, Hengcong/Chen, Zhiyuan/Peng, Cheng/ Chen, Xinhua/Wu, Qianhui/Zou, Junyi/Sun, Ruijia/Zheng, Wen/Zhao, Zeyao/Lu, Wanying/ Lianyi, Yuxia/Zhou, Xiaoyu/Ajelli, Marco/Yu, Hangjie: Modeling transmission of SARSCoV-2 Omicron in China, Nat Med 28 2022, S. 1468 – 1475. https://doi.org/10.1038/ s41591-022-01855-7. Chaplin-Kramer, Rebecca/Sharp, Richard P./Weil, Charlotte/Bennett, Elena M./Pascual, Unai/ Alkema, Katie K./Braumann, Kate A./Bryant, Benjamin P./Guerry, Anne D./Haddad, Nick M./Hamann, Maik/Hamel, Perrine/Johnson, Justin A./Mandle, Lisa/Pereira, Henrique M./ 44

Müller-Armack, Soziale Irenik, (1950), in: ders.: Religion und Wirtschaft, Bern 1981, S. 563. 45 Müller-Armack, Genealogie der sozialen Marktwirtschaft: Frühschriften und weiterführende Konzepte, Bern/Stuttgart 1981: Haupt, S. 15.

Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können 23 Polasky, Stephen/Ruck-Elshaus, Mary/Shaun, M. Rebecca/ Silver, Jessica M./Vogl, Adrian L./Daily, Gretchen C.: Global modeling of nature’s contributions to people, Science 366 (6462) 2019, S. 255 – 8, DOI: 10.1126/science.aaw3372. Eichhorn, Ivo: #zeroCovid: Kampagne fordert solidarischen europäischen Shutdown, dlf kult 14. 01. 2021, https://www.deutschlandfunkkultur.de/zerocovid-kampagne-fordert-solidari schen-europaeischen-shutdown-dlf-kultur-fdeaa249-100.html. Finkenzeller, Karin: „Zero Covid“ und „No Covid“: Der Unterschied zwischen Null und Nichts, WirtschaftsWoche, 27. 01. 2021. Fratscher, Marcel: Gesellschaftliche Akzeptanz als Schlüssel in der Corona-Pandemie, Wirtschaftsdienst 101 (2), ISSN 1613 – 978X, Heidelberg 2021: Springer, S. 70 – 71. Fuest, Clemens: „Wir können uns das noch leisten“, taz 25. 01. 2021, https://taz.de/Interviewmit-Ifo-Chef-Clemens-Fuest/!5743217/. Gladwell, Malcolm: Tipping Point. Wie kleine Dinge Großes bewirken können, München 2000: Goldmann. Global Monitoring: Covid-19-Pandemie-China, A3M 03. 03. 2023, https://global-monitoring. com/gm/page/events/epidemic-0001905.3QnJ7K8JC559.html?lang%7B%7Bmathsur round%20=opskip%20$=$%7D%7Den. Goldschmidt, Nils/Wolf, Stephan: Gekippt – Was wir tun können, wenn Systeme außer Kontrolle geraten, Freiburg/Basel, Wien 2022: Herder. Holbing, Heike: Vom Krisenherd zum Krisenheld: Chinas Umgang mit COVID-19, (GIGA Focus Asien, 4). Hamburg: GIGA German Institute of Global and Area Studies – LeibnizInstitut für Globale und Regionale Studien, Institut für Asien-Studien 2020, https://nbn-re solving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-68450-6. KBA: Neuzulassungen von Personenkraftwagen nach Segmenten und Modellreihen im Januar 2023, 03. 03. 2023, https://www.kba.de/DE/Statistik/Fahrzeuge/Neuzulassungen/Monatliche Neuzulassungen/monatl_neuzulassungen_node.html?yearFilter=2023&monthFilter=01_ja nuar. Kropp, Cordula/Sonnberger, Marco: Umweltsoziologie, Baden-Baden 2021: Beck. Lamberson, P. J./Page, Scott E.: Tipping Points, Quarterly Journal of Political Science 7 (2) 2012, S. 175 – 208. Lenton, Timothy M./Held, Hermann/Kriegler, Elmar/Hall, Jim W./Lucht, Wolfgang/Rahmstorf, Stefan/Schellnhuber, Hans Joachim: Tipping elements in the Earth’s climate system, PNAS 105 (6) 2008, S. 1786 – 1793. Mäder, Claudia: Kipp-Punkte im Klimasystem – Welche Gefahren drohen?, Hintergrundpapier des UBA 2008, https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/kipp-punkte-im-klimasys tem. MCC: Verbleibendes CO2-Budget, 21. 08. 2023, https://www.mcc-berlin.net/forschung/co2-bud get.html. McCright, Aaron M./Dunlap, Riley E./Marquart-Pyatt, Sandra T.:Political ideology and views about climate change in the European Union, Environmental Politics 25 (2) 2015, S. 338 – 53.

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Die Pandemie und die Systemrivalität mit China – Korreferat zu Nils Goldschmidt und Sarah Lange – Von Arnd Küppers In ihrem Paper betrachten Sarah Lange und Nils Goldschmidt die COVID-19Pandemie unter dem Blickwinkel des unterschiedlichen Umgangs von autoritär und demokratisch regierten Ländern mit dieser Krise und kommen dabei zu dem Ergebnis, dass das demokratische Lager im Vergleich gut abschneidet und zwar sowohl was den langfristigen Erfolg bei der Eindämmung der Pandemie als auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen angeht. Die beiden Autor*innen fokussieren sich auf China als autokratisches Beispiel. Das ist aus mehreren Gründen plausibel. Erstens ist China der „Ground Zero“ des Ausbruchs gewesen. Das Agieren Pekings in der Pandemie und auch im Rahmen von deren Aufarbeitung war und ist deshalb in mehrfacher Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Zweitens hat die chinesische Null-Covid-Strategie zeitweise viel weltweite Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren. Auch in demokratischen Öffentlichkeiten war die Ansicht verbreitet, dass das autokratische Regime die Krise viel effektiver bekämpfen würde als die demokratischen Regierungen in Europa. Diesen Eindruck widerlegen Goldschmidt und Lange in ihrem Beitrag überzeugend. Die chinesischen Pandemiemaßnahmen gingen nicht nur mit äußerst schwerwiegenden Freiheitsbeschränkungen und übermäßiger Gewaltanwendung einher, sondern sie sind auch letztlich gescheitert. Drittens – und dieser Aspekt soll in diesem Korreferat im Vordergrund stehen – ist die globale Bedeutung der Volksrepublik herausragend und zwar sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Während der Pandemie haben rigorose chinesische Lockdowns die globalen Lieferketten gestört, und der wachsende Einfluss Chinas in multilateralen Organisationen, namentlich in der WHO, hat sich als problematisch erwiesen. Alles das ist in dem weiteren Kontext zu sehen, dass China seinen Aufstieg von einer asiatischen Regional- zur Weltmacht verfolgt. Goldschmidt und Lange schreiben: „Es zeigte sich bereits in den Anfängen der späteren Pandemie, dass die Handlungen der chinesischen Regierung höchstens zweitrangig durch wissenschaftliche Erkenntnisse motiviert waren. Primäre Antriebskraft war und ist der Machterhalt sowie die positive Darstellung des eigenen Wirkens nach innen und außen.“1 Dieser Feststellung möchte ich nicht nur zustimmen, sondern sie auch zu folgender Hypo1

Nils Goldschmidt/Sarah Lange in diesem Band.

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Arnd Küppers

these zuspitzen, die in diesem Korreferat entfaltet werden soll: dass nämlich gute Gründe für die Annahme bestehen, dass die chinesische Führung den COVID-19Ausbruch von Anfang an nicht nur als (globale) Gesundheitskrise gesehen und behandelt hat, sondern dass ihr Agieren ganz wesentlich von der Frage geleitet gewesen ist, durch welches Tun und Unterlassen die Volksrepublik ihre machtpolitischen Ziele bestmöglich befördern könnte.

I. Chinas geo- und machtpolitische Ambitionen Unter der Führung von Staatspräsident Xi Jinping strebt China unverhohlen nach globaler Vormachtstellung. Ein wichtiger Baustein dieser Politik ist das bereits 2013 von Xi höchstpersönlich ausgerufene Projekt der „Neuen Seidenstraße“. Prima facie handelt es sich dabei um ein Infrastrukturprojekt im Dienst des Handels zwischen China und Asien, Europa, Afrika. Der Name ist eine Reminiszenz an die historischen Handelsrouten, die bereits seit der Antike von China bis an das Horn von Afrika und Ägypten sowie bis nach Griechenland und Italien führten. Allerdings ist das Projekt der „Neuen Seidenstraße“, wie der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel 2018 in einem Gastkommentar im Handelsblatt pointiert festgestellt hat, „alles andere als nostalgische Handelsreminiszenz an Marco Polo, sondern eine geostrategische Jahrhundertidee, mit der China seine Ordnungsvorstellungen und Machtprojektion durchzusetzen entschlossen ist.“2 Doch China verfolgt seine Ambitionen nicht nur verschleiert in Form von Infrastruktur- und Handelskooperationen, sondern zunehmend aggressiv. Das zeigte sich erstmals unübersehbar durch das Agieren der Volksrepublik im Südchinesischen Meer. Die Zugehörigkeit der meisten Inseln in diesem Meer ist zwischen den Anrainerstaaten umstritten. Bereits kurz nach dem Amtsantritt von Xi begann China jedoch damit, in diesem Konflikt vollendete Tatsachen zu schaffen. Durch das Aufschütten von Sandbänken und Riffen schuf die Volksrepublik künstliche Inseln und errichtete darauf militärische Anlagen. Ziel dieser Aktionen ist, sich die Kontrolle über bedeutende Fischgründe, große Erdöl- und Gasvorkommen sowie eine der wichtigsten Schifffahrtsrouten der Welt zu sichern. Bereits 2016 hat das internationale Schiedsgericht in Den Haag in einem von den Philippinen initiierten Verfahren dieses chinesische Vorgehen gerügt und die hoheitsrechtlichen Ansprüche der Volksrepublik allesamt als völkerrechtswidrig zurückgewiesen.3 Auch außerhalb Asiens tritt China zunehmend aggressiv auf. Als die Europäische Union Anfang 2021 Sanktionen gegen hohe chinesische Beamte im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen an der Bevölkerungsgruppe der Uiguren in der Region Xinjiang verhängte, reagierte die chinesische Regierung mit Gegen-Sanktionen 2 3

Sigmar Gabriel, Dem Westen fehlt eine Strategie. Siehe dazu Johannes Mohr, Der Schiedsspruch zum Südchinesischen Meer.

Die Pandemie und die Systemrivalität mit China

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nicht nur gegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments sowie gegen den Ausschuss für Politik und Sicherheit des Rates der Europäischen Union und gegen den Unterausschuss für Menschenrechte des Europäischen Parlaments, sondern auch gegen das Mercator Institut für China Studien in Berlin sowie einzelne Wissenschaftler, die zu Menschenrechtsverletzungen in China geforscht hatten.4

II. Chinas Pandemieaußenpolitik In der Pandemie hat China mehr das Verhalten eines Rivalen gezeigt als das eines Partners in der Bekämpfung einer globalen Gesundheitskrise. Thorsten Benner verwendet dafür den sehr treffenden Begriff der „Pandemieaußenpolitik“5. Es begann schon damit, dass die chinesische Regierung die Welt nur sehr zögerlich und unvollständig über den Ausbruch und die erste Infektionswelle in der mittelchinesischen Millionenmetropole Wuhan unterrichtete. In seinem Buch Rage schildert Bob Woodward, wie Matthew Pottinger, seinerzeit der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater im Weißen Haus, im Januar 2020 versuchte, Informationen über den VirusAusbruch zusammenzutragen. Pottinger hatte als China-Korrespondent für das Wall Street Journal die SARS-Epidemie 2002/03 und das damalige Agieren der chinesischen Regierung erlebt, die die neue Infektionskrankheit drei Monate lang vertuscht und anschließend immer noch verharmlost hatte. Deswegen war er angesichts die Berichte über den Ausbruch einer neuartigen Lungenkrankheit und dessen rasche Verbreitung in Wuhan extrem beunruhigt.6 Pottinger telefonierte mit Ärzt*innen in China und Hongkong, mit denen er seit seinem siebenjährigen Aufenthalt in der Volksrepublik in freundschaftlichem Kontakt stand und die im vertraulichen Gespräch schon zu diesem Zeitpunkt vor einer Pandemie im Ausmaß der Spanischen Grippe von 1918 – 1920 warnten. Von offizieller chinesischer Seite indes waren damals noch keine validen Informationen zu erhalten. Alarmiert war Pottinger zudem dadurch, dass zwar am 23. Januar 2020 Wuhan abgeriegelt wurde und erste Beschränkungen in Peking und anderen Städten griffen, dass aber weiterhin Flüge von chinesischen Flughäfen in alle Welt stattfanden. „Mehrere Angehörige der chinesischen Elite, die gute Beziehungen zur Kommunistischen Partei und zur Regierung unterhielten, gaben zu verstehen, dass China ein teuflisches Ziel im Sinn haben könnte: ,China wird nicht allein darunter leiden.‘ Wäre China das einzige Land mit Masseninfektionen im Ausmaß der Pandemie von 1918, dann würde das massive wirtschaftliche Nachteile bedeuten. Das war nur ein Verdacht, aber einer von Leuten, die das Regime am besten kannten.“7 4

Vgl. Claudia Krapp, China verhängt Konter-Sanktionen gegen Wissenschaftler. Thorsten Benner, Von „umfassender strategischer Partnerschaft“ zu Systemrivalität, 30. 6 Siehe dazu und zum Folgenden Bob Woodward, Wut, 13 – 17. 7 Ebd., 16. 5

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Zu keinem Zeitpunkt hat die Volksrepublik verlässliche Daten über das Ausmaß des Infektionsgeschehens und die Zahl der Todesopfer geliefert. Die offizielle Angabe von nur 120.000 Corona-Toten, die China bis Anfang Mai 2023 an die WHO gemeldet hat, ist grotesk niedrig und hat mit der Realität offensichtlich nichts zu tun. Auch die wissenschaftliche Aufarbeitung der Pandemie und Untersuchungen zu deren Ursprung werden von Peking stark behindert. Erst im Januar 2021 konnte eine 13-köpfige Gruppe der WHO zu Untersuchungen nach Wuhan reisen. Aber auch bei dieser Reise hatten die Forscher*innen keine freie Hand und keinen Zugang zu allen relevanten Daten. Der Leiter der WHO-Gruppe, der Däne Peter Ben Embarek, sprach im Interview mit dem Wissenschaftsmagazin Science offen über den politischen Druck, den das Regime in Peking auf die Untersuchung ausübte und unter dem insbesondere die chinesischen Wissenschaftler*innen standen, mit denen die WHO-Expert*innen zusammenarbeiteten.8 Die chinesische Taktik der Obstruktion und Vertuschung hat sich nach dieser ersten WHO-Mission fortgesetzt. Anschlussuntersuchungen, wie sie die WHO-Gruppe gefordert hatte, konnten laut einem Bericht des Wissenschaftsjournals Nature vom 14. Februar 2023 nicht durchgeführt werden, weil sie von den chinesischen Behörden verhindert wurden und werden.9 Damit zerstört das Regime in Peking die Hoffnung, dass die Frage nach dem Ursprung von SARS-CoV-2 geklärt werden kann, was essentiell wäre, um künftige Pandemien besser verhindern zu können. Brisanterweise verhindert China nach Informationen von Nature weitere Untersuchungen der WHO vor allem auch deshalb, weil dabei ausdrücklich auch mögliche Verstöße in chinesischen Labors in den Blick genommen werden sollten. Damit nährt das Regime selbst Spekulationen, dass ein Laborunfall der Ausgangspunkt des Ausbruchs in Wuhan gewesen sein könnte. Nicht weniger brisant ist, dass einige WHO-Offizielle der Darstellung in Nature widersprochen haben. Die Zeitschrift, neben Science das renommierteste Wissenschaftsjournal der Welt, hat dazu am 3. März 2023 eine Eidtor’s Notice veröffentlicht, in der explizit erklärt wird, dass die Redaktion an der Darstellung des Artikels festhält. Diese Episode fügt sich in das Bild, das die WHO während der gesamten Pandemie abgegeben hat. Bereits im April 2020 problematisierte das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL den wachsenden Einfluss Chinas in den Organen der UNO und namentlich in der WHO. Viel zu lange, noch bis Mitte Januar 2020, habe die Weltgesundheitsorganisation unkritisch die chinesische Darstellung wiederholt, dass noch nicht klar sei, ob das neue Coronavirus von Mensch zu Mensch übertragen werden könne, obwohl der WHO bereits seit Ende 2019 Informationen vorlagen, dass das Virus große Ähnlichkeiten mit SARS-CoV-1 aufwies.10 Kritik an der restriktiven Informationspolitik und der mangelnden Kooperationsbereitschaft Chinas hat die 8

Vgl. Kai Kupferschmidt, „Politics was always in the room“. Vgl. Smriti Mallapaty, WHO abandons plans for crucial second phase of COVID-origins investigation. 10 Vgl. Stefan Schultz, Kranke Macht. 9

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WHO auch im weiteren Verlauf der Pandemie, wenn überhaupt, nur sehr zurückhaltend geäußert. Stattdessen war die Weltgesundheitsorganisation wiederholt voll des Lobes für die brachialen Lockdowns, bei denen die Behörden Wohnungstüren haben zuschweißen lassen und die Ausgangssperren durch Schlägertrupps in Seuchenanzügen durchgesetzt wurden. Die rigorose chinesische Lockdown-Politik hatte nicht nur erhebliche Auswirkungen auf den Alltag vieler Chines*innen, sondern auch auf die Weltwirtschaft. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert hat sich China zur „Werkbank der Welt“ entwickelt. Die Produktion vieler Alltagsgüter ist in die Volksrepublik verlagert worden. Die chinesischen Lockdowns hatten deshalb erhebliche Auswirkungen auf die globalen Lieferketten. Wegen der Corona-Infektion eines einzigen Hafenarbeiters ließen die Behörden im August 2021 einen ganzen Terminal des Ningbo-Zhoushan-Hafens, des drittgrößten Containerhafens der Welt, wochenlang schließen. Und als im Frühjahr 2022 Shanghai zwei Monate lang in einen harten Lockdown geschickt wurde, stauten sich vor dem weltweit größten Containerhafen hunderte Schiffe. Genauso rücksichtslos wie das Regime in Peking fast drei Jahre lang seine NullCovid-Strategie durchgesetzt hatte, beendete es dann Anfang Dezember 2022 abrupt alle Maßnahmen und sorgte damit für eine unkontrollierte Durchseuchung der Bevölkerung. Zum Jahreswechsel 2022/23 berichteten die Korrespondenten in Peking von überfüllten Notaufnahmen und Krankenhäusern sowie überlasteten Krematorien.

III. Eine neue China-Politik ohne Illusionen Lange Zeit waren sowohl Deutschland und die EU als auch – mit Abstrichen – die USA bestrebt, eine verstärkte Zusammenarbeit und regelrechte Partnerschaft mit der Volksrepublik aufzubauen. So sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem Pressestatement zu dem Staatsbesuch des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in Berlin am 5. Juli 2017: „Wir haben inzwischen nicht nur eine strategische Partnerschaft, sondern eine umfassende strategische Partnerschaft, wie wir das nennen.“11 Zu dieser China-Strategie gehörte auch die stärkere Einbindung der Volksrepublik in multilaterale Strukturen, worin eine wesentliche Ursache des mittlerweile großen chinesischen Einflusses in der WHO und anderen UN-Organisationen liegt. Die Wahl der aus Honkong stammenden Chinesin Margaret Chan zur WHO-Generaldirektorin im Jahr 2006 geschah mit Billigung der USA und der europäischen Länder – und das trotz der Tatsache, dass Chans Leistungen als Chefin der Hongkonger Gesundheitsbehörde während des SARS-Ausbruchs 2003 von einem durch den Legislativrat12 einberufenen Untersuchungsausschuss als sehr unbefriedigend kritisiert 11

Angela Merkel, Pressestatement. Der Legislativrat ist das Parlament der Sonderverwaltungszone Hongkong der Volksrepublik China. 12

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worden waren.13 Ziel dieser Politik war „die Einbindung, nicht die Eindämmung der Gestaltungsmacht China“14 – in gewisser Weise eine chinapolitische Neuauflage der Bahr’schen Umarmungsformel vom „Wandel durch Annäherung“. Vor dem Hintergrund der aggressiven Landnahme der Volksrepublik im Südchinesischen Meer sowie chinesischer Cyber-Angriffe nicht nur im Bereich der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen Spionage, haben die USA bereits in der zweiten Amtszeit von Präsident Barack Obama ihre China-Politik grundlegend verändert und treten den hegemonialen Bestrebungen der Volksrepublik seitdem zunehmend entgegen.15 Auf diesen Kurs ist inzwischen – wenn auch weniger entschieden – ebenfalls die EU eingeschwenkt. Im März 2019 legte die EU-Kommission ein Strategiepapier zur China-Politik vor, in dem die Volksrepublik zwar weiterhin als Wettbewerber, Kooperations- und Verhandlungspartner, aber auch als „systemischer Rivale“ charakterisiert wurde.16 Das war eine grundlegend neue Akzentsetzung, die allerdings nur sehr zögerlich zu einer Umorientierung der europäischen China-Politik führte. Viele Mitgliedsländer der EU waren zu einer solchen strategischen Neuausrichtung schlicht noch nicht bereit. Das gilt auch für Deutschland unter der Regierung Merkel. Bis zum Ende ihrer Amtszeit hielt die Kanzlerin an ihren „Blütenträumen“17 von einer strategischen Partnerschaft mit China fest. Das lag auch an dem Verhalten des damaligen US-Präsidenten Donald Trump, der keinerlei Interesse an einem mit den europäischen Verbündeten abgestimmten Vorgehen zeigte, sondern im Gegenteil der EU und insbesondere Deutschland auf dem Feld der Handelspolitik regelmäßig drohte. Mit ihrer Politik der strategischen Partnerschaft verfolgte Merkel auch das Ziel, gemeinsam mit China ein nächtiges Gegengewicht gegen die handelspolitischen Drohgebärden aus Washington aufzubauen.18 Die chinesische Pandemieaußenpolitik begründet allerdings erhebliche Zweifel, ob die Volksrepublik überhaupt noch als ein vertrauenswürdiger Partner betrachtet werden darf. Offenkundig ordnet das Regime in Peking alles und jeden bedingungslos dem eigenen Vorteil unter. Das gilt auch auf dem Feld von Wirtschaft und Handel, denn in der Volksrepublik herrscht eben keine freie Marktwirtschaft, sondern auch der Markt und die Unternehmen sind dem Staat und der Kommunistischen Partei untergeordnet. Genauso wie unter Staatspräsident Xi Jingping die gesellschaftliche Öffnung zurückgenommen wurde und die Repression wieder zugenommen hat, sind auch die Unternehmen stärker an die Kandare genommen worden.19 Lange Zeit hatten die deutsche und die europäische Wirtschaft China vor allem als billigen Produktionsstandort und als gigantischen Absatzmarkt im Blick. Die bra13

Vgl. Chan Wai Yin/Ma Shu Yun, The Making of a Chinese Head of the WHO, 592 – 595. Michael Staack, China, 26. 15 Hanns W. Maull u. a., USA und China auf Kollisionskurs, 16 – 18. 16 Vgl. European Commission/High Representative, EU-China – A Strategic Outlook, 1. 17 Thorsten Benner, Von „umfassender strategischer Partnerschaft“ zu Systemrivalität, 28. 18 Ebd., 29. 19 Vgl. ebd. 14

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chiale Lockdown-Politik während der Pandemie hat allerdings die eigene Verletzlichkeit offengelegt, die durch die enge Verflechtung mit der chinesischen Wirtschaft entstanden ist. Es ist das erklärte Ziel Pekings, die Abhängigkeiten noch zu steigern und sich politisch nutzbar zu machen. Hier zeigt sich abermals, dass die Wirtschaft in der Volksrepublik nicht frei ist im Sinne einer liberalen Marktwirtschaft, sondern als Teil des politischen Machtapparats begriffen wird. Im Herbst 2020 veröffentlichte die Parteizeitung der KP Chinas eine Rede Xis, in der dieser ganz unverblümt das wirtschaftspolitische Ziel ausgab, einerseits die Volksrepublik unabhängig von dem Import von wichtigen Investitionsgütern zu machen und selbst zum Marktführer im Bereich von Schlüsseltechnologien zu werden. Andererseits wolle man die Abhängigkeit internationaler Lieferketten von chinesischen Exporten weiter erhöhen, um wirtschaftliche Sanktionen oder einen Handelskrieg gegen China unmöglich zu machen.20 Eine doppelte Warnung sollte zudem Russlands Überfall auf die Ukraine und die Reaktion Pekings auf diesen Angriffskrieg sein. Es zeigt sich, dass manche Staatslenker*innen ihre Machtinteressen und ihre hegemonialen Bestrebungen nach wie vor völlig rücksichtslos verfolgen und dass für sie auch heute noch der berühmte Clausewitz’sche Satz gilt: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“21 Diese Erkenntnis stimmt leider nicht nur für Moskau, sondern auch für Peking. Die Reaktion Chinas auf diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg bestätigt noch einmal den durch die chinesische Pandemieaußenpolitik gewonnenen Eindruck, dass die Volksrepublik die eigenen machtpolitischen Interessen über alles stellt, selbst über grundlegendste Regeln des Völkerrechts. Der UkraineKrieg hat zudem gezeigt, wie schwierig es Deutschland und anderen europäischen Ländern gefallen ist, sich aus wirtschaftlichen Abhängigkeiten von Russland zu befreien, insbesondere mit Blick auf Energieimporte. Sollte es zu einem ähnlichen Konflikt mit China kommen, wären die wirtschaftlichen Folgen noch gravierender. Es ist also dringend notwendig, wie Thorsten Benner treffend schreibt, fortan eine „Chinapolitik ohne Illusionen“ zu betreiben. Das erfordert eine Bündnis-, Friedensund Sicherheitspolitik, die darauf ausgerichtet ist, die hegemonialen Bestrebungen der Volksrepublik einzudämmen und eine wirksame Abschreckung gegen einen Angriff auf Taiwan oder andere Nachbarn aufzubauen. Zentraler Bestandteil einer solchen neuen China-Strategie müsste außerdem sein, wirtschaftliche Abhängigkeiten im Hinblick auf essentielle Produkte, Vorprodukte und Rohstoffe zu identifizieren und zu verringern. Weil deutsche und europäische Unternehmen, anders als die chinesischen, frei in ihren betriebswirtschaftlichen Entscheidungen sind, kann die Politik sie zwar nicht unmittelbar zwingen, solche Abhängigkeiten abzubauen, aber sie kann entsprechende Anreize schaffen. So legt Benner beispielsweise nahe, im Rahmen der Außenwirtschaftsförderung staatliche Garantien für Investitionen in China 20 Xi Jinping, Certain Major Issues for Our National Medium- to Long-Term Economic and Social Development Strategy. 21 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 94.

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zurückzufahren und stattdessen verstärkt Investitionsgarantien für ein Engagement in anderen Ländern zu übernehmen, auch wenn das mit höheren Kosten verbunden ist.22 Das Kieler Institut für Weltwirtschaft empfiehlt zudem Freihandelsabkommen als Mittel, um Handelskosten mit wünschenswerten alternativen Partnern zu reduzieren. Als konkretes Beispiel nennen die Autor*innen die aktuellen Verhandlungen der EU mit Australien über ein Freihandelsabkommen und empfehlen, dabei einen Fokus auf Rohstoffe wie seltene Erden zu legen.23 Ziel ist dabei kein Rückzug aus dem chinesischen Markt, sondern ein Abbau von Risiken durch Diversifizierung des Engagements. Mit Blick auf Deutschland und Europa wiederum ist es wichtig, vor allem im Bereich der kritischen Infrastruktur keine weiteren Verflechtungen und damit Anhängigkeiten gegenüber China zu schaffen. Ein Negativbeispiel ist in diesem Zusammenhang die von Kanzler Scholz im Herbst 2022 gegen große Widerstände auch aus der eigenen Regierung durchgesetzte Beteiligung der chinesischen Staatsreederei Cosco am Containerterminal im Hamburger Hafen.24

IV. Schluss 1989, im Jahr als der Eiserne Vorhang fiel, veröffentlichte Francis Fukuyama in der Zeitschrift The National Interest seinen berühmten Aufsatz „The End of History?“. Inspiriert von Hegel und Alexandre Kojève entfaltete der amerikanische Politikwissenschaftler hier die These, dass der säkulare Kampf der Weltanschauungen mit dem Untergang des Sowjetimperiums an sein Ende gelangt sei. Der Liberalismus habe gesiegt, und von nun an würden Demokratie, Rechtsstaat und freie Marktwirtschaft ihren Triumphzug durch die Welt antreten. Diese Sicht der Dinge war damals äußerst populär. Fukuyama arbeitete seinen Aufsatz zu einem Buch aus, das zum Weltbestseller wurde und ihn selbst zu einer Art „Weltintellektuellem“ machte. Die Entwicklungen Russlands unter Wladimir Putin und Chinas unter Xi Jingping zeigen endgültig, dass Fukuyama sich geirrt hat. Das Agieren Chinas in der Pandemie ist dabei nur ein Beispiel neben anderen. Dieser Realität muss sich auch die Christliche Sozialethik stellen. Zu Recht hat der Münchener Sozialethiker Markus Vogt schon kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine eine Revision der (christlichen) Friedensethik angemahnt.25 Die Weltgeschichte ist tragisch, und deswegen taugt das hehre, aber naive Leitbild des Pazifismus nicht für eine realistische Friedensethik, die zugleich immer Sicherheitsethik sein muss. Und gerade das Beispiel Chinas zeigt, dass auch das in der Sozialethik inzwischen einflussreiche Paradigma des Postkolonialismus unzureichend ist, insofern die dringliche Frage lautet, 22

33. 23

Vgl. Thorsten Benner, Von „umfassender strategischer Partnerschaft“ zu Systemrivalität,

Alexander Sandkamp u. a., Leere Regale made in China, 12. Vgl. ebd. 25 Vgl. Markus Vogt, Christsein in einer fragilen Welt. 24

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wie auf den Machthunger und die hegemonialen Bestrebungen der Volksrepublik zu reagieren ist. Die Träume von einem Ende der Geschichte sind geplatzt, und der Konflikt der Weltanschauungen und Systeme ist zurück. Literatur Benner, Thorsten: Von „umfassender strategischer Partnerschaft“ zu Systemrivalität. Für eine Chinapolitik ohne Illusionen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 17/2023, 28 – 33. Chan, Wai Yin/Ma, Shu Yun: The Making of a Chinese Head of the WHO. A Study of the Media Discourse on Margaret Chan’s Contest for the WHO-Director Generalship and its Implications for the Collective Memory of SARS, in: International Journal of Health Services, Jg. 39 (2009), 587 – 614. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege, Düsseldorf 2019. European Commission/High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy: EU-China – A Strategic Outlook, Strasbourg 2019. Fukuyama, Francis: The End of History?, in: The National Interest, Nr. 16 (Sommer 1989), 3 – 18. Gabriel, Sigmar: Dem Westen fehlt eine Strategie, die sich mit der chinesischen messen kann, in: Handelsblatt v. 16. 09. 2018; https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gast kommentar-dem-westen-fehlt-eine-strategie-die-sich-mit-der-chinesischen-messen-kann/ 23073212.html (Stand: 04. 05. 2023). Goldschmidt, Nils/Lange, Sarah: Kippmomente, Autokratie, Demokratie – Was wir von der Pandemie lernen können, in diesem Band. Krapp, Claudia: China verhängt Konter-Sanktionen gegen Wissenschaftler, Forschung & Lehre (online) v. 23. 03. 2021; https://www.forschung-und-lehre.de/politik/china-verhaengt-kontersanktionen-gegen-wissenschaftler-3591 (Stand: 08. 05. 2023). Kupferschmidt, Kai: „Politics was always in the room“. WHO mission chief reflects on China trip seeking COVID-19’s origin, Science v. 14. 02. 2021; https://www.science.org/content/arti cle/politics-was-always-room-who-mission-chief-reflects-china-trip-seeking-covid-19-s (Stand: 04. 05. 2023). Mallapaty, Smriti: WHO abandons plans for crucial second phase of COVID-origins investigation, Nature v. 14. 02. 2023, https://www.nature.com/articles/d41586-023-00283-y (Stand: 04. 05. 2023). Maull, Hanns W. u. a.: USA und China auf Kollisionskurs. Die Bedeutung der Innenpolitik für das bilaterale Verhältnis (SWP-Studie 2), Berlin 2023. Merkel, Angela: Pressestatement am 5. Juli 2017 im Bundeskanzleramt (Mitschrift), bundesregierung.de, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/pressestatements-von-bun deskanzlerin-merkel-und-dem-chinesischen-staatspraesidenten-xi-jinping-844138. Mohr, Johannes: Der Schiedsspruch zum Südchinesischen Meer und die Reaktionen Beijings, in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Jg. 1 (2017), 191 – 199. Sandkamp, Alexander u. a.: Leere Reagle made in China. Wenn China beim Welthandel mauert, hrsg. v. Institut für Weltwirtschaft, Kiel 2023.

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Schultz, Stefan: Kranke Macht. Wachsender chinesischer Einfluss auf Uno-Organe, SPIEGEL Online v. 19. 04. 2020, https://www.spiegel.de/ausland/coronavirus-who-weltkrankheitsorga nisation-a-29c74432-aea1-4f9a-b1ff-fcc4bb43cc4e (Stand: 04. 05. 2023). Staack, Michael: China: Die maritime Dimension, in: Bundesministerium der Verteidigung (Hrsg.): China – Perspektiven und Herausforderungen. Bericht zur 3. Sitzung des Netzwerks „Strategie und Vorausschau“, Berlin 2018, 21 – 33. Vogt, Markus: Christsein in einer fragilen Welt. Revisionen der Friedensethik angesichts des Ukrainekrieges, München 2022; https://ordosocialis.de/publikation/christsein-in-einer-fragi len-welt-revisionen-der-friedensethik-angesichts-des-ukrainekrieges/ (Stand: 04. 05. 2023). Woodward, Bob: Wut, München 2020. Xi, Jinping: Certain Major Issues for Our National Medium- to Long-Term Economic and Social Development Strategy, in: Qiushi, 1. 11. 2020, engl. Übersetzung: https://cset.george town.edu/wp-content/uploads/t0235_Qiushi_Xi_economy_EN-1.pdf (Stand: 04. 05. 2023).

Gekippte Illusionen. Unsere Existenz jenseits des modernen Entnaturalisierungsprojekts – Korreferat zu Nils Goldschmidt und Sarah Lange – Von Michael Schramm Meine These lautet, dass die Coronapandemie ein Kipp-Punkt für alle Entnaturalisierungsillusionen war. Auch die Klimakrise erweist sich als Kipp-Punkt für das moderne Entnaturalisierungsprojekt. Die Schlussfolgerung aus beiden Krisen ist die Erkenntnis, dass die Natur eine conditio sine qua non für unsere biologische und soziale (gesellschaftliche) Existenz darstellt. Mit diesen Thesen greife ich die konzeptionelle Figur auf, mit der Nils Goldschmidt und Sarah Lange arbeiten: die Figur des „Kipp-Punkts“1 (engl. „tipping point“2 oder auch „breakpoint“3). Ich greife ebenfalls die von Goldschmidt & Lange erörterten Gegenstandsbereiche auf: Coronapandemie, Klimawandel und Demokratie, für die solche Kipp-Punkte relevant sind, und kommentiere sie (teilweise kritisch). Die von mir thematisierten Kipp-Punkte sind vor allem kognitiver Natur.

1

Vgl. Goldschmidt/Lange (2023), in diesem Band. Vgl. auch Goldschmidt/Wolf (2021). Der Begriff „tip(ping) point“ („Kipp-Punkt“, „Umkipp-Punkt“) wurde sozialwissenschaftlich zuerst von dem Politikwissenschaftler Morton Grodzins 1957 geprägt und dann von dem Ökonomen Thomas Schelling 1971 verwendet, und zwar im Kontext der Analyse von Rassentrennungsprozessen. In Analogie zu dem physischen Phänomen, dass bei einem ausbalancierten Gebilde bereits die Hinzufügung eines sehr kleinen weiteren Objekts zu einem Umkippen (engl.: to tip over) führen kann, hat Grodzins das Phänomen, dass der Zuzug von Schwarzen in ein von Weißen dominiertes Wohngebiet ab einem bestimmten Punkt zur Abwanderung der Weißen führt, als „the tip point“ (1957, p. 36) bezeichnet, der nicht mehr leicht umzukehren ist. Das gleiche Phänomen des sog. „neigborhood tipping“ (dt. in etwa: „die Nachbarschaft umkippen“) wurde in Schellings Segregationsmodell thematisiert: er zeichnete auf ein Papier das Muster eines „checkerboards“ (1971, p. 154; dt.: Schachbrett, Schachbrettmuster) und simulierte damit die Umzugsaktionen von Weißen und Schwarzen. Dem englischen Ökonomen Tim Harford erzählte Schelling später: „It was hard to do with pencil and paper. You had to do a lot of erasing.“ (zit. in: Harford 2008, p. 114) Bei diesem „neigborhood tipping“ wird das Wort „tipping“ verwendet, „when a recognizable new minority enters a neighborhood in sufficient numbers to cause the earlier residents to begin evacuating.“ (p. 181) Das, „what we might want to call the ,tipping point‘“, so Schelling, ist dann der Zeitpunkt, „at which something discontinuous happens or some cumulative process begins.“ (p. 182) Popularisiert und verallgemeinert wurde der Begriff schließlich durch Malcolm Gladwells Buch The Tipping Point (Gladwell 2000). 3 Vgl. zum Beispiel May (1977). 2

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I. Die Coronapandemie als Kipp-Punkt So wie wir angesichts der Klimakrise zunehmend erkennen (müssen), dass unsere Existenz von der „Mutter Erde“, also der lebensfreundlichen Dimension der Natur, abhängig und die Erde unsere einzige Zufluchtsstätte in einem kalten und leeren Universum ist, unsere einzige Heimat, so zeigte die Coronapandemie, dass wir auch der lebensfeindlichen Seite der Natur – hier in Gestalt des Virus SARS-CoV-2 (Severe Acute Respiratory Syndrome CoronaVirus Type 2) – nicht wirklich entkommen können. Zwar hilft uns natürlich die moderne Medizintechnik dabei, die negativen Folgen der Krankheit abzumildern, aber die Vorstellung, die Menschheit könne gleichsam über allen Wassern, all den naturalen Kräften enthoben, existieren, wird als Illusion entlarvt. Daher die erste meiner drei Thesen: These 1: Die Coronapandemie hat uns die Kontingenz unserer biologischen Existenz vor Augen geführt. Sie ist der kognitive Kipp-Punkt für die biologische Entnaturalisierungsillusion, also die Meinung, wir könnten uns (halbwegs) unabhängig von der Natur machen.

Entnaturalisierungsillusionen haben in der Moderne eine lange Tradition. Ich will hier lediglich ein fast noch zeitgenössisches Beispiel herausgreifen. Der US-amerikanische Ökonom Robert M. Solow (*1924), der 1987 den Nobelpreis für seine Theorie des Wachstums erhalten hat4, trug in einem bemerkenswerten Aufsatz aus dem Jahr 1974 die These einer Substituierbarkeit („substitutability“) der Natur durch menschliche Technologie vor. „[T]he degree of substitutability is […] a key factor. If it is very easy to substitute other factors for natural resources, then there is in principle no ,problem.‘ The world can, in effect, get along without natural resources, so exhaustion is just an event, not a catastrophe.“5

Als Wissenschaftler formuliert er natürlich mit einem „If“, doch gleichwohl betont er insgesamt „the importance of substitutability“6 und geht im weiteren Verlauf seines Artikels (mehr oder minder) davon aus, dass Natur im Prinzip vollständig sub-

4

Er hatte in zwei Aufsätzen aus den fünfziger Jahren gezeigt, dass technischer Fortschritt mit fast 90 % die weitaus bedeutendste Ursache langfristigen Wirtschaftswachstums ist (vgl. Solow 1956; Solow 1957). Empirisch sei etwa das Wachstum in den USA für die Zeit von 1909 bis 1949 zu 87,5 % auf den technischen Fortschritt zurückzuführen: „with 871/2 per cent of the increase attributable to technical change and the remaining 121/2 per cent to increased use of capital.“ (Solow 1957, p. 320) Sein „Solow Model“ (oder „Solow Swan Model“) hatte den Output einer Volkswirtschaft als aggregiertes Ergebnis von Kapital, Arbeit und gegebener Technologie bestimmt (eine aggregierte neoklassische Produktionsfunktion). Nennenswertes Wachstum sei damit aber nicht möglich. Also bedürfe es einer anderen (exogenen = im Modell nicht erklärten) Ursache. Und diese Ursache für echtes langfristiges Wachstum könne eben nur der technologische Fortschritt sein, der dann die Produktionsfunktion nach oben verschiebe. 5 Solow (1974), p. 11. Die Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel kommentiert dieses Zitat mit einer gewissen Fassungslosigkeit: „Als ich das zum ersten Mal las, konnte ich es nicht fassen. Dafür gab es den Nobelpreis?“ (Göpel 2020/2021, S. 48). 6 Solow (1974), p. 11.

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stituiert werden kann (s + 1)7 Es kommt bei der Beurteilung solcher Theorien entscheidend auf das „Wieviel“ an: selbstverständlich ist es partiell möglich, Natur durch menschliche Technik zu ersetzen (etwa im Fall eines künstlichen Kniegelenks), aber eine umfassende Substitutionselastizität halte ich für illusorische Science Fiction. Nun ging es in dem Aufsatz von Solow nicht um lebenszerstörende Kräfte in der Natur (wie etwa SARS-CoV-2), sondern im Gegenteil um die Substitutionselastizität von Naturkapitalien8, aber weltanschaulich nähren solche Vorstellungen, man könne die Natur durch menschliche Technologien substituieren, auch die Entnaturalisierungsillusion, es sei möglich, sich auch von den negativen Seiten der Natur (Krankheiten, Tod usw.) unabhängig machen zu können. Theorien wie diejenige von Solow befördern nämlich auch Illusionen in Bezug auf die natürlichen Dinge, die wir uns vom Hals halten wollen (wie etwa Viren). Sie suggerieren, dass es möglich sei, sich durch menschliche Kulturleistungen (wie etwa die Technik) eine entnaturalisierte menschliche Welt zu erschaffen. Die Coronapandemie war der kognitive KippPunkt für solche Entnaturalisierungsillusionen9, indem sie uns unmissverständlich mit der Kontingenz unserer biologischen Existenz konfrontiert hat.

II. Die Klimakrise als Kipp-Punkt Die Coronapandemie war – wenn man sie jetzt nicht allzu schnell in die Vergessenheit drängt – außerordentlich lehrreich in Bezug auf die Kontingenz unserer Existenz. Sie hat, um Goldschmidt/Wolf (2021, S. 238) zu zitieren, „uns allen vor Augen geführt, wie schnell Systeme kippen können – das Gesundheitssystem, das politische System, das weltweite Wirtschaftssystem.“

Darüber hinaus stellt die Coronapandemie aber auch eine Erinnerung daran dar, dass auch das Gesamtsystem unseres Planeten kippen kann – und damit auch unsere gesamte soziale Existenz verunmöglicht. Daher die zweite These: These 2: Die Klimakrise konfrontiert uns mit der Kontingenz der „sozialen Ontologie“ unserer modernen gesellschaftlichen Existenz. Sie ist der Kipp-Punkt für die soziale Entnatura-

7

So auch Ott/Döring (2004/2011), S. 120: „Daran ist dreierlei bemerkenswert: Einmal werden „exhaustible resources“ zu „natural resources“ verallgemeinert, zweitens verwandelt Solow s + 1 als Möglichkeit in der technischen CES-Produktionsfunktion in eine empirisch wohlinformierte „best-guess“-Hypothese. Damit tilgt er drittens stillschweigend sein ,Falls‘.“ 8 Solow hatte zuvor die natürlichen Ressourcen ökonomisch als (Natur-)Kapitalien definiert: „A pool of oil or vein of iron or deposit of copper in the ground is a capital asset to society and to its owner“ (1974, p. 2). 9 Entnaturalisierungsillusionen werden auch vom sog. „Ökomodernismus“ gepflegt, wenn etwa vom „decoupling of humanity from nature“ gesprochen wird (Asafu-Adjaye et al. 2015, p. 12). Der „Ökomodernismus“ vertritt einen modernistischen Mythos.

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lisierungsillusion, dass das Funktionieren der Demokratie und der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Systeme auch im Rahmen einer (um)gekippten Natur möglich sei.

Der in der These 2 thematisierte Klimawandel konfrontiert uns gleich mit drei unterschiedlichen Formen von „Kipp-Punkten“, erstens naturale Kipp-Punkte, zweitens soziale (gesellschaftliche) Kipp-Punkte und drittens einem aus dieser Gefahr hoffentlich resultierenden kognitiven Kipp-Punkt. (1) Naturale Kipp-Punkte. Im Jahr 2008 wandte ein Team des deutschen Klimatologen Hans Joachim Schellnhuber den Ausdruck ,tipping point‘ auf das „Kippen“ des Klimas an: „The term ,tipping point‘ commonly refers to a critical threshold at which a tiny perturbation can qualitatively alter the state or development of a system. Here we introduce the term ,tipping element‘ to describe large-scale components of the Earth system that may pass a tipping point.“10

Niemand weiß derzeit genau, wie sich der Klimawandel in diesem Jahrhundert konkret auswirken wird, aber die Gefahr, dass es – über das kontinuierliche Ansteigen von lokalen Katastrophenereignissen (Dürren, Fluten usw.) hinaus – zu abrupten Kipp-Punkten oder sogar „Kaskaden von Kipp-Punkten“ kommen kann, ist in den wissenschaftlichen Studien allgegenwärtig. So heißt es etwa im letzten Synthesis Report des Weltklimarats IPCC: „The likelihood and impacts of abrupt and/or irreversible changes in the climate system, including changes triggered when tipping points are reached, increase with further global warming (high confidence).“11

Prominente Kandidaten, solche global wirksamen Kipp-Punktereignisse auszulösen, sind der Golfstrom (der zum Nordatlantikstrom oder „Atlantic Meridional Overturning Circulation“ AMOC gehört), das Abschmelzen der polaren Eisschilde, die Kohlenstoffaufnahme des Meeres sowie die Abholzung des Regenwalds. In der jüngeren Menschheitsgeschichte haben Naturveränderungen zwar schon Gesellschaften zu Fall gebracht (zum Beispiel das alte Ägypten aufgrund des Ausbleibens der Nilfluten), aber im 21. Jahrhundert droht ein globales Umkippen der menschlichen Gesellschaft(en). (2) Soziale Kipp-Punkte. Das konkrete Prozessieren der gesellschaftlichen Gesellschaft mit all ihren sozialen Erfindungen – sei es die „soziale Ontologie“ oder etwa die Digitaltechnik – hängt vom Funktionieren der naturalen Ontologie ab. Die gesamte menschliche Gesellschaft ist – wie das der Soziologe Armin Nassehi treffend für die Digitaltechnik formuliert hat – „von dieser Welt“12. Alles Soziale (Gesellschaftliche) geschieht nicht in einem Nirwana, sondern konkret auf dieser Erde. Abstrakte Systemcodes oder digitale Algorithmen können nur in konkreten Ereignissen 10

Lenton/Held/Kriegler/Hall/Lucht/Rahmstorf/Schellnhuber (2008), p. 1786. IPCC (2023), p. 19. 12 Nassehi (2019/2021), S. 188. 11

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oder Transaktionen Wirklichkeit werden. Und konkrete Ereignissen oder Transaktionen – seien es industrielle Fertigungsprozesse, politische Auseinandersetzungen, Liebesakte oder Geldüberweisungen – sind immer auch physische und damit naturale Geschehnisse. Dies zu ignorieren, würde bedeuten, denjenigen Fehler zu machen, den der Philosoph Alfred North Whitehead als „Fallacy of Misplaced Concreteness“ bezeichnet hat.13 Kippt die Natur, so kippt auch die menschliche Gesellschaft, denn sie ist von dieser Welt. (3) Kognitiver Kipp-Punkte. Als Konsequenz aus den beiden soeben thematisierten Kipp-Punkten resultiert – hoffentlich – ein kognitiver Kipp-Punkt: nämlich das Kippen der schon thematisierten Entnaturalisierungsillusionen. Wir Menschen und unsere gesamte „soziale Ontologie“ sind eingebettet in die irdische Natur und hängen von ihr ab. Wir nehmen keine transnaturale oder übernatürliche Sonderstellung ein. Die Zeiten, in der der Mensch gewissermaßen als schöpfungstheologische ,Sonderanfertigung‘ angesehen werden konnte, sind vorbei. Wir kommen aus der Natur und ihrer Evolution, sind in sie eingebettet und hängen von ihr ab. Sowohl die Coronapandemie als auch die Klimakrise erinnern uns an diese fundamentale Kontingenz unserer Existenz.

III. Die Natur als conditio sine qua non für unsere Existenz Ohne eine halbwegs intakte Natur geht nichts. Die „soziale Ontologie“ ist ohne ein naturales Fundament nicht zu haben. In diesem Sinn schreibt der Journalist Jonas Schaible griffig: „Das Physikalische ist politisch. […] [D]as Politische und das Physikalische lassen sich […] nicht trennen […]. Über Politik zu sprechen, ohne über die materielle Wirklichkeit der Klimakrise zu sprechen, heißt, über Fantasiepolitik zu sprechen.“14

Die Einsicht in dieses naturale Fundament unserer Existenz ist die zentrale Schlussfolgerung, die sich aus Coronapandemie und Klimawandel ergeben (sollte). In diesem Sinn These 3: These 3: Sowohl Coronapandemie als auch Klimawandel lehren uns, dass die Natur die physische Grundlage und damit eine conditio sine qua non für das Soziale (die Gesellschaft) darstellt.

Die Herausforderung, mit der uns ansatzweise bereits die Coronapandemie konfrontiert hat und jetzt noch viel mehr die Gefahr eines Klimazusammenbruchs15, hat – wie ich bereits in den Thesen 1 und 2 ausgeführt habe – mit der basalen Rolle der 13

Whitehead (1925/1984), S. 66. Schaible (2023), S. 77. 15 Treffend hat Maja Göpel die Coronapandemie im Vergleich zu Umweltzerstörung als „pillepalle“ bezeichnet (https://www.zeit.de/news/2021 – 03/08/politoekonomin-gegen-klimawandel-ist-corona-pillepalle). 14

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Natur zu tun, die allen modernen Entnaturalisierungsillusionen ein Ende bereitet. Weil wir in unserer gesellschaftlichen und allgemein menschlichen Existenz um die Natur nicht herumkommen, müssen wir Wege finden, der Natur als der physischen Grundlage und der conditio sine qua non für die weitere Existenz des Sozialen (der Gesellschaft) Rechnung zu tragen. Dieser in der Tat elementaren Herausforderung stellen sich Goldschmidt & Lange in den Abschnitten III. und IV. ihres Beitrags. Ihre konzeptionelle Reaktion auf die Herausforderungen, vor die uns Pandemien und vor allem der Klimawandel stellen, besteht in zwei Schritten: in einem ersten Schritt erklären sie, dass demokratische Wege erfolgreicher seien als totalitäre Versuchungen, und in einem zweiten Schritt schlagen sie die „soziale Irenik“ des Gesellschaftsmodells „Soziale Marktwirtschaft“ als Modell zum Umgang mit den genannten Problemen vor. Dem ersten Schritt stimme ich ausdrücklich zu. Den zweiten Schritt aber halte ich für unzureichend. (1) Aufgrund mehrerer Merkmale scheinen Demokratien nicht gut dazu geeignet zu sein, auf ökologische Problemlagen angemessen zu reagieren: aufgrund der periodischen Wahlen neigen Demokratien zu kurzfristigem Denken, demokratische Prozesse sind ziemlich langwierig, und nicht zuletzt müssen Demokratien aufgrund des Zwangs zu demokratischen Koalitionen immer Kompromisslösungen akzeptieren. Die Klimakrise war und ist aber ein langfristiges Problem, mittlerweile haben wir fast keine Zeit mehr, und verwässernde politische Kompromisse werden an der Unerbittlichkeit der naturalen Physik scheitern. Angesichts dieser Problemdiagnose kamen und kommen immer wieder Stimmen auf, die auf die vermeintlichen Vorteile einer ,Ökodiktatur‘ verweisen. Es wird argumentiert: wenn wir erstens ohne eine halbwegs intakte Natur nicht überleben können und wenn zweitens unsere derzeitigen demokratischen Verfahren den Erhalt der Natur nicht gewährleisten können, dann folge drittens, dass wir den Erhalt der Natur und damit unserer Existenz notfalls auch mit Hilfe verschiedener Formen eines ,Ökoautoritarismus‘ sicherstellen müssten. Ein berühmtes Beispiel einer solches Argumentation findet sich bei dem Philosophen Hans Jonas in einer der ,Bibeln‘ der ökologischen Bewegung (Nachwort in den neueren Auflagen: Robert Habeck!). Unter der Überschrift „Der Vorteil totaler Regierungsgewalt“ schreibt Jonas, dass Maßnahmen zur Verhinderung des ökologischen Desasters „im demokratischen Prozeß schwer zum Beschluß gebracht werden könnten. Solche Maßnahmen sind aber eben das, was die drohende Zukunft verlangt und immer mehr verlangen wird. Soweit also handelt es sich um die Regierungsvorteile einer jeden Tyrannis, die in unserem Zusammenhang eben eine wohlwollende, wohlinformierte und von der richtigen Einsicht beseelte Tyrannis sein muß.“16 Und weiter nimmt er an, „daß in der kommenden Härte einer Politik verantwortlicher Entsagung die Demokratie (bei der notwendig die Gegen-

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Jonas (1979/2020), S. 256.

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wartsinteressen das Wort führen) mindestens zeitweise untauglich ist, und unsere augenblickliche Abwägung ist, widerstrebend, zwischen verschiedenen Formen der ,Tyrannis‘.“17

Aber auch heute gibt es solche Stimmen. Beispielsweise schreibt der Politologe Ross Mittiga: „Climate change […] may require a […] authoritarian approach.“18

Spekulative Sirenengesänge dieser Art sind natürlich ziemlich verführerisch. Heilsam ist hier aber ein schlichter Blick in die Realität. Was die Coronapandemie anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Eindruck, Chinas diktatorische NullCovid-Politik sei dem demokratischen Umgang mit der Pandemie überlegen, nach der abrupten Kehrtwende Anfang Dezember 2022 doch in kürzester Zeit verflogen ist. Und auch oder erst recht in Bezug auf die Klimakrise liegen die Dinge nicht so einfach. Die Ökobilanz von Diktaturen ist praktisch immer schlechter als die von Demokratien, niemals jedoch besser. Empirische Studien zeigen, dass Naturkatastrophen nur in gut funktionierenden Demokratien, nicht aber in Diktaturen zum Anlass genommen werden, den Klimawandel zu bekämpfen.19 Die These von Goldschmidt & Lange, dass trotz aller Probleme Demokratien immer noch besser abschneiden als „totalitäre top-down Ansätze“, ist also nicht nur eine „Ansicht“, sondern ein empirisches Faktum. (2) Das bedeutet nun aber leider nicht im Umkehrschluss, dass Demokratien mit Coronapandemien oder vor allem der Klimaherausforderung nun ausgesprochen gut umgehen würden. Wenn man nach Gründen sucht, warum Demokratien trotz ihrer (von mir bereits benannten Probleme) doch – sagen wir – weniger schlecht als (Öko)Diktaturen in Bezug auf das Ökoproblem abschneiden, ist zumindest einer der relevanten Punkte, dass „in Demokratien Menschen eher für die Umwelt kämpfen können, ohne dabei um ihr Leben fürchten zu müssen.“20 Dieser Umstand führt mich zu einer (auch) kritischen Einschätzung des Vorschlags von Goldschmidt & Lange in Bezug auf ein Lösungsmodell im Umgang von Demokratien mit der ökologischen Frage. Unter Rekurs auf Alfred Müller-Armack plädieren sie für dessen Gesellschaftsmodell der ,Sozialen Marktwirtschaft“ als Leitbild (,role model‘) zum Umgang mit den Herausforderungen. Näherhin nehmen sie Bezug auf Müller-Armacks Idee der „sozialen Irenik“ (lat. eQq^mg = Friede). Dabei ging es ihm um die „Möglichkeit einer die Weltanschauungen verbindenden Sozialidee“21, „eine irenische, auf Versöhnung gerichtete Haltung“ (S. 182), mit der 17

Jonas (1979/2020), S. 262. Mittiga (2022), p. 998. 19 So etwa das Ergebnis der Studie des finnischen Politologen Lauri Peterson (2021), p. 23: „The findings indicate that extreme weather events propel only highly functioning democracies to tackle climate change. Effects among remaining country cases are insignificant. This variation in the data can be attributed to democracies’ concern for the common good and the perspectives of those most affected by climate-related disasters.“ 20 Schaible (2023), S. 132. 21 Müller-Armack (1950), S. 181. 18

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eine „mögliche Einheit“ divergierender gesellschaftlicher Weltsichten22 und so eine soziale „Versöhnung“23 erreicht werden könne. Nun habe ich nichts gegen eine irenische Versöhnung unterschiedlicher Weltanschauungen – im Gegenteil. Das Problem, mit dem uns die Klimakrise konfrontiert, ist jedoch erst einmal von ganz anderer Art. Denn hier handelt es sich nicht nur um einen innergesellschaftlichen Konflikt. Denn es sind nicht unterschiedliche gesellschaftliche (soziale) Gruppen, die divergierende Forderungen anmelden. Vielmehr ist es die Natur, die uns mit unverrückbaren Grenzen konfrontiert – wobei es um naturale Anforderungen geht, die nicht verhandelbar sind. Das Basisproblem dreht sich nicht um eine „soziale Irenik“, sondern um eine „naturale Irenik“ – wobei bei der „Versöhnung“ mit der Natur kein Verhandlungsprozess Abhilfe schafft, sondern nur ein Respektieren der physikalischen Gegebenheiten. Diese naturalen Basisanforderungen, die vor- oder subsoziale physische Basis der gesamten „sozialen Ontologie“, kann keine der gesellschaftlichen Strömungen ignorieren.24 An dieser Stelle wird der Unterschied zur „sozialen Irenik“ akut. Denn um den nicht verhandelbaren naturale Anforderungen im politischen Geschäft Gehör zu verleihen, bedarf es in Demokratien Menschen, die für die Natur kämpfen. Es bedarf streitbarer Aktionen, die Aufmerksamkeit für die unverrückbare Physik der Natur erzeugen. Politiktheoretisch handelt es sich also um Aktionen ,zivilen Ungehorsams‘25, denen es um die objektive Tatsache geht, dass unsere gesamte „soziale Ontologie“ auf der „naturalen Ontologie“ aufbaut und von ihr abhängig ist.

22 Konkret nennt er hier für seine Zeit – wie auch Goldschmidt & Lange erwähnen – Katholizismus, Protestantismus, marxistischen Sozialismus und Liberalismus. 23 Müller-Armack (1950), S. 186. 24 Genauer gesagt: man kann natürlich alles ignorieren, und so wird auch das Klimaproblem von einigen Leuten (sei es Donald Trump, sei es die AfD) ignoriert. Nur ist diese Ignoranz eben genau das: empirische Fakten werden geleugnet – und werden von der Natur entsprechend „bestraft“ werden. 25 „Fridays for Future“ und die „Letzte Generation“ sind – jedenfalls im Allgemeinen – solche moralisch qualifizierten Formen des ,zivilen Ungehorsams‘, der – so die jetzt wieder aktuelle Diskussion vor vielen Jahren – „in Situationen ausgeübt [wird], wo man mit Festnahme und Bestrafung rechnet und sie ohne Widerstand hinnimmt. Auf diese Weise zeigt der bürgerliche Ungehorsam, dass er legale Verfahrensweisen respektiert.“ (Rawls 1976, S. 177) Ähnlich erklärt Habermas (1983, S. 83 f.): „Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“

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Ethische Dilemmata in der Bekämpfung von Pandemien Individuelle und kollektive Perspektiven im Widerstreit Von Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge

Einleitung: Demokratie als Legitimierung des verbalen Faustrechts Die Pandemie hat latente Konflikte ins Leben gerufen und die Gesellschaft mit Fragen von Prinzipien, Priorisierungen und Verantwortung konfrontiert. Die erste Herausforderung stellte sich in Form der Frage einer katastrophenmedizinischen Triage, ein gesellschaftliches Dilemma, das aber letztendlich (trotz einer starken Belastung einzelner Krankenhäuser), in großen Teilen von Europa nicht eintrat. Die zweite Herausforderung entstand durch eine zunehmende Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung mit den flächendeckenden Lockdown-Maßnahmen, die angesichts des ausreichend belastbaren Gesundheitssystems unverhältnismäßig schienen. Im tatsächlichen Verlauf der Pandemie stellte sich daher für die Regierung besonders folgendes Dilemma als relevant heraus: Sind angesichts geringer Todeszahlen und angesichts großer Kapazitäten in Krankenhäusern (insbesondere Intensivstationen) so strenge Regeln, sind Lockdowns, aber auch andere Maßnahmen gerechtfertigt? Teile der Bevölkerung, aber auch der Experten (etwa die Statistiker der LMU) sehen die niedrige Todeszahl nicht als Ergebnis des Lockdowns, sondern als natürliche Entwicklung der Pandemie. Das wiederum lässt die Maßnahmen als zu streng erscheinen. Bei einer pandemischen Entwicklung, die das Gesundheitswesen an seine Grenzen gebracht hätte, wäre der Regierung möglicherweise ebenfalls Verantwortungslosigkeit vorgeworfen worden. Die Entscheidung wird dadurch erschwert, dass die Politiker wenige Erfahrungswerte zur Verfügung hatten (obwohl dies nicht die erste pandemische Krise ist, man denke etwa an die Schweinegrippe 2009/10 oder die Hongkong-Grippe 1968/69). In der öffentlichen Debatte wurde den Gegnern der Maßnahmen vorgeworfen, tausende, sogar zigtausende Tote in Kauf nehmen zu wollen. Anders herum würden die Unterstützer der Maßnahmen die Demokratie gefährden, Millionen von Erwerbstätigen in ihrer Berufsausübung behindern, Kinder und Jugendliche vernachlässigen und Millionen von Menschen mit geringerem gesundheitlichen Risiko einsperren. Sie hätten schließlich sogar vollständig geimpfte Pflegeheimbewohner weiterhin in Isolation vereinsamen lassen, usw.

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Die Möglichkeit, dass es eine Wahl nicht nur zwischen Chaos und Lockdown gegeben hat, sondern einen dritten Weg, in dem Bürger Empfehlungen folgen, die nicht in Gesetzen und Verboten ausgedrückt sind, und mit dem zugleich trotzdem eine katastrophale Überlastung der Gesundheitswesen vermieden werden könnte, wurde in Deutschland nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. In der Debatte über die Angemessenheit der Corona-Maßnahmen bildeten sich Positionen, die sich gegenseitig die Manipulation der Wahrheit vorwarfen. Es ging um Priorisierungen. Die Wirtschaftskraft des Landes hat es ermöglich, dass seit Jahrzehnten weitgehend die Interessen aller gesellschaftlichen Gruppierungen berücksichtigt werden konnten. Daher ist die polarisierende Entwicklung der Debatte nicht überraschend, denn: weder Politiker noch die Bevölkerung waren auf eine Situation vorbereitet, die es erforderte, Prioritäten zwischen Interessen und Rechten einer Bevölkerungsgruppe auf Kosten einer anderen zu setzen. Am Anfang der Pandemie sind Politiker mit der Möglichkeit einer Triage konfrontiert worden. In einem angespannten Kommunikationsumfeld mussten Politiker sich auf eine Kollision einstellen, in denen über den Wert eines Menschenlebens im Vergleich mit einem anderen hätte entschieden werden müssen. Laut der Deutschen Krankenhausgesellschaft waren die Kapazitäten der Intensivstationen in deutschen Krankenhäusern jedoch selbst zum Zeitpunkt der höchsten Fallzahlen weit von einer Überlastung entfernt (https://www.dkgev.de/dkg/coronavirus-fakten-und-infos/). Mit der Zeit wuchs die Frustration unter Teilen der nicht-gefährdeten Mitbürger, die der Meinung waren, dass auch andere gesellschaftliche Interessen als die der weitestmöglichen Verhinderung von Corona-Toten eine Berechtigung haben, und es kam zu einer, teilweise recht scharfen, Konfrontation gegensätzlicher gesellschaftlicher Interessen. Diese Debatte hatte die zusätzliche Herausforderung, dass ungleiche Größen verglichen werden mussten. Wie viele Depressionen darf ein Menschenleben kosten und wie viel Wirtschaftswachstum ist für ein Menschenleben zu opfern? Wie sehr leiden Menschen, deren Träume in Trümmern liegen? In dieser Situation, wo Menschen – Politiker und Bürger zugleich – auf bisher beispielslose Weise mit folgenschweren Entscheidungen konfrontiert worden sind, hat scheinbar nur die pauschale moralische Abwertung des Gegners einen Ausweg angeboten. Die Schwierigkeit, diese Fragen zu beantworten, befreit die Entscheidungsträger aber nicht von der Verantwortung und von der Notwendigkeit, sich bezüglich dieser Fragen zu positionieren. In (im weitesten Sinne) sozial-liberalen Gesellschaften, wie sie in Europa oft zu finden sind, hat der öffentliche Diskurs seit langem solchen Fragen aus dem Weg gehen können. Das hohe Wohlstandsniveau hat die weitgehende Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse aller Mitbürger ermöglicht. Zugleich entwickelte sich eine verminderte Bereitschaft zur offenen Diskussion ethischer Dilemmata in der Gesellschaft. In der alltäglichen Lebensführung werden freilich täglich gesundheitliche Risiken mit genussvoller Lebensweise abgewogen. So birgt der Mangel an physischer Aktivität langfristige Risiken, und trotz der Gefahr für Leber, Nieren und

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Herz verschönern Alkohol, Tabak, Salz und Fleisch täglich das Leben von Millionen. In Bussen werden meist keine Sicherheitsgurte eingebaut, wir sind frei, ohne Helm Fahrrad zu fahren und können durch überhöhte Geschwindigkeit Mitmenschen auf der Autobahn gefährden. Dieser Beitrag befasst sich mit Problemstellungen, die im Kontext des pandemischen Kontrollverlustes zu Tage getreten sind. Der Unterschied zwischen der Klarheit und Simplizität ethischer Prinzipien auf der einen Seite und der Kontextualität und Komplexität der gegebenen Situation auf der anderen hinterlässt eine Lücke, in welcher andere moralische Werte und kulturelle Strömungen unangefochten ihren Einfluss geltend machen können. Diese gilt es, mit Hinweis auf philosophische und kulturhistorische Strömungen, wenn nicht aufzulösen, dann wenigstens ans Tageslicht zu bringen, um sie im öffentlichen Diskurs als debattierbare Annahmen in Frage zu stellen. In der gesellschaftlichen Debatte über die Pandemiebekämpfung hat sich dieselbe kulturelle Normalisierung des populistischen Kommunikationsstils manifestiert, die zur allgemeinen Abschwächung sowohl der politischen Mitte als auch der kulturellen Fähigkeit zum meinungsübergreifenden Dialog geführt hat. Die Tatsache, dass die Politik über einen längeren Zeitraum hinweg nicht in der Lage gewesen ist, Kompromisse zu schließen, die alle Gruppierungen zufriedenstellen konnten, hat uns die fatalen Konsequenzen dieser Veränderung der Kommunikationskultur vor Augen geführt. Die zukünftige Aufarbeitung des Geschehens wird nicht nur durch die Komplexität der Tatsachen, ausgedrückt in Zahlen und Statistiken, sondern auch durch die Emotionalität der Debatte erschwert. Momentan dienen die Standpunkte der Debatte immer noch als Ausdruck von spezifischen, sich gegenseitig ausschließenden politischen und kulturellen Identitäten. Deswegen können die unterschiedlichen Standpunkte noch nicht einer kollektiven retrospektiven Reflexion unterzogen werden. Die identitäre Entwicklung der Kultur wird seit längerem debattiert. Diese Tendenz lässt sich keiner spezifischen Gruppierung zuordnen, weil die Bandbreite von den national-Identitären des rechten politischen Spektrums bis zum links-identitären Fokus auf die Rechte von benachteiligten Gruppierungen reicht. Dadurch wird Abgrenzung erschwert und eine entsprechende Kritik verhindert. In diesem Sinne verursacht die Polarisierung eine Veränderung des allgemeinen Verständnisses von Demokratie als kollektives, argumentativ-partizipatives Projekt in Richtung der Demokratie als Schauplatz für verbal ausgefochtene Interessenskonflikte. Diese Veränderung dient gleichzeitig als Legitimierung des verbalen Faustrechts. Wer dem Gegner keine Legitimität zuschreibt, ist selbst keinen Idealen des Diskurses verpflichtet. Die Konsequenzen dieser Tendenz sind in der Pandemie deutlicher geworden denn je. Die Unvorhersehbarkeit der pandemischen Entwicklung kann zu gewissen politischen Fehlentscheidungen geführt haben. Ihnen kann anfangs in der (zumindest teilweise) ungewöhnlichen Situation mit einem gewissen Verständnis begegnet wer-

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den; spätere Fehler, wie z. B. das endlose Hinziehen des zweiten Lockdowns und anderer Maßnahmen (gerade in Deutschland), sind kritischer zu bewerten. Eine noch ernster zu nehmende Problematik zeichnet sich aber in der öffentlichen Kommunikation selbst ab. Die hat sich im Grenzbereich zwischen wissenschaftlichen Daten und politischen Priorisierungen entfaltet. In diesen Entscheidungsprozessen wurde politische Priorisierung mit Hinweis auf bestimmte wissenschaftliche Positionen gesetzt, obwohl unter Wissenschaftlern Uneinigkeit herrschte, was wiederum zu Vorwürfen einer undemokratischen Vorgehensweise führte. Der Regierung mag es gelungen sein, die Anzahl der Infizierten und Verstorbenen zu reduzieren. Bürger und Bürgerinnen in einer kollektiven Bewältigung zu vereinen, ist dagegen nicht gelungen. Dieser Artikel befasst sich mit der Frage der Erholung einer öffentlichen Kommunikationskultur. Der erste Teil wird sich der kulturellen Entwicklung der letzten 70 Jahre widmen, in welcher die berechtigte Angst vor einer Wiederholung der Gräueltaten des Totalitarismus im 20. Jahrhunderts zum Abbau der Idee des Gemeinwohls und zu einer Aufteilung der Gesellschaft in eine Mehrheit aus Tätern sowie eine Reihe von Minderheiten als deren Opfer. Der zweite Teil wird sich mit der Frage beschäftigen, welchen Beitrag klassische ethische und wirtschaftsethische Theorien in dieser postmodernen (politischen?) Landschaft leisten können und wie eine tragende Idee von einem Gemeinwohl wiederhergestellt werden kann.

I. Kommunikation und gegenseitige Anerkennung 1. Aus Angst vor Totalitarismus Der Verfall der kollektiven Fähigkeit zu einem von gegenseitigem Respekt und Anerkennung gekennzeichneten öffentlichen Meinungsaustausch ist seit mehreren Jahren Gegenstand philosophischer Auseinandersetzungen. Die Problemstellung ist Teil eines Bündels von gesellschaftstheoretischen Themen, die sich z. B. mit der Möglichkeit öffentlicher Meinungsbildung in Massendemokratien, objektiven moralischen Werten, der Idee des Gemeinwohls, und Fragen der gesellschaftlichen und globalen Gerechtigkeit beschäftigen. Eine historische Perspektive auf die Frage der öffentlichen Kommunikationskultur kann sich als lohnenswert erweisen, insofern der Hinweis auf einen historischen Ursprung von grundlegenden Annahmen dieser Kultur deren Geltungsanspruch relativiert. Wenn sich Prämissen, denen ein hoher Wahrheitsanspruch zugeschrieben wird, als Ergebnis einer spezifischen kulturellen Entwicklung herausstellen und nur bedingt auf die aktuelle Situation anwendbar sind, dann sollten diese Annahmen in Frage gestellt werden. Der vorliegende Beitrag schlägt daher vor, die Polarisierung der öffentlichen Meinung als Nebenwirkung einer nachkriegszeitlichen Reaktion auf totalitäre Regime und deren Gräueltaten zu verstehen. Die Angst davor, mit einer totalitären Ideologie

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in Verbindung gebracht zu werden, hat zur Unwilligkeit geführt, sich mit der Frage der Pflicht und Verantwortung des Einzelnen der Gesellschaft gegenüber auseinander zu setzen. Dadurch hat sich das Thema aus dem öffentlichen Diskurs entfernt. Demnach wird der Normalbürger als Anspruch erhebend und nicht als Beitragender der Gesellschaft gegenüber verstanden. Eine Debatte, die mit dem Ziel der Einigkeit geführt wird, setzt aber ein fundamentales Gleichheits- und Kollektivverständnis voraus. Dessen Bedeutung wird vehement heruntergespielt, um totalitäre Konnotationen zu vermeiden. Die Gesellschaft wird dadurch eher als Kampfplatz zwischen Interessen verstanden und nicht als Ort der Kooperation. Die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges hat thematisch die Entwicklung des philosophischen Denkens der Nachkriegszeit beeinflusst. In dieser Zusammenhang wurde das historische Desaster nachträglich unter anderem mit der Formalisierung der Vernunft und der Instrumentalisierung von Aufklärungsidealen im Dienste der Inhumanität erklärt (Horkheimer 2003, Horkheimer und Adorno 2006). Repressive Werte der bürgerlichen Gesellschaft gerieten ebenfalls ins Visier der Kritik. Die Forderung des Nazi-Regimes nach einer individuellen Aufopferung für das Gemeinwohl führte zu einer repressiven kollektiven Ordnung, und infolgedessen erscheint jeder weitere Anspruch einer moralischen Verpflichtung des Einzelnen der Gesellschaft gegenüber als eine Wiederholung dieser Erfahrung. So stellte die intellektuelle Entwicklung grundlegende Bedingungen sozialer Strukturen in Frage, wie zum Beispiel die Möglichkeit einer nicht-repressiven kollektiven Ordnung. In der nachkriegszeitlichen Debatte wurden stillschweigend konzeptuelle Widersprüche als diskursstrukturierende Prinzipien eingesetzt. Zum Beispiel fordert jede kooperative soziale Interaktion eine gewisse Unterordnung der individuellen Geltungsansprüche an interaktionsstrukturierende Regeln. Wenn dieser Anspruch nicht als ermöglichende Bedingung, d. h. als eine Sprache, die diese Interaktion erst ermöglicht, sondern als immanent repressiv verstanden wird, dann entsteht eine exklusive Polarität zwischen einem ungewünschten Machtverhältnis und einer nicht realisierbaren gewaltfreien Struktur. Soziale Interaktion kann daher nur verstanden werden vor dem Hintergrund einer exklusiven Polarität zwischen notwendiger repressiver sozialer Ordnung jeder sozialen Interaktion und deren Negation, der gewaltfreien Interaktion. Die Charakteristika einer gewaltfreien Interaktion können aber in der Sache der Natur nicht verbalisiert oder formalisiert werden, weil dadurch der Interaktion eine immanent repressive Ordnung zugefügt wird. Deswegen wird der Bürger nur als nicht verpflichtet und daher ausschließlich als Anspruch erhebend verbalisiert. Zwischenpositionen sind mit solchen Begriffen nicht mehr denkbar, weil jeder Appell an die Rücksicht dem Gemeinwohl gegenüber und jeder Ruf nach sozialer Ordnung als repressiv eingestuft wird. Demzufolge wird der Schutz des Einzelnen der staatlichen Willkür gegenüber zum Leitprinzip der Gesellschaftskritik. Mitbestimmend für den europäischen Diskurs waren auch Entwicklungen in den Vereinigten Staaten. Während die Europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg

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den Neuaufbau politischer, ökonomischer und sozialer Ordnung vorantreiben mussten, lag in den Vereinigten Staaten ein gesichertes politisches System vor. Der Siegerstatus und die anscheinend legitime Unterdrückung der wenigen anders Gesinnten in den 1950er-Jahren verlieh dem ökonomischen und politischen System einen grundlegenden Konsensus im Hinblick auf dessen Legitimität. Das außenpolitische und militärische Engagement der Vereinigten Staaten führte aber im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte zunehmend zu einer innerpolitischen Unzufriedenheit. Die öffentliche Empörung wurde durch die Watergate-Affäre von 1972 sowie den militärischen Einsatz in Vietnam bis zum schließlichen Abzug der amerikanischen Truppen aus Saigon 1975 verstärkt. Vietnam und Watergate haben wesentlich zur Entstehung und Fortführung der amerikanischen Studentenrevolte beigetragen (Moore 1999, 108). Obwohl ein sozialistisches Amerika nie als ernstzunehmende Möglichkeit erschien, wuchs die öffentliche Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform, und sie entwickelte sich mit der Zeit zu einer Grundannahme sowohl in der akademischen als auch in der öffentlichen Debatte (De George 2012, 340). Die Kritik an der militärischen und kapitalistischen Hegemonie wurde durch Bürgerrechtsbewegungen und durch die feministische Bewegung verstärkt (Sarasin 2021). Trotz einer tiefen Verwurzelung der Demokratie in Aufklärungsidealen wie Freiheit und individueller Gleichwertigkeit entstand der Eindruck einer verborgenen Unterdrückung. Dies erschütterte die allgemeine Anerkennung der Legitimität dieser Gesellschaftsform. Das Narrativ einer wirtschaftsliberalen Demokratie, die sich gegen Totalitarismus und Dogmatismus als Garant der Humanität und individuellen Freiheit stellt, wurde nicht nur als imperialistisch und ausbeuterisch, sondern auch als rassistisch und sexistisch in Frage gestellt. Diese Darstellung bahnte den Weg für die Entstehung einer neuen Thematik: die Rechte unterdrückter Gruppierungen (Sarasin 2021: 130). So hat es in den Vereinigten Staaten eine Entwicklung gegeben, die zu einem ähnlichen kulturellen Ergebnis geführt hat wie in Europa. In beiden Teilen der Welt wurde die Legitimität der bürgerlichen Kultur in Frage gestellt und der Fokus auf Individuen als potentielle Opfer staatlicher und kultureller Machtausübung verstärkt. Dieser Status verleiht Individuen und deren Systemkritik eine immanente Legitimität. Als Sammelpunkt politischer Energie wird das Ideal des Gemeinwohls durch die Rolle des potentiell Betroffenen eines hegemonialen Systems ersetzt. Es ist aber letztlich ein unproduktiver Sammelpunkt, der hauptsächlich auf der Negierung des Bestehenden aufbaut. Jede Unterdrückung, jede Diskriminierung von Minderheiten soll vermieden werden. Doch führt die fast exklusive Vergabe einer öffentlichen Stimme an Legitimitäts- und Anerkennungsansprüche unterschiedlichen Minderheiten gegenüber der Gesellschaft zu einer Verpflichtung gläubigen Minderheiten gegenüber. Diese Rollenverteilung untergräbt auf Dauer die gegenseitige Anerkennung von Legitimität und transformiert die Kommunikationsform von dialogischer Verhandlung zwischen

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Gleichgestellten zu einem durch Schuldzuweisungen ausgefochtenen rhetorischen Machtkampf, in dem jeder Zweifel an der Berechtigung von Minderheitsansprüchen als immanenter Ausdruck verborgener Unterdrückungsmechanismen verstanden wird. Diese Kultur ergibt keinen guten Nährboden für auf gegenseitigem Respekt beruhende öffentliche Meinungsbildung.

2. Pandemiebekämpfung und moralische Selbstzufriedenheit In der Pandemiebekämpfung ging es aus Sicht vieler vor allem darum, Leben zu retten. Dadurch ergibt sich eine Priorität, die vulnerablen Mitbürger, für die ein erhöhtes Risiko besteht, an Corona zu sterben, zu schützen. Eine Kultur, die von den gerade erwähnten Polaritäten gekennzeichnet ist, würde jede Relativierung der Schutzanspruche dieser Minderheit untersagen. Dieses Muster hat die Corona-Debatte lange geprägt. Als sich herausstellte, dass das Gesundheitswesen mit der Lage zurechtkam und dass vor allem ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen gefährdet sind, wuchs aber die Kritik am Lockdown und an anderen Maßnahmen. Gegner der Maßnahmen argumentierten unter anderem mit mentalen Kollateralschäden, mit gesundheitlichen Schäden (Menschen gingen nicht zu Vorsorgeuntersuchungen) – und eben auch mit ökonomischen Einbußen und der daraus folgenden Bedrohung von Existenzgrundlagen und Lebenszielen. Es müssten andere Maßnahmen eingesetzt werden, um die vulnerable Minderheit zu schützen, dabei nicht die Lebensgrundlage und mentale Gesundheit einer anderen und erheblich größeren Bevölkerungsgruppe zu gefährden (Lütge 2021): Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen war nicht mehr gegeben. Der Hinweis auf wirtschaftliche Konsequenzen und amorphe leidende Gruppierungen ist aber in diesem Kontext rhetorisch ineffizient gewesen, weil jeder Hinweis auf Interessen einer Majorität eo ipso als unethisch eingestuft wird. Die Majorität wird als Übermacht, als potentieller Täter, charakterisiert. Die Aufforderung, deren Interessen zu berücksichtigen, wird als eine indirekte Aufforderung verstanden, gegenwärtige nicht-legitime Machtstrukturen zu verstärken. So stellt der Verlauf der Debatte ein Beispiel der Verschiebung des Sammelpunkts politischer Energie auf die Interessen von Minderheiten dar, und die Debatte über die Pandemiebekämpfung ist daher insbesondere von der Schwierigkeit gekennzeichnet, dem Gemeinwohl einer großen, heterogenen Bevölkerungsgruppe eine Stimme im öffentlichen Diskurs zu verleihen, die sie als Menschen aus Fleisch und Blut sichtbar macht. In seinem Buch über „Moral Luck“ von 1981 stellt Bernard Williams die Frage, wie mit einer Situation umzugehen ist, in der es gute utilitaristische Gründe gibt, eine Handlung zu vollziehen, gegen welche eine Person aber eine starke Abneigung spürt (1981, 40). Wäre eine Person dazu berechtigt, die Handlung zu unterlassen, obwohl die Unterlassung eindeutig zu mehr Leid führen würde als die Handlung? Könnte

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man die Unterlassung als „moralische Selbstzufriedenheit“ (moral self-indulgence) bezeichnen? Das würde für eine utilitaristische Position sprechen, weil die Unterlassung aus eigennützigen Motiven erfolgte. Ein ähnliches Thema wird im berühmten „Trolley Problem“ behandelt: Eine Person beobachtet einen führerlosen Zug, der in Richtung einer Gruppe von fünf Gleisarbeiter fährt. Die Person kann durch eine Weichenstellung den Zug auf ein anderes Gleis leiten, wo nur ein Gleisarbeiter zu Tode kommen würde. Bei Unterlassung würden dagegen alle fünf Gleisarbeiter sterben. Die zentrale Frage ist hier, ob in dem Fall die Person für den Tod von fünf statt von einem Gleisarbeiter verantwortlich sei. Es stellt sich auch die Frage, ob durch den Richtungswechsel eher vier Leben gerettet worden sind oder ein Unschuldiger getötet wurde. Das Argument für die Unterlassung baut auf dem Kantianischen Gebot, niemals eine Person (hier etwa: ein Gleisarbeiter) bloß als Mittel zu gebrauchen, auch nicht, um fünf andere zu retten. Diese Unterlassung wäre aber, laut Williams, potentiell ein Fall von moralischer Selbstzufriedenheit. Utilitaristisch ist der Fall klar. Eine Betrachtung der pandemischen Dilemmata durch das Prisma des TrolleyProblems wird dadurch erschwert, dass die eine Gruppe (die nicht-Vulnerablen) zwar außerordentlich groß ist, aber, wie schon angedeutet, keine klaren Grenzen und keine eindeutigen Charakteristika hat. Sie ist nicht in der öffentlichen Wahrnehmung präsent, und ihr Leiden ist zwar bedeutsam, aber nicht so groß wie das Leiden der Sterbenden und ihrer Angehörigen. Der Zug fährt also in Richtung der Vulnerablen, und Politiker und Gesellschaft entscheiden sich dafür, den Zug auf ein anderes Gleis zu leiten. Die politische Entscheidung bringt negative Konsequenzen mit sich. Diese sind aber weniger klar zu identifizieren und in der öffentlichen Debatte nicht sichtbar, wodurch den politischen Entscheidungsgebern keine moralische Verantwortung zufällt. Der „Identified Victim Effect“ besagt, dass Menschen es vorziehen, spezifischen Opfern zu helfen statt Mitgliedern einer größeren und nicht klar abgrenzbaren Gruppe von Individuen (Kogut und Ritov 2005). Politiker folgen daher diesem „nichtidentifizierten Opfer-Effekt“ in ihren politischen Entscheidungen. Die Folgen eines Lockdowns für z. B. Familien in prekären Verhältnisse wurden in Kauf genommen, weil es nicht zu erwarten war, dass diese Folgen unmittelbar im öffentlichen Diskurs artikuliert und auf konkrete politische Entscheidungen zurückgeführt werden würden. Einen völlig anderen Ansatz verfolgte dagegen die „Great Barrington Declaration“, die von namhaften Wissenschaftlern aus Harvard, Stanford und Oxford initiiert wurde und den Schwerpunkt in der Pandemiebekämpfung auf den Schutz der vulnerablen Gruppen legen wollte – statt die gesamte Bevölkerung pauschal mit Maßnahmen zu überziehen. Dieser Ansatz wurde lange Zeit in weiten Teilen der Politik und der Presse zu diskreditieren versucht. Gerade im Rückblick (etwa auf die Ergebnisse unterschiedlicher Herangehensweisen in unterschiedlichen Ländern) stellt sich aber

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die Frage, ob dieser Ansatz wirklich so verkehrt war – oder ob man nicht aus ihm hätte lernen können.

3. Handlung und Wort Es muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass die Unterdrückung von Minderheiten natürlich unzulässig ist. Auch ist der Tod (oder die Erkrankung) eines Menschen mit dem Verlust von Einkünften nur schwer vergleichbar. Jedes Leben ist einzigartig – es gehört aber zur Lebensführung auch dazu, alltägliche Risiken einzugehen. Es werden sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene nicht alle Ressourcen aufgewendet, um Leben zu erhalten. So ist z. B. die individuelle Freiheit, über die eigene Ernährung entscheiden zu können, der Gesellschaft wichtiger, als die Risiken zu reduzieren, die mit Übergewicht und erhöhtem Alkohol- und Tabakskonsum verbunden sind. Es existiert daher ein Widerspruch zwischen dem Umgang mit dem Risiko, an Corona schwer zu erkranken, und den tatsächlichen Priorisierungen und der Risikobereitschaft im alltäglichen Leben. Der Unterschied wird in einer Debatte von 1977/78 zwischen Milton Friedman und einem jungen Studenten namens Michael Moore über den Ford Pinto-Fall veranschaulicht. Auf Moores Kritik am Autohersteller, Sicherheitsvorkehrungen aus Kostengründen zu reduzieren, antwortete Friedman: „Nobody can accept the principle that an infinite value should be put on an individual life, because, in order to get the resources involved – they have to come from somewhere – and you want the policy that is maximising the situation overall, you cannot accept a situation that a million people should starve in order to provide one person with a car that is completely safe“ (https://www.youtube.com/watch?v=Bb7Fi8I-qOk).

Diese Aussage stellt auf der einen Seite einen Tabubruch da, auf der anderen Seite eine reale Beschreibung faktischer Priorisierungen. Die Pandemie hat in Europa zwar keine Hungerkatastrophe ausgelöst, aber Friedmans Argument erinnert uns daran, dass die Gesellschaft, trotz der Einzigartigkeit jedes individuellen Lebens, auch andere Ziele als die Lebenserhaltung verfolgt. Aufbauend auf dieser Argumentation müsste man zB dem Gesundheitssektor deutlich mehr Ressourcen zu Verfügung stellen, Höchstgeschwindigkeiten auf den deutschen Autobahnen einführen, usw. Strengere Regeln wie ein sechsmonatiges Totalverbot auf Alkohol, Tabak, Fastfood und Zucker würden sich auch anbieten. Ein solcher Eingriff wäre konsistent mit den Lockdown-Maßnahmen und würde, langfristig gesehen, viele Leben retten. Moralische Werte wie die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die uneingeschränkte Geltung der Grundrechte und der Schutz des individuellen Lebens, sind Rahmenbedingungen einer zivilisierten Gesellschaft, um Unmenschlichkeit zu verhindern. Sie sind aber nicht mit einer Verpflichtung der Gesellschaft oder des Staats, die Interessen aller Mittbürger zu befriedigen, zu verwechseln. Die kulturelle Herausforderung liegt daher nicht nur in der Aufrechterhaltung von Schutzmechanismen

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für individuelle Mitbürger, sondern auch in der Feststellung derer Grenzen um des Gemeinwohls willen. Mit dieser Herausforderung tut sich unsere Kultur schwer. So stellt die Rechtswissenschaftlerin Tatjana Hörnle fest: „Ein Plädoyer für etwas mehr Zurückhaltung bei der Diagnose ,Missachtung der Menschenwürde‘ hat besonders in der gegenwärtigen Lage keine Aussicht auf Gehör“ (2020). Im tatsächlichen gesellschaftlichen Miteinander werden solche Grenzen und Priorisierungen aber schon gesetzt. Nur werden diese Grenzsetzungen nicht als legitim im öffentlichen Diskurs verbalisiert, und damit werden Debatten über Kompromisse zwischen Leben und Überleben ausgeklammert. Die Unwilligkeit, Grenzen des individuellen Anspruchs auf Würde, Rechte und Anerkennung zu verbalisieren, beeinflusst die kulturelle Fähigkeit, Situationen zu debattieren, in denen nicht immer die Rechte sowie Würde- und Anerkennungsansprüche aller Mitbürger eingelöst werden können, wie es in der Pandemie der Fall gewesen ist. Unter der Annahme der Unantastbarkeit erweist sich jede öffentliche Feststellung eines unbefriedigten Interesses als legitimer Anspruch der Gesellschaft oder dem Staat gegenüber. Jetzt fordert aber das Zusammenleben ständig Kompromisse und Begrenzungen, und daher wäre die Berücksichtigung der Unantastbarkeit aller Interessen und Ansprüche auf Anerkennung durch eine zufällige oder politisch gesteuerte öffentliche Aufmerksamkeit bestimmt und nicht von Annahmen über Verhältnismäßigkeit und Kompromisse zwischen unterschiedlichen Interessen gesteuert. Die Infragestellung der Verhältnismäßigkeit der Lockdowns war in einer Gesellschaft, die es sich angewöhnt hat, angeblich die Interessen aller befriedigen zu können, dadurch erschwert, dass nur eine der beteiligten Parteien in der Öffentlichkeit sichtbar wurde. Die individuellen Folgen des Lockdowns wirkten sich hauptsächlich im privaten Bereich aus, und waren daher schwer einzuschätzen und zu quantifizieren. So kann es sein, dass der Preis von erhöhtem Drogenkonsum, Scheidungen, Insolvenz, Gewalt und abgebrochenen Ausbildungswegen, weil er auf so viele unterschiedlichen Menschen verteilt wird, als angemessen erscheint. Diese Konklusion erscheint aber vor allem deswegen plausibel, weil der Preis nicht als eindeutiges Phänomen in der Debatte sichtbar war, und die Interessen der Menschen, die den Preis bezahlten, nicht als legitim erkannt und als solche debattiert wurden. Das Verkennen der Legitimität anderer Interessen in der Corona-Debatte wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verstärkung der gesellschaftlichen Polarisierung führen (das ist Ende 2021 bereits sichtbar). Kehren wir zum Thema der Unterdrückung von Minoritäten zurück, könnte eine mögliche Erklärung in einer bestimmten Argumentationsstruktur zu finden sein. Die Erklärung liegt in der exklusiven Polarität zwischen einem negativen Begriff von Individuen als Träger von Ansprüchen auf der einen Seite und einem Begriff notwendig repressiver sozialer Ordnung jeder sozialer Interaktion. Wie oben angeführt, entstand diese Polarität als Reaktion auf die unmenschlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges. Das humanitäre und kulturelle Desaster hat den Anspruch an Gesellschaftsmitglieder auf Selbstbegrenzung der eigenen Gestaltungsfreiheit unmöglich gemacht. Dadurch

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werden die heutige Politik und die Kultur von Prinzipien wie der Unantastbarkeit der menschlichen Würde getragen. Diesem Prinzip ist aber keine konzeptionelle Begrenzung gesetzt, weil diese das Risiko eines befürchteten Totalitarismus verstärkt. Wird daher die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und der unbezahlbare Wert eines Menschenlebens erst ins Spiel gebracht, dann gibt es keinen Halt mehr. Diese würde die Verbalisierung der unangenehmen Tatsache verlangen, dass in der Realität kein Mensch für die Gesellschaft als unverzichtbar gilt, dass in der täglichen Praxis dauerhaft Grenzen dafür gesetzt werden, inwieweit es sich lohnt, die Risiken des Lebens zu reduzieren. Diese Inkonsistenz zwischen Prinzipien und realen Priorisierungen führt dazu, dass das Thema der Verpflichtung und Begrenzung der Individuen der Gesellschaft gegenüber verschwiegen wird. In der Praxis ist die grenzenlose Unantastbarkeit der menschlichen Würde nicht zu bewahren, weil die Befriedigung aller Interessen und die Einlösung aller individuellen Rechte nicht in einer von gegenseitiger Abhängigkeit strukturierten Gesellschaft berücksichtigt wird. Das Zusammenleben fordert Kompromisse. Als Konsequenz daraus werden nur punktuell und nicht generell die Rechte und die Unantastbarkeit der Würde einzelner Gruppierungen fokussiert. Dass diese punktuelle Unantastbarkeit der menschlichen Würde nicht nur als Herausforderung verstanden wird, sondern sogar als Lösungsmodell ethischer Dilemmata in Erwägung kommt, ermöglicht das Konzept der Parzellierung der Wirklichkeit. Gemeint ist ein Risikopraxis der gleichzeitige Aufrechterhaltung zweier (ggf. widersprüchlicher) Werte, z. B.: „die Absolutheit des menschlichen Lebensrecht und die Abwägbarkeit des Lebensschutzes“ (Nida-Rümelin und Weidenfeld 2021 p. 73). Dieser Schlag durch den Gordischen Knoten beschreibt sehr gut die tatsächliche Lage. Es stellt sich aber die Frage, ob das bewusste Akzept der Mangel an Kohärenz als Lösungsmodell im Umgang mit ethischen Dilemmata hilfreich ist. Es würde voraussetzen, dass Meinungsbilder und Zuhörer zugleich, trotz Parzellierung, von der Validität der Argumente überzeugt sind, weil diese sonst an Kraft verlieren würden. Man würde verschiedene Werte parallel anwenden, ohne für den Einzelfall eine Entscheidung vorzugeben. Als nicht bewusster Lösung zu Dilemmata Situationen bietet sich Parzellierung an. Als bewusste Lösung würde man aber „so tun als ob“ und die Frage der Entscheidungskriterien ignorieren. Ob im Einzelfall die Absolutheit des menschlichen Lebensrechts oder die Abwägbarkeit des Lebensschutzes gelten soll, wäre dann dem Zufall oder der medialer Aufmerksamkeit überlassen. Da stellt sich die Frage, ob nicht eine bewusste und transparente Abwägung vorzuziehen ist. Rechte einer Person oder Gruppierung lösen dementsprechende Verpflichtungen, dieser Rechte zu fordern und schützen, bei anderen Personen oder Gruppierungen aus (Tasioulas und Vayena 2020, 142). Im Fall der Pandemie ist die Verantwortung auf die amorphe Gestalt der Gesellschaft gefallen. Die in den Fokus geratene Gruppe wird als die der benachteiligten Bürger definiert, während der Rest der Bevölkerung die Aufgabe als Gesellschaft zugeteilt bekommt, die Erfüllung ihrer Rechte zu sichern. Wenn es um Rechte geht, deren Erfüllung ohne große Umstellungen möglich

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ist, ist die Inkonsistenz unproblematisch. Zum Beispiel kann i. d. R. ohne Mobilisierung großer Ressourcen LGBT-Gruppen mehr Anerkennung und Akzeptanz gewährleistet werden. Wenn aber die Erfüllung der Interessen und Berücksichtigung der Rechte einer Gruppe nur auf Kosten einer anderen möglich ist, fehlen der Kultur, weil jede Begrenzung der Erfüllung als Unmenschlichkeit ausgelegt werden kann, die nötigen Werkzeuge, um verhältnismäßige Prioritäten zu setzen. Womöglich befindet sich gerade die deutsche Kultur immer noch in einer Reaktion auf die Gräueltaten des Naziregimes – einer Reaktion, die aber diese wichtige Fähigkeit zur Angemessenheit untergraben hat. Wenn diese Analyse tragbar ist, kann die Radikalisierung der öffentlichen Meinung nicht als Überraschung kommen. Die Inkonsistenz zwischen uneinlösbaren Prinzipien und einer Realität von pragmatischen Priorisierungen führt zur Polarisierung der öffentlichen Meinung unter anderem, weil den Mitbürgern unerfüllbare oder nur punktuell, also gruppenweise, erfüllbare Rechte versprochen werden. Mit diesem Hintergrund fordert eine konstruktive Fortführung der Debatte vor allem eine Aufarbeitung der öffentlichen Kommunikationskultur. Diese muss sich die Frage stellen, wie eine Debatte zu führen sei in Situationen, in denen nicht die Interessen aller Bürger weitgehend befriedigt werden können. Sie muss auch damit klarkommen, dass eine Gesellschaft nicht nur Individuen, sondern auch die breite Bevölkerung berücksichtigen muss. Nicht nur die Aufopferung einer Minorität um des Vorteils der Mehrheit ist zu verhindern, sondern auch umgekehrt; es ist zu verhindern, dass die Interessen einer der Minoritäten (die aber nicht mit den Grundrechten zu verwechseln sind) auf unverhältnismäßige Kosten der Mehrheit befriedigt werden.

II. Ethische Theorien im Post-Faktischen Zeitalter 1. Deontologische Ideale, utilitaristisches Handeln Die öffentliche Debatte wird unter der impliziten Annahme geführt, dass die Unantastbarkeit der menschlichen Würde nicht nur als Grundprinzip zum Schutz der Bürger gegen staatliche Übergriffe dienen, sondern vielmehr als Leitprinzip alle gesellschaftlichen Priorisierungen durchdringen soll. Dadurch wird ermöglicht, dass sich Bürger und Politiker der Verantwortung der tatsächlichen Priorisierungen entziehen. Sowohl politische als auch persönliche Entscheidungen enthalten aber in der Realität kalkulierte Risiken und Abwägungen von Vor- und Nachteilen. Die Prinzipien, welche den Corona-Maßnahmen zugrunde liegen, scheinen daher nicht kohärent mit der sonstigen Risikobereitschaft zu sein. Im gesellschaftlichen Diskurs über die Corona-Maßnahmen waren moralische Prinzipien nur bedingt aussagekräftig. Ihre Überzeugungskraft entgegengesetzten Positionen gegenüber ist eher bescheiden gewesen. Beispielsweise lassen sich aus

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dem Kategorischen Imperativ nur mit Hilfsargumenten und bestimmten Deutungen der empirischen Lage praktische Handlungsregeln ableiten. Auch das Prinzip, man möge so handeln, dass das Glück aller Menschen maximiert wird, ergibt wenige Richtlinien, wenn zwischen ungleichen Größen entschieden werden muss. Sicher sind diese grundlegenden Theorien wichtig, weil sie gewissen Positionen „Halt“ verleihen – aber sie dienen in der Anwendung oft eher als nachträgliche Rechtfertigung. In der kontinentalen Kultur scheinen in der Auseinandersetzung zwischen Utilitarismus und Deontologie Utilitaristen benachteiligt zu sein. Das Hauptargument wendet sich gegen die potentielle Vernachlässigung der Interessen von Minoritäten. Laut der Theorie des Utilitarismus wäre es nicht nur legitim, sondern sogar empfehlenswert, so die Kritik, Menschen den Löwen zum Fraß zu geben, um ein großes Publikum zu unterhalten – wenn es der Glücksmaximierung dient. Die gesamte Freude des römischen Populus würde das Leiden der Menschen, die von wilden Tieren verzehrt werden, kompensieren. Dem Utilitarismus fehlten daher Prinzipien, die Individuen schützen. Die abstrakte Auffassung dieser Kritik kommt auch in John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ zum Ausdruck. Die Theorie positioniert sich explizit als kontrakttheoretische Alternative zum utilitaristischen Standpunkt. Rawls Kritik bezieht sich auf Henry Sidgwicks utilitaristische Grundidee, dass „die Gesellschaft recht geordnet und damit gerecht ist, wenn ihre Hauptinstitutionen so beschaffen sind, dass sie die größte Summe der Befriedigung für die Gesamtheit ihrer Mitglieder hervorbringen“ (§ 5, 40; Orig. p. 22). Die größte Summe der Befriedigung würde durch die Abwägung von Wohl und Übel verschiedener Mitglieder einer Gesellschaft von den Hauptinstitutionen gewährleistet. Rawls Kritik am utilitaristischen Prinzip erfolgt in einer Analyse des Verhältnisses zwischen dem Richtigen und dem Guten. Der Utilitarismus definiert das Gute unabhängig vom Richtigen, und das Richtige wiederum als die Maximierung des Guten. Angesichts der Tatsache, dass Verteilungsfragen dem Begriff des Richtigen unterzuordnen ist, können sie für Utilitaristen keine Relevanz haben. Wäre eine gerechte Verteilung als Gut einzustufen, würde sich diese eben nicht unabhängig von Rechten definieren lassen (Kliemt 2006). Diese Position würde beispielsweise die Entnahme von Organen eines gesunden Menschen erlauben, um die Leben z. B. eines Herzpatienten und zweier Nierenkranken zu retten (Ibid.: 102). Das Hauptargument richtet sich gegen eine einfache Version des Utilitarismus. Es gibt zwar utilitaristische Argumente, die sich detaillierter mit dem Thema der Rechte der Minderheit auseinandersetzen. So schreibt Anette Dufner über Sidgwick: „Jeder ernstzunehmende Utilitarist muss auf dieses Problem eine Antwort haben. Sidgwicks Antwort wäre: Die bloße Erkenntnis, dass die Greueltat für den Täter etwas Gutes produzieren würde, bedeutet grundsätzlich nicht, dass diese Handlungen richtig wäre“ (sic! Dufner 2012, 6).

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Dass es im philosophischen Vorrat des angelsächsischen Raums einen verfeinerten Utilitarismus gibt, der dieser Kritik Stand halten könnte, verhindert nicht, dass ein aggregierendes nutzen- und glücksmaximierendes Prinzip in den Augen des europäischen Bildungsbürgertums Verbrechen zulässt. Dem Utilitarismus wird nach wie vor vorgeworfen, den Kern des menschlichen Seins auf Hedonismus zu reduzieren und die Rechte von Minderheiten unbeachtet zu lassen, sofern das wünschenswerte Konsequenzen hat. So würde in der öffentlichen Wahrnehmung die Humanität eher einer deontologischen Position zugeschrieben werden und der Zynismus dem Utilitarismus. Als Folge wird schon der Hinweis auf das Wohl der breiten Bevölkerung als Manifestation des Zynismus ausgelegt. Die Idee, dass der moralische Wert einer Handlung nur auf deren Wirkung auf die Summe des Glücks gemessen werden soll, kann universell angewendet mit Hinweis auf absurde Konsequenzen zurückgewiesen werden. Wenn diese einfache Version des Utilitarismus an sich als negative Bewertung ausgelegt wird, wird jede Abwägung von Interessen als zynisch empfunden. Dadurch verschiebt sich der Fokus auf die Interessen von Minderheiten. Dies passiert in der Praxis politischer Entscheidungen, welche nicht Grundwerte betreffen, sondern oft von utilitaristischen Prinzipien geleitet sind, aus dem einfachen Grund, dass Politiker in der repräsentativen Demokratie eben meist die breite Bevölkerung repräsentieren. Statt den deontologischen und utilitaristischen Standpunkt als unvereinbar/gegensätzlich auszulegen, könnten sich die beiden Theorien und ihre Gegenstandsbereiche komplementär ergänzen. Wo sich die Deontologie eher mit zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandersetzt, befassen sich klassische Utilitaristen auch mit Glück und Nutzen auf gesellschaftlicher Ebene, sowie mit Gesetzgebung und sozialer Reform (Driver 2014). Als Gegenbild des utilitaristischen Zynismus erscheint die deontologische Position als diejenige, die sich um die Würde des Individuums bemüht und um die Beziehungen von Menschen zueinander. So scheint die Deontologie für die Begründung von Grundrechten und von zwischenmenschlichen Beziehungen geeignet zu sein, aber nicht für die Abwägung unterschiedlicher Interessen. Sie umfasst grundlegende ethische Forderungen des menschlichen Miteinanders, weil aber „die fehlende Bereitschaft , den Mitmenschen zu helfen, unter allen Umständen durch den kategorischen Imperativ als unmoralisch disqualifiziert wird“ (Hoerster 2014, 52), betrifft diese ethische Theorie nicht das Verhältnis zwischen anonymen Mitgliedern der Gesellschaft. Die Pflicht der Hilfeleistung kann zwar als Grundlage direkter Begegnungen dienen. Als Prinzip gesellschaftlicher Abwägungen stellt sie aber Forderungen, die in Dilemmasituationen nicht einzulösen sind. Im öffentlichen Diskurs zeigen sich die Folgen der fehlenden Trennung der jeweiligen Gegenstandsbereiche beider Theorien. Aus der Perspektive der UtilitarismusKritik wiederholt sich das Muster der punktuellen Rücksicht auf Interessen kleinerer Gruppierungen und der Unwilligkeit zur Abwägung.

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Die Funktionalität und Anwendbarkeit sind nicht nur als eine Schwäche des Utilitarismus, sondern als allgemeine Schwäche moralischer Prinzipien zu verstehen. Die Herausforderung des Verhältnisses zwischen abstrakten Prinzipien und komplexen Ereignissen wird in der ethischen Theorie des Partikularismus beschrieben. Diese befasst sich mit der Anwendbarkeit von Prinzipien auf eine konkrete Wirklichkeit und wendet sich gegen die Annahme der Universalisierbarkeit moralischer Prinzipien. Die Theorie beschreibt eine Schwäche als Mangel an Kohärenz zwischen der Eindeutigkeit von Prinzipien und der Komplexität der Realität. Der moralische Wert einer Handlung wird in jeder Situation in einer Gegenüberstellung von Gutem und Schlechtem bestimmt. In diesem Prozess dienen Prinzipien höchstens als Unterstützung für die Verständlichkeit einzelner Aspekte der Situation und nicht für die Bestimmung eines übergeordneten Gleichgewichts zwischen Richtig und Falsch (Dancy 2017). Die Theorie des Partikularismus wendet sich gegen die Annahme, dass Moralität am besten in Form von Prinzipien zum Ausdruck kommt (Dancy 2017, siehe auch Bauman 1993, 39). Prominente deontologische und utilitaristische Theorien erklären laut dieser Ansicht einzelne Aspekte und Argumente in dieser Abwägung, aber die endliche Entscheidung wird nicht (nur) auf Basis von diesen Prinzipien, sondern auf Basis von spezifischen situationellen Erwägungen getroffen. So könnte ein Verfechter des harten Lockdowns auf die Würde der vulnerablen Mitbürger hinweisen, aber auch auf den gesellschaftlichen Nutzen eines kontrollierten Pandemie-Verlaufs. Der Gegner könnte utilitaristisch auf die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen oder auf die Würde der Mittbürger hinweisen, die nicht ihren Beruf ausüben dürfen. Auf Basis einer Variante des Utilitarismus, des Regel-Utilitarismus, könnte einer/man fragen, welche Regeln auf Dauer das Glück in einer Gesellschaft maximieren. Darauf könnte ein Gegenüber entgegnen: Wenn jetzt Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden dürfen, um eine begrenzte Anzahl an Leben zu retten, dann stünde Gesetzgebungen wie einem halbjährigen Totalverbot von Alkohol- und Tabakkonsum und einer strengen Rationierung von Fleisch, Fastfood und Zucker als Zwangsdiät für Übergewichtige nichts im Wege.

2. Non-Utilitarismus als Leitprinzip Moralische Prinzipien beleuchten verschiedene Aspekte, die in einer Problemstellung zu berücksichtigen sind. In Ländern, deren Kultur besonders ausgeprägt von kontinentalen philosophischen Ideen beeinflusst wird, sind aber, wie bereits angedeutet, utilitaristische Ideen in Verruf geraten. Die Idee, dass eine Handlung auf Grundlage ihres allgemeinen Nutzens für Bürger und Bürgerinnen bewertet werden soll, ist aber insbesondere für die Politik von entscheidender Bedeutung. Es wäre sogar schwierig, sich eine demokratische Politik vorzustellen, die sich nicht neutral an der Bevölkerung in ihrer ganzen Breite orientierte. Es resultiert die Frage, ob nicht die Abneigung gegen den Utilitarismus Ausdruck derselben Entwicklung ist, welche aus historisch bedingter Angst vor Unterdrückung

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das Augenmerk auf die Rechte von Minderheiten legt (siehe Teil 1). Die Vorliebe für individuelle deontologische Prinzipien in gesellschaftlichen Entscheidungen führt daher zu einer ähnlichen punktuellen Betonung der Verletzbarkeit bestimmter Gruppen. Wenn die Frage der Verhältnismäßigkeit eo ipso als unethisch eingestuft wird, führt dies zu einer Delegitimierung jedes Interesses, das im Gegensatz zu der im Fokus geratenen Gruppierung steht. Daher verursacht der deontologische, durch Pflicht dem Einzelnen gegenüber getriebene Fokus auf Einzelpersonen eine ebenso radikale Dichotomie wie der vorher beschriebene, angeblich anti-totalitäre Schutz der individuellen menschlichen Würde. Sie besteht nicht im Kampf um Interessen und Anerkennung, sondern in der moralischen Verpflichtung einer Gruppe einer anderen gegenüber; nicht in Bezug auf Unterdrückung, sondern in Bezug auf Humanität versus Zynismus. Die Mitbürger, deren Hinweis auf eigene Interessen und Bedürfnisse als zynisch klassifiziert wird, erleben dadurch eine ebenso starke Entmenschlichung wie die Minoritäten, die durch utilitaristische Maßnahmen benachteiligt werden könnten. Trotz der formalistischen Struktur des deontologischen Prinzips spiegelt es das Mitgefühl, das in der Konfrontation mit leidenden Mitmenschen entsteht, wider. Und doch scheint genau die Stärke der menschlichen Anteilnahme auch eine Schwäche in sich zu bergen, wenn sie nur Individuen umfasst, denen der Mensch im Alltagsleben oder durch den medialen Fokus begegnet. Es entsteht eine allgemeine Herausforderung, die gerade in älteren Demokratien durch soziale Medien den öffentlichen Diskurs polarisiert. Wenn diese Polarisierung durch die Politik unterstützt wird, gewinnen extreme Positionen an Bedeutung – zu Lasten der demokratischen Basis. Daher sollte der pandemischen Verlauf Anstoß zu einer gemeinsamen, pragmatischen Debatte über das zukünftige Zusammenleben geben.

3. Freiheit: Sich gegenseitig zu wollen „Wer fragt die Alten in den Pflegeheimen, ob sie das Risiko eines Besuchs vorziehen würden? Wer fragt die Omas und Opas, ob sie ihre Enkel sehen wollen?“ (Schmutzler 2021)

In der Bewältigung der Pandemie hat sich die Politik gezwungen gesehen, Grundrechte der Bevölkerung weitgehend einzuschränken. Diese Einschränkungen stellen nicht nur eine verfassungsrechtliche Herausforderung dar. Die Problemstellung hat auch einen kulturellen Aspekt. Das europäische Menschenverständnis ist – wie auch das Verständnis der Demokratie – auf fundamentaler Weise mit Freiheit als Voraussetzung für individuelle Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit und als intrinsischer Wert verknüpft. So wie ethische Problemstellungen oft mit Hinweis auf den Unterschied zwischen Deontologie und Utilitarismus diskutiert werden, so wird im akademischen Diskurs über Freiheit traditionell der Liberalismus dem Republikanismus entgegengesetzt.

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Der liberale Freiheitsbegriff richtet sich an eine Minimierung der staatlichen Intervention, wogegen der Republikanismus auf die Integration aktiver Mitbürger in politische Entscheidungsprozesse zielt. Freiheit soll im politischen Kontext allen Mitbürgern gegeben werden, und daher fordert die Entscheidung zwischen Liberalismus und Republikanismus eine Stellungnahme zu einer anderen Frage, nämlich zu der der Gerechtigkeit. So muss zwischen zwei Außenpositionen entschieden werden: inwieweit „Gerechtigkeit einen unbeugsamen Individualismus unterstützt“ oder ob sie „einen radikal umverteilenden Staat benötigt“ (Pettit 2017, 16). In der Pandemiebekämpfung hat der Staat eine aktive Rolle gespielt. Europäische Nationen sind integrierende Gesellschaften, die eher auf republikanischen Prinzipien beruhen. Diese setzen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bürger und Staat und eine aktive Mitgestaltung der Bürger voraus. Als die Pandemie durch gesetzliche Ausgangsverbote bekämpft wurde, führte sie eher zu einer gezwungenen Reduktion der bürgerlichen Teilnahme. Die Bürger wurden von der Verantwortung für die eigene Sicherheit entlastet und die sporadische Unzufriedenheit, die es gab, hat sich als Protest geäußert, und nicht in Dialogform. Das Ausmaß des Lockdowns sollte daher nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit der Kommunikationskultur des öffentlichen Diskurses führen, sondern auch eine Debatte über das Verhältnis zwischen Bürger und Staat initiieren. Die Gesetzgebung basiert auf der Annahme, dass der Bürger nur begrenzt zur Eigenverantwortung fähig sei. Sie ist deswegen ein Warnhinweis für eine Disproportion zwischen staatlicher Intervention und verantwortungsvollen Engagements der Gesellschaftsmitglieder und sie verdeutlicht die staatliche Konstruktion des Bürgers als unfähig zur Selbstverantwortlichkeit. In dem Sinne weist die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom auf die Gefahr eines Verständnisses vom öffentlichen Leben hin, das auf Interaktionsmodellen wie der „Tragik des Allgemeinen“ und dem „Gefangenen-Dilemma“ basiert. Die Tragik des Allgemeinen beschreibt ein Handlungsmuster, das zu Missbrauch von öffentlich zugänglichen Ressourcen führt. Diese Ressourcen sind beispielsweise die Weltmeere, die von Überfischung bedroht sind, oder die Atmosphäre, die als Aufnahmeort von Treibhausgasen dient. In dem Gefangenen-Dilemma geht es um die Schwierigkeit, Mitbürgern (oder in dem Fall: Mittätern) zu vertrauen, mit denen keine Koordinationsmöglichkeit besteht. Beide Modelle verdeutlichen eine Unfähigkeit zur kollektiven Handlung und illustrieren daher die Annahmen eines paternalistischen Staates. Wenn solche Modelle nicht als mögliche Erklärung spezifischer Situationen dienen, sondern als allgemeine Abbildung des gesellschaftlichen Zusammenlebens verstanden würden, könnten sie sich als konstitutiv erweisen. Sie stellen Mitglieder der Gesellschaft als kollektiv unfähig dar, was wiederum die Notwendigkeit eines aktiven Staates unterstreicht. In ihren eigenen Worten warnt Ostrom davor, die Modelle zu verstehen, „as being fixed in empirical settings, unless external authorities change them […] As long as individuals are viewed as prisoners, policy prescriptions will address this metaphor“ (Ostrom 2015, 6).

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Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge

Die Kombination einer polarisierten öffentlichen Meinung und eines aktiv gestaltenden Staates wirkt insgesamt kontraproduktiv auf die Eigenverantwortung des Bürgers. Der Philosoph Otfried Höffe schreibt: „Wenn ein Staat in immer mehr Bereichen vordringt, […] verursacht er nicht bloß hohe finanzielle und personelle Kosten. Er schränkt auch die Freiheit im Sinne einer Selbstverantwortung der Bürger mitsamt ihrem Handlungsspielraum ein“ (2021, 192).

Ein zu hohes staatliches Aktivitätsniveau ist daher für sowohl die individuelle als auch für die kollektive Selbstwahrnehmung mitbestimmend. Die außergewöhnliche Erweiterung der gesetzlichen Reichweite trifft hier auf eine Gesellschaft, in der die politische Polarisierung schon vor der Pandemie als Symptom einer zunehmenden Entfremdung großer Gruppierungen vom Staat sichtbar wurde. Freiheit ist, wie Selbstverantwortung und Vernunft, Teil eines demokratischen Menschenbildes. Diese Tugenden ermöglichen persönliche Entscheidungen bezüglich der eigenen Risikobereitschaft. In nicht-pandemischen Zeiten spielen Werte wie Freiheit, Selbstverantwortung und Vernunft implizit eine wichtige Rolle. So kann ein Mitglied der Gesellschaft sich etwa frei in unterschiedlichen, riskanten Tätigkeiten engagieren. In einer reifen Demokratie beruht die Freiheit aber auch auf einer Bereitschaft der Mitbürger, andersdenkenden Menschen und entgegengesetzten Meinungen zu begegnen. Es ist insbesondere die Abschwächung dieser Bereitschaft, die zur Polarisierung der öffentlichen Meinung beigetragen hat. Demokratische Werte wie Freiheit und Gleichwertigkeit sowie Tugenden wie Vernunft und Gemeinsinn setzen sich gegenseitig voraus, und sie können nur durch Teilnahme in einer dementsprechenden Gesellschaft gelebt werden. Die Freiheit beinhaltet aber auch die Freiheit zu kontraproduktiven Entscheidungen, und die Gleichwertigkeit fordert eine Akzeptanz des gegnerischen Standpunkts, auch wenn diese zu politische Entscheidungen führen, die (unerwünschte) Folgen für das eigene Leben haben. Gemeinsam in Freiheit zu leben fordert daher auch eine sich an die Gemeinschaft richtender Absicht. Man muss sich gegenseitig wollen. Die Pandemie ist momentan noch als Ausnahme einzustufen. Für die Zukunft muss aber in Erwägung gezogen werden, dass der Versuch des Staates, jeden Mitbürger durchgehend vor den Folgen der eigenen und kollektiven Entscheidungen zu schützen, nicht mit einer demokratischen Gesellschaft kompatibel ist. Dadurch würde sich ein Machtverhältnis zwischen Staat und Bürger auf Kosten der Eigeninitiative und auf Kosten der Selbstauffassung jedes Bürgers als autonomes und ebenbürtiges Mitglied der Gesellschaft verfestigen. Nur ein Mensch, der sich selbst als frei und autonom empfindet, entzieht „dem Staat den Monopolanspruch auf das Gemeinwohl und erklärt sich für dessen Begriff und Wirklichkeit mitverantwortlich“ (Höffe 2021, 193).

Ethische Dilemmata in der Bekämpfung von Pandemien

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4. Konklusion Der vorliegende Beitrag hinterfragt kritische Entwicklungen im öffentlichen Diskurs vor dem Hintergrund politischer Maßnahmen in der Pandemie, welche ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum werfen. Weiterführend stellt sich die Frage, ob man für den Teil des Lockdowns, der in das Privatleben von Bürgern eingriff, eher ein Soft Law-Prinzip hätte verwenden können (wie etwa in Ländern wie Schweden oder Japan). Dieses Prinzip meint eine abgeschwächte Gesetzgebung. Als Beispiel baut der Corporate Governance Codex auf dem Prinzip des britischen Financial Reporting Counsils UK Code of Corporate Governance auf: comply or explain. Hier werden detaillierten Vorschriften formuliert, die einzuhalten sind, es sei denn, es gibt gute Gründe dafür, abzuweichen. Durch das Adjektiv soft „wird die rechtliche Geltungs- und Bindungskraft der einschlägigen Regeln in Gänze relativiert […]. Nicht die fehlende Reichweite einer Norm kennzeichnet also das Soft Law sondern die insgesamt reduzierte Geltungskraft“ (Schwarz 2011). Ein ,weicher‘ Lockdown hätte nicht nur Konspirationstheorien den Nährboden entzogen, er wäre auch kohärenter mit den demokratischen Werten der nichtpandemischen Zeiten gewesen. Womöglich hätten solche Maßnahmen zu mehr Erkrankungen geführt und zu einer höheren Anzahl an Sterbefällen (obwohl das durch die Beispiele etwa von Schweden und Japan nicht belegt werden kann). Es wäre aber nicht vergleichbar gewesen mit unveränderten Verhaltensweisen, weil es zu erwarten wäre, dass sich nahezu der gleiche Anteil der Bürger an die weiche Regelung gehalten hätte. Der einzelne Mitbürger hätte fast die gleichen Möglichkeiten gehabt, sich selbst zu schützen, aber aus Eigeninitiative. Und es hätte die Rückkehr zur Eigenverantwortung – die ohnehin irgendwann erfolgen muss, denn keine Pandemie dauert ewig – deutlich weniger kompliziert gestaltet, mit weniger gesellschaftlichen Kollateralschäden, die uns vermutlich noch lange begleiten werden. Literatur Bauman, Zygmunt: Postmodern Ethics. Oxford: Blackwell 1993. Dancy, Jonathan: Moral Particularism, in: Edward N. Zalta (ed.),The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2017 Edition). De George, Richard T.: History of Business Ethics, in: K. Shrader-Frechette/R. T. George/ A. Miah (eds.): Values and Ethics for the 21st Century. BBVA 2012, https://www.bbva openmind.com/wp-content/uploads/2013/02/A-History-of-BusinessEthics_Richard-T-De-Ge orge.pdf. Driver, Julia: The History of Utilitarianism, in: Edward N. Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2014 Edition), https://plato.stanford.edu/archives/win2014/ent ries/utilitarianism-history/. Dufner, Annette: Sidgwicks Utilitarismus. Die vernachlässigte Vollendung der klassischen britischen Moralphilosophie. Preprints and Working Papers of the Centre for Advanced Study in Bioethics. Münster 2012/29.

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Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge

Hoerster, Norbert: Wie lässt sich Moral begründen?. München: C.H. Beck 2014. Horkheimer, Max: Eclipse of Reason. New York: Oxford University Press 2003. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2006. Hörnle, Tatjana: Dilemmata bei der Verteilung von Beatmungsgeräten. 2020, https://verfas sungsblog.de/dilemmata-bei-der-zuteilung-von-beatmungsgeraeten/. Kliemt, Hartmut: Rawls Kritik am Utilitarismus, in: Otfried Höffe (Hrsg.), John Rawls, eine Theorie der Gerechtigkeit. Berlin: Akademie Verlag GmbH 2006. Kogut, Tehila/Ritov, Ilana: The „Identified Victim“ Effect: An Identified Group, or Just a „Single Individual?“. Journal of Behavioral Decision Making 2005, 18: 157 – 167 (2005). Lütge, Christoph/Esfeld, Michael: Und die Freiheit? Wie die Corona-Politik und der Missbrauch der Wissenschaft unsere offene Gesellschaft bedrohen. München: Riva 2021. Moore, Kelly: Political Protest and Institutional Change: The Anti-Vietnam War Movement and American Science, in: Marco Giugni/Doug McAdam/Charles Tills (eds.): How Social Movements Matter, pp. 97 – 115. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1999. Nida-Rümelin, Julian/Weidenfeld, Nathalie: Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren. München: Piper Verlag GmbH 2021. Ostrom, Elinor: Governing the Commons. The evolution of institutions for collective action. Cambridge University Press 2015. Rawls, John: A Theory of Justice. Oxford University Press 1988. Sarasin, Philipp: 1977: Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp Verlag 2021. Schmutzler, Nikola: Aus Angst vor dem Sterben haben wir aufgehört zu Leben. Interview von Sofia Dreisbach in Frankfurter Allgemeine 18. 04. 2021. Schwarz, Jürgen: Soft Law im Recht der Europäischen Union. EuR – Heft 1 – 2011. Tasioulas, John/Vayena, Effy: Just Global Health: Integrating Human Rights and Common Goods. The Oxford Handbook of Global Justice 2020. Williams, Bernard: Moral Luck. Cambridge University Press 1981.

Nicht jede Antwort ist gut. Sozialethische Kritik am Lob des Einfachen – Korreferat zu Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge – Von Elmar Nass

I. Große Fragen – großer Wurf? Wesentliche ethische Dilemmata aus der Zeit der Pandemie-Bekämpfung sind in dem Beitrag Ursprung großer Abwägungsfragen: 1. Keineswegs ist die Politik des wiederholten Lockdowns alternativlos. Zwar wurden dadurch in der Gegenwart Leben gerettet und Chaos (etwa im Gesundheitswesen) vermieden. Doch müssen in der Bilanz mittel- und langfristige Kosten gegengerechnet werden, so etwa Schuldenberge, soziale wie materielle Folgen von Depression, Arbeitslosigkeit, Existenznot, von aufgeschobenen medizinischen Operationen etc. Was also könnte die Alternative zum Lockdown sein? 2. Natürlich kann keine Politik der Welt alle Risiken des menschlichen Lebens beseitigen. Jede Autofahrt, jeder Spaziergang birgt ein Lebensrisiko. Wir müssen uns also verabschieden von der Illusion der totalen Sicherheit. Das aber heißt: Wieviel mehr an Lebensrisiko, das uns eine bestimmte CoronaPolitik beschert, sind wir als Gesellschaft bereit zu tragen? 3. In der Vergangenheit orientierte sich die Politik vor allem am Schutz vulnerabler Gruppen, also einer Minderheit. Ist hier möglicherweise ein wesentliches demokratisches Prinzip verletzt? 4. Konkrete Priorisierungen wie in der Triagierung verlangen eine Abwägung von Leben gegen Leben. Ein einfaches Pochen auf der unbedingten Menschenwürde hilft im konkreten Dilemma nicht viel weiter. Wie also kann diese Priorisierung unter Wahrung der wesentlichen Grundrechte gerechtfertigt werden? Der Beitrag von Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge verfolgt das ambitionierte Ziel, Lebensschutz und Freiheit, Würde und Praktikabilität begründungsstark wie anwendungsnah zu verbinden. Wenn das gelänge, wäre dies zweifellos ein großer Wurf, der nicht nur sozialphilosophisch überzeugt, sondern auch politisch einen praktikablen Kompass verspricht. Dieser Ansatz soll hier aus einer christlich-sozialethischen Perspektive unter die Lupe genommen werden. Dazu werden zunächst die soziologisch bedeutsamen demokratietheoretischen Grundlagen dieses Ansatzes diskutiert, anschließend die im Beitrag vorgenommenen fundamentalethischen Dilemmata und die Lösungsvorschläge als Antworten darauf. Danach werde ich auf der Grundlage dieser Diskussionen einige grundlegende Fragen an die Kohä-

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Elmar Nass

renz dieses Ansatzes formulieren und mit einer abschließenden Bewertung zur weiteren kritisch-kreativen Reflexion einladen.

II. Soziologische und sozialethische Diskussionen 1. Die These von der dialektischen Demokratietheorie Im Teil I stellen Thejls Ziegler und Lütge einige soziologische Überlegungen mit demokratietheoretischer Bedeutung an. Demokratie und die in ihr herrschende Politik seien danach ihrem Wesen nach utilitaristisch, weil an Nutzenüberlegungen orientiert. Ausgehend davon wird eine Historie der Demokratie nach der Überwindung der Nazidiktatur in der Bundesrepublik Deutschland erzählt. Der Wirtschaftsliberalismus als Hüter der Freiheit habe sich als Gegenmodell zur Diktatur durchgesetzt. Er habe aber zur diskriminierenden Unterdrückung von Minderheiten geführt (etwa aufgrund von Geschlecht, Herkunft etc.). Dieser Widerspruch wurde nun zunehmend und erst Recht begleitend zur Pandemie aufgehoben. Der in Verruf geratene Kapitalismus wurde an die Seite geschoben und ersetzt durch eine neue herrschende Majorität derer, die ihre Politik und Meinung am Schutz von Minderheiten ausrichten. Damit sei der Boden bereitet für die Lockdown-Politik, welche den Schutz der Minorität (der Vulnerablen) zum Maß verabsolutiere. Den Kürzeren ziehen damit diejenigen, die sich davon nicht beherrschen lassen wollen. Paradoxerweise ist dies dann eine neue, aktuell vorzufindende Minderheit, die nicht alles dem Minderheitenschutz unterordnet. Als Minderheit müsste sie eigentlich politisch Recht bekommen, aber mit ihren Thesen widerspricht sie der herrschenden Moral, so dass nunmehr eine an Minderheiten orientierte Politik genau diese Minderheit diskriminiert. Im Namen des Minderheitenschutzes könnte diese sich nun selbst aufschwingen zum neuen Mainstream, welcher die herrschende Lockdown-Legitimation ablöst, da nunmehr wieder demokratische Mehrheiten das Orientierungsmaß seien, die sich an Nutzen, Gemeinwohl und Tugend orientieren sollen. Der Schutz der Vulnerablen hätte demnach nicht mehr oberste Priorität. Offenbar wird unterstellt, dass die Gesellschaft nach dem Krieg immer wieder ein Gegeneinander von herrschenden und diskriminierten Gruppen hervorgebracht hat. Aus These und Antithese ergebe sich historisch dann eine neue Synthese. Und die nun erhoffte neue Synthese scheint die Auflösung solcher Dialektik zu sein, in der Gemeinwohl und Freiheit ohne Unterdrückung gelingen soll.

2. Die These von den sozialethischen Sackgassen Die soziologische These wird flankiert von der berechtigten Frage nach einer ethischen Fundierung solcher Ordnung und Orientierung sowie deren Anwendbarkeit. Zurecht wird also gefragt nach der Begründung und Semantik von Würde, Freiheit

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und Gerechtigkeit und deren auch praktisch umsetzbarem Beitrag zur Beantwortung der drängenden großen Fragen in den Pandemie-Dilemmata. Diskutiert werden hierbei Deontologie und Utilitarismus als mögliche Paten ethischer Bewertung. Die vermeintlich gesellschaftlich weitgehend anerkannte Deontologie habe den großen Vorteil, mit unantastbaren Werten und Prinzipien eine ebenso stimmige wie zustimmungsfähige Wertebasis vorzulegen. Dennoch wird von Thejls Ziegler und Lütge solche Ethik als in sich widersprüchlich und als im Dilemma nicht hilfreich für eine Entscheidungsfindung bewertet. Die deontologische Ablehnung des Utilitarismus sei sogar selbst utilitaristisch, da ihr eine Nutzenabwägung zugrunde liege. Gleiches wurde ja bereits für das Wesen demokratischer Entscheidungen ausgemacht, so dass hier in dieser Deutung von Thejls Ziegler und Lütge analog zur ökonomischen Variante bei Gary Becker nunmehr von einem utilitaristischen Imperialismus gesprochen werden kann.1 Deontologische Verweise auf die unbedingte Menschenwürde seien zudem in der Praxis nicht hilfreich, wenn es um notwendige Priorisierungen oder um die Abwägung zum Schutz von Menschenleben geht. Deshalb wird für konkrete Entscheidungen zunächst einer utilitaristischen Position der Vorzug gegeben. Sie sei durch zynische Überdehnungen (Beispiel von der Ausweidung eines Gesunden für die Heilung vieler Kranker) verrufen und verdiene stattdessen eine faire Diskussion. Schließlich sei unser Denken ja stets nutzenbasiert, und diese Nutzenlogik gebe in Dilemmata ganz konkrete Entscheidungshilfen (Triage, QALY o. a.). Zur konkreten Beantwortung der großen Fragen in der Praxis wird eine krude Version des Utilitarismus von den Autoren ausdrücklich verworfen. Damit soll die Kritik an den zynischen Varianten ins Leere laufen. Die dagegen vorgeschlagene feine Auslegung bezieht nun als Regelutilitarismus vor allem Gemeinwohlinteressen mit ein. Solche Überlegungen sind nicht neu. Etwa John Harsanyi hat schon eine solche Position stark gemacht und sie konsequent kontraktualistisch begründet.2 Soweit wollen die beiden Autoren aber dem Utilitarismus nicht folgen. Denn sein Grund-Axiom, ethische Entscheidungen am Nutzen zu orientieren und alle anderen ebenso universalen Prinzipien abzulehnen, ist selbst wiederum eine deontologische Setzung, die sich der Nutzenabwägung und ihrer eigenen Abschaffung entzieht. So also baue der Utilitarismus auf einem deontologischen Fundament auf, was wiederum wissenschaftstheoretisch widersprüchlich ist. Die Abwägungen und unterschiedlich ansetzenden Kritiken an den beiden großen ethischen Denkschulen führen nicht zu einem eindeutigen Bekenntnis für das eine oder andere Paradigma. Ein denkbarer Synkretismus, der die Deontologie zum Maß individueller Moral und den Utilitarismus zum Maß gesellschaftlicher normativer Entscheidungen machen will, wird dabei klar verworfen. Eine solche Sezierung bleibt letztlich in sich widersprüchlich, angefangen von der Trennlinie zwischen beiden Bereichen bis hin zur fundamentalethischen Frage nach der logischen Kohärenz solcher Ethik. Als auch nicht hilfreich abgelehnt wird ein Partikularismus, der mo1 2

Vgl. Pies/Leschke. Vgl. Harsanyi (1982) sowie zur Diskussion dieser Ethik Nass, S. 135 – 147.

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ralische Entscheidungen von jeglicher Form universal gültiger Prinzipien befreit. Was soll dann die Orientierung sein? Auch das Nutzenkriterium müsste dann geopfert werden. Weder Deontologie noch Utilitarismus bieten hinreichend überzeugende Orientierung zur Beantwortung der großen Fragen. Synkretismus und Partikularismus helfen auch nicht weiter. Die Diskussion scheint verfahren in einer Sackgasse.

3. Der angebotene Lösungsansatz Für eine Lösung, die sowohl grundlagen- wie anwendungsethisch überzeugt, wird eine Orientierung an „The Great Barrington Declaration“3 vorgeschlagen, einem Dokument, in dem drei namhafte Forscher im Herbst 2020 die Aufhebung von Lockdown-Maßnahmen empfehlen, Freiheitseinschränkung vor allem für vulnerable Gruppen einfordern und eine weitgehende Herdenimmunität als Lösung ansehen, zum Schutz vor allem der Kinder, der Arbeiterklasse, der sozial Schwachen und (nicht an Covid) Erkrankten. Thejls Ziegler und Lütge bekennen sich zu universal gültigen sozialen Pflichten und Tugenden, die eine Unterordnung individueller Interessen unter den Gemeinsinn fordert. Damit soll also die gesamtgesellschaftliche Orientierung von Maßnahmen an der Gruppe der Vulnerablen aufgegeben werden. Das soll Freiheit ohne Zwang ermöglichen: Schulen, Restaurants, Sportarenen, Geschäfte etc. sollen normal geöffnet bleiben. Den besonders gefährdeten Menschen wird ohne Zwang empfohlen, sich Einschränkungen der Bewegungsfreiheit etc. zu unterwerfen, um sich so selbst zu schützen. Wer aus dieser Kohorte sich dann dennoch dem Risiko aussetzt, trägt selbst die Verantwortung dafür. Das zu akzeptieren, erfordert soziale Tugend und das Pflichtbewusstsein, eigene Interessen denen der Gesellschaft unterzuordnen. Eine solche Regelung verspreche gesellschaftliche Akzeptanz und stärke wieder den sozialen Zusammenhalt.

III. Fragen an die Kohärenz Die großen Fragen werden richtig gestellt. Auch ist die Suche nach einer ebenso stimmigen ethischen Lösung wie deren überzeugenden ethischen Begründung zu begrüßen, wird doch heutzutage oft nur noch scheinethisch argumentiert, ohne solche Begründungsfragen. Die Dialektik zur Demokratiegeschichte nach dem Krieg erinnert an den Historischen Materialismus bei Karl Marx. Dass die angestrebte Lösung nunmehr das Ende der dialektischen Logik mit sich bringt, wurde schon dort falsifiziert. Paradox bleibt zudem, dass für unsere aktuelle Situation die Diskriminierung derer behauptet wird, die eine Herrschaft der Minderheitenschützer kritisieren. Das Wesen der Demokratie als utilitaristisch zu beschreiben, ist Baustein der imperialistischen 3

Vgl. Kulldorf/Gupta/Bhattacharya.

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Logik. In der Politik geht es, so etwa Niklas Luhmann, um Macht. Setze ich diese mit dem Nutzenkalkül einfach gleich, komme ich selbstverständlich einfach zu einer Gleichsetzung von demokratischer Politik mit dem Utilitarismus. Mir scheint es hingegen so zu sein, dass es Ernst-Wolfgang Böckenförde mit seinem Diktum zur Demokratie besser trifft, nach dem diese an Voraussetzungen hängt, die sie selbst nicht aus sich hervorbringen kann. Es werden Deontologie und Utilitarismus als Alternativen einer ethischen Grundierung für überzeugende Urteile zu den großen Fragen diskutiert. Zahlreiche andere Modelle mit je anderen Menschen- und Gesellschaftsbildern könnten bzw. müssten befragt werden, so etwa eine Diskursethik, eine Naturrechtsethik, eine ökonomische, darwinistische oder konstruktivistische Ethik u. a. Man könnte natürlich einfach versuchen, solche Konzepte den beiden großen Paradigmen zuzuordnen, wobei das keineswegs trivial ist. Was aber in dem Beitrag sicher unterschlagen wird, ist die Auseinandersetzung mit einer theonomen Ethik. Der Utilitarismus ist selbst eine Variante des normativen Individualismus, in dem Menschenbild, Gerechtigkeit u. a. aus egoistischen Nutzenüberlegungen erschlossen werden. Was Mensch und Würde sind, wird aus heteronomen Nutzenüberlegungen erschlossen. Deontologie als Pflichtenethik in der Tradition des kantischen Universalismus postuliert ein Vernunftgesetz, aus welchem sich mit einer vom Egoismus befreiten Vernunft denknotwendige kategorische Imperative erschließen lassen. Über Pflichterfüllung kann auch ein Volk von Teufeln regiert werden. Was Mensch und Würde sind, wird deontologisch als kategorischer Vernunft-Imperativ universal behauptet. Eine theonome Ethik unterstellt in der aristotelisch-platonischen Tradition dem Menschen von Gott vorgegebene Werten und Prinzipien Zum utilitaristischen Imperialismus ist zu sagen: Jede Entscheidung (in der Demokratie, für eine bestimmte ethische Position etc.) hat einen Grund. Das ist trivial. Wenn ich diesen Zusammenhang nun einfach als Nutzenüberlegung deute und sie nunmehr normativ dem Utilitarismus zuordne, wird aus semantischer Leere eine Ethik modelliert. Wer mit guten Gründen die deontologische Ethik wählt, ist nicht deshalb Utilitarist, nur weil er Gründe abgewogen und danach entschieden hat. Utilitarismus ist eine Ethik, welche die Nutzenabwägung zum universalen Prinzip ethischer Bewertung macht. Und damit konkurriert er mit solchen Ethiken, die anders argumentieren. Selbst der feine Regel-Utilitarismus, der sich an Gemeinwohlinteressen orientieren soll, bleibt zwei Antworten schuldig: Was eigentlich ist das Gemeinwohl und wer bestimmt es? Und: Harsanyi fordert für solche Überlegung den Ausschluss asozialer Präferenzen.4 Wer aber definiert diese? Und wie ist dieser Ausschluss nun wiederum normativ individualistisch begründbar? Auch hier zeigen sich deontologische Einflüsse, die die nicht-synkretistische Legitimität des Ansatzes entkernen.

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Vgl. Harsanyi (1977/2002).

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Rationierung etwa in der Triage ist nicht automatisch utilitaristisch. Hierzu sei auf die Diskussion verwiesen, in der Weyma Lübbe dem Nutzenkalkül der italienischen SIAARTI eine deontologische Triage entgegenhält.5 Sie fordert die Orientierung am Ziel der Lebensrettung, SIAARTI hingegen die altersdiskriminierende Orientierung an der Maximierung geretteter Lebensjahre. Hier wird deutlich, dass deontologische Prinzipien für die Praxis Konsequenz zeigen. Ein ethischer Synkretismus wird zurecht abgelehnt. Der überzeugende Grund dafür liegt darin, dass Ethik immer von einem Menschenbild und Würdebegriff her gedacht werden muss. Daraus sind konkrete Antworten und Anwendungen abzuleiten. Eine Vermengung konkurrierender Menschenbilder führt in die Aporie. Das gilt aber etwa auch für die von Thejls Ziegler und Lütge vorgenommene Synthese, die abstrakte Werte und Prinzipien deontologisch verankern und utilitaristisch umsetzen will. Und was sollen denn „gute“ Gründe sein, mit denen die Prinzipien verletzt werden dürfen? Und was bleibt dann noch mehr als eine Hülle von der abstrakten Deontologie, wenn in der konkreten Anwendung doch die Nutzenkalküle das Maß sind? Meine entscheidende Frage ist deshalb: Was ist nun eigentlich das von Thejls Ziegler und Lütge zugrunde gelegte normative Fundament? Der bloße Verweis auf die Great Barringten Erklärung (zumal ohne deren Erläuterung) hilft nicht weiter. Denn dieses Papier bietet keinerlei ethische Begründungsebene an. Der Anspruch einer ethisch fundierten Position für solche Entscheidung wird nicht eingelöst. Das lässt Raum für Spekulationen. Toby Young etwa hat eine solche einfache Bilanzierung vorgelegt, in der er mithilfe des VSLY (Value of a Statistical Life Year) Lebensjahre monetarisierte und utilitaristisch in eine Bilanz brachte.6 Danach müsse die Herdenimmunität gewählt werden. Ist solches Denken, das letztlich künftiges und junges Leben dem gegenwärtigen und älteren Leben vorzieht,7 und so zum gleichen Ergebnis wie Thejls Ziegler und Lütge kommt, womöglich die verborgen zugrundeliegende normative Folie? Dann aber wären wir wieder beim stringenten Utilitarismus mit all seinen Problemen, die eigentlich durch die Einführung einer abstrakten deontologischen Basis vermieden werden sollen. Und es könnten dagegen doch die Argumente von Julian Jessop und Michael Sandel greifen, nach denen legitimerweise nicht alles monetarisierten Nutzenkalkülen unterworfen werden darf.8 Das wäre eine glaubwürdige deontologische Grenze, die gerade für die Anwendung bestimmend ist. Letztlich muss natürlich auch gefragt werden, ob die Hypothese, die Menschen hätten sich ohne Zwang und Lockdown am Ende nicht weniger verantwortungsbewusst verhalten, aufrechterhalten werden kann. Und: Wenn die Vulnerablen nunmehr selbst ihre Gefahr tragen müssten, sollen sie dann bei Rationierungen auf In5

Vgl. Lübbe. Vgl. Young. 7 Vgl. Harris und Thomä. 8 Vgl. Jessop und Sandel. 6

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tensivstationen zurückgestellt werden? Das widerspräche dem Bedürftigkeitsprinzip. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass eine Herdenimmunität medizinisch keinen hinreichenden Schutz bietet, wenn Wiedererkrankungen und immer neue Varianten die Pandemie forcieren.

IV. Einladung zur weiteren Reflexion Abschließen möchte ich mit der Einladung zu einer weitergehenden gemeinsamen Reflexion. Das Ziel des Beitrags, ethische Begründung und Anwendungspraxis in sich stimmig zu einen, ist ein zentrales Anliegen der Sozialethik. Eigenverantwortung mit Tugend möglichst ohne Zwang als Alternative zu Staatsgläubigkeit und Paternalismus ist zudem ein zentrales Anliegen auch unserer Sozialen Marktwirtschaft. Die soziologischen Thesen zu Wesen und Werden der Demokratie scheinen mir defizitär. Die vorgeschlagene Lösung ist am Ende doch ein verkappter Utilitarismus, der die nur vermeintliche deontologische Verankerung relativiert. Das Menschenbild des Utilitarismus mit seinen Folgen für die Altersdiskriminierung und die Bewertung von Leben lässt viele Fragen offen. Das Vertrauen darauf, dass sich die Menschen auch ohne Zwang tugendhaft im Sinne des Gemeinwohls verhalten, ist ein hehres Ziel. Es widerspricht aber den anthropologischen Erkenntnissen von Immanuel Kant, Adam Smith und erst recht christlicher Ethik (etwa bei Thomas von Aquin). Leider stellt uns der Beitrag weder ein Menschenbild noch eine überzeugende ethische Wertebasis zur Begründung von Würde, Gerechtigkeit und Freiheit vor. Mehr denn je brauchen wir eine Diskussion um ein realistisches Menschenbild, welches sich auch in den aktuellen Anwendungsbezügen (z. B. Rationierung) der großen Fragen bewährt. Theonome Ansätze sollten dabei nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Es müssen dabei rote Linien als Schutz vor der schiefen Bahn in die Inhumanität gezogen und eingehalten werden. Zugleich werden wir keine einfache Schablone für einfache Lösungen finden. Prinzipien und Werte geben Leitlinien vor, die Raum lassen für Gewissensentscheidungen, welche wiederum Ausdruck menschlicher Freiheit sind. Dieser Ansatz scheint mir stimmiger und vielversprechend, weil er universale Prinzipien und Freiheit jenseits des Utilitarismus begründet. Literatur Harris, John: The Survival Lottery, in: Journal of Philosophy 50 (1975), S. 81 – 87. Harsanyi, John: Moralty and the Theory of Rational Behaviour, in: Amartya Sen/Dernard Williams (Hrsg.), Utilitarism and beyond, 10th ed., Paris 1977/2002, S. 39 – 62. Harsanyi, John: Some Epistemological Advantages of a Role Utilitarian Position in Ethics, in: Midwest Studies in Philosophie 7 (1982), S. 389 – 402.

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Elmar Nass

Jaensch, Peter/Nass, Elmar: Streitbare Akzeptabilität: Modell ethischer Bewertung (nicht nur) im Gesundheitswesen und ihr christliches Profil, in: Jürgen Zerth/Jan Schildmann/Elmar Nass, (Hrsg.), Versorgung gestalten. Interdisziplinäre Perspektiven für eine personenbezogene Gesundheitsversorgung, Stuttgart 2019, S. 19 – 44. Jessop, Julian: Is the lockdown worth it? Auf: Blog des Institute of Economic Affairs (iea) vom 3. April 2020, https://iea.org.uk/is-the-lockdown-worth-it/ (26. November 2021). Kulldorf, Martin/Gupta, Sunetra/Bhattacharya, Jay: The Great Barrington Declaration vom 4. Oktober 2020, Great Barrington Declaration (gbdeclaration.org) (27. November 2021). Lübbe, Weyma: Corona-Triage. Ein Kommentar zu den anlässlich der Corona-Krise publizierten Triage-Empfehlungen der italienischen SIAARTI-Mediziner, in: Verfassungsblog vom 15. März 2020, https://verfassungsblog.de/corona-triage/ (27. November 2021). Nass, Elmar: Der humangerechte Sozialstaat. Ein sozialethischer Entwurf zur Symbiose aus ökonomischer Effizienz und sozialer Gerechtigkeit, Tübingen 2006. Pies, Ingo/Leschke, Martin: Gary Beckers ökonomischer Imperialismus, Tübingen 1998. Sandel, Michael J.: What Money can’t buy. The moral limits of Markets, New York 2013. Thejls Ziegler, Marianne/Lütge, Christoph: Ethische Dilemmata in der Bekämpfung von Pandemien: Individuelle und kollektive Perspektiven im Widerstreit, in: Detlef Aufderheide/ Martin Dabrowski (Hrsg.), Pandemien und ihre Bekämpfung, Berlin 2023. Thomä, Dieter: Die Spaltung der Gesellschaft und die Feier der Alltagshelden, in: Bernd Kortmann, Bernd/Günther G. Schulze (Hrsg.), Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft, Bielefeld 2020, S. 51 – 58. Young, Toby: Has the government overreacted to the Coronavirus Crisis? Toby Young questions whether the drastic measures put in place now will harm us more in the future, in: The Critic vom 31. März 2020, https://thecritic.co.uk/has-the-government-over-reacted-to-the-coronavi rus-crisis/ (26. November 2021).

Sterben und Recht auf Leben – Korreferat zu Marianne Thejls Ziegler und Christoph Lütge – Von Dagmar Schulze Heuling Den Befund von Marianne Theijls Ziegler und Christoph Lütge, dass die Auseinandersetzung über Maßnahmen der Pandemieeindämmung wenig konstruktiv verlaufen ist, teile ich. Die Ansicht, dass die Ursache dafür in der deutschen Geschichte liege, die einen positiven Bezug auf Pflicht und Gemeinwohlorientierung verhindere, teile ich hingegen nicht. Im Gegenteil gehe ich davon aus, dass nicht die staatliche Inanspruchnahme des Individuums, sondern dessen wirksame Verteidigung gegen eine solche das Fundament einer zugleich liberalen und sozialen Gesellschaft bildet. Ich möchte daher einer anderen möglichen Ursache für die angesprochenen Schwierigkeiten der Debatten zur Pandemiepolitik nachgehen. Als eine wichtige, wenngleich nicht die einzige Ursache betrachte ich verbreitete Missverständnisse über Grundrechte, darauf fußende Ansprüche und ethische Forderungen. Das möchte ich am Beispiel des Rechts auf Leben, das in dieser Debatte eine zentrale Rolle spielt, verdeutlichen.

I. Sterben, Recht auf Leben, Menschenwürde Sterben tangiert nicht per se das Recht auf Leben gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Ja, in den allermeisten Fällen haben die beiden überhaupt nichts miteinander zu tun. Sterben bezeichnet einen lebensweltlichen Vorgang, den letztendlich weder Menschen noch Gesetze verhindern können. Das Recht auf Leben ist ein Abwehrrecht. Es verschafft jedem Menschen in erster Linie ganz unmittelbar einen Anspruch darauf, dass der Staat ihn nicht töten darf. In zweiter Linie folgt aus Grundrechten nach der herrschenden Meinung auch, dass der Staat Grundrechte gegen anderweitige Eingriffe schützen muss. Das können andere Menschen sein, vielleicht sogar Naturkatastrophen. Keinesfalls bedeutet das Recht auf Leben aber, dass der Staat jedes Risiko ausschließen, für alle Eventualitäten vorsorgen und uns allen ein lebenszeitmaximierendes Optimalverhalten aufzwingen muss. Das Grundgesetz verschafft zudem keinen Anspruch auf eine Mindestlebenszeit oder das Erreichen des durchschnittlichen Lebensalters. Es verschafft einen An-

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Dagmar Schulze Heuling

spruch auf Unterlassung von staatlichen Tötungshandlungen sowie auf eine politische Ausgestaltung unseres Gemeinwesens, die unserem Überleben nicht allzu abträglich ist. Insgesamt scheint die Bundesrepublik Deutschland dabei auf keinem schlechten Weg. Die Zahl der Verkehrstoten ist drastisch gesunken, ebenso die Säuglingssterblichkeit. Gleiches gilt für eine Vielzahl weiterer Indikatoren, sodass die durchschnittliche Lebenserwartung steigt. Das ist zumindest ein deutliches Indiz dafür, dass der Schutz menschlichen Lebens nicht vollkommen ungenügend ist – so der aus dem Grundgesetz herausgelesene Mindeststandard. Sterben hat auch nicht zwangsläufig etwas mit der Menschenwürde zu tun. Gewiss, man kann sehr unwürdig sterben – etwa, wenn man allein in ein Zimmer gesperrt wird, weder Abschied nehmen noch in der Nähe vertrauter und geliebter Menschen die letzten Lebensstunden verbringen darf. Auch das Verweigern von Hilfe beim Sterben kann eine Verletzung der Menschenwürde darstellen. Doch weder ein konkreter Todesfall an sich, noch die Tatsache, dass wir alle sterben müssen, verletzt die Menschenwürde. Das wäre auch höchst ungereimt. Wenn unsere Sterblichkeit oder das Nichtverhindern eines Todes mit der menschlichen Würde unvereinbar wären, dann wäre gleich der erste Satz unseres Grundgesetztes Makulatur. Das ist er jedoch nicht. Die verbreitete und unkontroverse Forderung nach einem Sterben in Würde zeigt vielmehr, dass Tod und Sterben ebenfalls vom Menschenwürdepostulat umfasst sind und daher keinen grundsätzlichen Widerspruch zu diesem darstellen.

II. Rechtspflichten Es ist, unabhängig von der Pandemie, kein sinnvolles Ziel, jeden Tod um jeden Preis zu vermeiden.1 Das ist weder grundgesetzlicher Imperativ noch überhaupt möglich. Folglich kann es auch keine entsprechende Rechtspflicht geben. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass uns als Individuen oder unserem institutionalisierten Gemeinwesen das Leiden und Sterben von Mitmenschen egal sein sollte und wir im Angesicht ihrer Not untätig bleiben dürften. Es bedeutet aber, dass wir bei allen unseren Handlungen Rechenschaft ablegen müssen über die Definition unserer Ziele und die Wahl der Mittel. In der Grundrechtsdogmatik wird diese Aufforderung zum Tätigwerden als Schutzpflicht des Staates bezeichnet, der sich fördernd und schützend vor die Grundrechte stellen muss. In Bezug auf das Grundrecht Leben wird dies durch eine Fülle von Maßnahmen und Regulierungen verwirklicht. Es wird beispielsweise geschützt bzw. gefördert durch sauberes Trinkwasser und unbedenkliche Nahrungsmittel, Verkehrsregeln, Sicherheitsanforderungen für Spielzeug, industrielle Anlagen und vieles mehr. Auch Kampagnen für eine bessere Mundhygiene, den Gebrauch von Kon1

Vgl. den Hinweis auf das Argument von Milton Friedman bei Theijls Ziegler/Lütge.

Sterben und Recht auf Leben

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domen oder regelmäßige Krebsvorsorgeuntersuchungen tragen zu einer besseren Gesundheit und damit einem längeren Leben bei, ebenso wie das Gesundheitssystem.

III. Das richtige Maß Die Entscheidung darüber, auf welchem Weg und in welchem Ausmaß solche schützenden Handlungen vorgenommen werden, ist – jenseits der grundsätzlichen Vorgabe, dass ein Mindestmaß an Schutz gewährleistet werden muss – eine politische Entscheidung und weder rechtlich noch ethisch prädeterminiert. Insbesondere verlangt das Grundgesetz kein Maximum an Prävention oder entbindet Anstrengungen zur Rettung von Menschenleben jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das mag zunächst befremdlich klingen, ist aber eine wohlüberlegte Position. Anderenfalls müsste man, um eine angehende Selbstmörderin zu retten, nötigenfalls das Leben tausender Menschen in Gefahr bringen. In einer Akutsituation ist es sinnvoll, allfällige Entscheidungen den Rettungskräften zu überlassen. In weniger akuten Situationen sind demokratisch legitimierte politische Akteurinnen gefragt. Das ist angemessen, denn es geht nicht nur um komplexe Zusammenhänge, die sich vielfach einer abschließenden Beurteilung entziehen, und sich überdies mit dem Wandel von Lebensgewohnheiten, technologischen Möglichkeiten und wissenschaftlichen Erkenntnissen immer wieder anders darstellen. Auch die sich wandelnden Präferenzen der Bevölkerung – man denke nur an den Stellenwert des Umweltschutzes im Laufe der vergangenen Jahrzehnte – können so berücksichtigt werden. Dass diese Kommunikations- und Aushandlungsprozesse leider vielfach nicht oder nur eingeschränkt funktionieren, haben Theijls Ziegler/ Lütge umfangreich erläutert. Ein Komplex, der das deutlich zeigt und der zugleich für die Eindämmung der Covid-19-Pandemie relevant ist, ist der Zusammenhang zwischen Wohlstand und Gesundheit. Die extremen Zugewinne der durchschnittlichen Lebenserwartung im 20. Jahrhundert gehen u. a. auf den medizinischen Fortschritt zurück. Antibiotika, Insulin und Chemotherapie haben unzweifelhaft das Leben vieler Menschen verlängert. Einen noch größeren Anteil an dieser Entwicklung haben aber sauberes Trinkwasser, geordnete Abwasserentsorgung, ausreichende Nahrung und ähnliche Faktoren, die wesentlich auf eine positive Wohlstandsentwicklung zurückgehen.2 Die Gegenüberstellung von Wirtschaft und Gesundheit, bisweilen zugespitzt auf die Formulierung Geld oder Leben, ist daher falsch. Zugleich ist es nicht selten so, dass die Steigerung des Wohlstands potentielle Gesundheits- und Lebensgefahren an anderer Stelle birgt – giftige Abwässer, Maschinen, die Verletzungen verursachen, etc. Die Fragen, welche Risiken hinnehmbar sind, in welchem Verhältnis Steigerun2 Vgl. Harris, Bernard/Helgertz, Jonas, „Urban Sanitation and the Decline of Mortality“, The History of the Family 24, Nr. 2, S. 207 – 226. Zugleich verschlingt medizinische Forschung nicht wenige Ressourcen, die ebenfalls erarbeitet sein wollen.

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gen von Wohlstand und Lebenserwartung zur potentiellen Verletzung Einzelner stehen, ob die Bedürfnisse einiger Gruppen schwerer wiegen als andere etc., lassen sich nicht objektiv beantworten, sondern nur politisch aushandeln und entscheiden. Ebenso verhält es sich mit der Frage, welche Reaktion auf die Pandemie „richtig“ ist. Auch hier gibt es keine objektive Antwort. Die Reaktion auf die Pandemie ist weder durch das Recht noch durch die Ethik noch durch die Wissenschaft vorgegeben. Sie ist, jedenfalls in einer Demokratie, Aushandlungssache (innerhalb weiter rechtlicher Grenzen).

IV. Ethische Argumente Sowohl in öffentlichen Statements von Politikerinnen als auch in privaten Gesprächen scheinen ethische Motive bei der Reaktion auf die Pandemie eine Hauptrolle zu spielen. Darauf deuten Schlagworte wie Leben retten, Menschenwürde, Achtung, Schutz und weitere hin, die insbesondere zur Rechtfertigung einschneidender Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen oder Schulschließungen ins Feld geführt werden. Allerdings sind die Argumentationen nicht immer konsistent. Daher möchte ich im Folgenden den Lockdown als prägnanteste Maßnahme zur Pandemiebekämpfung aus der Perspektive der bekanntesten ethischen Theorien, Deontologie und Utilitarismus, beleuchten. Dabei wird deutlich, dass keine der beiden ethischen Theorien dieses Vorgehen rechtfertigen kann. Deontologische Theorien postulieren die moralische Pflicht, dass Handlungen den Gesetzen der Moral folgen. Als primäre, vollkommene Pflichten gelten die sogenannten negativen Pflichten. Salopp ausgedrückt, betreffen sie das Unterlassen von Verletzungshandlungen. Man darf andere Menschen nicht töten oder vergewaltigen, nicht bestehlen oder ihre Häuser anzünden. Die positiven Pflichten – etwa, anderen Menschen zu helfen – sind dagegen unvollkommene Pflichten. Sie betreffen uns zwar grundsätzlich, aber es ist nicht möglich, ihren Inhalt genau zu bestimmen. Zudem haben negative Pflichten Vorrang vor positiven Pflichten (nur bei einem groben Missverhältnis der betroffenen Güter kann eine Ausnahme gelten): Es ist ein größeres Unrecht, die Taschen der Nachbarin die Treppe herunterzuwerfen, als ihre schweren Einkäufe nicht nach oben zu tragen. Es ist wichtiger, Menschen nicht zu töten, als sie aus einer Lebensgefahr zu retten. Utilitaristische Ansätze stellen nicht auf die Handlung an sich, sondern auf das Ergebnis von Handlungen ab. Als moralisch gut gilt, was ein oder mehrere von ihnen als relevant betrachtete Güter wie etwa Glück, Wohlfahrt oder erfüllte Präferenzen maximiert. Sie knüpfen dabei entweder an einzelne Handlungen an (Akt-Utilitarismus) oder an die handlungsleitenden Regeln (Regel-Utilitarismus). Daher kommen unterschiedliche utilitaristische Theorien bisweilen zu ganz unterschiedli-

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chen Ergebnissen. Wenn eine hungrige Diebin auf einem Markt einen Apfel stiehlt, ist das aus akt-utilitaristischer Perspektive positiv, wenn der Nutzen der Diebin den Schaden der Händlerin übersteigt. Der Regel-Utilitarismus stellt auf die Konsequenzen einer zur generellen Norm verallgemeinerten Handlung ab. Da eine allgemeine Erlaubnis zum Diebstahl wohl schädliche Konsequenzen hätte, lehnt ein regel-utilitaristischer Ansatz ihn ab.

V. Gesundheitliche Folgen des Lockdowns Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann zu einer schweren Erkrankung und schlimmstenfalls zum Tod führen. Wenn durch die Reduzierung von Kontakten im Lockdown die Infektionszahlen gesenkt werden können, so darf man annehmen, dass damit auch Krankheits- und Todesfälle vermieden werden konnten. In welchem Ausmaß das der Fall ist, ist jedoch nach wie vor sehr umstritten. Zugleich wirkt sich der Lockdown aber auch negativ auf die Gesundheit aus. So wurde die Behandlung psychisch Kranker unterbrochen oder reduziert, obschon Psychotherapie erwiesenermaßen Suizide verhindern kann.3 Krankenhäuser mussten elektive Eingriffe absagen. Das umfasst keineswegs nur kosmetische Operationen, sondern auch medizinisch notwendige Eingriffe, etwa zur Entfernung von Fremdmaterial oder schmerzhafter Varizen. Selbst äußerst zeitkritische Operationen wie Tumorentfernungen mussten verschoben werden.4 Für viele Menschen führte der Lockdown zu einem extremen Bewegungsmangel. Das gilt einerseits für Gebiete und Zeiträume mit Ausgangsverboten, darüber hinaus aber auch für viele, die durch ihre persönliche Gesundheits- oder Lebenssituation keine adäquate Kompensationsmöglichkeit hatten. Bewegungsmangel ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für nicht ansteckende Krankheiten und vorzeitigen Tod, darunter Herz-KreislaufErkrankungen, Schlaganfall, Bluthochdruck, Brust- und Darmkrebs, Typ-2-Diabetes und Osteoporose,5 daneben kann er akut lebensbedrohlich sein. Alle diese Einschränkungen können sehr ausgeprägte negative gesundheitliche Folgen bis hin zum Tod haben. Und selbst das erklärte Ziel des Lockdowns, die Verhinderung von Infektionen durch Reduktion von Kontakten, ist gesundheitlich keineswegs nur positiv zu bewerten. So wird das menschliche Immunsystem durch den Kontakt mit Krankheitserregern gewissermaßen trainiert, und mangelndes Training schwächt das Immunsystem auf Dauer. Besonders dramatisch zeigte sich dieser 3 Zalsman, Gil u. a., „Suicide Prevention Strategies Revisited: 10-Year Systematic Review“, The Lancet Psychiatry 3, Nr. 7, S. 646 – 659. 4 Glasbey, James u. a., „Effect of COVID-19 Pandemic Lockdowns on Planned Cancer Surgery for 15 Tumor Types in 61 Countries: An International, Prospective, Cohort Study“, The Lancet Oncology 22, Nr. 11, S. 1507 – 1517. 5 Guthold u. a., The Lancet Global Health, 6.10 (2018), e1077; Warburton u. a., International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity, 7.1 (2010), 39.

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Effekt bei Kindern, die durch die lange Schließung von Bildungs-, Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen nur sehr reduzierte Möglichkeiten hatten, die sogenannte erworbene Immunität aufzubauen. Bereits im Sommer 2021 warnten das Robert Koch-Institut sowie Kinderärzte vor Covid-19-unabhängigen Infektionswellen bei Kindern, Kinderkliniken bemerkten eine ungewöhnlich hohe Auslastung.6 Die Maßnahmen, die dilemmatische Triagesituationen verhindern sollten, riefen sie im Bereich der Pädiatrie erst hervor. Im Herbst 2021 beschrieb eine Ärztin die Situation so: „Wir fangen unsere Dienste mit null freien Betten an. Wir müssen mit großen Bauchschmerzen Kinder nach Hause schicken, die wir normalerweise stationär aufnehmen würden.“

VI. Der Lockdown aus ethischer Sicht Für eine deontologische Ethik liegt es auf der Hand, dass der Lockdown ethisch verwerflich ist. Das gilt unabhängig davon, wie groß oder klein sein Beitrag zum Infektionsschutz ist. Relevant ist vielmehr allein, dass die entsprechenden Verordnungen gegen eine moralische Pflicht verstoßen, weil sie Menschen aktiv schädigen. Das gilt keineswegs ausschließlich in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern der Lockdown verursacht auch Gesundheitsschäden und Todesfälle. Zu rechtfertigen wäre das allenfalls, wenn eine Pflichtenkollision vorläge. Das ist aber nicht der Fall. Die Pflicht, andere Menschen vor einem Naturereignis zu schützen (und die Existenz einer Krankheit ist ein solches, im Unterschied zu einer gezielten Infektion durch Anhusten oder Anspucken), wiegt weniger schwer als die Pflicht, ihnen keine Gesundheitsschäden zuzufügen oder sie zu töten. Selbst wenn man für beides eine gleichgeartete Verantwortung annehmen wollte, so lässt sich daraus keine Erlaubnis zu aktiven Schädigungshandlungen folgern. Nebenbei bemerkt: Rechtlich ist ein solches Handeln ebenfalls verboten. Nicht zuletzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz hat klargestellt, dass es nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, Gesundheit und Leben von Menschen zu opfern, selbst dann nicht, wenn man damit eine größere Zahl anderer Menschen retten kann. Verfassungsrechtlich kann man einen Lockdown daher nur rechtfertigen, wenn man die durch ihn verursachten Gesundheitsschäden und Todesfälle ausblendet. Für ein utilitaristisches Urteil kommt es darauf an, wie sich die Schäden im Vergleich zu den positiven Folgen ausnehmen. Stellt man auf persönliches Glück oder 6 Robert Koch-Institut, „Vorbereitung auf den Herbst/Winter 2021/22“ (Berlin: Robert Koch-Institut, 22. Juli 2021), https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavi rus/Downloads/Vorbereitung-Herbst-Winter.pdf?__blob=publicationFile; „Schwere Atemwegsinfekte bei Kindern nehmen auffällig zu“, Ärztezeitung, 3. Januar 2021, https://www.aerz tezeitung.de/Medizin/Schwere-Atemwegsinfekte-bei-Kindern-nehmen-auffaellig-zu-423319. html.

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volkswirtschaftlichen Nutzen ab, so ist der Lockdown wohl eher kritisch zu sehen. Dieses Urteil ist zwar mit Vorsicht zu genießen, weil eine endgültige Bilanz des Lockdowns noch aussteht. Betrachtet man jedoch die bereits eingetretenen oder absehbaren Schäden im Bereich von Kultur und Wirtschaft, aber auch der physischen und psychischen Gesundheit und stellt ihnen die Erkenntnis gegenüber, dass Infektionsschutz wie in Schweden auch mit milderen Mitteln zu erreichen ist, deutet alles auf eine ethische Unzulässigkeit des Lockdowns hin. Der verbreitete Impuls, dieses Ergebnis abzulehnen, weil doch dem Schutz von Menschenleben eine besondere Wertigkeit zukäme, ist fehl am Platz. Abgesehen davon, dass er einer deontologischen Argumentation entstammt, lassen sich ihm zwei Einwände entgegenhalten. Erstens muss die Rücksicht auf Menschenleben gegenüber den vergleichsweise unsichtbaren Opfern des Lockdowns ebenso gelten wie gegenüber den medial sehr präsenten Opfern von Covid-19. Zweitens besteht, auch wenn es befremdlich klingen mag, aus utilitaristischer Sicht eo ipso kein Grund, vulnerable Menschen stärker zu schützen als andere. Im Falle der Covid-19-Pandemie könnte sogar das Gegenteil gelten. Weil die meisten Menschen, die an Covid-19 schwer erkranken oder versterben, mehrfach vorerkrankt und in einem höheren Lebensalter sind, könnte sich dies entsprechend einschränkend auf die Summe z. B. der entgangenen Lebensfreude auswirken. Der Nutzen, wie auch immer definiert, ihres Schutzes könnte damit geringer sein als der Schaden, den der Lockdown bei jüngeren Menschen – etwa in der Form physischer und psychischer Gesundheitsschäden – hervorgerufen hat. Wenn dagegen erfüllte Präferenzen als der entscheidende Maßstab für die moralische Qualität von Handlungen gelten, so hängt die Zulässigkeit eines Lockdowns von der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger ab. Allerdings ist zu beachten, dass die Mehrheitsentscheidung über den Lockdown, egal wie sie ausfällt, aus einer präferenzutilitaristischen Sicht einer Alternative immer unterlegen sein wird: einem bunten Flickenteppich unterschiedlichster Lösungen. Das betrifft nicht nur die Frage, auf welcher Ebene Maßnahmen zur Infektionseindämmung getroffen werden sollen – bundesweit, landesweit, in den Kreisen oder Gemeinden? Sondern es beinhaltet auch die Möglichkeit der Koexistenz differenzierter Maßnahmen. So können für Altenheime andere Maßnahmen sinnvoll sein als für Schulen. Und selbst innerhalb vieler Altenheime ließe sich differenzieren: Warum sollten nicht diejenigen gemeinsam in einem Gebäude, einer Wohngruppe oder auf einer Station leben, die ähnliche Vorstellungen von einer angemessenen Reaktion auf die Pandemie haben?

VII. Und nun? Das Recht auf Leben wird sehr unterschiedlich aufgefasst. In Debatten über die Pandemiepolitik werden das Recht auf Leben und seine behaupteten ethischen und

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politischen Korrelate oft als Argumente für maximalen Infektionsschutz angeführt. Dieser Artikel hat dagegen aufgezeigt, dass die politische Reaktion auf Pandemien keineswegs grundgesetzlich festgelegt ist. Vielmehr ist sie weitgehend Gegenstand eines demokratischen Aushandlungsprozesses. Eine engere Grenze des politisch Erlaubten lässt sich mit gängigen ethischen Theorien gewinnen. Betrachtet man nicht nur die erwünschten, sondern alle Folgen einer Politik, so ist zumindest der Lockdown abzulehnen. Er ist unzulässig, zumindest aber abhängig von der Zustimmung der von ihm Betroffenen. Für die Politik der Pandemiebekämpfung ist das ein deutlicher Einschnitt. Bei vielen mag sich gar Widerwillen gegen diese Schlussfolgerung regen. Es kann doch nicht sein, dass es die Ethik in einer so gravierenden Situation verbietet, anderen Menschen zu helfen? Tatsächlich ist es keineswegs verboten, anderen Menschen zu helfen. Verboten ist lediglich, der einen Gruppe deutlich zu schaden, um der anderen Gruppe eventuell zu helfen. Hilfe, Rücksichtnahme, Beistand sind weiterhin im höchsten Maße wünschenswert und nötig. Es gilt also nicht, der Pandemie oder einer anderen Krankheit achselzuckend ihren Lauf zu lassen, sondern im Gegenteil Wege zu finden, die Gesundheitsschutz ermöglichen, ohne dabei Gesundheitsschäden zu verursachen.

Zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Verlauf der Corona-Pandemie Von Gerd Graßhoff

I. Perspektiven Dieser Beitrag wurde für die Tagung „Pandemien und ihre Bekämpfung“ im September 2021 während des Sommers des zweiten Jahres der Corona-Pandemie verfasst. Er thematisiert die Möglichkeiten und Anforderungen an eine wissenschaftsbasierte politische Handlungsweise, die sich in der öffentlichen Meinungsbildung, der politischen Willensbildung und der politisch umsetzbaren staatlichen Gestaltungsmöglichkeiten auf das aktuelle wissenschaftliche Wissen der Zeit stützt. Wissenschaft gewann im Jahr 2021 als autoritatives Orientierungswissen ein Ansehen, das nach der postmodernen Wissenschaftskritik der „science wars“ in den 90ern bis zur Wissenschaftsskepsis der Ära Trump verloren zu gehen drohte. Offensichtlich wurde, dass sich die damalige Einschätzung der Gefahrenlage durch die Corona-Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Abwehr auf den wissenschaftlichen Kenntnisstand der Zeit stützen muss und nicht von den „alternativen Fakten“ einer lautstarken Skeptikerszene konterkariert werden durfte. Das öffentliche Bedürfnis nach Orientierungswissen intensivierte sich während der Pandemie zu unbekannter Intensität: Ab März 2020 kam das öffentliche Leben mit dem Lockdown zum Erliegen. Theater, Schulen und Universität schlossen, das Homeoffice wurde zur täglichen Arbeitsumgebung, persönliche Kontakte reduziert. Konferenzen und Workshops wurden gestrichen, ein wirkungsvoller Impfstoff wurde zu Jahresbeginn 2021 verfügbar. Talkshows informierten mit selbst ernannten Experten, Skeptiker profilierten sich. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten die Misere bändigen. Doch die Erkenntnisgewinnung erfolgte gleichermaßen in einer nie gekannten Dynamik. So viel Publikationen erschienen Open Access wie nie zuvor. Jeden Tag publizierten neue Artikel Erkenntnisse, die den Umgang mit der Pandemie beeinflussten und die Debatte prägten. Doch wer verfügte über das aktuelle wissenschaftliche Wissen, und wie verlässlich war es angesichts der mittlerweile (Stand 2022) mehr als eine halbe Million Fachpublikation zu Themen der Corona-Pandemie? Die Herausgeber dieses Konferenzbandes boten den Autoren die Möglichkeit einer Überarbeitung der eingereichten Beiträge zum Winter 2022 an. Dieser verlockenden Aktualisierung mochte ich nicht folgen, als deutlich wurde, dass die heutigen Kenntnisse die retrospektive Perspektive auf die Verhältnisse zur Hochzeit der

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Pandemie die Gewichtungen der diskutierten Aspekte verschieben würde. Viele Probleme haben sich mittlerweile gelöst, die Impfungen sind für einen großen Teil der Bevölkerung erfolgreich durchgeführt worden und die drohenden Überlastungen der kritischen Infrastruktur gebannt. Die Wissenschaft funktioniert wie gehabt. Um diese Perspektivverschiebung nicht die Sachanalyse zu verschieben, wurde der nachfolgende Beitrag nur minimal redaktionell geändert und die Themengewichtung beibehalten.

II. Perspektive 2021: Wie Corona das Verhältnis von Wissenschaft und Medien verändert(e) Die Corona-Pandemie der letzten zwei Jahre (Sicht Sept. 2021) beeinflusste weltweit die Gesellschaften in allen Aspekten. Nicht nur fielen mittlerweile mehr als fünf Millionen Menschen der Pandemie zum Opfer. Die wirtschaftlichen Abläufe werden bis heute massiv beeinträchtigt; politische Verwerfungen entstanden, Unterricht und Erziehung litten durch die erforderlichen strikten Quarantänebestimmungen. Der Einbruch der Wirtschaftsleistungen vergrößerte massiv die Schuldenlast aller Industriestaaten. Im Kontext dieser Beeinträchtigungen erscheinen Veränderungen der Wissenschaft marginal: Themenwahl und Forschungsorientierung der Wissenschaften fokussierte sich zwar nicht überraschend auf die Erforschung der medizinischen Zusammenhänge, möglicher Therapien und Präventionen. Spürbar haben sich die Forschungsanstrengungen über die Drittmittelanträge in vielen disziplinären Feldern verschoben. Doch die Wissenschaft selbst scheint sich strukturell nicht verändert zu haben. In meinem Beitrag thematisiere ich die veränderten epistemischen Rollen von Wissenschaft als Orientierungswissen für Gesellschaft und Politik. Die epistemische Arbeitsweise von Wissenschaft als Erkenntnisproduzent für die moderne Wissensgesellschaft bleibt unverzichtbar, wurde aber durch die Herausforderungen der Corona-Pandemie verändert.

• Wie erfüllt die Wissenschaft ihre öffentliche Aufgabe als Orientierungswissen? • Wie tritt Wissenschaft medial in Erscheinung und welche besondere Verpflichtung kommt der Wissenschaft als Hüterin des globalen Wissens epistemologisch zu? • Ist Wissenschaft angesichts prinzipieller fallibeler Wissensansprüche in der Lage, Orientierungswissen zu gewinnen und bereits zu stellen?

Zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Verlauf der Corona-Pandemie

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1. Wissensbasiertes Handeln Wer sich vor einigen Jahren in einer kontroversen Diskussion eines beliebigen Themas auf bestehende Tatsachen und ein Wissen darüber zu rechtfertigen versuchte, galt schnell als wissenschaftsgläubig, borniert gegenüber Skeptikern und unsensibel gegenüber den skeptischen Irrtumsmöglichkeiten einer modernen Wissenschaft. Auch die öffentliche Debatte um politische Maßnahmen und ihre Berechtigung beanspruchen eine wissenschaftsbasierte Legitimität. Um so mehr gilt das für Fachberatungen und politische Konsultationen. Nur solche Handlungen sind gerechtfertigt, die wissenschaftlich zu rechtfertigen sind. Wissenschaftsrelevanz: Politische, gesellschaftliche und kulturelle Reaktionen zur CoronaPandemie können ihre Tatsachenbeurteilung nur mit wissenschaftlichem Wissen rechtfertigen.

Die Wissenschaftsrelevanz ist in der öffentlichen Debatte weitgehend unstrittig. Erstaunlich schwierig ist es, wie der Transfer von Wissen in die Arena der öffentlichen Meinungsbildung und der politischen Entscheidungsträger erfolgt. Die Schwierigkeiten beginnen bei der wissenschaftstheoretischen Deutung des epistemischen Status von wissenschaftlichem Wissen. Wie wird es gewonnen? Wie gerechtfertigt? Welche Evidenz trägt welche epistemische Last? Wie geht man mit der Möglichkeit des Irrtums um?

2. Wissen Die platonische Definition des Wissensbegriffs nennt für das Vorliegen von Wissen drei notwendige Bedingung, die ich für den Verlauf der Argumentation durch zwei moderne Aspekte sozialer Epistemologie modifiziere. Eine Person weiß, dass P der Fall ist, genau dann wenn: 1. P wahr ist 2. Die Person der Meinung ist, dass die mit einem Ausdruck A bezeichnete Aussage P wahr ist 3. Die Person ihre Meinung angesichts der Kritik eines epistemischen Kollektivs (Wissenschaft) rechtfertigen kann

Die einzelnen Bedingungen dieser Definition werden in der theoretischen Philosophie bis heute und in vielen Varianten vertreten. So wird zwischen praktischem und propositionalem Wissen unterschieden. Für propositionales Wissen ist strittig, ob die drei Bedingungen nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend sind. So präsentierten Bertrand Russell und Edmund Gettier überzeugende Gegenbeispiele dafür, dass auch bei erfüllten Bedingungen eines „justified true beliefs“ Personen über zwar über wahre Meinungen verfügen und diese rechtfertigen können, dennoch

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diese Meinungen von uns nicht als Wissen akzeptiert würden. Auf diese Komplikationen kommt es für die heutige Diskussion nicht an. Philosophisch unbestritten: Wissen impliziert Wahrheit. Oder anders: Wissen kann sich nicht als falsch herausstellen, nur der Wissensanspruch kann irrtümlich erhoben werden.

Diese Position wurde von postmodernen Vertretern bestritten. Es wurde bestritten, dass Wissen über Tatsachen überhaupt erlangt werden oder gerechtfertigt werden kann. Das Begriffsfeld „Tatsachen“, „Wissen“, „Objektivität“ verlor den Publikationen sogar innerhalb der Wissenschaften, gerade in den Geisteswissenschaften, an Attraktivität. An die Stelle dieses Begriffsfeld traten selbst in den wissenschaftlichen Fachpublikationen Ausdrücke epistemisch abgeschwächte Varianten wie „Information“, „Ansichten“, „Meinungen“, „relative Standpunkte“, „Glaubwürdigkeit und Reputation“. „Befunde“ und „Evidenz“. Diese werden nicht mehr als Wissen oder Sachverhalte publiziert, sondern als fallibele „Ergebnisse“ und „Modelle“. Modelle oft mit dem skeptischen Zusatz, die Befunde seien nur Modelle ohne Realitätsanspruch. Diese Verschiebungen lassen sich durch Longitudinalstudien epistemischer Begrifflichkeiten in den Publikationen der Fachdisziplinen gut belegen. Wissenstheoretisch wird die „skeptische“ Wissenskritik mit einem pauschalen Hinweis auf die Wissenschaftsschichte großer wissenschaftlicher Umwälzungen oder Revolutionen versehen, die zur Revision lange für wahr gehaltener Ansicht führten. Tatsächlich zeigt die Wissenschaftsgeschichte von Paradigmenwechsel keine Relativität des Wissens. In solchen Umwälzungen erkannten die Akteure einen vorherigen Irrtum und gewannen neues Wissen. Wissenschaftliche Revolutionen belegen nicht die Relativität des Wissens oder der begrifflichen Implikation von Wahrheit. Sie sind Beispiele der Einsicht von Irrtümer und falschen Meinungen.

Parallel zur Verschiebung von Wissensansprüchen beanspruchten sogenannte „Wissenschaftsskeptiker“ alternative Ansichten stützen zu können, was die Debatte in anderen kontroversen Themen gut belegen lässt. „Klimaskeptiker“1 entwickelten Strategien des „denialisms“, die das Wissen diskreditiert und als unbegründet darzustellen versuchen. Der Lackmus-Test einer „denial-Strategie“ erfolgt über die Begriffsanalyse einer postmodernen Wissenschaftsskepsis aus dem einfachen Repertoire der analytischen Philosophie. Es geht um eine Begriffsbestimmung von „Wissen“ in Abgrenzung zur bloßen Meinung, wie es schon Platon seinen Sokrates in einigen Dialogen ausführen ließ. Die wesentlichen Ergebnisse gelten seitdem als eine der fundamentalen philosophischen Analysen zum Begriff des Wissens. Diese Strategien wurden seit langem

1 http://www.pik-potsdam.de/~stefan/klimaskeptiker.html; https://en.wikipedia.org/wiki/Cli mate_change_denial.

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systematisch untersucht. So fasste 2015 Willem Van Rensburg seine Untersuchungen zusammen:

Die Befunde der Argumentationsfiguren von Wissenschaftsleugnern beziehen sich nach Willem van Rensburg auf die Aspekte der (a) Evidenz, (b) Prozess des Erkenntnisgewinns und (c) Reaktionen und praktische Konsequenzen. 1. Im Fall der Evidenz stützt sich prinzipielle Skepsis auf einem uneinlösbaren Anspruch an wissenschaftliches Wissen, die Möglichkeit eines Irrtums auszuschließen. Keine Wissenschaft ist wissenschaftstheoretisch dazu in der Lage. Diese Forderung hat nichts mit dem Wissensanspruch zu tun. Das liegt an der logischen Form ihrer Hypothesen und der Beweiskraft von Evidenz zur Rechtfertigung. Übersehen wird, dass die kollaborativen Akteure einer offenen Gemeinschaft von Wissenschaftlern allein in der Lage sind, Wissensansprüche arbeitsteilig und aufgrund einer vollständig berücksichtigten Evidenz zu einer besten Erklärung zu führen. Die zu erklärenden Hypothesen sind dabei von einheitlicher Form: Sie sind Kausalhypothesen: Wissenschaftliche Hypothesen sind (überwiegend) Kausalhypothesen: „unter geeigneten Bedingungen sind Faktoren F kausal relevant dafür, dass eine Wirkung W hervorgerufen wird“.

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2.

Bezogen auf die Prozesse des Erkenntnisgewinns von Forschung behaupten die denial-Skeptiker

(i)

die Verletzung zulässiger Methoden oder gar Fälschung der Befunde

(ii) Einflüsse und Manipulation interessegeleiteter Profiteure (iii) Für den relevanten Tatbestand von (i) und (ii) für den Erkenntnisprozess wird kein belastbarer Beleg vorgelegt. Van Rensburg fasst beispielhaft die Positionen der Klimaskeptiker in der Tabelle zusammen, die problemlos auf Kontroversen der 2021 aktuellen Pandemieskeptikern zu übertragen sind.

3. Die aus den Wissensbeständen abgeleiteten Handlungskonsequenzen werden bezweifelt hinsichtlich a. ihrer Wirkungskraft; bestritten wird die erhoffte Folge einer politischen Konsequenz. b. ungerechtfertigte Alternativen werden schlicht behauptet. Die Leugnungsstrategien der Klimadebatte lassen sich mit frappierender Prägnanz in den aktuellen Diskussionen zur Corona-Pandemie wiederfinden. Als Erinnerung seien die Debatten der folgenden fünf Fragen angeführt. Die entsprechenden „skeptischen“ Einwände sollten noch präsent sein. 1. Ursprung des Corona-Virus: natürlich oder aus einem militärischen Labor? 2. Wirksamkeit von Remdesivir zur Prävention einer Corona-Infektion.

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3. Rechtfertigt die Viruslast bei Kindern und Jugendlichen, Kitas und Schulen zu schließen? 4. Opferzahlen von Strategien der Herdenimmunität wie in Schweden. 5. Folgeschäden von Impfungen und ihre Risikoabwägung.

3. Kausalhypothesen Angesichts der Tatsache, dass kausale Hypothesen die zentralen wissenschaftlichen Aussagen sind, über die Erkenntnisse gesammelt und publiziert werden sowie angesichts ihrer Konsequenzen eine öffentliche Debatte geführt wird, gewinnt die innerwissenschaftliche Auseinandersetzung um ihre Evidenz und rechtfertigende Kraft an Bedeutung. Die klassische Wissenschaftstheorie behauptet, dass die logische Form wissenschaftlicher Hypothesen die eines materiellen Konditionals sei. Das hört sich komplizierter an, als es ist. Dahinter steckt die Behauptung, wissenschaftliche Hypothesen hätten die Form einer wenn-dann Beziehung: Wann immer ein Ereignis A auftritt, folgt ein B. Diese wenn-dann Beziehungen haben eine einfache logische Eigenschaft, auf die die klassischen Wissenschaftstheoretiker in ihrer methodischen Behandlung gründet: ein solches Konditional ist nur dann falsch, wenn für mindestens ein Ereignis A ein B ausbleibt. Popper argumentierte, dass aufgrund dieser logischen Eigenschaft wissenschaftliche Hypothesen nicht beweisbar seien, da bei einer unendlichen Zahl von Ereignissen ein Gegenbeispiel in Gestalt eines zukünftig auftretenden As bei ausbleibendem B die Hypothese falsifizieren werden würde. Die Unbeweisbarkeit der Wahrheit von Hypothesen ist eine häufig gezogene skeptische Konsequenz. Zudem zeichne die Wissenschaften nach Popper aus, ihre Hypothesen durch zukünftige Falsifikationsversuche zu prüfen, niemals jedoch die Wahrheit ihrer Hypothesen beweisen zu können. Rechtfertigung durch Falsifikationsversuche: Je mehr Falsifikationsversuche einer Hypothese stattgefunden haben, desto überzeugender sei die Hypothese gerechtfertigt.

Diese wissenschaftstheoretische These ist eklatant falsch. Die logische Form der Kausalhypothesen unterscheidet sich nämlich fundamental vom materialen Konditional: Unter geeigneten Bedingungen ist ein Ereignis A kausal relevant für ein Ereignis B. Wissenschaftlich gerechtfertigt werden Kausalhypothesen durch Experimente: zwei in allen relevanten Hinsichten gleiche Anordnungen zeigen, dass wenn in einer Anordnung 1 ein A gegeben ist und ein B gegeben ist; und wenn im Kontrast dazu in einer ansonsten gleichen Anordnung 2 ein A nicht gegeben ist und auch ein B nicht auftritt. Alle anderen relevanten Umstände sind gleich (Homogenitätsbedin-

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gung). Aus einem solchen Befund folgt die Wahrheit der Hypothese!!! Diese Eigenschaften von Experimenten dreht die empirische Beweislast gegenüber Poppers Modell der Falsifikation um. Die Geltung der Homogenitätsbedingung ist bei allen experimentellen Nachweisen kritisch. Fallstudien zeigen, dass die Dauer der Forschungsaktivitäten für die Herstellung einer geeigneten experimentellen Anordnung am größten ist. Reicht die Sorgfalt der Wissenschaftler nicht aus, die Homogenitätsbedingung zu erfüllen, sind keine Schlüsse auf die Wahrheit oder Falschheit einer Kausalhypothese begründet. Wissenschaft basiert darauf, experimentell die Homogenitätsbedingung zu erfüllen. Irrt man sich darin, sind alle Befunde unbegründet, aber nicht unbedingt falsch. Kausalhypothesen werden durch kausal homogene Experimente mit positiven Differenzsituationen gerechtfertigt. Es gibt keinen möglichen Ausgang eines Experiments, das eine Kausalhypothese falsifiziert! Es gibt keine andere Rechtfertigung der Wahrheit einer Kausalhypothese durch empirische Evidenz als die durch Experimente.

Diese wissenschaftstheoretischen Einsichten zeigen, dass die „denial“-Skeptiker an der falschen Stelle unbegründete Zweifel schüren. Sie behaupten fälschlicherweise eine prinzipielle Unbeweisbarkeit wissenschaftlicher Hypothesen und konstruieren unbegründete Falsifikationsszenarien. Dabei wird übersehen, dass Kausalhypothesen nicht experimentell zu falsifizieren sind. Wissenschaftliche Revolutionen erfolgen nur dann, wenn der kausale Nachweis der Alternativhypothese durch die experimentelle Differenz unter Voraussetzung der Homogenitätsbedingung erbracht wurde. Wissenschaftliche Hypothese werden revidiert, indem die Wahrheit alterativer Hypothesen experimentell besser gerechtfertigt ist. Den Skeptikern fehlt dieser positive Nachweis der experimentellen Geltung der behaupteten Alternativhypothese.

4. Infodemie und „alternative facts“ Der wachsende Einfluss sozialer Medien und ihrer Influencer führten bereits vor der Corona-Pandemie zur Sorge um eine wissenschaftlich gegründete Öffentlichkeit und politischen Entscheidungsfähigkeit. Die WHO entschied sich frühzeitig, auf die Gefahr von systematischer Fehlinformation hinzuweisen und richtete mittlerweile eine eigene Abteilunge zur Bekämpfung der Infodemie ein. Das Cambridge Dictionary definiert in Anlehnung an die WHO die „Infodemie” als „a situation in which a lot of false information is being spread in a way that is harmful“. Interessanterweise haben sich die Herausgeber des Cambridge Dictionary entschieden, den postmodernen Begriff der Information zur Definition der Info-

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demie anstelle der bewussten Vortäuschung falscher Aussgen zu verwenden. Tatsächlich sind Information weder wahr noch falsch, auch wenn das im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr begrifflich anstößig ist. Allenfalls sind Informationen gehaltvoll, viele gehaltlos, aber Informationen können nicht wahr oder falsch sein und treffen somit keine Aussagen über die Welt. Aussagen allein sind wahr oder falsch. Nur über Aussagen kann man Wissen erlangen. Infodemie zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Wissensbegriff diskreditiert und die systematischen Methoden der Wissensrechtfertigung ignoriert. Infodemie verbreitet Ansichten, deren Wahrheit sie fälschlich vortäuscht. Sie verbreitet absichtlich und manipulativ falsche Aussagen und suggeriert, diese falschen Überzeugungen hätten die gleiche epistemische Zuverlässigkeit wie wissenschaftliche Erkenntnisse.

Die WHO setzt in ihrem Maßnahmenkatalog wohl begründet nicht auf automatisierte Beschränkungen der Verbreitung von infodemischen Informationen. Diese Maßnahmen verletzen die Grenze zur Beschränkung der Meinungsfreiheit und

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wären aller Erfahrung nach kontraproduktiv. Die Auseinandersetzung mit infodemischen Falschmeldungen über Medienveranstaltungen und Presseorientierungen führen selten zur Korrektur von Irrtümern. Berüchtigt ist die Pressekonferenz von Präsident Trumps Beraterin Kellyanne Conway am 22. Januar 2017, auf der sie die Falschaussage des Pressesprechers Sean Spicer mit massiv übertriebener Teilnehmerzahl an der Inaugurationsfeier des gewählten Präsidenten Trump mit der Behauptung zu verteidigen suchte, dass Spicer „alternative facts“ präsentiert hätte. Der anwesende Journalist Chuck Todd korrigierte die dreiste Manipulation mit der treffenden Feststellung: „Look, alternative facts are not facts. They’re falsehoods.“ Infodemics lässt sich am besten mit Wissen konfrontieren. Gegenteilige Meinungen allein reichen zur Korrektur falscher Aussagen nicht aus. Wissen muss diesen Gegenpol bilden. Erkenntnisgewinn ist allein eine Leistung von Wissenschaft. Da eine Infodemie pathologisch die Wissenschaftlichkeit und die epistemische Rechtfertigung von Kausalhypothesen bestreitet, kann eine wirkungsvolle Aufklärung nur über die tatsächlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse die öffentliche Debatte erreichen und in die politischen Entscheidungsprozesse transparent eingehen. Wer übernimmt die Vermittlungsfunktion?

III. Wissenschaftsakteure 1. Wissenschaftler als Medienvermittler Renommierte Wissenschaftler sind die ersten, an die sich die Medien zu fachwissenschaftlichen Stellungnahmen wenden. Während der Pandemie haben sich Wissenschaftler wie Christian Drosten für ihre regelmäßigen Podcasts und öffentlichen Stellungnahmen verdient gemacht und sind berechtigterweise mit Ehrungen überhäuft worden.

Für die wissenschaftstheoretische Würdigung des Status der Rechtfertigung des kommunizierten Wissens ist der unhintergehbar kollaborative Charakter von Erkenntnis zu berücksichtigen. Auch der begnadetste Wissenschaftskommunikator und Spitzenforscher ist nicht in der Lage – von der Wissenschaftsgemeinschaft isoliert – überhaupt über Wissen zu verfügen! Auf den ersten Blick scheint dieses paradox. Die von Drosten vermittelten Empfehlungen und Einschätzungen werden damit nicht geschmälert noch skeptisch hinterfragt. Im Gegenteil. Ihre Glaubwürdigkeit und Relevanz erhalten die Befunde dadurch, dass sie kompetent im Kontext der

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Prüfung durch die gesamte, arbeitsteilig forschende Wissenschaft veröffentlicht werden. Jederzeit können Thesen hinterfragt werden. Dieses epistemische Spiel hat sich in der Corona-Pandemie eindrücklich an Drostens Aussagen zur Virenlast von Kindern 2020 gezeigt, die sowohl einen Aufruhr in den sozialen Medien auslösten wie auch Boulevardblätter rauschen ließen.

Entscheidend für die epistemische (und presserechtliche) Beurteilung der Aussagen sind die wissenschaftlich hinterfragbaren Publikationen. Die Welt der Wissenschaftspublikation unterscheidet sich entscheidend durch die Spielregeln der Kritik und Rechtfertigung von der Meinungsbildung der medialen Öffentlichkeit. Diese epistemischen Spielregeln sind Teil von Wissenschaft und Voraussetzung von Wissen. Wissen und Irrtum entstehen erst in der kritischen Polis der Wissenschaftsgemeinschaft. Kein soziales Medium wie Twitter oder Facebook erfüllt die Bedingungen von wissenschaftlicher Prüfung und Rechtfertigbarkeit. Gefährlich ist es, wenn diese Medien die öffentliche Meinungsbildung prägen, oder wenn sich die Bildzeitung als Ersatz von Wissenschaftskommunikation aufspielen. Wissenschaftspublikationen sind normativen Regeln wie den FAIR Kriterien unterworfen. Für jeden Wissenschaftler gelten diese Regeln einer wissenschaftlichen Publikation. Das Spiel der offenen Prüfung und Kritik der Wissenschaftspublikation ist die Arena, auf der Befunde vorgestellt und zu Wissen werden. Wissen existiert nur in der Domäne öffentlich publizierter und FAIR Prinzipien unterworfener kollaborativer Rechtfertigung.

Angesichts der öffentlichen Debatte um die Öffnung von Kitas und Schulen war im März 2020 zu entscheiden, ob sich der Lockdown auch auf Kinder erstrecken sollte. Angesichts dieses dringenden Klärungsbedarf entschloss sich 2020 das Forscherteam um Drosten, erste Befunde zur Virenlast von Kindern als Preprint zu veröffentlichen und mit einer Handlungsempfehlung zu verbinden.

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Die Zusammenfassung beschreibt einen klaren Befund und gibt eine vorsichtige Handlungsempfehlung: Nach der Studie zeigen Kinder vergleichbar eine Virenlast häufig wie Erwachsene, weshalb nach Ansicht der Autoren die Öffnung von Schulen und Kitas nur vorsichtig erlaubt werden sollte. Die heftigen Anfeindungen von Boulevard, Medien und

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aus den Reihen einige Statistiker an der Auswertung sind mittlerweile Geschichte.2 Die Kritik der Statistiker an der generellen Aussage der insignifikanten Unterschiede war berechtigt und wurde in Revisionen des Artikels berücksichtigt. Diese offene Kritik der Wissenschaften haben insgesamt die wissenschaftliche Stichhaltigkeit des Artikels verbessert, mit der dieser schließlich veröffentlicht wurde, wobei im Dez 2020 noch nachträgliche Korrekturen in die Befunde zur Virenlast vorgenommen wurden. Der Verlauf der wissenschaftsöffentlichen Diskussion zeigt einen typischen Verlauf der Erkenntniskritik. Thesen werde sachbezogen für Einwände offen vorgelegt. Berechtigte Kritik wird angenommen, in den Befund eingearbeitet und als Revision wiederum veröffentlicht. Dieses Verfahren führt dazu, komplexe wissenschaftliche Hypothese durch maximal viele, voneinander unabhängige Experten zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Um den Wissensbestand nicht durch Widersprüche zu gefährden, werden fehlerhafte Publikationen zurückgezogen oder durch Korrigenda gekennzeichnet. So wird aus einer These eines Preprints eine wissenschaftliche Erkenntnis, nachvollziehbar in einer wissenschaftlichen Publikation. Die Handlungskonsequenz zur Öffnung von Kindergärtnern ist zum späteren Zeitpunkt der Revision nicht mehr aktuell. Der öffentliche Druck im April 20 veranlassten die Forscher, ihre Empfehlung bereits im Preprint „aufzuweichen“: Diese „Aufweichung“ ist jedoch keine Handlungsempfehlung mehr. Die Wissenschaftler trennen Befund und Handlungsempfehlung und überlassen die Konsequenzen der politischen Debatte. Ob Wissenschaftler aufgrund eines Befundes eine Handlungs„empfehlung“ öffentlich abgeben sollten (sogar in einem Preprint), ist von der Sachklärung selbst zu trennen.

2 https://www.tagesspiegel.de/politik/corona-ansteckungsgefahr-durch-kinder-das-sollteman-zur-debatte-um-die-drosten-studie-wissen/25867202.html; https://www.zeit.de/wissen/ gesundheit/2020 – 06/christian-drosten-studie-ansteckungsgefahr-durch-kinder-schuloeffnung-kritik.

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2. Akademische Gesellschaften Deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat nach ihrer Neugründung den Auftrag zur Wissenschaftsberatung von der Regierung übernommen. Zur Corona-Krise veröffentlichte sie mehrere Ad-hoc-Stellungnahmen zu Coronavirus-Pandemie, die prompt vehemente Kritik erfuhren.

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Das mediale Echo war desaströs:

Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld, selbst Akademiemitglied, kritisierte in einem öffentlichen Schreiben an den Präsidenten der Leopoldina:

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„In einer solchen Situation wissenschaftlicher und ethischer Kontroverse sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen, die vorgeben, eine bestimmte politische Position wissenschaftlich zu untermauern. Ich möchte Sie daher höflichst bitten, die entsprechende Stellungnahme umgehend als Stellungnahme der Leopoldina zurückzuziehen.“

Esfelds Kritik ist berechtigt. Wissenschaftliche Erkenntnis existieren nur in der Arena von Wissenschaftsregeln unterworfenen Publikationen. Öffentliche Stellungnahmen, auch von ehrwürdigen Akademien, ersetzen diese nicht. Sie täuschen eine epistemische Rechtfertigung und Glaubwürdigkeit vor und schaden der Wissenschaft.

3. Fachbeirat – scientific advisory boards Nahezu allen Industriestaaten richteten ad-hoc wissenschaftsbasierte Fachbeiräte neben den ständigen Beratungsgremien ein, um die politischen Entscheidungsträger zu sachlich kompetent zu orientieren. Für diese Beiräte gilt epistemisch die gleiche Grundlage wie bei einzelnen Forschern und ihrer medialen Kommunikation. Sie sind Vermittler des Wissens einer kollaborativen Wissenschaftsgemeinschaft. Ihnen steht keine eigene Kompetenz oder übergeordnete Autorität des Wissens zu.

4. Institutionelle wissenschaftliche Unterstützung Die Regierungen betreiben selbst Behörden und Institute mit Verpflichtungen zum Public Health, um handlungsrelevante wissenschaftlich fundierte Befunde zu erstellen und Handlungsempfehlungen auszuarbeiten. Die bekanntesten von Ihnen sind: • Robert-Koch-Institut • Paul-Ehrlich-Institut • STIKO (Ständige Impfkommission) • EMA (Europäische Arzneimittelbehörde) Nach dem Vorbild des Corona-Dashboards der University of Minnesota publiziert auch das RKI ein tagesaktuelles Infoboard über die wichtigsten Verbreitungsparameter der Pandemie. Die zentralen Daten wie die 7-Take-Inzidenz und die relativen Fallzahlen steuern nach dem Willen der Bundesregierung den Maßnahmenkatalog von Bund und Ländern. Die Daten geben eine Synopse des Infektionsgeschehens aus den täglichen Meldungen der Gesundheitsämter. Doch noch sind diese Daten keine Forschungsdaten! Der Weg von der Evidenz bis zu einer kausalen Erklärung der Epidemie und möglicher Eingriffe zu ihrer Bewältigung ist weit.

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Für eine wissenschaftliche Grundlage und Evidenz qualifizieren Forschungsdaten nur, wenn sie global wissenschaftlich verglichen und zusammengeführt werden können. Erst dann werden Evidenzen erkenntnisfähig. Selbst mächtige Gesundheitsbehörden arbeiten nicht in Isolation, sonst wären ihre Befunde irrelevant. Die Pandemie verdeutlichte eindrücklich für alle staatlichen Akteure, dass sie unabhängig von der politischen Orientierung ihrer staatlichen Auftragsgeber auf die wissenschaftliche Kooperation der Wissenschaftsgemeinschaft open access angewiesen sind. Lokale Erkenntnis in Isolation haben keinen Erkenntniswert. Die Pandemie belegte die enorme Bedeutung von open access Forschungsdaten. Ihre Forschungsdaten haben mindestens die FAIR Bedingungen des freien Zugangs, der Weiternutzung und wissenschaftlicher Kritik zu erfüllen.3

IV. Soziale Epistemologie einer arbeitsteiligen Wissenskollaboration 1. Forschungsdaten Damit Informationen zu Forschungsdaten werden, müssen sie epistemische Voraussetzungen erfüllen. Diese werden mittlerweile von allen größeren Wissenschaftsorganisationen und Förderprogrammen gefordert. Konnte man noch vor Jahren mit einem interessanten Forschungsprojekt ohne Angaben über die Art und Ablage von 3

https://www.go-fair.org/fair-principles/.

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Forschungsdaten erfolgreich Drittmittel einwerben, ist heute die Forschungsdatenpublikation nach den FAIR Kriterien eine notwendige Förderbedingung.

Evidenz jeder wissenschaftlichen Argumentation sind heute „Fair research data“ – oder sollten es zumindest sein. Noch wird der Anspruch nicht von allen Projekten eingelöst, doch stehen gerade die klinischen Studien und Befunddaten der Corona-Forschung unter der strikten Erwartung, dass diese Forschungsdaten open access, vergleichbar und maschinenlesbar sind. Forschungsprojekte, die diese Kriterien nicht erfüllen, werden nicht als nutzbare Erkenntnis wahrgenommen und werden zukünftig deutlich schlechtere Aussichten auf Fördermittel haben. Das Robert-KochInstitut hat entsprechend diesen Vorgaben eine umfangreiche Serviceeinrichtung eingerichtet.

2. Kausalhypothesen Wissenschaftliche Kausalhypothesen verlangen einen experimentellen Nachweis über eine Differenzsituation. Epistemologisch gibt es dazu keine Alternative. Jeder

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wissenschaftliche Anspruch verlangt alternativlos den experimentellen positiven Nachweis als Rechtfertigung. Nur unter der kritischen Voraussetzung der erfüllten Homogenitätsbedingung der Vergleichssituation ist die Wahrheit einer Kausalhypothese zu begründen. Die philosophische Analyse der Kausalität kann dann sogar rigoros beweisen, dass eine Falsifikation einer Kausalhypothese mittels experimenteller Daten unmöglich ist. Dieser wissenschaftstheoretische Befund stellt eine auch in den Naturwissenschaften verbreitete Forschungsmethodologie auf den Kopf.

3. Modellierungen Modellierungen sind die Umsetzungen kausaler Hypothesen für die Erklärung und Prognose von Prozessen, wie auch der des epidemiologischen Verlaufs einer Pandemie. Sie sind das einzige Mittel der Wissenschaften, Handlungsempfehlungen zu begründen, indem verschiedene relevante Variationen von Ausgangssituationen oder Eingriffen in das Kausalgeschehen auf ihre Konsequenzen hin untersucht werden können. Anders als es viele Kritiker behaupten, sind Modellierungen keine realitätsfernen Simulationen. Modellierungen erheben einen Realitätsanspruch hinsichtlich kausaler Prozessverläufe innerhalb der Genauigkeitsgrenzen, die im Rahmen der notwendigen Idealisierung und vereinfachender Annahmen gelten. Modellierungen sind wie kausale Hypothesen wahr oder falsch. Sie modellieren kausale Prozesse aufgrund kausaler Hypothesen und werden wie diese experimentell gerechtfertigt. Wie Kausalhypothesen können diese angesichts experimenteller Evidenz nicht widerlegt werden.

V. Science Observatory 1. Forschungsliteratur und Forschungsdaten Die bisherige Analyse zeigte, dass für die Pandemie relevantes Wissen einzig über den wissenschaftlichen Publikationsprozess zu gewinnen ist. Die Corona-Pandemie führte zu einer bislang nie gesehenen Änderung des wissenschaftlichen Publikationsverhaltens: 1. Die Publikationen erscheinen ab 2020 überwiegend open access frei zugänglich. 2. Die Publikationsgeschwindigkeit zwang zu einer überwältigenden Mehrzahl an Preprint Publikationen auch bei zuvor teuer zu subskribierenden Journalen kommerzieller Verlage. 3. Die Zahl wissenschaftlicher Publikation übersteigt Ende 2021 mehr als 700 000 Fachpublikationen. Diese enorme Zahl übersteigt das typische Aufkommen auch bedeutendster, nobelpreisträchtiger Entdeckungen um das mehr als 100-fache!

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Die Auswertung für die laufende Bewertung wissenschaftlicher Befunde kann bei dieser Zahl nur noch mit maschinellen Hilfsmitteln erfolgen – zum Nutzen der Wissenschaften und der Öffentlichkeit. Perspektive Januar 2023: Derzeitige enorme Fortschritte in der Technologie der sogenannten „Transformer“ der maschinellen Sprachverarbeitung. Als Beispiel diene eine umgangssprachlich formulierte Eingabe der Aufforderung, die technologische Grundlage dieses Verfahrens zu erläutern, im Folgenden als Bildschirmkopie vom Webbrowser:

Ohne weiteres Training oder andere Einstellung antwortet das Programm in einer Dialogbox: Diese Frage wird vom Programm (selbstlobend) positiv beantwortet. Was auf den ersten Blick wie eine gute Werbeankündigung aussieht, kann tatsächlich mit dem angegebenen Training der Forschungsliteratur eingelöst werden. Zunächst sollte man hinsichtlich der wissenschaftlichen Belastbarkeit spezifischer Antworten auf wissenschaftliche Fragen skeptisch sein. Das genannte System realisiert eine beeindruckende umgangssprachliche Vermittlungskomponente, die aber nur sehr eingeschränkt eine wissenschaftstheoretisch kompetente Auswertung der Inhalte der Forschungsliteratur verwendet. Immerhin deutet die automatisiert erstellte Antwort des noch untrainierten Systems auf die Frage nach der von Präsident Trump behaupteten Wirksamkeit von Remdesivir an, wie zukünftig solche Systeme weiterentwickelt werden können. Eine solche Vision soll als Science Observatory vorgestellt werden. Ein Science Observatory kann zukünftig als offen zugängliche, durch KI mit umgangssprachlicher Textverarbeitung ausgestatteter Vermittlungsplattform, Fragen mit verständlich aufbereiteten Antworten für eine „Citizen Science“ auf der Basis der aktuellen Forschungsliteratur beantworten.

Das Science Observatory erfasst zu vorgegebenen Forschungsthemen den zeitlichen Verlauf der globalen Publikationsaktivitäten einschließlich relevanter Kontextinformationen (derzeit zur speziellen Forschungsfeldern wie Corona-Forschung, Exoplaneten, Klimaforschung, Künstliche Intelligenz, Forschungsthemen der aktuellen Debatte, Sammlungsgebiete, Archivbestände). Die Daten werden einheitlich aufbereitet, systematisch mit Methoden des NLP (Natural Language Processing) analysiert und in hierarchische Daten transformiert. Diese erlauben eine Klassifikation einzelner Aussagen in einem komplexen Graphen. Diese eignen sich hervorragend als empirische Datenbasis für weiterführende wissenschaftliche und wissenschaftshistorische Forschungen.

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Die Daten und Nutzungsweise eines Science Observatory schafft innovative Forschungsmittel für die Gegenwartsforschung. Sie wird auf aktuelle Untersuchungsgegenstände wie auf Untersuchungen zur Forschungsdynamik der aktuellen CoronaForschung verwendet. Das Science Observatory erlaubt eine umfassende Erfassung und Archivierung der historischen Verläufe der inhaltserschlossenen wissenschaftlichen Publikationsaktivitäten ausgewählter Forschungsfelder. Sie sind damit als neuer Quellentyp wissenschaftshistorischer Forschung erschlossen. Wissenschaftlicher Inhalte der Publikationen erlaubt erstmals Zugriffe auf die inhaltlichen Wissensdynamik jenseits von Zitationsanalysen. Machine Learning Anwendungen leisten neuartige semantische Zugriffe und inferentielle Modellierungen der konzeptuellen wissenschaftshistorischen Prozesse. – Ein Science Observatory erfasst die globalen Aktivitäten von wissenschaftlichen Publikationen tagesgenau in ihrer historischen Abfolge. – Methoden des machine learning erzeugen zu jeder Publikation Strukturanalysen des Inhalts. Jede Schichtung ist eine hierarchische geordnete Gliederung der Publikation in Textabschnitte, Metadaten, bibliographische Referenzen und formale Gliederungselemente wie Tabellen, Abbildungen, oder Ergebniszusammenfassungen. Erstmalig ist damit der inferentielle Zusammenhang zu erfassen:

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o Wissenschaftliche Hypothesen und Evidenz o Forschungsdaten und deren Befunde o Anwendungsfelder von Modellierungen – Täglich wird der aktuelle Datenstand für jedes Thema in einem Datenhub erfasst und neu berechnet. – Programme können über offene maschinelle Schnittstellen die Bestände des Datenhubs automatisiert abrufen und weiterbearbeiten.

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– Modular aufgebaute Knowledge Machines liefern methodologische Interpretation und Inferenzapparate zu den publizierten wissenschaftlichen Inhalten. – Wissenschaftliche Publikationen können mit den Techniken des „deep readings“ semantisch erschlossen werden. Tagesaktuell können sich Forscher damit über den aktuellen Stand des Weltwissens zu jeder wissenschaftlichen Fragestellung informieren. Eine Knowledge Machine enthält Inferenzapparate, die Schlussfolgerungen aus den Aussagen der Publikationen ziehen lassen. So ist es möglich, publizierte Ergebnisse zu verrechnen, Zeitangaben wie Ansteckungsdauern als berechenbare Größe zu

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nutzen und maschinell zu prüfen, ob die publizierten Ergebnisse verträglich sind oder im Widerspruch stehen zu entsprechenden Ergebnissen eines eigenen Befundes. Ein Corona Science Observatory wird möglichst umfassend täglich Daten zur Abfolge und Inhalt der aktuellen Corona-Forschung erschließen: (1) alle jeden Tag weltweit erscheinenden wissenschaftlichen Publikationen zur Corona-Forschung, (2) Monitoring täglicher Nachrichtenberichte wichtiger Medien samt ihrer verknüpften Ereignisberichte und Zeitdokumenten, (3) Metadaten der publizierenden Personen und Forschungsinstitutionen, (4) Social media Aktivitäten, (5) Zitate und Querbezüge zwischen (a) innerwissenschaftlichen Bezügen der Publikationen (b) transdisziplinären Bezügen von Wissenschaftsthemen und Öffentlichkeit. In der Analytik werden die Ergebnisse mit modernsten Methoden des machine learning katalogisiert, analysiert, inhaltlich erschlossen und archiviert. Als Datenpublikation erstellten Daten werden nach FAIR Prinzipien bei Zenodo / CERN downloadbar und direkt über selbst erstellten Datenschnittstellen importierbar. Diese Plattform garantiert eine langfristige, von einzelnen Projekten unabhängige und weltweite Datenarchivierung und Weiterverwendung. Open access zugängliche Jupyter Notebooks laufen in der Cloud und begleiten und orientieren mit Datenanalysen den Datenerhebungsprozess. Ein Webportal, entwickelt für Wissenschaft und Öffentlichkeit mit einen attraktiven Internetauftritt präsentiert die gewonnenen Daten, wissenschaftlichen Publikationen, umfangreiche Such- und Filterungsmittel mit interaktiven analytischen Darstellungen. Ein Corona Science Observatory wird eine Referenz der empirischen Grundlage zur wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Analyse wissenschaftlicher Innovationsprozesse im Zusammenspiel von gesellschaftlichen Anforderungen, wissenschaftlicher Aufgabenstellung und den Forschungshandlungen kollaborativer, global verknüpfter Wissenschaftsakteure sein. Zu erwarten sind massive Einsichten zur Funktion moderner Wissenschaften nicht nur für die Corona-Forschung. Die Befunde werden Leitideen für die optimale Gestaltung des globalen wissenschaftlichen Innovationsvermögens für alle drängenden wissenschaftlichen zukünftiger Aufgaben geben. Das Corona Science Observatory wird die globalen wissenschaftlichen Aktivitäten mit ihrem gesellschaftlichen Kontext täglich dokumentieren: Der Screenshot vom 25. April 2020 zeigt noch einen damaligen Bestand von 16453 Publikationen, 228 Datensätzen, 29 Patenten und 1754 klinische Studien, der bereits vollständig aufbereitet und in die Daten des Corona Science Observatory integriert sind. Die Explosion der von einzelnen Forschern kaum noch zu überschauenden Flut an Publikation zeigt den aktuellen Publikationsstand.

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Abbildung 1: Ergebnis des Literaturfilters für Publikationen zur Coronaforschung

2. Nachrichten und social media Täglich werden nicht nur die Neuerscheinungen wissenschaftlichen Literatur integriert. Auch die Altmetrics der social media auf alle wissenschaftlichen Publikationen und die öffentlichen Medienberichte mit Bezug auf einzelne Publikationen wird täglich ausgewertet. Die Beispielpublikation verzeichnet 215 für alle benutzbar/zugänglich Erwähnungen: An diesem Tag zitieren 125 andere wissenschaftliche Publikationen diesen Artikel, auf den in 11 öffentlichen Nachrichtenkanälen Bezug genommen wird. Die

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Abbildung 2: Auszug Metadaten einer wissenschaftlichen Publikation

Quellen und Verlinkungen dieser externen Informationsbezüge werden im Datenbestand täglich aufgezeichnet, sodass ihre zeitliche Entwicklung dargestellt werden. Die wissenschaftlichen Lösungen der Herausforderungen der Pandemie werden ohne eine weltweit kollaborative wissenschaftliche Anstrengung nicht zu bewältigen sein. Die „science-based“ gesellschaftlichen Maßnahmen müssen dabei auf eine hochgradig innovative Forschungsdynamik reagieren. Umgekehrt antworten die Forschungsaktivitäten sensitiv auf sich schnell verändernde externe Rahmenbedingungen. Die innovativen Prozesse des Netzwerks an wissenschaftlichen Informationsflüssen werden mit neuartigen Methoden der algorithmischen Inhaltserschließung erhoben und hinsichtlich der genannten Zielsetzungen untersucht. Erwartet werden neue

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Einsichten in die Innovationsbedingungen moderner kollaborativer Wissenschaft, die sich den aktuellen Herausforderungen der Gesellschaften des 21. Jahrhunderts stellen. Integraler Bestandteil der Datenerhebung ist eine vollständige maschinelle Inhaltserschließung der Volltexte mit den neu entwickelten Verfahren des machine learnings, begleitend zu den Forschungsprojekten des aktuell vom BMBF finanzierten Forschungsschwerpunkt des Berliner Zentrums for Machine Learning, jetzt integriert in das „Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data“ (BIFOLD, www.bifold.berlin). Die Publikationen umfassen alle in großen Publikationskatalogen gelisteten Veröffentlichungen aller großen Verlage und Preprint-Server. Begleitereignisse in Politik und Gesellschaft werden synchron auf der Basis von Nachrichtenkanälen dokumentiert. Regionale Studienschwerpunkte bilden die Forschungsinstitutionen Europas, Nordamerikas und als besondere Vertiefungsstudie die Forschung in China. Die von uns erstellte Karte der nach Publikationszahl verschieden gefärbten Länder der

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Forschungsstandorte zeigt die weit gestreute internationale wissenschaftliche Aktivität Anfang Mai 2020.

Im ersten Quartal 2020 konnten mit Stichtag 3. Mai 2020 spezifisch zur CoronaForschung schon 21364 wissenschaftliche Publikationen, 266 Datensätze, 29 Patente und 2186 klinische Studien nachgewiesen werden, mit einer wöchentlichen Steigerung von mehr als 10 %. Die gesamte Publikationsdichte und die enorme Zahl involvierter Wissenschaftler sowie aktiv beteiligter Forschungsinstitute ist in der Geschichte der Wissenschaften beispiellos. Seit Jahresanfang erschienen für die Corona-Forschung über eine halbe Million eigenständige relevante Veröffentlichungen von Publikationen einschließlich der Querzitate. Die Verteilung der Publikationshäufigkeit von Forschungsinstitutionen je Förderinstitution sortiert nach Häufigkeit zeigt bereits die internationale riesige Streuung im kleinen Ausschnitt von mehreren tausend publizierenden Institutionen. Zusammen mit diesen enormen Forschungsaktivitäten ändert sich derzeit die Arbeitsweise der hochgradig kollaborativen Forschungsanstrengung fundamental. Die wissenschaftlichen Institutionen und Verlage stellen die allermeisten Publikationen open access auf akademischen Preprint-Server, den Webseiten der großen wissenschaftlichen Gesellschaften und den Zeitschriftenportalen der Wissenschaftsverlagen. Die höchste Zahl der Publikationen erscheint mittlerweile als Preprint. Die Abwägung zwischen Publikationsgeschwindigkeit einerseits und einer bislang durch peer-review Verfahren praktizierten Qualitätskontrollen andererseits wird derzeit durch dynamische Kritikverfahren ersetzt. Obwohl die Forschung mit verteilten Datengrundlagen, koordinierten empirischen Studien und stark fragmentierten For-

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schungsmitteln – von Software, Instrumenten, Techniken, Arbeitsverfahren bis zu Modellorganismen – immer arbeitsteiliger wird, übernehmen Datenrepositorien und Publikationsportale Aufgaben der kontrollierten Integration des Wissens. Dieses Wissen ist die alleinige Grundlage vernünftigen politischen Handelns. Literatur Baumgartner, M./Graßhoff, G.: Kausalität und Kausales Schliessen. Bern Studies in the History and Philosophy of Science, Bern 2003. Graßhoff, G.: Innovation – Begriffe und Thesen, in: Graßhoff, G./Schwinges, R.C. (Hrsg.), Innovationskultur. vdf Hochschulverlag, Zürich 2008, pp. 13 – 32. Graßhoff, G.: The discovery of the Urea Cycle: Computer models of scientific discovery, in: Ahrweiler, Petra/Gilbert, Nigel (ed.), Computer Simulations in Science and Technology Studies. Springer, Berlin 1998a, pp. 71 – 90. Graßhoff, G.: Modelling the astrophysical object SS 433: methodology of model construction by a research collective. Philosophia Naturalis 35, 1998b, pp. 161 – 199. Graßhoff, G./Christlieb, N.: Strukturen wissenschaftlicher Modellbildung. Die Entwicklung des Kinematischen Modells für das astrophysikalische Objekt SS 433, Hamburger Philosophische Studien. Philosophisches Institut der Universität Hamburg, Hamburg 1994. Graßhoff, G./May, M.: Hans Krebs’ and Kurt Henseleit’s Laboratory Notebooks and their discovery of the Urea Cycle – reconstructed with computer models, in: Holmes, Frederic L./ Rheinberger, Hans-Jörg/Renn, Jürgen (ed.), Reworking the Bench. Research Notebooks in the History of Science. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2003, pp. 269 – 294. Graßhoff, G./May, M.: Causal Regularities, in: Spohn, W./Ledwig, M./Esfeld, M. (eds.), Current Issues in Causation. Mentis Verlag, Münster 2001, pp. 85 – 114.

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Graßhoff, G./May, M.: Methodische Analyse wissenschaftlicher Entdeckungen. Kognitionswissenschaft 5, 1995, S. 51 – 67. Graßhoff, G./Schneegans, M.: Experimentation and Methodology. Applied to Cold Fusion Research. Philosophia Naturalis 32, 1995, S. 47 – 70. Kulkarni, D./Simon, H. A.: The processes of scientific discovery: The strategy of experimentation. Cognitive Science 12, pp. 139 – 175. 1988, https://doi.org/10.1016/0364 – 0213(88) 90020-1. Nickelsen, K./Graßhoff, G.: In pursuit of formaldehyde: Causally explanatory models and falsification. Studies in History and Philosophy of Science; Part C: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 42, 2011, pp. 297 – 305. Nickelsen, K./Graßhoff, G.: Concepts from the Bench. Krebs and the Urea Cycle, in: Hon, G./ Schickore, J./Steinle, F. (eds.), Going Amiss in Experimental Research. Springer, Boston 2009, pp. 91 – 117.

Anmerkungen zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Zuge der Covid-19-Pandemie – Korreferat zu Gerd Graßhoff – Von Detlef Aufderheide

I. Einleitung Gleich mehrere gesellschaftlich, wirtschaftlich und damit nicht zuletzt politisch hoch relevante Fragen, Herausforderungen und Aufgaben stehen seit einiger Zeit auf der Agenda, die augenscheinlich mehrere Aspekte gemeinsam haben: (i) höchst unterschiedliche Auffassungen über den angemessenen Umgang mit den Herausforderungen, (ii) die von einigen oder allen, durch Wortmeldungen oder Veröffentlichungen, Beteiligten geäußerte Auffassung, dass Fehlentscheidungen dramatisch negative Folgen für die Gesellschaft oder die ganze Welt nach sich ziehen werden, (iii) verbreitet emotionale, bisweilen sehr emotionale Verhaltensweisen und Äußerungen von Beteiligten. Diese Gemeinsamkeiten dürften sich beim Blick in historische Dokumente auch für frühere Phasen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland identifizieren lassen.1 In Fragen der Bewältigung der Covid-19-Pandemie und weiterer Entscheidungskonflikte der Gegenwart kommt, jedenfalls allem Anschein nach, eine Besonderheit hinzu: Das Scheitern rationaler öffentlicher Debatten oder sogar die nicht selten wechselseitige Weigerung von Beteiligten, in eine solche Debatte überhaupt einzutreten. Debattenbeiträge und Sachargumente werden, so der häufig anzutreffende Eindruck, immer wieder substituiert durch gruppenbezogene Attacken oder personenbezogene Angriffe ad hominem. Das jeweilige Ziel liegt, soweit erkennbar, in der persönlichen Herabsetzung der jeweils anderen Seite, verbunden mit der Insinuation, dass sich damit eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gegenseite erübrige. Auch wenn Beobachtungen der beschriebenen Art – selbstverständlich – nicht für alle Diskurse gelten, ist doch eine gewisse Verbreitung zu konstatie1

Man denke nur an die Gründung der Bundeswehr bzw. die Wiederbewaffnung in den 1950er-Jahren, den Vietnam-Krieg und die beginnende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in den 1960er-Jahren, verstärkt auftretenden linksextremen Terrorismus in den 1970er-Jahren, die Nachrüstung in den frühen 1980er-Jahren oder die Wiedervereinigung in den späten 1980er-Jahren und danach.

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ren. Ähnliches scheint sich auch bei Themen wie Klimawandel, Energiepolitik oder, seit Februar 2022, Krieg in Europa wiederholt zu ereignen. Es mag an dieser Stelle offen bleiben – und nicht zuletzt Gegenstand weiterer Forschung verschiedener Disziplinen sein –, inwieweit dazu die sogenannten sozialen Medien oder insgesamt die durch das Internet ermöglichte rasche, reichweitenstarke Verbreitung von unvermittelten Äußerungen beigetragen hat oder haben könnte. Vielmehr sollen vor dem Hintergrund der skizzierten Beobachtungen im Folgenden zwei Thesen in Erinnerung gerufen werden. Erstens: Wissenschaft und etablierte Medien können, durch Übermittlung von Informationen bzw. Inhalten unterschiedlicher Art, wesentlich zur Entschärfung hoch emotionaler Debatten sowie zur Vorbereitung rationaler demokratischer Entscheidungen beitragen, die dann auch von der jeweils überstimmten Minderheit akzeptiert werden können – Stichwort Legitimation durch Verfahren2. Zweitens: Dass dies in den aktuellen Debatten, insbesondere im Zuge der Covid19-Pandemie, allem Anschein nach bisher nicht gelungen ist, lässt sich teilweise auf eine problemrelevante Verwechslung bzw. Vermengung unterschiedlicher Aussagenkategorien zurückführen, in denen Wissenschaftler3 und Journalisten kommunizieren. Dabei kann die erwähnte Verwechslung oder (gegebenenfalls bewusste oder unbewusste) Vermengung bei Sendern oder Empfängern der jeweiligen Informationen – oder auf beiden Seiten – auftreten. Die erste These bedarf offenkundig keiner weiteren Erläuterung, ihre Geltung darf als common sense unterstellt werden. Mit den nachfolgenden Ausführungen soll die zweite These skizziert und begründet werden. Gewissermaßen vor die Klammer zu ziehen sind dabei gegebenenfalls Fälle von grundsätzlicher beziehungsweise vorsätzlicher Diskursabwehr, die Gerd Graßhoff fundiert und anschaulich ausführt4 und auf die hier nicht vertiefend einzugehen ist.

II. Aussagen zur Pandemie – Kriterien rationaler Kritik Es erweist sich, auch unter Nutzung der einschlägigen, umfänglich vorhandenen wissenschaftstheoretischen Literatur, auch hier als zweckmäßig, holzschnittartig zwei Kategorien von Aussagen voneinander zu unterscheiden, die sowohl in den Wissenschaften als auch in den Medien Verwendung finden. Sie können – nicht: müssen – 2

Luhmann (1983). Der Verfasser bejaht und unterstützt aktiv die Bemühungen um Geschlechtergerechtigkeit und insbesondere die Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit und zur Vermeidung einer Sexualisierung von Sachkontexten wird hier jeweils das generische Femininum oder Maskulinum verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung jeweils grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform beinhaltet keine Wertung. 4 Vgl. Graßhoff (2023). 3

Anmerkungen zur Rolle von Wissenschaft und Medien

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allesamt im (politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen) Diskurs sowohl zum Erkenntnisgewinn beitragen als auch der Kritik unterzogen werden, jedoch jeweils auf unterschiedliche Weise. Sie seien (auch) hier, ebenfalls vereinfachend, bezeichnet als (1) erklärende und (2) bewertende Aussagen. Die Unterscheidung der beiden erstgenannten Kategorien, (1) Erklärung und (2) Bewertung, nimmt Bezug auf den Werturteilsstreit in Soziologie und Ökonomik, konkret auf den Aufsatz Max Webers zur Objektivität in den Sozialwissenschaften5, und muss hier als solche nicht näher erläutert werden. Wichtig ist festzuhalten, dass die erstgenannte Kategorie – Erklärung bzw., wenn auf die Zukunft ausgerichtet, Prognose – auf die Gewinnung von Erkenntnisgewinn durch Hypothesen über Kausalzusammenhänge setzt, etwa in der Art: „Wenn bestimmte Ausgangsbedingungen gegeben sind und sich ein exogener Parameter P oder eine endogene Variable V ändert – also, im sozialwissenschaftlich relevanten Kontext, eine Entscheidung herbeigeführt wird –, dann treten mit hoher Wahrscheinlichkeit Folgen F und Nebenfolgen N ein.“ Aussagen dieser Art – das ist im aktuellen Kontext das Entscheidende – sind zumindest prinzipiell empirisch überprüfbar, etwa durch wiederholte Experimente und zugehörige Beobachtungen.6 Der wichtige Zusatz – prinzipiell – weist dabei zum einen auf die Komplexität der Forschungsgegenstände in der Moderne hin – im Kontext: Corona-Virus! Covid-19! –, zum anderen aber auch auf die grundsätzliche Fallibilität auch von Beobachtungen: Auch diese sind bereits beeinflusst von der Theorie, die der Beobachter zum Einsatz bringt, oder kurz: theorie-imprägniert7. Hier dürfte selbst bei Betrachtung ein und derselben Datenlage einer der Gründe für einander teilweise widersprechende Hypothesen – Erklärungen und Prognosen – der Virologen C. Drosten und H. Streeck liegen, da die Daten von ihnen im Zuge der Pandemie und der Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung allem Anschein nach jeweils unterschiedlich interpretiert und eingeordnet wurden. Unser Wissen ist eben immer als (nur) vorläufig zu betrachten.8 Diese Einschränkungen in Sachen Fallibilität vorweggenommen, verhält es sich kategorial anders mit Aussagen vom zweiten Typ, d. h. Bewertungen oder – hier synonym zu verwenden – Werturteilen in den Wissenschaften und in der Wissenschaftskommunikation über die Publikumsmedien, zu denen auch das vor allem von C. Drosten (und gelegentlich von H. Streeck) intensiv genutzte Format der Podcasts, 5

Vgl., statt vieler, zugleich als loci classici: Weber (1922, 1988) sowie Albert (1991). Vgl. insofern Graßhoff (2023). 7 „Our observational experiences are never beyond being tested; and they are impregnated with theories“ Popper (1934, 2002), S. 94 (Addendum, 1972). 8 Bemerkenswerterweise ergebnisoffen ist die Diskussion aktuell – im Frühjahr 2023 – bei näherem Hinsehen auch wieder bei vier von fünf Beispielen, die bei G. Graßhoff für vermeintlich unsinnige Skepsis gegenüber – ebenso vermeintlich – objektiven wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen, namentlich: zum Ursprung des Corona-Virus, zur potentiellen Verbreitung des Virus durch Kinder in Schulen, zu (direkten und indirekten, virus- und maßnahmenbedingten) Opferzahlen in der Gesamtschau beim Vergleich mit Schweden sowie zu mögliche Folgeschäden von Impfungen und ihrer Risikoabwägung im Einzelfall. 6

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die unter anderem über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und außerdem via Internet verfügbar gemacht wurden. Darin haben die Genannten sich nicht auf die – allgemein als sehr erhellend empfundenen – wissenschaftlichen Erklärungen, insbesondere die rasanten Fortschritte in Sachen Erkenntnisgewinn und Fehlerkorrektur – beschränkt, sondern auch bewertende Stellungnahmen in Form politisch relevanter Empfehlungen abgegeben, etwa zur Maskenpflicht oder zur Schließung von öffentlichen Einrichtungen, privaten Betrieben oder Schulen und Kindertagesstätten.

III. Bewertung und seriöse Kommunikation Es steht außer Frage, dass Wissenschaftler sich mit guten Gründen mit ihrer jeweiligen Expertise auch und gerade im Zuge der Pandemie beratend und empfehlend engagiert haben und weiterhin engagieren. Auch ist als zutreffend festzuhalten, dass Werturteile als solche einer rationalen Kritik unterworfen werden können – „[d]ie Kritik macht vor Werturteilen nicht halt“9. Als selbstverständlich darf (inzwischen) außerdem auch gelten, dass eine wissenschaftlich seriöse Reflexion von Werturteilen sich nicht auf die Diskussion verfügbarer Mittel zu gegebenen Zwecken zu beschränken hat.10 Vielmehr ergibt im hier besonders interessierenden Zusammenhang zum einen die Möglichkeit, etwa einen Irrtum der Politik im Blick auf ein Ziel aufzudecken, wenn sich alle verfügbaren Mittel zur Erreichung des gewünschten Ziels als ungeeignet erweisen können – Stichwort etwa „Zero Covid“. Zum anderen bietet sich – schon bei M. Weber bemerkenswert klar formuliert – die wissenschaftliche Klärung und Erklärung (!) von Zusammenhängen in dem Sinne an, dass Folgen und – von den Entscheidern erwünschte wie unerwünschte – Nebenfolgen (!) aufzudecken sind. Ohne jeden Verlust wissenschaftlicher Seriosität und gegebenenfalls Autorität können Zielkonflikte – Tradeoffs – beleuchtet werden. Da grundsätzlich bei jeder politischen Entscheidung Vor- und Nachteile, Gewinner und Verlierer zu erwarten sind, kann aber eben nicht mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden in irgendeiner Form „bewiesen“ werden, ob die eine oder die andere Maßnahme mit ihren je unterschiedlichen Folgen und Nebenfolgen die „bessere“ sei: Die

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Weber (1922, 1988), S. 149. „Denn daß man von einem bestimmten Zweck als gemeinsam gewollt ausgehen und nur die Mittel, ihn zu erreichen, diskutieren kann und daß dies dann eine rein empirisch zu erledigende Diskussion ergeben kann, – das ist wohl noch nie jemandem zu bestreiten eingefallen. Aber gerade um die Wahl der Zwecke (und nicht: der ‘Mittel’ bei fest gegebenem Zweck), gerade darum also, in welchem Sinn die Wertung, die der Einzelne zugrunde legt, eben nicht als ‘Tatsache’ hingenommen, sondern zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Kritik gemacht werden könne, dreht sich ja die ganze Erörterung“ Weber (1922, 1988), S. 501 f., Herv. i. Orig. Zu einer ausführlicheren Erörterung vgl. z. B. Aufderheide (1993, 1995), S. 77 ff. m. w. N. 10

Anmerkungen zur Rolle von Wissenschaft und Medien

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Verantwortung liegt stets in den Händen der dazu legitimierten Personen und/oder Gremien, Parlamente etc.

IV. Anlass zur Kritik und (mangelnde) Seriosität Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn Wissenschaftler gleichwohl konkrete Empfehlungen aussprechen, die nicht eindeutig als nur hypothetische Anregungen (!) gekennzeichnet werden. Die jeweils kommunizierenden Akteure äußern sich dann gerade nicht mit der (vermeintlichen) Autorität der Wissenschaft, sondern eben als fachlich gebildete – und gegebenenfalls in ihrem Fach renommierte – Mitglieder der Gesellschaft, in der sie agieren. In gewisser Weise erschwerend tritt hinzu, dass – im Zuge der Pandemie und auch jetzt noch (mit Drucklegung im Frühjahr 2023) – der Eindruck entsteht oder erweckt wird, es gebe so etwas wie „die“ Wissenschaft, die „die“ relevanten Erkenntnisse hervorbringe. Das verdeckt die – eigentlich längst gewonnene – Erkenntnis, dass im Zuge der weitreichenden Spezialisierung zwischen den Wissenschaften (im Plural), aber auch und sogar innerhalb einer Profession denknotwendig immer nur ein Ausschnitt „der Realität“ betrachtet wird, so wie ein Scheinwerfer ein scharf konturiertes und zugleich scharf konturierendes, helles Licht auf Teile der Bühne wirft und zugleich zahlreiche Dinge buchstäblich im Dunkeln lässt und lassen muss. Dies hat, insbesondere in den Naturwissenschaften, aber auch in den Sozialwissenschaften beeindruckende Erkenntnisfortschritte gebracht – aber eben nur für die jeweils gewählten Problemstellungen bzw. Perspektiven. Anders gesagt: Es gibt keine ,rohen Fakten‘ als solche, keine facta bruta.11 Während der Covid-19-Pandemie dagegen dominierte, wie inzwischen vielfach durch Studien belegt, eine virologisch geprägte Sicht – wobei eben sogar innerhalb der Profession geäußerte unterschiedliche Interpretationen in der medialen Kommunikation allem Anschein nach nur mit starker Orientierung an einer ganz bestimmten Perspektive zur Geltung gelangten. Dies war und ist umso fragwürdiger, wenn – inhaltlich naive – Slogans wie „Follow the Science!“ verbreitet werden, die den Umstand der weitreichenden Ausdifferenzierung moderner Wissenschaften (im Plural!) im Ergebnis konterkarieren oder bewusst ignorieren und etwa psychologische oder sozialwissenschaftliche Erkenntnisse beiseite schieben – Stichwort gesundheitliche (!), wirtschaftliche und gesellschaftliche Lockdownfolgen.12 Es darf vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass gesellschaftliche Diskurse zum Teil schweren Schaden genommen haben.

11 Siehe dazu wiederholt Beiträge von K. Homann, etwa auch Homann (2003), insbes. S. 14. 12 Siehe hierzu auch Lohse/Canali (2021).

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Detlef Aufderheide

Literatur Albert, Hans (1991): Traktat über kritische Vernunft, Tübingen: Mohr Siebeck. Aufderheide, Detlef (1993, 1995): Unternehmer, Ethos und Ökonomik. Moral und unternehmerischer Gewinn aus der Sicht der Neuen Institutionenökonomik. Berlin: Duncker & Humblot 1995 (zugleich Dissertation, Münster 1993). Graßhoff, Gerd (2023): Zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Verlauf der Corona-Pandemie, in diesem Band. Homann, Karl (2003): Braucht die Wirtschaftsethik eine „moralische Motivation“?, Wittenberg Center for Global Ethics Discussion Paper No. 03/4. Lohse, Simon/Canali, Stefano (2021): Follow *the* science? On the marginal role of the social sciences in the COVID-19 pandemic. European Journal for Philosophy of Science 11 (4) 9, doi 10.1007/s13194-021-00416-y, letzter Abruf: 11. 05. 2023. Luhmann, Niklas (1983): Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Popper, Karl R. (1934/1935, 2002): The Logic of Scientific Discovery, London, New York: Routledge 2002, zuerst in deutscher Sprache: Logik der Forschung, Wien: Julius Springer 1934/1935. Weber, Max (1922, 1988): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck.

Wissen und Handeln. Überlegungen zur Rolle der Wissenschaften während der Covid-Pandemie – Korreferat zu Gerd Graßhoff – Von Uta Müller

Einführung Die Corona-Pandemie nach 2020 hat nicht nur viel Leid, viele Tote1 und soziale Konflikte zur Folge, sondern ist auch Ursache von Veränderungen der Arbeits- und Sichtweise der Wissenschaften und ihrer Rolle für politische Entscheidungen. In dem Beitrag von Gerd Graßhoff „Zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Verlauf der Corona-Pandemie“ (in diesem Band) werden die Entwicklungen der Wissenschaften und ihrer Kommunikation in die Gesellschaft, auch anhand von konkreten Beispielen dargestellt, dabei legt der Autor besonderen Augenmerk auf die Rolle der digitalen Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse. In meinem Beitrag werde ich nicht auf alle vom Autor beschriebenen Beispiele der Entwicklung der Wissenschaftskommunikation während der Corona-Pandemie eingehen, sondern ich möchte mich auf zwei Themen konzentrieren, die für die Rolle der Wissenschaften in unseren modernen Gesellschaften von Bedeutung sind: Erstens möchte ich mich kurz der grundlegenden Frage widmen, inwiefern Wissen – damit sind auch wissenschaftliche Erkenntnisse gemeint – für menschliches Handeln relevant ist (I.); zweitens möchte ich eine Perspektive skizzieren, wie Wissenschaft im Kontext einer modernen Industriegesellschaft zu verstehen ist (II.). Beide Fragen – die miteinander verknüpft sind – hängen mit der Thematik der Wissenschaftskommunikation zusammen. Sie werden von Gerd Graßhoff in dem genannten Text auch angesprochen, allerdings vorrangig aus einer wissenschaftsinternen Sicht. Bei der Beantwortung der beiden Fragen werden Überlegungen der Ethik, insbesondere der Wissenschaftsethik, notwendig. Diese Überlegungen sind für Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft von Bedeutung, deswegen werde ich auf die Rolle der Wissenschaften in unserer Gesellschaft eingehen. Meine Überlegungen sind also als ergänzende Gedanken zu den Ausführungen des Autors zu verstehen. 1

Weltweit bislang ca. 6,6 Mio.; vgl. Sentker, Verräterische Muster.

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I. Wissen und Handeln Man kann der Beschreibung im Beitrag von Gerd Graßhoff zustimmen, dass die Wissenschaften in den modernen Industriegesellschaften Orientierungswissen für Gesellschaft und Politik zur Verfügung stellen, das Entscheidungen und Handlungen von Expert*innen und Politiker*innen begründen und rechtfertigen soll (Graßhoff, Zur Rolle von Wissenschaft, S. 82). Diese Aufgabe stellte die Wissenschaften während der Corona-Pandemie vor allem in der Anfangszeit der Pandemie im Jahr 2020 vor besondere Herausforderungen. Den theoretischen Erläuterungen von Wissen und Wissenschaft, die der Autor in seinem Text vorstellt, kann grundsätzlich zugestimmt werden. Was die Rechtfertigung von Handlungsentscheidungen betrifft, sind aber manche Aussagen aus einer handlungstheoretischen und wissenschaftsethischen Perspektive erklärungsbedürftig. Unbestritten ist, dass wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse etwa über die Eigenschaften des Corona-Virus, die Infektuosität von Personen(gruppen), die statistischen Berechnungen zu den möglichen Folgen der Erkrankungen, etc. für die Entscheidungen von Individuen und – noch wichtiger – für die Entscheidungen von politisch Verantwortlichen von zentraler Bedeutung waren und sind. Allerdings ist die Aussage zur Wissenschaftsrelevanz: „Politische, gesellschaftliche und kulturelle Reaktionen zur Corona-Pandemie können ihre Tatsachenbeurteilung nur mit wissenschaftlichem Wissen rechtfertigen“ (Graßhoff, S. 83, meine Hervorhebung, UM) nicht ohne Weiteres zuzustimmen. Die nächste These: „Nur solche Handlungen sind gerechtfertigt, die wissenschaftlich zu rechtfertigen sind.“ (ebd., meine Hervorhebung, UM), kann m. E. in dieser Schärfe nicht verteidigt werden. Deswegen widme ich mich im Folgenden der Rolle des (wissenschaftlichen) Wissens für die Begründung bzw. Rechtfertigung von Handlungsentscheidungen; diese Überlegungen sind auch für die (politischen) Entscheidungen während der Corona-Pandemie von Relevanz. Sehr viele unserer Handlungen haben Gründe, die nicht „wissenschaftlich zu rechtfertigen“ sind und dennoch Handlungen ausreichend begründen: Ich spanne den Regenschirm auf, wenn es regnet und ich aus dem Haus gehe; wir helfen Menschen, wenn sie aktuell in einer Notlage sind, etc.: „Unsere alltäglichen deskriptiven Überzeugungen, die unser Handeln leiten, werden nicht durch wissenschaftliche Theorien geleitet.“ (Nida-Rümelin, Normatives Orientierungswissen, S. 106 f.). Nun könnte man einwenden, dass dies zwar für unser Alltagshandeln gelten mag, aber für politische Handlungsentscheidungen – etwa die eines Gesundheitsministers während einer Pandemie – andere Rechtfertigungsansprüche gelten. Diese Entscheidungen haben in der Tat andere Qualitäten als die Frage, ob man mit oder ohne Regenschirm aus dem Haus gehen soll. Entscheidungen über einen Lockdown, über die Schließung von Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten, etc. haben ernsthafte Folgen für sehr viele Bürger*innen. Allerdings sind die handlungstheoretischen Grundüberlegungen nicht grundsätzlich verschieden.

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Die meisten Entscheidungen, auch in Politik und Fachgremien, die die Politik beraten, können nicht allein mit Bezug auf wissenschaftliche Fakten getroffen werden. Mit politischen Entscheidungen und Handlungen sind in der Regel bestimmte Ziele (und Mittel) verbunden, für deren Rechtfertigung nicht nur die Wissenschaften argumentieren können. Wenn die Ziele genauer analysiert werden, stellt sich in vielen Fällen heraus, dass manche Ziele moralisch begründet werden müssen – in vielen Fällen sind auch die Methoden, die Ziele zu erreichen – umstritten. In solchen Fällen ist eine Auseinandersetzung über moralische Überzeugungen, Argumente und Begründungen für eine Klärung der richtigen, d. h. gerechtfertigten, Entscheidungen unerlässlich – m.a.W. es muss ethisch argumentiert werden. Wir haben während der Corona-Pandemie gesehen, wie in vielen Gremien, auf unterschiedlichen Ebenen und in den Medien ethische Debatten geführt wurden.2 Zur Klärung des Zusammenhangs von wissenschaftlichem Wissen und rechtfertigenden Begründungen von Handlungen möchte ich den Fall diskutieren, der auch im Text von Gerd Graßhoff diskutiert wird (vgl. S. 88 ff.). Es ging im Frühsommer 2020 um die Frage, ob Kinder hinsichtlich des CoronaVirus genauso ansteckend sind wie Erwachsene und welche Folgen daraus für die damals geplante Öffnung von Kitas und Schulen zu ziehen seien. Die Autor*innen einer wissenschaftlichen Studie in der Zeitschrift Nature, darunter auch der Virologe Christian Drosten des Klinikums der Humboldt-Universität zu Berlin (Charité), veröffentlichten eine empirische Studie und schrieben: „Based on these results, we have to caution against an unlimited re-opening of schools and kindergartens in the present situation. Children may be as infectious as adults.“3 In diesem kurzen Zitat aus dem Nature-Artikel findet sich eine Handlungsempfehlung, die zwar auf einer wissenschaftlichen Studie basiert4, aber die im Zitat enthaltene praktische Handlungsempfehlung „we have to caution against an unlimited reopening of schools and kindergartens“ (vgl. oben), ist nicht nur mit dem Ergebnis der wissenschaftlichen Studie über die Infektuosität von Kindern zu rechtfertigen. Das normative Argument, das nötig ist, um die Öffnung von Schulen und Kitas in Frage zu stellen, wird nicht explizit ausformuliert, ist aber für eine Handlungsbegründung unerlässlich. Wahrscheinlich hätten die Autor*innen die Argumentation zutreffend explizieren können, hätte man sie gefragt. Von Seiten einer (ethischen) Handlungsbegründung kann man sie folgendermaßen rekonstruieren:

2 Vgl. die Debatten des Deutschen Ethikrats; eine Zusammenfassung von ethischen Argumenten findet sich in dem Vortrag der Vorsitzenden des Ethikrats, Prof. Dr. Alena Buyx: Ethik in der Pandemie. 3 Jones et al.: An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age. 4 In den Medien war die Qualität der empirischen Studie Thema von Kritik, und die Autor*innen haben auf diese Kritik auch entsprechend wissenschaftlichen Gepflogenheiten reagiert; dies ist aber hier nicht mein Thema.

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1. Deskriptives Argument: Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. 2. Normatives Argument: Ansteckungen müssen verhindert werden, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. 3. Schluss: Schulen und Kitas sollten nicht uneingeschränkt geöffnet werden.5 In der Medien-Debatte nach der Veröffentlichung der Studie wurde zunächst die Qualität der wissenschaftlichen Untersuchung, das deskriptive Argument, kritisch unter die Lupe genommen. In den späteren Diskussionen war allerdings das normative Ziel, Ansteckungen mit dem Corona-Virus um jeden Preis zu verhindern, um die Bevölkerung zu schützen, das kontrovers diskutiertes Thema. Denn es kann mit Recht gefragt werden, warum Ansteckungen auf jeden Fall verhindert werden müssen. In den Auseinandersetzungen wurde deutlich gemacht, welche Folgen die Entscheidungen, Ansteckungen durch die Schließung von Kitas, durch die Abschottung von Alten- und Pflegeheimen, etc. haben können bzw. hatten, beispielsweise soziale Isolation der Kinder, die in den Kitas und Schulen keine Kontakte zu Gleichaltrigen hatten;6 Einsamkeit und damit verbundenes Leiden von Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen, etc. Dies bedeutet, dass eine Infragestellung der normativen Prämisse („Ansteckungen müssen verhindert werden“) eine andere Handlungsentscheidung als Schulen und Kitas zu schließen, zur Folge haben kann. Anders formuliert: Wenn man das Risiko von Infektionen in Kitas in Kauf nehmen würde, könnte nicht (ohne Weiteres) für die Schließung der Einrichtungen argumentiert werden. Die wissenschaftlichen (empirischen) Erkenntnisse allein rechtfertigen also in der Regel keine Handlungen, sondern mitentscheidend sind die normativen Argumente. Wir haben es in diesem Kontext mit „hybriden“ Aussagen zu tun, genauer, mit epistemisch-moralischen Aussagen, die für eine überzeugende Grundlage einer Handlung sowohl begründete faktische (wissenschaftliche) Erkenntnisse bezüglich der Infektuosität von Kindern als auch normative Argumente benötigen, etwa dass zum Schutz der Gesundheit Infektionen verhindert werden sollen.7 Die meisten Entscheidungen in Politik oder Fachgremien werden nicht rein wissenschaftlich gerechtfertigt, sondern mit normativen (auch ethischen) Argumenten. Entscheidungen dieser Art verlangen also fundierte Auseinandersetzungen mit normativen, d. h. ethischen, rechtlichen, sozialen, Argumenten. Diskussionen dieser Art wurden, zumindest zu Beginn der Pandemie, zu wenig ernsthaft betrieben und es wurden in Politik und Gesellschaft – gemäß der ethischen, sozialen, ökonomischen, familienpolitischen etc. Bedingungen – teilweise falsche Entscheidungen getroffen: 5 Dieses logische Schlussmodell orientiert sich am sog. Praktischen Syllogismus, der ursprünglich von Aristoteles stammt; ein aktualisiertes Modell dieser ethischen Urteilsbildung hat Julia Dietrich entwickelt, in: Ethisch-Philosophische Grundlagenkompetenzen, S. 22 ff. 6 Vgl. etwa den Artikel von Jan Schweitzer in der ZEIT: „Bin ich gefährlich?“ 7 Vgl. zu den „epistemisch-moralischen Urteilen“ die Ausführungen von Thomas Potthast: Ethics and Sustainability beyond Hume, Moore and Weber – Taking Epistemic-Moral Hybrids Seriously.

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„In Deutschland wurden in der Bekämpfung des Sars-Cov-2 die größten Fehler gemacht, weil die Krisenmanager zuerst auf das Virus gestarrt und erst dann nach den Menschen gesehen haben“ (Sentker, Verräterische Muster).

II. Zur Rolle der Wissenschaften in modernen Gesellschaften Zu Recht betont Gerd Graßhoff den Anspruch der Wissenschaft(en) gesicherte Erkenntnisse zu liefern, d. h. nach den Standards der (jeweiligen) Wissenschaften begründetes Wissen. Über gute und überzeugende Begründung lässt sich streiten, aber sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften haben sich über lange Zeit bewährte Standards wissenschaftlichen Arbeitens etabliert, die in der Regel geeignet sind, Erkenntnisse zu bestätigen und nicht ausreichend gesicherte Aussagen oder Experimente als solche zu identifizieren und abzulehnen. Wie ebenfalls deutlich gemacht wurde, sind wissenschaftliche Erkenntnisse aber irrtumsanfällig und manchmal unsicher – wie uns die Corona-Pandemie auch gezeigt hat. Zu Beginn der Pandemie waren die wissenschaftlichen Kenntnisse über das Virus, seine Verbreitung, die medizinischen Folgen der Erkrankung noch nicht oder kaum vorhanden (trotz der Sars-CoV-1-Pandemie 2002/3). Die wissenschaftliche Forschung hatte es mit großer Unsicherheit zu tun. Selbst erfahrene Virolog*innen äußerten anfangs Vermutungen über das Virus und die von ihm verursachte Infektionen, die sich dann im Laufe der Zeit dank der Zunahme an (wissenschaftlich bestätigten) Kenntnissen als falsch erwiesen. Die Erwartungen von Medien und Öffentlichkeit an „die Wissenschaft“ waren (und sind) aber absolut sichere Erkenntnisse, die dann von Seiten der Politik als Grundlage und Rechtfertigung für Entscheidungen herangezogen werden können. Manche Wissenschaftler*innen versuchten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, auch wenn gerade zu Beginn der Pandemie, auch unter Expert*innen Ungewissheit und Unsicherheit herrschten. Neben der sachlichen Begrenztheit von wissenschaftlicher Forschung muss auch berücksichtigt werden, dass sie oft nicht in der Lage ist, Unsicherheit in komplexen Situationen zu verringern. Versuchen die Wissenschaften, ihre Ergebnisse gegenüber einer nicht-fachlichen Öffentlichkeit zu vermitteln ergeben sich immer wieder Fehler und Fehleinschätzungen.8 Dabei ist das Kommunizieren einer unsicheren Datenlage auch in den Wissenschaften nicht problematisch, selbst wenn damit den Erwartungen der Öffentlichkeit, dass „die Wissenschaft“ die richtigen Antworten möglichst schnell zu geben hat, nicht immer entsprochen werden kann. Scheitern und Rückschläge gehören ebenfalls zur Praxis der Wissenschaften und zur Arbeit von Forscher*innen. Während der Corona-Pandemie wurde, was etwa die Entwicklung eines Impfstoffes gegen die Coro8 „When science is used to suppress uncertainty – rather than to explore the sources of our ignorance – failures are likely“ (Saltelli, Andrea et al.: The Fallacy of Evidence-Based Policy, S. 47).

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na-Erkrankung betrifft, von Seiten der wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen sehr offen kommuniziert, dass dieser Prozess, mit allen Entwicklungsstufen, Tests und Versuchen an Menschen im klinischen Bereich, sehr lange dauern werde und mit Rückschlägen zu rechnen sei. Umso erfreulicher war die außerordentlich schnelle Entwicklung wirkungsvoller Impfstoffe. Die mit wissenschaftlicher Forschung verbundene Unsicherheit hat die Entscheidungen der Politik während der Corona-Pandemie nicht leichter gemacht: Hier zeigt sich, dass mehr Debatten mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen notwendig gewesen wären,9 um die Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen unterschiedlichen normativen Argumente bei anstehenden Entscheidungen berücksichtigen zu können (vgl. Nida-Rümelin, Normatives Orientierungswissen). Dabei haben die Medien die (schwierige) Aufgabe, die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln und dabei nicht zu sehr zu vereinfachen. Wissenschaft und Forschung sind komplex und sie sind (oft) nicht geeignet, einfache Lösungen herbeizuführen. Dabei ist auch zu bedenken, dass auch in den Darstellungen der Medien, die normativen Annahmen und Argumente oft implizit bleiben und nicht transparent zur Diskussion gestellt werden. Wenn aber wissenschaftlich fundierte und normativ begründete Entscheidungen angestrebt werden, sollten die Argumente – sowohl wissenschaftliche als auch normative – expliziert werden. Von den Medien zusammen mit den Wissenschaftler*innen selbst hätte von Beginn der Pandemie an deutlicher vermittelt werden können, dass Wissenschaft nicht in Elfenbeintürmen und abgeschotteten Laboren stattfindet, sondern im Austausch mit Kolleg*innen, in staatlichen oder privaten Forschungseinrichtungen, -laboren und Akademien.10 Die Forscher*innen verfolgen bestimmte wissenschaftliche Ziele (etwa: einen Impfstoff zu entwickeln), ihre Arbeit muss sich an unterschiedliche Ausstattung ihrer Arbeitsplätze und Labore, an finanzielle Rahmenbedingungen, personelle Gegebenheiten und gesellschaftlichen Ansprüchen anpassen. Hierbei kann es Defizite in der Qualität der Forschung geben, es können persönliche Ziele, wie Karriereambitionen, eine Rolle spielen, oder eben Fehler passieren. Anders ausgedrückt: Die Wissenschaften sind nicht reine Theorie, sondern auch Praxis, und Teil unserer Gesellschaft, die geprägt ist von normativen Einstellungen und Wer9 Es haben während der Pandemie ohne Zweifel gesellschaftliche Debatten stattgefunden, etwa zum Thema Freiheit versus Gesundheit, vgl. die Einschätzung der Vorsitzenden des deutschen Ethikrats: „Unsere Gesellschaft hat ständig über das beste Verhältnis zwischen Freiheit und Gesundheit diskutiert – und zwar in einer Art und Weise wie nie zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. […] Das hat die öffentliche Diskussion belastet. […] Trotzdem ist meine Einschätzung, dass wir das insgesamt als Gesellschaft, als Land ernsthaft getan haben, immer wieder. Das zeigt sich auch darin, dass die Maßnahmen bei uns im internationalen Vergleich nicht die striktesten waren, aber sicherlich auch nicht lockersten“ (Buyx, Eine Suche nach Schuldigen hilft überhaupt nicht). 10 Darauf legt auch der Text von Gerd Graßhoff großen Wert, vgl. den Abschnitt über „Soziale Epistemologie einer arbeitsteiligen Wissenskollaboration“. Allerdings ersetzt die Wissenschaftskollaboration nicht die Auseinandersetzung mit normativen Argumenten, um Handlungen begründen oder rechtfertigen zu können.

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tungen. Damit einher geht die Einschätzung, dass es zwar „die Wissenschaft“ der absoluten Wahrheiten – getrennt von der irrtumsanfälligen Praxis menschlichen Handelns nicht gibt, aber trotzdem der Anspruch der Wissenschaften, gesicherte Erkenntnisse und begründetes Wissen zu schaffen, berechtigt ist. Allerdings wird der grundsätzliche Anspruch, dass „die Wissenschaften“, namentlich die Naturwissenschaften, im Alleingang die meisten Probleme der Menschheit lösen können, heute nicht mehr ernsthaft vertreten.11 Während der Pandemie zeigte sich dies etwa darin, dass die medizinische Forschung zunächst versuchte, die Charakteristika des Corona-Virus, z. B. die molekulare Struktur, die Verwandtschaft mit anderen Viren und die Behandlung der Krankheitsfolgen etc. aufzuklären. Aber bereits wenn es um die Ansteckungsgefahr geht, werden in der Forschung praktische – nicht-medizinische – Überlegungen relevant: Wie genau die Ansteckung mit dem Corona-Virus wissenschaftlich untersucht wird, wird nämlich auch davon bestimmt, dass es Ziel der Forschung ist, zukünftige Ansteckungen und damit die Verbreitung des Virus zu vermeiden: „Normal Science has demonstrated great power in identifying viral structures, attachment sites, and pathogenic mechanisms. All these are essential for medical diagnostic and treatment regimes. However, to answer questions related to managing these technologies, including setting priorities when, for instance, respirators and hospital beds reach their limit, and for identifying how to reorganize institutional structures, Normal Science offers no guidance at all.“12 Die Lehren aus dem Umgang der mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und auch mit dem Anspruch an die Wissenschaften selbst, sind, dass es für Handlungsentscheidungen nicht zielführend ist, die Wissenschaften so zu betrachten, dass sie (theoretische) Kenntnisse zu Verfügung stellen, die die Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft auf die anstehenden praktischen Probleme „anwenden“. Die Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft ist komplizierter und von wechselseitiger Abhängigkeit geprägt: Gesellschaftliche, aber auch politische und wirtschaftliche, Ziele und Vorgaben haben Einfluss auf wissenschaftliche Forschung und Forschungspraxis. Die Ergebnisse der Forschungen haben wiederum Auswirkungen auf weitere Handlungsentscheidungen, sie werden mit diesem Ziel von politischen Akteuren in einem gesellschaftlichen Kontext interpretiert. In der Corona-Pandemie betrifft diese wechselseitige Beeinflussung etwa auch die Fragen, welche Menschen vor der Viruskrankheit besonders geschützt werden sollen, welche (negativen) Auswirkungen bestimmte Maßnahmen zur Eindämmung und Verbreitung haben, ob etwa Kitas und Schulen geschlossen oder geöffnet werden sollen oder nicht.13 11

Anders als in früheren Jahrhunderten, vgl. etwa bei Francis Bacon, Magnalia Naturae. Walter-Toews et al.: Post-Normal Pandemics: Why Covid 19 Requires a New Approach to Science. 13 In diesen Debatten zeigt sich, dass die strikte Trennung von Tatsachen und Werten nicht ohne Weiteres durchzuhalten ist: Tatsachen werden oft nach den mit ihnen verknüpften Werten unterschiedlich gesehen und beschrieben; Wertungen hängen stark von empirischen Tatsachen ab. Vgl. Hilary Putnam, The Collapse of the Fact/Value Dichotomy. 12

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Schließlich kann man auch noch feststellen, dass während der Corona-Pandemie – zumindest im ersten Jahr – die Ansprechparter*innen aus den Wissenschaften in der Regel aus dem Bereich der Naturwissenschaften kamen. Erst nach und nach hat sich herausgestellt, dass auch Erkenntnisse der Sozial- und Geisteswissenschaften in die gesellschaftliche Debatte über Entscheidungen zum Gesundheitsschutz, aber auch zum Umgang mit von den politischen Entscheidungen besonders betroffenen Personengruppen gehört werden sollten. Hierzu gehörten die Folgen des (strengen) Lockdowns für Kinder, Schüler*innen und Studierende, aber auch für Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen. Eine interdisziplinäre Kooperation zwischen naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Forschung im Dialog mit den betroffenen gesellschaftlichen Gruppen hätte womöglich viel Leid erspart. Es zeigt sich erneut, dass wissenschaftliche Expertise notwendig ist, aber nicht einzige Erkenntnisquelle für Entscheidungen und Handlungen sein kann. Literatur Bacon, Francis: Magnalia Naturae. In: Spedding, James/Ellis, Robert/Heath, Douglas (Hrsg.), The Works of Francis Bacon. Cambridge 2011, doi:10.1017/CBO9781139149563.011. Buyx, Alena: Ethik in der Pandemie. Beitrag in der Ringvorlesung der Universität Kiel „Die Corona-Virus-Pandemie und ihre Folgen“, April 2021, http://dx.doi.org/10.38072/978-3928794-82-4/p14. Buyx, Alena: Eine von Wut getriebene Suche nach Schuldigen hilft überhaupt nicht. Interview in: Die ZEIT. Januar 2023, https://www.zeit.de/gesundheit/2022-12/alena-buyx-corona-poli tik-pandemie-solidaritaet-interview. Dietrich, Julia: Ethisch-Philosophische Grundlagenkompetenzen, in: Maring, Matthias (Hrsg.), Ethisch-Philosophisches Grundlagenstudium. Ein Studienbuch. Münster 2004, S. 15 – 32. Graßhoff, Gerd: Zur Rolle von Wissenschaft und Medien im Verlauf der Corona-Pandemie. In diesem Band. Jones, Terry C. et al.: An analysis of SARS-CoV-2 viral load by patient age, in: Nature, 2020, https://doi.org/10.1038/s41586-020-2196-x. Nida-Rümelin, Julian: Normatives Orientierungswissen, in: ders., Ethische Essays. Frankfurt/ Main 2002, S. 96 – 112. Potthast, Thomas: Ethics and Sustainability beyond Hume, Moore and Weber – Taking Epistemic-Morals Hybrids Seriously, in: Meisch, Simon et al. (Hrsg.): Ethics of Science in the Research for Sustainable Development. Baden-Baden 2015, S. 129 – 152. Putnam, Hilary: The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays. Cambridge/ Mass. 2002. Saltelli, Andrea/Giampietro, Mario: The Fallacy of Evidence-Based Policy, in Benessia, Alice et al. (Hrsg.), Science on the Verge. Tempe/Washington 2014, S. 31 – 69. Schweitzer, Jan: „Bin ich gefährlich?“, in: Die ZEIT 23/2020. https://www.zeit.de/2020/23/coro navirus-kinder-jugendliche-infektionen-verlauf-ansteckung.

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Sentker, Andreas: Verräterische Muster, in: Die ZEIT 01/2023. https://www.zeit.de/2023/01/seu chen-pandemien-pest-corona. Walter-Toews, David et al.: Post-Normal Pandemics: Why Covid-19 Requires a New Approach to Science. Blogbeitrag, März 2020: https://steps-centre.org/blog/postnormal-pandemicswhy-covid-19-requires-a-new-approach-to-science.

Marktwirtschaftliche Anreize und die Verantwortung von Pharmaunternehmen und Staatengemeinschaft bei der Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen Von Dirk Sauerland

I. Vorbemerkungen „During a global health emergency, everyone is morally required to help to combat the disease.“ (Emanuel et al., 2021)

Mit diesem Satz beginnt ein aktueller Aufsatz zur Frage, worin die (moralischen) Verpflichtungen von Pharmaunternehmen während einer globalen Gesundheitskrise wie der COVID-19-Pandemie bestehen. Obwohl aber lt. Zitat „jeder“ moralisch verpflichtet ist, zu helfen und die Krankheit zu bekämpfen, werden oft – und so auch in dem zitierten Aufsatz – allein oder in erster Linie Pharmaunternehmen als Verantwortliche für eine Lösung adressiert. Die Fokussierung auf die pharmazeutischen Unternehmen wird funktional damit begründet, dass „their capacities to research, develop, manufacture, and distribute vaccines make them uniquely placed for stemming the pandemic.“ Gleichzeitig stellen die o.g. Autoren allerdings fest, dass auch die anderen Akteure, die an der Erforschung, Entwicklung, Produktion und der Verteilung von COVID-19-Impfstoffen beteiligt sind, Leitlinien für ihre ethischen Verpflichtungen benötigen. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht daher darin, auch die moralische Verantwortung anderer Akteure, insbesondere der Regierungen reicher Länder, herauszuarbeiten – und ihre Anreize zu thematisieren. Doch zunächst zu den Pharmaunternehmen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie wird die Frage nach den Anreizen für die Entwicklung von Impfstoffen und der Verantwortung der Pharmaindustrie besonders intensiv diskutiert. An der Diskussion sind ganz unterschiedliche Professionen beteiligt. Ökonomen versuchen im Sinne von „lessons learned“ anhand von Prozessanalysen herauszufinden, was wir aus der aktuellen Pandemie für künftige Krisensituationen aber auch für die Entwicklung von nicht COVID-19-Impfstoffen und -Medikamenten lernen können. Dabei geht es sowohl um den Prozess der Entwicklung vom Beginn bis zur Bereitstellung eines zugelassenen Produkts als auch um die Frage der Verteilung dieses Produkts – und dies auf nationaler und internationaler Ebene. Ökonomische Analysen betrachten dabei die relevanten Akteure in Politik,

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Dirk Sauerland

Wirtschaft und Gesellschaft und analysieren die bis dato ergriffenen Maßnahmen und ihre Anreizwirkungen (z. B. Sampat & Shadlen, 2021). Zu den Maßnahmen, die in der Pandemie wieder auf die Agenda gekommen sind, gehört die mögliche Aufhebung von Patentrechten. Die Diskussion über mögliche Vor- und Nachteile dieser Maßnahmen wird schon viele Jahrzehnte geführt (Wagner, 2021). Arbeiten zu den Wirkungen von Patentrechten und ihrer Aufhebung werden in der Regel von Juristen verfasst (z. B. Gurgula, 2020; Zech, 2021) aber auch von Ökonomen (Wagner, 2021). Wenn es um die Frage der Verteilung des Impfstoffs, insbesondere auf internationaler Ebene, geht, ergänzen Philosophen bzw. Ethiker die Diskussion. Ihnen geht es insbesondere um die ethischen Implikationen der absehbaren Verteilung sowie den ethischen Rahmen für eine gerechte Verteilung, die auch die Interessen der Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen berücksichtigt. Auch dabei werden oft die Pharmaunternehmen und ihre Verantwortung adressiert (z. B. Emanuel, 2020; Emanuel et al., 2021). Darüber hinaus beschäftigen sich Arbeiten von Medizinern insbesondere mit dem Zugang der (inländischen) Bevölkerung zum Impfstoff, der internationalen Verteilung sowie den Aspekten der Notwendigkeit von Impfungen für die öffentliche Gesundheit (z. B. Hotez et al., 2021). Last but not least gibt es auch interdisziplinäre Autorenteams, etwa von Medizinern und Ökonomen. Diese beschäftigen sich oft mit den Lehren für Modelle der Impfstoffbereitstellung in der Zukunft (z. B. Bloom et al., 2021). Der nachfolgende Text greift viele dieser Literaturstränge auf und analysiert die Frage nach den Anreizen und der Verantwortung von (forschenden) Pharmaunternehmen in vier Schritten. Nach einer einleitenden Beschreibung des Innovationsprozesses bis zur Bereitstellung pharmazeutischer Produkte sowie der daran beteiligten Akteure (Abschnitt 1) geht es im ersten Schritt der Analyse (Abschnitt 2) darum, den Stand der ökonomischen Literatur zum Prozess der Innovation neuer Medikamente und Impfstoffe darzustellen: Welche Faktoren haben einen Einfluss auf das Verhalten der forschenden Pharmaunternehmen? Welche Anreize resultieren aus einer marktlichen Verwertbarkeit der Innovationen? Die Analyse in diesem Teil erfolgt theoretisch und empirisch. Im zweiten Schritt geht es in Abschnitt 3 darum, wie Innovationen gezielt gefördert werden können, wenn der „normale“ Prozess, der auf marktlichen Anreizen basiert, zu einer Unterversorgung von bestimmten Gruppen oder Ländern führt. Auch dieser Teil der Analyse erfolgt theoretisch und empirisch. Anschließend geht es in Schritt drei (Abschnitt 4) um die empirische Frage, was wir aus der COVID-19-Pandemie mit Blick auf die Entwicklung von Impfstoffen dazugelernt haben: Haben sich neue Instrumente oder Verhaltensweisen gezeigt? Nach einem kurzen Zwischenfazit geht es im vierten Schritt (Kapitel III.) um die Verteilungsfrage, die am aktuellen Beispiel der COVID-19-Impfstoffe behandelt wird: Wie lässt sich eine gerechte Verteilung der bereitgestellten Impfstoffe realisieren? Wer kann und soll sinnvollerweise die Verantwortung dafür übernehmen? Hier geht es um eine ethische Analyse sowie um eine ökonomische Folgeabschätzung von bereits existierenden Vorschlägen. Die Arbeit endet mit einem zusammenfassenden Fazit.

Marktwirtschaftliche Anreize und Verantwortung

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II. Die Bereitstellung pharmazeutischer Produkte: Eine Frage der Anreize „An ethical approach to COVID-19 vaccine production and distribution should satisfy four uncontroversial principles: optimising vaccine production, including development, testing, and manufacturing; fair distribution; sustainability; and accountability […].“ (Emanuel et al., 2021)

1. Der Prozess bis zur Bereitstellung und die beteiligten Akteure Wenn man versucht, die Frage nach den Anreizen der forschenden Pharmaunternehmen für die Entwicklung und Bereitstellung von Medikamenten und Impfstoffen zu beantworten, gilt es zunächst zwei Arten von Anreizen zu unterscheiden. Zunächst gibt es einen genuin ökonomischen Anreiz aus dem Markt für Arzneimittel heraus. Dieser Anreiz besteht darin, mit dem Verkauf neu entwickelter Arzneimittel Erlöse zu realisieren, die die Kosten für Forschung, Entwicklung und Zulassung mindestens decken (vgl. dazu Abschnitt 2). Bei den marktlichen Anreizen ist zu berücksichtigen, dass Märkte für Arzneimittel in vielen Ländern intensiv reguliert sind. Marktliche Anreize entstehen hier also immer unter Berücksichtigung eines üblichen, staatlich gesetzten Regulierungsrahmens sowie der am Entwicklungsprozess beteiligten Akteure. Sind die so definierten, marktlichen Anreize in bestimmten Bereichen nicht ausreichend, besteht also eine Unterversorgung mit benötigten Arzneimitteln, sind zusätzliche Maßnahmen, notwendig, um die Innovationsanreize zu verbessern. Diese zusätzlichen Innovationsanreize werden von nationalen Regierungen und anderen Akteuren gezielt gesetzt (vgl. dazu Abschnitt 3). Sind marktliche und adäquate zusätzliche Anreize vorhanden, werden am Ende des in Abbildung 1 dargestellten Prozesses (neue) Arzneimittel für die Versorgung der Bevölkerung bereitgestellt. An dem Prozess bis zur Markteinführung und zum Verkauf (im Folgenden: Bereitstellung) pharmazeutischer Produkte sind neben den forschenden Pharmaunternehmen viele weitere Akteure beteiligt. Zunächst ist es die Regierung eines Landes, die üblicherweise ihr nationales Gesundheitssystem reguliert, also u. a. die Voraussetzungen für eine Zulassung der Arzneimittel definiert. Dazu kommen vor Markteinführung internationale und nationale Zulassungsbehörden. Sie prüfen die Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit neuer Produkte und lassen – bei positiver Bewertung – die Produkte für den nationalen Markt zu. Nach der Markteinführung spielen die potentiellen Nutzer der pharmazeutischen Produkte sowie die Zahler dieser Produkte eine wichtige Rolle. Nur wenn die potentiellen Nutzer die bereitgestellten Produkte auch in Anspruch nehmen, können die Unternehmen Umsätze generieren.1 1 Die Nutzer spielen auch in der COVID-19-Pandemie eine wichtige Rolle: Wie wir jetzt in Deutschland und anderen Ländern sehen, können die bereitgestellten Impfstoffe eine Pande-

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Abbildung 1: Der Prozess von der Forschung bis zum Markt

Dass die potentiellen Nutzer pharmazeutische Produkte (und andere Gesundheitsleistungen) in Anspruch nehmen können, stellen grundsätzlich die Zahler eines Gesundheitssystems sicher. Sie sind üblicherweise zwischen die letztlichen Nutzer (Patienten) und die medizinischen Leistungsbringer (u. a. Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaunternehmen) geschaltet (Sauerland, 2019). In beitragsfinanzierten, sogenannten Bismarck-Systemen, erfolgt die Finanzierung der im Gesundheitssystem bereitgestellten Leistungen (wie in Deutschland) über soziale Krankenversicherungen, in steuerfinanzierten, sogenannten Beveridge-Systemen (wie etwa Großbritannien) fungiert der Staat als Zahler (Gerlinger & Sauerland, 2018). Die Zahler sichern den Zugang zur medizinischen Versorgung, indem sie einen definierten Katalog an Leistungen bereitstellen. Leistungen, die zwar zugelassen aber nicht im Leistungskatalog der Zahler enthalten sind, müssen von den potentiellen Nutzern direkt finanziert werden – oder über private Zusatzversicherungen abgedeckt werden. Am Ende des in Abbildung 1 dargestellten Prozesses steht die Bereitstellung des neuen pharmazeutischen Produkts auf einem i. d. R. oligopolistisch geprägten Markt (Lakdawalla, 2018).

2. Marktliche Anreize für die Entwicklung und Bereitstellung: Theorie und Empirie Von der anwendungsorientierten Forschung bis zur Zulassung eines neuen Arzneimittels kann es 10 bis 15 Jahre dauern (Acemoglu & Linn, 2004). Letztlich resultiert ein Innovationsanreiz für private Unternehmen also daraus, mit neuen Produkten mie nicht wirklich zum Stehen bringen, wenn die entsprechenden Impfangebote nicht in ausreichendem Maß in Anspruch genommen werden.

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(wie Medikamenten und Impfstoffen) so hohe Erlöse zu generieren, dass die Kosten für Forschung, Entwicklung, Zulassung und Produktion des Produkts mindestens gedeckt sind. Die oft unterstellte Annahme des Ziels der Gewinnmaximierung ist dabei für Pharmaunternehmen nicht zwingend. So hat in der COVID-19-Pandemie etwa der Hersteller AstraZeneca angekündigt, seinen Impfstoff zum Selbstkostenpreis bereitzustellen „solange die Pandemie andauert“ (Gries, 2021). Dennoch kann man mit (Nordhaus, 1969) davon ausgehen, dass auch in der pharmazeutischen Industrie die Investitionsanreize für die Entwicklung neuer Produkte aus den daraus erwarteten Gewinnen resultieren: Je höher diese Gewinnerwartungen sind, desto höher ist die Bereitschaft der Unternehmen in die Entwicklung von Innovationen zu investieren. Anknüpfend an Nordhaus hat Lakdawalla (2018) in einem einfachen theoretischen Modell gezeigt, dass die Gewinnerwartungen sowohl von den erwarteten Erlösen einer Innovation abhängen als auch von der Produktivität der F&E-Investitionen sowie den Kapitalkosten zur Finanzierung der Innovation. Die beiden letztgenannten Faktoren haben Einfluss auf die Entwicklungskosten, die durch die Erlöse des neuen Produkts gedeckt werden müssen. In einem Literaturreview hat Lakdawalla (2018) auch die vorhandene Evidenz zu den theoretisch plausiblen Determinanten der Innovationstätigkeit in der Pharmaindustrie analysiert.

a) Determinanten der Erlöse Betrachtet man zunächst die Erlöse als Anreiz der Pharmaunternehmen, so sind zwei Faktoren relevant: Die Menge (Q), die von einem neuen Medikament, Impfstoff oder Wirkstoff abgesetzt werden kann, und der Preis (P), der für das Produkt realisiert werden kann. Variablen, die einen Einfluss auf die Determinante der Erlöse von forschenden Pharmaunternehmen haben, werden als Pull-Mechanismen bezeichnet (Sampat & Shadlen, 2021). Ökonomisch betrachtet hängt die absetzbare Menge insbesondere von der Größe des relevanten Marktes ab – also der Zahl der potentiellen Nachfrager. Die absetzbare Menge eines neuen Produkts ist aber auch davon abhängig, wie schnell Konkurrenten mit einem ähnlichen Produkt in den Markt eintreten. Der Anreiz der forschenden Pharmaunternehmen für Innovationen sinkt daher mit der Wahrscheinlichkeit schnell auftretender Konkurrenz, die das eigene Marktvolumen verringert. Folglich spielt auch der Schutz des geistigen Eigentums, der üblicherweise über Patente gewährleistet wird, eine wichtige Rolle für die erwarteten Erlöse. Auch der Preis, der realisiert werden kann, ist von der Wettbewerbssituation abhängig: je intensiver der Wettbewerb, desto niedriger c.p. der Preis. Eine wichtige Rolle spielt aber auch eine mögliche Regulierung des Preises (durch die zuständigen Behörden) sowie die Zahlungsbereitschaft bzw. -fähigkeit der Nachfrager. Letztere wird insbesondere dann relevant, wenn die jeweiligen Zahler des Gesundheitssystems die Kosten für das Produkt nicht oder nicht vollständig übernehmen.

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Die Bedeutung der Marktgröße für die Innovationsanreize von Pharmaunternehmen haben Acemoglu & Linn (2004) grundlegend analysiert. Dabei zeigte sich ein signifikanter Einfluss der zu erwartenden Marktgröße sowohl auf die Entwicklung von neuen Originalpräparaten als auch von neuen Wirkstoffen. Im Ergebnis führte eine einprozentige Erhöhung der erwarteten Marktgröße (etwa durch eine absehbare demographische Entwicklung) zu einem vierprozentigen Anstieg bei der Zulassung neuer Originalpräparate und zu einer vier- bis sechsprozentigen Erhöhung bei der Zulassung neuer Wirkstoffe (Acemoglu & Linn, 2004, S. 1048, 1051). Auch andere Studien liefern eine starke Evidenz dafür, dass ein absehbar größerer Markt, der etwa durch die Ausweitung des Leistungskatalogs eines großen Zahlers im Gesundheitssystem zustande kommt, Innovationen stimuliert (Blume-Kohout & Sood, 2013). Ebenfalls einen empirisch belegten Einfluss auf die erwarteten Erlöse haben Maßnahmen zum Schutz geistigen Eigentums bzw. zur Absicherung gegen einen Marktzutritt weiterer Wettbewerber. Das bekannteste Instrument hier sind Patente. Patente machen letztlich nicht-rivales Wissen marktfähig, indem sie geistiges Eigentum schützen. Gleichzeitig kreieren sie ein zeitlich befristetes Monopol, das zu statischen Ineffizienzen führt, da die Preise für die Verbraucher in Wettbewerbsmärkten üblicherweise niedriger liegen als in Monopolmärkten (Kremer & Williams, 2010). Nach Ablauf des Patentschutzes verändert sich die Marktstruktur in aller Regel jedoch schnell hin zu einem stärker wettbewerblich geprägten Generikamarkt (Lakdawalla, 2018), auf dem die Preise sinken. Daneben gibt es aber regulatorische Eintrittsbarrieren sowie technische Spezifitäten (inclusive des Know-hows der Mitarbeiter), die ebenfalls eine Markteintrittsbarriere darstellen können. Studien zeigen, dass in reichen Ländern Anreize für Innovationen durch Patente steigen, während eine solche Evidenz für Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen nicht feststellbar ist (Lakdawalla, 2018). Bei der Analyse des Schutzes von geistigem Eigentum durch Patente sind weitere Anreizprobleme zu berücksichtigen: Wenn ein Land mit einem großen Markt einen Patentschutz bietet, bestehen dort gute Anreize für Innovationen. Diese Innovationen kreieren in der Regel auch einen Nutzen für diejenigen Länder, die auf das Instrument eines Patentschutzes verzichten, da die Medikamente üblicherweise exportiert werden. Setzen solche Länder im Rahmen einer Preisregulierung niedrigere Referenzpreise im Verhältnis zum patentgeschützten Primärmarkt, ergeben sich aus dieser staatlich induzierten Preisdifferenzierung höhere Preise für die Märkte mit Patentschutz als für die Märkte ohne Patentschutz. Um ein solches Trittbrettfahrerverhalten zu vermeiden, wäre eine internationale Koordination zwischen den Staaten sinnvoll (Lakdawalla, 2018). Betrachtet man die Details des Patentschutzes, so erhöht eine längere Laufzeit des Patentes die Anreize für Innovationen (Abrams, 2009; Wagner, 2021). Der Umfang bzw. die Breite des Patentschutzes hat keinen nachweisbaren Einfluss auf die Innovationsanreize. Jedoch sind durch längere Patentlaufzeiten auch dynamische Fehlanreize möglich: So können lange Laufzeiten dazu führen, dass Wettbewerber mehr in

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Bereichen forschen, bei denen relativ kurzfristig klinische Vorteile festgestellt werden können – und damit ein Markzutritt gelingen kann (Budish et al., 2015). Grundsätzlich muss bei der Diskussion um Patente berücksichtigt werden, dass nicht nur sie Schutz vor weiteren Markteintritten bieten. Wenn etwa Innovationen auf bestehendem Wissen aufbauen, bestehen Anreize für Innovationen auch dann, wenn ein Patentschutz für die eigentliche Innovation fehlt (Lakdawalla, 2018 mit Verweis auf Boldrin & Levine, 2013). Darüber hinaus gibt es regulatorische Eintrittsbarrieren außerhalb des Patentrechts, wie etwa exklusive Lizenzen für Innovationen für die Versorgung mit Medikamenten in einem bestimmten Anwendungsgebiet. Üblicherweise ist die Schutzzeit hier kürzer als bei einem normalen Patent. Hierbei werden nicht die Medikamente als Wirkstoffe geschützt, sondern der (exklusive) Marktzugang an sich. Auch für die Wirkung von Preisregulierungen durch nationale Behörden auf die Gewinnerwartungen gibt es eine starke Evidenz. Stärkere Regulierungen führen zu niedrigeren Preisen und haben damit einen negativen Effekt auf die Gewinnerwartung sowie die Innovationsanreize (Vernon, 2005). Während der Effekt auf die Gewinnerwartungen auch empirisch hinterlegt ist, gibt es bis dato nur wenige Studien zum direkten Zusammenhang zwischen Preisregulierungen und Innovationen. Wie bereits erwähnt spielen auch die Zahler innerhalb eines Gesundheitssystems eine wichtige Rolle für die Anreize, Innovation auf den Weg zu bringen. Diese Zahler legen üblicherweise fest, ob Medikamente in ihren Leistungskatalog aufgenommen werden, und damit erstattungsfähig sind. So konnte Finkelstein (2004) zeigen, dass Impfempfehlungen, die von nationalen Behörden in den USA ausgesprochen wurden, zu einer signifikanten Erhöhung der Zahl von klinischen Studien in dem betroffenen Bereich führten. Gleiches gilt für die Ankündigungen der Zahler in einem Gesundheitssystem, die Kosten für bestimmte Impfungen zu übernehmen sowie die Haftung der Hersteller zu begrenzen, wenn es zu Impfkomplikationen kommt. Während die beiden erstgenannten Punkte im Ergebnis auf eine Erhöhung der Marktgröße hinauslaufen und damit die erwarteten Erlöse betreffen, senkt die letztgenannte Maßnahme die potentiellen Kosten für die Hersteller. Die Zahler legen auch die Preise bzw. Höhe der Erstattungen für neue Medikamente und Wirkstoffe fest. Dies geschieht oft anhand sogenannter Referenzpreise (Lakdawalla, 2018). Solche Referenzpreise können zum einen im Verhältnis zu den Preisen bereits bestehender Medikamente für das jeweilige Krankheitsbild festgelegt werden (intern), zum kann eine Festlegung im Verhältnis zu dem Preis des gleichen Medikaments in anderen Ländern erfolgen (externer Referenzpreis). Empirisch zeigt sich: Je höher der Referenzpreis, desto höher der erwartete Erlös – und umso größer der Anreiz für Innovationen.

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b) Determinanten der Entwicklungskosten Neuere Schätzungen deuten darauf hin, dass die Entwicklung von neuen Wirkstoffen, die in den Jahren 2009 bis 2018 in den USA zugelassen wurden, im Mittelwert 1,2 Milliarden USD (Median 1,0 Mrd.) gekostet hat (Wouters et al., 2020). Die Reduzierung der mit einem solchen Entwicklungsprozess verbundenen Unwägbarkeiten reduziert das Risiko der forschenden Pharmaunternehmen und erhöht ihren Anreiz für Innovationen (Sampat & Shadlen, 2021). Auch hier gibt es etablierte Instrumente, die einen empirisch signifikanten Einfluss auf Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen sowie Innovationen haben (Lakdawalla, 2018). Diese Instrumente werden als Push-Mechanismen bezeichnet (Sampat & Shadlen, 2021); sie umfassen mit Blick auf den in Abbildung 1 skizzierten Prozess insbesondere • eine direkte staatliche Finanzierung von Grundlagenforschung, • Steuergutschriften sowie steuerliche Abzugsmöglichkeiten für spezifische F&EAusgaben, • Steuergutschriften für Ausgaben für klinische Studien sowie • schnellere Zulassungsprozesse durch Regulierungsbehörden. Auch die Finanzierungsmöglichkeiten haben einen starken Einfluss auf die F&EAktivitäten der pharmazeutischen Unternehmen. Dies betrifft sowohl den internen Cashflow als auch den externen Zugang zum Kapitalmarkt. Je besser die Finanzierungsoptionen sind, desto höher die Anreize Innovationen zu entwickeln (Lakdawalla, 2018). Betrachtet man die Determinanten der Innovationsproduktivität, so spielt zunächst die wissenschaftliche Produktivität der Unternehmen eine wichtige Rolle. Studien zeigen, dass diese Produktivität in großen Unternehmen nicht per se höher ist als in kleineren. Durch neue Organisationsformen der klinischen Forschung können Spezialisierungsvorteile auch über Outsourcing bestimmter Prozessschritte in sogenannten Contract Research Organisations genutzt werden (Lakdawalla, 2018). Eine weitere Determinante der Innovationsproduktivität ist die Regulierung des Marktzugangs. Hier zeigen Studien aus den USA, dass der bestehende Zulassungsprozess von neuen Medikamenten bzw. Wirkstoffen allein durch die Federal Drug Administration (FDA) Innovationen tendenziell hemmt, während der zweistufige Zulassungsprozess in den Ländern der Europäischen Union die Innovationsproduktivität weniger beeinträchtigt (Lakdawalla, 2018). Die FDA prüft in einem sehr zeitaufwendigen Verfahren nicht nur die Sicherheit und Effektivität, sondern auch die ökonomische Vorteilhaftigkeit eines neuen Präparats. Studien zeigen, dass dieser Prozess die Sicherheit der zugelassenen Präparate nicht erhöht (Lakdawalla, 2018). In der EU prüft die europäische Arzneimittelbehörde EMA in einem ersten Schritt allein die Sicherheit und Effektivität des neuen Medikaments (EMA – European Medicines Agency, 2017). Die Überprüfung auf Kosteneffektivität im Verhält-

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nis zu den Status quo-Präparaten erfolgt dann durch die nationalen Agenturen. In Deutschland sind dies das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sowie das Paul-Ehrlich-Institut (Paul-Ehrlich-Institut, 2021). Im Ergebnis der bestehenden Anreizstrukturen sind in den USA im Jahr 2018 insgesamt 58 neue Wirkstoffe auf den Markt gekommen; der Zeitraum von der Patentanmeldung bis zu Markteinführung betrug im Median 13,6 Jahre (IQVIA, 2019). Die EMA hat im Jahr 2020 97 neue Medikamente für den Markzugang empfohlen (EMA – European Medicines Agency, 2021a). Im Idealfall führen die zugelassenen Innovationen zu einer bedarfsgerechten Versorgung der Bevölkerung, d. h. weder zu Über- noch zu Unterversorgungssituationen (Scherer, 2019).

3. Wenn marktliche Anreize nicht ausreichen: Theorie und Empirie Betrachtet man die bisherigen Ausführungen, so sind in der Vergangenheit aufgrund der marktlichen Anreize eher Medikamente gegen Krankheiten entwickelt worden, von denen (i) viele Menschen betroffen sind (hohes Q) und für die (ii) von den jeweiligen Zahlern eine hohe Zahlungsbereitschaft vorhanden ist (hohes P). Umgekehrt formuliert sind die Anreize gering, Innovationen gegen Krankheiten zu entwickeln, von denen nur wenige Menschen betroffen sind (geringes Q) und für Zahler, deren Zahlungsbereitschaft (oder Zahlungsfähigkeit) gering ist. Während der erstgenannte Punkt sogenannte seltene Krankheiten (rare diseases) betrifft bezieht sich der zweite Punkt auf Krankheiten, die insbesondere in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen auftreten (geringes P). Um die Unterversorgung in diesen Bereichen und Ländern zu verringern bzw. zu vermeiden, sind eine Reihe von Instrumenten entwickelt worden, die von nationalen Regierungen aber auch von privaten, philanthropischen Organisationen sowie von internationalen Organisationen eingesetzt werden. Diese Akteure können die Innovationsanreize insgesamt verbessern und/oder Anreize für Forschung und Entwicklung in eine bestimmte Richtung lenken. Dazu können sie unterschiedliche Instrumente einsetzen, die, wie bereits erwähnt, in Push- und Pull-Instrumente unterschieden werden (Kremer & Williams, 2010). Die Push-Instrumente bestehen im wesentliche aus den bereits genannten steuerlichen Anreizen für Forschung und Entwicklung. Im Fall von rare diseases und Krankheiten, von denen insbesondere Menschen in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen betroffen sind, werden diese steuerlichen Instrumente nicht, wie in 2. beschrieben, generisch zur Förderung von F&E-Aktivitäten eingesetzt, sondern um gezielt sogenannte Orphan Drugs oder z. B. einen Impfstoff gegen Malaria (Metzger et al., 2020) zu entwickeln.

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a) Pull-Instrumente zur Verbesserung der Anreize Zusätzlich zu den steuerlichen Push-Anreizen gibt es verscheidende erprobte Pull-Instrumente, die zur Ergänzung der marktlichen Anreize gezielt eingesetzt werden können. Dazu gehören neben Preisen bzw. Preisgeldern, die für die Entwicklung einer spezifischen Problemlösung ausgelobt werden, auch sogenannte Advance Market Commitments (AMC). Innovative Instrumente, die bisher nur diskutiert aber nicht umgesetzt wurden, sind der Medical Innovation Prize Funds (MIPF) in den USA sowie der Health Impact Fund. Beide haben zum Ziel, die Anreize für pharmazeutische Forschung durch eine Änderung der Erlösgenerierung zu verändern. Preise werden oftmals ausgelobt, um Prototypen für Problemlösungen zu entwickeln. In der Regel geht es noch nicht um marktfähige Produkte, die für die Bekämpfung von Medikamenten eingesetzt werden könnten (Kremer & Williams, 2010). Betrachtet man die Anreizwirkungen solcher Preise, so sind diese insbesondere davon abhängig, wie die Ausschreibung spezifiziert ist: Um einen Preis zu vergeben, muss die eingereichte Lösung üblicherweise durch ein Preiskomitee bewertet werden. Gibt es keine genauen technischen Spezifikationen für die Bewertung der eingereichten Lösung, so hat das Komitee einen Ermessensspielraum, der die Unsicherheit für die Einreichenden erhöht. Umgekehrt engen zu genaue technische Spezifikationen die Freiheitsgrade bei der Entwicklung ein, sodass der Wettbewerb um das Preisgeld nicht als offenes Entdeckungsverfahren funktionieren kann. Offener sind in Bezug auf die Anreizwirkungen die AMC (Kremer et al., 2020). Ihre Logik besteht darin, bereits vor Zulassung eines Medikaments einen festen Preis sowie Mengengarantien mit einem potentiellen Hersteller zu vereinbaren. Das AMC wird erst dann wirksam, wenn ein zugelassenes Medikament bereitgestellt wird. Dieses Pull-Instrument wird eingesetzt, um etwa den Zugang von Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu Impfstoffen zu gewährleisten und die typische 10 – 15 Jahres Verzögerung zwischen der Einführung von Impfstoffen in reichen Ländern und ihrer Nutzung in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu verkürzen (Kremer & Williams, 2010). Um dies zu gewährleisten schließt eine (oft internationale) Zahlerorganisation mit dem Hersteller einen Vertrag. Üblicherweise übernimmt die Zahlerorganisation einen hohen Anteil am vereinbarten Preis, das ärmere Land übernimmt eine niedrige Zuzahlung (Kremer & Williams, 2010). Die Preisgarantie der Zahlerorganisation generiert für die Hersteller eine hohe Erwartungssicherheit in Bezug auf die zu erwartenden Erlöse. Da die Wirksamkeit des Vertrags an die Bereitstellung eines nachweislich wirksamen Impfstoffs gekoppelt ist, können solche AMC auch mit verschiedenen Herstellern geschlossen werden, ohne das finanzielle Risiko für die Zahlerorganisation zu groß werden zu lassen. Eine wichtige internationale Zahlerorganisation ist in diesem Zusammenhang die globale Impfallianz Gavi, die im Jahr 2000 ins Leben gerufen wurde. Sie ist als Public Private Partnership organsiert, an der Regierungen und private Organisationen ebenso beteiligt sind wie Philanthropen und internationale Organisationen (Gavi, 2021a). Primäres Ziel von Gavi ist es, Schutzimpfungen von Kindern in Ländern mit mittle-

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rem und niedrigem Einkommen bereitzustellen. Dazu werden Finanzmittel gesammelt, die für den Kauf und die Verteilung der Impfstoffe genutzt werden. Der aus dem Jahr 2005 stammende Vorschlag eines Medical Innovation Prize Funds (MIPF) für die USA sieht vor, die Entwicklung neuer Produkte durch einen Fonds zu finanzieren – und nicht über die Erlöse, die unter einem Patentschutz generiert werden können (Kremer & Williams, 2010). Der Fonds soll also das System des Patentschutzes ersetzen. Dazu soll er mit 0,6 Prozent des US-amerikanischen BIP dotiert werden (Gandjour & Chernyak, 2011). Aus dem Fonds sollen alle teilnehmenden Hersteller über einen Zeitraum von zehn Jahren Zahlungen erhalten, die sich daran bemessen, welche zusätzlichen Gesundheitsvorteile die neu bereitgestellten Produkte generieren (Love & Hubbard, 2009). Das mit dem Vorschlag verbundene Bewertungsproblem ist offensichtlich: die Messung des zusätzlichen Gesundheitsvorteils eines einzelnen Produkts ist deutlich schwieriger als die Beurteilung der Einsatzfähigkeit, die in der Logik des AMC als Zahlungsauslöser verankert ist. Da aber die Anreize zur Forschung mit den erwarteten Erlösen steigen (wie in a) beschrieben), ist die Anreizwirkung unsicher. Eine ähnliche Logik wie der MIPF liegt dem sogenannten Health Impact Fund (HIF) zugrunde (Pogge, 2012; Pogge & Holzer, 2020). Allerdings hat der HIF explizit zum Ziel, Arzneimittelforschung für Krankheiten in den Ländern mittlerem und niedrigem Einkommen zu fördern. Der Fonds soll das Patentsystem ergänzen und aus Zuwendungen von Regierungen und anderen Mittelgebern gespeist werden. Pharmaunternehmen, die neue Arzneimittel entwickeln, können diese Mittel beim Fonds registrieren. Mit der Registrierung verpflichten sie sich, das entwickelte Mittel zum Selbstkostenpreis zu verkaufen. Sie erhalten, ähnlich wie bei MIPF, aus dem Fonds eine Ausschüttung, die den Unternehmen einen Gewinn ermöglicht. Die Ausschüttung bemisst sich, ebenfalls wie beim MIPF, am Beitrag des Mittels zur Verbesserung der Gesundheit (HIF – Health Impact Fund, 2021). Auch hier treten Bemessungsprobleme auf, so dass auch hier die Anreizwirkung unsicher bleibt.

b) Maßnahmenpakete zur Förderung von Orphan Drugs In den USA gibt es seit dem Jahr 1983 ein eigens Gesetz zur Förderung der Entwicklungen von Medikamenten gegen seltene Krankheiten, den Orphan Drug Act (ODA) (Swann, 2018). Er adressiert die Entwicklung von Medikamenten gegen Krankheiten, unter denen in den USA weniger als 200.000 Menschen leiden (IQVIA, 2020). Der ODA kombiniert Push- und Pull-Instrumente. Zu den erlöserhöhenden PullInstrumenten gehört eine exklusive Lizenz für einen gesicherten Marktzugang über sieben Jahre. Kostenreduzierende Push-Instrumente im Rahmen des ODA umfassen eine 50-prozentige Steuergutschrift auf klinische Studien, direkte Beihilfen für klinische Forschung sowie die Unterstützung der Zulassungsbehörde beim Zulassungs-

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prozess (FDA, 2018). Diese Anreize beziehen sich sowohl auf die Durchführung klinischer Studien für Neuentwicklungen von Wirkstoffen als auch auf die Überprüfung, ob bestehende Medikamente bzw. Wirkstoffe für seltene Krankheiten genutzt werden können (IQVIA, 2020). Im Ergebnis der eingesetzten Instrumente konnten Lichtenberg & Waldfogel (2003) zeigen, dass der ODA die Anreize für Innovationen im Bereich der seltenen Krankheiten in den USA deutlich erhöht hat. Zum gleichen Ergebnis kam Yin (2008). Ebenso ist festzustellen, dass die Zahl der anerkannten seltenen Krankheiten seit Einführung des ODA bis zum Jahr 2019 auf 838 angestiegen ist, jedoch nur 564 Medikamente für diese Krankheiten gefördert wurden – viele also für mehrere Krankheiten (IQVIA, 2020). Dies deutet auf die strategische Nutzung des ODA durch die Pharmaunternehmen hin. In der Europäischen Union gibt es seit 1999 ebenfalls Förderprogramme für die Forschung im Bereich seltener Krankheiten. Diese sind in der EU definiert als Krankheiten, die weniger als 5 von 10.000 Menschen betreffen (EK – Europäische Kommission, 2021). Aktuell läuft das EJP RD – European Joint Programme on Rare Diseases, das 135 Organisationen aus 35 Ländern zusammenbringt. Das Programm ist eher auf Grundlagenforschung ausgerichtet und sieht unter anderem Beihilfen für die Mobilität von Forscherinnen und Forschern vor (EPJ RD – European Joint Programme on Rare Diseases, 2021). Im Rahmen des EU-Rahmenprogramms für Forschung und Innovation, Horizon 2020, waren allerding auch 900 Millionen Euro für die konkrete Forschung zur Behandlung von seltenen Krankheiten vorgesehen (EK – Europäische Kommission, 2021). Auch die Zulassung von Orphan Drugs wird in der EU und in Deutschland systematisch gefördert (EMA – European Medicines Agency, 2021b; Haas et al., 2021). Im Ergebnis liegt der Anteil der neu zugelassenen Orphan Drugs an den gesamten Neuzulassungen von Medikamenten in Deutschland seit 2015 bei über 40 Prozent (Telschow et al., 2021).

4. Die COVID-19-Pandemie a) Neue Akteure, verändertes Verhalten „Die Kooperationsbereitschaft auf globaler Ebene ist geradezu beispiellos, selbst zwischen Wettbewerbern.“ (Hilty, 2021)

Betrachtet man den in Abbildung 1 dargestellten Prozess, so wurden vor der COVID-19-Pandemie die oben beschriebenen Push-Instrument typischerweise zur Förderung der generischen Grundlagenforschung eingesetzt – oder für spezifische Orphan Drugs; klinische Studien wurden nicht subventioniert, sondern mussten von den Pharmaunternehmen selbst finanziert werden. Diese Fokussierung auf die ersten Schritte der Entwicklung neuer Arzneimittel hat sich in der Pandemie verändert. Auch sind zu den bisher betrachteten Akteuren neue hinzugekommen, und es haben sich neue Netzwerke gebildet, um die Aktivitäten der Akteure im Bereich der Forschung und ihrer Förderung zu koordinieren. Im Ergebnis der weltweiten Akti-

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vitäten waren im Juni 2021 105 COVID-19-Impfstoffe in klinischen Studien und 184 in der vorklinischen Entwicklung. 19 Impfstoffe waren bereits in mindestens einem Land zugelassen (Sharma et al., 2021). Die WHO hat 6 Impfstoffe in ihre Emergency Use List (EUL) aufgenommen, weitere sind noch im Begutachtungsverfahren (Sharma et al., 2021). Etwa 3,04 Mrd. Dosen dieser Impfstoffe wurden bereits verimpft. Ein Jahr zuvor waren zwar auch schon über 100 Impfstoffe in der Entwicklung – aber keiner war zugelassen (Sharma et al., 2021). In zwei der eingangs erwähnten „lessons learned“-Paper wird das Innovationssystem in der Pandemie rückblickend analysiert (Bloom et al., 2021; Sampat & Shadlen, 2021). Dabei zeigt sich zunächst, dass Push- und Pull-Instrumente nur von den Ländern (bzw. der EU) eingesetzt wurden, in denen Pharmaunternehmen ihren Sitz haben, die COVID-19-Impfstoffe entwickeln können. So haben im Bereich der Push-Instrumente insbesondere die USA und die EU Mittel für die Durchführung klinischer Studien (Phasen II & III) bereitgestellt. Darüber hinaus wurde insbesondere von den USA (im Rahmen der „Operation Warp Speed“) der Aufbau von Produktionskapazitäten bei Impfstoffen und den notwenigen Vorprodukten unterstützt, um – nach erfolgter Zulassung – schnell die Produktion ausweiten zu können (Bloom et al., 2021). Die Zuschüsse der USA waren mit der Bedingung verbunden, die damit finanzierten Kapazitäten dann auch für die Versorgung der USA zu reservieren (Sampat & Shadlen, 2021). Das Finanzvolumen für die Push-Instrumente in den USA betrug etwa 14 – 15 Mrd. USD, das in der EU etwa 1 Mrd. USD (von der Europäischen Investitionsbank bereitgestellt). In beiden Regionen wurde die Entwicklung von Impfstoffen forciert; Medikamente zur Behandlung akuter COVID-19-Infektionen stehen bis heute nicht im Mittelpunkt des Mitteleinsatzes. Sowohl die USA als auch die EU versuchten, die F&E-Aktivitäten der Pharmaunternehmen zu koordinieren; den Herstellern wurde eine engere Zusammenarbeit auch erlaubt, um spätere Lieferengpässe zu vermeiden. Ergänzt wurden die staatlichen Push-Aktivitäten durch die internationale Impfallianz CEPI (Coalition for Epedemics Preparedness Innovation). CEPI wurde 2017 mit dem Ziel gegründet, neue Epidemien zu bekämpfen bzw. zu verhindern. Dies geschieht durch den Einsatz von Push-Instrumenten, um mögliche Impfstoffe für noch nicht ausgebrochene Epidemien frühzeitig produzieren und zulassen zu können (CEPI, 2021). Im Rahmen der Pandemie hat CEPI 1,2 Mrd. USD für die Unterstützung von F&E-Aktivitäten zur Verfügung gestellt. So konnten weltweit in kurzer Zeit viele klinische Studien auf den Weg gebracht und Impfstoffe entwickelt werden (Bloom et al., 2021). Die CEPI-Mittel sind an die Bedingung geknüpft, Impfdosen an COVAX zu liefern. Damit trat CEPI z. T. in direkte Konkurrenz zu den US-amerikanischen PushInstrumenten, die ähnliche Koppelungen vorsahen. Auch CEPI trat als Netzwerker mit internationalen Pharmaunternehmen auf, um frühzeitig Skalierungseffekte bei

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der Produktion realisierbar zu machen. So wurde u. a. die Herstellung des Impfstoffs von AstraZeneca in Mexiko aufgebaut (Sampat & Shadlen, 2021). Ziel aller Push-Aktivitäten war es, die Zeit zwischen der Zulassung eines möglichen Impfstoffs und seiner Produktion möglichst kurz zu halten. Durch Einsatz von AMCs war es z. T. möglich, Impfstoffe schon vor der Zulassung zu produzieren und somit unmittelbar bei Zulassung verfügbar zu haben. Neben den intensiv eingesetzten Push-Instrumenten wird aber auch ein verändertes Verhalten der Hersteller konstatiert. Diese haben zum einen ihre in Entwicklung befindlichen Impfstoffe lizensiert und so die Produktion durch andere Hersteller ermöglicht (Stolpe, 2021). Zum andern haben sie über Lizenzen die geschützten Adjuvanzien (Stoffe, die die Wirksamkeit von Impfstoffen verbessern) anderen Herstellern zur Verfügung gestellt (Bloom et al., 2021). Auch dies hat dazu beigetragen, dass Impfstoffe in nie dagewesener Zeit bereitgestellt werden konnten (Bloom et al., 2021). Neben diesen Push-Instrumenten wurden auch Pull-Maßnahmen ergriffen. Keine Rolle spielen bis dato Patente auf neue Impfstoffe, da es üblicherweise 18 Monate von der Beantragung bis zur Veröffentlichung dauert (Sampat & Shadlen, 2021). Vielmehr wurden von den USA und der EU AMC eingesetzt, um mit festen Preisund Mengenvereinbarungen vor Zulassung der Impfstoffe die erwarteten Erlöse der Pharmaunternehmen abzusichern. Durch die Konstruktion der AMC war es aber für die Regierungen auch möglich, mit mehreren potentiellen Herstellern Verträge zu schließen und sich so selbst zu diversifizieren. Nationale Regierungen bzw. die EU treten in der Pandemie daher nicht nur als CoFinanzierer für Forschung auf. Sie übernehmen – anders als im Normalmodus ihrer nationalen Gesundheitssysteme – nahezu ausschließlich die Funktion der Zahler für die Bereitstellung von Impfstoffen. Sie kaufen die Impfstoffe über bilaterale Verträge bzw. AMC direkt von den Herstellern (Ahuja et al., 2021) und finanzieren ihre Ausgaben aus allgemeinen Steuermitteln. Ökonomisch macht diese Art der Finanzierung Sinn: da der Nutzen aus der Erreichung einer Herdenimmunität durch Impfungen für die gesamte Gesellschaft anfällt, sollten auch die Kosten für den Einsatz des Impfstoffs zur Bekämpfung der Pandemie durch die Gesellschaft getragen werden – um nicht durch kleinere Gruppen. In diesem Sinne also auch durch die eingangs zitierten „everyone“. Der Einsatz der genannten Pull-Instrumente hat die Innovations- und Produktionsanreize verbessert. Der Preis dafür war allerdings, dass sich die zahlenden Länder vorrangigen Zugang zu den Impfstoffen gesichert haben (Sampat & Shadlen, 2021). Wie aber sollte die Versorgung der Bevölkerung mit Impfstoffen in den Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen gewährleistet werden, die keinen eigenen Impfstoffproduzenten haben?

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b) Die Versorgung von Ländern mit mittleren und niedrigen Einkommen Um auch in diesen Ländern Impfstoffe zur Verfügung zu stellen, wurde ein neuer internationaler Akteur ins Leben gerufen, der Access to COVID-19 Tools (ACT) Akzelerator (WHO, 2021a). Ziel des ACT-Akzelerators, der im April 2020 gegründet wurde, ist es, die Entwicklung, Produktion und gerechte Verteilung von Tests, Behandlungen und Impfungen im Kampf gegen COVID-19 zu gewährleisten. Der Akzelerator besteht aus vier Säulen: Diagnose, Behandlung, Impfung sowie Stärkung der Gesundheitssysteme. Die Säule „Impfung“ wird durch die internationale Initiative COVAX repräsentiert. COVAX hat das Ziel, den gerechten Zugang zu COVID19-Impfstoffen sicherzustellen. Die Organisation wird geleitet von Gavi, der WHO sowie CEPI. COVAX selbst hat zwei Funktionen: Zum einen die Bereitstellung der Finanzmittel für den Ankauf von Impfdosen für 92 Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen, die 20 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren (Sampat & Shadlen, 2021). Zum anderen die Verteilung dieser Impfdosen auf die jeweiligen Länder. Im April 2021 sah die Finanzierung von Gavi bzw. der COVAX-Initiativewie folgt aus (Gavi, 2021c): Zu festen Zusagen in Höhe von 6,29 Mrd. USD und Garantien von 0,732 Mrd. USD für den Ankauf von Impfstoffen kommen weiter 0,779 Mrd. USD, die für die Lieferung bzw. Logistik zugesagt sind. Die Herkunft der Mittel ist in Tabelle 1 dargestellt. Betrachtet man die Verteilung der Zusagen, so hat allein Deutschland 1,097 Mrd. USD im Team Europa (ohne UK) übernommen. Auf Platz 2 im Team Europa liegt Norwegen mit Zusagen i.H.v. 0,144 Mrd. USD, gefolgt von Frankreich (0,122 Mrd. USD). Das entspricht einem deutschen Anteil von 17,4 Prozent an allen Zusagen für Ankäufe (6,290 Mrd. USD). Der deutsche Anteil an den zusätzlichen Zusagen für Lieferung/Logistik beträgt 28 Prozent. Damit ist Deutschland eines der führenden Geberländer in der COVAX-Initiative (Gavi, 2021b).

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Dirk Sauerland Tabelle 1 Finanzierung Gavi bzw. COVAX, Stand 15. 04. 2021

Zahlergruppe

Volumen

Für Ankauf von Impfstoffen Staaten

3,917 Mrd. USD

Team Europa (ohne UK)

2,101 Mrd. USD

Unternehmen, Stiftungen, Organisationen

0,272 Mrd. USD

Gesamt Zusagen Ankauf

6,290 Mrd. USD

Team Europa (ohne UK)

0,732 Mrd. USD

Gesamt Garantien Ankauf

0,732 Mrd. USD

Für Logistik, Verteilung im Land Kanada

0,059 Mrd. USD

Deutschland

0,220 Mrd. USD

USA

0,500 Mrd. USD

Gesamt Zusagen Lieferung/Logistik

0,779 Mrd. USD

Gesamt Finanzierung Gavi/COVAX

7,801 Mrd. USD

Aktuell ist festzustellen, dass COVAX sein Ziel für 2021, nämlich 2 Mrd. Menschen mit Impfstoff zu versorgen, nicht mehr erreichen kann (Bröll et al., 2021). Das liegt zum einen daran, dass die Geberländer von den zugesagten 1,8 Mrd. Impfdosen bisher erst 261 Millionen an COVAX abgegeben haben. Zum anderen hat COVAX (über CEPI) AMC mit Herstellern abgeschlossen, deren Impfstoffe bisher keine Zulassung erhalten haben. Last but not least hat Indien die Exporte von Impfstoff seit April 2021 gestoppt, um zunächst die eigene Bevölkerung impfen zu können (Balzter, 2021). Angesichts dieser Unterversorgung in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen wurden auch wieder Diskussionen laut, den Patentschutz auf die vorhandenen Impfstoffe auszusetzen, um die Produktion auch in den betroffenen Ländern zu ermögliche. Da, wie erwähnt, bis dato keine Patente für die COVID-19-Impfstoffe bestehen, wäre eine Aussetzung der Patente im Rahmen der bestehenden TRIPS-Regeln nur mit Blick auf die Technologien möglich, auf denen die Impfstoffe basieren. Dies betrifft insbesondere die neuen mRNA-Impfstoffe (Garde & Saltzman, 2020). Die Anwendung der mRNA-Technologie ist aber nicht leicht zu imitieren: Wie in Abschnitt 1 erwähnt, stellt nicht allein ein Patenschutz relevante Markteintrittsbarrieren dar, sondern auch technische Komplementaritäten des Produktionsprozesses sowie das Know-how der Mitarbeiter (Sampat & Shadlen, 2021). Eine schnelle Ausweitung von Produktionskapazitäten ist daher selbst bei Aufhebung von Schutzrechten auf die mRNA-Technologie nicht möglich: „Sie beruhen auf komplett neuen, derart aufwendigen Verfahren, dass selbst hochprofessionelle Pharmariesen wie Novartis oder Sanofi, die als Lizenznehmer bestehende Werke im Hinblick auf bestimmte Teilschritte auf die jeweiligen Produktionslinien umgestellt haben, dafür mindestens ein halbes Jahr benötigten“ (Hilty, 2021).

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Um aber einen solchen Wissenstransfer künftig zu ermöglichen, planen sowohl die Impfstoffhersteller Moderna (o.V., 2021a) als auch BioNTech den Aufbau von mRNA-Produktionskapazitäten in Afrika. Das Ziel, das BioNTech mit diesem Projekt verfolgt, besteht explizit darin, die medizinische Versorgung in Afrika zu verbessern (o.V., 2021b). Das gleiche Ziel verfolgt auch eine Initiative der WHO mit anderen Organisationen, die einen mRNA-Hub in Afrika aufbauen wollen, um dort eine entsprechende Impfstoffproduktion zu aufzubauen (Bröll, 2022; WHO, 2021b).

5. Zwischenfazit: Anreize für die Bereitstellung sind vorhanden „Experimentation and trial and error over time will likely be necessary to develop and refine new mechanisms to encourage innovation. But the potential payoffs to adding new mechanisms to our tool kit for encouraging innovation are immense, and thoughtful experimentation with several mechanisms would be valuable.“ (Kremer & Williams, 2010)

Betrachtet man die vorliegende Evidenz über Anreize zur Bereitstellung neuer Medikamente und Impfstoffe, ergibt sich folgendes Bild: Der in Abbildung 1 dargestellte Prozess von der Grundlagenforschung bis zur Bereitstellung ist gut erforscht. Es gibt empirische Evidenz zu den marktlichen Parametern, die den Pharmaunternehmen Innovationsanreize vermitteln. Dazu gehören neben der Marktgröße auch die Preisregulierung sowie der Schutz geistigen Eigentums (üblicherweise Patentschutz) in einem Land. Neben diesen marktlichen Anreizen gibt es eine Reihe von Push- und Pull-Instrumenten, die bereits vor der Pandemie erfolgreich eingesetzt wurden, um die Innovationsanreize zu verbessern und Unterversorgungen insbesondere im Bereich der seltenen Krankheiten zu vermeiden. In der Pandemie haben sich neue Muster des Einsatzes von Push- und Pull-Instrumenten gezeigt. Neue (internationale) Organisationen haben Forschungsaktivitäten koordiniert und Finanzmittel bereitgestellt. Darüber hinaus sind die Pharmaunternehmen neue Formen der Kooperation eingegangen, um auch so einen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie zu leisten und schnell eine große Menge an Impfstoffen bereitstellen zu können. Im Ergebnis konnten Impfstoffe sehr schnell entwickelt, produziert und zugelassen werden (Bloom et al., 2021). Das Bereitstellungproblem an sich konnte damit in Rekordzeit gelöst werden. Allerdings war es nicht, ausreichende Mengen an Impfstoff zu reduzieren, um damit die gesamte Weltbevölkerung versorgen zu können. Solange dies nicht gelingt, wird der knappe Impfstoff rationiert werden. Damit rückt der zweite Teil der Versorgungsfrage in den Vordergrund: die Verteilung.

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III. Die Verteilung pharmazeutischer Produkte: Eine Frage der Verantwortung „Within 12 months several highly effective COVID-19 vaccines have achieved widespread use with over 3.04 billion doses administered, although unfortunately not equitably distributed. Of the global population, 23.4 % have received at least one dose of a COVID-19 vaccine while only 0.9 % of people in low-income countries have one so.“ (Sharma et al., 2021)

Aktuelle Zahlen der WHO bestätigen, dass es bis heute eine große Ungleichverteilung bei den COVID-19-Impfstoffen gibt. Zwar sind inzwischen mehr als 6 Mrd. Impfstoffdosen verimpft worden, davon aber etwa 2/3 in reichen Ländern und nur etwa 35 Prozent in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen. Während große Teile der Weltbevölkerung kaum Zugang zu einer ersten Impfung erhalten haben, beginnen einige reiche Länder mit sogenannten Auffrischungs- oder Booster-Impfungen (WHO, 2021c). Das ist möglich, da sich die reichen Länder, die nur 13 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, mehr als 50 Prozent der von den Herstellern angekündigten Impfstoffproduktion gesichert haben (Bloom et al., 2021). Viele Hersteller haben Großteile ihrer geplanten Produktion des Jahres 2021 bereits über bilaterale Verträge an Regierungen verkauft – so dass für COVAX und die Versorgung der Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen nur ein geringes Angebot übrigbleibt (Sampat & Shadlen, 2021). Aufgrund einer nachlassenden Impfbereitschaft in reichen Ländern sowie höherer Produktionsmengen der Hersteller werden von diesen Ländern nun allerdings aus überschüssigen Bestellungen größere Impfstoffmengen gespendet. So haben die USA ihre Spendenzusage jüngst um 500 Mio. Dosen auf 1 Mrd. Dosen aufgestockt (Tagesschau, 2021). Deutschland hat seit Ende August 100 Millionen Dosen gespendet (Auswärtiges Amt, 2021). Wenn es um die eingangs erwähnte Frage der „lessons learned“ aus der COVID19-Pandemie geht, muss daher auch die ethische Dimension der Verteilung der Impfstoffe – sowohl auf nationaler Ebene als auch auf internationaler – thematisiert werden. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede in der Zuschreibung möglicher Verantwortlichkeiten. Auf nationaler Ebene werden üblicherweise die Regierungen als Verantwortliche für eine gerechte Verteilung adressiert: So lange die bereitgestellten Impfstoffmengen nicht ausreichen, um die gesamte Bevölkerung zu versorgen, sollen die politischen Entscheidungsträger eine bestimmte Priorisierung bzw. Impfreihenfolge zwischen verschiedenen, unterschiedlich stark vom Risiko betroffenen Personengruppen festlegen. Dabei werden neben medizinischer Expertise oft auch die Empfehlungen von Ethikräten eingeholt. Auf internationaler Ebene adressieren Vorschläge von Ethikern hingegen auch wieder die pharmazeutischen Unternehmen. Sie sollen schon beim Verkauf ihrer Produkte auf die gerechte internationale Verteilung achten. Welche Rolle Regierungen, Pharmaunternehmen und andere Akteure spielen kön-

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nen, um eine gerechte Verteilung von Impfstoffen auf internationaler Ebenen zu gewährleisten, soll nachfolgend diskutiert werden.

1. Zur möglichen Rolle der Pharmaunternehmen Ein umfassender Vorschlag für die internationale (und nationale) Verteilung, das sogenannte „Fair Priority Model“, wurde im Jahr 2020 von einer interdisziplinär und international zusammengesetzten Forschergruppe veröffentlicht (Emanuel, 2020). Dabei wurden mit Blick auf die Impfstoffverteilung drei Distributionsphasen mit unterschiedlichen Zielstellungen unterschieden. Phase eins betrifft die Reduzierung von (vorzeitigen) Todesfällen, die direkt oder indirekt durch COVID-19 verursacht werden. Das Ziel in Phase zwei besteht in der Reduzierung signifikanter ökonomischer und sozialer Probleme, die auf die Pandemie zurückzuführen sind. Schließlich geht es in Phase drei darum, zu einer funktionierenden Wirtschaft und Gesellschaft zurückzukehren, indem das lokale Infektionsrisiko durch das Erreichen einer Herdenimmunität nahezu eliminiert wird (Emanuel, 2020). Um das übergeordnete Ziel der distributiven Gerechtigkeit in allen Phasen der Pandemie zu erreichen, hinterlegen die Autoren ihr Modell mit empirisch bestimmbaren Kennziffern, die für die internationale Verteilung herangezogen werden sollen. Verantwortlich für die Umsetzung dieses Modell sollen drei Akteursgruppen sein: Staaten, internationale Organisationen sowie die Impfstoffhersteller (Emanuel, 2020). Jedoch wird nicht deutlich, worin die Anreize für die beteiligten Akteure bestehen sollten, sich auf die Umsetzung dieses Modells einzulassen. Hier verweisen die Verfasser lediglich normativ darauf, dass ein unbegrenzter nationaler Partikularismus unethisch sei. Im Jahr 2021 hat eine ähnlich zusammengesetzte Autorengruppe (Emanuel et al., 2021) sich dieses Themas wieder gewidmet und versucht normative Prinzipien zu entwickeln, nach denen eine globale gerechte Verteilung des Impfstoffs erreicht werden kann. Ausgangspunkt ist die Benennung von vier als unbestreitbar bezeichneten Prinzipien, denen ein ethischer Ansatz für die COVID-19-Impfstoffproduktion und Verteilung genügen muss. Dies sind die Optimierung der Impfstoffproduktion (die sowohl die Entwicklung, das Testen sowie das herstellen umfasst), die faire Verteilung, die Nachhaltigkeit der Lösung sowie die klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten. In der neueren Version werden vier Vorschläge diskutiert, die diese Kriterien erfüllen und zum Ziel der global gerechten Verteilung führen können. Das erste Modell basiert (wie im Status quo) allein auf bilateralen Verträgen und sieht vor, dass die Hersteller höhere Preise von reichen Ländern fordern sollen und niedrige Preise von Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen. So soll sichergestellt werden, dass „[p]rofits in rich countries are used to cross-subsidise the poorest countries rather than maximise profits“ (Emanuel et al., 2021). Aus ökonomischer Sicht ist diese Idee kritisch zu hinterfragen. Während in wettbewerblich

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geprägten Märkten Anbieter Anreize haben, das Instrument der Preisdifferenzierung zu nutzen, um unterschiedliche Zahlungsbereitschaften bzw. -fähigkeiten abzuschöpfen (und gerade damit ihren Gewinn zu erhöhen), ist angesichts der wenig wettbewerblich geprägten Marktstruktur zwischen den existierenden Impfstoffherstellern die wohlfahrtssteigernde Wirkung eines solchen Verhaltens ebenso unsicher wie die Anreize zu einem solchen Preissetzungsverhalten. Das zweite Modell, die Bereitstellung des Impfstoffs als globales öffentliches Gut – wie sie zum Beispiel auch von der (WHO, 2020) gefordert wurde –, geht davon aus, dass durch dieses Modell ein kostenloser Zugang für alle Länder zum Impfstoff sichergestellt werden kann. Zurecht weisen allerdings die Autoren (mit Verweis auf die Organisation Gavi) darauf hin, dass der Impfstoff selbst aufgrund vorhandener Rivalität im Konsum und von möglicher Exkludierbarkeit kein öffentliches Gut im ökonomischen Sinn darstellt, sondern allenfalls das Wissen über den Impfstoff (Emanuel et al., 2021). Daher wird gefordert nicht nur das durch Patente geschützte Wissen, sondern auch das ungeschützte spezifische Wissen für alle potentiellen Nutzer bereitzustellen. Um die Anreize für die pharmazeutische Industrie zu erhalten, in einer möglichen „nächsten Runde“ auch weiterhin Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zu entfalten, sollen die Inhaber des Wissens angemessen entschädigt werden. Ein anderer Vorschlag zur Beschleunigung der Produktion sieht daher vor, die finanziellen Mittel, mit denen COVAX bis dato ausgestattet ist, massiv zu erhöhen, um so einen globalen Fonds zu schaffen, der Patentrechte gezielt aufkauft und dann freigibt (Stolpe, 2021). Die Verfasser weisen selbst darauf hin, dass eine solche Lösung nicht allein durch die Pharmaindustrie möglich sei, sondern dass auch Zulieferer und Regierungen mit einbezogen werden müssten. Gleichzeitig verweisen sie darauf, dass ein solcher Wissenstransfer langwierig ist und damit, wie schon in Abschnitt 4 beschrieben, keine schnelle Lösung zur Erhöhung der Produktionsmenge liefern kann: „Transferring technology and scaling up production will take months, maybe years“ (Emanuel et al., 2021, S. 3). Als „teilweise bilateraler Ansatz“ bezeichnen die Autoren das dritte Modell (Emanuel et al., 2021). Es besteht aus einer Kombination von beschränkten bilateralen Verträgen und einer Vereinbarung, bestimmte Teile der Produktion an eine internationale Organisation, wie etwa COVAX, abzugeben. Damit soll der Zugang zum Impfstoff für die internationale Organisation von Beginn der Produktion an sichergestellt werden. Auch in diesem Modell ist eine Preisdifferenzierung vorgesehen: während die Hersteller die Impfstoffe zu einem hohen Preis an reiche Staaten abgeben sollen, soll von der internationalen Organisation nur ein niedriger Preis bezahlt werden. Der Vorteil dieses Modells besteht darin, dass die Pharmaunternehmen weiterhin Gewinne machen können, gleichzeitig aber eine gerechte Verteilung realisiert werden kann. Allerdings bleibt die Frage offen, woher die Finanzkraft der internationalen Organisation kommt. Wenn ein Modell wie zurzeit bei COVAX angedacht ist, erfolgt die Finanzierung über Spenden bzw. Mittelzusagen der reichen Staaten. In Verbindung mit der Vorabverteilung der knappen Impfstoffe auch schon an die internationale Organisation setzt dies eine deutlich höhere Kooperationsbereitschaft vor-

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aus als die jetzige COVAX-Logik. Diese hat bisher den Nachteil, dass die internationale Organisation letztlich nur die Mengen an Impfstoffen erhält, die von der Produktion „übrigbleiben“, da die reichen Staaten über ihre bilateralen Verträge vorab versorgt werden. Ein noch deutlich höheres Maß an internationaler Zusammenarbeit ist Voraussetzung für das Modell 4, das als „vollkommen multilateraler Ansatz bezeichnet wird“ (Emanuel et al., 2021). Hier soll es lediglich einen Liefervertrag zwischen dem Hersteller eines Impfstoffs sowie einer internationalen Organisation geben. Die Verteilung des Impfstoffs auf die unterschiedlichen Länder erfolgt allein über diese internationale Organisation – möglicherweise anhand der Kriterien, die von Emanuel et al. (2020) skizziert wurden. Der ökonomische Vorteil dieses Modells besteht erkennbar in der Bündelung der Nachfrage: Die Verhandlungsposition der internationalen Organisation ist die eines Monopsonisten mit entsprechende Marktmacht gegenüber den Herstellern (Ahuja et al., 2021). Eine kritische Voraussetzung für die Umsetzung dieses Modells ist jedoch das systematische Zurückstellen nationaler Interessen. Falls dies nicht gewährleistet ist, so die Autoren, könnten die Zahlerländer (zu ihren Gunsten) Einfluss auf die internationale Organisation bzw. ihr Verteilungsverhalten nehmen. Auch könnten die Länder, in denen die Impfstoffe hergestellt werden, die notwendigen Exporte begrenzen oder ganz verhindern. Insbesondere für den letztgenannten Punkt gab es in der aktuellen COVID-19-Pandemie Beispiele (Balzter, 2021). Aus den skizzierten Vor- und Nachteilen der vier Modelle ziehen die Autoren eine praktische Folgerung: Zurzeit sei – auch aufgrund der institutionellen Pfadabhängigkeiten des Status quo – nur eine Kombination aus Modell 3 und 1, angereichert um den in Modell 2 beschriebenen Wissenstransfer vorstellbar (Emanuel et al., 2021). Der gemeinsame Kern der vier Modelle besteht darin, den Pharmaunternehmen als Hersteller einen Großteil der Verantwortung für die gerechte internationale Verteilung zuzuschreiben. Zu einer gerechteren internationalen Verteilung tragen die Hersteller Moderna und BioNTech allerdings schon bei, indem sie – wie in Abschnitt 4 beschrieben – in Afrika Kapazitäten für die Produktion von mRNA Impfstoffen aufbauen.

2. Zur Verantwortung der reichen Staaten „Still, the slow response of wealthy countries to fund the COVAX initiative is regrettable for ethical reasons and because until COVID-19 is controlled throughout the world, all countries will be at risk of at least occasional outbreaks.“ (Bloom et al., 2021)

So plausibel die beschriebenen Modelle auch klingen mögen, sie leiden an dem bereits erwähnten Fokus auf die Pharmaunternehmen. Mithilfe von Vorschriften zur Preisdifferenzierung und anderen Vorgaben sollen diese den wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass eine gerechte Verteilung des Impfstoffs gelingen kann. Zwar wer-

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den auch weitere Akteure angesprochen, der Hauptfokus der Modelle verbleibt jedoch auf den Unternehmen. Kommt man aber zurück zum Eingangszitat, nach dem in der globalen COVID19-Krise „jeder“ eine moralische Verpflichtung hat, die Pandemie zu bekämpfen, kommt man nicht umhin, die Verantwortung der Staatengemeinschaft, insbesondere der reichen Länder zu thematisieren. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass Impfungen aus ökonomischer Sicht positive Externalitäten verursachen. Dies wird im Rahmen der nationalen Diskussion, etwa in Deutschland, oft betont, in der internationalen Diskussion weniger. Wenn in Zeiten einer intensiven Globalisierung nicht ein Impfschutz für die gesamte Weltbevölkerung existiert, werden Infektionen im Ausland durch Handel, Reisen etc. immer wieder auch zu einem inländischen Problem. Daher bezifferte eine US-amerikanische Studie im Jahr 2020 den gesellschaftlichen Nutzen einer zusätzlichen Impfung mit etwa 1.500 Euro (Ahuja et al., 2021, S. 1). Diese Externalität liegt wohl auch hinter der politisch oft geäußerten Idee, dass die Impfstoffe ein globales öffentliches Gut darstellen (Stein, 2021, S. 4/11). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Probleme in internationalen Lieferketten, die durch Lockdowns in anderen Ländern verursacht werden, insbesondere zu Lasten der entwickelten Volkswirtschaften gehen, die auf das Funktionieren der Lieferketten angewiesen sind. Damit sollte es im eigenen, wohlverstandenen Interesse der reichen Länder sein, den Zugang zu Impfstoffen auch in den Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen zu gewährleisten. Agarwal & Gopinath (2021) beziffern den gesamtwirtschaftlichen Nutzen aus der Beendigung der Pandemie bis 2025 auf weltweit 9 Billion USD. Davon entfallen allein 40 Prozent auf reiche Länder, die dadurch ihre Steuereinnahme um 1 Billion USD erhöhen könnten (IWF – Internationaler Währungsfonds, 2021). Folgt man der Logik der Funktionsweise von nationalen Gesundheitssystemen sollten diese Länder, etwa in Form der G20, explizit die Funktion der Zahler in einem quasi internationalen Gesundheitssystem übernehmen. Ein solcher Club der reichen Länder sollte Impfstoff von den Herstellern ankaufen und an die Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen weitergeben. Im Prinzip könnten die reichen Länder diese Verantwortung als Zahler im Rahmen der COVAX-Initiative wahrnehmen, über die dann die (bedarfs)gerechte Verteilung an die jeweiligen Länder erfolgt. Entsprechend wird COVAX in der Literatur auch als globaler Klub der Käufer und Verteiler bezeichnet (Stein, 2021, S. 4/11). Wie wenig aber die reichen Länder ihrer Verantwortung in der COVID-19-Pandemie bisher nachgekommen sind, zeigt ein Blick auf die Finanzierung von COVAX (vgl. Abschnitt 4). Aber was wäre nötig, um die Pandemie durch Impfungen auch in den Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen beherrschen zu können? Was müssten die reichen Länder an finanziellen Mittel zur Verfügung stellen, damit die ärmeren Länder nicht auf Preisdifferenzierungen der Hersteller o. ä. angewiesen sind?

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Dazu eine einfache Rechnung: Die Bundesregierung hat im Jahr 2021 8,8 Mrd. Euro für den Ankauf von 635,1 Millionen zusätzlichen Impfdosen „der Hersteller Biontech/Pfizer, Moderna und Astra-Zeneca“ veranschlagt (Bundestag, 2021, S. 18). Das entspricht einem Durchschnittspreis von ca. 14 Euro pro Impfdosis. Geht man davon aus, dass zwei Impfungen notwendig sind, um einen ausreichenden Impfschutz zu erlangen, ergeben sich Kosten für den Impfstoff von 28 Euro pro Kopf. Bezogen auf die Weltbevölkerung von 7,7 Mrd. Menschen ergibt sich daraus ein Finanzbedarf von 215,6 Mrd E. Zu dem von (Gavi, 2021c) verwendeten Wechselkurs entspräche das etwa 263 Mrd. USD. Berücksichtig man weiter, dass die OECD-Länder ca. 18 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren und in China und Indien weitere 36 Prozent verbleiben maximal 46 Prozent bzw. 3,5 Mrd. Menschen, die in Ländern leben, die potentiell auf die finanzielle Unterstützung durch reiche Länder sind. Der resultierende Finanzbedarf beträgt 99,2 Mrd. Euro (121,0 Mrd. USD). Agarwal & Gopinath (2021) ermitteln für ihren detaillierten Vorschlag zu Beendigung der Pandemie einen Finanzierungsbedarf von 50 Mrd. USD – inclusive der bisherigen COVAX- bzw. ACT-Akzelerator-Budget. Die Finanzierungslücke zur Umsetzung des Vorschlags, mit dem die COVAX-Ausstattung verbessert, höhere Testkapazitäten zur Verfügung gestellt und die Impfstoffproduktion ausgeweitet werden soll, wird auf 13 Mrd. USD beziffert. Einen höheren Finanzbedarf hat Ende Oktober 2021 die WHO verkündet: Sie weist zur Umsetzung des ACT-Akzelerator-Programms einen Bedarf von 23,4 Mrd. USD aus und beziffert den Vorteil für die Weltwirtschaft aus dem damit verbundenen Beenden der Pandemie auf 5,3 Billionen USD (WHO, 2021d). Der notwendige finanzielle Aufwand für die reichen Länder ist also in absoluten Größen überschaubar. Gleiches gilt auch in Relation zu den Ausgaben, die mit Lockdowns und Unterstützungsmaßnahmen für die inländische Wirtschaft bisher in den reichen Ländern verbunden waren. So weist allein die Deutsche Bundesregierung (2021) auf ihrer Homepage am 28. Oktober 2021 Hilfen in Höhe von 124,1 Mrd. Euro für die Wirtschaft seit Beginn der COVID-19-Pandemie aus. Hinzu kommen 40 Mrd. Euro an Kurzarbeitergeld für die Arbeitnehmer. Damit bleibt festzuhalten: Den Kosten für die Beendigung der Pandemie, die von den reichen Staaten übernommen werden müssten, steht ein hoher gesellschaftlicher Vorteil gegenüber. Selbst bei einem Preis von 28 Euro für den Impfstoff pro Kopf ist die Bereitstellung von Impfungen aus gesellschaftlicher Sicht eine äußerst lohnende Investition. Oder mit den Worten von Agarwal & Gopinath (2021): „[…] possibly be the highest-return public investment ever.“

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3. Nachtrag: Wir schreiben das Jahr 2022 Der vorliegende Beitrag ist in seiner ursprünglichen Form für die geplante Tagung im September 2021 entstanden, die pandemiebedingt abgesagt werden musste. Dann sollte die Tagung im September 2022 stattfindet. In der Zwischenzeit hat sich in der Welt einiges verändert (ebenso die Interessenlage für die Tagung): Nachdem Omikron zur dominierenden COVID-19-Variante geworden ist, ist die Zahl der pandemiebedingten Todesfälle zurückgegangen. Lockdowns finden – außerhalb von China – kaum noch statt. Aber obwohl weltweit inzwischen mehr als 12,45 Mrd. Impfdosen verabreicht wurden, ist die Pandemie noch lange nicht vorbei, weil die Verteilung der verfügbaren Impfstoffe weiterhin sehr ungleich ist. So stellen Mathieu et al. (2022) fest: „67.4 % of the world population has received at least one dose of a COVID-19 vaccine. […] 5.98 million are now administered each day. Only 20.7 % of people in low-income countries have received at least one dose.“ Die extreme Ungleichheit zeigt sich auch in Abbildung 2: Während in den Ländern mit hohem Einkommen jeder Einwohner im Durchschnitt schon mehr als zwei Mal geimpft wurde, kommen auf 100 Einwohner in Ländern mit niedrigem Einkommen nur etwa 30 verabreichte Impfdosen. Das deutet darauf hin, dass die internationalen Initiativen – wie COVAX – ihre Ziele noch nicht erreicht haben.

Abbildung 2: Verabreichte Impfdosen pro 100 Einwohner (Mathieu et al., 2022)

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Veröffentlichungen der Unicef und von Gavi weisen den Einkaufspreis der von COVAX beschafften Impfstoffe mit 1,66 USD pro Dosis aus (Stein, 2021, S. 7/ 11). Legt man diese Zahlen zugrunde, kommt man – bei einer Berechnung wie in Abschnitt 2 – auf einen Finanzbedarf für eine zweifache Impfung der Weltbevölkerung von 25,6 Mrd. USD. Für die o.g. 46 Prozent der Weltbevölkerung wären es 11,8 Mrd. USD. Die aktuellen Finanzierungszusagen für Gavi COVAX AMC belaufen sich (Stand April 2022) auf 12,4 Mrd. USD (Gavi, 2022). Das ist ein Plus von 4,6 Mrd. USD im Vergleich zum Vorjahr (vgl. Tabelle 1). Die Zusagen Deutschlands sind von 1,097 Mrd. auf 1,654 Mrd. USD angestiegene. Damit ist Deutschland noch immer der größte Zahler im Team Europa (vgl. Abschnitt 3). Hingegen hat sich der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Analysen etwas verlagert. Nun stehen die Fragen nach der Verbesserung der bereits vorhandenen Mechanismen, insbesondere COVAX, weit oben an auf der Agenda. Nun geht es um das Lernen aus den Erfahrungen, um für künftige Gesundheitskrisen besser gewappnet zu sein. Neuere Arbeiten beschäftigen sich daher mit der kritischen Analyse des „Impfstoff-Nationalismus“ (z. B. Eccleston-Turner & Upton, 2021; Zhou, 2022). Andere Studien analysieren die Faktoren, die zu einem besseren Zugang der Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen zu Impfstoffen geführt haben. So identifizieren Peacocke et al. (2021) im Rahmen eines Scoping Review von 45 Veröffentlichungen in peer-reviewed Journals vier Faktoren, die den Zugang zu Impfstoffen beeinflussen. Dies sind (i) kollektive vereinbarte globale Mechanismen und Vereinbarungen (wie etwa COVAX, die den Zugang erleichtern), (ii) die Vertragsgestaltung potentieller Käufer mit den Impfstoffherstellern (im Sinne des Impfstoff-Nationalismus wirken sich solche bilateralen Vereinbarungen negativ auf den Zugang für andere Länder aus), (iii) die großvolumige Impfstoffproduktion – mit einer Verbreitung des Produktions-Know Hows (als positiver Faktor für den Zugang), sowie (iv) die Fähigkeit der einzelnen Läden, Impfprogramme zu implementieren. Der letzte Punkt deutet darauf hin, dass neben dem reinen Zugang zu den Impfstoffen auch die Impf-Infrastruktur (incl. Transport und Distribution im Inland) wesentliche Faktoren für einen hohen Zugang der Bevölkerung darstellen (Aborode et al., 2021). Auf der politischen Agenda ist die COVID-19-Pandemie mit dem Beginn des Kriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine im Februar 2022– zumindest in den reichen westlichen Demokratien – nach hinten gerutscht. Nun stehen die Unterstützung der Ukraine und die Sicherung der Energieversorgung ganz weit oben auf der Agenda – auch auf der Homepage der Deutschen Bundesregierung (2022). Betrachtet man das finanzielle Volumen der Unterstützung der Ukraine, wird das Ausmaß der Ungleichbehandlung globaler Krisen in westlichen Ländern sehr deutlich: Seit Kriegsbeginn sind nach einer Zusammenstellung des IfW in Kiel bis zum 7. Juni 2022 Hilfszusagen im Umfang von etwa 85 Mrd. Euro von öffentlichen Stellen (Staaten, EU, internationale Förderbanken) für die Ukraine zusammengekommen (Antezza et al., 2022, S. 3). Ein Bruchteil davon hätte für den Einkauf aller not-

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wendigen Impfdosen zur globalen Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ausgereicht.

IV. Fazit Die Analysen im Kapitel II. haben gezeigt, dass es rein marktliche Anreize für die Entwicklung und Bereitstellung neuer Medikamente und Impfstoffe gibt, die im Wesentlichen aus den erwarteten Erlösen aus dem Verkauf neuer Arzneimittel resultieren. Sofern diese Anreize nicht ausreichen, können sie durch den Einsatz von Pullund Push-Instrumenten verbessert werden, um so eine Unterversorgung der Bevölkerung (insbes. im Bereich der seltenen Krankheiten) zu vermeiden. Mit Blick auf die Verantwortung bzw. Zuständigkeiten bis zur Bereitstellung neuer Medikamente und Impfstoffe sind nationale Regierungen für das Setzen adäquater Regulierungsund Anreizsysteme zuständig, die Pharmaunternehmen für Forschung, Entwicklung und Produktion. Die Zahler in den nationalen Gesundheitssystemen müssen für die Bereitstellung, d. h. die Sicherung des Zugangs für die betroffenen Menschen sorgen. Betrachtet man die aktuelle COVID-19-Pandemie, so hat sich zum einen auf Seiten der nationalen Regierungen der Instrumenteneinsatz verändert: Etablierte PushInstrumente wurden in früheren Phasen des Entwicklungsprozesses eingesetzt. Zum anderen traten neue Akteure auf, insbesondere internationale Organisationen als Allianzen von öffentlichen und privaten Akteuren. Auch das Verhalten der Pharmaunternehmen hat sich verändert – zur Überwindung der Krise besteht eine deutlich höhere Bereitschaft zur Kooperation untereinander und zum Wissenstransfer in andere Länder. Betrachtet man das Problem der Verteilung knapper Impfstoffmengen, so zeigt sich, dass eine Bündelung der Nachfrage (etwa durch die EU) dazu führen kann, Preise und Mengen gegenüber Herstellern besser verhandeln zu können (Ahuja et al., 2021). Gleichzeitig zeigt sich aber auch ein Mangel an internationaler Solidarität: Die reichen Länder haben sich frühzeitig größere Mengen der verfügbaren Impfstoffe gesichert, die Länder mit mittleren und niedrigen Einkommen stehen trotz COVAX in der „Warteschlange“. Betrachtet man die Logik der nationalen Gesundheitssysteme, so sollten die reichen Länder in einem quasi internationalen Gesundheitssystem nicht nur adäquate Instrumente zur Förderung der Entwicklung und Produktion von Impfstoffen einsetzen. Vielmehr sollten sie auch die Rolle der Zahler übernehmen – wenn schon nicht aus Solidarität, dann aus Eigeninteresse. Mit Blick auf die Pharmaunternehmen ist in der Phase anhaltend knapper Impfstoffmengen zu konstatieren, dass sie ihre Marktmacht nicht ausgenutzt haben, um von den Abnehmern Knappheitspreise zu verlangen, die den vorhandenen Nachfrag-

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überhang abbilden. So stellen Ahuja et al. (2021) fest: „However, during the current pandemic, prices have not skyrocketed.“ Das bedeutet, dass die Anreize für die Entwicklung und Produktion gut funktioniert haben und die Preise Verhandlungspreise im quasi bilateralen Monopol blieben – und keine wettbewerblichen Marktpreise wurden. Schließlich gibt die Absicht der beiden großen mRNA-Impfstoffhersteller, Produktionskapazitäten in Afrika aufzubauen und so dort den Zugang zu neuen Impfstoffen zu verbessern, die Hoffnung, dass die Staatengemeinschaft auf die nächste Pandemie besser vorbereitet ist – und auch eine gerechte Verteilung schneller gelingen kann als wir es momentan noch immer erleben. Dass diese notwendig ist, wird auch in der internationalen Politik wahrgenommen (Kagame et al., 2022). Ob das Problem tatsächlich durch internationale Solidarität gelöst wird, bleibt abzuwarten. Literatur Aborode, A. T./Olofinsao, O. A./Osmond, E./Batubo, A. P./Fayemiro, O./Sherifdeen, O./Muraina, L./Obadawo, B. S./Ahmad, S./Fajemisin, E. A.: Equal access of COVID-19 vaccine distribution in Africa: Challenges and way forward, in: Journal of Medical Virology (Hrsg.), 2021, 93(9), 5212 – 5215, https://doi.org/10.1002/JMV.27095. Abrams, D. S.: Did TRIPS Spur Innovation? An Empirical Analysis of Patent Duration and Incentives to Innovate, in: Faculty Scholarship (Hrsg), 2009, No. 274, http://scholarship.law. upenn.edu/faculty_scholarship/274. Acemoglu, D./Linn, J.: Market Size in Innovation: Theory and Evidence from the Pharmaceutical Industry, in: The Quarterly Journal of Economics (Hrsg.), 2004, 119(3), 1049 – 1090, https://doi.org/10.1162/0033553041502144. Agarwal, R./Gopinath, G.: A Proposal to End the COVID-19 Pandemic, 2021/004. Ahuja, A./Athey, S./Baker, A./Budish, E./Castillo, J. C./Glennerster, R./Kominers, S. D./Kremer, M./Lee, J./Prendergast, C./Snyder, C. M./Tabarrok, A./Tan, B. J./Wiecek, W.: Preparing for a Pandemic: Accelerating Vaccine Availability No. 2021 – 08. Antezza, A./Frank, A./Frank, P./Franz, L./Rebinskaya, E./Trebesch, C.: The Ukraine Support Tracker: Which countries help Ukraine and how? In: No. 2218, Kiel Working Paper (Hrsg.), 2022, www.ifw-kiel.de. Auswärtiges Amt: Corona gemeinsam und solidarisch bekämpfen: Deutschland spendet Impfstoffe, 2021, October 20, in: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/ge sundheit/covax/2395748. Balzter, S.: „So können wir die Seuche nicht besiegen“, 2021, September 22, in: FAZ Online (Hrsg.), https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/so-koennen-wir-die-seuche-nicht-besiegen17542152.html#void. Bloom, D. E./Cadarette, D./Ferranna, M./Hyer, R. N./Tortorice, D. L.: How new models of vaccine development for covid-19 have helped address an epic public health crisis, in: Health Affairs (Hrsg.), 2021, 40(3), 410 – 418, https://doi.org/10.1377/hlthaff.2020.02012.

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Zwischen Markt und Moral. Verantwortung und Anreize in der Medikamentenund Impfstoffversorgung in Zeiten einer globalen Gesundheitskrise – Korreferat zu Dirk Sauerland – Von Tim Goydke

I. Einleitung Die COVID-19-Pandemie hat die globalen Gesundheitssysteme auf die Probe gestellt und die Bedeutung einer zuverlässigen Medikamenten- und Impfstoffversorgung betont. Die Entwicklung und Produktion von Medikamenten und Impfstoffen muss sowohl ethischen Grundsätzen als auch ökonomischen Anreizen gerecht werden. Der Beitrag von Sauerland beschreibt den Prozess der Bereitstellung von pharmazeutischen Produkten und diskutiert die Rolle von Anreizen bei der Entwicklung und Vermarktung von Medikamenten und Impfstoffen. In diesem Kommentar soll die Spannung zwischen Markt und Moral in der Medikamenten- und Impfstoffversorgung sowie die Rolle von Verantwortung und Anreizen in einer globalen Gesundheitskrise diskutiert werden.

II. Herausforderungen der Pharmaindustrie zwischen gesellschaftlichem Anspruch und wirtschaftlicher Notwendigkeit Es erscheint sinnvoll für eine ethische Betrachtung des Handelns der Pharmaindustrie verschiedene Ebenen zu unterscheiden. Zunächst einmal bietet sich eine Unterscheidung in Wirtschaftsethik und Unternehmensethik an. Wirtschaftsethik im Sinne einer Ordnungs- oder Institutionenethik fragt nach der moralischen Gestaltung der staatlichen Rahmenbedingungen durch politische Entscheidungsprozesse. Untersuchungsgegenstand ist also der Staat, das Wirtschaftssystem und die Gesamtgesellschaft. Hierbei werden gesellschaftspolitische Aspekte, die Konsistenz ökonomischer Theoriebildung und die Auswirkungen wirtschaftspolitischer Aktivitäten the-

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matisiert. Unternehmensethik hingegen befasst sich mit ethischen Aspekten der Unternehmensstruktur und -kultur und sucht die Frage des angemessenen individuellen Verhaltens in wirtschaftlich geprägten Lebensbereichen zu beantworten. Dies umfasst auch die Verantwortung einzelner Mitarbeiter sowie die Rolle des Einzelnen im Unternehmen und die Frage, wie mit Rollenkonflikten umgegangen werden soll. Gelegentlich wird auch empfohlen noch eine Zwischenebene (Mesoebene) in die Betrachtung aufzunehmen (z. B. Bookhagen, 2001), die das gesamte Organisationsverhalten in den Fokus nimmt und die moralische Verantwortung von Unternehmen gegenüber internen und externen Interessengruppen, ethische Aspekte der Unternehmensführung sowie die Frage nach der moralischen Dimension von Unternehmenspolitik und -zielen umfasst (Aßländer 2011). In der unternehmerischen Entscheidungsfindung scheinen moralische Gebote und Verbote nur dann relevant zu sein, wenn sie keine ökonomischen Interessen beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise die Systemzwänge des Wettbewerbs zu nennen, die dazu führen, dass es notwendig erscheint, sich durch Missachtung moralischer Prinzipien einen Wettbewerbsvorteil in einer Konkurrenzsituation zu verschaffen. Wenn sich alle Mitbewerber an einen bestimmten Moralstandard halten, hat derjenige, der diesen Standard marginal unterschreitet, ohne dabei Sanktionen fürchten zu müssen, einen Wettbewerbsvorteil. Die Konkurrenten im Markt werden dadurch gezwungen, sich ebenfalls an diese niedrigeren Moralstandards anzupassen, um im Wettbewerb bestehen zu können. Die Folge davon ist ein Absinken der Grenzmoral im wirtschaftlichen Gefüge (Aßländer 2011). Sauerland argumentiert, dass neben den marktlichen Anreizen, die Unternehmen dazu bringen, neue Produkte zu entwickeln und zu verkaufen, zusätzliche Innovationsanreize gesetzt werden müssen, um eine ausreichende Versorgung mit benötigten Arzneimitteln sicherzustellen. Wie kaum ein anderer Wirtschaftszweig bewegen sich Pharmaunternehmen in einem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Anspruch und wirtschaftlicher Notwendigkeit. In der öffentlichen Wahrnehmung und in der Politik wird die Pharmaindustrie als Akteur wahrgenommen, der erhebliche und steigende Gewinne mit der Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung macht und damit gegen das gesellschaftliche Verständnis von einer Solidargemeinschaft verstößt. Dabei wird häufig übersehen, dass die Branche sich insbesondere im Bereich verschreibungspflichtiger und erstattungsfähiger Arzneimittel in einem staatlich regulierten Gesundheitssystem bewegen, in dem marktwirtschaftliche Prinzipien nicht bzw. nur sehr eingeschränkt gelten (Sawad/Andrews 2021). Neben der begrenzten Preissetzungsfreiheit – die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente werden in der Regel von Regierungen und öffentlichen Krankenversicherungen festgelegt –, ist die Zulassung von neuen Medikamenten stark reguliert, was die Einführung neuer Produkte erschwert. Zudem muss die Pharmaindustrie hohe Kosten für Forschung und Entwicklung aufwenden, um neue Medikamente zu entwickeln und durch Zulassungsverfahren zu bringen und der Erfolg hängt oft

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von der Aufnahme neuer Medikamente in die Liste der erstattungsfähigen Medikamente bei den Krankenkassen ab (Moreno-Serra 2014).

III. Die Frage nach dem gerechten Zugang zum Impfstoff Die angemessene Behandlung des COVID-19-Impfstoffs hat seit Beginn der Pandemie eine kontroverse Diskussion ausgelöst. Es ist sicher richtig, dass in der Anfangsphase der Pandemie der Impfstoff als knappes Gut zu betrachten war bzw. auch im späteren Verlauf durch die Beschaffungspolitik und das Horten von Impfstoffen in vielen Industrieländer eine künstliche Verknappung erzeugt wurde, inzwischen aber ausreichend Impfstoff zur Verfügung stände. Das führt zu der Frage, ob der Impfstoff inzwischen nicht eher als Allmendegut (kein rationierter Zugang, Konsumrivalität) bzw. Mautgut (rationierter Zugang; keine Konsumrivalität) zu betrachten wäre. Die Betrachtung als Allmendegut ist naheliegend und entspricht der gesellschaftlichen Forderung, dass alle Menschen ungeachtet ihrer finanziellen Situation Zugang zum Impfstoff haben sollten. Als Mautgut könnte der Impfstoff hingegen als ein Gut betrachtet werden, das rationiert und reglementiert wird, um sicherzustellen, dass jeder, der es benötigt, einen fairen und gerechten Zugang erhält. Auch werden Anreize für Forschung und Entwicklung geschaffen, da Unternehmen, die in Impfstoffe investieren, eine angemessene Rendite für ihre Investitionen erwarten können. Durchaus naheliegend ist eine Kombination beider Ansätze. In der Praxis wurden ja tatsächlich Impfstoffe gegen COVID-19 von Regierungen auf der ganzen Welt subventioniert und kostenlos zur Verfügung gestellt, um zu gewährleisten, dass diejenigen, die sie benötigen, sie erhalten können. Gleichzeitig wurden jedoch auch Prioritätsgruppen festgelegt, um sicherzustellen, dass diejenigen, die ein höheres Risiko haben, zuerst geimpft werden (Emanuel et al. 2020, Gupta/Morain 2021, Bollyky/Brown 2021).

IV. Impfstoffe als globale öffentliche Güter: Herausforderungen bei der Umsetzung und Verteilung Sauerland stellt in seinem Beitrag die Debatte um COVID-19-Impfstoffe als globale öffentliche/gemeinschaftliche Güter dar und stellt Ansätze vor, die aus einer normativen Sicht die Anerkennung als öffentliches Gut fordern. Er weist auch darauf hin, dass in der Praxis aufgrund der vorhandenen Rivalität im Konsum und der de facto Ausschließbarkeit kein öffentliches Gut im ökonomischen Sinn vorliegt. Korrekter wäre wohl zu formulieren, dass das derzeitige gesetzliche Eigentumsregime, das auf Impfstoffe angewendet wird, ein an sich nicht ausschließbares ge-

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meinsames/öffentliches Gut (die Impfstoffe) in etwas verwandelt hat, das eindeutig ausschließbar und im Verbrauch konkurrierend ist. Hier wäre nochmal zu unterstreichen, dass sie auch gerade dadurch zu privaten Gütern werden, da sie durch geistige Eigentumsrechte (Intellectual Property Rights, IPRs) geschützt sind. Die grundlegende Funktion von Rechten des geistigen Eigentums besteht allerdings ja gerade darin, Produkte oder Technologien ausschließlich für ihre Eigentümer zugänglich zu machen. Obwohl das globale System des geistigen Eigentums die Offenlegung und Verbreitung von Informationen zu Patenten und anderen Rechten erfordert, um den Zugang zu technischen Informationen zu gewährleisten, kann selbst für Wissen – ein gemeinsames/öffentliches Gut schlechthin –, die Nichtausschließbarkeit eine sehr schwer zu erfüllende Bedingung im Rahmen des derzeitigen IPR-Systems sein. Dies gilt auch für Daten klinischer Studien sowie patentierte Dokumente im Zusammenhang mit der Prävention, Erkennung und Behandlung von COVID-19. Obwohl die Sicherheit und Wirksamkeit solcher Produkte zweifellos nicht ausschließbar sind, wurden sie aufgrund nationaler Regulierungspolitik in vielen Jurisdiktionen zu vollständig besitzbaren und ausschließbaren Gütern gemacht. Daraus leitet sich die Frage ab, ob das WTO-Übereinkommen zu handelsbezogene Aspekte des Schutzes geistigen Eigentums (TRIPS) wie ursprünglich gedacht, den Zugang zu bestehenden Technologien erleichtert und die Entwicklung, Herstellung und Verbreitung neuer Technologien fördert, oder nicht tatsächlich ein an sich nicht ausschließbares öffentliches Gut (die Impfstoffe aufgrund ihrer Art und Eigenschaften) in etwas Ausschließbares und Rivalisierendes im Verbrauch verwandelt hat (Shadlen 2011, Kapczynski 2007). Für diese Frage haben sich im Laufe der Zeit zwei relevante Diskurse herauskristallisiert: zum einen die bekannte, erstmals 1968 von Garrett Hardin entwickelte Theorie der „Tragödie der Allmende“ (Hardin 1968), da Länder oder Individuen ggf. versucht sind, ihre eigenen Interessen auf Kosten der gemeinschaftlichen Interessen durchzusetzen, und zum anderen der Diskurs um die Prinzipien, Regeln und Standards (Governance), die erforderlich sind, um die Gemeingüter zu regulieren. Die Governance von Gemeingütern wie Impfstoffen erfordert eine Zusammenarbeit auf nationaler und internationaler Ebene, um gemeinsame Regeln und Standards festzulegen und zu implementieren. Völkerrechtliche Diskurse haben sich im Allgemeinen darauf konzentriert, dass globale Gemeinschaftsgüter starke, faire und effiziente öffentliche Regulierungen benötigen, um Nutzungsrechte, Kosten und Nutzen richtig zuzuweisen (Hurrell 2007). Zu klären ist in dem Zusammenhang, mit welchen politischen und institutionellen Mitteln eine gerechte Verteilung erreicht werden kann. Dabei geht es ganz grundsätzlich um die Frage, nach welchen Prinzipien die Verteilung erfolgen soll: Neben einer klassischen Gleichverteilung, wäre auch das Rawlsche Differenzprinzip denkbar, welches den größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder postuliert (Rawls 1979).

Zwischen Markt und Moral

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Dies würde aber natürlich eine alternative politische Ordnung erfordern, die Souveränität entweder auf der höchsten Ebene bündelt (Weltstaat), um die Einhaltung von Standards global durchzusetzen, oder aber ein System der ,checks and balances‘, welches es ermöglicht, dem zwar rationalen, aber letztlich selbstzerstörerischen Streben von Einzelstaaten Einhalt zu gebieten (Boschiero 2022). Ein Blick auf die Versuche, global verbindliche Nachhaltigkeitsstandards zu vereinbaren, zeigt jedoch die Grenzen derartiger Ansinnen auf. Solange keine überstaatliche Gewalt existiert, bleiben als Druckmittel im Falle der Nicht-Befolgung lediglich diplomatische oder wirtschaftliche Sanktionen. Dieses Druckmittel vermag Staaten jedoch nur selten dazu zu bewegen, sich an vereinbarte Vorgaben zu halten. Letztlich dürfte ein Weltstaat auf absehbare Zeit eine Utopie bleiben, da realistischer Weise nicht zu erwarten ist, dass souveräne Staaten freiwillig auf ihre ökonomische und militärische Macht verzichten.

V. Schlussbetrachtung Die COVID-19-Pandemie hat die Bedeutung einer zuverlässigen Medikamentenund Impfstoffversorgung betont. Der Beitrag von Sauerland beschreibt den Prozess der Bereitstellung von pharmazeutischen Produkten umfassend und ausführlich und diskutiert die Rolle von Anreizen bei der Entwicklung und Vermarktung von Medikamenten und Impfstoffen. Regierungen müssten ihre Verantwortung stärker wahrnehmen und Anreize schaffen, um eine ausreichende und gerechte Versorgung mit Medikamenten und Impfstoffen zu gewährleisten. Das Thema der Impfstoffe als globale öffentliche Güter birgt weiterhin große Herausforderungen bei der Umsetzung und Verteilung. Die vorhandene Rivalität im Konsum und der de facto Ausschließbarkeit bei den Impfstoffen durch geistige Eigentumsrechte erschwert die Umsetzung und Verteilung. Die COVID-19-Pandemie hat sehr deutlich die Frage aufgeworfen, ob das WTO-Übereinkommen zu handelsbezogene Aspekte des Schutzes geistigen Eigentums (TRIPS) nicht tatsächlich ein an sich nicht ausschließbares öffentliches Gut in etwas Ausschließbares und Rivalisierendes im Verbrauch verwandelt hat. Eine wirklich gerechte Verteilung der Impfstoffe würde offensichtlich eine alternative politische Ordnung erfordern, die aber auch in absehbarer Zukunft an dem eher zunehmenden als abnehmenden nationalen Egoismen scheitern dürfte.

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Literatur Aßländer, M. S.: Corporate social responsibility as subsidiary co-responsibility: A macroeconomic perspective, in: Journal of Business Ethics, 99(1), 2011, S. 115 – 128. Bollyky, T. J./Bown, C. P.: The tragedy of vaccine nationalism: Only cooperation can end the pandemic, in: Foreign Affairs, 99, 2020, S. 96. Bookhagen, A.: Theoretische Begründung ethischen Verhaltens von Unternehmen, in: Ethische Positionierung. Gabler Edition Wissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, 2001. Boschiero, N.: COVID-19 Vaccines as Global Common Goods: An Integrated Approach of Ethical, Economic Policy and Intellectual Property Management, in: Global Jurist, vol. 22, no. 2, 2022, S. 177 – 230. Eichner, R./Hehn, N.: Implications of health system cost containment measures for pharmaceutical companies: case studies from Germany and England, in: The European Journal of Health Economics, 21(2), 2020, S. 85 – 296. Emanuel, E. J./Persad, G./Kern, A./Buchanan, A.: An ethical framework for global vaccine allocation, in: Science, 369(6509), 2020, S. 1309 – 1312. Gupta, R./Morain, S. R.: Ethical allocation of future COVID-19 vaccines, in: Journal of Medical Ethics, 47(3), 2021, S. 137 – 141. Hardin, G.: The tragedy of the commons, in: Science, 162(3859), 1968, S. 1243 – 1248. Hurrell, A.: On Global Order: Power, Values, and the Constitution of International Society. Oxford: Oxford University Press, 2007. Kapczynski, A.: The access to knowledge mobilization and the new politics of intellectual property, in: Yale Journal of Law, 117, 2007, S. 804. Moreno-Serra, R.: The impact of cost-containment policies on health expenditure: evidence from recent OECD experiences, in: OECD Journal on Budgeting, 13(3), 2014, S. 1 – 29. Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M., 1979. Sawad, A. B./Andrews, K.: General Theory of Marketing Ethics and Unethical Behavior in the Pharmaceutical Industry Field, in: International Journal of Pharmaceutical Research & Allied Sciences, 10(3), 2021. Shadlen, K. C.: The political contradictions of incremental innovation: Lessons from pharmaceutical patent examination in Brazil, in: Politics & Society, 39(2), 2011, 143 – 174.

Arzneimittel- und Medizintechnikversorgung in einer Pandemie – Angebots- und Nachfrageherausforderungen – Korreferat zu Dirk Sauerland – Von Eric Meyer

I. Einleitung In seinem Beitrag gibt Sauerland einen Überblick, wie Medikamente entwickelt werden und welche wirtschaftlichen Prozessschritte von der Forschung und Zulassung über die Produktion bis zum Vertrieb hierfür notwendig sind. Dabei macht er deutlich, welchen Rahmenbedingungen die Medikamentenentwicklung und -produktion unterliegt und wie diese finanziert werden können. Vor diesem Hintergrund kann er dann die wesentlichen Maßnahmen beschreiben, die im Rahmen der COVID19-Pandemie ergriffen worden sind. Dieses geschieht vollständig und verschafft einen sehr guten Überblick, so dass aus ökonomischer Sicht kaum noch Ergänzungsbedarf besteht. Dieser Beitrag soll deshalb die Ausführungen von Sauerland lediglich ergänzen und eine allgemeinere ökonomische Perspektive einnehmen, um einige grundlegenden ökonomische Effekte darzulegen, die die Bekämpfung von Pandemien bestimmen. Dabei ist von den grundlegenden Eigenschaften einer Pandemie auszugehen, die im Beitrag von Sauerland eher nur beiläufig angesprochen werden. Erstens ist eine Pandemie ihrer Definition nach eine sich sehr weit verbreitende, meist weltweite auftretende Infektionskrankheit, was eine sehr hohe Nachfrage nach Medikamenten, Vakzinen und anderen therapeutischen und medizintechnischen Produkten zur Folge hat. Zweitens tritt eine solche Pandemie meist sehr kurzfristig und schnell auf. Es besteht also nur wenig Zeit um zu handeln, was eine Versorgung zusätzlich erschwert. Beides zusammen führt wiederum dazu, dass die Nachfrage regelmäßig das Angebot überschießt und kurzfristig Allokationsentscheidungen zu treffen sind. Dieses soll der Schwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen sein.

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II. Der Faktor Zeit 1. Produktion Bei einer Pandemie gilt es grundsätzlich zu unterscheiden, ob es sich um einen bekannten Erreger oder einen neuen Krankheitserreger handelt. Bei einem bekannten (oder mit einem solchen eng verwandten) Krankheitserreger konzentrieren sich die Herausforderungen im Wesentlichen auf die Produktion und Verteilung von Medikamenten, Impfstoffen und Medizintechnik. Bei einem neuen Krankheitserreger ist auch Forschung und Entwicklung erforderlich, was zusätzliche Herausforderungen schafft, auf die im Folgeabschnitt eingegangen wird. Im Falle einer bekannten Pandemie erhöht sich die Nachfrage nach Medikamenten, Impfstoffen und anderen medizinischen Gerät sehr schnell. Dieser schnelle Nachfrageanstieg im Falle einer Pandemie führt dazu, dass die Nachfrage in den senkrechten Bereich der Angebotskurve gerät, eine weitere Ausdehnung der Nachfrage kann dann nicht mehr durch ein zusätzliches Angebot gedeckt werden, sondern führt ausschließlich zu höheren Preisen. Dieses ist in Abbildung 1 verdeutlicht.

Abbildung 1: Senkrechte Angebotsfunktion

Für die Pandemiebekämpfung bedeutet dieses, dass zunächst weitere Medikamente produziert werden können, indem bestehende Produktionskapazitäten weiter

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ausgelastet werden (z. B. durch Überstunden), dieses kann aber nur zu leicht höheren Kosten erfolgen. Bei einem pandemietypischen starken Anstieg der Nachfrage reichen die Produktionskapazitäten nicht mehr aus und können kurzfristig nicht erweitert werden, so dass eine weitere Steigerung der Nachfrage nur noch zu weiter steigenden Preisen führt. Dieses ist letztlich der Kern der Herausforderungen einer Medikamentenversorgung in einem Pandemiefall. Die senkrechte Nachfrage hat zudem noch Verteilungseffekte. Der Umsatz bestimmt sich als Produkt von Preis und abgesetzter Menge. Steigt nun der Preis, so steigt damit ausschließlich der Gewinn der Produzenten, da die Kosten (Fläche unter der Angebotskurve) unverändert bleiben. Davon profitieren dann zunächst in dieser statischen Betrachtung ausschließlich die bereits im Markt aktiven Anbieter. In einer Pandemie kann erschwerend hinzutreten, dass durch die Pandemie selbst die Produktionskapazitäten eingeschränkt werden, da z. B. Personal durch Erkrankung nicht verfügbar ist oder durch andere administrative Beschränkungen wie Lock-downs Einschränkungen bestehen. In diesem Fall würde sich die Angebotskurve nach links verschieben und den Preis weiter erhöhen. Nun besteht aber eine bedeutsame Nachfrage nach Medikamenten fort und eine fehlende Versorgung führt im schlimmsten Fall zu zahlreichen Todesfällen. Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es in einer solchen Situation? Ein Management der pandemie-getriebenen Nachfrage wird später noch diskutiert. Zunächst soll das Angebot im Fokus stehen. Im (theoretischen) Normalfall sollten die höheren Preise dazu führen, dass zusätzliches Angebot geschaffen werden kann. Dieses konnte auch im Zuge der COVID-19-Pandemie beobachtet werden, als sich neue Anbieter im Bereich der Versorgung mit Masken gezeigt haben, um diese kurzfristigen Bedarfe zu decken. Ähnliches konnte im Bereich der Bereitstellung von Tests beobachtet werden. Diese Bereitstellung zusätzlicher Produktionskapazitäten hängt davon ab, wie komplex die Produktions- und Beschaffungsprozesse sind. Je einfacher sie sind, desto günstiger und desto schneller können zusätzliche Kapazitäten bereitgestellt werden. Die daraus resultierenden Umstellungs- und Einrichtungskosten müssen durch die höheren Preise gedeckt werden. Mit der dann bereitstehenden zusätzlichen Produktionskapazität sinken dann auch wieder die Preise, so dass nur für eine kurze Zeit diese Zusatzgewinne bestehen würden. Die höheren Preise sind also Anreiz für den (meist nur temporären) Markteintritt neuer Anbieter, sie erhöhen aber auch die Gewinne der etablierten Anbieter. Unsicherheit über die erwarteten Zusatzgewinne und ihre Dauer kann ein ernsthaftes Investitionshemmnis sein. Die Reaktionsfähigkeit hängt – wie angesprochen – von der Komplexität von Beschaffungs- und Produktionsprozessen zusammen. In einer Pandemie ist eine rasche Produktionsausweitung erforderlich. Dafür muss dieses Preissignal aber nicht nur in benachbarten Produktionsprozessen, sondern auch entlang von Wertschöpfungsketten wahrgenommen werden. Diese reagieren aber auch zeitverzögert. Für die Produktion von Medikamenten werden wiederum Vorprodukte (Chemikalien) benötigt, für die auch nur beschränkte Produktionskapazitäten bestehen, so dass sich dieses

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Phänomen einer senkrechten Angebotskurve auch auf vorangehenden Produktionsstufen fortsetzen kann und auch dort ist ein entsprechender Prozess nötig, um die Kapazitäten zu erweitern, was wiederum zusätzliche Zeit beansprucht. Gibt es wirtschaftspolitische Möglichkeiten diese Prozesse zu beschleunigen oder zumindest zu begünstigen? Dem Staat bieten sich zwei Handlungsparameter: der Preis und die Steuerung der angebotenen Menge über staatlich finanzierte, regulierte oder bereitgestellte Produktionskapazitäten. Politisch könnte die Versuchung bestehen, den Preis zu deckeln, da die Produktionskapazitäten beschränkt sind und die Knappheitspreise damit nur zu höheren Gewinnen führen würden. Dieses lässt jedoch die Anreizeffekte unbeachtet, die von den Preisen ausgehen und da somit weniger Anreize zur Schaffung neuer (temporärer) Produktionskapazitäten bestehen, müsste eine solche Maßnahme entweder durch eine Nachfragesteuerung oder durch eine Förderung der Bereitstellung von Produktionskapazitäten flankiert sein. Außerdem wäre nach den Medikamenten oder Medizingeräten zu differenzieren, die von einer solchen Preisdeckelung betroffen wären. Die Medikamentenversorgung der Patienten erfolgt über den Leistungskatalog der Krankenkassen, so dass hier keine echte Deckelung möglich ist. Wenn der Eingriff im Verhältnis zwischen den Krankenversicherungen und den Medikamenten oder Impfstoffherstellern erfolgt, bringt eine Preisdeckelung kaum einen Erfolg, da gerade im Fall der Pandemie eine weltweite Nachfrage und damit auch eine Konkurrenz der Versicherungssysteme besteht, so dass ein Preisdeckel lediglich dazu führen würde, dass Nachfrage nicht bedient würde. Dieses ist letztlich auch einer der Gründe, warum im Falle der Impfstoffnachfrage ein Nachfragekartell gebildet wurde. Bei Medizingeräten (z. B. im Falle der COVID-19-Pandemie Beatmungsgeräten) erfolgt die Nachfrage durch die Krankenhäuser. Auch hier würde ein Preisdeckel kaum wirksam sein und es kämen jene Krankenhäuser zum Zuge, die bereit sind die höheren Preise – ggf. auf Sekundärmärkten – zu bezahlen und deren Remunerationssysteme in der Lage sind diese Extrakosten auszugleichen. Preisinterventionen lösen also das Kapazitätsproblem nicht. Im Zweifelsfalle verschärfen sie diese sogar. Die Regulierung der Produktionskapazitäten durch den Staat findet sich auch auf anderen Märkten wie z. B. dem Strommarkt. Ließe sich dieses für die Versorgung in einer Pandemie in ähnlicher Weise anwenden? Für die Bereitstellung der Spitzenlast auf Strommärkten werden Kraftwerke benötigt, die nur kurze Zeit im Jahr in Betrieb sind und nur dann Erträge erwirtschaften können. Zur Kostendeckung müssen dann die Preise sehr hoch sein, um die Bereithaltung von Reserven attraktiv zu machen (Marktlösung). Alternativ können Kapazitätsmärkte aufgebaut werden, in denen Produzenten für die Bereithaltung von Produktionskapazitäten ein (reguliertes) Entgelt erhalten. Für eine Pandemiebekämpfung wären solche Kapazitätsmärkte jedoch kaum nutzbar. Erstens bedarf es genauer Kenntnisse über die Pandemie und über die mögliche Zahl der Patienten und damit der Nachfrage. Zweitens sind die Anforderungen an die Produktion ex ante unbekannt, da die Pandemie selbst unbekannt ist. D. h. es sind weder die benötigten Impfstoffe, noch die notwendigen Medikamente bekannt und für unterschiedliche Impfstoffe und insb. Medikamente bedarf es unter-

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schiedlicher Produktionsprozesse. Ähnliches gilt für Medizingeräte wie z. B. Beatmungsgeräte. Diese waren hilfreich im Falle der COVID-19-Pandemie, wären aber nutzlos für eine Pandemie, die z. B. Durchfallerkrankungen zur Folge haben. Hinzu kommt das Problem, dass die Kapazitäten nicht nur für eine Wertschöpfungsstufe, sondern auch für die Produktion von notwendigen Vorprodukten in der Wertschöpfungskette antizipiert werden muss. Damit lässt sich kein vorausschauender Kapazitätsmarkt aufbauen. Da kaum eine sinnvolle Bevorratung von Produktionskapazitäten möglich ist, muss die Kapazitätsschaffung ex post nach Eintreten der Pandemie erfolgen. Auch hier unterliegt eine staatliche Unterstützung der Schaffung von Produktionskapazitäten dem Problem der asymmetrischen Informationen, d. h. der Staat besitzt wenig Informationen darüber, wo Kapazitäten sinnvoll und kostengünstig (temporär) aufgebaut werden können. Die Unterstützung muss also auf das Produzentenwissen zurückgreifen, da dort die Informationen am leichtesten verfügbar sind, welche Unternehmen über ein entsprechendes Know-How und über geeignete Technologie verfügen, um in der Produktion durch Umrüstung aktiv werden zu können. Dieses wird aber letztlich am besten dadurch erreicht, dass den Unternehmen entsprechende Preise angeboten werden, die eine solche Aktivierung von Kapazitäten bei Drittunternehmen erlauben. Auch zweiteilige Tarife, zusammengesetzt aus einer variablen Medikamentenkomponente und einer fixen Investitionskomponente sind hierfür denkbar.

2. Forschung und Entwicklung Im Falle einer Pandemie, die durch einen noch unbekannten Krankheitserreger verursacht wird, tritt zu den Kapazitätsproblemen in der Produktion das Problem hinzu, dass geeignete Impfstoffe und Medikamente noch entwickelt werden müssen. Sauerland erläutert richtig und ausführlich, wie dieser Forschungs- und Entwicklungsprozess abläuft. Die dort erläuterten Forschungsphasen mit Wirkungsevaluation und Zulassungsverfahren sind dadurch begründet, erstens eine Wirkung nachzuweisen und zweitens Nebenwirkungen weitgehend ausschließen zu können, weshalb diese Entwicklung lange Zeiträume beansprucht. Diese langen Zeiträume stehen im Falle einer Pandemie nicht zur Verfügung. Deshalb muss die Risikoallokation geändert werden. Durch eine fehlende Testung kann erstens eine hinreichende Wirksamkeit u. U. nicht oder zumindest nicht mit derselben Verlässlichkeit nachgewiesen werden und zweitens können mögliche Nebenwirkungen insb. in der langen Frist nicht ausreichend ausgewertet werden. Ob und in welchem Maße auf eine adäquate Risikobeurteilung im Falle einer Pandemie verzichtet wird, hängt auch von der Risikoeinschätzung der Pandemie ab. Würde das Risiko ganz vollständig den Entwicklern von Impfstoffen und Medikamenten übertragen, so würden diese die daraus entstehenden Haftungsrisiken einpreisen und/oder die Entwicklung der Medikamente verzögern, um eine höhere Gewissheit zu Wirkungen und Nebenwirkungen zu erlangen. Letzteres wäre aber im Widerspruch zum Bedarf einer schnellen Verfügbarkeit

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der Medikamente und Impfstoffe insbesondere bei besonders virulenten Pandemien. In diesen Fällen kann eine Übertragung des Restrisikos auf den Staat erwogen werden. Unerwartete Nebenwirkungen und die daraus resultierenden Erkrankungen würden über die Krankenversicherung sowieso durch die Versichertengemeinschaft abgedeckt werden.

III. Spontane Nachfrageerhöhung Neben den angebotsseitigen Herausforderungen ist eine Pandemie auch durch Besonderheiten auf der Nachfrageseite bestimmt. Da in einer Pandemie typischerweise sehr viele Menschen sehr schnell von derselben Infektionskrankheit betroffen sind, steigt die Nachfrage nach Impfstoffen, Medikamenten und Medizintechnik zur Behandlung dieser Erkrankung ebenso schnell an und übersteigt im schlimmsten Fall die Versorgungskapazitäten des Gesundheitswesens. Wirtschaftspolitisch kann dann auf der Nachfrageseite eingegriffen werden, wenn einerseits die Menschen unterschiedlich durch die Infektionskrankheit betroffen sind also unterschiedliche Krankheitsverläufe zu erwarten sind, oder wenn andererseits der massenhafte krankheitsbedingte Arbeitsausfall zu Kollateralschäden führt, die auch weitere Einschränkungen von Produktionskapazitäten in der Bekämpfung der Pandemie (Pharmaunternehmen, Krankenhauspersonal, Krankenversorgung und Krankenhausversorgung) zur Folge haben können. Grundsätzlich könnte auch hier die Differenzierung der Nachfragegruppen nach den Zahlungsbereitschaften erfolgen. Im Falle der unterschiedlichen Betroffenheit von der Krankheit müssen und können jedoch keine Zahlungsbereitschaften abgefragt werden, da die Behandlungen über den Leistungskatalog der Krankenversicherungen abgerechnet werden. Entsprechend kann nur eine sachorientierte ärztliche Selektion erfolgen, die medizinischen Kriterien folgt. Im Falle einer neuen Infektionskrankheit sind diese medizinischen Kriterien jedoch auch mit Unsicherheit verbunden. Für die Einstufung von Nachfragegruppen nach wirtschaftlicher Relevanz könnte auch eine Zahlungsbereitschaft dienen. Dieses setzt jedoch wieder eine sehr schnelle Reaktionsfähigkeit entlang von Wertschöpfungsketten voraus, so dass der tatsächliche Wert von Tätigkeiten auch in einem Preis reflektiert wird. Aufgrund der vielfältigen Wertschöpfungsverflechtungen könnte damit für fast jede Tätigkeit eine Relevanz hergeleitet werden. Unstrittig scheint dieses nur für die medizinische Versorgung und die Produktion von Medizintechnik und Medikamenten zu sein. Diese Tätigkeiten hängen aber wiederum von vielen vorgelagerten Leistungen ab, was eine administrative Regelung der Berechtigungen für Behandlungen und Zugang zu Impfungen und Medikamenten erschwert. Schließlich kann eine Pandemie in unterschiedlichen Ländern und Regionen unterschiedlich schnell verlaufen, so dass der Nachfrageimpuls ebenfalls verzögert auf-

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tritt. Dieses entspannt die Versorgungsproblematik, da einerseits der Nachfrageanstieg geringer ist und andererseits auch die pandemiebedingten Produktionseinschränkungen in den unterschiedlichen Regionen zu unterschiedlichen Zeiten auftreten.

IV. Fazit Das Koreferat hat die grundlegenden ökonomischen Ursachen der Versorgung mit Medikamenten und Medizintechnik in einer Pandemie aufgezeigt: der plötzliche Nachfrageanstieg verbunden mit einer (dann) senkrecht verlaufenden Angebotsfunktion, so dass kurzfristige Ausweitungen des Angebots nicht möglich sind. Im Ergebnis findet sich die Wirtschaftspolitik in einem Wettrennen mit der Pandemie, um einerseits über Nachfragemoderation und andererseits über eine mittelfristige temporäre Ausweitung von Produktionskapazitäten diese Beschränkungen durch ein starres Angebot zu überwinden.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Aufderheide, Detlef, Prof. Dr., Professur für Wirtschaftsethik und Strategisches Management, School of International Business, Hochschule Bremen Goldschmidt, Nils, Prof. Dr., Professur für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung, Universität Siegen Goydke, Tim, Prof. Dr., Graduate and Professional School, Hochschule Bremen Graßhoff, Gerd, Prof. Dr., Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin, Berlin Institute for the Foundations of Learning and Data, Humboldt-Universität zu Berlin Küppers, Arnd, Dr., Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, Mönchengladbach Lange, Sarah, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kontextuale Ökonomik und ökonomische Bildung, Universität Siegen Lütge, Christoph, Prof. Dr., Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik und Global Governance, Technische Universität München Meyer, Eric, Dr., Institut für Genossenschaftswesen, Universität Münster Müller, Uta, Dr., Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), Universität Tübingen Nass, Elmar, Prof. Dr. Dr., Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog, Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT), Köln Sauerland, Dirk, Prof. Dr., Lehrstuhl für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik, Universität Witten/Herdecke Schramm, Michael, Prof. Dr., Lehrstuhl für Katholische Theologie und Wirtschaftsethik, Universität Hohenheim Schulze Heuling, Dagmar, Dr., Staatswissenschaftliche Fakultät, Universität Erfurt Thejls Ziegler, Marianne, PhD, Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik und Global Governance, Technische Universität München