Paul Wernle und Eduard Thurneysen: Briefwechsel von 1909 bis 1934 [1 ed.]
 9783666550928, 9783525550922

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Paul Wernle und Eduard Thurneysen Briefwechsel von 1909 bis 1934 herausgegeben von Thomas K. Kuhn

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-55092-8

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Umschlagabbildungen: Eduard Thurneysen (rechts), aus: Uwe Wolff, „Das Geheimnis ist mein“. Walter Nigg. Eine Biographie, Theologischer Verlag Zþrich 2009, S. 68. Paul Wernle (links), UB Basel, Portr BS Wernle P 1872, 5. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Meiner Frau

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . 3. Paul Wernle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Frey-Grynaeisches Institut . . . . . . . . 3.2. Herkunft und Schulzeit . . . . . . . . . . 3.3. Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Berufung zum Professor in Basel . . . . 3.5. Mensch, Leben, Wissenschaft . . . . . . 4. Eduard Thurneysen . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Herkunft und Studium . . . . . . . . . . 4.2. Zwischen Studium und erstem Pfarramt 4.3. Pfarramt in Leutwil . . . . . . . . . . . . 4.4. Entwicklungen in den 1920er Jahren . .

. . . . . . . . . . . . . .

13 13 15 32 33 36 41 43 47 51 52 58 61 72

II.

Curriculum vitae von Eduard Thurneysen (1911) . . . . . . . . .

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III.

Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen . . . . . . . . . .

87

IV.

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen . . . . . . . 368

V.

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

VI.

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

VII. Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 VIII. Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

Vorwort Paul Wernle und Eduard Thurneysen gehören zweifelsohne zu den einflussreichen und renommierten schweizerischen Theologen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die auch außerhalb der Eidgenossenschaft hohes Ansehen besaßen. In ihren unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachgebieten legten sie breit rezipierte Werke vor, die bis in die Gegenwart hinein Aufmerksamkeit finden. Sind es bei Wernle namentlich seine bis heute nicht ersetzten und durch ihre überaus breite Quellenkenntnis beeindruckenden Werke zur Kirchengeschichte der Schweiz im 18. und frühen 19. Jahrhundert, so bleibt Thurneysen sowohl mit seinen Beiträgen aus dem Kontext der frühen Dialektischen Theologie als auch – und zwar in besonderer Weise – mit seiner Lehre von der Seelsorge vornehmlich in den poimenischen Diskursen ein anregender Gesprächspartner. Jenseits der akademischen Kontexte spielten die beiden Theologen auch in den zeitgenössischen kirchenpolitischen Debatten, die breiten Niederschlag in der kirchlichen Publizistik im In- und Ausland fanden, zentrale Rollen. Ihr Briefwechsel aus den Jahren 1909 bis 1934 kommentiert nicht nur diese zeitweilig überaus hitzigen Kontroversen, sondern dokumentiert auch Genese und Wandel einer zunehmend spannungsreicher werdenden persönlichen Beziehung sowie biographische und intellektuelle Entwicklungen, studentischen wie professoralen Alltag und schließlich die vielschichtigen kirchlichen und theologischen Entwicklungen in der Schweiz. Neben den theologischen Suchbewegungen des jungen Thurneysen und seinem beruflichen Werdegang kommen beispielsweise die Auseinandersetzungen über das Erbe der Liberalen Theologie ebenso wie der Erste Weltkrieg oder die Formation von Religiösem Sozialismus und Dialektischer Theologie in den Blick. Um eine räumliche Distanz relativ kurzfristig überbrücken zu können, blieb den beiden Verfassern in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts – neben Besuchen – allein die Möglichkeit, sich brieflich mitzuteilen. Die Briefe dienten neben der Information dem Austausch und der Auseinandersetzung. In dieser privaten Korrespondenz gehen persönliche Bekenntnisse mit wissenschaftlichen oder zeitdiagnostischen, politischen Ausführungen einher. Zum Erlebnisbericht tritt die gedankliche Reflexion, zum Kommentar von Zeitereignissen der Diskurs über theologische oder historische Herausforderungen. Als zentrale Medien schriftlicher Kommunikation zählen die hier abgedruckten Briefe zur Gattung der Selbstzeugnisse und sind somit ertragreiche historische Quellen. Deshalb ist die Edition von Korrespondenzen mit Blick auf die historische Forschung eine unverzichtbare Aufgabe. Sie dient der Er-

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Vorwort

schließung von Nachlässen und eröffnet neue Perspektiven auf geschichtliche Prozesse. Dabei sind Briefe nicht allein von biographischem Interesse, sondern ergänzen – beispielsweise im Kontext der Christentumsgeschichte – theologiegeschichtliche Zugänge. Private Briefe stellen insofern eine spezifische Gattung schriftlicher Selbstzeugnisse dar, weil sie häufig als unmittelbare, oft auch als geradezu spontane Reaktion verfasst werden. Darüber hinaus sind solche privaten Briefe, wie sie hier zum Abdruck kommen, Dokumente der Selbstkonstruktion und können entsprechend als Ausdruck von Selbstwahrnehmung gelesen werden. In der Retrospektive kommt es zu Deutungen und Bewertungen von Empfindungen, Begegnungen, Lektüren und Ereignissen, aber auch zu Auslassungen, die Auskunft über ihren Verfasser geben. Die Briefe spiegeln insofern Konstitutionen des Ich und seiner subjektiven wie individuellen Wahrnehmung der Welt wider. Zudem bilden solche Korrespondenzen elementare Bausteine einer Mentalitätsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Die Präsentation der Briefe und Karten orientiert sich möglichst nahe am Original. Die einleitenden Briefköpfe wurden vereinheitlicht. Die häufige Abkürzung „u.“ für „und“ wurde wie offensichtliche Schreib- bzw. Tippfehler stillschweigend aufgelöst. Selbsterklärende Abkürzungen oder abgekürzte Namen in Grußformeln bleiben wie orthographische Eigentümlichkeiten bestehen. Ergänzungen im Text werden mit eckigen Klammern markiert. Personen, die nur einmal im Text vorkommen, werden in Fußnoten erklärt, die anderen in den Biogrammen. Die Abkürzungen richten sich nach Siegfried M. Schwertner: Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin, New York 21994. Weitere bibliographische Abkürzungen sind im Anhang verzeichnet. Die ersten Arbeiten zur Vorbereitung dieser Briefedition liegen inzwischen zehn Jahre zurück. In meinen letzten Basler Semestern als Assistenzprofessor begann ich 2005/06, zeitweilig unterstützt durch wissenschaftliche Hilfskräfte, mit der Transkription und Digitalisierung der Briefe. Durch meine Stellenwechsel zunächst ins Pfarramt und dann an die Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum und schließlich an die Ernst-MoritzArndt-Universität in Greifswald sowie durch zahlreiche andere Verpflichtungen kam ich leider nur ganz sporadisch zur Weiterarbeit an der Edition. Umso glücklicher bin ich nun, dass mir ein Forschungssemester im Sommersemester 2015 neben anderem auch die Fertigstellung des Briefwechsels ermöglichte. Auf dem Weg zu dieser Publikation durfte ich vielfältige kompetente Hilfe erfahren. Mein herzlicher Dank gilt neben den überaus engagierten und hilfsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Basler Universitätsbibliothek – und hier ist in besonderer Weise die Handschriftenabteilung zu erwähnen – ferner den Mitarbeitenden im Staatsarchiv des Kantons BaselStadt und des Kantons Zürich. Auch für die Unterstützung durch das Basler Karl-Barth-Archiv und durch das Archiv der Reformierten Landeskirche

Vorwort

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Aargau danke ich. Für die Abdruckerlaubnis des Portraits von Eduard Thurneysen auf dem Cover des Buches danke ich überdies Herrn Sören Nigg und Frau Barbara Hallensleben. Hilfreiche Auskünfte ließen mir mein verehrter Basler Kollege Prof. Dr. Rudolf Brändle sowie Pfarrer Fritz Gloor in Stansstad (NW) zukommen. Auch ihnen gilt mein Dank. Unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern erwarben sich in Basel Julia Mack und in Greifswald Marita Gruner sowie Reinhardt Würkert besondere Verdienste. Ihnen, wie auch den studentischen Hilfskräften Natalie Selck, Annemarie Pachel und Andra Bock, sage ich ein herzliches Dankeschön für mannigfache Unterstützung am Greifswalder kirchenhistorischen Lehrstuhl. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich für die Aufnahme dieser Briefedition in sein Verlagsprogramm und für die überaus ansprechend gestaltete Edition. Gewidmet ist dieser Band meiner Frau als Dank für vielfältige und liebevolle Unterstützung. Greifswald im April 2016

I. Einleitung 1. Der Briefwechsel In seinem Lebenslauf 1, den Eduard Thurneysen 1911 anlässlich seiner Anmeldung zur Abschlussprüfung vor der Theologischen Konkordatsprüfungsbehörde2 zu schreiben hatte, erklärte er „in einer religiös unruhevollen und ernsten Zeit“ zu leben3 und lässt hohen Respekt vor den kommenden Aufgaben als Pfarrer erkennen.4 In anderen Zusammenhängen – wie beispielsweise in seinen vielfältigen Briefwechseln – erweiterte sich diese Perspektive und nahm auch stärker die zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in den Blick. Ferner benannte Thurneysen retrospektiv in seinem Curriculum vitae aus dem Studium resultierende Verunsicherungen, deren Ursache er beispielsweise im Pluralismus und in der „Disparatheit“ der Systematischen Theologie begründet sah. Aus dieser Irritation heraus führte ihn einerseits die intensive Beschäftigung mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher sowie andererseits die „einfache, objective, historische Darbietung und Beleuchtung der Person Jesu und des Paulus vor allem“, wie er sie bei den „Basler Historikern, den Professoren Vischer5 und Wernle und in Marburg bei Jülicher und Heitmüller6 empfangen konnte“.7 1 Die Studierenden hatten eine „Darstellung des Lebens- und Studienganges“ anzufertigen, „die nicht bloß eine Aufzählung der gehörten Kollegien enthält, sondern einigermaßen einen Einblick in die allgemein menschliche und in die theologische Entwicklung des Kandidaten gewährt“; siehe dazu den „Bericht der theologischen Prüfungsbehörde der Kantone“, 1897–1901, Zürich 1902, (StAZH, Z 70.297), 8. 2 Seit 1862 bestand zwischen einigen reformierten Landeskirchen der Schweiz ein Konkordat über die gegenseitige Zulassung evangelisch-reformierter Pfarrer in den Kirchendienst. Als gemeinsame Prüfungsbehörde fungierte die „Theologische Konkordatsprüfungsbehörde“. 3 Thurneysen: Lebenslauf, 15. Der Lebenslauf ist abgedruckt unten S. 82–86. 4 Seine Sichtweise dürfte auch durch Wernle beeinflusst worden sein, der 1908 schrieb: „Nicht weniger als die Kirche, ist heute der Beruf des Pfarrers in der modernen Welt problematisch geworden; der numerische Rückgang der Theologiestudierenden steht mit dieser Tatsache in Zusammenhang.“ So Paul Wernle: Einführung in das theologische Studium, Tübingen 1908, 454. In der 1911 erschienenen zweiten Auflage, für die Thurneysen die Register anfertigte, ist der Satz gleichlautend übernommen; siehe ebd., 453. 5 Eberhard Vischer (1865–1946) war von 1898 bis 1902 Privatdozent, von 1902 bis 1907 außerordentlicher Professor und von 1907 bis 1937 ordentlicher Professor für alte und mittelalterliche Kirchengeschichte und Neues Testament und wurde 1912 Rektor. Zu Vischer siehe Peter Aerne: Eberhard Vischer, in: HLS 13, 7. Für Personen, die auch im Briefwechsel erscheinen, finden sich im Anhang Biogramme; deshalb verzichte ich in der Einleitung auf die Nennung ihrer Lebensdaten. Bei Personen, die nur in der Einleitung vorkommen, werden bei der Erstnennung die Lebensdaten angegeben. 6 Adolf Jülicher und Wilhelm Heitmüller; siehe dazu unten S. 374; 375.

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Einleitung

Neben diesen historischen und theologischen Studien besaßen für Thurneysen seine zahlreichen Briefwechsel mit Kommilitonen und Freunden große Bedeutung, in denen sich neben Schilderungen von Denkbewegungen und Lektüren auch Hinweise auf gesellschaftliche wie kirchliche Entwicklungen, Personenbeschreibungen und Informationen über das Alltagsleben finden. Unter den im Nachlass von Thurneysen befindlichen Korrespondenzen8 sind für den hier interessierenden Zeitraum vor allem die Briefwechsel mit den Freunden Rudolf Pestalozzi, Karl Barth und Ernst Staehelin9 von Bedeutung. Daneben nimmt in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zweifelsohne der Briefwechsel mit dem akademischen Lehrer und Mentor Paul Wernle eine herausragende Stellung ein. Unter den ebenfalls in der Universitätsbibliothek Basel deponierten Korrespondenzen von Paul Wernle zählt sein Briefwechsel mit Thurneysen zu den umfangreicheren.10 Der nahezu vollständig erhaltene Briefwechsel zwischen Paul Wernle und Eduard Thurneysen setzt im Calvinjahr, im März 1909 mit einer Danksagung Wernles ein und schließt am 25. Februar 1934 mit einer solchen. Somit umfasst er einen Zeitraum von einem Vierteljahrhundert mit 152 Briefen respektive Karten und ist aus verschiedenen Gründen von Interesse. Zum einen dokumentiert er einen engen und freundschaftlichen Austausch zwischen dem Studenten Thurneysen und seinem Lehrer Wernle und zeigt neben Informationen über das studentische und professorale Leben ferner deren biographische sowie die theologisch-philosophischen Entwicklungsprozesse und Denkbewegungen auf. Ihre persönlichen Beziehungen besaßen auch deswegen eine außergewöhnliche Dichte, weil Wernle seinen Schüler intensiv begleitete und ihn darüber hinaus beispielsweise in die Ferien einlud oder mit ihm Wanderungen unternahm. Zugleich dokumentiert der Briefwechsel die Emanzipation und Entfremdung des nach eigenen Aussagen „intimsten Schülers“ von seinem Lehrer. Darüber hinaus spiegelt er Teile der kirchlichen wie theologischen Debatten seiner Zeit wider und lässt erkennen, mit welchen Themenfeldern und Autoren sich Wernle und Thurneysen auseinandersetzten, in welche kommunikativen Netzwerke sie eingebunden waren und wie sich die theologische Landschaft der Schweiz veränderte. Besonders erhellend sind diese Briefe zudem durch ihre Kommentierung des sich theologisch und kirchenpolitisch etablierenden Religiösen Sozialismus samt seiner Protagonisten. Der Briefwechsel, der im Folgenden in chronologischer Abfolge dargeboten wird, lässt sich in drei Phasen aufgliedern. Zunächst ist es die Zeit des Studiums und der ersten beruflichen Erfahrungen Thurneysens. Für diesen 7 Thurneysen: Lebenslauf, 13. 8 Siehe Universitätsbibliothek Basel „Nachlass 290“. Die im Folgenden konsultierten Briefe befinden sich alle in der Universitätsbibliothek Basel. 9 Siehe unten S. 369; 379; 382. 10 Siehe Universitätsbibliothek Basel „Nachlass 92“ und das Nachlassverzeichnis.

Historischer Kontext

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Zeitraum von 1909 bis zum 31. Juli 1914 liegen 77 und damit fast die Hälfte aller Briefe vor. Zweitens ist es die Zeit des Ersten Weltkrieges, in der 49 Briefe entstanden. Für die Nachkriegszeit vom 2. November bis zum Ende des Briefwechsels im Februar 1934 liegen nur 24 Briefe vor. Dieser Rückgang der Korrespondenz in den 1920er Jahren ist vornehmlich durch die 1917 einsetzende, rasch fortschreitende und mit erheblichen Einschränkungen einhergehende Parkinson-Erkrankung Wernles bedingt.11

2. Historischer Kontext Der Briefwechsel fällt, vor allem in seiner ersten Phase, in eine Zeit vielfältiger gesellschaftlicher und kultureller Auf- und Umbrüche, die in christentumsgeschichtlicher Perspektive bislang nur unzureichend erforscht ist. Die Schweiz, die 1910 knapp 4 Millionen Einwohner zählte, hatte in den vorangehenden fünf Jahrzehnten ein erhebliches Bevölkerungswachstum von einer Million Einwohnern erlebt, das vor allem die kleineren Städte betraf. Als Großstädte galten damals Zürich (176.700 Einwohner), Basel (126.904) und Genf (104.796); zu den Mittelstädten mit über 20.000 Einwohnern gehörten beispielsweise Bern, Lausanne, St. Gallen und Neuenburg. Die konfessionelle Verteilung gestaltete sich 1910 wie folgt: Neben gut 2 Millionen Protestanten und gut 1,5 Millionen Katholiken lebten etwa 19.000 Juden und 46.340 Konfessionslose oder anderen Konfessionen zugehörige Einwohner in der Eidgenossenschaft.12 Das beginnende Jahr 190913 stand auch in der Schweiz zunächst noch unter dem Eindruck der Katastrophe von Messina. Zahlreiche Prediger14 widmeten sich dem Erdbeben, das am 28. Dezember 1908 das süditalienische Kalabrien heimgesucht und zwischen 72.000 und 100.000 Todesopfer gefordert hatte. Diese schwerste Naturkatastrophe im Europa des 20. Jahrhunderts ließ auf vielen Kanzeln die Frage nach dem Gericht Gottes laut werden.15 Im weiteren Verlauf des Jahres stand das Calvin-Jubiläum auf der Tagesordnung. Neben zahlreichen anderen Rednern und Autoren in der Schweiz und in Deutschland beispielsweise16 brachte sich dabei auch Paul Wernle mit 11 Siehe dazu unten S. 81. 12 Zu den Zahlen siehe CCW 21 (1911), 111: Gesamteinwohner: 3.741.955; Protestanten: 2.108.642; Katholiken: 1.590.832. Sowie Carl Stuckert: Kirchenkunde der reformierten Schweiz, Gießen 1910, 2–5. Dieser Band eröffnete die Reihe „Kirchenkunde des evangelischen Auslandes“. 13 Zum kirchlichen Leben in der Schweiz siehe den Bericht „Schweiz 1909“ in CCW 20 (1910), 241–243; 266–268. 14 Beispielsweise Johannes Hauri: Die Bedeutung großer öffentlicher Unglücksfälle. Predigt, gehalten aus Anlass des Erdbebens an der Meerenge von Messina, Davos 1909. 15 Siehe dazu KBRS 25 (1910), 14. 16 Siehe dazu Thomas K. Kuhn: Johannes Calvin als Politikum, in: Michael Basse (Hg.): Calvin und

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Einleitung

Vorträgen und Publikationen ein.17 Insgesamt aber fand es nur zurückhaltende gesellschaftliche Aufmerksamkeit, da Calvin der kirchlichen Öffentlichkeit durchaus fremd geworden und deshalb schwer zu vermitteln gewesen war.18 Darüber hinaus stand die überkommene kirchenpolitische Fraktionierung zusehends zur Debatte, ohne allerdings gänzlich an Belang zu verlieren. Die Gründe für diese langfristigen kirchenpolitischen Entwicklungen sind vielfältiger Natur. Von besonderer Bedeutung dürfte in diesem Zusammenhang die Formierung neuer theologischer Ansätze sein, die in den Jahren um 1910 in der reformierten Schweiz für rege Aufmerksamkeit sorgen sollten. So brachte eine neue und überaus agile Generation von Theologen, wie sie sich beispielsweise unter den Vertretern des Religiösen Sozialismus oder in der Gruppe um Karl Barth und Eduard Thurneysen fanden, die alten kirchenpolitischen Verhältnisse erheblich ins Wanken. Die Zugehörigkeit zu einer der aus dem 19. Jahrhundert stammenden drei kirchlichen Gruppen, die als Freisinnige, Positive und als Vermittlungstheologen bezeichnet werden,19 erschien unter den jüngeren Theologen in den Auseinandersetzungen des frühen 20. Jahrhunderts in der reformierten Schweiz keineswegs mehr selbstverständlich. In Basel allerdings blieben diese Fraktionen verhältnismäßig lange Zeit einflussreich, was sich vornehmlich bei der Besetzung von Pfarrstellen, die häufig als theologische Richtungsentscheidungen ausgefochten wurden, zeigen sollte. Als markantes Beispiel für solch einen kirchenpolitischen Disput gilt die Wahl des Nachfolgers von Leonhard Ragaz20 am Basler Münster, die breite Aufmerksamkeit fand. Das Münster besaß zwei Pfarrstellen, die jeweils mit einem freisinnigen und einem positiven Pfarrer besetzt wurden. Bei der Suche nach einem Nachfolger von Ragaz, der seinerzeit als Vertreter des Freisinns respektive der „Reform“ ans Münster gekommen war und sich vehement gegen das kirchliche Parteiwesen gewandt hatte,21 brach 1908 eine heftige und neue kirchenpolitische Kontroverse aus, da ein Großteil der Gemeinde wieder einen religiös-sozialen Pfarrer wollte. Gegen den drohenden Verlust ihrer Münsterpfarrstelle wehrte sich die freisinnige Fraktion

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seine Wirkungsgeschichte, Berlin 2011, 165–198; mit weiterer Literatur. Eine Bibliographie bietet Peter Barth: Fünfundzwanzig Jahre Calvinforschung 1909–1934, in: ThR NF 6 (1934), 161–175; 246–267. Exemplarisch sei genannt: Paul Wernle: Calvin und Basel bis zum Tode des Myconius 1535–1552. Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel (1909), Basel 1909. So der Bericht „Schweiz 1909“ in: CCW 20 (1910), 241. Zu den Positionen siehe Eduard Buess: Die kirchlichen Richtungen, Zollikon-Zürich 1953 und Rudolf Gebhard: Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2003. Zur Person siehe unten S. 380. Siehe dazu Leonhard Ragaz: Mein Weg, Bd. 1, Zürich 1952, 224: „Der Kampf gegen das Parteiwesen war ein Hauptstück meiner Basler Wirksamkeit. Dieses Parteiwesen, obschon innerlich veraltet und darum erstarrt, beherrschte damals doch das kirchliche Leben ganz und gar. Es war bis zum kleinsten in zwei Lager aufgeteilt. Alles Tun des Pfarrers trug den Parteistempel, von der Taufe bis zur Beerdigung. Alles darum auch den Charakter der Konkurrenz.“

Historischer Kontext

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vehement und schließlich mit Erfolg.22 In einem Kommentar zu dieser Wahl beschreibt Paul Wernle die kirchenpolitische Situation in Basel überaus anschaulich: „Wie es mit unsern kirchlichen Parteien in andern Gegenden der Schweiz bestellt ist, das mögen andere selbst beurteilen. Bei uns in Basel steht es so, daß wir äußerlich eine reformierte Kirche bilden und in Wahrheit zwei Parteikirchen sind, die der staatskirchliche Verband lose zusammenhält. Jede Parteikirche bestimmt für sich in ihren Parteivereinen resp. deren Komitees die Pfarrwahlen, die Wahlen für die Synode, die Verwerfung oder Annahme der dort gestellten Anträge; eine jede hat ihren besondern Frauenverein, Krankenverein, Kinderabend sc. […] Das äußere Symbol der Trennung ist die getrennte Abendmahlsfeier in jeder der beiden Parteikirchen, die so, wie die Dinge bei uns liegen, natürlich und in der Ordnung ist, das Gegenteil wäre unter den heutigen Umständen eine Unwahrheit.“23 In seinen weiteren Ausführungen verwirft Wernle, der sich selbst als Unabhängiger verstand, dieses Parteidenken und verweist auf die neue theologische Bewegung, die unter dem „nichts sagenden Schlagwort ,moderne Theologie‘“ herkomme und von Adolf von Harnack, Wilhelm Herrmann, Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset24 geprägt sei. In Basel habe die ganze „theologische Jugend, soweit sie offen und lernfähig gewesen ist“, an dieser Bewegung teilgenommen, „besonders, wenn sie in Basel durch die Schule eines so originalen, in die alten Parteien schlechterdings nicht einzurangierenden Forschers wie Duhm25 gegangen ist“.26 Noch konnte Wernle das Auftreten von Leonhard Ragaz als für Basel entscheidend wichtig deuten, da sich dieser von Anfang über die Parteigegensätze erhoben habe.27 Doch schon wenige Jahre später hatte sich auch zwischen diesen beiden Theologen ein unüberbrückbarer Graben aufgetan.28 Neben diesen auch publizistisch intensiv wahrgenommenen Auseinandersetzungen zwischen dem theologischen Liberalismus und dem Religiösen Sozialismus, wie sie sich exemplarisch bei der Basler Pfarrwahl gezeigt hatten, zählte in jenen Jahren in der reformierten Schweiz die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat, das in den einzelnen Kantonen unterschiedlich

22 Siehe dazu beispielsweise den Bericht „Schweiz. Jahresübersicht 1908“ in der CCW 19 (1909), 59–62, hier 61: „Der Kampf war äusserst heftig und erregte auch in der übrigen Schweiz Aufsehen. Die Freisinnigen blieben Sieger; die Positiven hatten strikte Neutralität erklärt. Der Kampf hat insofern seine geschichtliche Bedeutung, als sich hier zum erstenmal neue Gegensätze gegenübertraten und einem weitern Publikum zum Bewusstsein gebracht wurden.“ Johann Jakob Täschler (1863–1936) wurde Nachfolger von Ragaz. 23 Paul Wernle: Von unsern kirchlichen Parteien und dem letzten Wahlkampf in Basel, in: NW 2 (1908), 289–299, hier 289 f. 24 Zu den Personen siehe unten die Biogramme S. 368 ff. 25 Bernhard Duhm, siehe unten S. 371. 26 Wernle: Parteien, 291. 27 Wernle: Parteien, 293. 28 Siehe dazu unten 28 f.; 35.

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Einleitung

geregelt war, zu den drängenden und kontrovers diskutierten Fragen.29 Die neue Bundesverfassung von 187430 hatte die Glaubens- und Gewissensfreiheit als allgemeines Prinzip festgeschrieben und gewährte allen Glaubensgemeinschaften die Kultusfreiheit; die Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat blieb allerdings den einzelnen Kantonen überlassen. Waren die reformierten Kirchen bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein Staatskirchen gewesen, so änderten sich diese Verhältnisse später in einigen Kantonen.31 Anders als beispielsweise in den Kantonen Bern, Zürich und Basel-Landschaft, wo eine überaus enge Verbindung von Kirche und Staat bestehen blieb, kam es 1907 in Genf nach einer Volksabstimmung zur Trennung von Kirche und Staat. Die Genfer Kirche unterstand fortan dem Vereinsrecht. Diese verfassungsrechtlichen schweizerischen Entwicklungen fanden auch im Ausland Aufmerksamkeit.32 Dort verfolgte man beispielsweise die etwa zeitgleich verlaufenden Debatten im Kanton Basel-Stadt, die im November 1906 durch einen Antrag der Sozialdemokraten angestoßen worden waren33 und am 6. März 1910 in eine Volksabstimmung mündeten,34 welche sich für die „Trennung“ von Kirche und Staat auf den 1. April 1911 aussprach.35 Seit spätestens 1906 hatte die Basler Öffentlichkeit dieses Thema beschäftigt. Dabei stand auch die Befürchtung im Raum, dass durch diese Trennung eine Bekenntniskirche sowie eine freisinnige Kirche entstünden.36 Auf der politischen Ebene hatte zunächst der Große Rat des Kantons der Regierung den Auftrag erteilt, nicht nur die ebenfalls anstehende Frage nach den Subventionen für die Römisch-katholische Kirche zu untersuchen, sondern auch die Frage einer Trennung von Kirche und Staat. Die Regierung erarbeitete 29 Siehe dazu Lukas Vischer (Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg (Schweiz)/Basel 21998, 265 f.; Ulrich Gäbler: Schweiz, in: TRE 30, 682–712, hier 705. 30 Andreas Kley: Bundesverfassung, in: HLS 3, 27–35; zur Bundesverfassung von 1874, ebd., 31 f. 31 Siehe dazu Dieter Kraus: Schweizerisches Staatskirchenrecht. Hauptlinien des Verhältnisses von Staat und Kirche auf eidgenössischer und kantonaler Ebene, Tübingen 1993. Einen Überblick über die kantonalen Kirchenverfassungen um 1910 bietet Stuckert: Kirchenkunde, 30–69; ferner KBRS 25 (1910), 17 f. 32 Die CCW 19 (1909), 59, erklärte in ihrer „Jahresübersicht 1908“ mit Blick auf die Schweiz: „Das Interesse des Auslandes für das kirchliche Leben der Schweiz gilt in erster Linie dem Stand der Trennungsfrage.“ 33 Zur Basler Kirchenverfassung vor 1911 siehe Stuckert: Kirchenkunde, 32–35. 34 Siehe dazu KBRS 25 (1910), 121. Bei der Volksabstimmung gab es 7413 Ja- und 1030 Neinstimmen zu den neuen Verfassungsbestimmungen. Zahlen nach CCW 20 (1910), 138. 35 Siehe dazu Kurt Jenny/Josef Zwicker: Die Entflechtung von Kirche und Staat in Basel. Über die Beziehungen zwischen Staat und Evangelisch-reformierter Kirche in den ersten Jahren nach der sogenannten Trennung, 1911 bis ca. 1926, in: BZGAK 91 (1991), 281–304, sowie Hermann Walter Meyer: Staat und Kirche im Kanton Baselstadt. Nebst einer allgemeinen Darstellung des Staatskirchenrechts, Basel 1926 (masch.); ferner Hermann Henrici: Die Entwicklung der Basler Kirchenverfassung bis zum Trennungsgesetz (1910). Ein Beitrag zur Geschichte des Staatskirchenrechts, Weimar 1914; ders.: Die Entstehung der Basler Kirchenverfassung, in: SThZ 35 (1918), 6–15; 40–52; 103–112. 36 Siehe dazu beispielsweise KBRS 22 (1907), 47. Eine Zusammenfassung der Basler Entwicklungen bieten CCW 21 (1911), 472, sowie KBRS 25 (1910), 17 f.

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unter der Federführung des Regierungsrates und Synodalen Professor Carl Christoph Burckhardt-Schazmann (1862–1915)37 einen „Ratschlag“. Daraufhin debattierte man nicht nur in der Theologischen Fakultät darüber, sondern auch in Pfarrkapiteln sowie in den Vereinen der verschiedenen theologischen Richtungen. Der neuen Verfassung38 scheint die Pfarrerschaft zunächst wesentlich positiver gegenüber gestanden zu haben als die Gemeindeglieder.39 Auch in den kirchlichen Zeitschriften erschienen Beiträge zu diesem Thema, wie beispielsweise im positiven „Kirchenfreund“ von Hans Conrad Orelli (1846–1912), dem Basler Professor für Altes Testament40, der sich zur Zukunft der Basler Kirche äußerte, die Einwände gegen eine Trennung diskutierte, schließlich aber doch „persönlich einer freieren Gestaltung der Kirche das Wort“ redete.41 Ein wesentlicher Aspekt der Diskussionen war zum einen die Forderung der Regierung, dass sie sich den Charakter einer auf demokratischer Grundlage aufgebauten bekenntnisfreien Volkskirche gebe. Zum anderen standen in diesen Auseinandersetzungen sowohl der schulische Religionsunterricht42 als auch die Existenz der Theologischen Fakultät zur Debatte. Neben dem Vorschlag einer Aufhebung der Fakultät diskutierte man die Idee der Transformation in eine konfessionslose und religionswissen37 Zur Person siehe Johannes Georg Fuchs: Carl Christoph Burckhardt-Schazmann (1862–1915) in: Rudolf Suter/Ren Teuteberg (Hgg.): Der Reformation verpflichtet. Gestalten und Gestalter in Stadt und Landschaft Basel aus fünf Jahrhunderten, Basel 1979, 141–145. BurckhardtSchazmann war getragen von einer tiefen Religiosität und veröffentlichte u. a. zu Fragen des Verhältnisses von Kirche und Staat sowie zur „Stellung der Frau im neuen schweizerischen Zivilrecht“ (1912); siehe auch Carl Christoph Burckhardt: Schriften und Vorträge, Basel 1917. 38 Die Verfassung geht auf einen Entwurf von Carl Christoph Burckhardt-Schazmann zurück. Den zweiten Teil des Entwurfs hatte Paul Wernle gründlich überarbeitet. Siehe dazu CCW 20 (1910), 577–580. 39 Siehe dazu KBRS 23 (1908), 10. 40 Zur Person siehe Thomas K. Kuhn: Hans Conrad Orelli, in: BBKL 6, 1231–1236. Orelli war Inhaber der zweiten Stiftungsprofessur, die der Basler „Verein zur Beförderung christlichtheologischer Wissenschaft und christlichen Lebens“ verwaltete. Zeitgleich mit ihm versah der Systematische Theologe Paul Mezger, der auch Rektor der Universität Basel war, die erste Stiftungsprofessur. Der Verein, der in den 1830er Jahren gegründet worden war, und dessen erste Professur Johann Tobias Beck (1804–1878) innehatte, wollte die liberale Theologische Fakultät durch einen Vertreter der theologisch positiven Glaubensrichtung ergänzen und zielte gemäß seiner Statuten auf die „Förderung gründlicher theologischer Studien und eines lebhaft christlichen Sinnes und Lebens, und [wollte] daher zunächst die Anstellung eines solchen theologischen Lehrers, der wahre Wissenschaftlichkeit mit der Begeisterung des Glaubens und mit entschiedener Christusliebe verbindet.“ Siehe dazu Hans Hauzenberger: Der „Verein zur Beförderung christlich-theologischer Wissenschaft und christlichen Lebens“ und seine Stiftungsprofessur in Basel, in: Hans Dürr/Christoph Ramstein (Hgg.): Basileia – Festschrift für Eduard Buess, Basel/Lörrach 1993, 127–144, hier 127; sowie Thomas K. Kuhn: Der junge Alois Emanuel Biedermann. Lebensweg und theologische Entwicklung bis zur „Freien Theologie“ 1819–1844, Tübingen 1997, 110–113. 41 Conrad von Orelli: Die Zukunft der Basler Kirche, in: Der Kirchenfreund. Blätter für evangelische Wahrheit und kirchliches Leben 42 (1908), 5–9, hier 9. 42 Auch 1912 stand der schulische Religionsunterricht nochmals zur Disposition; siehe KBRS 28 (1913), 65.

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schaftliche Fakultät.43 Für diese Umwandlung, die sich an holländischen Vorbildern orientierte, machte sich vornehmlich der Basler Privatdozent und spätere Professor für Neues Testament Karl Gerold Götz (1865–1944) stark.44 Sein Fakultätskollege Eberhard Vischer hingegen sprach sich mit Verweis auf die historische und gegenwärtige Bedeutung seiner Fakultät – auch für die gesamte Universität – gegen die Vorstöße aus den Reihen der Sozialdemokratie und der Katholischen Kirche für eine Beibehaltung der Theologischen Fakultät aus, räumte aber ein, dass die Ausbildung der Pfarrer grundsätzlich zu überdenken sei.45 Die Frage nach der Zukunft der evangelisch-theologischen Fakultät erörterte Vischer zudem in seiner Rede als Rektor auf dem Jahresfest der Universität am 15. November 1912.46 Auch vier Jahre zuvor hatte ein kirchenpolitisches Thema im Zentrum einer Rektoratsrede gestanden, als der positive Theologe Paul Mezger (1851–1913)47, bei dem Jahresfest der Universität 1908 über „Eigenart und innere Lebensbedingungen einer Protestantischen Volkskirche“ gesprochen und sich als Rektor mit den Vorgaben der Regierung sowie mit der Herausforderung des religiösen Individualismus und der Volkskirche auseinandergesetzt hatte.48 Im Gegensatz zur staatlichen Wesensbestimmung der Kirche legte er einen offenbarungstheologischen Grund der Kirche. Mezger äußerte zwar Bedenken gegen eine weitgehende theologische Lehrfreiheit, erklärte aber, für einen positiven Theologen durchaus überraschend, dass die „völlige Bekenntnisfreiheit eine unerlässliche Lebensbedingung der heutigen Volks-

43 Im Jahr 1914 kam diese Frage nochmals auf die Tagesordnung, als der Basler Erziehungsrat den Vorsteher des Erziehungsdepartements beauftragte, die Umwandlung der Theologischen Fakultät in eine Religionswissenschaftliche Fakultät zu prüfen. Zudem sei zu erwägen, ob nicht die theologischen Professuren, „die der Pflege einer besondern theologischen Richtung dienen, ohne Verletzung irgend welcher Rechte aufgehoben werden können“. Damit waren die positiven Stiftungsprofessuren des „Vereins zur Beförderung christlich-theologischer Wissenschaft und christlichen Lebens“ gemeint; siehe KBRS 31 (1916), 27. 44 Karl Gerold Götz: Die theologische Fakultät in Basel bei allfälliger Trennung von Staat und Kirche, in: KBRS 22 (1907), 189–191. Zur Person siehe Michael Raith: Karl Gerold Götz: in HLS 5, 513. 45 Eberhard Vischer: Staat, Kirche und theologische Fakultät, in: KBRS 24 (1909), 31 f. Siehe dazu Johannes Hauri, Die Zukunft der evangelisch-theologischen Fakultäten, in: KBRS 28 (1913), 38 f. 46 Eberhard Vischer: Die Zukunft der evangelisch-theologischen Fakultäten, Tübingen 1913. Dieser Vortrag erschien als Bd. 71 der „Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte“. 47 Der gebürtige Württemberger Paul Mezger hatte an der Basler Universität die Stiftungsprofessur des „Vereins zur Beförderung christlich-theologischer Wissenschaft und christlichen Lebens“ inne. Zunächst 1896 als Dozent angestellt, wurde er drei Jahre später außerordentlicher und 1902 ordentlicher Professor der Systematischen Theologie. 48 Paul Mezger: Eigenart und innere Lebensbedingungen einer Protestantischen Volkskirche. Rede gehalten am Jahresfeste der Universität Basel den 13. November 1908, Basel 1909. Auch an anderen Orten stand die Frage nach dem Wesen der Volkskirche auf der Tagesordnung. Siehe beispielsweise Karl Eger: Das Wesen der deutsch-evangelischen Volkskirche der Gegenwart, Gießen 1906.

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kirche ist“.49 Die Bindung an ein Lehrbekenntnis habe durchaus ihr historisches Recht, für die Gegenwart sei sie aber nicht mehr zuträglich, denn hier „würde die Aufrechterhaltung einer solchen Bekenntnisordnung nichts anderes bedeuten, als einen unfrommen Widerspruch gegen das unter Leitung des göttlichen Geistes in der Christenheit errungene, tiefere Verständnis des Christentums. Diesem gemäss besitzen wir die christliche Offenbarung nicht in einer irrtumslosen Lehrkundgebung Gottes, sondern in der geistigen Lebensfülle der Person Jesu.“ Christliche Glaubenserkenntnis beruhe auf persönlichen Erfahrungen und sei „individuell unendlich verschieden je nach der geistigen Eigenart und Reife des einzelnen“.50 Diesem Pluralismus entspreche auch, dass den unterschiedlichen kirchlichen Richtungen innerhalb der Kirche die gleiche Bewegungsfreiheit zugesprochen werde, ohne dass Mezger alle Richtungen gleichermaßen wertschätzte.51 Dennoch spricht er sich vehement gegen die „Forderung eines rechtlichen Lehrbekenntnisses auch in möglichst weitherziger Fassung“ aus.52 Für Mezger stellt nicht die Bekenntnisbindung die gravierende zeitgenössische Herausforderung dar, sondern viel mehr die beiden Fragen, ob und wie erstens die Kirche wieder die sich von ihr entfremdeten Menschen gewinnen könne, und ob sich zweitens die Kirchen der „modernen theologischen Bewegung“ gewachsen sähen.53 Diese Rektoratsrede veranschaulicht zweierlei: Zum einen konnte auch von theologisch positiver Seite die Bekenntnisfreiheit für die Basler Kirche eingefordert werden. Zum anderen werden hier grundlegende Differenzen zu den Positiven im Deutschen Kaiserreich erkennbar, wie es beispielsweise der Apostolikumstreit verdeutlichte.54 Allerdings blieben solche Stellungnahmen wie die von Mezger in den positiven Kreisen nicht unwidersprochen. Exemplarisch sei hier eine Schrift genannt, die über Basel hinaus in den Gemeinschaftskreisen eine einflussreiche Rolle spielte. Der Lehrer Robert MüllerDalang äußerte „Bedenken eines schriftgläubigen Christen hinsichtlich der neuen reformierten Volkskirche in Basel“55 und verwarf die bekenntnisfreie 49 Mezger: Eigenart, 18. 50 Mezger: Eigenart 19. 51 Als Differenzkriterium formuliert er: „In letzterer Hinsicht gilt vielmehr unbedingt, dass eine Richtung um so mehr inneres Recht und Wert besitzt, je reiner, tiefer und reicher sie den Wesenskern des Evangeliums erfasst und lebendig in sich darstellt, während eine andere um so mehr jener inneren Berechtigung entbehrt, je oberflächlicher und unreiner infolge von Vermischung mit fremdartigen Weltanschauungselementen ihr Verständnis und ihre Darstellung des christlichen Glaubens und Lebens ist.“ Mezger: Eigenart, 21 f. 52 Mezger: Eigenart, 22. 53 Mezger: Eigenart, 30. 54 Die CCW 21(1911), 472, spricht „von einer, der deutschen Orthodoxie völlig fremden, Weitherzigkeit“, die die Schweizer Positiven der neuen Basler Kirchenverfassung entgegenbrächten. Zum Apostolikumstreit siehe Hanna Kasparick: Lehrgesetz oder Glaubenszeugnis? Der Kampf um das Apostolikum und seine Auswirkungen auf die Revision der preußischen Agende (1892–1895), Bielefeld 1996. 55 Robert Müller-Dalang: Bedenken eines schriftgläubigen Christen hinsichtlich der neuen reformierten Volkskirche in Basel, o.O. 1911.

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Kirche als eine „heidnische“ oder als „Herrschaft des Unglaubens“ und konstatierte das Ende der Basler evangelisch-reformierten Kirche.56 Nun sei man zwar „auf einem Höhepunkt religiöser Verwirrung angelangt“57, aber einen Austritt aus der reformierten Kirche oder deren Auflösung in Gemeinschaften propagierte Müller-Dalang trotzdem nicht.58 Insgesamt gesehen, verlief die Neuordnung der Basler Kirche schließlich ohne größere Probleme.59 Die Frage nach dem Wesen der Kirche trat auch in anderen Zusammenhängen in den Vordergrund. Zum einen hinsichtlich des Missionsgedankens, denn 1911 übernahm die Basler Mission ein neues Missionsgebiet in NordTogo. Eine von der Basler Mission verantwortete Wanderausstellung interessierte 1912 zudem ein breites Publikum, und die reformierte Predigerversammlung thematisierte, in diesem Jahr in Liestal tagend, sowohl die Missionsmethoden der Gegenwart als auch die Rede von der Absolutheit des Christentums.60 Zum anderen spielten neben der Frage nach der Funktion von Religion im öffentlichen Leben solche ekklesiologischen Überlegungen eine Rolle, die sich auf die Aktivierung des gemeindlichen Lebens und der Rolle der Laien bezogen. Das Laienelement sollte in den Kirchen gestärkt werden, auch um die Pfarrer zu entlasten. Damit einher ging der Bau von Gemeindehäusern, die seinerzeit in der Schweiz noch nicht so verbreitet waren wie in Deutschland, sowie die Einrichtung von neuen Pfarrstellen.61 Die anvisierten strukturellen Reformen strebten einerseits in den ländlichen Bereichen eine Zusammenlegung von Pfarrstellen an, um neue Kapazitäten für die rasch wachsenden Städte zu gewinnen.62 Andererseits zielte die schweizerische reformierte Kirchenkonferenz – auch mit Blick auf das anstehende Reformationsjubiläum – darauf, die einzelnen Kantonalkirchen zu einer im Geiste einigen evangelischreformierten Kirche der Schweiz zu verbinden. Mit diesen Bemühungen um engere Kooperationen ging allerdings eine Ausdifferenzierung des religiösen und kirchlichen Angebotes einher. Neben den zahlreichen christlichen Gemeinschaftskreisen, die zum Teil in endzeitlich-apokalyptischer Stimmung am 21. März 1912 die Entrückung der Gläubigen und den Beginn der letzten Trübsal erwarteten63, etablierte sich beispielsweise in Zürich eine Pfingstge56 „Was sich in Basel allmählich verwirklichte, was einsichtige Männer schon lange als Frucht unserer kirchlichen Entwicklung bezeichneten, ist nun gesetzlich geregelte Tatsache: Die evangelisch-reformierte Kirche in Basel hat zu existieren aufgehört. Wir haben sie nicht mehr. An ihre Stelle trat ein bekenntnisloser Sprechsaal für alle religiösen Standpunkte vom heilvermittelnden Bibelglauben, welcher einstweilen auch noch geduldet wird, durch alle Arten moderner Falschmünzerei bis zum offenen Unglauben.“ Müller-Dalang: Bedenken, 7; 9, hier 13. 57 Müller-Dalang: Bedenken, 17. 58 Müller-Dalang: Bedenken, 18. 59 KBRS 26 (1911), 25. 60 Das Programm nennt KBRS 27 (1912), 88; den Tagungsbericht ebd., 98–100. 61 Siehe dazu CCW 23 (1913), 612. 62 KBRS 26 (1911), 26. 63 In diesen Kreisen war eine Schrift von Robert Voigt: Letzter Warnungsruf zu den im März 1912

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meinde. Als eine atheistische Kirchengründung gilt der von dem Zürcher Psychiater Auguste Forel (1848–1931)64 gegründete „Internationale Orden für Ethik und Kultur“. Abgesehen von den bislang geschilderten kirchenpolitischen Herausforderungen ist als weitere die sogenannte „Soziale Frage“ zu nennen, die nicht allein die ökonomischen respektive armenfürsorgerischen Lebensbereiche umfasste, sondern – wie schon zeitgenössische Zeugnisse erkennen lassen – weite Teile des gesellschaftlichen Lebens.65 In den kirchlichen Kreisen der Schweiz bewegte vornehmlich die Frage nach der Positionierung gegenüber den vielfältigen Modernisierungsprozessen die Gemüter. Diese Debatten nahmen sowohl die Folgen von Industrialisierung und Bevölkerungswachstum als auch die Arbeiterfrage in den Blick. Kontrovers diskutierte man zudem die Frage nach der Rolle der Frau in Gesellschaft und Kirche. Dabei ging es zum einen um die Zulassung von Frauen zum Studium der Theologie. Die Fakultäten in Basel und Zürich beschlossen 1914, um Frauen einen wissenschaftlichen Abschluss zu ermöglichen, neben der Konkordatsprüfung auch wieder Fakultätsprüfungen durchzuführen. Damit wurde zwar ein wissenschaftlicher Abschluss möglich, nicht aber der Weg ins Pfarramt gebahnt. Für die Zulassung von Frauen ins Pfarramt mussten die kantonalen Kirchen jeweils ihre Bewilligung erteilen, das aber sollte in den meisten Kantonen noch lange dauern. Eine Ausnahme stellte die bünderische Kantonalkirche dar: In Graubünden beschloss 1910 die kantonale Pfarrkonferenz bemerkenswerterweise, gegen die Zulassung von Frauen ins Pfarramt keine grundsätzlichen Einwände zu erheben. Entsprechend dem Prinzip der Gemeindeautonomie sollte den Gemeinden die Anstellung weiblicher Pfarrer freigegeben werden.66 Konkret stellte sich die Frage nach der Wählbarkeit von Frauen schließlich in Graubünden, als sich die deutsche Theologin Gertrude von Petzold (1876–1952) um die Zulassung zum Pfarramt beworben hatte.67 Es dauerte dann aber noch bis in die 1930er Jahre, dass in der Schweiz, zunächst freilich noch sehr zögerlich Frauen als Vikarinnen zugelassen wurden.68

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hereinbrechenden Weltereignissen. Eine Freuden- und Trauerbotschaft, Einbeck 1912, verbreitet; siehe dazu KBRS 27 (1912), 142. Gegen Voigts Schrift wandte sich Wilhelm Schlatter: Der Tag Jesu Christi und seine heilsame Ungewissheit, St. Gallen 1912. Zur Person siehe Vera Koelbing-Waldis: Auguste Forel, in: HLS 4, 608 f. Siehe beispielsweise dazu den anonymen Beitrag: Zur socialistischen Bewegung, in: AELKZ 11 (1878), 920–922. Ferner Thomas K. Kuhn: „Wir leben in einem Zeitalter voll Fragen“ – Kirche und soziale Frage im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Arie Nabrings (Hg.): Reformation und Politik. Bruchstellen deutscher Geschichte im Blick des Protestantismus. Beiträge zur gleichnamigen Tagung der Evangelischen Kirche im Rheinland und des Landschaftsverbandes Rheinland vom 23. bis 25. April 2014 in Düsseldorf, Bonn 2015, 79–100. So die CCW 21 (1911), 228. Gertrude von Petzold predigte 1911 in Pontresina, Zürich und Basel. Zur Person siehe Claus Bernet: Gertrude von Petzold (1876–1952). Quaker and first woman minister, in: Quaker Studies 12 (2007), 129–133. Zu den Entwicklungen in Basel siehe Peter Aerne: „Ich kann mich nur freuen, wenn Theolo-

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Weit über das Thema der Zulassung von Frauen für das Pfarramt hinaus gingen zum anderen die Diskussionen über das kirchliche Stimm- und Wahlrecht der Frauen.69 Beispielsweise erklärte Helene von Mülinen (1850–1924), eine der wichtigsten Vertreterinnen der schweizerischen Frauenbewegung, in diesen Debatten auf der Religiös-sozialen Konferenz in Bern 1910, was die Frauenbewegung vom Christentum erwarte70, und Clara RagazNadig (1874–1957)71 sprach auf der Generalversammlung des Schweizerischen Verbandes für Frauenstimmrecht.72 Im Zusammenhang mit den Debatten über die neuen Kirchenverfassungen setzte ein intensiver Austausch über das kirchliche Frauenstimmrecht ein.73 Die beiden Freien Kirchen ( glise libre) in Genf und Waadt hatten schon 1891 respektive 1898 den Frauen das aktive Stimmrecht gewährt. Die reformierte Landeskirche im Waadt stimmte bereits 1903 dem aktiven Wahlrecht von Frauen zu, das Parlament bewilligte aber erst 1908 das entsprechend geänderte Kirchengesetz, das nunmehr Stimmrecht für Frauen und Ausländer garantierte. In Genf beispielsweise, wo Ende 1908 eine Frauen-Petition das Stimmrecht wünschte, hatte man das kirchliche Frauenstimmrecht, das ursprünglich in der neuen Kirchenverfassung vorgesehen war, wieder fallen gelassen, um nicht die ganze Verfassung und die Konstitution einer freien Landeskirche zu gefährden. Möglicherweise sollten zunächst die Erfahrungen mit dem Frauenstimmrecht aus dem Waadt abgewartet werden.74 Wenige Jahre später erfolgte dort 1910 die Einführung des Frauenstimmrechts für Angelegenheiten der Genfer Kirche.75 Dazu mussten die Frauen aber einen

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ginnen zum Pfarramte zugelassen werden“. Der beschwerliche Weg von der Pfarrhelferin zum vollen Pfarramt in der reformierten Kirche Basel-Stadt (1924–1976), in: BZGAK 105 (2005), 199–233. Sibylle Hardmeier: Frühe Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890–1930). Argumente, Strategien, Netzwerk und Gegenbewegung, Zürich 1997; Beatrix Mesmer: Ausgeklammert – Eingeklammert. Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1988; dies.: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914–1971, Zürich 2007; Susanna Woodtli: Gleichberechtigung. Der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz, Frauenfeld 21983. Helene von Mülinen: Was die Frauenbewegung vom Christentum erwartet, Bern 1910; abgedruckt in: Doris Brodbeck (Hg.): Unerhörte Worte. Religiöse Gesellschaftskritik von Frauen im 20. Jahrhundert. Ein Reader, Bern/Wettingen 2003, 33–39. Zur Person siehe Doris Brodbeck: Hunger nach Gerechtigkeit. Helene von Mülinen (1850–1924), eine Wegbereiterin der Frauenemanzipation, Zürich 2000. Isabella Wohlgemuth: Clara Ragaz-Nadig (1874–1957) und der feministische Pazifismus, Zürich 1991 (Liz. Arbeit Univ. Zürich). Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. Vortrag gehalten an der Generalversammlung des Schweizerischen Verbandes für Frauenstimmrecht am 15. Mai 1915 in Biel, Zürich 1915. Zur Geschichte politischen Frauenstimmrechts siehe Yvonne Voegeli: Frauenstimmrecht, in: HLS 4, 705 f. Siehe dazu den Schweizerischen Jahresbericht 1908 in: CCW 19 (1909), 59 f., sowie CCW 20 (1910), 242. Siehe KBRS 25 (1910), 121: Hier sprachen sich 2152 Genfer für und 1349 gegen dieses Stimmrecht aus; siehe dazu auch CCW 20 (1910), 223.

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Eintrag ins Stimmregister verlangen, die Aufnahme der Männer erfolgte ohne Antrag. Die abtastende und vorsichtige Vorgehensweise in Genf signalisiert, wie umstritten dieses Stimmrecht im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch gewesen ist.76 Deshalb erregte es großes Aufsehen, als in Bern 1908 eine Vorlage für das Frauenstimmrecht erarbeitet wurde. Der Weg bis hin zur endgültigen Gewährung des Frauenstimmrechts zog sich in Basel bis in die frühe Nachkriegszeit hin. In die neue Kirchenverfassung von 1911 war es noch nicht aufgenommen worden, eine Ergänzung konnte allerdings durch einen Beschluss der Synode erfolgen.77 Dazu kam es schließlich nach langwierigen Debatten78 sechs Jahre nach Inkrafttreten der neuen Verfassung: Zunächst führte die Basler Synode am 9. Mai 1917 für die Pfarrwahlen das Frauenstimmrecht ein. Dieses galt aber noch nicht, wie ursprünglich beantragt, für die Wahlen in die Synode und in den Kirchenvorstand sowie für allgemeine Abstimmungen.79 Drei Jahre später erhielten die mitstimmenden Frauen 1920 das passive Wahlrecht in der Basler evangelisch-reformierten Kirche80; die ersten Frauen wurden schließlich 1924 in die Basler Synode gewählt. Anders als die bisher genannten kirchenpolitischen Herausforderungen, die keinen Niederschlag in dem Briefwechsel von Wernle und Thurneysen fanden, aber durchaus Gegenstand persönlicher Gespräche gewesen sein dürften, zumal Wernle 1911 als Vertreter der „Unabhängigen“ in die Basler Synode gewählt worden war81, erhielten die religiös-sozialen Entwicklungen breitere Beachtung. Die seit dem frühen 19. Jahrhundert sich verschärfenden 76 Siehe dazu CCW 21 (1911), 491 f. 77 Als einen Grund für die Nichtaufnahme nannte die CCW 21 (1911), 491, „das leidenschaftliche Eingreifen von Frauen in die Agitation und Preßpolemik bei einem Wahlkampf zwischen zwei positiven Pfarrern“. Hier handelt es sich um einen Wahlkampf an St. Peter; siehe KBRS 25 (1910), 122. Den in Basel ansässigen evangelischen Ausländern gewährte die Landeskirche seit 1911 das Stimmrecht. 78 Siehe beispielsweise die Berichterstattung in den „Basler Nachrichten“ und den Beitrag: „Kirchliches Frauenstimmrecht“, 12. März 1914, Nr. 117, 1. Beilage, [2]; sowie in CCW 22 (1912), 277–280. 79 Die CCW 27 (1917), 240, berichtete: „Kleine Mehrheit des Kirchenrates, vertreten durch Kirchenrat Böhringer war für Ablehnung des Frauenstimmrechts, aus Hochachtung vor der Frau und ihren echt weiblichen edlen Eigenschaften. Den Antrag auf Annahme des Minderheitsantrages des Kirchenrates vertrat in feiner Weise Prof. Eb. Vischer, zugleich im Namen der ,positiven‘ Fraktion der Synode sprechend. Bei der Abstimmung traten die Richtungen völlig in den Hintergrund; nur vier freisinnige Stimmen, vermehrt durch einen positiven Pfarrer, waren gegen, die ganze übrige Synode für das Frauenstimmrecht.“ 80 Appenzell Ausserrhoden gewährte Frauen 1910 das Stimm- und Wahlrecht in den Kirch- und Schulgemeinden; Neuenburg folgte 1916 mit der Einführung des aktiven Wahlrechts, Graubünden 1918. Dort wurden nicht nur vereinzelt Frauen in den Kirchenvorstand gewählt, sondern schon 1909 tauchte dort die Frage nach der Wählbarkeit von Frauen ins Pfarramt auf. Siehe dazu CCW 21 (1911), 492. Auf Kantons- und Gemeindeebene führte Basel erst 1966 das Stimmrecht für Frauen ein. 81 Bei dieser Wahl war erstmalig bei den Kandidaten auf die Bezeichnung der kirchenpolitischen respektive theologischen Fraktion („freisinnig“ oder „positiv“) verzichtet worden; CCW 21 (1911), 472.

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sozialen Herausforderungen fanden zusehends Aufmerksamkeit in Gesellschaft und Kirchen.82 Nicht allein der Evangelisch-soziale Verein oder die Religiös-Sozialen, die seit 1906/07 die Zeitschrift „Neue Wege“ herausbrachten, sondern beispielsweise auch der positive Evangelisch-kirchliche Verein beschäftigte sich mit den sozialen Herausforderungen und stellte seine Jahresversammlung 1909 in Chur unter das Thema „Jesus und die soziale Frage“.83 Zahlreiche Initiativen, wie beispielsweise die „Soziale Käuferliga“84 oder die sich unter den reformierten Pfarrern rasch ausbreitende Abstinenzbewegung (Blaues Kreuz)85, zu der auch Thurneysen gehörte, engagierten sich. Die Stellung der schweizerischen Sozialdemokratie zu den Kirchen gestaltete sich indifferent, neben antikirchlicher Polemik lassen sich auch vielfältige Annährungen erkennen. In Hermann Kutters86 Zürcher Gemeinde sowie bei Pfarrer Paul Pflüger (1865–1947) in Aussersihl, der 1910 in den Kleinen Stadtrat Zürichs gewählt wurde und Zentralpräsident des sozialdemokratischen Grütlivereins war, entstanden „Vereine sozialistischer Kirchgenossen“. Für die weiteren Entwicklungen sind die aus der 1906 stattgefundenen pädagogisch-sozialen Zusammenkunft im Degersheimer (Kanton St. Gallen) Pfarrhaus von Hans Bader87 entstandenen und seit 1907 und jährlich tagenden Religiös-sozialen Konferenzen zu nennen88, die – wie der deutsche Evangelisch-soziale Kongress – neben Laien mehrheitlich Pfarrer unterschiedlicher theologischer wie kirchenpolitischer Richtungen versammelten.89 So sprachen auf der Mitte April 1909 in Basel tagenden Konferenz90, an der auch Paul Wernle teilnahm, neben Kutter u. a. auch der sozialdemokratische Basler Regierungsrat Eugen Wullschleger (1862–1931)91, der sich über den Klassenkampf ausließ, sowie Paul Wernles Freund, der christlich-soziale Pfarrer Friedrich (Fritz) Sutermeister (1873–1934)92 und der Sekretär des Schweizerischen Arbeitersekretariates und Nationalrat Herman Greulich (1842–1925)93. Anders als die Evangelisch-sozialen Kongresse bemühten sich 82 Robert Barth: Protestantismus, soziale Frage und Sozialismus im Kanton Zürich 1830–1914, Zürich 1981; Christine Nöthiger-Strahm: Der deutschschweizerische Protestantismus und der Landesstreik von 1918, Bern 1981. 83 CCW 20 (1910), 267. 84 Siehe dazu unten S. 97. 85 Um 1910 waren ca. 20 Prozent der reformierten Pfarrer abstinent und wirkten in unterschiedlichen Vereinen mit; CCW 22 (1912), 528; in den Jahren 1912/13 war der Anteil der abstinenten Pfarrer immerhin auf 35 Prozent gestiegen; CCW 23 (1913), 615; zur Abstinenzbewegung siehe Rolf Trechsel: Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Lausanne 1990. 86 Zur Person siehe unten S. 376. 87 Zur Person siehe unten S. 368. 88 Markus Mattmüller: Hans Bader, in: HLS 1, 657. 89 Die 2. Konferenz fand am 22./23. April 1908 in Zürich statt; siehe dazu KBRS 23 (1908), 71 f., 74 f. 90 Siehe dazu den Bericht in: KBRS 24 (1909), 71 f. 91 Zur Person siehe Bernard Degen: Eugen Wullschleger, in: HLS 13, 594 f. 92 Siehe Paul Wernle: An meinen Freund Fritz Sutermeister, in: KBRS 32 (1917), 152 f. 93 Zur Person siehe Markus Bürgi: Herman Greulich, in: HLS 5, 684 f.

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die Schweizer Konferenzen, eine Akademisierung der Veranstaltung zu vermeiden und suchten – wie es die Anwesenheit Wullschlegers und Greulichs zeigt – die direkte Auseinandersetzung mit Sozialismus und Sozialdemokratie.94 In einer gewissen Opposition zu den Beiträgen, die sich vornehmlich an den äußeren Verhältnissen abgearbeitet hatten, verwies Wernle auf die „Macht der Selbstsucht“, die nicht zu vernachlässigen sei und gegen die das Christentum hauptsächlich zu kämpfen habe. Dagegen unterstrich der Zürcher Pfarrer Oskar Pfister (1873–1956) den Zusammenhang von äußeren Verhältnissen und menschlicher Sünde. Diese beiden Positionen stehen paradigmatisch für weite Teile der schweizerischen Pfarrerschaft. Eine weitere Position vertrat die Annahme einer inneren Verwandtschaft von Christentum und Sozialismus. Schließlich ist noch Kutters Haltung zu nennen, der sich durch seine Abstinenz von der praktischen Politik innerhalb der religiös-sozialen Bewegung zusehends isolierte. Einig war man sich darin, dass sich das christliche Gewissen nicht mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zufrieden geben dürfe und forderte als Ausdruck christlicher Existenz soziales Engagement. Uneinigkeit herrschte allerdings bei der Frage nach der Gestaltung dieser Arbeit.95 In diesem Zusammenhang kommt der HeimarbeitsAusstellung eine überaus wichtige Rolle zu, die 1909 in Basel und Zürich ansprechend über die sozialen Herausforderungen informierte und breit auch in kirchlichen Kreisen Aufmerksamkeit fand. Der mit hohem Engagement projektierte „Internationale Kongress für soziales Christentum“, der vom 27. bis 30. September 1914 in Basel stattfinden sollte, musste aufgrund des Kriegsausbruches ausfallen.96 Die Bewegung der Religiös-Sozialen um Leonhard Ragaz wurde nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland wahrgenommen. Ihr Bemühen um ein Zusammendenken von Christentum und Sozialismus stieß einerseits auf heftigen Widerstand, konnte aber auch ganz nüchtern in der „Chronik der christlichen Welt“ beschrieben werden: „Am kirchlichen Leben der Schweiz fällt zur Zeit das Streben der Religiös-Sozialen, Christentum und Sozialismus in rechte Beziehung zueinander zu bringen, am meisten ins Auge. Die Theologen und Laien der religiös-sozialen Gruppe sind unter sich verbunden durch die große Hoffnung, daß in der Bewegung des Sozialismus, die sich politisch in der internationalen Sozialdemokratie verkörpert, der lebendige Gott am Werk sei, sein Reich, das der Gerechtigkeit und des Friedens, zu schaffen. Verschiedener Ansicht aber sind sie darüber, wie ihre Mitwirkung in der eigentlichen politischen Arbeit des Sozialismus zu gehen habe, und ob Gott die Welt noch durch die Kirche oder außer ihr erneuern werde.“97 Eine wichtige 94 Die CCW 22 (1912), 529, berichtete: „Dem Sozialismus gegenüber fordern die Laien in großer Mehrzahl nicht etwa die Bekämpfung der Sozialdemokratie, sondern ein mutigeres Hineingehen der Kirche in den sozialen Kampf, ein energischeres Bekämpfen des Mammonismus.“ 95 KBRS 25 (1910), 19. 96 Siehe dazu KBRS 29 (1914) 66; das Programm a. a. O., 112. 97 CCW 23 (1913), 601.

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Zäsur war der Zürcher Generalstreik 1912 und die eindeutige Positionierung von Leonhard Ragaz auf Seiten der Streikenden98, die ihn in grundsätzliche Opposition beispielsweise gegenüber Hermann Kutter bringen sollte. Dieser warf Ragaz vor, der religiös-sozialen Sache durch sein Verhalten geschadet zu haben. Andere Theologen unterstellten Ragaz, Sozialdemokratie und Reich Gottes zu verwechseln.99 Für die Rezeption der religiös-sozialen Theologie, die nicht nur in Gemeinschaftskreisen heftigen Widerspruch provozierte, sollte neben der Zeitschrift „Neue Wege“ auch der 1912 erschienene Predigtband „Wir zeugen vom lebendigen Gott“ bedeutend werden.100 Diese Bewegung fand auch im Ausland, vornehmlich in Deutschland große Aufmerksamkeit und die verbreitete Zeitschrift „Die Christliche Welt“ berichtete regelmäßig über den Religiösen Sozialismus in der Schweiz. In der Folgezeit spitzten sich die Auseinandersetzungen um die Religiös-Sozialen zu. Neben den Angriffen von außen entwickelte sich schon bald eine interne Debatte über den theologischen Kurs der Religiös-Sozialen. Diese Kontroversen, in deren Folge sich Wernle aus der Mitarbeit bei den „Neuen Wegen“ zurückzog, stellten nicht nur Freundschaften auf die Probe, sondern führten auch zu persönlichen Verwerfungen, wie sich am Beispiel von Ragaz und Wernle zeigen lässt.101 Ihr zunächst 1913 in den „Neuen Wegen“ ausgetragener Streit über das Wesen der Kirche brachte schließlich bei Kriegsausbruch 1914 eine tiefe Entfremdung mit sich. Wernle reagierte in dem Artikel „Alt und Neu“ auf den Neujahrsartikel102 von Ragaz, in dem dieser das Zerbrechen der bisherigen Gestalt des Christentums behauptet hatte, und erklärte, dass er, obwohl er selbst zu den „Freunden und Begründern“ der „Neuen Wege“ gehört habe, deren – und damit vornehmlich Ragazens – Weg nicht mehr mitgehen könne.103 Er warf Ragaz vor, eine „neue Religion“ schaffen zu wollen und allein „eine leidenschaftliche Kritik des Bestehenden und eine schwärmerische Sehnsucht nach Neuem, Großem und Ueberraschendem, aber keinen einzigen dem alten evangelischen Christentum überlegenen Wert“ anzubieten.104 Wernle distanzierte sich zunehmend von den jüngeren religiös-sozialen Theologen, die er durchaus auch als anwachsende Konkurrenz erlebte. Der Sohn von Paul Wernle hielt diese Entwicklungen rückblickend in seinen Aufzeichnungen fest und schrieb: „Der Sozialismus meldete sich an, intel98 Ragaz verteidigte den Streik in seinem Aufsatz „Der Zürcher Generalstreik“, in: NW 6 (1912), 291–303. In der bürgerlichen und ländlichen Presse löste er damit große Entrüstung aus und man forderte ihn sogar auf, von seiner Zürcher Professur zurückzutreten. 99 Siehe dazu Mattmüller I, 183–190. 100 Jacob Eugster (Hg.): Wir zeugen vom lebendigen Gott! Predigten religiös-sozialer Pfarrer der Schweiz, Jena 1912. Siehe dazu im Briefwechsel, S. 188 f. 101 Vgl. dazu die Erinnerungen von Hans Wernle, siehe unten S. 35. 102 Leonhard Ragaz: Ein Ende und ein Anfang, in: NW 7 (1913), 3–9. 103 Paul Wernle: Alt und Neu. Eine Auseinandersetzung, in: NW 7 (1913), 43–51, hier 43. Siehe dazu im Briefwechsel, S. 164 f. 104 Wernle: Alt und neu, 43 f.

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lektuell durch Leonhard Ragaz (mit dem mein Vater sich zerstritt, zum Teil, weil mein Vater im Grund konservativer war, zum Teil wohl auch aus Neid gegen den neuen Leitbullen der jungen Theologen – später nahm Karl Barth diese Stelle ein, und mein Vater wurde immer kränker), politisch durch die Revolution Lenins und in der Schweiz durch den bürgerkriegsartigen Generalstreik von 1918.“105 Als im Vorfeld des Ersten Weltkrieges 1912 in Basel der Internationale Friedenskongress der Sozialisten im Basler Münster stattfand, ließ Wernle seinen Sohn Hans auch den „Zug der grauen Männer“ sehen, die zum Basler Münsterplatz und zum Münster zogen“.106 Diese international beachtete Zusammenkunft, die ca. 20.000 Menschen umfasste, signalisierte eine offene Haltung der Basler Kirchenbehörden gegenüber dem Sozialismus. Dafür erntete sie allerdings – wenig überraschend – heftige Kritik aus dem In- und Ausland. Vornehmlich die überaus harschen Reaktionen aus Deutschland markieren die erheblichen politischen und kirchlichen Differenzen zwischen dem Kaiserreich und der Eidgenossenschaft.107 Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges intensivierten sich einerseits die theologischen und kirchenpolitischen Grabenkämpfe, andererseits spielte die Frage nach der Haltung zu den einzelnen Kriegsparteien eine entscheidende Rolle und konnte innerhalb der einzelnen kirchenpolitischen Richtungen durchaus unterschiedlich beantwortet werden. Als Tendenz zeichnete sich indes folgendes Bild ab: Unter den Freisinnigen wie Hans Baur (1870–1937)108, Paul Wernle109, und Adolf Bolliger (1854–1931)110 beispielsweise herrschte eine ausgeprägte germanophile Haltung, hingegen ließen Barth und Thurneysen eine abwägende, die Religiös-Sozialen eine weitgehend deutschkritische Haltung erkennen. Insgesamt gesehen prägte während des ganzen Krieges namentlich der Antagonismus zwischen Welschen und Deutschen die schweizerischen theologischen wie kirchenpolitischen Debatten. Auch deshalb fielen die Reaktionen auf den Ausbruch des Krieges innerhalb der Eidgenossenschaft sehr unterschiedlich aus. Die spezifische Situation der Schweiz während des Ersten Weltkrieges kann trefflich mit dem 105 Hans Wernle: Aufzeichnungen, in dessen Nachlass in der UB Basel. 106 Wernle: Aufzeichnungen, 13. Siehe dazu auch die ausführliche Beschreibung: Hans Wernle: Der Zug der grauen Männer, in: NW 57 (1963), 11–12. 107 Siehe zum Kongress und zum Folgenden Thomas K. Kuhn: „Die empfindlichsten und stacheligsten Patrioten“? Die reformierte Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Hans-Georg Ulrichs (Hg.): Der Erste Weltkrieg in der reformierten Welt, Neukirchen-Vluyn, 2014, 299–326; Bernard Degen (Hg.): Gegen den Krieg. Der Basler Friedenskongress 1912 und seine Aktualität, Basel 2012. 108 Hans Baur: Das kämpfende Deutschland daheim. Was ein Deutschschweizer sah, Zürich 1915. 109 Exemplarisch sei hier genannt Paul Wernle: Gedanken eines Deutsch-Schweizers, Zürich 1915. 110 Adolf Bolliger: Tatsachen. Das Sendschreiben der französischen Protestanten an die Protestanten der neutralen Staaten, Konstanz 1915. Bolliger lehrte von 1891 bis 1905 als Professor der systematischen Theologie in Basel, wurde dann am Zürcher Neumünster Pfarrer; Zürcher Pfarrerbuch, 208 f.

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Bild von einer „Insel der unsicheren Geborgenheit“ beschrieben werden.111 Neben dem Gefühl, in einem relativ geschützten und schützenden Raum zu leben, spürten auch die Schweizerinnen und Schweizer die ökonomischen Folgen des Krieges. Sogar nach der Verletzung der Neutralität Belgiens spielte die Sorge vor einem Einmarsch der Deutschen im öffentlichen Bewusstsein der deutschsprachigen Schweiz keine wesentliche Rolle, da hier eine prodeutsche Haltung überwog. Die gelegentlich formulierten Sorgen vor einem Einmarsch Frankreichs blieben nur Einzelfälle. In der besonderen historischen Situation des Kriegsbeginns stellten sich die Schweizer Reformierten zunächst die Frage nach den Aufgaben der Kirchen. Der durch den Kriegsausbruch gesteigerte Gottesdienstbesuch allerdings normalisierte sich wie das Gemeindeleben rasch wieder. Immerhin wurde der Wunsch nach einer intensiveren theologischen Arbeit zusehends lauter. Denn eine zentrale, aber durchaus unterschiedlich beantwortete theologische Frage war jene nach dem Verhältnis von Evangelium und Krieg. Der Chronist des „Kirchenblatts für die reformierte Schweiz“, Pfarrer Rudolf Schwarz112, fasste seinen Eindruck der ersten Kriegsjahre in folgende Worte: „So hat das Kriegs-Jahr dem kirchlichen Leben der Schweiz keinen Frieden, sondern zu alten Zwisten ein neues, noch schärferes Hervortreten der bestehenden Unterscheide gebracht; wir mußten auch noch eine Art geistigen Krieg durchmachen und stehen noch drin.“113 Noch zugespitzter erklärte Paul Wernle: „Wir stehen gegenwärtig ganz offenbar in zwei verschiedenen Lagern, wir können uns als Christen zuweilen kaum mehr verstehen.“114 In den ersten Kriegsjahren schieden sich die Geister vornehmlich hinsichtlich der Fragen nach dem Wesen der Schweiz und ihrer Neutralität, die unter den Reformierten zur Debatte standen. Zudem spalteten die breiten Diskussionen über Dienstverweigerung, Militarismus, Pazifismus und Antimilitarismus, in die sich auch Wernle einmischte und die Schweizer Jugend zum Waffendienst für Volk und Staat ermutigte115, die Öffentlichkeit. Damit hingen ferner zusammen die Debatten über das Verhältnis von Nationalismus und Christentum sowie die Auseinandersetzungen über die Zusammenhänge von politischer Haltung und konfessioneller Prägung, wie sie beispielsweise Leonhard Ragaz pointiert einbrachte.116 111 Georg Kreis: Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich 22014 112 Zur Person siehe unten S. 382. 113 Rudolf Schwarz: Das kirchliche Leben der Schweiz im Kriegsjahre 1914/15, in: KBRS 30 (1915), 161–163; 165–170, 196–198; 199–201; 203–206; 209–212, 219 f., hier 219. 114 Paul Wernle: Ein Nachtrag zur deutschen Gefahr, in: KBRS 31 (1916), 41–43, hier 43. 115 Paul Wernle: Antimilitarismus und Evangelium, Basel 1915, sowie Wernle, Gedanken eines Deutsch-Schweizers, a. a. O. Siehe dazu unten Brief Nr. 102. 116 Leonhard Ragaz: Von den letzten Voraussetzungen der schweizerischen Unabhängigkeit. Ein Votum, in: WuL (1916), 305–321. Siehe dazu auch Thomas K. Kuhn: Reformator – Prophet – Patriot. Huldrych Zwingli und die nationale Besinnung der Schweiz bei Leonhard Ragaz, in:

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In seinem 1917 erschienenen und wohl bekanntesten Buch „Die neue Schweiz. Ein Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen“117 verband Ragaz eine leidenschaftliche Vaterlandsliebe mit einem ausgeprägten Internationalismus. Er griff darin das in diesen Jahren verbreitete Bemühen auf, zwischen der deutschen und französischen Schweiz zu vermitteln und einen „esprit suisse“, ein schweizerisches Nationalgefühl zu wecken. Dieses Anliegen mündete schließlich in den 1930er Jahren in das unter den Schweizer Theologen umstrittene Projekt der so genannten „Geistigen Landesverteidigung“.118 Nach Kriegsende verursachte im November 1918 der Landesstreik, der sich gegen die bedrückenden wirtschaftlichen Notlagen wandte, eine schwere politische Krise und erhebliche Unruhen in der Schweiz. Die Bundesversammlung erließ ein Truppenaufgebot gegen die streikenden Arbeiter, die unter anderem für das Frauenwahlrecht, die 48-Stunden-Woche und für eine Altersund Hinterlassenen- und Invalidenversicherung kämpften.119 Für die Nachkriegszeit und die 1920er Jahre ist abschließend noch die 1919 erfolgte Gründung der Evangelischen Volkspartei (EVP) und der 1920 in Olten entstandene Schweizerische Evangelische Kirchenbund zu nennen, der vornehmlich Aufgaben der Koordination übernehmen und den Protestantismus gegenüber den Behörden vertreten sollte. In den folgenden Jahren konstituierten sich noch der „Schweizerische Protestantische Volksbund“ (1925), dem es um die Aktivierung des kirchengemeindlichen Lebens ging, sowie der „Schweizerische Verband für Innere Mission und Liebestätigkeit“ (1927) und der Schweizerische Evangelische Pressedienst (1928). In der kirchlichen Landschaft ist ferner ein wachsender Einfluss von Freikirchen zu nennen, das verstärkte Aufkommen der Pfingstbewegung sowie die Gründung des aus der Evangelischen Allianz hervorgehenden Aarauer Verbandes, der sich als Zusammenschluss evangelischer Freikirchen und Körperschaften versteht.

Alfred Schindler/Hans Stickelberger (Hgg.): Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen, Bern/Wien u. a. 2001, 471–482. 117 Leonhard Ragaz: Die neue Schweiz. Ein Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen, Olten 1918. 118 Siehe dazu Thomas K. Kuhn: „Geistige Landesverteidigung“ und reformierte Theologie in den 1930er Jahren, in: ZKG 114 (2003), 21–44. 119 Siehe hierzu Vischer (Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte, 261 f.

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3. Paul Wernle120 Leben und Werk von Paul Wernle sind bisher noch nicht hinreichend erforscht worden. Weder seine Biographie121 noch sein überaus reiches theologisches und historisches Œuvre haben angemessene wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren.122 Das ist insofern bemerkenswert, da es sich doch bei diesem Basler Neutestamentler und Kirchenhistoriker um einen überdurchschnittlichen akademischen Theologen des frühen 20. Jahrhunderts handelt, dessen Publikationen bei zahlreichen Fachkollegen – wie etwa bei Adolf von Harnack – positive Resonanz auslösten.123 Die Universität Marburg verlieh dem Schweizer schon 1903 den Ehrendoktor und bemühte sich um eine Berufung Wernles. Möglicherweise wollte der Marburger Neutestamentler Adolf Jülicher den Basler Freund an die Marburger theologische Fakultät binden. Von wissenschaftlicher Wertschätzung zeugen ferner zahlreiche Briefe und Postkarten bekannter Theologen im Nachlass von Paul Wernle.124 Karl Barth 120 Die folgenden Ausführungen stellen eine gekürzte und überarbeitete Fassung dar von Thomas K. Kuhn: Theologisch-historische Leidenschaften. Paul Wernle (1872–1939). Eine biographische Skizze, in: Andreas U. Sommer (Hg.): Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des Frey-Grynaeischen Instituts in Basel 1747–1997, Basel 1997, 135–158. Ich danke dem Verlag Schwabe für die Abdruckgenehmigung. 121 Die Quellenbasis für eine Beschreibung des Lebens und Denkens von Wernle ist durch den Nachlass des Sohnes, des ehemaligen Basler Gymnasiallehrers Hans Wernle, erheblich erweitert worden. Die Aufzeichnungen des Sohnes lassen neben dem Theologen und Historiker auch den Vater und Ehemann Wernle in all seiner Vielschichtigkeit und Problematik erkennen. Bei den Aufzeichnungen von Hans Wernle handelt es sich um folgende Manuskripte: „Aus grauer Vorzeit“, datiert auf den 7. Februar 1983, 16 A4-Seiten, maschinenschriftlich; „Anamnesis“, Anfang 1982, 34 A4-Seiten, maschinenschriftlich; „Aufzeichnungen Hans Wernle“, ohne Datierung, 35 A4-Seiten, maschinenschriftlich. 122 Zu Leben und Werk liegen lediglich vor: Rudolf Schwarz: Paul Wernle 1872–1939, in: Basler Jahrbuch 1940, 68–77; Wilhelm Lueken: Paul Wernle zum Gedächtnis, in: Nachlass P. Wernle; Zur Erinnerung an Paul Wernle, Basel 1939; Walther Köhler: Paul Wernle, in: Neue Zürcher Zeitung 1939; Nr. 679 und 682. Ferner siehe Wernles „Autobiographie“, in: Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 5, Leipzig 1929, 207–251; und die Artikel in RGG2 5, 1867; LThK2 10, 1057; RGG4 8, 1466 f., HLS 13, 412. Seine Schriften bis 1932 verzeichnet Philipp Schmidt: Verzeichnis der Veröffentlichungen von Professor Dr. theol. et phil. Paul Wernle, in: Aus fünf Jahrhunderten schweizerischer Kirchengeschichte. Zum sechzigsten Geburtstag von Paul Wernle, hg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel, Basel 1932, 447–458. Zu ergänzen ist „Der schweizerische Protestantismus in der Zeit der Helvetik“, 2 Bde., Zürich 1938–1942. 123 Harnack schrieb 1911 an Martin Rade: „Ich schätze u. liebe Wernle ganz besonders “; abgedruckt in: Johanna Jantsch (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin/New York 1996, 673. 124 Der Nachlass ist in der Basler UB deponiert und enthält Briefe und Karten u. a. von (die Zahlen in der Klammer geben die Anzahl der Briefe und Karten an): Karl Barth (7) 1912–1918; Otto Baumgarten (9) 1926–1934; Adolf Deissmann (4) 1908–1918; Oskar Farner (26) 1908–1931; Theodor Häring (73) 1894–1927; Adolf von Harnack (33) 1899–1929; Emanuel Hirsch (9) 1919–1924; Karl Holl (37) 1906–1925; Adolf Jülicher (115) 1898–1936; Walther Köhler (87)

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schrieb drei Jahre nach Wernles Tod an den Basler Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt (1891–1956), dass Wernle „als der Vertreter der damals modernen Theologie“ – ohne zu übertreiben – „in seiner Glanzzeit mit seinen Büchern und Artikeln die ganze theologische Schweiz in Atem hielt und so oder so bestimmte“.125 Barth trat mit Wernle in Kontakt, von dem er sich manche theologische Anregung erhoffte, klagte aber seinem Freund Eduard Thurneysen gegenüber, Wernle müsste einfach etwas verständiger sein wollen: „Es ist nur eine dünne Wand zwischen ihm und uns, ich höre ihn deutlich klopfen auf der andern Seite, aber ich glaube nicht mehr, daß die Aussicht noch frei ist.“126 3.1. Frey-Grynaeisches Institut Am 14. Dezember 1900 wurde Paul Wernle zum Lektor des Frey-Grynaeums berufen und er übernahm das Lektorat im April 1901.127 Zwei Wochen vor dieser Berufung hatte ihn der Erziehungsrat des Kantons Basel-Stadt als Nachfolger von Rudolf Stähelin (1841–1900)128 zum außerordentlichen Professor für neuere Kirchengeschichte, Dogmengeschichte, Geschichte des protestantischen Lehrbegriffes und Geschichte der protestantischen Theologie ernannt. Mit dem Amt des Lektors war die Wohnsitznahme im FreyGrynaeum am Oberen Heuberg 33 verbunden, wo Wernle bis zum Sommer 1936 lebte. Solchermaßen materiell und sozial abgesichert, heiratete er noch kurz vor Vorlesungsbeginn Marie Liechtenhan129. Das Paar hatte ein Kind, Hans Wernle.130 Einundachtzig Jahre nach seiner Geburt verfasste Hans Wernle 1983 autobiographische Fragmente und beschrieb darin seine überaus ambivalenten Erfahrungen in dem Haus am Heuberg, in dem er immerhin gut zwanzig Jahre gelebt hatte. Der Sohn erlebte das Haus am Heuberg als Ort der „Unergründlichkeit“ und der „ungemessenen Weiten“. Innerhalb des Hauses stellte nach Hans Wernle das eigentliche Frey-Grynaeum eine fremde Welt dar. Und in die Geräumigkeit des Hauses hinein ragte wie ein Sperrbezirk der „abgekapselte Sonderraum: die von Büchern eingeengte Studierstube“ des Vaters im ersten

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1902–1933; Rudolf Liechtenhan (64) 1896–1936; Martin Rade (94) 1905–1928; Leonhard Ragaz (45) 1903–1928; Ernst Staehelin (33) 1911–1933; Eduard Thurneysen (75) 1909–1926; Ernst Troeltsch (29) 1897–1923. Zitiert bei Busch: Lebenslauf, 87. Barth-Thurneysen 1, 86; siehe dazu auch Busch: Lebenslauf, 87. Siehe dazu Ernst Staehelin: Johann Ludwig Frey, Johannes Grynaeus und das Frey-Grynaeische Institut in Basel, Basel 1947, 172–178. Zur Person siehe Basilea reformata, 302. Marie Liechtenhan war die Schwester des religiös-sozialen Basler Professors für Neues Testament Rudolf Liechtenhan (1875–1938) und stammte aus einer angesehenen Basler Familie. Zur Person siehe unten S. 384.

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Stock, „worin Dinge vorgingen, von denen ein Kind nicht viel verstehen konnte“.131 In diesem Haus verlebte Hans als Einzelkind eine Kindheit, die geprägt war von Einsamkeit und hohen Ansprüchen des ehrgeizigen und arbeitswütigen, ja geradezu besessenen Vaters. Sein Elternhaus erfuhr er als „Haus der Trauer, des Schreckens, der Angst. Die Menschen verschwanden in diesem riesigen Haus und ich am meisten“. Auf diese bedrückende Atmosphäre reagierte Hans Wernle mit häufigen Erkrankungen.132 Seine Eltern konnten ihn nicht von der quälenden Bedrückung und Verlorenheit erlösen, zumal der Vater im Anschluss an psychologische und pädagogische Überlegungen Paul Häberlins133 zärtlichen Zuwendungen kritisch gegenüberstand.134 Vielmehr verfolgte Paul Wernle ein „System der Abtötung: ,Plätschern‘, d. h. kalte Wassergüsse über den ganzen Leib, bei denen er in einem weiten Becken stand. ,Müllern‘, steife Turnübungen nach einem Lehrbuch, weite Spaziergänge in eiligem Schritt vor dem Morgenessen“.135 Aus den Aufzeichnungen Hans Wernles wird ersichtlich, wie problematisch sich sowohl das Vater-Sohn-Verhältnis als auch die Beziehung der Eltern untereinander gestalteten. Der Vater war von dem unbändigen Ehrgeiz getrieben, ein Buch nach dem anderen zu schreiben, denn er pflegte den Gedanken, es könnte ja das letzte vor dem Tod sein.136 Solchermaßen rastlos projizierte er alle Wünsche, die er für sich selber nicht zu wünschen wagte, auf den einzigen Sohn. Dieser zerbrach unter dem väterlichen Erwartungsdruck und es gelang ihm lange nicht, einen eigenen Weg zu finden. Die Erinnerungen des Sohnes lassen ferner ein ausgeprägtes Standesbewusstsein im Hause Wernle erkennen. Die Eltern waren sich des bürgerlichen Status’ eines Universitätsprofessors bewusst und gaben diese Überzeugung an den Sohn weiter. Allerdings geriet diese elitäre Einstellung bei Hans Wernle gelegentlich ins Wanken, nicht zuletzt bei seinen Besuchen im Pfarrhaus des Münsterpfarrers Leonhard Ragaz. In den Jahren, in denen Ragaz als Pfarrer in Basel wirkte, waren beide Familien miteinander befreundet137, und Hans Wernle spielte oft mit den Pfarrerskindern. Bei einem Mittagessen im Pfarrhaus ereignete sich ein aufschlussreicher Vorfall: Als das Dienstmädchen die 131 H. Wernle: Vorzeit, 2. 132 H. Wernle: Vorzeit, 3. Auch in seinen Aufzeichnungen „Anamnesis“ beschreibt Hans Wernle seine Kindheit als Leidenszeit, in der er sich einem „furchtbaren Druck“ beider Elternteile ausgesetzt gesehen habe; 2; 22. 133 Zur Person siehe unten S. 372. 134 H. Wernle: Vorzeit, 3. 135 H. Wernle: Vorzeit, 4. 136 Hans Wernle notiert, daß sein Vater von Todesangst getrieben worden sei; Anamnesis, 19. 137 Paul Wernle kannte Ragaz schon seit dessen Zeit in Chur und setzte sich 1905 dafür ein, dass der Basler Münsterpfarrer Ragaz als Nachfolger des liberalen Adolf Bolliger auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie berufen werde. Nach einer diffizilen Berufungsgeschichte wurde schließlich gegen den Vorschlag der Fakultät, sie wünschte Rudolf Otto (1869–1937), vom Erziehungsrat der Görlitzer Johannes Wendland (1871–1947) berufen; siehe dazu Mattmüller I, 91–93. In seiner „Autobiographie“ nennt Wernle den Namen Ragaz nicht.

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Suppe hereingebracht hatte und sich mit an den Tisch setzte, entfuhr es dem jungen Gast: „Eso Lyt ässe bi uns nit am Disch!“138. Im Hause Wernle hatten die Dienstmädchen – Mägde genannt – in der Küche zu essen, sie wurden nur zu den Hausandachten hinzugerufen. Später, nachdem Ragaz Professor in Zürich geworden war, zerbrach die Freundschaft, worunter Clara Ragaz, Wernles Frau Marie und der Sohn Hans litten. Für das Ende der Beziehungen waren neben politischen und theologischen Gründen139 ausgeprägtes „Führerbewusstsein“ und Eifersüchteleien Wernles die Hauptursache, wie die Aufzeichnungen von Hans Wernle verdeutlichen: „Dass die Freundschaft meines Vaters mit Leonhard Ragaz auseinander ging […] hat mich tief geschmerzt. Tief schmerzte mich aber auch die Art, wie es mir zum Bewusstsein kam. Von einem nachträglich nicht mehr bestimmbaren Augenblick an existierte der Name Ragaz einfach nicht mehr. […] Es gibt keine Erklärung, keine Begründung […] Tiefer als die Deutschland-sympathien meines Vaters140 und die sozial-politischen Ansichten von Ragaz trennte der Unterschied im Machtgefälle. Solange Ragaz noch Pfarrer in Basel war, protegierte mein Vater neben sich gerne einen originellen und bedeutenden Mann oder glaubte, ihn protegieren zu können oder zu müssen. Das änderte sich, sobald Ragaz selbständiger Professor war und Studenten – gerade die aufgeschlossensten – zu ihm überliefen. Mein Vater besass sich selber gegenüber ein ausgesprochenes Führerbewusstsein: er glaubte – und so und so viele Anhänger, Freunde, Mitsuchende glaubten es damals mit ihm –, dass es ihm gelungen sei, durch geschichtswissenschaftliche ,Quellen‘-kritik Wahn und Irrtum der frühen Christen zu durchschauen – ,kleine Leute‘ waren nach einer Formulierung meiner Mutter die ersten Christen – und doch zugleich das Christentum in seiner Weiterentwicklung als befreiende, erlösende, weltüberwindende Macht immer sieghafter zur Geltung zu bringen.“ Die Ehefrauen auf beiden Seiten waren gegen diesen Bruch, aber sie blieben machtlos: „Die ,Studierzimmer‘ oder die Studierköpfe – siegten.“141

138 H. Wernle: Vorzeit, 8. 139 Vgl. dazu Ragaz: Briefe, Bd. 1, Briefe Nr. 122 f., 130, 137 f. In den Jahren 1915–1920 scheint Ragaz nicht an Wernle geschrieben zu haben, danach finden sich bis 1928 wieder einige Briefe in Wernles Nachlass. 140 Zu Paul Wernles Sympathie für Deutschland während des Ersten Weltkrieges vgl. seine publizierten Briefe an Martin Rade, in: Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Zwischen Leonhard Ragaz und Karl Barth. Die Beurteilung des 1. Weltkrieges in den Briefen des Basler Theologen Paul Wernle an Martin Rade, in: ZSKG 71 (1977), 393–417. Zu Rade siehe Anne Christine Nagel: Martin Rade – Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie, Gütersloh 1996. 141 H. Wernle: Vorzeit, 9.

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3.2. Herkunft und Schulzeit Woher kam und wer war dieser kreative und rastlose Wissenschaftler, der zu Lebzeiten unter seinen Fachkollegen hohes Ansehen besaß und zweifelsohne zu den führenden Professoren der Basler Theologischen Fakultät im 20. Jahrhundert zählt? Wernle wurde am 1. Mai 1872 in Zürich-Hottingen geboren und wuchs in einem pietistisch geprägten Elternhaus auf, in dem das Gedankengut württembergischer sowie schweizerischer Erweckungsfrömmigkeit Leben und Denken prägten. Der Vater, Christian Fürchtegott Wernle (1831–1885), stammte aus dem württembergischen Kirchheim unter Teck (Kreis Esslingen) und erfuhr seine religiöse Prägung durch den späteren Stuttgarter Prälaten Sixt Karl Kapff 142. Er las Werke von Johann Tobias Beck (1804–1878) und beschäftigte sich mit Johann Christoph Blumhardt143. Ferner galt sein Interesse eschatologischen Fragen und Adolf Stoeckers (1835–1909) christlichsozialem Programm. Sein Wunsch, Pfarrer zu werden, erfüllte sich nicht, vielmehr ließ er sich als Drogist und Chemiker in Aarau nieder, wo er auch das Bürgerrecht erwarb.144 Seinen Berufswunsch übertrug er anscheinend auf den Sohn Paul und setzte ihn damit unter erheblichen Druck. Als der Vater gestorben war, sprach der Sohn erleichtert von einer Befreiung in der Erziehung145, da er den Vater als Tyrannen im Haus erfahren hatte.146 Zudem beschreibt er seinen Vater als „energische, starke Natur“, dem die Religion das Höchste und Einzige gewesen sei: „Der Kern seines Wesens war seine Religion, nach aussen erschien er hart, ungeschmeidig, von eiserner Strenge, durch und durch deutsch.“147 Eine Zeitlang beschäftigte sich Wernle ferner mit dem Ideal der christlichen Sündlosigkeit.148 Seine religiöse Prägung brachte es mit sich, dass er sich vehement gegen die Theologie der schweizerischen Reformer wandte. 142 Zu Kapff siehe unten S. 375; sowie Heinrich Hermelink: Geschichte der evangelischen Kirche in Württemberg von der Reformation bis zur Gegenwart, Stuttgart/Tübingen 1949, 373–376; 397–408. 143 Zur Person siehe unten 369. 144 Später zog die Familie nach Zürich. Die Drogerie Wernle entwickelte sich nach dem Tod des Vaters und Begründers zur lange Zeit führenden Drogerie Zürichs, deren „Schnellglanzpulver“ und „Silberputzpulver“ sich großer Beliebtheit erfreuten. 145 Paul Wernle: Curriculum vitae, im Nachlaß P. Wernle: II: B. d (ohne Paginierung), 2 Hefte. 146 So H. Wernle: Aufzeichnungen, 15. Er schreibt über seinen Großvater: Er war ein „unruhiger Geist, typischer ,Erfinder‘ kleiner Haushaltsreinigungsmittel, ein Mann der ,Gründerzeit‘, aber ohne geschäftliche Ausdauer, machte eine ,Bekehrung‘ durch (Tagebuch erhalten) und wurde danach Mitglied einer pietistischen Gemeinschaft innerhalb der offiziellen Kirche. Er machte eine ,objektive Heirat‘, d. h. mit einer frommen Jungfrau innerhalb derselben Gemeinschaft (nicht Liebesheirat)“; ebd. 147 Ebd. 148 Das erste publizierte Werk von Paul Wernle trägt den Titel „Der Christ und die Sünde bei Paulus“, Freiburg im Breisgau/Leipzig 1897.

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Diese von Bekehrung und religiöser Ergriffenheit erfüllte Persönlichkeit prägte die Kindheit Paul Wernles, die er selbst als unfrei und beengt erlebte. Der Vater wurde zudem von einem „rastlosen, unbeugsamen Fleiss“ getrieben, einer Charaktereigenschaft, die sich auch als wesentliches Merkmal in der Persönlichkeit von Paul Wernle erkennen lässt. Mit seiner Mutter, Louise Wernle-Ringier (1838–1918), verband Paul Wernle eine lebenslange enge Verbindung. Die oft an depressiven Verstimmungen leidende Mutter förderte ihren Sohn Paul mehr als die anderen drei Geschwister.149 Sie war die älteste Tochter des Aargauer Staatschreibers Karl Ludwig Ringier (1808–1875)150 und stammte aus einer im 16. Jahrhundert in Zofingen eingebürgerten Familie, die aus Frankreich in die Schweiz eingewandert war und der einige Berner Pfarrer entstammten.151 Ihre religiöse Prägung erhielt sie durch den Dichterpfarrer Abraham Emanuel Fröhlich (1796–1865)152 im Sinne der schweizerischen Erweckung: „Ihrer bescheidenen innerlichen Art entsprach am besten die friedliche und fröhliche Weise der Herrnhuter, die sie in Aarau kennenlernte, und deren Versammlungen sie auch in Zürich gern besuchte“.153 Der starke Wunsch des Vaters, aus dem Sohn einen Theologen zu machen, hätte beinahe zu einer Abkehr Paul Wernles von seinen theologischen Interessen geführt. Als jedoch der Vater wenige Monate vor Wernles Eintritt in das Zürcher Gymnasium 1913 verstarb, erloschen die väterlichen Ansprüche und das Interesse an religiösen Fragen wurde zunächst durch die Geschichte und die alten Sprachen verdrängt, die er rasch und ehrgeizig lernte. Wohl durch ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und Pedantismus verursacht, verbrachte Wernle seine Jugend ohne Freunde und durchlief die Schule als begabter, aber einsamer Außenseiter. Im Alter von 16 Jahren entschloss er sich 1888, Theologie zu studieren. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen hält er dazu fest: „Mein Entschluss war religiös; aus allen Notizen aus jener Zeit geht hervor, dass ich eine heilige Aufgabe übernommen hatte, die ich mit Ernst, mehr aber mit christlicher Gesinnung erfüllen wollte. Nur hatte ich mich in meinen bisherigen Studien viel zu tief in eine einseitige Verstandesrichtung hineingelebt, als dass von eigentlicher Religion überhaupt die Rede war. Es blieb bei der äusserlichen Änderung der Geistesrichtung. Wäre mir damals die Religion innerste Herzenssache gewesen, ich hätte nicht so grosse Verirrungen durchzumachen gebraucht.“154 Während der Konfirmandenzeit empfing Wernle Anregungen von dem Sohn des eben erwähnten Dichterpfarrers, dem 149 Hans Wernle spricht davon, dass die Mutter die drei Geschwister der Karriere des Sohnes Paul „geopfert“ habe; Anamnesis, 14. 150 Zur Person siehe Fritz Schoder: Karl Ludwig Ringier, in: Georg Boner/Otto Mittler (Hgg.): Biographisches Lexikon des Aargaus, 1803–1957, Aarau 1958, 625 f. 151 Siehe HBLS 5, 639 f. 152 Zu Fröhlich siehe HBLS 3, 345. 153 P. Wernle: Autobiographie, 208. 154 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft.

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Zürcher Pfarrer an der St. Anna-Kapelle Edmund Fröhlich (1832–1898)155, der ihn zu gründlichem Bibelstudium im orthodox-positiven Sinne ermunterte: „Von Jugend auf erzogen im orthodoxen Glauben hatte ich mich daran gewöhnt, in der Reformrichtung einen schlimmen Feind zu erblicken. Es war nun Zeit zu prüfen, warum diese Richtung ein so schlimmer Feind sei.“156 Dabei unterstützte ihn der orthodoxe Nichttheologe Ulrich Stutz (1826–1895), der unter dem Titel „Der Alte und der Neue Glaube oder Christenthum und Naturalismus. An Strauß und den zürcherischen Reformern geprüft“157 eine polemische Auseinandersetzung mit der freisinnigen Theologie und ihren Protagonisten vorgelegt hatte. Durch Stutz erkannte Wernle, „dass es sich gegenwärtig um zwei Weltanschauungen handelt, die christliche und die moderne, und dass die Reformtheologie jenseits der Kluft stehe, so gut wie Strauss, nur nicht so consequent und ehrlich wie er.“158 Weiter prägten Wernle der Theologe und Pädagoge Leopold Witte (1836–1921) mit seiner TholuckBiographie159 sowie Alexandre Vinet (1797–1847) und Blaise Pascal (1623–1662). Ersten Kontakt mit einer gemäßigt kritischen Lesart der Bibel erfuhr Wernle, als er zur Konfirmation Adolf Schlatters160 „Einleitung zur Bibel“161 erhielt. Dessen Erkenntnisse, dass es Widersprüche in der Bibel gebe und man die Verfasser der biblischen Bücher nicht kenne, irritierten den Konfirmanden und Schlatter war ihm „gram“.162 Ein anderer zeitgenössischer Theologe sollte Wernle schließlich in die orthodoxe Bibelkritik einführen, und zwar der reformierte Franke Johannes Heinrich August Ebrard (1818–1888), dessen 155 P. Wernle wurde von Fröhlich am 14. April 1889 in der St. Anna-Kapelle in Zürich konfirmiert. Die Konfirmationspredigt über Matthäus 8, 23–27 befindet sich im Nachlaß Paul Wernles: II.B.i. Zu Fröhlich siehe: Zürcher Pfarrerbuch, 284 f. 156 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft. In seiner „Autobiographie“ heißt es dazu: „Mein Ingrimm wandte sich vor allem gegen die Theologie der Reformer, eines Biedermann und besonders Heinrich Langs […] Die ganze Reformtheologie erschien mir als ein schwächlicher Kompromiß des Glaubens mit dem Unglauben, als eine charakterlose Halbheit, der gegenüber ein David Friedrich Strauß die ehrliche Konsequenz vertrat.“ (211) Auch in seinem Curriculum vitae (1. Heft) würdigte Wernle Strauß positiver als Heinrich Lang (1826–1876) und Alois Emanuel Biedermann (1819–1885); er nannte Lang „das Panier des Unglaubens und Muster der Lüge“. 157 Zürich 1874. Es handelt sich bei der Publikation um sieben Vorlesungen, die Stutz im Winter 1872/73 vor einem gemischten Publikum in Zürich gehalten hatte. Anlass der Vorträge war das Erscheinen von David Friedrich Straußens „Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis“, Leipzig 1872, 41873. Stutz wollte seinem Publikum vorführen, „daß nämlich der Neue Glaube gar nichts sei als ein versteckter Naturalismus, also kein Glaube mehr, sondern ein Abfall vom Glauben“ (III). Stutz war Sekundarlehrer und Dozent der Geologie am eidgenössischen Polytechnikum. 158 P. Wernle: Curriculum vitae, 1 Heft. 159 Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s, 2 Bde., Bielefeld/Leipzig 1884–1886. 160 Zur Person siehe unten S. 381. 161 Adolf Schlatter: Einleitung in die Bibel, Calw/Stuttgart 1889. 162 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft.

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wissenschaftliches Anliegen der Apologie der historischen Grundtatsachen und der „ewigen Grundwahrheiten des Christentums“ galt.163 Doch blieb Ebrard nur ein kurzfristiger Wegbegleiter, denn schon bald traten neue Herausforderungen in den Vordergrund und Wernle erklärte: „Sollte mein Leben eine andre Richtung nehmen, so waren zwei Dinge nötig: Die theologischen Studien mussten sich umgestalten, die Religion musste aus dem Gebiet des Verstandes heraustreten; die Theologie musste aufhören, das Leben einseitig zu beherrschen, es musste sich im Innern eine neue Welt auftun, die Empfindung musste zu ihrem Recht kommen.“164 Im Sommer 1889 erfolgte eine entscheidende geistige Weiterentwicklung Wernles. Veranlasst durch das liberale und stark psychologisierende „Leben Jesu“ von Bernhard Weiß (1827–1918)165, rückte er von Ebrard ab und öffnete sich freieren und kritischeren Ansichten. Wernle gab die bisher sorgsam gehütete orthodoxe Inspirationslehre auf, wandte sich der Hermeneutik Schlatters zu und rezipierte Weiß, dessen „christlich positiver Sinn“ seine „religiöse Empfindung“ beruhigte: durch ihn habe er gelernt, wissenschaftlich zu denken.166 Wernle bezeichnete sich als Schüler von Weiß und machte sich dessen Auffassung von der Entstehung der Evangelien zu eigen. Denn, so erklärte Wernle, „theologisch ist mir Weiss die einzige Autorität, christlich das Muster der eventuell möglichen Verbindung von Wissen und Glauben“. Als Kritiker galt er ihm als „fast unbeschreibbare Autorität“.167 Anfang der 1890er Jahre beschrieb Wernle seinen theologischen Standpunkt folgendermaßen: „Sowie ich nun aber an einzelnen Erzählungen Kritik üben sollte und doch sah, wie tief das Dogma der Inspiration in der Orthodoxie wurzle, fühlte ich mich unbehaglich, zumal da ich in ganz orthodoxer Umgebung verkehrte. Ich fand, dass ich, oberflächlich betrachtet, auf einem vermittelnden Standpunkt stehe, wenn ich auch in der Praxis zur Orthodoxie halte. So nannte ich mich denn positiv, aber ohne jede scharfe Trennung von der Orthodoxie. Will Orthodoxie nichts anderes sein als Christentum, heisst das orthodox: Unser Schlachtruf Christus, unser Banner Christus, unser Glaube durch und an Christus, unsre Liebe für Christus, unser Leben und Sterben Christus, unser Tun und Lassen, Wirken und Vollbringen Christus, unser Ein – und Alles Christus, dann freilich bin ich ein veritabler Orthodoxer, wie ich es vorher nie besser war.“168 Wernle beschäftige sich in der folgenden Zeit mit der Frage nach dem freien Willen, begann eine Untersuchung über die Wunder der Evangelien und wandte sich Isaak August Dorner (1809–1884) als seinem neuen dogmatischen 163 C. F. Karl Müller: J. H. A. Ebrard, in: RE3 5, 130–137, hier 137. 164 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft. 165 Bernhard Weiß: Das Leben Jesu, 2 Bde., Berlin 1882. Siehe dazu Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 91984, 239 f. 166 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft. 167 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft. 168 P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft; dort auch zum Folgenden.

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Führer zu. Nach mehrmonatiger Auseinandersetzung mit Weiß ging Wernle in die Schule zweier anderer Theologen: Alexandre Vinet und August Tholuck169 zogen zunehmend sein Interesse auf sich. Anhand von Vinet vertiefte sich Wernle in ekklesiologische Fragestellungen, denn ihn beeindruckte die Idee einer glise libre. Eine solche freie Kirche sehnte Wernle herbei, weil er als positiver Christ eine „tiefe Zerklüftung, die völlige Unhaltbarkeit der protestantischen Landeskirche“ proklamierte, doch schien ihm „der rechte Zeitpunkt zum Austritt noch nicht gekommen“ zu sein. Durch Vinet wurde ihm der Satz „la morale est inseperable du dogme“ zur unerschütterlichen Überzeugung. Tholuck und der schon genannte Stutz weckten schließlich auch noch Wernles Interesse für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Der Berliner Philosoph rage „weit über der Seichtheit des Gewöhnlichen“ hinaus und habe „der Speculation, wie dem Denken überhaupt die wahren Flügel angewiesen“, urteilte Wernle.170 Mit der Rezeption Hegels einhergehend lernte er aber auch die Hegelkritik von David Friedrich Strauß171 und Ludwig Feuerbach (1804–1872) kennen und nahm Eduard Zellers (1814–1908) Einwand auf, wonach die Gedanken nicht, wie Hegel geglaubt hatte, das Wesen aller Dinge seien.172 Weitere wichtige Stationen seiner geistigen Entwicklung waren die Auseinandersetzungen mit seinem Geschichtslehrer Otto Markwart (1861–1919), dem Schüler und Biographen Jacob Burckhardts, dessen Betonung der Ideen der Geschichte ihn zum Widerspruch reizte. Ferner trat die Auseinandersetzung mit dem Darwinismus und die Frage nach dem Verhältnis von christlicher und moderner Weltanschauung in den Blick. Theologisch arbeitete Wernle weiter am Problem des Schriftprinzips. Erstaunlicherweise las er nun auch mit Gewinn Heinrich Langs (1826–1876) „Stunden der Andacht“173, durch den ihm das freisinnige System erst recht verständlich geworden sei und durch den er für seine eigenen religiösen

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Zur Person siehe unten S. 383. P. Wernle: Curriculum vitae, 1. Heft. Zur Person siehe unten S. 382. Paul Wernle betonte im Mai 1895 in einem Brief an den Basler Historiker Paul Burckhardt seine Abneigung gegen den Hegelschen Begriff, nachdem er A. E. Biedermanns „Christliche Dogmatik“ gelesen hatte. Biedermann wirkte ambivalent auf ihn: „Das Werk hat mir erstaunlich imponiert durch exakte und doch grandiose Denkarbeit, die geschlossene Systematik, die Klarheit und Ehrlichkeit der Sprache. Wie hoch steht er über allem, was seitdem auf reformiertem Gebiet produziert wurde […] Aber anderseits: es ist mir fremd, und es ist auch vorbei. Es ist und bleibt doch Begriffsmythologie, aus Begriffen läßt sich keine Wirklichkeit herausklauben; hier liegt der Grundfehler der Hegel’schen Richtung“; in: Max Burckhardt: Studentenbriefe aus den 1890er Jahren. Aus der Korrespondenz des Theologen Paul Wernle mit dem Historiker Paul Burckhardt, in: Max Geiger (Hg.): Gottesreich und Menschenreich. Ernst Staehelin zum 80. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1969, 520 f., hier 521. 173 Heinrich Lang: Stunden der Andacht, 2 Bde., Winterthur 1862–1865.

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Anschauungen wichtige Anregungen erhalten habe.174 Aus seinen hermeneutischen Überlegungen folgerte Wernle, „es könne von der Schriftautorität nur noch in einem Spiel mit täuschenden Worten gesprochen werden, wir setzen uns über die Schrift, und unsre Vernunft greife nach Willkür heraus, was ihr gut und wissenschaftlich scheine. Was die Orthodoxie unter Schriftglaube verstehe, sei gar kein Glaube, sondern ein Wissen, und was für ein Wissen? ein schlechthin unbegründetes, schlechthin unnützes, nirgends verlangtes; unser Leben könne sich nicht danach einrichten, unser Herz finde nichts daran, unsre Mitmenschen haben nichts davon.“175 Wernle verließ damit zwar den Boden der Orthodoxie, wandte sich aber noch nicht der liberalen Theologie zu. Er verstand sich um 1890 vielmehr immer noch als positiver Theologe, der der Orthodoxie vorwarf, „nicht weniger eine Veräusserlichung des Christentums als die katholische“ zu sein, „diese nach der ceremoniellen, jene nach der biblischen Seite hin; beide seien wahr und falsch; das Christentum sei weder das eine noch das andere, denn es sei Leben“. Gegen Ende seiner Schulzeit beabsichtige Wernle, Abstand zur Theologie zu gewinnen, da er augenscheinlich in eine ernste theologische Krise geraten war, und er überlegte, die Theologie ganz aufzugeben. Davor bewahrte ihn aber seine Beschäftigung mit Schleiermacher, von dem er glaubte, er könne ihn bei der Theologie halten. Die Schulzeit schloss Wernle schließlich mit dem Wunsch ab, Theologie zu studieren, und zwar „auf dem positiven Boden der Vermittlungstheologie“: Er wollte – so sein unbescheidenes und enthusiastisches Ziel – weiter Theologie treiben und Gegensätze aufheben, um so das Christentum neu zu reformieren. 3.3. Studium Mit diesen zwar recht zufällig erworbenen und kaum wirklich verarbeiteten theologischen Vorkenntnissen immatrikulierte sich Wernle im Herbst 1891 auf Anraten Otto Markwarts an der Basler Universität, wo er noch Gelegenheit hatte, Vorlesungen bei Jacob Burckhardt zu hören. Unter den Basler Theologen war es vor allem der Alttestamentler Bernhard Duhm, der ihn ansprach und nicht etwa Hans Conrad von Orelli, der zu den führenden Kräften der schweizerischen positiv-biblischen Richtung zählte, und „für alle rechtsstehenden Theologen die Hauptanziehungskraft in Basel“ war.176 Durch Duhm lernte Wernle das Alte Testament neu zu lesen und empfing wichtige Anregungen für die Beschäftigung mit dem Neuen Testament, das zunächst sein 174 Neben die positive Würdigung Langs traten erwartungsgemäß kritische und polemische Bemerkungen: „,Geistreich‘, das war schliesslich der Gesamteindruck, ist das Buch nach wie vor, aber um die Gabe, geistreich zu sein, beneide ich Herrn Lang nicht: Offenheit wäre mir lieber“, P. Wernle: Curriculum vitae, 2. Heft. 175 P. Wernle: Curriculum vitae, 2. Heft. Hier auch die folgenden Zitate. 176 P. Wernle: Autobiographie, 213.

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Forschungsschwerpunkt werden sollte.177 Im fünften Semester wechselte Wernle nach Berlin, wo er neben anderen vor allem Heinrich von Treitschke (1834–1896) und Adolf von Harnack hörte, dessen Kolleg über „Einleitung in das Neue Testament“ ihn am meisten fesselte.178 Von Berlin ging Wernle 1894 nach Göttingen, wo er sich Johannes Weiß179, William Wrede (1859–1906) und Wilhelm Bousset anschloss, dessen Verbindung von Detailarbeit und großen Ideen er bewunderte. Ein Jahr blieb Wernle in Göttingen, bevor er in die Schweiz zurückkehrte, wo er im Frühjahr 1895 das theologische Konkordatsexamen mit hervorragendem Ergebnis ablegte.180 Darauf folgten die Vorbereitungen für das Lizentiat, womit auch eine berufliche Entscheidung getroffen wurde: Wernle strebte ein akademisches Lehramt an und nicht eine Pfarrstelle181. Als Lizentiatsarbeit legte er eine „Kontrastierung des eschatologischen Apostels mit dem Armensünderchristentum der Reformation bzw. der Sündenlehre nach Ritschl“ vor.182 Mit dem Optimismus der Gründerjahre beabsichtigte er, den Gegensatz zwischen Wissenschaft und Religion aufzuheben; aus diesem Grund habilitierte er sich 1897 mit der Schrift „Der Christ und die Sünde bei Paulus“.183 Bei Jacob Burckhardt fand er dafür kein Verständnis; der wollte ihn lieber als Landpfarrer sehen, denn das sei das Beste, was man tun könne.184 Wernle erstrebte aber eine andere theologische Existenz, denn sein wissenschaftlicher Anspruch lautete, Jesusglauben und historische Kritik zu vereinen. Dieses Interesse war während des Studiums in einer Gruppe von Studenten185 erwacht. Dieser studentische Zirkel glaubte, den angestammten und für unentbehrlich gehaltenen christlichen Glauben – wobei nicht ganz deutlich wird, wie dieser inhaltlich zu füllen sei – mit dem modernen Weltbild des 19. Jahrhunderts, das heißt mit seinem naturwissenschaftlichen Entwicklungsgedanken, der historischen Quellenkritik und der religionsgeschichtlichen Erforschung verbinden zu können. Wernle ver177 P. Wernle: Autobiographie, 213 f. 178 Wernle blieb mit Harnack bis kurz vor dessen Tod verbunden, wie die bis 1929 reichende Korrespondenz Harnacks zeigt. Wernle sandte seine Publikationen dem verehrten Lehrer zu und schrieb 1895 an Paul Burckhardt, „aber der eigentliche Riese ist doch Harnack, eine Stunde bei ihm ist das herrlichste Bad“; Burckhardt: Studentenbriefe, 518; zu Paul Burckhardt siehe unten S. 370. 179 Zur Person siehe unten S. 384. An den Basler Paul Burckhardt schrieb Wernle 1894: „Bei J. Weiss habe ich es nun besonders glücklich getroffen, da ich noch mit keinem Neutestamentler in so vielen Punkten zusammengetroffen bin“; Burckhardt: Studentenbriefe, 503. 180 Siehe Prüfungstabellen, StABS: Kirchenarchiv N 3 a. 181 Wernle wurde am 19. Mai 1896 vom Antistes Arnold von Salis (1847–1923) ordiniert; siehe den Ordinationsschein in seinem Nachlass. 182 Walther Köhler: Paul Wernle, in: NZZ 1939; Nr. 679 und 682. 183 Diese Untersuchung ist der größere Teil der Lizentiatenarbeit. Der Teil über Paulus ist stark überarbeitet worden; siehe dazu das Vorwort V–IX. 184 H. Wernle: Anamnesis, 26. 185 Der Gruppe gehörten an: Benedikt Hartmann (1873–1955, Pfarrer in Graubünden und von 1918–1926 Leiter der Evangelischen Lehranstalt in Schiers), Albert Barth (1874–1927, Schulrektor in Basel) und der spätere Schwager Rudolf Liechtenhan; so H. Wernle: Anamnesis, 16.

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suchte, diesen Anspruch in seiner Schrift „Die Anfänge unserer Religion“186 zu realisieren. 3.4. Berufung zum Professor in Basel Im Frühjahr 1897 nahm Wernle als Privatdozent für Neues Testament seine Lehrtätigkeit an der Universität Basel auf. Er befasste sich in den ersten Semestern sowohl mit den Synoptikern und der Apostelgeschichte als auch mit dem Johannesevangelium und mit den paulinischen Briefen.187 Der junge Dozent erfuhr guten Zuspruch von Seiten der Studenten und wachsenden Respekt der Kollegen. So schlugen Paul Wilhelm Schmidt188, Rudolf Stähelin und Adolf Bolliger in der ersten Hälfte des Jahres 1900 den oberen Behörden vor, Wernle eine finanzielle Gratifikation zu erteilen, da dieser ökonomisch ganz von der Mutter abhängig sei.189 Die genannten Professoren beschreiben Wernle als anregenden Dozenten, der bei den Studenten beliebt sei und zudem literarisch bedeutende Leistungen vorlege. Auch eine Beförderung des jungen Dozenten zum Extraordinarius empfahl Schmidt dem Regierungsrat mit der Begründung: Wernles „literarische Leistungen kommen für die Wissenschaft in Betracht (was von denen des Herrn Lic. Riggenbach190 keinesfalls zu sagen ist) und seine ersten Dozenten-Erfolge sind glänzend“. Das ausführlichste Schreiben über Wernle verfasste aber der liberale Systematiker Adolf Bolliger am 6. Mai 1900 zuhanden der Kuratel. Dieses Dokument gehört schon in die Phase der ersten Überlegungen zur Nachfolge Rudolf Stähelins, der am 13. März 1900 verstorben war. Ob Bolliger aus eigenem Antrieb handelte oder um eine Stellungnahme gebeten worden war, kann nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Wahrscheinlicher scheint indes die erste Möglichkeit.191 Bolliger betonte die Breite von Wernles Lehrveranstaltungen in den zurückliegenden sieben Semestern. Dabei falle auf, dass Wernle 186 Tübingen 1901. 187 Vgl. dazu die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Basel vom Sommersemester 1897Wintersemester 1900/1901. 188 Zur Person siehe unten S. 381. 189 Die Schreiben der drei Professoren finden sich in den Akten der Theologischen Fakultät, StABS: Erziehungsakten Y 6. Dazu auch das Folgende. 190 Eduard Riggenbach (1861–1927) war Lehrer an der Predigerschule in Basel und 1899 zum Extraordinarius für Neues Testament in Basel berufen worden. Er vertrat ein positives Christentum. Deshalb protegierte der liberale Schmidt seinen Gesinnungsgenossen Wernle. Zur Person Riggenbachs siehe Christoph Ramstein: Der Basler Neutestamentler Eduard Riggenbach-Thurneysen (1861–1927), in: Hans Dürr und Christoph Ramstein (Hgg.): Basileia – Festschrift für Eduard Buess, Basel/Lörrach 1993, 315–338. 191 P. Wernle berichtet in seiner „Autobiographie“ (231), Bolliger habe die Beförderung Wernles gewünscht „und sich zu ihrer Empfehlung ohne mein Wissen die Korrekturbogen meiner ,Anfänge‘ direkt von Tübingen kommen“ lassen. Wernle publizierte fast alle seine Monographien im Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

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oft mehr Studenten in seinen Veranstaltungen versammeln könne als manche Ordinarien. Das liege an seiner überdurchschnittlichen Begabung und an seinem großen Fleiß. Diesen sehr positiven Urteilen ließ Bolliger einige kritische Bemerkungen folgen. Wernle könne trotz seiner bemerkenswerten Leistungen wohl nicht als wissenschaftlicher Mann „ersten Ranges“ bezeichnet werden, der neue Wege zu zeigen vermöge, denn den herrschenden Lehrmeinungen gegenüber sei er zu rezeptiv, zu wenig kritisch.192 Oft suggeriere er seinen Hörern etwas, was er eigentlich in aller Ruhe beweisen sollte. Nach diesen kritischen Erwägungen aber präsentiert Bolliger Wernle als möglichen Nachfolger Stähelins und zählt die Bedürfnisse der Fakultät auf: Man benötige einen „Mann mit dem Charisma des Historikers […] mit feinem Sensorium für die treibenden Kräfte der Geschichte“. Wernle sei ein solcher Kandidat, ein Mann mit ausgezeichneten historischen Kenntnissen, der auch schon als Historiker gearbeitet habe. Ihm sei es durchaus zuzutrauen, daß er den gesamten Stoff der Kirchengeschichte bewältigen könne. Ferner besitze er Lehrgabe und sei dem Christentum mit „Liebe zugetan“. Für ihn spreche auch, daß er in einem anderen Fach mitarbeiten könne, da die Fakultät zwei „reine Kirchengeschichtler“ nicht vertrage. Problematisch sei allein, dass Wernle noch nicht über das 16.–19. Jahrhundert gelesen habe. Doch relativiert Bolliger diesen Einwand mit der Bemerkung, Wernle habe immerhin schon reformationsgeschichtliche und neuzeitliche Quellen studiert. Abschließend verweist Bolliger auf Wernles Herkunft aus einer „positiv-pietistischen“ Familie und präsentiert ihn als idealen Vermittler zwischen den theologischen Lagern. Wernle sei trotz wissenschaftlicher Theologie ein Vertrauensmann der Positiven geblieben. Aber auch Freisinnige würden bei mancher Kritik im Detail Wernles wissenschaftlichen Ansatz anerkennen. Bolliger schließt sein Schreiben mit den pathetischen Worten, Wernle sei ein „Stück Verheißung dafür, dass der Abgrund in unserer Kirche sich füllen wird“. Als die Diskussionen über die Nachfolge Stähelins in den unterschiedlichen universitären und politischen Gremien einsetzten, wurden anstelle Wernles erst einmal ganz andere Namen gehandelt. Als Kandidaten waren Emil Egli (1848–1908)193 aus Zürich, Fritz Barth194 aus Bern und Johannes Ficker (1861–1944)195 aus Straßburg im Gespräch. Man beschloss, über alle drei Erkundigungen einzuholen. Bei den weiteren Verhandlungen schied Egli auf Grund seines Alters aus. Schließlich liefen die Empfehlungen auf Ficker hinaus 192 Möglicherweise spielt Bolliger mit dieser Kritik auf Wernles Buch „Die synoptische Frage“, Freiburg im Breisgau/Leipzig/Tübingen 1899, an, wo Wernle selber im Vorwort erklärt, „vorliegende Untersuchung will nichts Neues oder Überraschendes zur Lösung der synoptischen Frage bringen, sondern die vielen vorhandenen Hypothesen sichten durch Betonung der Hauptsachen und Bevorzugung des Einfachen vor dem Künstlichen und Komplizierten“ (V). 193 Zur Person siehe das Zürcher Pfarrerbuch, 251. 194 Zur Person siehe, E. Busch: Lebenslauf, 21 f. und unten S. 369. 195 Zur Person siehe Ernst Wolf: Johannes Ficker, in: RGG3 2, 935; siehe ferner zu den drei genannten Kandidaten die Artikel von Friedrich W. Bautz in: BBKL 1, 384; 1468 f.; BBKL 2, 29 f.

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und die Kuratel der Universität beschloß am 3. Mai 1900, Ficker das Ordinariat für Kirchengeschichte anzutragen und ihn, falls er dem Ruf Folge leisten wolle, den oberen Behörden vorzuschlagen.196 Es kam jedoch nicht zu einer Berufung Fickers, der gerade erst zum ordentlichen Professor befördert worden war. Regierungsrat Dr. Heinrich David (1856–1935) berichtete schließlich als Vorsteher des Erziehungsdepartements vor der Kuratel am 24. November: „Eine hervorragende, für uns erreichbare Kraft ist zur Zeit in Deutschland nicht vorhanden. Wir sind auf die Candidaten Barth, Bernoulli197, Vischer198 und Wernle angewiesen. Eine Verteilung der Professur wäre keine auf die Dauer befriedigende Lösung.“199 In der sich anschließenden Diskussion einigte man sich darauf, Paul Wernle anzufragen, da dieser als hervorragende Kraft galt und man ihm zutraute, er könne sich rasch in das Gebiet der Kirchengeschichte einarbeiten. Nachdem sich Wernle zu diesem Vorschlag positiv geäußert hatte, schlug das Erziehungsdepartement des Kantons BaselStadt dem Regierungsrat am 30. November 1900 vor, man möge Wernle mit der Vertretung des Lehrstuhls von Rudolf Stähelin betrauen. In der Begründung des Antrags wurden die Erfolge Wernles und dessen Bedeutung für die Fakultät betont. Er verfüge über die Gabe „kurz, klar und anregend darzustellen“. Man wisse zwar, so die Behörde, daß der Kandidat bisher nicht als Kirchengeschichtler aufgetreten sei, doch schlage man ihn vor, „weil begründete Hoffnung vorhanden ist, daß er sich auch auf diesem Gebiet in kurzer Zeit heimisch fühlen werde, um so eher als ihm die alte Kirchengeschichte auf Grund seiner bisherigen Vorlesungen nichts Fremdes ist“. Das Schreiben des Erziehungsdepartements schließt mit dem Antrag, Wernle zum außerordentlichen Professor der Theologischen Fakultät mit Lehrauftrag für neuere Kirchengeschichte, Dogmengeschichte, Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs und Geschichte der protestantischen Theologie zu ernennen. Als Jahresbesoldung werden 3500 Franken genannt.200 Am 1. Dezember 1900 berief der Regierungsrat Wernle zum Extraordinarius. Die Theologische Fakultät aber war in diesem ganzen Entscheidungsprozess nicht berücksichtigt worden. Als die Fakultät von der Berufung Kenntnis nahm, wurde auf den 7. Dezember 1900 eine Fakultätssitzung einberufen, an der die Professoren Bolliger, Franz Overbeck201 und Privatdozent Wernle nicht teilnahmen. Letzterer war nämlich nicht von Dekan Wilhelm Bornemann (1858–1946)202 eingeladen worden. Als einziger Tagesordnungspunkt stand

196 Siehe Kuratel der Universität und Pädagogium 1878–1902, StABS: Protokolle T 2/4. 197 Carl Albrecht Bernoulli (1868–1937) war ein Schüler Franz Overbecks; 1895–1899 unterrichtete er als Privatdozent Kirchengeschichte. 198 Zu Vischer siehe oben Anmerkung 5. 199 Siehe Kuratel der Universität und Pädagogium 1878–1902, StABS: Protokolle T 2/4. 200 Einzelne Dozenten, StABS: Erziehungsakten Y 16. 201 Zur Person siehe unten S. 379. 202 Bornemann war seit 1898 ordentlicher Professor für Kirchengeschichte und Praktische

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eine „Stellungnahme zu der kürzlich erfolgten Besetzung des Stähelinschen Lehrstuhls (nämlich durch den Herrn Prof. Lic. theol. P. Wernle); eventuell Antrag“ zur Diskussion.203 Bevor man auf dieses Geschäft einging, wurde eine Erklärung Bolligers bekannt gemacht: Er sei der Sitzung ferngeblieben, da er – so seine Begründung – durch seinen Amtseid daran gehindert werde, eine Stellungnahme über die Besetzung abzugeben. Anscheinend wollte er einer absehbaren Personaldebatte aus dem Weg gehen, zumal er sich schon entschieden für Wernle ausgesprochen hatte und nun auch keine Möglichkeit sah, für einen Stimmungsumschwung in der Fakultät zu sorgen. Die anwesenden Kollegen Paul Wilhelm Schmidt und Paul Böhringer204 standen einer Berufung Wernles positiv gegenüber und kritisierten, dass Wernle nicht eingeladen worden sei. Deshalb würden sie sich bei allfälligen Abstimmungen der Stimme enthalten. Bornemann legte als Diskussionsgrundlage drei Anmerkungen vor, in denen er erstens bedauerte, dass es der Kuratel nicht gelungen sei, einen kirchenhistorischen Fachmann zu gewinnen. Zweitens bat er darum, bei der endgültigen Besetzung des kirchengeschichtlichen Lehrstuhls die eingeschlagene Richtung nicht weiter zu verfolgen. Abschließend ersuchte er die oberen Behörden, in Zukunft keine Berufungen ohne Gutachten der ordentlichen theologischen Professoren auszusprechen. Nach eingehender Diskussion einigte man sich darauf, die dritte Resolution als aussichtslos zu verwerfen. Bernhard Duhm formulierte daraufhin eine neue dreigliedrige Erklärung: Erstens moniert die Theologische Fakultät, dass sie vor der wissenschaftlichen Welt ein Vorlesungsverzeichnis zu vertreten habe, in dem die kirchen- und dogmengeschichtlichen Lehrveranstaltungen von einem „nicht fachmännisch vorbereiteten und nicht hinreichend durchgebildeten Dozenten angezeigt werden“. Zweitens bittet man darum, den Lehrauftrag für Wernle gemäß seinen Vorkenntnissen zu ändern und drittens ersucht die Fakultät die Kuratel um geeignete Aushilfen für die von Stähelin vertretenen und nun verwaisten Lehrfächer. Der Dekan wird beauftragt, der Kuratel solche Dozenten zu nennen.205 Dieses Schreiben der Theologischen Fakultät lag der Kuratel gut zwei Wochen später in der Sitzung vom 23. Januar 1901 vor und löste Verstimmung in der Universitätsbehörde aus: „Da sowohl das Verfahren der theol. Fakultät in dieser Angelegenheit als der Ton ihres Schreibens als unzulässig erachtet werden müssen, wird um jede weitere Diskussion abzuschneiden beschlossen Theologie in Basel. 1902 wurde er Pfarrer und 1922 Professor für Praktische Theologie in Frankfurt am Main. 203 Protokolle der Sitzungen der theologischen Fakultät 1744–1923, StABS: Universitätsarchiv O 2 a. 204 Paul Böhringer (1852–1929) lehrte in Basel als Privatdozent, wurde 1896 außerordentlicher und 1904 ordentlicher Professor; seine Schwerpunkte waren ältere Kirchengeschichte und Symbolik; Zürcher Pfarrerbuch, 206. 205 Protokolle der Sitzungen der theologischen Fakultät 1744–1923, StABS: Universitätsarchiv O 2 a.

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[…], 1. daß die Ernennung des Herrn Wernle zum Vertreter der Disziplinen der Kirchengeschichte in gesetzesgemäßer Weise durch die competente Behörde, die die Verantwortung dafür tragen wird, vorgenommen worden ist. 2. daß der Ton des Schreibens der Fakultät der Curatel verbietet, auf den Inhalt derselben einzugehen.“206 Die Auseinandersetzung fand am 4. Februar 1901 durch die Vereidigung Wernles ihr Ende. In den folgenden Jahren sollte es Wernle durch seinen Arbeitseifer rasch gelingen, seine Kritiker zu überzeugen: Er arbeitete sich in kürzester Frist in seine neuen Lehrfächer ein und wurde zu einem überaus produktiven kirchenhistorischen Autor.207 Die ablehnende Haltung der Fakultät Wernle gegenüber hatte ja auch nicht seiner Person gegolten, sondern gründete auf der Tatsache, dass ein fachfremder Kollege die historischen Disziplinen übernehmen sollte, von dem man nicht wusste, ob und wie er dem Lehrauftrag nachzukommen im Stande sein würde. Zum anderen muss das Verhalten der Fakultät auch als trotzige Reaktion auf die Missachtung durch die politischen Behörden interpretiert werden: Man fühlte sich übergangen und in der wissenschaftlichen Ehre gekränkt. Schließlich sollte auch das Ringen um universitäts- und kirchenpolitische Machtverhältnisse bei der Beurteilung dieser umstrittenen Berufung in Betracht gezogen werden. Fünf Jahre nach der Berufung wurde Wernle wegen seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen in Lehre und Forschung zum ordentlichen Professor befördert208 und lehrte in dieser Position bis zum Ende des Wintersemesters 1926/27 in Basel Kirchengeschichte. Als die Folgen seiner fortschreitenden Krankheit seine Kommunikation mit den Studenten und der Außenwelt schließlich gänzlich behinderten, musste er sich frühzeitig pensionieren lassen.209 Am 11. Januar 1927 wurde sein Nachfolger Ernst Staehelin berufen. Am 12. April 1939 verstarb Paul Wernle in Basel. 3.5. Mensch, Leben, Wissenschaft Ein Blick in das Schriftenverzeichnis Wernles zeigt, mit welch rastloser Intensität er seit seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 1897 publiziert hat. Einige seiner Werke erlebten weite Verbreitung: so etwa sein Jesus-Buch210, das 1917 auch als Feldausgabe für die deutschen Soldaten erschien. Ein weiteres überaus einflussreiches Buch war die „Einführung in das theologische Studium“, das in drei Auflagen erschien und zahlreichen Studierenden zum 206 Kuratel der Universität und Pädagogium 1878–1902, StABS: Protokolle T 2/4. 207 Siehe dazu das Schriftenverzeichnis Wernles von Philipp Schmidt (oben Anmerkung 122). 208 Siehe das Schreiben des Erziehungsdepartements an den Regierungsrat vom 24. Februar 1905, in: Einzelne Dozenten, StABS: Erziehungsakten Y 16. Am 25. Februar 1905 wurde die Beförderung beschlossen. 209 Siehe dazu Paul Wernle, StABS: Universitätsarchiv VIII 5, 3. 210 Paul Wernle: Jesus, Tübingen 1916, 21916.

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Einstieg ins Theologiestudium verhalf.211 Doch Standardwerke bis auf den heutigen Tag und schier unerschöpfliche Fundgruben sind die Werke zur schweizerischen Kirchengeschichte im 18. Jahrhundert und zur Zeit der Helvetik. Auch diese Monographien harren noch – wie Wernles reformationsgeschichtliche Arbeiten – wissenschaftsgeschichtlichen Analysen. Diese beeindruckende wissenschaftliche Leistung ist indes nur eine Seite des Menschen Paul Wernle. Seine andere Seite ist hingegen gekennzeichnet durch Krankheit, Einsamkeit, psychische Instabilitäten, Ängste und Verlusterfahrungen212. Wie schon erwähnt, erlebte Wernle in seiner Kinder- und Jugendzeit einen starken väterlichen Erwartungsdruck und eine ganz auf ihn fixierte Mutter. Das Mutter-Sohn-Verhältnis vertiefte sich, als der Vater starb und die Mutter all ihre Zuwendung ihrem Sohn Paul schenkte. Der Sohn reagierte darauf, indem er sich schon früh in wissenschaftliche Studien vergrub, um so den vom Vater übernommenen mütterlichen Erwartungen und Hoffnungen zu entsprechen. Infolgedessen fand er unter seinen gleichaltrigen Klassenkameraden keinen Anschluss. Möglicherweise ist von daher auch zu erklären, dass seine späteren Freunde ihn als menschlich schwierige Persönlichkeit erlebten. Sein Freund Paul Häberlin etwa attestierte Wernle, einem großen und stattlichen Mann, „unbestreitbar infantile Züge“.213 Ein anderer Freund Wernles erklärte, als Mensch sei Wernle nicht viel wert gewesen.214 Darum ist es um so erstaunlicher, dass Wernle dennoch zahlreiche Schüler um sich scharen konnte. Er vermittelte eine theologische Führungskraft, die über menschliche Schwächen hinwegsehen ließ. Den Familienmitgliedern aber war das nicht möglich. Sie erlebten den Vater und Ehemann nicht nur als unablässig arbeitenden Wissenschaftler, sondern mussten auch mit seiner problematischen Persönlichkeit leben: So konnte Wernle „vernichtend schimpfen, grob heftig ohne Ende.“215 Seine erste Frau reagierte darauf mit Ängstlichkeit und Unsicherheit, sie „verlor den Kopf, sah nicht weiter und brach dann in Jähzorn aus, äusserst heftig“.216 Sie resignierte vor dem Infantilismus des Ehemannes. Zwischen den Eheleuten entwickelte sich trotz der offensichtlichen schwierigen ehelichen Verhältnisse eine in den Augen des Sohnes zunehmend „übertriebene, kindliche, kindelige Zärtlichkeitssprache“.217 Ein weiteres Problem bildeten in der Familie Wernle die Essgewohnheiten des Vaters: Wernle identifizierte anscheinend auf Grund unverarbeiteter Erlebnisse aus seiner Jugendzeit gewisse Speisen mit dem „Moralisch-bösen“. Darum durften keine Salate und manche Gemüse, die Paul 211 Gert Hummel: Enzyklopädie, theologische, in: TRE 9, 716–742, nennt Wernles „Einführung“ das einzige Werk von Rang im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (737). 212 Im Jahr 1922 verstarb seine Frau Marie, 1924 heiratete Paul Wernle Anna Maria Nussberger. 213 So H. Wernle: Vorzeit, 14. 214 H. Wernle: Anamnesis, 23. 215 H. Wernle: Aufzeichnungen, 20. 216 H. Wernle: Aufzeichnungen, 20. 217 H. Wernle: Anamnesis, 29.

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Wernle in seiner Kindheit unter Prügel aufgezwungen worden waren, serviert werden. Doch noch größeren Widerwillen erregten Käse und Speck: „Es war ein totaler Kampf gegen das Feindselig-unzumutbare, nicht eine [gestrichen: individuelle] Schwäche, die er hätte eingestehen können. Darum durfte man auch nicht, wie es für uns andere schmackhafter gewesen wäre, die Speisen von Anfang an mit Käse zubereiten und ihm ein Sonderplättchen vorlegen. Es hätte ja ausgesehen, als ob man für ihn besondere Umstände machen müsse. Das hätte seine Bescheidenheit verletzt. Wir mussten die Ausnahme bilden!“218 Diese erheblichen psychischen Schwierigkeiten gingen mit der oben beschriebenen Unruhe und Besessenheit einher: „Er war gejagt von einem Etwas, dem er auswich, vor dem er floh.“219 Aus diesem Zustand konnte sich Wernle nur befreien, wenn er die Ferien in den Bündner Bergen verbrachte, und dort den Ersatz für ein nie gelebtes Leben suchte.220 Doch waren es nicht nur die Alpen, die seinen Gemütszustand erhellten. In einer besonderen Beziehung stand Wernle zu Mina Stünzi (1866–1954), einer Kindergärtnerin, Kinderbuchautorin und späteren Kindergarteninspektorin aus Horgen, die er immer, wenn er in Zürich war, besuchte. Die beiden verband eine schwärmerische Naturliebe und Goetheverehrung, die Paul Wernle zunehmend in eine existentielle Krise geraten ließ. Er erkannte nämlich, daß die Theologie ihm keinen Halt mehr bieten könne. Ausdruck dieser Verzweiflung ist der Ausruf: „Dräck! ’s gitt kai Theologie meh!“221 Paul Wernle hat, aus einem pietistischen Elternhaus kommend, versucht, seine familiären religiösen Wurzeln abzuschneiden, indem er sich einer gemäßigt liberalen Theologie zuwandte. Anscheinend fand er dort keine geistliche Heimat und entwickelte sich zusehends vom Theologen zum Historiker. Hatte Wernle noch als Student die Meinung vertreten, das Christentum entfalte sich stufenweise und strebe nach Vollendung – in dieser Sicht erschien die Aufklärung nicht als Endphase des Christentums, sondern als Erweiterung und Vertiefung, oder Friedrich Nietzsche (1844–1900) als heilsame Züchtigung und Ansporn des Christentums –, so zerbricht spätestens nach Ende des Ersten Weltkrieges dieses optimistische Geschichtsbild.222 Wernle zog sich ins Historische zurück und sammelte unermüdlich Quellen für die Darstellung des schweizerischen Pietismus. Seine Frau schrieb ihm daraufhin im Jahr 1920, er solle „,nicht ganz in dieser heimeligen Gesellschaft aufgehen‘ (den pietistischen ,alten Leutli, Häuflein, Seelen etc.‘, den frommen Konventikeln), sondern müsse ,halt in einer andern Welt stehen, wo Overbecken, Barthe etc. 218 H. Wernle: Anamnesis, 8, berichtet, dass der Vater als Jugendlicher manches Mal in „sexueller Not“ im Übermaß gegessen habe. 219 H. Wernle: Anamnesis, 3. 220 H. Wernle: Anamnesis, 15. 221 H. Wernle: Anamnesis, 15. 222 H. Wernle beschreibt seinen Vater vor dem Ersten Weltkrieg als noch „bürgerlich pietistisch“; Anamnesis: 19. Die Niederlage Deutschlands und der Untergang des Kaiserreiches lasteten schwer auf Wernle.

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herumkriechen‘, das heisst, sich mit den Aegernissen der Gegenwart auseinandersetzen!“223 Die autobiographischen Notizen von Hans Wernle lassen erkennen, dass es zwischen Vater und Sohn trotz der genannten Schwierigkeiten zu regelmäßigem gedanklichem Austausch gekommen ist. Insofern bieten seine Aufzeichnungen wertvolle, wenn auch nicht unkritisch zu lesende Hinweise auf die Entwicklung Paul Wernles. So erscheint der Basler Kirchenhistoriker im Urteil seines Sohnes als „Wunschtheologe“, als „profaner Historiker mit religionsgeschichtlichen und theologischen Gegenständen“.224 Diese historische Schwerpunktsetzung zeigte sich schließlich auch in seinen bis heute unersetzten historischen Darstellungen. Als sein „Lebenswerk“225 gilt neben „Der Schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert“ (3 Bände 1923–1925) seine Darstellung „Der Schweizerische Protestantismus in der Zeit der Helvetik 1798 bis 1803“ (2 Bände, 1938–1942), dessen ersten, Weihnachten 1938 erschienenen Band Wernle noch vor seinem gut drei Monate später erfolgten Tod in Empfang nehmen konnte. Seine Pläne, eine Geschichte des schweizerischen Protestantismus im 19. Jahrhundert zu schreiben, konnte er nicht mehr realisieren. Auf seine Forschungen zum 18. Jahrhundert rückblickend erklärte Wernle: „Meine Arbeit an der Geschichte des 18. Jahrhunderts war ganz wesentlich durch Ernst Troeltsch bestimmt, der in der Aufklärungsbewegung den Beginn der Neuzeit und die größte Krise in der Geschichte des Christentums erblicken wollte.“226 Er konnte sogar so weit gehen, sich in diesem Zusammenhang als „Troeltschschüler“ zu bezeichnen, der mit der Aufklärung im „allgemeinen Geistesleben“ einsetzte und „erst nachträglich die Folgerungen für Theologie und Kirche“ zog.227 Neben seinen historischen Veröffentlichungen konnten seine Vorlesungen zu Themen der Geschichte des Christentums die Studierenden durchaus begeistern, wie zahlreiche studentische Voten belegen.228 Diesen Eindruck bestätigt auch Hans Wernle, wenn er schreibt: „Mein Vater war eine Führernatur, übte eine grosse Anziehung auf Mitstudierende aus, vertrat in seinen guten Tagen ein im Glauben fröhliches, freies, aus alter Skrupulosität und religiösen Ängsten befreiendes, mitreissendes Christentum.“229 In der 1967 erschienenen „Geschichte der kirchlichen Historiographie“ würdigt der ehemalige Kieler Kirchenhistoriker Peter 223 224 225 226 227

Zitiert bei H. Wernle: Anamnesis, 19. H. Wernle: Anamnesis, 24 f. Wernle: Autobiographie, 244. Wernle: Autobiographie, 241. Wernle: Autobiographie, 245. Wernle verfasste auch einen Nachruf auf Troeltsch, in: KBRS 38 (1923), 37–39; 41 f. 228 Beispielsweise beschreibt Thurneysen Wernles Vorlesung über Dogmengeschichte als „genussreich“; so im Brief an Max Gerber vom 8. Februar 1911 (Nachlass Thurneysen); oder Franz Zimmerlin an Thurneysen, 24. Mai 1910, der Wernles Vorlesungen als die „schönsten“ bezeichnet. 229 H. Wernle: Aufzeichnungen, 20.

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Meinhold (1907–1981) den Schweizer Kirchenhistoriker Wernle als einen Fachvertreter, der die unbedingte „Herrschaft der historischen Methode in der Theologie“ forderte.230 Wernle habe das Christentum als rein historisches Phänomen gedeutet: „Die einzige Voraussetzung, die der Historiker zur adäquaten Erfassung derselben mitzubringen hat, ist sein eigenes religiöses Leben.“231 Von diesen Voraussetzungen her erkläre sich Wernles Versuch, Kirchengeschichte als eine Geschichte der Frömmigkeit zu schreiben, wie er es in der geschichtlichen Darstellung des schweizerischen Pietismus232 versucht habe. Doch, so konstatiert Meinhold, die Prävalenz des Historischen zeige eben auch „durch die Ignorierung der theologischen und geschichtsmächtigen institutionellen Momente“ Grenzen auf.233

4. Eduard Thurneysen Anders als Paul Wernle findet Ernst Eduard Thurneysen in der neueren Forschung – vornehmlich in der Praktischen Theologie – breitere Aufmerksamkeit. Allerdings fehlt auch für Thurneysen eine heutigen historiographischen Ansprüchen genügende, auch den handschriftlichen Nachlass berücksichtigende biographische Darstellung.234 Im Zentrum der neueren Forschungen stehen Auseinandersetzungen mit seiner Seelsorgelehre.235 Thurneysens erster 1928 veröffentlichter programmatischer Aufsatz „Rechtfertigung und Seelsorge“236 erschien zwar im Zeitraum des Briefwechsels mit 230 Peter Meinhold: Geschichte der kirchlichen Historiographie, Bd. 2, Freiburg im Breisgau/ München 1967, 362–365, hier 362. 231 Meinhold: Geschichte, 362. 232 Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1923–1925. 233 Meinhold: Geschichte, 363. 234 Wichtige Informationen liefert Rudolf Bohren: Prophetie und Seelsorge. Eduard Thurneysen, Neukirchen-Vluyn 1982, ohne eine kritische Biographie bieten zu wollen. Die Darstellung von Sönke Lorberg-Fehring: Thurneysen – neu gesehen. Biografie und Theologie des großen Seelsorgers bis 1927, Marburg 2006, verzichtet trotz ihres Untertitels auf die Einsicht in den Nachlass Thurneysens und ist eher von theologiegeschichtlichem Interesse. Siehe ferner Klaus Raschzok: Thurneysen, Eduard (1888–1974), in: TRE 33, 524–527. Den jüngsten lexikalischen Beitrag (2013) bietet Thomas K. Kuhn: Thurneysen, Eduard (1888–1974), in: HLS 12 (2013), 383f. Siehe ferner Max Schoch: Eduard Thurneysen (1888–1974). Theologie der Seelsorge, in: Stephan Leimgruber/Max Schoch (Hgg.), Gegen die Gottvergessenheit. Schweizer Theologen im 19. und 20. Jahrhundert, Basel/Freiburg im Breisgau/Wien 1990, 331–343. 235 Exemplarisch sei genannt: Dietrich Stollberg: Freiwillige Unfreiheit? Thurneysen, die Seelsorgebewegung und manche Vorurteile, in: WzM 60 (2008), 74–83, Isolde Karle: Seelsorge im Horizont der Hoffnung. Eduard Thurneysens Seelsorgelehre in systemtheoretischer Perspektive, in: EvTh 63 (2003), 165–181, sowie Albrecht Grözinger: Eduard Thurneysen, in: Christian Möller (Hg.): Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 3: Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner, Göttingen/Zürich, 1996, 277–294; dort auch weitere Literatur. 236 Eduard Thurneysen: Rechtfertigung und Seelsorge, in: ZZ 6 (1928), 197–218; siehe dazu

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Wernle, spielt dort jedoch keine Rolle. In diesem Beitrag entwickelte er seine poimenische Konzeption, wonach es auch in der Seelsorge nur um Verkündigung gehen könne und Seelsorge ein „Spezialfall der Predigt“ sei. Diesen aus der Dialektischen Theologie gewonnenen Ansatz führte er siebzehn Jahre später in seiner „Lehre von der Seelsorge“237 aus. Im Folgenden soll es aber nicht um diese gleichermaßen einflussreiche wie umstrittene Seelsorgelehre gehen, sondern vielmehr eine bis in die 1930er Jahre reichende biographische Skizze gegeben werden, deren Schwerpunkt in den ersten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts liegt. 4.1. Herkunft und Studium Eduard Thurneysen stammt aus einem Pfarrhaus. Anders als beispielsweise sein Lehrer Wernle ist er ein Beispiel für eine im Protestantismus weit verbreitete Tradition, wonach die Söhne ebenso wie ihre Väter die Laufbahn eines Pfarrers einschlugen. Der Vater, dessen Vorname auf den Sohn überging, war Sohn eines Basler Drechslermeisters und zählt zu jenen Theologen, die aus dem Handwerk kommend durch ihr Studium einen bescheidenen sozialen Aufstieg erlebt hatten. Er heiratete die aus einer Lörracher Kaufmannsfamilie stammende Elise Blüss (1865–1891)238, die schon zweieinhalb Jahre nach Thurneysens Geburt verstarb. Daraufhin verehelichte sich der Vater mit Emilie Hindermann (1860–1934). Diese Ehe verlief allerdings wenig glücklich. Die Stiefmutter, die an Depressionen litt, hatte vor ihrer Hochzeit mehrere Monate in Bad Boll bei Christoph Blumhardt239 gelebt. Bei einem späteren Besuch in Bad Boll, das für die Entwicklungen der Theologie in der Schweiz des frühen 20. Jahrhunderts nicht zu unterschätzen ist, begleitete sie der 16jährige Stiefsohn. Als Thurneysen am 10. Juli 1888 als Zweiter von Zwillingen geboren wurde – der Bruder verstarb nach drei Monaten –, war der Vater, der zuvor in Basel und Tübingen studiert und danach seit 1884 die Pfarrstelle im basellandschaftlichen Kilchberg-Rünenberg-Zeglingen versehen hatte, seit drei Jahren Pfarrer in Walenstadt im Kanton St. Gallen. Von dort wechselte er 1892 auf die wenig angesehene Stelle eines Hilfspfarrers am Bürgerspital in Basel, wo er fünf Jahre später zum Pfarrer befördert wurde und bis sieben Jahre vor seinem Tod im Jahr 1931 wirken sollte. In Basel besuchte Thurneysen, der noch mehrere Geschwister hatte, zuMartina Plieth: Die Seele wahrnehmen. Zur Geistesgeschichte des Verhältnisses von Seelsorge und Psychologie, Göttingen 1994, 58–65; Lorberg-Fehring: Thurneysen – neu gesehen, 211–275. 237 Eduard Thurneysen: Die Lehre von der Seelsorge, München 1948. 238 Siehe zur Person: Zur Erinnerung an Frau Elisabeth Thurneysen geb. Blüss, geboren den 24. Oktober 1865 in Lörrach, gestorben den 23. März 1891 in Walenstadt, Lörrach 1891. 239 Zur Person siehe unten S. 369.

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nächst im Arbeiterquartier St. Johann die Primarschule, bevor er auf das humanistische Gymnasium wechselte. Seinen Konfirmandenunterricht erlebte er zunächst an St. Peter bei August Linder (1834–1908) und nach dessen Rücktritt bei Jakob Probst (1848–1910). In die Jahre nach der Konfirmation fiel der schon erwähnte Besuch in Bad Boll, der bleibenden Eindruck bei Thurneysen hinterließ.240 Bis kurz vor seine Maturität war er sich nicht schlüssig, welches Studium er aufnehmen sollte, entschied sich dann aber gegen Philosophie und Literatur und für die Theologie. Wie viele seiner Kommilitonen war er Mitglied in der „Zofingia“, einer seinerzeit führenden Studentenverbindung, die sich seit 1900 auch mit sozialen Fragen beschäftigte.241 Die Freundschaften, die hier im Zofingerverein entstanden, begleiteten Thurneysen auch in seiner späteren Tätigkeit als Pfarrer. Als er im Sommersemester 1907 das Theologiestudium in Basel aufnahm, war Paul Wernle die herausragende Gestalt der Fakultät. In seinen ersten vier Semestern setzte Thurneysen einen historischen Schwerpunkt in seinem Studium und kam schon bald in engeren Kontakt mit Wernle, denn die kirchengeschichtlichen Lehrveranstaltungen sprachen ihn wie die alttestamentlichen von Bernhard Duhm am meisten an. Schon bald erwuchs Thurneysen nach eigenen Angaben „in steigendem Masse Lust am theologischen Studium überhaupt und ein tieferes, lebendiges Interesse für die Bewegungen und Fragen des religiösen Lebens, wie sie mir in den kirchengeschichtlichen Vorlesungen in ihrem historischen Werden und Wachsen entgegentraten.“242 Nach der Zwischenprüfung, dem so genannten Propädeutikum, wechselte er zum Sommersemester 1909 nach Marburg, wo er einen systematisch-theologischen Schwerpunkt setzte und vor allem bei Wilhelm Herrmann studierte. Zudem beschäftigte er sich mit den Marburger Neukantianern Hermann Cohen und Paul Natorp243. In der alten hessischen Universitätsstadt, in der zahlreiche Schweizer Theologie studierten, fühlte er sich rasch wohl und hob die „geistige Atmosphäre“ hervor, die eine ganz andere als in Basel sei.244 Angetan war er auch von der religionsgeschichtlichen Schule wie er sie literarisch bei Ernst Troeltsch und Georg Wobbermin (1869–1943) kennenlernte. Er beschäftigte sich zudem mit dem Religionspsychologen William James (1842–1910) und las dessen 1907 in Bearbeitung durch Wobbermin erschienene deutsche 240 Thurneysen: Lebenslauf, 3 f. Zur Bedeutung Blumhardts für die schweizerische Theologie siehe Markus Mattmüller: Der Einfluss Christoph Blumhardts auf schweizerische Theologen des 20. Jahrhunderts, in: ZEE 12 (1968), 233–246. 241 Siehe dazu mit weiterer Literatur: Paul Ehinger: Schweizerischer Zofingerverein, in: HLS 11, 320; sowie Der Schweizerische Zofingerverein 1819–1969. Eine Darstellung hg. vom Schweizerischen Zofingerverein und vom Schweizerischen Altzofingerverein, Bern 1969, v. a. 81–114. Die Basler Zofinger trafen sich im „Breo“ in der Steinenvorstadt 36; Robert Develey: Der Breo zu Basel. 3-phasige Geschichte eines Studentenlokals, Basel 2004. 242 Siehe dazu Thurneysen: Lebenslauf, 6. 243 Zu den beiden Personen siehe S. 370; 378. 244 Zum Folgenden siehe seinen Brief an Ernst Staehelin vom 19. Juni 1909.

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Übersetzung der als bahnbrechend geltenden Studie „Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit“245. Schon bald spürte er die Spannung dieser unterschiedlichen theologischen Ansätze und suchte – ermutigt von älteren Kommilitonen wie Karl Barth – nach einem Ausgleich zwischen dem „machtvoll-,engen‘ Herrmann und dem „umfassenderen Tröltsch“. Bei dieser Suche erkannte Thurneysen eine „Misere“ der Basler Studenten, die im Vergleich mit den Berner Kommilitonen „zu wenig philosophisch geschult“ gewesen seien.246 Er bemühte sich mit Unterstützung von Karl Barth – mit dem er auch häufig Schach spielte – und durch die Lektüre von Wilhelm Windelband247, diese Lücken zu schließen. Neben Herrmann sprachen ihn ferner insbesondere Adolf Jülicher und Wilhelm Heitmüller an und mit großem Interesse las er Friedrich Naumanns248 Zeitschrift „Die Hilfe“ und dessen Andachten. In Marburg standen – wie Thurneysen mit einem gewissen Stolz notierte – die Basler Theologen Wernle und Duhm in hohem Ansehen.249 Neben Karl Barth hatte Thurneysen in Marburg engen Kontakt mit dessen Bruder Peter250, der Schwiegersohn von Martin Rade251 werden und sich als Editor von Calvins Werken einen Namen machen sollte. Theologisch beschäftigten ihn die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Religion und das Problem des „religiösen Apriori“ sowie religionsphilosophische Fragen und der Kantianer Cohen.252 Er hörte auch bei Martin Rade253 und setzte sich intensiv mit Troeltsch auseinander, der ihn eine Zeit lang stark beeinflussen sollte.254 Bei aller Begeisterung für Marburg und die sich ihm dort bietenden intellektuellen Herausforderungen und persönlichen Begegnungen scheint diese Zeit durch depressive Verstimmungen des jungen Studenten getrübt worden zu sein. Seinem Studienfreund Ernst Staehelin berichtete er Anfang Dezember sehr ausführlich und offen über seine seelische wie religiöse Verfassung.255 In diesen Zeiten seelischer Nöte erinnerte er sich zum einen an die Begegnung mit Christoph Blumhardt, bei dem er erfahren hatte, was es heißt „die Sicherheit der echten Religion zu haben.“256 Zum anderen zeigt sich 245 William James: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, Leipzig 1907. 246 Thurneysen an Ernst Staehelin, 19. Juni 1909. 247 Wahrscheinlich las Thurneysen das seit 1892 erscheinende „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie“, das 1907 die vierte und 1910 die fünfte durchgesehene Auflage erlebte. Zur Person siehe unten S. 384. 248 Zur Person siehe unten S. 379. 249 „Von Wernle und Duhm spricht man hier überall mit grösster Achtung, und wir Basler sind dann jeweils ein wenig stolz.“ Thurneysen an Ernst Staehelin, 19. Juni 1909. 250 Zur Person siehe unten S. 369. 251 Zur Person siehe unten S. 380. 252 Siehe dazu die unpaginierten Theologischen Tagebücher von Thurneysen, die am 24. Oktober 1909 einsetzen und sich im Nachlass von Thurneysen befinden. 253 Siehe dazu unten S. 90. 254 Siehe dazu Thurneysen: Lebenslauf, 10 f. 255 Thurneysen an Ernst Staehelin, 8. Dezember 1909. 256 Thurneysen an Ernst Staehelin, 8. Dezember 1909.

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die enge persönliche Verbindung, die er zu seinem Basler Lehrer Wernle aufgebaut hatte, wenn er an Staehelin schreibt: „Ja, überhaupt Wernle ist ein solcher Mensch, an dem ich deshalb so stark hänge, weil ich auch an ihm sehe, was es bedeutet, getrost zu sein. Nach aussen scheint ja gerade Wernle ein besonders sicherer und selbstgewisser Mensch zu sein; ich weiss aber von ihm selbst, wie einsam er im Grunde ist, wie wenig Halt er aussen, z. B. an Freunden hat, und dass er seinen eigenen Weg allein gehen muss; drum aber eben zieht er s.[eine] Kraft ganz aus dem Vertrauen, von dem auch ein Paul Gerhard gelebt hat. Geh doch einmal zu ihm!, ich weiss von mir selbst, dass er für solche Fragen ein tiefes Verständnis hat. Gerade gestern ist mit Deinem Briefe ein Brief von ihm gekommen, worin er mir seine Freude ausspricht darüber, dass ich ihm mit Offenheit kürzlich von den Fragen geschrieben habe, die mich jetzt hauptsächlich beschäftigen. Und eben weil er sich im Grunde stets vereinsamt weiss, schätzt er es wirklich, wenn man ihm mit Vertrauen begegnet; getäuscht wirst Du durch ihn sicher nicht werden.“257 Neben Marburg war Berlin ein bei schweizerischen Theologiestudenten sehr beliebter Studienort. Nach Weihnachten 1909 besuchte Thurneysen dort über den Jahreswechsel viele Freunde, ging in Museen und hörte auch zahlreiche Vorlesungen.258 Im Frühjahr 1910 kehrte er nach Basel zurück und setzte dort seine Studien fort, wobei er hier nun neben Wernle bei dem aus Württemberg stammenden theologisch positiven Paul Mezger studierte. Insgesamt blieb Thurneysen mit Blick auf die Systematische Theologie der Eindruck großer Disparatheit, die ihn sehr verunsicherte. Deshalb orientierte er sich in der Schlussphase seines Studiums wieder mehr an dem, was er in Marburg bei Jülicher und Heitmüller gelernt hatte und wandte sich Wernle und Eberhard Vischer zu. Wichtig wurden ihm die Beschäftigung mit der Geschichte der protestantischen Theologie sowie das Studium Schleiermachers. Ansonsten beschäftigte sich Thurneysen im Sommer 1910 mit Fragen der Ethik und der Geschichte. Einen Höhepunkt stellte in diesem Sommer die Einladung von Paul Wernle dar, ihn für acht Tage in seine Ferien ins bündnerische Brigels zu begleiten.259 Bevor Thurneysen nach Graubünden aufbrach, hielt er am 14. August seine erste Predigt im aargauischen Rupperswil. Die gemeinsame Ferienzeit Mitte August verbrachten Lehrer und Schüler mit Gesprächen über die Hauptaufgaben der religiösen Erziehung, die Wernle als Bildung einer religiösen Kultur bezeichnete. Ferner sprach man über das Amt des Pfarrers, die Aufgabe der Predigt sowie über Leonhard Ragaz und die Berufung von Rudolf Liechtenhan260 als Pfarrer nach Basel. Mit Blick auf die noch junge Bewegung der Religiös-Sozialen befürchtete Wernle deren man257 Thurneysen an Ernst Staehelin, 8. Dezember 1909. 258 Thurneysen an Max Gerber, 13. Dezember 1909, nennt als ihn interessierende Professoren: Adolf Harnack, Karl Holl (1866–1926), Adolf Deissmann (1866–1937), Julius Kaftan (1848–1926), Georg Simmel (1858–1918) und Ernst Cassirer (1874–1945). 259 Thurneysen an Ernst Staehelin, 15. Juli 1910. 260 Zur Person siehe unten S. 377.

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gelnde Ausdauer und kritisierte ihre zu starke politische Gebundenheit, die verhindere, wirkliches theologisches Neuland jenseits der Parteigrenzen zu schaffen. Er vermutete, dass sich hier wahrscheinlich nur eine „neue Reform“ entwickele. Zudem ging Wernle mit der Orthodoxie in Basel ins Gericht, da sich hier Besitz und Bequemlichkeit verbänden sowie Mangel an gutem Ton und an mutigem Eintreten ebenso verbreitet seien wie Geldgeschenke an die Pfarrer.261 Ein weiteres wichtiges Ereignis war in diesem Sommer ein Besuch von Ernst Troeltsch bei Wernle. An einem Abend war auch Thurneysen ins Frey-Grynaeum eingeladen und lernte dort Troeltsch persönlich kennen. Dieser Begegnung widmete er in seinem Tagebuch recht breite Aufmerksamkeit und hielt abschließend fest: „Jedenfalls ist bei Troeltsch gar nichts von bequemlicher Orthodoxie von Leichtigkeit und Oberflächlichkeit, sondern eher ein Ernst der Skepsis und ein radical rücksichtsloses Denken: der Verkehr mit einem solchen Mann stärkt alle freiheitlichen Regungen des Denkens.“262 Thurneysen erlebte Troeltsch als einen persönlich sehr einnehmenden Menschen, der gemütlich und witzig auftrete und in keiner Weise seine Berühmtheit zur Schau stelle.263 Im folgenden Wintersemester standen Wernles Dogmengeschichte und sein „Lessingkränzchen“ sowie Duhms Psalmenvorlesung im Mittelpunkt264 des Studiums. Zudem hörte er bei Häberlin Psychologie. Diese Vorlesung, die er mit Genuss, aber durchaus kritisch verfolgte, veranlasste Thurneysen zu Modifikationen seiner erkenntnistheoretischen Prämissen: Hinsichtlich der Deutung der Welt erlangte die Bedeutung des Empirischen einen höheren Stellwert.265 Außerdem wird eine intensivere Beschäftigung mit Ragaz und den „Neuen Wegen“ erkennbar.266 Trotz dieser zaghaften Neuorientierungen blieb 261 Thurneysen, Tagebuch IV, 18. August 1910. 262 Thurneysen, Tagebuch V, 18./19. August 1910, 12 f. 263 Thurneysen an Max Gerber, 8. November 1910. Möglicherweise konnte Troeltsch bei seinem Basler Besuch für einen Vortrag auf der 1911 in Aarau stattfindenden Christlichen StudentenKonferenz gewonnen werden. Siehe dazu den Briefwechsel unten S. 107, Anm. 81. 264 Thurneysen an Max Gerber, 2. November 1910. 265 Thurneysen an Max Gerber, 8. Februar 1911. 266 In seinem Tagebuch III, 1 f., notierte Thurneysen am 6. Dezember 1909, nach der Lektüre von Leonhard Ragaz: Liberalismus und Religion, in: NW 3 (1909), 346–348; das ist eine Besprechung des damals viel beachteten Buches des Heidelberger Stadtvikars Rudolf August Wielandt (1875–1948): Der politische Liberalismus und die Religion. Eine Mahnung an den deutschen Liberalismus, Göttingen 1908): „Ja, Gericht überall! sieht R[agaz]. Ich komme mir erbärmlich und klein vor [vor] dem Ernste dieses Mannes! Aber seit mir die positive Realität des Staatsgedankens aufgegangen ist, kann ich nicht so klein denken von den Culturmächten der Kirche und des Staates. Gewiss ist vor Gott Dies alles ein Nichts, und in s. furchtbaren Macht mag er Alles zertrümmern. Jedenfalls wollen wir uns durch Ragaz immer wieder zu neuem Sehnen und zu neuer Leidenschaft für Gottes Reich hin reissen lassen und nicht culturselig werden. Aber auch den Ernst, der in den Gedanken vom Staate, wie ihn ein Naumann, ein Cohen hinstellen, lebt, nicht verkennen. Und so stehe ich natürlich auch positiver zum deutschen Liberalismus, soweit er von Naumanns Gedanken lebt. Er ist, ich komme nicht um das von

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Wernle, mit dem Thurneysen auch weiterhin privat verkehrte267, seine historische wie theologische Leitfigur.268 Die Abneigung gegen die modernen Liberalen, aus der Wernle keinen Hehl machte, dürfte die beiden theologisch verbunden haben269 wie auch ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit. Im Frühjahr 1911 beispielsweise steckte Thurneysen zwar in seiner Examensarbeit, bearbeitete aber dennoch die Druckbögen von Wernles zweiter Auflage der „Einführung in das theologische Studium“.270 Auch in dieser Zeit scheint Thurneysen, wie er wiederum seiner Vertrauensperson Ernst Staehelin mitteilte, psychisch labil und womöglich auch gelegentlich überfordert gewesen zu sein. Die Arbeit an den Druckfahnen verunsicherte ihn nämlich insofern, als er kurz vor dem Examen bei sich große Wissens- und Verständnislücken auszumachen meinte und deshalb bedrückt schrieb: „Besonders eindrucksvoll wird mir das noch vordemonstriert durch die fortlaufende Lektüre der Druckbogen der Neuauflage von Wernles Einführung; ich bin oft unbeschreiblich niedergeschlagen. Gerade das Vertrauen, das Wernle immer wieder in mich zu setzen scheint, ist mir oft eigentlich qualvoll, weil ich seiner so unwürdig bin, andrerseits freilich auch wieder das, woran ich mich einzig halten kann. Schliesslich liegt allerdings – ich glaube das auszusprechen ist kein Versuch der Selbsttäuschung – die Verwirrung und Unruhe und Unsicherheit nicht nur an mir, sondern ist das eigentliche Kennzeichen der ganzen so unendlich disparaten religiösen und wissenschaftlich-theologischen Lage der Gegenwart überhaupt.“271 Aus anderen Briefen wird ersichtlich, dass sich Thurneysen im Frühjahr und Sommer 1911 mit dem Anfang des 13. Kapitels aus dem Lukasevangelium, mit der Abendmahlslehre und mit Fragen des Geschichtsverständnisses beschäftigte. Zudem standen die Konzepte der Rechtfertigungslehre bei Schleiermacher und Ritschl auf dem Programm sowie – begleitet von Sorgen die berufliche Zukunft betreffend272 – weitere intensive Vorbereitungen für das Examen. Von Pfarrer Rudolf Handmann (1862–1940)273 ließ sich Thurneysen katechetisch und homiletisch anleiten.274

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R.[agaz] verspottete Wort herum, ,reifer‘, wissender als der Enthusiasmus der Socialdemokratie, und nüchterner. Glauben, Hoffen, Sehnen kann aber auch der Nüchterne.“ So war er beispielsweise am 23. Dezember 1910 mit ihm auf dem Gempen, einem Gebirgsplateau im schweizerischen Jura. „Ich halte mich immer noch hauptsächlich an Wernle.“ Thurneysen an Ernst Staehelin, 25. Januar 1911. Thurneysen: Tagebuch V, 7. April 1911. Siehe dazu unten im Briefwechsel, S. 111. Thurneysen an Ernst Staehelin, 22. Mai 1911. Thurneysen an Ernst Staehelin, 4. Juli 1911. Ein bei dem bekannten Basler Pfarrer Gustav Benz anvisiertes Vikariat kam nicht zustande. Zu Benz siehe unten S. 369. Rudolf Handmann erwarb 1888 das Lizentiat der Theologie in Marburg und war von 1890–1936 in Basel Pfarrer an St. Jakob. Seit 1896 lehrte er zunächst als Dozent, seit 1899 als außerordentlicher Professor Praktische Theologie an der Universität Basel und war drei Jahrzehnte Mitglied des Kirchenrates und 1918–1933 dessen Präsident; zur Person siehe: Basileia reformata, 188.

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Mit Wernle war er weiterhin im Austausch über Kirchenlieder, christlichen Sozialismus und das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bei Jesus. Auch an seiner publizistischen Tätigkeit ließ Wernle seinen Schüler immer wieder teilnehmen. So las er ihm beispielsweise vorab einen am 14. September 1911 in der „Christlichen Welt“ erschienen Artikel vor. Daraufhin notierte Thurneysen in seinem Tagebuch: „Wernle hat einen ausgezeichneten Artikel auf Jathos Angriff geschrieben und mir vorgelesen. Er ist von bewundernswerter relig.[iöser] und sprachlicher Gewalt. Wer so reden könnte!“275 Jenseits des wissenschaftlichen Austausches griff Wernle außerdem Themen christlicher respektive pastoraler Existenz auf.276 Als ihn Wernle Ende September 1911 nach Erscheinen der „Einführung ins theologische Studium“ mit einer Ausgabe von Luthers Briefen beschenkte, verstand Thurneysen das Geschenk als Symbol dessen, „was ihm selber am wichtigsten ist, und was er seinen Studenten auch gross und wichtig machen will“.277 Im Oktober 1911 standen nun zwei wichtige Anlässe für Thurneysen an: Am 23. und 24. Oktober 1911 legte er schließlich vor der Konkordatsprüfungsbehörde sein Examen mit großem Erfolg ab.278 Am 29. Oktober folgte die Ordination. Zwischen diesen beiden Terminen stattete Thurneysen Wernle einen langen Besuch ab. Vor seiner Abreise aus Basel wollte er noch möglichst viel von seinem Lehrer profitieren.279 4.2. Zwischen Studium und erstem Pfarramt Nach dem Ende des Studiums zog Thurneysen nach Zürich, wo er als Hilfssekretär des CVJM für anderthalb Jahre tätig wurde. Dieser Ortswechsel fiel ihm vor allem wegen der Trennung von Wernle schwer.280 Doch blieben die beiden weiterhin in recht regem Austausch und bei seinem Aufenthalt in Basel 274 Thurneysen: Lebenslauf, 14. 275 Thurneysen: Tagebuch VI, 24. September 1911. 276 Thurneysen: Tagebuch VI, 15. Juli 1911: „Wernle spricht mehrfach von dem, was ihm das wichtigste ist: wir sollten viel mehr Leute sein und werden, die in Gott und aus Gott leben, und denen man es abspürt, dass Christsein das Seligste und Grösste ist, das es geben kann und Freude hineinbringt ins Leben und Kraft und Trost. Aus Freude und Kraft heraus leben und reden, nicht als vermahnen und tadeln, sondern als Ideal hinstellen und so selber ohne viel Worte das Gefühl des Abstandes und Ernstes erwecken. Aber das Evgl [Evangelium] als Kern und Stern, daraus leben und schöpfen und geben als einer Kraft und Macht über Alles.“ 277 Thurneysen: Tagebuch VI, 24. September 1911. Siehe hier auch Thurneysens Sicht auf Wernles Reformationsverständnis. 278 Siehe dazu den „Bericht an die Tit. Kirchenbehörden der Konkordatskantone über die Ergebnisse der Prüfung der am 23. und 24. Oktober 1911 für wahlfähig erklärten Kandidaten des Predigtamtes“, in: StAZH T 30.7 (Teil 51). 279 Thurneysen an Max Gerber, 26. Oktober 1911. 280 Thurneysen an Ernst Staehelin, 28. November 1911: „Namentlich von Wernle trenne ich mich schwer. Was wäre ich, wenn ich ihn nicht gehabt hätte! Gerade in der letzten Zeit war er noch besonders gütig gegen mich.“

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zum Jahreswechsel 1911/12 war Thurneysen selbstverständlich Gast im FreyGrynaeum. Bei diesem Neujahrsbesuch unterstrich Wernle wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Erzählungen Thurneysens über seine Erfahrungen im Zürcher CVJM einerseits die Bedeutung des Pietismus281 und andererseits stand das Gespräch schon unter dem Eindruck eines drohenden Krieges. In diesem Zusammenhang sprach sich Wernle dafür aus, der Komplexität der politischen Verhältnisse gerecht zu werden.282 Knapp zwei Wochen später diskutierte man über das Verständnis von Geschichte und das Reich Gottes.283 Des Weiteren dürften sie Gespräche über Thurneysens neue berufliche Tätigkeit aufgenommen haben, äußerte Thurneysen doch zunächst einerseits Zweifel darüber, am richtigen Platz zu sein, hoffte aber andererseits, dort für sein späteres Pfarrerdasein zu lernen. Dabei interessierte ihn vornehmlich das Denken solcher jüngerer Menschen, „die in unsern Verhältnissen drin stehen und doch Jesusnachfolger sein wollen.“284 Seine Absicht war ursprünglich, nicht länger als ein Jahr in Zürich zu bleiben und sich dann in eine kleine Gemeinde wählen zu lassen. In der Zürcher Zeit, in der sich Thurneysen überaus engagiert in die Arbeit des CVJM einbrachte, stellte die Begegnung mit dem Zürcher Kaufmann und Eisenwarenhändler Rudolf Pestalozzi285 ein wegweisendes Ereignis dar. Die sich daraus entwickelnde Freundschaft, die durch einen regen Briefwechsel dokumentiert wird, sollte auch für die weitere theologische Entwicklung in der Schweiz zentrale Bedeutung erlangen. Pestalozzi, der ebenfalls im CVJM mitarbeitete und von 1909 bis 1916 das Vereinsorgan „Die Glocke“ redaktionell betreute, unterstützte nämlich nicht nur großzügig über Jahre hinweg die junge Pfarrfamilie Thurneysen finanziell mit seinen „gelben Umschlägen“, sondern später auch auf vielfältige Weise den Aufbruch der Dialektischen Theologie. In seiner neuen Stellung hatte Thurneysen einige Referate in den Sektionen des CVJM übernommen und besuchte mit Begeisterung Vorlesungen bei Leonhard Ragaz. Seinem Freund Ernst Staehelin berichtete er im März 1912: 281 Möglicherweise in Anknüpfung an dieses Gespräch erklärte Thurneysen wenig später mit Blick auf den CVJM: „Im Vereinsleben brauchen wir alle mehr Pietismus. Wir schaffen zu viel von der Peripherie her, zu wenig aus dem Centrum. […] Im Ganzen gesehen gewinnt unser Chr.[istentum] kein Verhältnis zur Welt und ihren Bewegungen, hat nicht genug Mut und Kraft und Gewissen.“; Thurneysen: Tagebuch VI, 25. April 1912. 282 Thurneysen fasst Wernles Ausführungen mit folgenden Worten zusammen: „Es beweist sich oft die Gewissensschärfe auch darin, dass man die Dinge bescheidener und weniger einfach sieht. Sie liegen oft viel verwickelter, complicierter, schwerer, als man sie in s. Stürmen und Drängen sehen kann. Wir stehen vielleicht heut oder morgen schon vor den grossen Realitäten: vor dem Krieg, und da gilts loszuschlagen. Gott stellt uns hinein auch in diese Wirklichkeiten und Nöte und wir müssen da unsere Pflicht tun, er lässt oft das Böse sich steigern und entladen u steht doch dahinter.“ Thurneysen: Tagebuch VI, 1. Januar 1912. 283 Thurneysen: Tagebuch VI, 13. Januar 1912. 284 Thurneysen an Ernst Staehelin, 28. November 1911. 285 Zur Person siehe unten S. 379; sowie Bohren: Prophetie, 49 f.

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„Hier in Z.[ürich] versuche ich nun, in Ragaz einzudringen, und schätze ihn, je mehr ich ihn aus s.[einen] Vorlesungen kennen lerne, stets höher und höher. Nicht wegen seiner wissenschaftlichen Leistung – die wage ich sogar gelegentlich zu kritisieren, trotzdem die gesinnungstüchtigen Jünger einem fast den Kopf abreissen, wenn mans tut – aber weil ich das Gefühl habe, Ragaz habe als ein frommer, prophetischer Geist wirklich etwas Eigenes und Neues z. sagen.“286 Wenige Monate später war Thurneysen Ende Juli bei Ragaz zum Nachtessen eingeladen, wo er auch Heinrich Lhotzky (1850–1930) kennenlernte, der aus der Blumhardt-Bewegung kommend sich spätestens seit 1920 zum antisemitischen „Vordenker der völkischen Religion des Nationalsozialismus“ entwickelte.287 Lhotzky beabsichtigte seinerzeit einen Verlag zu gründen und forderte Ragaz zur Mitarbeit auf. Mit diesem Besuch war Thurneysen zum zentralen Vordenker der religiös-sozialen Bewegung vorgedrungen und erfuhr in unmittelbarer Nähe, was Ragaz beschäftigte und beispielsweise im Vorfeld des geplanten Internationalen Kongresses in Basel umtrieb.288 Neben Ragaz kam Thurneysen in Zürich auch mit Hermann Kutter in Kontakt. Er besuchte dessen Kinderlehren sowie Predigten289 und tauschte sich mit ihm über theologische Fragen aus.290 Ferner vertiefte er sich in Troeltschs Soziallehren291, dessen „unvergleichliche Gabe, den geistigen Gehalt ganzer Epochen in seiner verwirrenden und widerspruchsreichen Mannigfaltigkeit auszubreiten und zu zergliedern“, er bewundernd hervorhob.292 Weiter studierte er Luther und Herrmann und verabschiedete indes kontinuierlich das Projekt einer eigenen größeren wissenschaftlichen Arbeit. Als Thurneysen auch im Sommer 1912 einige Urlaubstage bei Wernle im bündnerischen Dutjen verbrachte, prägten seine gerade zurückliegenden Lektüren und persönlichen Kontakte die Konversation. In diesen „intensiven Gesprächen“ über Troeltsch relativierte Wernle Thurneysens Begeisterung durch eine Kritik am Gebrauch des Begriffs der Mystik. Wernle bemängelte den allgemein erkennbaren inflationäre Gebrauch dieses Wortes für das Phänomen der „Unmittelbarkeit“. Ebenso ging Wernle mit den Religiös-Sozialen und insbesondere mit Ragazens Positionierung im Generalstreik ins Thurneysen an Ernst Staehelin, 3. März 1912. Gerhard Ruhbach: Heinrich Lhotzky, NDB 14, 440 f. Thurneysen: Tagebuch VII, 29. Juli 1912. Zum Kongress siehe oben S. 29. Thurneysen: Tagebuch VII, 22. September 1912; 13. Oktober 1912: Kutter „redet mindestens 50 Minuten aus grosser innerer Bewegung heraus. Nachher noch eine Kinderlehre. Das ist eine gewaltige Leistung für diesen Mann.“ 290 Thurneysen, Tagebuch VI, 17. April 1912. Später war Thurneysen nochmals bei Kutter. Der Bericht über diesen Besuch scheint aus dem Tagebuch herausgeschnitten zu sein; siehe Tagebuch VII, 21. November 1912. Dass er Kutter „sehr gut mag und schätze“, betonte er auch noch später; Thurneysen an Fritz Lieb, 16. Januar 1918. 291 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften Bd. 1), Tübingen 1912. 292 Thurneysen an Ernst Staehelin, 21. April 1912.

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Gericht. Dessen Generalstreik-Artikel war in den Augen von Wernle „etwas überspannt“, denn in diesem Streik konnte er weder Reich Gottes noch „Bergpredigtchristentum“, sondern einzig Gewalt erblicken.293 In dieser Zeit stellte sich für Thurneysen zusehends die Aufgabe, zwischen den beiden Antipoden Wernle und Ragaz Position zu beziehen. Hier dürfte der Beginn des sich lange hinziehenden Emanzipationsprozesses des Schülers von seinem Lehrer zu finden sein. Noch stand Thurneysen voller Bewunderung auf Seiten Wernles und notierte mit Blick auf die Zeit in Dutjen: „Wernle hat mir wieder viel gegeben. Seine ganze Art hat etwas ungemein Anregendes, Nachdenkliches, Erfrischendes. Wie an keinem zweiten schaue ich an ihm Wesen und Kraft protest. Frömmigkeit, ihre Fröhlichkeit und Tapferkeit, ihren Mut und ihre Geduld, ihre Mischung von Reinlichkeit und Heroismus, von Demut und Kraft und Ernst. Er ist ein scharfer Denker und doch weit davon entfernt, Gegensätze zu überspannen, immer auf die Hauptsachen gerichtet. Es eignet ihm ein fabelhaftes historisches Wissen, und eine seltene, schöpferische Fähigkeit, die Gegenwart auf die Vergangenheit zu beziehen und von ihr zu lernen, und doch ist so gar nichts von Ängstlichkeit und erbärmlichen Anklammern an Vergangenes an ihm. Ein Hoffnungsmann ist er gerade nicht, aber ein Mann festen, innerlichen Besitzes und reifer Kraft.“294 Ein Mann der Hoffnung, des „grenzenlosen Verlangens und Drängens Gott entgegen, immer näher, tiefer und fester zu ihm hin“ wollte Thurneysen aber selbst werden.295 Die große theologische Übereinstimmung zwischen Thurneysen und seinem Lehrer, veranlasste Peter Barth zu der bissigen Bemerkung, dass Thurneysen wohl bald Wernle werde.296 Die positiv notierten persönlichen Begegnungen mit Ragaz beispielsweise erweiterten Thurneysens Blick und spätestens mit Beginn des Ersten Weltkrieges zeigten sich zunehmende Diskrepanzen zwischen ihm und Wernle. 4.3. Pfarramt in Leutwil Zunächst aber bewegte die noch ungesicherte berufliche Zukunft den jungen Theologen. Anscheinend hatte er sich vergebens um Pfarrstellen bemüht, so dass am Ende nur die Stelle im aargauischen Leutwil als Option übrig blieb. Sowohl die Stellensuche als auch seine Wahl und schließlich die ungewisse pastorale Zukunft in Leutwil setzten ihn unter hohen psychischen Druck. Insbesondere der Aufgabe des Predigens brachte er hohen Respekt entgegen. So schwankte er zwischen Sorgen und Hoffnungen, als er im Juni 1913 seine

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Thurneysen: Tagebuch VII, 12. August 1912. Zum Generalstreik siehe oben S. 28. Thurneysen: Tagebuch VII, 12. August 1912. Thurneysen: Tagebuch VII, 22. August 1912. Peter Barth an Thurneysen, 10. Februar 1913.

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erste Pfarrstelle in Leutwil-Dürrenäsch antrat.297 Thurneysen zog schließlich von Zürich in jenen Kanton, von dem der in der Safenwiler Nachbarschaft wirkende Karl Barth drei Jahre später sagen sollte: „Der gottlose Aargau hat etwas erquickend Jungfräuliches, Ehrliches“.298 Die Arbeit in seiner Gemeinde nahm Thurneysen alsbald umfänglich in Beschlag, er machte viele Hausbesuche und verbrachte damit oft ganze Nachmittage. Seine Predigtweise befriedigte ihn allerdings nicht und ließ ihn nach neuen Wegen der Verkündigung suchen. Dabei wurde ihm die Notwendigkeit bewusst, sich beständig durch Lektüren und Nachdenken fortzubilden.299 Im Gegensatz zum Predigen bereiteten ihm Unterricht und Kinderlehren besondere Freude. Dabei zielte er nicht auf Vermittlung von Wissen, sondern auf Anregung zum Nachdenken über das eigene Leben.300 Schon früh konfrontierte ihn seine Arbeit mit konkreten sozialen Herausforderungen, denn viele Kinder arbeiteten schon in „sog. Fabriken, d. h. es sind die halb auf Heimarbeit, halb auf Fabrikbetrieb ruhenden Cigarrengeschäftlein, die sich ohne Ausnahme durch missliche Lohnverhältnisse auszeichnen.“301 Er engagierte sich ebenfalls als Leiter der beiden Blau-KreuzVereine, was ihm nicht nur Sympathien in seiner Gemeinde einbrachte. Trotz dieser vielfältigen Arbeiten fühlte er sich zunächst noch recht einsam in seinem Pfarramt und vermisste Zürich mit seinen zahlreichen Anregungen. Der Kontakt zu den benachbarten Pfarrkollegen blieb für ihn weitgehend unbefriedigend, weil sie ihm inhaltlich nichts geben konnten. Allein mit seinem Amtsbruder Jakob Max Dietschi302 in Seon, der ebenfalls von Wilhelm Herrmann geprägt worden war und der schließlich auch dem theologischen Auf297 In seinem Tagebuch VII notierte Thurneysen am 31. März 1913: „Alea iacta est. Leutwyl wird mein Schicksal werden. Alle Türen gehen zu, diese eine alleine steht offen. Da muss ich nun hindurch. Gott möge mir helfen. Es kommen mich bereits Depressionen an und schwere trübe Vorahnungen. Schon gestern in L.[eutwil] selber lastete ein schwerer Druck auf mir vom Moment an, wo ich spürte: tua res agitur. Es ist mir, als würden in dem alten Pfarrhaus die Geister der Vergangenheit lebendig und mein eigenes Wesen sei zu schwach, dagegen zu stehen. Da muss ich mich mit innerer Kraft rüsten. Aber solche Klimawechsel setzen mir immer zu. Und mein grösster Kummer ist einstweilen noch das Predigen. Ich habe meinen Stil noch nicht gefunden. In allem aber stehe Gott mir bei. O dass ich in seiner Wirklichkeit leben könnte, wie Kinder im sonnigen Garten spielen. Aber ohne Kampf und Ringen kein Sieg. Es ist mir noch jeder Anfang schwer gefallen, und noch jedesmal hat Gott geholfen. Er will mich an meinem Ort haben und wird mir auch Kraft schenken.“ 298 Barth-Thurneysen 1, 133. 299 „An der Predigt. Es geht mir mit gebieterischer Notwendigkeit auf dass ich wirklich arbeiten muss, innerlich arbeiten, denken, lesen, sonst bin ich bald am Ende meines Wissens. Nur aus einer grossen und ständigen innern Concentration heraus kann ich reden, kann ich schöpfen. Das wird jetzt mein Weg. Sonst wird all mein Reden Gerede in kürzester Zeit. Das heisst nicht: die ganze Woche an der Predigt sitzen, aber es heisst, jeden Moment bereit sein, dranzugehen“; Thurneysen: Tagebuch VII, 13. Juni 1913. 300 Thurneysen: Tagebuch VIII, 4. September 1913. 301 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 26. Juni 1913. 302 Ernst Gysi: Dietschi, Jakob Max, in: Georg Boner/Otto Mittler (Hgg.), Biographisches Lexikon des Aargaus, 1803–1957, Aarau 1958, 150; ferner siehe unten S. 371.

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bruch von Kutter, Barth und Thurneysen wohlwollend gegenüberstehen sollte, entwickelte sich eine fruchtbare Freundschaft. Darüber hinaus blieb es Thurneysen ein Anliegen, weiterhin mit Wernle zu korrespondieren und von ihm gelegentlich Besuche zu erhalten. Doch nicht nur Wernle, sondern auch andere Freunde und Kollegen suchten gelegentlich das Leutwiler Pfarrhaus auf. Anfang September 1913 kam beispielsweise Emil Brunner303 vor seiner Abreise nach England zu einem Abschiedsbesuch nach Leutwil.304 Brunner, der seit Herbst 1912 mit Thurneysen befreundet war, hatte dort von Mitte September 1912 bis Ende März 1913 als Vikar gewirkt. Kurz vor dieser Visite hatte er bravourös die mündliche Lizentiatsprüfung bestanden. Seine Lizentiatsarbeit „Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis“, die er seinem wichtigsten Lehrer Leonhard Ragaz widmete, erschien 1914.305 Die Begegnung mit dem in die Ferne drängenden Brunner löste bei Thurneysen intensives Nachdenken über die eigene, pastorale Existenz sowie über das Reden von Gott aus.306 Großen Widerstand erregten bei ihm die zahlreich anfallenden Vertretungsdienste in anderen Gemeinden. Vor allem bei Beerdigungen in fremden Gemeinden kam er sich als „religiöser Funktionär im unguten Sinne“ vor.307 Die Aufgabe, für den CVJM den Jahresbericht zu schreiben, stellte ihn vor eine weitere Herausforderung.308 Dabei trat ihm vor allem das Verhältnis des CVJM zu den sozialistischen Organisationen als zentrales Problem vor Augen.309 Dieses Thema sollte ihn auch in der Folgezeit beschäftigen, denn im Mai 1914 thematisierte er es ausführlich in der „Glocke“ und plädierte für ein Miteinander von Kirche und Arbeiterorganisationen.310 In den folgenden Jahren blieb er der „Glocke“ weiterhin als Autor erhalten und veröffentlichte unregelmäßig Beiträge, wie beispielsweise nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges.311 303 Zur Person siehe unten S. 370. 304 Es folgten in den nächsten Tagen weitere Besuche, u. a. von Paul Wernle; Thurneysen an Elisabeth Thurneysen, 20. September 1913. Später erwähnte er auch Besuche von Freunden aus dem Zofingerverein, die ihn häufig aus Basel oder Zürich besuchten. 305 Emil Brunner: Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis. Beiträge zu einer Theorie des religiösen Erkennens, Tübingen 1914. Siehe dazu Frank Jehle: Emil Brunner. Theologe im 20. Jahrhundert, Zürich 2006, 49–52. 306 „Meine beste Arbeit für die Gemeinde ist die Arbeit an mir selber. Gott soll mir Hauptsache werden und leztes. Dann kann ich auch andern davon reden. Die Leute verlangen so viel – oder so wenig? von ihrem Pfarrer.“ Thurneysen: Tagebuch VII, 4. September 1913. 307 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 24. Oktober 1913. 308 Der Bericht erschien unter dem Titel „Der Sinn unserer Arbeit“ in: Die Glocke 22 (1913), 9–13. 309 Ebd. 310 Eduard Thurneysen: Unsere roten Brüder, in: Die Glocke 22 (1914), 53 f. Thurneysen war selbst zufrieden mit seinem Artikel und freute sich über das positive Votum von Wernle; Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 7. Mai 1914. 311 Eduard Thurneysen: Trost im Kampfe, in: Die Glocke 23 (1914), 1 f.; Friedenshoffnung und Friedensarbeit!, in: Die Glocke 23 (1914), 21 f.; Passion, in: Die Glocke 23 (1914), 41 f.; Jesus und der Krieg, in: Die Glocke 24 (1915), 56 f.; Gottes Gedanken, in: Die Glocke 24 (1916), 43 f.; Die Fragen unserer Zeit, in: Die Glocke 27 (1919), September 1919, o.S.

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Mit den vielfältigen inhaltlichen Fragestellungen und pastoralen Herausforderungen, die Thurneysen in seinen ersten Amtsjahren existentiell beschäftigten, ging eine prekäre ökonomische Situation einher. So freute sich Thurneysen beispielsweise, dass sich der Besuch seiner Schwester Elisabeth312 etwas verschob, da er ansonsten kein Geld für Nahrungsmittel mehr gehabt hätte.313 Nach Ausbruch des Krieges erfasste aufgrund des weitgehenden Stillstandes der Zigarrenfabriken die Armut weite Teile des Dorfes. Um das Elend unter den besonders armen Familien ein wenig zu mildern – eine organisierte dörfliche Hilfe gab es nämlich nicht –, holte Thurneysen deren Kinder an seinen Tisch.314 Ihr soziales Engagement im Dorf setzten die Pfarrersleute, unterstützt durch erhebliche finanzielle Zuwendungen der Eheleute Pestalozzi, nach Kriegsende fort. So schafften sie beispielsweise einen Dörrofen an, um für arme, kinderreiche Familien Dörrobst zu produzieren. Zudem fanden Kinder von Wöchnerinnen und andere erholungsbedürftige Anwohner im Pfarrhaus Aufnahme.315 Diese langjährigen regelmäßigen wie großzügigen finanziellen Zuwendungen durch Rudolf Pestalozzi, die den allgegenwärtigen Mangel im Leutwiler Pfarrhaus mildern konnten,316 waren ein handfester Ausdruck der tiefen Freundschaft mit dem sechs Jahre älteren Eisenhändler und seiner Frau Gerty. Die Bedeutung des Ehepaars Pestalozzi-Eidenbenz war nicht allein für die Entwicklungen von Thurneysen von höchster Bedeutung, sondern desgleichen für die Entwicklung der Dialektischen Theologie. „Ruedi“ Pestalozzi kann zweifelsohne „als eine Art Nährvater der neuen theologischen Bewegung“ gelten, der immer wieder sein Landhaus „Bergli“ in Oberrieden bei Zürich, gewissermaßen als ein Refugium, zur Verfügung stellte.317 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte für Thurneysen eine Zäsur dar. Kritisch verfolgte er die zahlreich erscheinenden Predigten, Zeitschriftenartikel und Kriegspublikationen. Vornehmlich in den so genannten Mobilisationspredigten stieß er häufig auf theologische Hilflosigkeit. Allein Kutter, der für Thurneysens theologische Entwicklung von elementarer Bedeutung ist, konnte ihn überzeugen318, wohingegen Ragaz ihm viel zu „visionär“ erschien.

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Zur Person siehe unten S. 383. Thurneysen an Elisabeth Thurneysen, 20. September 1913. Thurneysen an Gerty Pestalozzi, 15. Oktober 1914. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 27. August 1918. So stellte Pestalozzi Thurneysen beispielsweise auch einen Reisefonds zur Verfügung. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 16. Januar 1918. 317 Bohren: Prophetie, 49. 318 So schrieb Thurneysen beispielsweise nach einem Besuch Kutters: „Ich hatte eine grosse Freude an dem Zusammensein mit ihm, es ist mir als ob ich an einer reichen Tafel gesessen habe, der Umgang mit ihm hat etwas selten Anregendes und Fruchtbares für mich, immer aufs neue.“ Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 5. Mai 1915. Ein gutes halbes Jahr später schrieb er am 7. Januar 1916 an denselben: „Ich beneide Euch immer ein wenig um den nahen Umgang mit Kutters.“

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Zwei im „Kirchenblatt“ erschienene Artikel von Wernle319 kritisierte Thurneysen in einem Schreiben an Gerty Pestalozzi und erklärte, dies seien bloß „alte Tröste in neuem Pathos“. Obwohl er seine Einwände Wernle schon mitgeteilt hatte320, sollte diese G. Pestalozzi gegenüber geäußerte pointierte Kritik von ihr vertraulich behandelt werden.321 Dieser Einwand gegenüber Wernle steht im Zusammenhang einer breiten kritischen Analyse der Deutungen des Kriegsgeschehens. Thurneysen bemühte sich nämlich um eine ausgewogene Wahrnehmung der deutschen und französischen Stellungnahmen zum Krieg und fasste seinen Eindruck wie folgt zusammen: „Ich persönlich suche, so gut ich es kann, mir vor allem auch einen Eindruck zu verschaffen von dem, was die geistigen Führer in Deutschland und Frankreich zum Kriege sagen. Und da ist es nun sehr betrübend, wie alle fast ausnahmslos hineingerissen werden in den Strudel des nationalen Chauvinismus. Es ist für mich oft wie ein Abschiednehmen dabei, wenn ich von mir verehrte deutsche Gelehrte ihren Namen unter einen der Aufrufe setzen sehe, die jetzt fast täglich erscheinen und sich bemühen, den Riss, der die Völker trennt, auch hineinzutragen in die Culturgemeinschaft und die Welt internationaler geistiger Arbeit und geistiger Werte. Schade.“322 Wenige Tage später beklagte er mit Blick auf die Verletzung der belgischen Neutralität, wie wenig erfreulich das „deutsche Christentum“ sei.323 Eine Ausnahme stellte für ihn in diesem Zusammenhang allein Martin Rade dar, der am 3. Januar 1915 in die Schweiz kam, um in Basel und Bern eine Auseinandersetzung mit den schweizerischen Religiös-Sozialen zu führen. An dem Treffen mit „Rade, Ragaz, Greyerz, Schädelin und welschen Freunden der rel. soz. Sache“ in Bern am 4. Januar nahm auch Thurneysen teil und beurteilte es als „fein und interessant“.324 Für ihn war Rade „immer noch einer der tapfersten und aufrechtesten inmitten der sonst z. T. so traurig umgefallenen deutschen Christen.“325 Gerade in dieser unruhigen und ungewissen Zeit zu Kriegsbeginn zeigte sich, welch hohen Stellenwert die Freundschaften mit den Eheleuten Pestalozzi326 sowie mit den Gebrüdern Peter und Karl Barth für Thurneysen be-

319 Paul Wernle: Ist auch ein Uebel in der Stadt, das der Herr nicht tut? Am. 3, 6, in: KBRS 29 (1914), 133 f.; ders.: Paul Wernle: Reich Gottes und Vaterland, in: KBRS 29 (1914), 141 f. 320 Siehe unten Brief Nr. 78. 321 Thurneysen an Gerty Pestalozzi, 10. September 1914. 322 Thurneysen an Gerty Pestalozzi, 15. Oktober 1914. 323 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 21. Oktober 1914. 324 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 10. Januar 1915. Es handelt sich um Pfarrer Karl von Greyerz aus dem bernischen Kandergrund; siehe unten S. 372. Albert Schädelin (1879–1961) war Pfarrer am Berner Münster und Professor für Praktische Theologie. 325 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 30. Dezember 1914. 326 Die Bedeutung dieser Freundschaft wird auch in folgender Aussage deutlich: „Das ist überhaupt das Schönste, dass wir alle miteinander eine reiche und verschwiegene Welt haben, die uns mit einander verbindet. Das ist das Einzige, was mir über viel Alleinsein weghilft, und vor

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saßen. Man teilte nicht nur die Sorgen des Alltags oder die Früchte des Nachdenkens, sondern feierte auch zusammen in Marburg die Hochzeit von Peter Barth mit Helene Rade (1895–1985), der Tochter Martin Rades. Thurneysen freute sich auch deswegen über die Einladung in die hessische Universitätsstadt, weil sie ihm ermöglichte, dort die „großen Tiere“ zu sehen: Vor allem die Begegnung mit dem Onkel der Braut, Friedrich Naumann reizte ihn sehr.327 Mit Karl Barth zusammen reiste er am 7. Juli 1915 in das vom Krieg aufgewühlte Deutschland, wo zwei Tage später die Hochzeit stattfand. Wenige Monate später verlobte sich Thurneysen mit Marguerite Meyer (1893–1995), einer Cousine des späteren Vikars von Karl Barth und Basler Theologen Fritz Lieb (1892–1970). Wie sehr ihm anscheinend die Einsamkeit im Pfarramt zu schaffen gemacht hatte, zeigen die begeisterten Anzeigen seiner Verlobung an seine Freunde, in denen er von „Erlösung“ spricht. An Ernst Staehelin beispielsweise schrieb er: „Noch ist mir alles fast wie ein Traum, was doch volle, starke, klare Wirklichkeit ist. Es ist wahrhaft ein Stück grosser Erlösung, nun sein Leben und die ganze innere Welt, der wir alle treu bleiben möchten, mit jemandem zu teilen, so eng und intim, wie es mit Keinem andern möglich ist.“328 Seine Frau, die aus dem Haus eines Sekundarlehrers stammte, heiratete er am 25. Januar 1916. Paul Wernle lehnte es ab, zur Hochzeit zu kommen.329 Im weiteren Verlauf des Krieges setzte sich Thurneysen mit der immer offensichtlicher werdenden theologischen wie politischen Differenz zwischen Kutter und Ragaz auseinander.330 Zudem beschäftigte ihn die im Sommer 1915 aufbrechende Debatte über die eidgenössischen Feldprediger, die auch das Verhältnis von Militarismus und Nationalismus einerseits und Christentum und Verkündigung andererseits aufgriff. Thurneysen sprach sich zwar nicht gegen Militär und Feldprediger aus, forderte aber Reformen, da Verkündigung etwas anderes als „religiöser Patriotismus und fromme Verbrämung irdischweltlicher Dinge“ sei.331 Im Kern handelte es sich in dieser Auseinandersetzung zunächst um einen Disput zwischen Rudolf Pestalozzi und dem Windischer Pfarrer und Feldprediger Karl Pfisterer.332 Doch sie zog schon bald weitere Kreise und sowohl Wernle, der den Begriff des Vaterlandes betonte, als

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dem auch alle räumliche Getrenntheit schwinden muss.“ Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 5. Mai 1915. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 15. März 1915. Siehe dazu auch Barth – Thurneysen 1, 36, sowie Busch: Lebenslauf, 96. Thurneysen an Ernst Staehelin, 21. Juli 1915. Im Schreiben an G. und R. Pestalozzi heißt es am selben Tag: „Nun ist es auch über mich gekommen wie ein Dieb in der Nacht, und ich habe es ergriffen und an mich gerissen wie ein Gewalttätiger das Stücklein Himmelreich, von dem auch wir schon, grad das letzte Mal miteinander geredet haben. Ich habe mich verlobt.“ Siehe unten Brief Nr. 106; ferner Barth – Thurneysen 1, 119. Siehe dazu beispielsweise seinen Brief an Rudolf Pestalozzi aus dem August 1915 (ohne Datum). Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, August 1915. Siehe dazu auch unten Brief Nr. 99. Zur Person siehe unten S. 380.

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auch Thurneysen, der darauf bewusst verzichtete, brachten sich neben anderen darin ein. Vor allem zwischen Pfisterer und Thurneysen kam es zunächst zu einem heftigen Schlagabtausch, bevor sich die beiden bei allen inhaltlichen Differenzen persönlich wieder ins Einvernehmen setzen konnten.333 Auch in dieser Auseinandersetzung distanzierte sich Thurneysen offensichtlich von seinem Lehrer. Gemeinsam mit dem religiös-sozialen Binninger Pfarrer Gottlob Wieser334 wollte er offen die Probleme des Militärs ansprechen und wehrte sich gegen Wernles Vorwurf, einen „agitativen Antimilitarismus“ zu betreiben.335 Ihm ging es nämlich darum, zusammen mit Wernle in einem „stärkenden, gegenseitigen Austausch religiösen Besitzes“ die Probleme zu lösen. Deshalb war es Thurneysen auch überaus peinlich, als Karl Barth während seines Vortrags „Kriegszeit und Gottesreich“336 am 15. November in Basel in Anwesenheit Wernles „ziemlich fürchterlich“ mit diesem abrechnete.337 Thurneysen hielt sich auf der einen Seite in dieser Diskussion zwischen Barth und Wernle eher zurück, kritisierte dennoch den ungestümen Freund und verwies darauf, „jahrelang Wernles intimster Schüler und in täglichem Verkehr mit ihm“ gewesen zu sein.338 Thurneysen war sich bewusst darüber, was er seinem Lehrer zu verdanken hatte, und blieb dieser Wertschätzung im Grunde bis zum Tod Wernles treu. Seine Achtung hielt ihn aber auf der anderen Seite nicht davon ab, Unterschiede und Differenzen, Verwerfungen und Irritationen deutlich zu benennen. Dabei konnte er auch soweit gehen, Wernles Theologie gegenüber Karl Barth als „mißlich“ und als „,Werturteilstheologie‘ schlimmen Stils“ zu verwerfen und seinem Lehrer anzukreiden, seine Theologie nicht denkerisch, sondern allein nach subjektiven Bedürfnissen zu entwerfen.339 Dennoch warb Thurneysen Barth gegenüber immer wieder um ein wohlwollendes Verständnis für seinen Lehrer.340 Auf der anderen Seite konnte er die in Teilen der Religiös-Sozialen erkennbare „Woge der Militärantipathie aus politisch-demokratischen Gründen nicht so mitmachen“. Er war zwar für eine „Demokratisierung der Armee“ und die Abschaffung der Militärjustiz, stand aber der politischen Diskussion nach eigenen Worten „ziemlich kühl gegenüber“341 und machte im Februar erst einmal im Engadin Ferien, wo er erstmals „auf den Skihölzern mit wechselndem Erfolg“ stand.342 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342

Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 8. Oktober 1915 sowie 13. Oktober 1915. Zur Person siehe unter S. 384. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 23. September 1915. Busch: Lebenslauf, 99. Zitate in Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 18. November 1915. Barth hatte in einem Brief an Thurneysen (12. November 1915) angekündigt, eine „Generalabrechnung mit Wernle“ bieten zu wollen; siehe Barth – Thurneysen 1, 101. Siehe hierzu Barth – Thurneysen 1, 105. Barth – Thurneysen 1, 105. Siehe dazu unten Brief 102, Anm. 643. Barth – Thurneysen 1, 109. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 25. Februar 1916, sowie 2. März 1916. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 4. Februar 1916.

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In der Folgezeit zeigte sich, dass Thurneysen weniger auf konkrete politische Maßnahmen zielte, sondern ihm das „Ringen um einen neuen Geist“ und die „überpolitische, innerliche, evangelische Leistung unsres Volkes das allein wichtige und entscheidende“ war.343 Deshalb reagierte er auch zwiespältig, als ihm der Basler Pfarrer und Sekretär des Evangelischen Arbeitervereins Gustav Benz344 seine neue Schrift „Der Christ und der Staat“ zuschickte.345 Nach der Lektüre stellte er sie seinem Freund Pestalozzi mit einem karikierenden Unterton durchaus würdigend vor, indem er schreibt: „Die alte Geschichte in freilich freundlicher und ernsthafter Form, wie es von Benz zu erwarten war. Der Herr Jesus und Treitschke und Bismarck geben sich ein Rendezvous darin und besprechen die Lage und jeder zieht sich in seiner Weise daraus: aber der Schluss ist immer derselbe, der Mann aus Galiläa steht als der Naive da, der in die heutige Welt nicht recht passen will. Das hat uns Naumann schon gesagt und viel ergreifender und erschütternder als Benz, er hat auch seine Consequenzen daraus gezogen, resolutere und klarere als alle nach ihm; aber wer zeigt uns den grösseren Weg und gibt uns das köstlichere Gebot? Benz nicht. Seine Schrift ist aber sehr ernsthaft und sagt viel Richtiges, das wir uns sicher auch wieder neu merken können.“346 Auch seine Entscheidung, sich gemeinsam mit Karl Barth und Rudolf Pestalozzi von der Vorbereitung der religiössozialen Konferenz und sich aus dem Vorstand zurückzuziehen, kann als Ausdruck dieser Haltung gedeutet werden. Schließlich wollte das Trio außerdem noch den Antrag stellen, die Konferenz ganz aufzuheben.347 Mit Blick auf die Bündner Religiös-Sozialen zielte es zu diesem Zeitpunkt mehr auf Abgrenzung als auf Kooperation und vereinbarte vorerst, einstweilen die „getrennten Wege ruhig fortzusetzen bis auf den Anbruch einer Zeit, da eine offene, herzliche, vertrauensvolle Aussprache besser möglich erscheint als heute.“348 Ende Oktober 1917 schließlich legten Barth und Thurneysen ihre Ämter innerhalb der Religiös-Sozialen nieder und lösten mit diesem Schritt eine Krise im Vorstand aus. Mit ihrer Demission wandten sie sich vornehmlich gegen die von Max Gerber349 und der Bündner Fraktion („Feldisern, Ragazianern“) vertretene Richtung, die Thurneysen als „Verpolitisierung“ und „Verkirchlichung“ kritisierte. Er glaubte ebenso wenig wie Barth „an die neue Gegenkirche, die Ragaz in den Neuen Wegen neuerdings in dunklen Umrissen vor den ahnenden Blicken seiner Leser“ habe aufsteigen lassen. Zudem erklärte Thurneysen: „Wir müssten vielleicht auch unsern Glaubensstandpunkt der Sozialdemokratie gegenüber eben als reinen Glaubensstandpunkt betonen, während alles Politische an ihr vielfach fraglich und mehr als fraglich ist, 343 344 345 346 347 348 349

Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 2. März 1916. Zur Person siehe unten S. 369. Gustav Benz: Der Christ und der Staat, Basel 1916. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 2. März 1916. Thurneysen an Leonhard Ragaz, 25. Oktober 1916. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 6. September 1917. Zur Person siehe unten S. 372.

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wie gerade die neuesten Wahlgeschichten dem Sehenden erschreckend deutlich zeigen.“350 Als die Bündner indes zu einem Gespräch über die „allgemeine Lage und die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit) einer Zusammenarbeit von uns Religiös-Sozialen“ nach Olten einluden351, gingen Thurneysen und Barth dorthin, wollten sich aber bedeckt halten und nur ganz allgemein erklären, dass man prinzipiell nichts gegen eine Zusammenarbeit habe, diese aber derzeit aufgrund unterschiedlicher Standpunkte als nicht sinnvoll erscheine. Sie erklärten deshalb nochmals ihren Rücktritt: „Wir vertreten selber eine etwas pointierte und wie wir wissen, andere zu starkem Widerspruch reizende Position, daher konnte uns das Einigungswerk weniger gelingen, als es andern viell. gelingen kann. Wir treten daher zurück, ohne uns aber damit aus dem gemeinsamen Lager zurückzuziehen.“ Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Thurneysen bekannter, als er zum Jahresende 1917 gemeinsam mit Barth den Predigtband „Suchet Gott, so werdet ihr leben!“ veröffentlichte. Mit diesem Buch, das zunächst anonym hätte erscheinen sollen352, strebte Barth an, „den derzeitigen Stand unsrer Dinge zu objektivieren“ und in der Öffentlichkeit diskutieren zu lassen.353 Thurneysen verschickte den Band an Freunde wie beispielsweise Ernst Staehelin und ließ ihn zum Jahresende auch Paul Wernle zukommen.354 Dieser reagierte umgehend und beanstandete insbesondere den aggressiven Ton in Teilen von Barths Predigten.355 Seine eilends angekündigte Besprechung erschien gleich zu Jahresbeginn 1918 im „Kirchenblatt“ und fiel ungewöhnlich ausführlich aus.356 Wernle charakterisierte den Predigtband als „ein ausgezeichnetes Dokument für jeden, der gerne unsre ,Jungen‘, oder richtiger den Kutterschen Flügel unsrer ,Jungen‘ kennenlernen möchte.“357 Als problematisch kritisierte er neben dem polemischen Ton den gesteigerten Enthusiasmus, hob aber auch die Unverzichtbarkeit, in solcher „jugendlichen Art“ zu denken, für Kirche und Theologie hervor. Mit diesem Predigtband hatten sich Thurneysen und Barth in der theologischen Landschaft erkennbar positioniert. Sie unterschieden sich zusehends von Teilen der Religiös-Sozialen, mit denen Thurneysen hart ins Gericht ging. Vor allem bei den Religiös-Sozialen in Graubünden sah er die Gefahr, dass sie zur „Sekte“ werden würden „mit allen Zeichen der Verengung und den geis-

350 Alle Zitate in Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 29. Oktober 1917. 351 Zum Folgenden siehe Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 4. Dezember 1917. 352 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 4. Dezember 1917: „Ein wunderliches Buch ist es schon. Dass wir unsere Namen nicht zu den einzelnen Predigten setzen, ist schon vielen ein Anstoss, wie wir hören, wir aber sind auch darüber froh, es so getan zu haben.“ 353 So zitiert bei Busch: Lebenslauf, 114. 354 Siehe dazu Brief Nr. 122. 355 Siehe dazu Brief Nr. 123. 356 Paul Wernle: Suchet Gott, so werdet ihr leben!, in: KBRS 33 (1918), 9–11. 357 Wernle: Suchet Gott, 9.

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tigen Kurzschlüssen, die an diesem Wege drohen“358 Auch mit Wernle verliefen die Gespräche nun bei Besuchen in Basel, wo ihn auch „Altmeister Gustav Benz“ mit einem kurzen Empfang würdigte, weniger harmonisch. So sah sich Thurneysen dort „halb händelnd, halb friedfertig“.359 Dass er sich zum Jahresbeginn 1917 bei aller Wertschätzung für seinen Lehrer inhaltlich doch schon recht weit von ihm entfernt hatte und er sich eng mit Kutter verbunden wusste, zeigte sich zusehends. Als sich Wernle in einem „weitern, sehr freundlichen, aber auch sehr weisen Brief“ über Kutter geäußert hatte, schickte Thurneysen diesen mit begleitenden Zeilen an das Ehepaar Pestalozzi und schrieb überaus kritische Worte dazu: „Er wird euch interessieren. Mich hat er eher verstimmt. Wo ist denn die starke, kraftvolle, eigene Position, aus der heraus Wernle so hoch herab über Kutter reden dürfte! Wernle weiss immer alles mögliche aus Geschichte und Vernunft, Gegenwart und Vergangenheit einzuwenden und auszuführen, aber es ist doch eine armselige Sache, so ein Arsenal von Abwehrwaffen gegen kühne Flüge verwalten und jedesmal schnell, schnell öffnen zu müssen, wenn das Surren der Propeller hörbar wird. Heisst das Professor der Theologie sein? Aber nicht wahr, Ihr lasst Kutter selber nichts von dem Briefe hören. Helfen könnte ihm diese Art von Kritik doch nicht.“360 Diese Ambivalenz der Wahrnehmung, welche die Auseinandersetzungen Thurneysens mit Wernle immer mehr prägen sollte, zeigte sich in vergleichbarer Weise im Umgang mit Ragaz. Nach wie vor schätzte er zwar den Zürcher Theologieprofessor, sah „das Wertvolle an Ragaz“, erkannte aber auch dessen Grenzen. Als Ragaz in den „Neuen Wegen“ seinen Aufsatz „Klärungen“, der sich gegen Kutter richtete, veröffentlicht hatte, erklärte Thurneysen einerseits, dass er nicht in diesen Streit hineingezogen werden wolle, andererseits übte er aber Kritik an Ragaz und warf ihm Rechthaberei und Polemik gegenüber seinen Gegnern vor.361 In diesem Votum wird durchaus ein Charakterzug Thurneysens offenbar: Er war eher der Vermittler und – wie er von sich selbst sagte – „kein Freund der Verwüstungszonen“.362 Dass sich die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen theologischen oder kirchenpolitischen Richtungen nicht nur auf Pfarrkonferenzen oder in der Publizistik abspielten, erfuhr Thurneysen in seiner Gemeinde Mitte August 1917 unmittelbar: Nachdem er bei der Beerdigung eines Trinkers auch über die Schuld des Verstorbenen an seinem verdorbenen Leben gesprochen hatte, wurde in der darauffolgenden Nacht sein Schlafzimmer von zwei Gestalten mit Steinen beworfen. Bei dem Vorfall kam niemand zu Schaden, er war allerdings insofern brisant, da Thurneysens Frau Marguerite 358 359 360 361 362

Thurneysen an Ernst Staehelin, 11. Januar 1917. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 19. Januar 1917. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 25. Januar 1917. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 5. Februar 1917. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 19. Dezember 1917.

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hochschwanger war und eine Woche später ihre erste Tochter Dorothea gebären sollte.363 Gegenüber seinen Freunden spielte Thurneysen den Vorfall herunter und interpretierte ihn als Folge seines schärferen theologischen Profils, das sich inzwischen auch in seiner Verkündigung niedergeschlagen habe.364 Auf dem Weg zu dieser theologischen Profilierung spielte neben vielen anderen Einflüssen die Lektüre von Biographien aus der vornehmlich süddeutschen Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts eine Rolle.365 In diesem Zusammenhang erkannte er einerseits vielfältige religiöse Aufbrüche, andererseits aber auch die langfristige Folgenlosigkeit der Erweckung. Der mit ihr einhergehende religiöse Aufbruch habe nicht verhindern können, erklärte Thurneysen mit einem gewissen apokalyptischen Unterton, „dass in diesem mit der ,Erweckung‘ beginnenden Jahrhundert Mammon seinen gewaltigsten Aufstieg bewerkstelligen konnte seit Beginn der Welt und alles schliesslich in der Katastrophe endigen musste, in der wir jetzt stehen. Und dieses ,erweckte‘ Christentum mit all seinen Missionen und Bibelgesellschaften und seinen vielen ernsten und frommen Männern und Frauen merkte gar nicht, was da vorging, hatte jedenfalls wenig an Hilfe und Kraft dagegen. Freilich für diese Zusammenhänge haben unsre zukünftigen Historiker wenig Sinn.“366 Neben den Biographien der Erweckten beschäftigte er sich aber auch mit dem Leben der württembergischen Theologen David Friedrich Strauß und Christian Märklin (1807–1849).367 Insgesamt gesehen war Thurneysen ein überaus intensiver Leser, der sich beständig weiterbildete und informierte und zahlreiche Neuerscheinungen zur Kenntnis nahm. So machte er sich beispielsweise an die „furchtbare Lektüre“ von Samuel Zurlinden (1861–1926)368, las die Habilitationsschrift seines Freundes Staehelin369 sowie die 1917 erschienene Erzählung „Patria“370 des katholischen Theologen Heinrich Federer (1866–1928). Dieser zuletzt genannte Text gefiel ihm nicht allein, sondern öffnete ihm zudem wieder die Augen für das katholische Denken.371 Den Herausforderungen der Gegenwart begegnete er beispielsweise 1917 nicht nur mit den eben erwähnten Lektüren, sondern auch mit einem geistigen Eintauchen in die Reformation und der Lektüre von Calvin, später auch von Insgesamt hatte das Paar fünf Kinder. Siehe dazu Bohren: Prophetie, 261. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 11. August 1917 und an Max Gerber, 29. August 1917. Siehe dazu Brief Nr. 118. Thurneysen an Max Gerber, 29. August 1917. Siehe dazu unten Brief Nr. 118. Samuel Zurlinden: Die Souveränität des Volkes, Zürich 1916. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 19. Januar 1917. Die Publikation geht auf einen Vortrag zurück, der am 5. Februar 1916 im Rahmen einer Vortragsreihe über „nationale Erziehung auf Grundlage der Geschichte“, gehalten worden war. 369 Ernst Staehelin: Die Väterübersetzungen Oekolampads, Zürich 1916. 370 Heinrich Federer: Patria! Eine Erzählung aus der irischen Heldenzeit, Freiburg im Breisgau 1917. 371 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 11. August 1917.

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Zwingli.372 Dem 1917 anstehenden „Reformationsjubiläum“ sah Thurneysen indes überaus kritisch entgegen, war gegen Kränze, Gedenkscheine und das Reformationsfeuerwerk. Er ließ vielmehr durch die Zeitung mitteilen, dass die Kirche keinen Anlass habe, sich der Reformation zu rühmen.373 Schließlich sind noch seine Lektüren aus dem „Gegenwartssozialismus“ zu nennen sowie die anlässlich des Landesstreiks im Nationalrat gehaltenen Reden374 sozialdemokratischer Nationalräte oder auch die erstmalig 1888 erschienenen und danach in vielen Auflagen aufgelegten „Memoiren eines Revolutionärs“ des Theoretikers des anarchistischen Kommunismus Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921). 4.4. Entwicklungen in den 1920er Jahren Nachdem Thurneysen gut vier Jahre Pfarrer in Leutwil-Dürrenäsch gewesen war, traten Überlegungen bezüglich eines Stellenwechsels in den Vordergrund. Zunächst erreichten Thurneysen Anfang 1918 zwei Anfragen aus Aussersihl und Basel für das Amt eines Jugendpfarrers. Aufgrund seiner ersten beruflichen Erfahrungen, die er im Zürcher CVJM gemacht hatte, verhielt sich Thurneysen allerdings gegenüber diesen Stellenangeboten zunächst abwartend. Prinzipiell konnte er sich zwar vorstellen, als Jugendpfarrer zu arbeiten, nahm dann aber nach reiflichen Überlegungen keines der beiden Angebote an, obwohl sein Einkommen in Leutwil meist zu knapp war und die Pfarrfamilie weiterhin von Pestalozzi unterstützt wurde.375 Die im Mai 1918 erfolgte Anfrage aus dem thurgauischen Frauenfeld prüfte er wiederum, erklärte aber unter Aufnahme einer Formulierung Barths376, der Aargauer Boden sei zwar hart, aber er habe „etwas jungfräuliches. Wir haben hier doch eine grosse Freiheit in allen Dingen, und es fehlt fast aller kirchliche Schwulst und Schwindel, der in den ostschweizer. Gefilden eher vorhanden zu sein scheint.“ Außerdem legte Thurneysen Wert auf die Stille und die „Arbeitsgemeinschaft mit Safenwil“.377 In dieser Zeit der beruflichen Überlegungen beschäftigte sich Thurneysen zum einen mit der Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs anhand des Buches von 372 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 9. Juli 1918. Den Anstoß dazu hatte ihm gegeben Theodor Pestalozzi-Kutter: Die Gegner Zwinglis am Großmünsterstift in Zürich, Zürich 1918. Im März 1919 unterstrich er die Bedeutung Zwinglis für sein Denken; Thurneysen an Ernst Staehelin, 14. März 1919. 373 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 1. November 1917. 374 Der Landesstreik vor dem Nationalrat. Stenographische Wiedergabe der von den sozialdemokratischen Vertretern am 12. und 13. November im Nationalrat gehaltenen Reden, Bern 1918. 375 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 1. Oktober 1917 und 16. Januar 1918. 376 Siehe oben S. 62. 377 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 2. Mai 1918.

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Zurlinden378 und zum anderen nahm er sich vor, wieder einmal Ragaz zu besuchen. Überschattet wurde diese Zeit allerdings vom Ausbruch der Spanischen Grippe, die in der Schweiz knapp 25.000 Todesopfer forderte.379 Auch Thurneysen erkrankte und schrieb Ende Oktober: „Gott Lob der Grippe wieder soweit entronnen, dass ich lesen und schreiben darf“.380 Nachdem er genesen war, beschäftigten ihn Fragen nach dem Fortgang der Geschichte und er setzte sich in theologischer Perspektive kritisch mit Demokratie und Bolschewismus auseinander.381 Weitere Überlegungen zu einem Stellenwechsel standen seit Mitte Juli an, als Kirchpfleger aus St. Gallen nach Leutwil gekommen waren. Die Anfrage aus Straubenzell (St. Gallen) prüfte er wiederum ernsthaft und nahm die Stelle an. Er zog mit seiner Familie 1920 in jenen Kanton, in dem er geboren war und übernahm bis 1927 die Pfarrstelle in St. Gallen-Bruggen. Am Karfreitag hielt er in Leutwil seine Abschiedspredigt.382 Gut sieben Jahre später schließlich verließ Thurneysen die Ostschweiz383, um für 32 Jahre Pfarrer am Basler Münster zu werden. Dort hielt er am 26. Juni 1927 seine Antrittspredigt.384 Bevor Thurneysen jedoch Leutwil verließ, reiste er ins thüringische Tambach, wo in der Zeit vom 22. bis 25. September 1919 eine Konferenz stattfand, auf der die Gründung einer deutschen religiös-sozialen Vereinigung befördert werden sollte. Dort traf Thurneysen unter den ungefähr 100 Teilnehmern neben seinem Freund Barth auf die Schweizer Rudolf Liechtenhan und Hans Bader sowie auf Rudolf Bultmann (1884–1976) und Friedrich Gogarten (1887–1967), aber auch auf Günther Dehn (1882–1970) und Eberhard Arnold (1883–1935). Der ursprünglich als Redner vorgesehene Leonhard Ragaz konnte wegen eines gesundheitlichen Zusammenbruchs nicht teilnehmen. An seiner Stelle hielt Barth den berühmt und wirkmächtig gewordenen Vortrag

378 Er las den zweiten Band „Die historischen Grundlagen des Weltkrieges“ von Samuel Zurlinden: Der Weltkrieg. Vorläufige Orientierung von einem schweizerischen Standpunkt aus, Zürich 1918. 379 Siehe dazu unten Brief Nr. 128. 380 Thurneysen an Ernst Staehelin, 29. Oktober 1918. 381 Im Brief an Rudolf Pestalozzi, 27. August 1918, übte er Kritik am „Götzen Demokratie“. Am 31. Oktober 1918 schrieb er auf die Frage nach dem Wohin der Weltgeschichte an Pestalozzi: „Es wird jedenfalls nach wie vor gut sein, sich nicht auf irgendeine noch so verlockende ,Vorstufe zum Reiche Gottes‘, heisse sie nun Demokratie oder Bolschewismus einzulassen und festzulegen; es wird ja immer deutlicher, wie ,diesseitig‘ alle diese Vorstufen sind und wie ,jenseitig‘ das Reich Gottes ist. Dass es aber ein kommendes Reich ist, daran halten wir nur umso fester.“ 382 Eduard Thurneysen: Abschiedspredigt, gehalten in der Kirche zu Leutwil am Karfreitag 1920, Seengen 1920. 383 Seine Abschiedspredigt hielt er am 12. Juni 1927; sie ist abgedruckt im Evangelischen Gemeindeblatt Straubenzell. 384 Eduard Thurneysen: Die Botschaft der Bibel, in: Münsterbote. Gemeindeblatt für Glieder und Freunde der Münstergemeinde 8 (1927), 45–50; seine Abschiedspredigt: Eduard Thurneysen, Laß dir an meiner Gnade genügen! Abschiedspredigt über 2. Korinther 12, Vers 9; gehalten im Münster zu Basel am 21. Juni 1959, Basel 1959.

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„Der Christ in der Gesellschaft“385, der bald erkennen ließ, dass er sich nicht mehr zur religiös-sozialen Bewegung hielt und jeglichem „BindestrichChristentum“ eine scharfe Absage erteilte.386 Sein Vortrag gilt gemeinhin als „Auftakt für die dialektische Theologie“387 und als großes Hemmnis für die eine religiös-soziale Theologie in Deutschland. In der Folgezeit kam es zu tiefen Verstimmungen zwischen Thurneysen und Ragaz, die im Zusammenhang mit Ragazens Kritik an Barths, Weihnachten 1918 erschienenem Römerbriefkommentar standen.388 Ragaz erlebte dieses Buch als einen grundsätzlichen Angriff gegen sich, der ihn persönlich traf. Hier wurde die Abwendung vom Kampf um das Reich Gottes in der Welt und die Hinwendung zur Theologie unübersehbar und greifbar. Für Ragaz stellte dies, wie er rückblickend festhielt, eine „schwere Tragödie“ dar.389 Dem Bemühen von Thurneysen, beide wieder ins Gespräch zu bringen, war kein Erfolg beschieden. Vielmehr schickte Ragaz einige Wochen später einen sechzehn Seiten langen Brief an Thurneysen, in dem er „einen übervollen Zornkrug und Bittertrank über Karl ausgeschüttet“ hat. Thurneysen zögerte zunächst, den Brief, den er als „so unerhört schief und krank“ ansah, seinem Freund Pestalozzi zuzusenden.390 Inzwischen hatte Thurneysen auch außerhalb der Schweiz einen solchen Bekanntheitsgrad erreicht, dass er zu Vorträgen ins benachbarte Ausland eingeladen wurde und sich im Februar – erschüttert über das „niedergeworfene Deutschland“ – auf eine Reise in den Osten Deutschlands machte. Vornehmlich in Sachsen hielt er Zusammenkünfte mit Pfarrern ab und sprach über Themen wie „Diesseits und Jenseits im Sozialismus“, „Kirche und Reich Gottes“ sowie über „Die Bibel und ihre Botschaft zur heutigen Weltlage“.391 Seine im Februar 1920 in Deutschland gewonnenen Eindrücke fasste er nach einem mit Barth und den beiden Ehefrauen verbrachten Aufenthalt in Heidelberg bei dem sozialdemokratischen Professor der Philosophie und Religiösen Sozialisten Hans Ehrenberg (1883–1958), der 1922 noch das Studium der Theologie aufnahm und 1925 Pfarrer an der Bochumer Christuskirche wurde, wie folgt zusammen: „Es ist wirklich ein Geruch der Verwesung überall. Und das Reden vom kommenden Weltbolschewismus erscheint einem nicht mehr unglaubhaft. Im Gegenteil: man fühlt sich schon mitten drin. Es steht schon alles auf dem Kopfe. Man kann nur noch mit – untergehen, mit – sterben wollen, um auf ,das ganz andere‘ einer neuen Auferstehung zu hoffen. 385 Siehe Karl Barth: Der Christ in der Gesellschaft. Eine Tambacher Rede, Würzburg 1920; wieder abgedruckt in: ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, hg. von Hans-Anton Drewes, Zürich 2012, 546–598. 386 Siehe dazu Mattmüller II, 254 f. 387 Wilfried Härle: Dialektische Theologie, in: TRE 8, 683–696, hier 684. 388 Thurneysen an Leonhard Ragaz, 24. November 1919. Siehe dazu Mattmüller II, 245–253. 389 Leonhard Ragaz: Mein Weg, Bd. 2, Zürich 1952, 108. 390 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 12. Januar 1920. 391 Thurneysen an Elisabeth Wyder-Thurneysen, 11. Januar 1920.

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Diese Hoffnung, stärker oder schwächer, reiner oder getrübter lebt ja irgend wie auch in unsern deutschen Freunden und ist ihr bestes, wenn sie es wohl manchmal auch nicht recht verstehen.“392 Der Heimweg führte das Quartett über Stuttgart nach Bad Boll. Die ehemalige Wirkungsstätte Blumhardts enttäuschte Thurneysen indes sehr: „Dort ist aber nun ein wirklicher Friedhof. Leider! Nichts mehr von dem fliessen und bewegen, fragen und suchen, das um Blumhardt war, dafür eine sehr fragliche Pietät, die mit Blumhardt selber wenig mehr zu tun hat. Schade! Man reist gerne wieder ab.“ Als sie dann endlich „wieder im friedlich – unbewegten Basel“ landeten, vernahmen sie „von der wuchtigen Verwerfung des Frauenstimmrechts in der ältesten Demokratie Europas.“393 Jenseits seiner Vortragsarbeit engagierte sich Thurneysen fernerhin für die Belange der Arbeiterschaft und wirkte 1920 entscheidend bei der Gründung einer sozial-demokratischen Fabrikarbeitergewerkschaft mit. Im Sommer dieses Jahres erschien das von Thurneysen als „Angriff auf die Christenheit“ bezeichnete Heft „Zur inneren Lage“394, das er gemeinsam mit Barth herausgab. Er vermutete, „neue Freundschaften oder gar Doktorhüte wird uns dieses kritische Nein! der Kirche und ihren Theologen gegenüber nicht eintragen. Aber für uns und andere ist es sicher eine notwendige Station am Wege.“395 Doch nicht nur mit dieser Veröffentlichung irritierte Thurneysen, sondern auch durch seine Predigten wie auch durch seine Weigerung, auf der Synode für mehr Religionsstunden zu votieren. Im Gegensatz zu früheren Zeiten fürchtete er inzwischen jede Unterrichtsstunde.396 Unter den Kollegen war es vor allem Samuel Dieterle (1882–1950), mit dem er „famos“ auskam und den er sehr schätzen lernte.397 Im Sommer verbrachte Thurneysen seinen Urlaub zusammen mit Karl Barth und den Eheleuten Pestalozzi in deren Ferienhaus „Bergli“, wo er sich sehr wohl fühlte. In diesem Haus konnte sich jeder so geben, wie es ihm passte. Dankbar und glücklich schrieb Thurneysen – und hier scheint schon die historische Bedeutung dieses Ortes für die weiteren theologischen Entwicklungen auf –: „Es war uns restlos wohl und freudig zu Mute in allen diesen Tagen, und es hat sich alles, alles eingestellt und gezeigt, was sich da einstellen und zeigen kann, wo Freundschaft von Eurer Art die Türen auftut und kommen heisst: vergnügtestes Nichtstun, Pfeifenrauchen, Siebenschlaf, Toma392 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 18. Februar 1920. 393 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 18. Februar 1920. 394 Karl Barth/Eduard Thurneysen: Zur inneren Lage des Christentums. Eine Buchanzeige und eine Predigt, München 1920. 395 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 25. Juni 1920. 396 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 8. Juli 1920. 397 Thurneysen an Elisabeth Wyder-Thurneysen, 9. Juli 1920. Dieterle war seit 1909 Pfarrer in Bruggen und teilte sich mit Thurneysen die Kanzel; er wechselte 1929 nach St. Peter in Basel. Siehe zur Person: Eduard Thurneysen: Pfarrer Samuel Dieterle zum Gedenken, in: NW 44 (1950), 117–123.

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tenwerfen, aber auch gute Gespräche im Schermen398 und unter freiem Himmel bei Tag und Nacht, nachdenkliche Überblicke von ,grosser Höhe‘ herab über die Lage in Kirche und Welt da unten, ergiebige Ausfälle und Recognoscierungen und trostreiche Rückzüge ins eigene Lager hinter die bewährten Ringmauern, Hoffnungen und Befürchtungen und hinter allem und durch alles hindurch unser bewährter Dreibund und die ausgezeichnete, hochgelegene, feine Freistatt, die Ihr Zwei ihm im Bergli gegeben habt, das sie ihm als Ort der Sammlung, als Ausfallspforte oder als Rückzugs- und Ruhestellung diene. Ich denke, jetzt da ich sie schon erfahren habe, erst recht mit freudiger Bewegung an die grossen Möglichkeiten, die unserm gemeinsamen Wollen und Tun aus Eurem Bergli erwachsen.“399 Die Dankbarkeit und Offenheit, mit der Thurneysen in diesem Dankesbrief seinem Freund Pestalozzi begegnet, durchzieht den ganzen Briefwechsel wie ein roter Faden. Pestalozzi erscheint als nachdenklicher und gleichermaßen großzügiger Freund, mit dem sich Thurneysen auf vielen Ebenen austauschen konnte. So schlug er seinem Freund beispielsweise vor, angesichts eines besseren Pfarrergehaltes, das eine weitere Subventionierung durch Pestalozzi unnötig werden ließ, das nun frei werdende Geld für den „merkwürdig erweckten Luzerner Jüngling Walter Nigg“ aufzuwenden, der in der Wahrnehmung Thurneysens „ein wirklich selten einsichtiger und begabter und innerlich bewegter junger Mensch ist, dabei frei von aller Selbstüberschätzung.“ Nigg (1903–1988) hatte nach der Lektüre von Barths Römerbrief den Wunsch gefasst, Theologie zu studieren und brauchte dafür finanzielle Unterstützung. Thurneysen schilderte ihn als förderungswürdig, fleißig und bescheiden, woraufhin Pestalozzi dem angehenden Studenten die Unterstützung auch gewährte.400 War durch Thurneysens Stellenwechsel nach St. Gallen der rege Austausch zwischen Leutwil und Safenwil nun nicht mehr möglich, so erschwerte Barths Wechsel auf die Göttinger Professur für reformierte Theologie 1921 die Kommunikation ungleich mehr. Er war nicht nur traurig über den Fortgang des Freundes, sondern zudem zutiefst verärgert darüber, dass man in der Schweiz keine Versuche unternommen hatte, Barth dort eine adäquate Stelle zu verschaffen. Seiner Gefühlslage verlieh er gegenüber seinem Freund Pestalozzi Ausdruck, indem er schrieb: „Karls Schritt wirft lange Schatten über meine Tage, und ich komme mir wie ein angesägter Baum vor. Manchmal kommt ein dumpfer Zorn über mich über die ganze Bande von Kirchenhäuptlingen und akademischen Perücken von Hadorn bis Fueter und von Wernle bis Walther Köhler401, die es bei nur ein wenig gutem Willen zehn Mal 398 Mundartlich für Unterstand oder Wetterdach. 399 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 17. September 1920. 400 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 12. Januar 1920. Zur Person siehe Christian Moser: Walter Nigg, in: HLS 9, 268. Nigg war später reformierter Pfarrer und Titularprofessor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich. 401 Wilhelm Hadorn (1869–1929) war seit 1922 Professor für Neues Testament und seit 1925 für

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in der Hand gehabt hätten, irgendwo eine Türe für Karl aufzutun, so dass dieser Auszug aus Vaterland und Freundschaft nicht nötig geworden wäre. Aber es ist alles verpasst und verhindert worden und zwar mit voller Absicht.“402 In dieser Situation, in der „das verödete Safenwil mit s.[einem] verlassenen Apfelbaum, und die leeren Gesichter der Fueter, Benzen403 und Wernle, unter denen wir zurückbleiben müssen“404, Thurneysens Stimmung prägten, sollten die gemeinsamen Treffen im Bergli umso wichtiger werden. Thurneysen arbeitete sich rasch in der neuen Gemeinde ein und fand Freiräume, um regelmäßig publizieren zu können. Exemplarisch seien hier der homiletische Beitrag „Die Aufgabe der Predigt“ genannt405 sowie die wichtige Monographie „Dostojewski“406, die damals als bedeutender Forschungsbeitrag gewürdigt wurde. Mit diesem Werk zeigte Thurneysen, was die neue Theologie wollte.407 Thurneysen selbst verstand sein Buch als „Anschauungsbeispiel […] für die, denen der neue Rbr.408 doch eher unzugänglich vorkommt; dazu ein Ausfall in die Welt, der deutlich macht, dass es hier überall nicht nur um ,Theologie‘ (trotz Ragaz!) geht“409. Zwei Jahre später erschien 1924 der zweite mit Barth herausgegebene Predigtband „Komm, Schöpfer Geist!“410. Seinen lange gehegten Wunsch, Christoph Blumhardt ein literarisches Denkmal zu setzten, konnte er 1926 realisieren.411 Ferner sind noch für die späten 1920er Jahre der Aufsatzband „Das Wort Gottes und die Kirche“412 sowie der programmatische

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Schweizerische Kirchengeschichte an der Universität Bern; siehe zu ihm Isabelle Noth: Wilhelm Hadorn, in: HSL 6, 25. Karl Fueter (1884–1963) war Barths Vorgänger in Safenwil und gehörte der kirchlichen Mitte an. Siehe zu ihm: Zürcher Pfarrerbuch, 287 f. Der theologisch liberale Walther Köhler (1870–1946), aus Elberfeld stammend, wurde 1909 Professor für Kirchengeschichte in Zürich und zu einem der führenden Zwingliforscher. Siehe zu ihm Hans Ulrich Bächtold: Walther Köhler, in: HLS 7, 326. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 23. Mai 1921. Gustav Benz. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 23. Mai 1921. Eduard Thurneysen: Die Aufgabe der Predigt, in: PBl 63 (1921), 209–219. Siehe dazu unten Brief Nr. 136, sowie die Rezension: Max Frick: Die Aufgabe der Predigt, in: KBRS 36 (1921) 155 f. Ferner vgl. Lorberg-Fehring: Thurneysen – neu gesehen, 55–112. Eduard Thurneysen: Dostojewski, München 1921. Für die Drucklegung hatte Pestalozzi – wie auch bei anderen Schriften – finanziell beigetragen. Siehe dazu Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 8. Juli 1921. Bohren: Prophetie, 102. Thurneysen selbst „graute“ es zeitweilig vor dieser Arbeit. So im Brief an Ernst Staehelin, 23. Dezember 1920. Römerbrief von Karl Barth. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 8. Juli 1921. Reaktionen auf dieses Buch von Kutter, Wernle und Staehelin notiert Thurneysen im Brief an Rudolf Pestalozzi, 1. Dezember 1921. Er bat um Geheimhaltung dieser Voten. Zu Wernles Kritik siehe unten Brief Nr. 140. Eine Analyse des Buches bietet Lorberg-Fehring: Thurneysen – neu gesehen, 113–156. Karl Barth/Eduard Thurneysen: Komm Schöpfer Geist! Predigten, München 1924. Siehe dazu unten Briefe Nr. 144–146. Eduard Thurneysen: Christoph Blumhardt, München 1926. Eduard Thurneysen: Das Wort Gottes und die Kirche, München 1927.

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Aufsatz „Rechtfertigung und Seelsorge“413 zu nennen. Abgeschlossen werden soll diese exemplarische Nennung mit dem dritten Predigtband „Die große Barmherzigkeit“414. Neben diese vielfältigen publizistischen Arbeiten415 und die pastoralen Praxisfelder trat als weiteres Betätigungsfeld die Pflege seiner kommunikativen Netzwerke. Immer wieder empfing Thurneysen beispielsweise außer seinen schweizerischen Kollegen auch Pfarrer aus Deutschland, die sich allerdings an der Rezeption von Franz Overbeck durch Barth und Thurneysen stießen.416 Weiterhin stand er mit seinem Safenwiler Freund Barth in Kontakt, der ihn über den Fortgang der zweiten Auflage seines „Römerbriefes“ informierte, an welcher Barth in der Zeit vom Herbst 1920 bis zum Sommer 1921 arbeitete und die er am 26. September als Manuskript vollenden sollte.417 Thurneysen erwartete von dieser vollständigen Neubearbeitung eine „wesentliche Verdeutlichung“ und weniger Polemik.418 Wie Barth im Vorwort des zweiten „Römerbriefes“ erwähnt, hatte Thurneysen einen wesentlichen inhaltlichen Beitrag bei der Entstehung des Manuskripts geleistet.419 Als sein Freund Ernst Staehelin im selben Jahr in der Zeitschrift „Die Eiche“ einen Aufsatz veröffentlichte, kritisierte Thurneysen ihn deswegen heftig. Die gleichermaßen abwägende wie aufschlussreiche Skizze der „Regungen evangelischen Lebens in der Schweiz“420 spannt von einer Gegenwartsanalyse ausgehend, die Staehelin mit den Begriffen „Auflösungstendenzen“, „Erschütterungen“ und „Stürme der Gegenwart“ umreißt, den Bogen von der rasch sich ausbreitenden Anthroposophie Rudolf Steiners (1861–1925) über Zentralisierungsbestrebungen im schweizerischen Protestantismus, weiter zu Reformen des Theologiestudiums und zu theologischen Entwicklungen. Hier setzte er sich ausführlich und kritisch mit Barth und Thurneysen auseinander und nahm die Schrift „Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie“ sowie 413 Eduard Thurneysen: Rechtfertigung und Seelsorge, in: ZZ 6 (1928), 197–218. 414 Karl Barth/Eduard Thurneysen: Die große Barmherzigkeit. Predigten, München 1935. 415 Zu „Thurneysens Entwicklung von 1921 bis 1927“ siehe Lorberg-Fehring: Thurneysen – neu gesehen, 157–210. 416 Siehe dazu unten Brief Nr. 137. 417 Busch: Lebenslauf, 133. 418 Thurneysen an Ernst Staehelin, 23. Dezember 1920. Siehe dazu Katja Tolstaja (Hg.): „Das Römerbriefmanuskript habe ich gelesen“. Eduard Thurneysens gesammelte Briefe und Kommentare aus der Entstehungszeit von Karl Barths Römerbrief II (1920–1921), Zürich 2015. 419 Siehe Karl Barth: Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, hg. von Cornelis van der Kooi und Katja Tolstaja, Zürich 2010, 24. Im Vorwort schreibt er: Thurneysen „hat aber auch das ganze im Entstehen begriffene Manuskript gelesen, begutachtet, und sich durch Einschaltung zahlreicher vertiefender, erläuternder und verschärfender Korollarien, die ich meist fast unverändert übernommen habe, in sehr selbstloser Weise ein verborgenes Denkmal gesetzt. Kein Spezialist wird dahinter kommen, wo in unserer auch hier bewährten Arbeitsgemeinschaft die Gedanken des einen anfangen, die des andern aufhören.“ Siehe auch Busch: Lebenslauf, 130 f. 420 Ernst Staehelin: Regungen evangelischen Lebens in der Schweiz, in: Die Eiche. Vierteljahresschrift für soziale und internationale Arbeitsgemeinschaft, hg. von Friedrich SiegmundSchultze, 9 (1921), 315–323.

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ihre Overbeck-Rezeption und Thurneysens Aufsatz „Die Aufgabe der Predigt“ ins Visier und fragte „wie notwendig und heilsam diese Todesbotschaft“ sei.421 Gegenüber einer exklusiven theologischen Konzentration auf die Lösung der „Not der Gottesfrage“ fordert Staehelin eine Hinwendung zu den drängenden sozialen Fragen422, wie sie beispielsweise in der neugegründeten Evangelischen Volkspartei und im Kreis der Religiös-Sozialen zu finden sei. Diese Bestandsaufnahme löste bei Thurneysen wohl auch deshalb Ablehnung und Betroffenheit aus, weil sie dem eigenen Selbstverständnis widersprach. Staehelin beschrieb die neue Theologie nämlich nicht als wesentlichen Beitrag zur Lösung grundsätzlicher theologischer Fragen, sondern problematisierte diesen Ansatz in auffallend deutlicher Weise. Deshalb schrieb Thurneysen an seinen Freund: „Ich fragte mich: Also so gänzlich verschieden sehen wir die Dinge? ! Ich empfand diese Zusammenschau von Kutter bis Wernle, von den Westlern mit uns als vollständig unmöglich, als geradezu tragisch und versprach mir wenig Gutes von diesem Versuch und s. Wirkungen. Aber ich weiss, dass Du diesen Versuch irgendwie machen musstest und durftest, und an Deiner Aufrichtigkeit zweifelte ich natürlich keine Sekunde. Ich weiß nicht wie Du heute die Dinge siehst.“423 Möglicherweise war Thurneysen in jener Zeit etwas dünnhäutig geworden, da ihm und Barth breite Kritik entgegentrat, wie sie sich beispielsweise in einer scharfen Rezension von Karl Zickendraht424 über Thurneysens „Dostojewski“ zeigte.425 Er spürte anscheinend eine gewisse Isolation innerhalb der kirchlichen und theologischen Lager, die ihm nicht behagte und erklärte: „Ich sehe kaum mehr die Möglichkeit, Rückwege nach diesen Lagern hin offen zu halten, ich sehe nur noch, dass die Brücken abgebrochen sind, und dass es gilt, vorwärtszugehen und klare Entscheidungen nach allen Seiten zu suchen. Auch gegen die Neuen Wege zu scheint mir der Weg völlig versperrt. Und für das Ganze unsrer Lage gilt, dass sie unheimlich stagniert. Nicht so sehr unten, aber sicher oben. Von Lebensregungen ist nicht viel zu sehen.“426 Umso mehr freute es ihn, als in Friedrich Gogarten „ein voller starker Bundesgenosse“427 auftauchte, der seinerzeit Pfarrer im thüringischen Stelzendorf war und auch Thurneysen besuchte. Seinem Amtsbruder Emil Brunner hingegen stand Thurneysen in den frühen 1920er Jahren kritischer gegenüber. Er warf ihm vor, merkwürdig rasch die Waffen zu strecken und nicht wirklich zu verstehen, worum es ginge: „Es ist irgendwie etwas brüchiges in ihm, kein zuverlässiges Gestein, grifflose Platten“, persönlich aber sei er

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Staehelin: Regungen, 321. Staehelin: Regungen, 321 f. Thurneysen an Ernst Staehelin, 3. März 1922. Zur Person siehe unten S. 385. Karl Zickendraht: Evangelium oder Nihilismus?, in: KBRS 37 (1922), 29–31. Thurneysen an Ernst Staehelin, 3. März 1922. Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 23. Mai 1921.

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„aufrichtig und gutherzig, und darum nicht ganz ohne Hoffnung“.428 Als Ragaz 1921 von seiner Professur zurücktrat, um sich zukünftig der Bildungsarbeit im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl zu widmen, kommentierte Thurneysen diesen Schritt recht bissig und drückte sein Unverständnis aus.429 Auch in anderen Zusammenhängen wird immer wieder offenkundig, wie weit sich Thurneysen von Ragaz distanziert hatte. Nach einem Vortrag von Ragaz in St. Gallen beispielsweise notierte Thurneysen markant: „Am Freitag redete Ragaz hier über Sozialismus und Christentum, bedauerlich uneinsichtig und eigentlich schwach, als ein zunächst jedenfalls Erledigter.“430 Zu seinen neuen Freunden zählten schließlich Pfarrer Georg Merz (1892–1959) und seine Frau aus München. Als Lektor beim Christian Kaiser Verlag und als Schriftleiter der Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ (1922–1933) war auch Merz an der Ausbildung der Dialektischen Theologie wesentlich beteiligt. Im Sommer 1921 nahm Thurneysen vor dem Umzug Barths noch möglichst häufig die Gelegenheit wahr, mit dem Freund zusammenzutreffen und der erinnerte sich an die zurückliegenden Jahre in Safenwil: „Es tut auch unsereinem fast weh: wie viel schöne, gute Stunden und Tage lagen wir doch an jenen Waldrändern! Wie viel gute, seltsame, ahnungsvolle, törichte und lustige Gespräche haben wir doch geführt in jenem Studierzimmer und unter jenem Apfelbaum! […] Es ist schon ein wenig zum heulen. Besonders wenn man die weite Fahrt bedenkt, die Karl nun antreten muss, während hart daneben, in Zürich und Bern Lehrstühle und Kanzeln freiwerden.“431 Als Barth vier Jahre später den Ruf ins westfälische Münster erhalten sollte, hatte sich Thurneysen längst an die Distanzen gewöhnt und erklärte: „Ich gönne es ihm, der preussische Staat hat damit bewiesen, dass er sich ihn nicht nehmen lassen will, sondern ihn halten möchte.“432 Trotz der großen Entfernungen blieb die Kommunikation recht lebendig. Die Briefe beispielsweise, die Barth an Thurneysen sandte, leitete dieser gelegentlich weiter an Pestalozzi, wo dann Abschriften angefertigt wurden.433 Auch Peter Barth war im Verteiler der Briefe. Im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre zeigte sich, dass Thurneysen die Freundschaft mit Ernst Staehelin immer wichtiger wurde. So war er sehr 428 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 23. Mai 1921. 429 „Ragaz – es kommt mir sein Schritt immer unbegreiflicher vor. Es scheint mir, als verlasse er nun nur die letzte Deckung und wage es, sich erst recht und in der Potenz – als ,Pfarrer‘ darzustellen und anzubieten – denn auf was anderes läuft die neue Stellung grundsätzlich hinaus?? Es erinnert mich dieser ,Ausbruch‘ an den illusionären Durchbruch des alten Tolstoj kurz vor dem Tode, nur dass dieser etwas von echter Tragik an sich hatte, um die sich Ragaz mit seiner und seiner Freunde Wichtigtuerei bereits gebracht hat.“ Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 8. Juli 1921. 430 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 13. November 1921. 431 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 8. Juli 1921. 432 Thurneysen an Fritz Lieb, 6. August 1925. 433 Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 29. Dezember 1921.

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dankbar, als Staehelin, der seit 1924 außerordentlicher Professor und seit 1927, als Nachfolger Wernles, Ordinarius für Kirchen- und Dogmengeschichte in Basel war, in den „Basler Nachrichten“434 1926 einen Vortrag von ihm „freundlich“ besprach. Seit 1941 waren die beiden dann auch Fakultätsmitglieder an der Basler Theologischen Fakultät. Der Kontakt mit Paul Wernle nahm in jenen Jahren deutlich ab, ohne ganz abzubrechen. Immer wieder sandte Thurneysen seinem schwer erkrankten Lehrer, der seit dem Sommersemester 1924 nicht mehr kontinuierlich lehren konnte und schließlich im Frühjahr 1927 von seiner Professur zurücktrat, Zeugnisse seines theologischen Arbeitens und Schreibens. Den letzten Brief von Wernle erhielt Thurneysen Ende Februar 1934 aus der Nervenheilanstalt Hohenegg in Meilen (Kanton Zürich). Zwei Jahre zuvor hatte Wernle seinen 60. Geburtstag feiern können, der sowohl von den „Basler Nachrichten“ als auch von der „NationalZeitung“ gewürdigt wurde.435 Wernle erscheint hier als eine über die engeren Theologenkreise hinaus anregende Persönlichkeit, die weit mehr als nur ein akademischer Lehrer gewesen ist.

434 Die „Basler Nachrichten“ warben Ende 1921 mit einer Annonce um Abonnenten und erklärten: Wir „vertreten sowohl auf baselstädtischem wie auf eidgenössischem Boden die Prinzipien eines entschiedenen Liberalismus und bekämpfen rückhaltlos und ohne Seitensprünge die anstürmende Sozialdemokratie“. Die Anzeige ist eingeklebt im Brief von Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 29. Dezember 1921. 435 Basler Nachrichten Nr. 188 vom 30. April/1. Mai 1932, 3. Beilage; National-Zeitung Nr. 199, 1. Mai 1932.

II. Curriculum vitae von Eduard Thurneysen (1911)1 „Ich, Eduard Thurneysen, wurde geboren am 10. Juli 1888. Mein Vater2 war damals Pfarrer in Walenstadt im Kt. St. Gallen. 1891 kam er an den Bürgerspital nach Basel, und so verlebte ich den grössten Teil meiner Jugendzeit in meiner Vaterstadt. Mit mir wuchsen noch drei teils jüngere, teils ältere Geschwister auf, sodass es mir in meiner Kindheit nie an guten Spielgefährten fehlte, und mir, als wir älter wurden, die mannigfachen Anregungen und Vorzüge zu Teil wurden, die aus dem wechselseitigen Erwachen der individuellen Interessen und Neigungen sich ergaben. Dass wir Kinder von früh auf auch zur Ehrfurcht vor den Dingen der Religion angehalten wurden, kann in einem Pfarrhaus als selbstverständlich gelten, und dass dies ohne alles Aufheben, in Einfachheit und Natürlichkeit geschah, bewirkte, dass es auch uns selber selbstverständlich und natürlich vorkam. Diesem Umstande [2] und einem gleichermassen einfachen Konfirmationsunterricht schreibe ich es hauptsächlich zu, dass es mir nie einfallen konnte, auch als mit den wachsenden Jahren Reflexion und Kritik erwachten, plötzlich von der ganzen, mir überkommenen religiösen Tradition gering zu denken, wie ich es gelegentlich schon an Andern beobachtet habe; sie trat mir zeitweilig sehr in den Hintergrund, aber ich zerfiel doch nie ganz mit ihr. Mit dem 6. Jahre kam ich in die öffentliche Primarschule, eine Zeit, an die ich gern zurückdenke, weil die geringen Ansprüche in Bezug auf häusliche Arbeit und der noch fast ländliche Charakter unseres Quartiers uns Kindern ein fröhliches und ungebundenes Leben gestatteten. Mit dem Gymnasium hörte diese Jugendfreiheit in steigendem Masse auf. Im vorgeschriebenen Alter wurde ich in die Kinderlehre zu Pfr. [3] Aug. Linder3 zu St. Peter geschickt und wäre auch bei ihm confirmiert worden, wenn er nicht infolge Altersbeschwerden vorher zurückgetreten wäre. So genoss ich den eigentlichen Konfirmationsunterricht bei seinem Nachfolger, Pfr. J. Probst.4 Dass dieser Unterricht einfach und ungekünstelt auf uns wirkte, habe ich schon hervorgehoben. Probst verstand es in hohem Masse, durch seine gemütvolle, frische, oft packende Art seinen Schülern die Unterrichtsstunden interessant und wertvoll zu machen. In den letzten Schuljahren brachte mich ein Aufenthalt in Würtemberg [!] mit dem bekannten Pfr. Chr. Blumhardt5 in Bad Boll in Berührung. Ich glaube ihn hier erwähnen zu 1 Der Lebenslauf befindet sich in den Akten der Konkordatsprüfungsbehörde im Staatsarchiv Zürich: StAZH, T 30.7 (Teil 51). Siehe zum Curriculum vitae oben S. 13. 2 Eduard Thurneysen. 3 August Linder. 4 Jakob Probst. 5 Christoph Blumhardt.

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müssen, weil die religiöse Kraft und Lebendigkeit dieses Mannes einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich hatte damals das Gefühl, es sei mir noch nie ein Mann von so grosser Ursprünglichkeit, Kraft [4] und ungebrochenen Einfalt des religiösen Empfindens entgegengetreten und noch nie so deutlich geworden, was es Grosses um einen Menschen ist, der auf seine eigene Weise zwar, aber ganz und rückhaltlos sein Leben nach Gott zu richten trachtet. Ich bin mir im Verlauf meines Studiums zwar auch über mancherlei Unhaltbares und Einseitiges in seinen Anschauungen klar geworden und habe vor Allem noch von andern Männern neben ihm tiefe und bleibende Eindrücke empfangen, habe aber doch die Achtung und Dankbarkeit seiner Persönlichkeit gegenüber nie verloren. Ich kann nun nicht behaupten, dass es mir immer festgestanden habe, ich wolle Theologe werden. Nach der Seite der Realfächer habe ich zwar, so sehr ich auch Freude z. B. an [5] Physik hatte, nie starke Neigungen gehabt; auch am klassischen Altertum zogen mich hauptsächlich die aesthetischen Werte an; dagegen hatte ich lange Zeit vor, Philosophie und Literatur zu studieren. Ich nahm freilich immer lebhaften innern Anteil an religiösen Fragen, aber die Befriedigung, die ich dabei empfand, war meist kleiner als der Eindruck der damit verknüpften Schwierigkeiten. Auch das Pfarramt erschien mir immer als etwas Grosses, aber ich trug starke Bedenken an meiner Befähigung dazu. Schliesslich siegte doch mein Interesse für die religiösen Dinge überhaupt und die Hoffnung, auch meine philosophischen Neigungen befriedigen zu können, und ich entschloss mich wenig Wochen vor der Maturität zum Theologiestudium und habe es nie bereut. Meine ersten 4 Semester verbrachte ich an der Universität [6] Basel. Wie natürlich traten die historischen Fächer stark in den Vordergrund des Interesses, die Kirchengeschichte6 voran; an ihr habe ich während dieser ganzen Zeit eigentlich immer am meisten Freude gehabt, daneben namentlich noch an den Vorlesungen von Prof. Duhm7. Im Ganzen bekam ich in steigendem Masse Lust am theologischen Studium überhaupt und ein tieferes, lebendiges Interesse für die Bewegungen und Fragen des religiösen Lebens, wie sie mir in den kirchengeschichtlichen Vorlesungen in ihrem historischen Werden und Wachsen entgegentraten. Ich glaube, dass es auch meinen Freunden und Mitstudenten so erging, und dass dieses starke innere Angezogensein vom Stoff des theologischen Studiums wohl ein grosser, ja, der beste Ertrag dieser vier ersten historischen [7]Semester ist, namentlich für einen, der wie ich von vorn herein an die Theologie mit einer starken Unsicherheit herangetreten war und anfangs im Stillen noch oft ans Umsatteln dachte. Dem systematischen Bearbeiten und Verstehen der Gedanken des Christentums waren die nach dem propaedeutischen Examen folgenden Semester vor allem gewidmet. Die beiden ersten davon verbrachte ich in Marburg. Von 6 Interessanterweise nennt Thurneysen an dieser Stelle noch nicht den Namen von Paul Wernle. 7 Bernhard Duhm.

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entscheidendem Einfluss wurde hier die Person Herrmanns8. Voranstellen möchte ich den grossen persönlichen Gewinn, einen Mann von solcher Kraft und Geschlossenheit des christlich religiösen Denkens und Erlebens wie Herrmann ein Jahr lang gehört zu haben und persönlich mit ihm bekannt geworden zu sein. Dass nur der eigene, wirkliche, lebendige Glaube an Gott selber [8] in allen Lagen unseres Lebens uns etwas helfen kann, und dass wir diesen Glauben uns doch nicht selber machen, suchen und ergrübeln oder allen möglichen religiösen Heroen alter und neuer Zeit ablauschen können, sondern als Christen immer wieder allein und ausschliesslich von Jesus empfangen dürfen, dass wir daher als Theologen nichts wichtigeres zu tun haben, als eben Jesus, oder wie Herrmann gern sagt, frei von allen historischen Einzelheiten „das innere Leben Jesu“ anzuschauen, d. h. uns immer wieder ins Evangelium zu versenken, oder kurz gesagt, dass das religiöse Leben zwar etwas ganz Persönliches, Eigenes, Autonomes sein muss, dass wir es aber doch nie aus unsrer kleinen und schwankenden Subjectivität schöpfen können, sondern allein aus dem Evangelium Jesu [9] empfangen müssen – diese Grundgedanken, die Herrmann im Anschluss an Luther durchführt, sind auch mir selber grundlegend wichtig geworden. Herrmann begründet diese Gedanken in ständiger Auseinandersetz[un]g mit Kant und der Marburger Kantschule. Das gab mir Anlass, mich eingehend mit Kant und den Marburger Kantianern Cohen und Natorp9 zu beschäftigen. An einem, allerdings nicht nebensächlichen Punkte habe ich bei Herrmann immer Anstoss genommen, nämlich an der absoluten Ablehnung aller Auseinandersetzung der religiösen Gedanken mit den übrigen Elementen des menschlichen Denkens. Es schien mir, die Verflochtenheit des menschlichen Geisteslebens lasse eine so erstaunliche Isolierung des religiösen Phaenomens, wie sie bei Herrmanns [10] Theologie tatsächlich vorliegt, einfach nicht zu. Ja, Herrmanns Behauptung, die Religion sei etwas absolut Individuelles, wissenschaftlich rein nicht Fassbares, der Inhalt der christlichen Offenbarung gehöre ausschliesslich dem Gebiet der praktischen Werte an und sei in der Dogmatik rein analytisch zu entwickeln, schien mir keine genügende Sicherung gegen den Vorwurf der subjectiven Illusion zu bieten, und daher der Ergänzung durch eine festere, transscendentale Begründung der Religion zu bedürfen. Für diese Herrmann fernliegenden Fragestellungen fand ich in den Schriften von Ernst Troeltsch ein grösseres Verständnis. Eine Zeit lang stand ich ganz unter ihrem Einfluss und entfremdete mich Herrmann sogar in hohem Masse. Schliesslich musste ich aber einsehen, [11] namentlich seit meiner Rückkehr nach Basel, dass Troeltsch allerdings in glänzender Weise Fragen stellen und Probleme aufweisen könne, von allen festen und klaren Lösungen aber doch weit entfernt sei, und dass, was er selber Positives zu 8 Wilhelm Herrmann. 9 Hermann Cohen und Paul Natorp.

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sagen hat, im Grunde nicht entscheidend über die von Herrmann in Nachfolge Ritschls10 geltend gemachten Grundgedanken hinausführe. Ich verdanke diese bessere und gründlichere Einsicht vor allem auch dem Einfluss von Prof. Mezger11 in Basel. An ihm trat mir bei entschieden Ritschlscher Orientierung doch ungleich viel mehr Weite und grösseres Verständnis für die vorhin berührten Fragen der Apologetik entgegen als bei Herrmann. Ich konnte übrigens auch beobachten, dass mir bei den in den letzten Semestern unternommenen praktischen Versuchen (in Predigt und Katechese) jedesmal die einfachen Gedanken [12] der Ritschlschen Schule sich besonders nahe legten und als verwendbar erwiesen, ein Beleg mehr für ihren wirklichen, lebendigen Wert. Ich habe so ausführlich von diesen Dingen geschrieben, wiewohl ich mir der Unvollkommenheit meines Verständnisses dieser schwierigen Fragen klar bewusst bin, weil sie mich lange Zeit beschäftigt haben. Im Ganzen habe ich, wenn ich das hier noch aussprechen darf, gerade bei der systematischen Theologie von heute den Eindruck einer verwirrend grossen Vielspältigkeit und Disparatheit der Meinungen: immerzu treten neue Gesichtspunkte und Fragestellungen auf, oder man sucht durch Neuausgraben alter Grössen (ich denke z. B. an Fries12) neue Wege zur Lösung der heute vorliegenden besonders ernsten Schwierigkeiten zu finden. Dies alles bewirkte [13] wenigstens bei mir das Gefühl einer gewissen Unsicherheit diesem ganzen Wissenschaftsgebiete gegenüber. In solcher Lage bin ich namentlich in meinen letzten Semestern besonders dankbar geworden für die einfache, objective, historische Darbietung und Beleuchtung der Person Jesu und des Paulus vor allem, wie ich sie bei unsern Basler Historikern, den Professoren Vischer und Wernle13 und in Marburg bei Jülicher und Heitmüller14 empfangen konnte. Auch die Geschichte der protestantischen Theologie (ich habe sie bei Prof. Wernle und Mezger gehört) ist mir in diesem Sinne wichtig geworden. Vor allem hat mir das eingehendere Studiums Schleiermachers, das mir erst im letzten Wintersemester in Basel durch gleichzeitige Vorlesung und Seminarien (Lektüre) bei Prof. Mezger und Vischer nahe gelegt wurde, dauernden Gewinn gebracht und die Anregung, mich [14] auch weiterhin mit Schleiermacher zu beschäftigen. Zum Schlusse möchte ich noch die unter Leitung von Prof. Handmann15 vorgenommenen homiletischen und katechetischen Übungen hervorheben; ich habe mit viel Freude dran teilgenommen, nicht weil ich mich für die praktische Darbietung besonders befähigt halte; im Gegenteil, nirgends trat mir stärker entgegen, wie viel ich noch zu lernen und vorwärtszukommen 10 11 12 13 14 15

Albrecht Ritschl. Paul Mezger. Jakob Friedrich Fries; zur Person siehe unten S. 371. Eberhard Vischer und Paul Wernle. Adolf Jülicher und Wilhelm Heitmüller. Rudolf Handmann.

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habe; aber ich empfand dabei doch besonders stark und klar, dass mit Schleiermacher zu reden, „der Beruf vom Grössten zeugen zu dürfen“ wirklich etwas besonders Hohes und Grosses ist. Und dass dieses „Grösste“ Jesus und sein Evangelium sei, dass daraus als aus den Quellen unsrer Religion immer wieder schöpfen, sich darein versenken und seine Gedanken durcherleben zu müssen, [15] Vorzug und Aufgabe des Theologen ausmache, ist die Erkenntnis, die ich als beste Frucht meines Studiums betrachte. Denn einzig weil ich zu solcher Erkenntnis gelangt bin, dass nämlich das Evangelium auch für uns stärkste Lebensmacht sei, und ich allein daraus und nicht etwa aus mir selber zu nehmen und weiterzugeben habe, kann ich trotz der eigenen Unvollkommenheit überhaupt wagen, es, falls das Examen gelingt, mit der praktischen Verkündigung zu versuchen auch in einer religiös unruhvollen und ernsten Zeit wie der heutigen. Dass diese Anregung und Lust zu praktischer Betätigung das schliessliche Ergebnis meines Studiums ist, daran bin ich selber freilich am allerwenigsten schuld, sondern an erster Stelle meinen akademischen Lehrern dafür zu bleibendem Danke verpflichtet. Nicht unerwähnt [16] möchte ich endlich lassen, dass ich als Mitglied des Zofingervereins durch alle die Semester hindurch im Verkehr mit Gleichaltrigen und Gleichstrebenden viel Freundschaft und geistige Anregung und Förderung genossen habe.

III. Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen Nr. 1. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 9. März 1909 NL 290: B 346, 11 Lieber Herr Thurneysen! Nach meiner etwas ruppigen Dankesäusserung heute abend möchte ich doch nach Einsicht in das Empfangene Ihnen sagen, wie sehr mich Ihr Geschenk erfreut und beschämt. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass sich die kleine Hilfe, die ich Ihnen angedeihen liess, von selbst verstand und dass wir Professoren unnütze Möbel sind, wenn wir nicht nach Kräften den Studenten behilflich sind, denn dazu sind wir ja da. Und darum betrachte ich Ihre Gabe allerdings als vollständig überflüssig und unnötig. Aber da es Ihnen Freude machte, sie mir zu geben, macht es mir auch Freude, sie zu bekom[men] und ich bitte Sie, auch den andern Herren meinen herzlichen Dank auszurichten. Kommen Sie doch allesammt, so weit Sie noch hier sind, am Mittwoch nach dem Essen zu mir zum schwarzen Kaffee! Es bedarf keines weiteren Berichts. Mit freundlichem Gruss Ihr P. Wernle

1 Nachlass von Eduard Thurneysen: Universitätsbibliothek Basel, NL 290. Alle im Folgenden zitierten Briefe von und an Thurneysen befinden sich in diesem Nachlass.

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Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen

Nr. 2. Postkarte2 E. Thurneysen an P. Wernle3 Poststempel: Marburg, 30. April 1909 NL 92: III A 13, 14 Verehrter Herr Professor, Nun als glücklicher Marburger sende ich Ihnen meine herzlichen Grüsse.5 Wir freuen uns alle Morgen aufs Neue auf die interessanten und genussreichen Stunden bei Herrmann6 und Jülicher7 vor Allem. Auf dessen neutest.[amentliche] Theologie sind wir übrigens durch Ihre Übungen so gut vorbereitet! Auch die Gegend ist prachtvoll. Herr Prof. Jülicher, dem ich heute einen Besuch abstattete, lässt Sie bestens grüssen. Da ich zufällig weiss, dass Sie morgen, am 1. Mai Ihren Geburtstag8 feiern[,] spreche ich Ihnen meine besten Glückwünsche aus. Ihr Ihnen stets dankbarer Schüler Ed. Thurneysen.

2 Ansichtskarte von Marburg (1906). 3 Die Adresse von Wernle lautete: Oberer Heuberg 33 in Basel. Wernle wurde am 14. Dezember 1900 zum Lektor des Frey-Grynaeischen Instituts berufen und übernahm das damit verbundene Lektorat im April 1901. Mit diesem Amt war die Wohnsitznahme am Oberen Heuberg 33 verbunden, wo Wernle bis zum Sommer 1936 lebte. Siehe dazu Thomas K. Kuhn: Theologischhistorische Leidenschaften: Paul Wernle (1872–1939). Eine Biographische Skizze, in: Andreas Urs Sommer (Hg.): Im Spannungsfeld von Gott und Welt. Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des Frey-Grynäischen Instituts in Basel 1747–1997, Basel 1997, 135–158, hier 139; ferner oben S. 33–35. 4 Nachlass Paul Wernle, Universitätsbibliothek Basel, NL 92. Die im Folgenden zitierten Briefe von und an Wernle befinden sich in diesem Nachlass. 5 Auf Empfehlung von Paul Wernle wechselte Thurneysen 1909, nach der Zwischenprüfung, dem so genannten „Propädeutikum“, nach Marburg. Dort hörte er vornehmlich Vertreter der liberalen Theologie wie Wilhelm Heitmüller, Wilhelm Herrmann, Adolf Jülicher, Martin Rade sowie den Neukantianer Hermann Cohen. Über die Zeit in Marburg gibt Thurneysens „Theologisches Tagebuch“ Auskunft, das am 24. Oktober 1909 einsetzt. Es ist als Band 2 gekennzeichnet, der erste Band befindet sich nicht im Nachlass von Thurneysen. 6 Wilhelm Herrmann. Zu den erwähnten Personen in den Briefen siehe die Biogramme unten S. 368–385. 7 Adolf Jülicher. 8 Wernle feierte seinen 37. Geburtstag.

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Nr. 3. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Marburg, den 17. November 1909 NL 92: III A 13, 2 Verehrter Herr Professor9, Verzeihen Sie, dass ich Ihnen erst jetzt für die Überraschung, die Sie mir mit der Zusendung Ihres Programms10 bereitet haben, herzlich danke. Ich habe eine grosse Freude daran und hoffe es nächstens in Angriff nehmen zu können und dabei wieder einmal einen Abstecher zu machen in die Reformation. Und nun will ich Ihnen ein wenig erzählen von unserm Tun hier in M[arburg]. Dass ich froh bin, wieder auf M.[arburg], gekommen zu sein, wissen Sie schon. Mein Freund P. Barth11 hat mich gleich beim ersten Zusammentreffen mit religionsphilosophischen Debatten überfallen, und weil es auch meiner eigenen Neigung entsprach, habe ich mich von Neuem mit diesen Grundfragen der systemat.[ischen] Theologie beschäftigt.12 Ich finde schon im Vergleich zu Peter Barth, der von Lüdemann13 her auch philosophisch geschult ist, noch so wenig principielle Klarheit meinerseits über die betreff.[enden] Probleme und so viel zu tun, dass ich für die Genüsse Berlins14 gar nicht reif wäre. Aber auch das Historische steht nicht zurück und wird wohl bald überhaupt in den Vordergrund treten: wir lesen im Seminar bei Jülicher das Commonitorium des Vincenz von Lerinum.15 Am liebsten höre ich Jülicher übrigens in der prachtvollen Exegese des lucan.[ischen] Sonderguts.16 Im 9 In dem „Theologischen Tagebuch“ II [40–45] von Thurneysen findet sich eine stenographische Abschrift des Briefes. 10 Paul Wernle: Calvin und Basel bis zum Tode des Myconius 1535 bis 1552. Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel, Tübingen 1909. Auf der Jahresversammlung des Schweizerischen reformierten Predigergesellschaft hatte Wernle zuvor auch über Calvin gesprochen: Paul Wernle: Calvins Bedeutung für die Gegenwart, in: Verhandlungen der Schweizerischen reformierten Predigergesellschaft. Fünfundsechzigste Jahresversammlung in St. Gallen 14., 15. und 16. Juni 1909, St. Gallen 1909, 32–66. 11 Peter Barth. Thurneysen bezeichnete ihn 1910 als „liebsten Freund“. So im Brief an Heinrich Gelzer, Marburg, 30. Januar 1910. 12 Zu diesen Debatten und zu den Gedanken Thurneysens siehe sein „Theologisches Tagebuch“. 13 Hermann Lüdemann. 14 Hier spielt Thurneysen wohl auf die personelle Besetzung der Theologischen Fakultät an, durch die ihm zu wenig philosophische Ausbildung zuteil wurde. 15 Vinzenz von L rins (gestorben vor 450 n. Chr.) war ein gallischer Theologe. Adolf Jülicher hatte die von Thurneysen erwähnte Schrift herausgegeben: Adolf Jülicher: Vincenz von Lerinum. Commonitorium pro catholicae fidei antiquitate et universitate adversus profanas omnium haereticorum novitates („Merkbuch“ für Alter und Allgemeinheit des katholischen Glaubens gegen die gottlosen Neuerungen aller Häretiker), Freiburg i. B./Leipzig 1895, Tübingen 21925. 16 Jülicher las im WS 1909/10: „Auslegung der blos-lukanischen Evangelienstücke“. Zu den Lehrveranstaltungen siehe die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Marburg.

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neutestamentl.[ichen] Seminar bei Heitmüller17 behandeln wir das vor- und nebenpaulin.[ischen] Urchristentum. Ich habe eine Arbeit übernommen über die Pneumatologie des jüdischen Urchristentums, wobei auf die Quellenscheidung Alles ankommen wird, habe aber noch nicht damit begonnen. Ich habe das Thema gewählt, weil mir die Frage schon in Ihren Übungen im letzten Winter interessant und wichtig vorgekommen war, sodass ich mich gern selbst einmal damit befasse. Prof. Rade18 liest ein feinsinniges 1st.[ündiges] Colleg über Schleiermacher und Herrmann endlich vertritt mit der alten religiösen Wärme und Energie seine wuchtigen Gedanken, die sich um das Erlebnis in der Religion drehen.19 Er hat aus Gesundheitsrücksichten erst später anfangen können; wir hoffen, er müsse im Winter nie aussetzen. Schliesslich aber haben wir noch die Aesthetik bei Cohen20 belegt nebst dem dazu gehörigen philosoph.[ischen] Seminar, ein Colleg, das mir äusserst wertvoll ist, weil man gerade für die philosoph.[ische] Methodik ungemein viel lernen kann. Aber auch persönlich empfinde ich die grösste Achtung vor dem Ernste, mit dem dieser Kantianer für die Wahrhaftigkeit im Denken und die Reinheit im Handeln eintritt. Wenn ich aus seinen Stunden komme, wird mir jeweilen von Neuem die schwierige Lage der Religion im heutigen Geistesleben bewusst. Jedenfalls wird mir immer klarer, dass wir mit Herrmanns supranaturalen Positionen den Ansprüchen der modernen Erkenntniskritik vor Allem gegenüber machtlos sind. Er entzieht, wie Troeltsch21 ganz richtig bemerkt, die Religion einfach jeder wissenschaftl.[ichen] Beurteilung.22 Er 17 Wilhelm Heitmüller. Das Thema des Seminars wird – wie auch in anderen Fällen – nicht im Vorlesungsverzeichnis benannt. 18 Martin Rade las samstags „Schleiermacher“. 19 Wilhelm Herrmann bot „Dogmatik II“ und ein unbetiteltes Seminar an. In seinem „Theologischen Tagebuch“ notierte Thurneysen am 4. November 1909: „Heute trägt Herrmann wieder s[eine] Religionstheorie vor. Es ist viel Richtiges darunter. Richtig ist vor Allem der Rückgang auf das eigene Erleben im Gegensatz zu allem dogmatischen Glauben. Aber Herrmann vergisst absolut nachzuweisen, woraus diese dem relig[iösen] Erleben eigene Selbstgewissheit kommt: Liegt nicht alle absolute Sicherheit u[nd] Notwendigkeit im Normativen, im Apriorischen? Nicht darin, dass wir eben absolut abhängig sind?“ [33]. 20 Hermann Cohen las „Aesthetik“ an drei Tagen „privatissime“ und bot dazu noch eine Übung an. 21 Ernst Troeltsch. 22 Ernst Troeltsch äußerte sich in seiner Replik an Paul Spieß über Wilhelm Herrmann: „Ich schätze Herrmanns Persönlichkeit aufs höchste und bewundere in seinen Büchern herrliche Stellen. Aber das Ganze habe ich bisher in seinem Zusammenhang noch nicht recht zu begreifen vermocht. Was ich an ihm begreifen kann, ist die Position eines exklusiv-supranaturalen Kirchenglaubens, der auf die wunderbare Offenbarungstatsache der Person Christi und auf die durch diese Person gestiftete Gnadengestalt, d. h. auf die in ihr Sündenvergebungsgewißheit und Erlösungsseligkeit besitzende Gemeinde, begründet ist; dieser Glaube kann daher in seiner lehrhaften Entfaltung nichts als die jeder wissenschaftlichen Beurteilung entrückte Gnadengewißheit auf Grund der natürlich nicht erklärbaren Tatsachen „Jesus“ aussprechen.“ Ernst Troeltsch: Zur Frage des religiösen Apriori. Eine Erwiderung auf die Bemerkungen von Paul Spieß, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 1913, 765. In diesem Aufsatz bezeichnet Troeltsch Herrmann aber auch als einen „unserer lebendigsten Erbauungsschriftsteller“ (768). Zur Auseinandersetzung siehe Joachim Weinhardt: Wilhelm Herrmanns Stellung in der

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isoliert sie, indem er sich ausschliesslich auf s.[ein] individuelles Erleben zurückzieht. Aber hat denn wirklich unser relig. Bewusstsein keine Beziehung zu den andern Inhalten unseres Bew.[usstseins]? Heisst denn „individuelle Gewissheit haben“ eines Gottes sicher sein, der in keiner Relation mit unserm Gesamtgeistesleben steht? Dann wäre auch die Religion dem Vorwurfe der Illusion schutzlos ausgesetzt und müsste sich, wie es ja die Marburger Kantschule behauptet, auflösen lassen durch die Logik (in Mythologie), die Ethik (in Sittlichkeit), die Aesthetik (in Stimmung etc). Soll das nicht zugegeben werden, dann gilt es mit den Methoden der Philosophie den Erkenntnisanspruch, die Behauptung jeder echten Religion, dass das menschl.[ichen] Bewusstsein in Verbindung sei mit einem transcendenten Gotte, zu rechtfertigen. Es muss eine specifisch religiöse Richtung des Bewusstseins fixiert werden. Die Relig.[ions]philosophie darf das Problem der Religion als ein eigenes nicht preisgeben. Das ist der Weg, den, wenn ich Troeltsch (sein Kantbuch lese ich eben)23 recht verstehe, Kant vorgezeichnet, aber nicht beschritten hat. Diese specifisch religiöse Bewusstseinsrichtung finden wir im Schleiermacherschen Abhängigkeitsgefühl: Religion ist die direkte Aussage des menschlichen Bewusstseins über „die creatürliche Situation des Menschen Gott gegenüber“. Der Gedanke hat etwas Überzeugendes. Denn nun ist die Religion nicht mehr ohne Anknüpfung an das übrige Bewusstsein, vielmehr ist das „religiöse Apriori“ in den übrigen Aprioris der Vernunft mitgesetzt: im Logischen als die Ehrfurcht vor der Wahrheit als etwas Absolutem; im ethischen Normbewusstsein ist dies Abhängigkeitsgefühl am Tiefsten mitgesetzt.24 Hier würde auch Herrmann zustimmen, auch er lässt die Religion die innigste Verbindung mit dem Sittlichen eingehen. Aber gerade darum lässt sich fragen: warum nur mit dem Sittlichen? Sind doch im Sittlichen die gewaltigsten Ansprüche und Aufgaben an das Gesamtbewusstsein gestellt. Damit haben wir jedenfalls die Einheit des Bewusstseins, um die sich Herrmann nicht kümmert, wieder gewonnen: der von der Religion behauptete Sachverhalt steht nicht nur nicht im Widerspruch zu den übrigen Erkenntnissen unseres Bewusstseins sondern wird von ihnen auch indiciert. Und sie wirken wieder, wie Troeltsch es einmal (in der „Cultur der Gegenwart“)25 fordert, klärend und reinigend auf unsere Ritschlschen Schule, Tübingen 1996; Brent W. Sockness: Against False Apologetics. Wilhelm Herrmann and Ernst Troeltsch in Conflict, Tübingen 1998. Siehe auch Johann Hinrich Claussen: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, Tübingen 1997, 268. 23 Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionssphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin 1904. 24 Siehe hierzu das „Theologische Tagebuch“ von Eduard Thurneysen II, [15]: „Troeltsch scheint das relig. Apriori als ein Apriori neben dem logischen, aesthetischen u[nd] ethischen constituieren zu wollen.“ Zu der lebendigen Debatte um den Begriff des „religiösen Apriori“, die Troeltsch ausgelöst hatte, siehe u. a. Friedrich Traub: Zur Frage des religiösen Apriori, in: ZThK 14 (1904), 181–199, sowie Karl Bornhausen: Das religiöse Apriori bei Ernst Troeltsch und Rudolf Ott, in: ZPPK 139 (1910), 193–206. 25 Hier handelt es sich um Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. Diese Studie erschien zwischen 1906 und 1922 und war ursprünglich als Teil des

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Religiosität zurück, mythologische Auswüchse oder sittliche Grenzüberschreitungen werden verhindert. Nun ist auch die Umdeutung der Gottesvorstellung in die Idee der Totalität, wie sie der immanente Idealismus (Cohen)26 vornimmt, verunmöglicht durch die aus unserer Vernunft selbst hervorgehende metaphysische Abhängigkeit des Menschen von einem bewusstseinstransscendenten Gott. Ebenso können wir von hier aus eine ganz andere Stellung als Herrmann zu den ausserchristlichen Religionen gewinnen, indem wir bereits im dumpfen Gefühl der Abhängigkeit von fremden Mächten bei den Primitiven religiöse Momente sehen. Und schliesslich überwinden wir den Herrmann’schen Dualismus zwischen dem „wahrhaft Wirklichen“ und dem „nur in der Natur Wirklichen“, dadurch dass wir mit dem gesamten Idealismus uns nur zu einer Wirklichkeit bekennen. Eines freilich ist bei dieser Auffassung unvermeidlich, eine Revision des Causalitätsbegriffs so wie ich ihn als allein kantisch z. B. von Natorp27 gefasst sehe; das Bewusstsein schliesst aus seiner Situation der Abhängigkeit, der „Causiertheit“ auf eine transscendente Causa. Dieser ketzerische Satz wird in glänzender Weise von Lüdemann in den protestantischen Monatsheften 189828 vertreten [freilich mit der feindseligen Art, wie dort die Polemik besonders gegen Ritschl, wenn auch, wie Troeltsch (im Kantbuch) meint, in „sachlich zutreffender“ Weise geführt wird, sympathisiere ich nicht]. Aber auch wenn man mit Troeltsch annimmt, dass die kantische Lehre eine monadologische Metaphysik zum Hintergrunde hat, muss man zu ähnlichen Resultaten kommen. – Unsere Gesamtvernunft muss die ihr von einem bewusstseinstransscendenten Gotte gesetzten Aufgaben verfolgen und wird sich in der Religion ihrer Abhängigkeit bewusst. Das ist kurz resümiert meine Meinung. In der Selbstanschauung durchbrechen wir den Ring, den der consequent immanent denkende Idealismus eines Cohen um unser Erkennen legt und gelangen so zu dem begründeten Ansatz – mehr nicht – zu einer Metaphysik. Neben diesem Indicium der Abhängigkeit, das aus den apriorischen Vermögen unsrer Vernunft erwächst, könnte man schliesslich noch verweisen auf die aposteriorischen Elemente unsrer Erfahrung, d. h. die uns gegebenen Empfindungen als einen weitern Hinweis auf unsere metaphysische Bedingtheit. Damit wäre der Religion eine normative Bedeutung gesichert neben und über den andern Aprioris der Vernunft, weil die Vernünftigkeit der religiösen Ideenbildung auf der Gesetzlichkeit unseres mehrbändigen Werks zur „Kultur der Gegenwart“ geplant. Siehe Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hg. von Volker Drehsen, Berlin 2004; zur Entstehungsgeschichte vgl. ebd., 39–80. 26 Vgl. Hermann Cohen: Werke, Bd. 7: System der Philosophie, 2. Teil: Ethik des reinen Willens, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv am Philosophischen Seminar der Universität Zürich, (2. Nachdruck der 2. rev. Aufl., Berlin 1907), Hildesheim u. a. 62002, 428–466. Im 9. Kapitel mit der Überschrift „Die Idee Gottes“ erläutert Cohen seine Gottesvorstellung. 27 Paul Natorp. 28 Hermann Lüdemann: Erkenntnistheorie und Theologie, in: PrM 2, 1898, 17–29, 51–65, 88–101, 129–141, 179–191, 208–215.

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Bewusstseins beruhte. Das Christentum nun – das ist mir in manchen Gesprächen mit Peter Barth vor Allem, von dem ich überhaupt viel gelernt habe, aufgegangen – stellt dieses Abhängigkeitsverhältnis in den Gedanken Jesu von der Gotteskindschaft und dem paulinischen von der Gnade Gottes am reinsten, ja schlechthin absolut dar. Im Übrigen habe ich mich freilich mit der Absolutheitsfrage noch nicht eingehender befasst. Selbstverständlich überschätze ich nun diese „Metaphysik“ nicht, indem ich – das halte ich von Herrmann absolut fest – keineswegs der Meinung bin, dass diese armseligen Gedanken über Religion irgendwie selber Religion seien oder sie erzeugen könnten. Auch Schleiermachers 2. Rede29 müsste ich ja ganz vergessen haben. Das Erwachen des religiösen Bewusstseins ist Geheimnis und Geschenk Gottes. Gott selber tritt in der Geschichte in das Leben des Einzelnen, vor Allem in der Tatsache der Person Jesu, hier lerne ich wieder aus den wundervollen Ausführungen Herrmanns,30 oder indem uns Gott in Menschen berührt, die sich der „Macht seiner reinen Güte“31 völlig hingegeben haben. Aber es bleibt uns, ohne dass der Reichtum der Geschichte preisgegeben würde, jedenfalls die directe Relation unseres Bewusstseins zum überweltlichen Gotte gesichert, was ich bei Herrmann, wenn er vom „Zugang zu Gott durch ein Mittel, das selbst wieder göttlicher Art ist“ (eben die Person Jesu)32 redet, nie ganz klargestellt finde. Das Verhältnis der Religion zur Geschichte33 und die Frage nach dem Zusammenhang der Religion mit den übrigen Inhalten des Bewusstseins, sind die zwei Punkte, die ich in der Art, wie sie Herrmann darlegt, nicht glaube halten zu können. Jedenfalls meine ich nun aber nicht, nur Apologetik im engen Sinne zu treiben mit diesen Versuchen, mich auseinanderzusetzen, sondern das, was ich als religiöses Gut vorfinde, auch für mich selbst zu erwerben und meiner Erkenntnis conform zu gestalten. Nun habe ich Ihnen das berichtet, was mich gegenwärtig am meisten beschäftigt. Dass es nur Versuche sind und als solche unfertig und unreif, weiss ich wohl. Ich freue mich aber auch, noch weiter lernen zu können. Vor Allem glaube ich, dass ein näheres Eintreten auf Schleiermacher not tun würde. Ich hoffe, Zeit dazu z.[u] finden. Im Übrigen geht es uns Allen gut; wir Schweizer verkehren dieses Semester auch mehr alle mit einander, als es leider im Sommer der Fall war. Und nun nochmals meinen herzlichen Dank für die freundliche Zusendung Ihres Programmes, aber ich bin Ihnen überhaupt für Alles, was ich immer im 29 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799. 30 Wilhelm Herrmann: Offenbarung und Wunder, Gießen 1908. 31 Sinngemäß Herrmann: Offenbarung, 10. 32 Zur Thematik siehe Herrmann: Offenbarung, 15–24. 33 In seinen „Theologischen Tagebuch“ II notierte Thurneysen am 27. Oktober 1909: „Religion u[nd] Geschichte ist jetzt das große Problem, das entgegentritt in allen system.-theolog. Debatten.“

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Verkehr mit Ihnen an Förderung erfahren habe, zu stetigem Danke tief verpflichtet. In der Hoffnung, dass es Ihnen gut gehe, grüsst Sie und Ihre werte Frau hochachtungsvoll Ihr Schüler Eduard Thurneysen. Peter Barth und Franz Zimmerlin34, ebenso Herr Lic. Bornhausen35 tragen mir beste Grüsse an Sie auf. Nr. 4. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 4. Dezember 1909 NL 290: B 346, 2 Lieber Herr Thurneysen! Ich habe Ihnen noch vielmal zu danken für Ihren Brief, in dem Sie mir einen so willkommenen Einblick in Ihr Marburgerleben & Ihre gegenwärtigen theologischen Gedanken geben. Ich bekomme recht selten solche Briefe von Studenten & darum weiss ich sie zu schätzen. Wie ich sehe, sind Sie mitten in der Auseinandersetzung HerrmannTröltsch begriffen & Ihr Freund Barth tut das seine dazu, dass Sie der Philosophie nicht zu leicht entwischen. Es liegt wohl auch in Ihrer eigenen Art, dass Sie das Bedürfnis nach Harmonie gerade des Religiösen mit dem Aesthetischen stärker empfinden & dass auch da[ru]m der Herrmannsche Dualismus Sie unbefriedigt lässt. Die Absperrung der christlichen Religion von allen ausserchristlichen & die Absperrung der Religion vom übrigen Geistesleben bei Herrmann fordern den Widerspruch besonders stark heraus & auch ich bin Tröltsch zu lebhaftem & bleibendem Dank verpflichtet, dass er so kräftig an der Ueberwindung dieser Schranken arbeitet. Es ist nur die Frage, ob wir mit diesem religiösen apriori aus der Schwierigkeit herauskommen. Da ist es schon fatal, dass jetzt eben die Göttinger36 von ihrem Fries37 her das apriori 34 Franz Zimmerlin und Peter Barth studierten gemeinsam mit Thurneysen in Marburg. 35 Karl Bornhausen stand kurz vor seiner Habilitation. Zu Bornhausen siehe Manfred Marquardt: Karl Bornhausen, in: Eilert Herms und Joachim Ringleben (Hg.): Vergessene Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1984, 104–126; Norbert Kapferer: Die Nazifizierung der Philosophie an der Universität Breslau 1933–1945, Münster 2001, 31–36. 36 Hier ist Leonhard Nelson und die von ihm 1904 begründete Neufriesische Schule gemeint, welche die Religionsphilosophie von Wilhelm Bousset und Rudolf Otto beeinflusste. 37 Jakob Friedrich Fries (1773–1843), in den herrnhutischen Erziehungsanstalten Niesky und Barby erzogen, wandte sich von der Theologie zur Philosophie; Promotion und Habilitation in Jena, wo er 1805 außerordentlicher und wenig später in Heidelberg ordentlicher Professor

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wieder an einem andern Ort finden wollen als Tröltsch & dadurch die Methode gerade bei Ihrem Beginn schon wieder sich spaltet.38 Aber selbst davon abgesehen scheint mir die Analogie der Erkenntnislehre auf den andern Gebieten, von der gerade Tröltsch ausgeht, auch etwas Irreführendes zu haben. In den andern Gebieten handelt es sich immer um den Gewinn einer allgemeingiltigen Erkenntnis, mit der die Wissenschaft sicher operieren kann. Dass die Voraussetzungen zu einer solchen in jedem m[en]schlichen Geistesleben enthalten sein müssen, liegt auf der Hand. Aber in der Religion ist bis heute gerade eine solche Allgemeingiltigkeit noch gar nie dagewesen & wir haben mit der Tatsache zu rechnen, dass eine immer grössere Menge Menschen zu gar keiner wirklichen Religion gelangt. Darum scheint mir, würde hier ein religiöses Apriori zu viel beweisen wollen. Tröltsch selbst in seinem Vortrag über diese Erkenntnislehre39, wo er den Ausdruck Rationalismus in seinem bestimmten Sinn dafür prägt, hat doch auch wieder das Gefühl, dass e[rst] durch die Aktualisierung in der Geschichte die wirkliche Religion zu stande komme, resp[ektive] auch nicht zu stande komme & weist damit auf die Schwierigkeit hin. Ich fände es sehr angenehm, wenn wir auf eine solche rel[igiöse] Urfunction des Menschengeistes sicher zählen könnten, indem darnach dann die empirischen Elemente des Lebens gewissermassen von selbst gestaltet würden. Aber die Wirklichkeit spricht mir nicht recht dafür. Ich frage mi[ch], ob dieser neue Rationalismus von Kant her nicht einfach eine kantische Umformung des ältern Rationalismus der angebornen Ideen ist & uns wenigstens inbezug auf die Religion nicht weiter hilft. Die empirische Psychologie wird immer streben dies rel[igiöse] Apriori wieder in ein empirisch gewordenes zu zerlegen & schon von daher ist die Sicherheit, die wir gewinnen, nicht gross. Aber sehen Sie nun einmal, wie weit Sie damit kommen. Das Streben, über das individuelle Erleben hinauszukommen, respectiere ich sehr & wäre gern dabei, wenn ich einen sicheren Weg sehen würde. wurde; 1816 Rückkehr nach Jena. Zu seinen bekannten Schülern zählt der Theologe Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), der u. a. auch in Basel lehrte. 38 Die Aktualität von Fries zeigt sich auch daran, dass er 1910 Gegenstand der „Preisfrage“ der Basler Theologischen Fakultät wurde: „Das religiöse Gefühl bei Schleiermacher und die Theorie der religiösen Ahnung bei Fries“; siehe dazu: Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Basel im Sommer-Semester 1910, Basel 1910, 15. 39 Es handelt sich um den Vortrag „Main Problems of the Philosophy of Religion. Psychology and Theory of Knowledge in the Science of Religion“, den Troeltsch auf dem „Congress of Arts and Science“ in St. Louis im September 1904 gehalten hatte. Er erschien stark erweitert unter dem Titel „Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft. Vortrag gehalten auf dem International Congress of arts and sciences in St. Louis“, Tübingen 1905. Siehe dazu Hans Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 181–184; 312–328; ferner Karsten Lehmkühler: Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschichtlichen Schule, Göttingen 1996, 48–50; 80–102. Siehe auch Friedrich Lohmann: Naturrecht und Partikularismus. Grundlegung christlicher Ethik mit Blick auf die Debatte um eine universale Begründbarkeit der Menschenrechte, Berlin/New York 2002, 34–58.

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Aber es graut mir fast, was ich Ihnen da Philosophisches geschrieben habe, denn mein Gebiet ist das nicht, ich habe selber Mühe, dem, was andere da erarbeiten, mit halbem Verstehen zu folgen. An Tröltsch verehre ich am meisten, wie er mit den gewaltigen Fragen ringt & eigentlich nie fertig wird. Da hatten es unsre Altliberalen40 viel leichter. Tröltsch kennt eben die wirkliche geschichtliche Religion mit allen ihren Irrationalitäten so ausgezeichnet & ist dadurch vor dem sie Einfangen-Wollen mit leichten festen Formeln bewahrt. Es ist geradezu fabelhaft, wie er in [der] Geschichte aller Jahrhunderte bewandert ist, kein Kirchenhistoriker hätte von ferne so über den Protestantismus schreiben können wie er. Ich habe wieder für mein Colleg viel darin gelesen & bin immer aufs neue einfach erstaunt. Es muss einen förmlich demütigen. Uns geht es hier gut wie immer bis herab zur Katze, die in ihrem schönsten Winterpelz strahlt. Bloss leide ich darunter, dass ich mich meinen Studenten so wenig widmen kann & zwar wegen des Katarrhs, der sich in Pausen immer wieder einstellt & mir das Spazieren mit Begleitern verbietet. Offenen Abend habe ich auch zum teil deshalb noch nicht angefangen. So sehe ich auch Ihren Bruder41 nicht so oft wie ich möchte. Er macht mir immer Freude im Seminar, da er so furchtlos ist & auch einen herzhaften Bocksprung nicht scheut, wie es recht ist. Quälen Sie sich ja nicht zu sehr ab an meinem Programm42, ich bekam eine solche Menge zum Verschenken, dass ich die Opfer überall suchte & so auch Si[e a]ls eines ausersehen habe. Aber es braucht durchaus nicht gelesen zu werden. Den andern Herren in Marburg habe ich es nicht geschickt, weil ich fürchtete, es ihnen aufzudrängen. Im Sommer werde ich wieder NTliche [neutestamentliche] Uebungen haben, weiss aber noch nicht recht, worüber. Wenn Sie hier sein werden & einen bestimmten Wunsch haben, so nennen Sie mir ihn doch bitte. Es muss aber etwas aus den Evangelien oder aus Paulus sein & womöglich sollte ich etwas nehmen, an dem die Jüngern auch teilnehmen können.43 Gestern hörten wir einen ausgezeichneten Vortrag von Pfarrer Schmidt44 40 Damit sind die Vertreter des theologischen Liberalismus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint. Siehe dazu Manfred Jacobs: Liberale Theologie, in: TRE 21, 47–68. 41 Der drei Jahre jüngere Bruder Peter Wilhelm Thurneysen studierte zunächst in Basel Theologie und wechselte ebenfalls nach Marburg. 42 Siehe oben Anm. 10. 43 Wernle bot „Die Hoffnung bei Paulus“ als neutestamentliche Übung an; siehe dazu das „Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Basel im Sommersemester 1910, Basel 1910, 3. 44 Theodor Schmidt war Anhänger der religiös-sozialen Bewegung und setzte sich immer wieder mit sozialen Fragen auseinander. Er veröffentlichte dazu in der „Christlichen Welt“ und den Beitrag: Kirche und soziale Frage, in: Unsere Kirche, worauf sie ruht und was sie soll. Vier Vorträge zur Besinnung und Verständigung, hg. von den Freunden der Neuen Wege in Basel, Basel 1911, 57–86. Dieser Band umfasst weiter Beiträge von Leonhard Ragaz: Was ist uns Jesus Christus? (5–33), Paul Wernle: Warum nennen wir uns Protestanten? (35–56) und Rudolf Liechtenhan: Kirche, kirchliche Parteien und Reich Gottes (87–109).

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aus Bern über die soziale Käuferliga45 & das hat zur Folge, dass ich in meinem Gewissen geweckt Ihnen diesen Brief nicht auf den Sonntag schicke, sondern erst auf Montag. Ob ich aber künftig immer so brav sein werde, weiss ich noch nicht. Solche Fragen greifen ungeheuer in den eingewurzelten Individualismus ein, über dessen Stärke man erst bei solchem Anlass sich klar wird. Grüssen Sie mir von Herzen die andern Schweizerfreunde46, auch Herrn Barth47, an dessen Reisebe[gle]itung ich gern zurückdenke, Herrn Zimmerlin, Holzer[,]48 Buhofer49 & wer sonst noch dort ist von mir Bekannten. Und geniessen Sie recht Ihr schönes freies sorgenloses Leben in Marburg mit den vielen reichen Anregungen, die Sie so nirgends vielleicht wieder finden. Meine Frau & ich grüssen Sie von Herzen P. Wernle Nr. 5. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Marburg, den 17. Dezember 1909 NL 92: III A 13, 3 Verehrter Herr Professor, Ihr freundlicher Brief hat mir grosse Freude gemacht; ich danke Ihnen herzlich dafür. Es tut mir leid, dass ich Sie an Weihnachten nicht besuchen kann; ich bin für die Ferien nach Berlin eingeladen. So komme ich doch dazu, diese Centrale des modernen Lebens selber zu sehen. Aber Peter Barth freut sich, Sie in diesen Ferien aufsuchen zu können; er kommt wahrscheinlich für ein paar Tage von Bern nach Basel. Wir sind Ihnen beide besonders dankbar dafür, dass Sie so freundlich auf unsere systemat.[ischen] Interessen eingegangen sind. Gerade hier in Marburg findet sich etwa eine Art von HerrmannOrthodoxie, die schlechterdings die Anregungen eines Troeltsch oder eines 45 Die Soziale Käuferliga, ein Käuferbund, ging aus einer Initiative des Bundes schweizerischer Frauenvereine hervor und wurde am 1. Februar 1906 in Bern gegründet. Siehe dazu Hellmuth Wolff: Die Soziale Käuferliga. Zur Einführung in ihre Aufgaben, Zürich 1908; ferner Gudrun M. König: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar 2009, 311–316. 46 Im Sommer 1908 waren über 15 Schweizer Theologiestudenten in Marburg, siehe dazu Busch: Lebenslauf, 57. 47 Hier ist Peter Barth gemeint, der im Spätsommer 1909 nach Marburg kam und Martin Rades Bibliothek einrichtete; vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Barth und Rade (Briefe vom 20. August 1909 und 21. September 1909), in: Barth – Rade, 65–67. 48 Christian Holzer. 49 Fritz Buhofer.

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Lüdemann nicht ernst nehmen will. Ich selbst sage mich keineswegs von Herrmann los; ich habe den tiefsten Respekt vor seiner relig.[iösen] Persönlichkeit und glaube das Wertvolle von ihm auch bei der neuen Orientierung nicht preiszugeben.50 Nun ist mir die religiöse Frage viel zu viel zum Erkenntnis- und Wahrheitsproblem geworden, als dass ich mich für die Geltung relig.[iöser] Gedanken bei der Berufung auf das individuelle Erlebnis beruhigen könnte. Der Ausdruck „religiöses Apriori“ scheint mir auch etwas irreführend. Ich verstehe Troeltsch51 immer so, dass er damit nicht ein den übrigen, Inhalte erzeugenden, Vermögen unsrer Vernunft analoges bezeichnen will, sondern eher eine Disposition unseres Bewusstseins für das religiöse Erlebnis, eine Anlage. Gott selber actualisiert sie gewissermassen – das ist das stets geheimnisvolle religiöse Erleben. Erst damit entsteht Religion, aber auch erst damit erreicht die menschliche Gesamtvernunft ihren letzten Abschluss und tiefsten Sinn. Vielleicht misverstehe ich Troeltsch. Jedenfalls scheint er mir ungleich viel entschlossener zu den Positionen des deutschen Idealismus zu stehen, indem er die Zusammenhänge im Gesamtgeistesleben aufrechterhält, die Herrmann der Religion zu Liebe glaubt opfern zu müssen. Er versteht unter Idealismus nicht nur das doch im Grunde rein Negative der Idealität von Raum und Zeit und Categorieen, sondern eine starke geistige, metaphysische Position. Den Schwung und die Kraft eines freilich stark kritischen und starr bewusstseinsimmanent bleibenden Idealismus lernen wir hier gerade auch in Cohens System kennen. Mir ist neben Anderem an ihm besonders wichtig geworden, dass er mit so tiefem Ernst auf der Reinheit der Wissenschaft, der Sittlichkeit und der Kunst besteht. Mit souverainer Verachtung behandelt er die Art von Aesthetenvolk, das sich auch nur den geringsten Verstoss gegen die Erhabenheit z. B. der sittlichen Maxime glaubt leisten zu dürfen, oder das Moral, Religion, Wissenschaft in aesthetische Stimmung auflösen will und damit uns seine philosophische Uncultur documentiert. Es ist mir nun endlich hinreichend deutlich geworden, was für schwere Gefahren gerade die Eigenart der Religion bedrohen, wenn sie liebäugelt mit der Kunst. Aber ich möchte Sie nicht länger hinhalten; ich glaubte jedoch Ihren gütigen Brief auch in aller kürze beantworten zu dürfen; ich hoffe, Ihnen gelegentlich wieder von unserm Leben und Treiben in Marburg erzählen zu können. Im nächsten Sommer werde ich in Basel sein und freue mich schon jetzt auf Ihre Vorlesungen, vor Allem die neutestamentl.[ichen] Übungen. Ich habe seinerzeit viel mehr Freude daran gehabt als jetzt an den neutest.[amentli50 In seinem „Theologischen Tagebuch“ II berichtet er am 1. Dezember 1909: „Mit Herrmann spazieren gegangen. Wir einigen uns ordentlich.“ 51 Zu Troeltsch schreibt Thurneysen in seinem „Theologischen Tagebuch“ II am 28. Febuar 1910: „Ernst Troeltsch ist oft noch etwas zu sehr Rationalist, cf. s. Aufsatz ,Luther und die moderne Welt‘. Im Ganzen ein glänzenderer Historiker als ein Systematiker.“

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chen] Seminaren hier bei Herrn Prof. Heitmüller. Seine rein philologischkritische Methode lässt mich eben meist unbefriedigt, weil sie an sich gewiss nicht minder subjectiv ist als eine andere und mir jedenfalls nicht auszureichen scheint für das eigentliche Erfassen geschichtlicher Wirklichkeit. Meine Freunde urteilen ebenso; trotzdem ist es natürlich sehr interessant, mit dieser Methode einmal zu arbeiten. Ich habe mit Holzer gesprochen wegen eines Themas, und wir haben beide gefunden, dass uns, nachdem wir nun zwei Semester lang Stoffe aus den Evangelien und dem Judenchristentum behandelt haben, Paulus besonders not tun würde. Ich danke Ihnen nochmals herzlich für Ihren uns wertvollen Brief und wünsche Ihnen einen guten Übergang ins neue Jahr. Mit hochachtungsvollen, herzlichen Grüssen an Sie und Ihre werte Frau Ihr Ihnen stets dankbarer Schüler Ed. Thurneysen, theol. Nr. 6. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Langenbruck, 29. Juli 1910 NL 92: III A 13, 4 Verehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen und Ihrer werten Frau nochmals herzlich für die grosse Freude, die Sie mir mit Ihrer freundlichen Einladung nach Brigels gemacht haben.52 War auch das Wetter nicht immer günstig, so habe ich doch die Berge genossen und vor Allem täglich mit Ihnen verkehren können. Und so weiss ich mich schliesslich wieder mit neuer Freude in der alten Verpflichtung zum Danke, die wir Studenten überhaupt Ihnen gegenüber stets besonders tief empfinden. Ich weiss auch, dass für den, der bei Ihnen lernen und verkehren kann, in besonderer Weise die Verpflichtung erwächst, soviel an ihm liegt, etwas Rechtes und Ganzes zu werden und freue mich, dieses Gefühl der Verpflichtung allem Guten und Grossen gegenüber gerade von Brigels wieder von Neuem mitgenommen zu haben. Meine Reise ist gut verlaufen. Sie sind gewiss auch vom Regen verschont geblieben und haben hoffentlich im Übrigen auch von unserm letzten Ausflug 52 Brigels/Breil liegt im Kanton Graubünden im Bezirk Surselva. Wernle hatte Thurneysen für eine Woche nach Brigels in die Ferien eingeladen. Thurneysen war dort ab dem 18. Juli 1910; siehe dazu sein „Theologisches Tagebuch“ IV unter diesem Datum.

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auf den Kistenpass53 keine üblen Folgen mehr verspürt. Ihre Grüsse habe ich in Zürich Frau Wernle ausrichten können. Meine Eltern und Geschwister traf ich alle wohl. Vater und Mutter und mein Bruder lassen Sie bestens grüssen. Gestern abend konnte ich auf dem Helfenberg54 die Tödigruppe55 von ferne grüssen und habe wieder rechte Freude am Jura gehabt. Seien Sie mit Frau Professor, Frau Liechtenhan56, Evi57 und Hans58 herzlich gegrüsst von Ihrem Ihnen stets dankbaren Schüler Ed. Thurneysen. Nr. 7. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Brigels, den 31. Juli 1910 NL 290: B 346, 3 Lieber Herr Thurneysen! Wir haben ganz geblangt59, etwas von Ihnen zu hören, nachdem wir Ihre Gesellschaft entbehren mußten. Ich denke mit so großer Freude an die Tage mit Ihnen zurück und Sie fehlen mir eigentlich. Es war schön, mit Ihnen zu gehen und mit Ihnen zu plaudern und beides vermisse ich seitdem. Am Mittwoch hatte ich in Dutgyen60 bei meinem Freund Hartmann61 einen schönen Tag und kam erst 12 10 zu Fuß wieder nach Brigels. Am Donnerstag war der letzte Tag für meine Schwiegermutter; da lagerten wir im Grünen herum. 53 Der Kistenpass (rätoromanisch: Pass Lembra) verbindet Linthal im Glarner Hinterland mit Brigels im Bündtner Vorderrheintal. 54 Berg im Solothurner Jura. 55 Höchstes vergletschertes Gebirgsmassiv der Nordostschweiz mit den drei Gipfelkuppen Piz Russein (3614 m), Glarner Tödi (3586 m) und Sandgipfel (3390 m) auf der Kantonsgrenze zwischen Glarus und Graubünden. 56 Die Schwiegermutter von Paul Wernle war Rahel Elisabeth Liechtenhan, geb. Burckhardt (1852–1932). 57 Person konnte nicht identifiziert werden. 58 Hans Christian Wernle. 59 „Blangen“ ist die Kurzform von „belangen“ und bedeutet. „verlangen, sich sehnen“. Das Wort ist heute ungebräuchlich, lebte aber v. a. in der Schweiz noch lange fort. Siehe: Grimm, Bd. 1, 1436. 60 Dutgien (Dutjen) in Graubünden zur Kirchengemeinde Valendas gehörig. 61 Benedikt Hartmann. „Er hat entscheidend an den Graubünden betreffenden Partien des großen Werkes seines Freundes Paul Wernle über die Kirchengeschichte der Schweiz im 18. Jahrhundert mitgearbeitet“; siehe dazu den „Pfarrer-Kalender“ 1956, Nekrologe, 9–11, hier 10. Siehe auch Mattmüller I, 130. Hartmann verfasste später anlässlich des ersten Todestages von Paul Wernle den Artikel „Zum Todestag Paul Wernles“, in: KBRS 96 (1940), 117–121, in dem er Wernles theologische Arbeit „als Ganzes“ zu würdigen beabsichtigte (117).

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Am Freitag ging ich dann mit Edi62 auf Kistenpaß und Kistenstöckli.63 Aber wenn ich Ihnen gegenüber mir oft als alter Mann vorkam, fühlte ich mich bei Edi als Jüngling mit einem Greis; ich habe ihn förmlich heraufziehen müssen. [Anmerkung am Seitenende:] Ich möchte das aber nicht weiter verbreitet haben. Wir suchten freilich zuerst die Passage an falscher Stelle rechts vom Gans d’armes64 statt links. Oben auf dem Stöckli sieht es aus wie ein ebener Exerzierplatz. Die Aussicht gegen den Tödi war besonders fein. Wenn Sie es doch auch so getroffen hätten! Abends, nachdem wir zu Hause waren, kam dann schon wieder Gewitterregen. Gestern Samstag habe ich mit Hans65 die Ruine Grottenstein66 gesucht und mühsam gefunden; sie ist in einen gegen den Rhein überhängenden Felsen hinein gebaut und war für mich unzugänglich; Sie hätten schon den Weg hinein gefunden. Dabei verlor ich meinen Pfarrkalender mit Boussets67 Brief und wichtigen Notizen und fand ihn heut an der Stelle wieder zum Trost für mein Gemüt. Das Wetter ist immer gleich unbeständig, aber man kann viel draußen sein. Für Sie gehn nun die Ferien rasch zu Ende. Sie dürfen aber auch in Basel das Spazieren nicht vergessen. Ich hoffe, daß Sie mich nie als Gegner eines mutigen scharfen Denkens im Sinn behalten. Christlicher Glaube und idealistische Philosophie gehören ganz nahe zusammen, dabei wird es bleiben. Und wie Sie sagten, es gibt von mehr als nur Einem Punkt Wege zu Gott. Mir liegt nur daran, daß der Gl[au]be auch sein eigenes Leben, seine eigenen Kämpfe und eigenen Herrlichkeiten hat im Gebiet des ganz Persönlichen, darum Irrationalen und Wunderbaren. Und darin immer fester und tiefer heimisch zu werden, scheint mir das längste Leben noch zu kurz. Ich hoffe, Sie können meine Zeilen erraten und preisen mit mir den Erfinder der Schreibmaschinen.

62 Eduard August Liechtenhan; Schwager von Paul Wernle. 63 Auffälliger, abgeflachter Felsklotz (2746 m) auf dem Sattel zwischen Kistenpass und Bifertenstock in den Bündner und Glarner Alpen. 64 Lesart unsicher. 65 Der Sohn Hans Wernle. 66 Die Burg Grottenstein ist eine Burgruine in der Gemeinde Haldenstein im schweizerischen Kanton Graubünden. 67 Wilhelm Bousset. Zum Briefwechsel zwischen Bousset und Wernle siehe Karsten Lehmkühler: Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschichtlichen Schule, Göttingen 1996, 76 f.; 79 f. Zur Freundschaft zwischen Wernle und Bousset siehe: Özen: Bousset, 174–191.

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Herzl[iche] Grüße an die Ihrigen und speziell Ihren lieben Bruder. Auf Wiedersehen in Basel Ihr P. Wernle Auch an Dr. Burckhardt68 herzliche Grüße! Nr. 8. Brief Emilie Thurneysen-Hindermann an P. Wernle Pension Bachthalen, bei Langenbruck69, den 2. August 1910 NL 92: III A 13, 76 Sehr geehrter Herr Professor, Von ganzem Herzen möchte ich Ihnen und Ihrer l.[ieben] Frau danken, für die schönen Tage, die unser Edi70 bei Ihnen zubringen durfte. Er war so überaus glücklich bei Ihnen. Ich kann gar nicht sagen wie dankbar ich bin, dass Edi und Peter bei Ihnen so viel Halt und Liebe erfahren dürfen und Sie sie so treu führen. Unser Edi der so viel grübelt und Alles mit seinem Denken ergründen will hatt’s so nöthig[,] dass er so treue Leiter hat, die ihn verstehen, auch in dem wo er selbst noch unklar ist. Er wird wohl immer allein durch’s Leben gehen müssen, aber er ist so dankbar[,] dass man mit ihm fühlt. Im Grund seines Herzen schlummert eben doch ein ganz einfacher, kindlicher Glaube, wenn er’s auch noch nicht zu gibt. Peter hat’s viel leichter, er ist keine Kampfesnatur und macht sich nicht so viel Bedenken. Er wird innerlich und äusserlich viel mehr Kind bleiben. Ich freue mich über Beider Werdegang. – Was Sie und Ihre l.[iebe] Frau unserm Edi und Peter sind[,] kann ich Ihnen gar nicht aussprechen. Könnte ich Ihnen nur ein wenig entgelten[,] was unsre Beiden an Liebe und Treue seit Jahren in Ihrer l.[ieben] Familie erfahren dürfen.

68 Paul Burckhardt. 69 Kanton Basel-Landschaft. 70 Kosename für Eduard Thurneysen.

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Wir wünschen Ihnen noch recht schöne Tage und grüssen Sie und Ihre l.[iebe] Frau herzlich. Von Herzen Ihre E. Thurneysen-Hindermann71 Nr. 9. Brief P. Wernle an E. Thurneysen [?], den 1. Januar 1911 NL 290: B 346, 4 L. H. Thurneysen! Es ärgert mich, daß ich Ihnen heut von Interna der Neuen Wege72 erzählte, die man für sich behalten sollte. Ich möchte vor allem nicht, daß durch ein Weitergeben derselben das freundschaftliche Verhältnis meines Schwagers73 zu Ragaz74 getrübt würde. Sie gehn ja in Frieden aus einander und mein Schwager bleibt Mitarbeiter, hofft sogar, es besser sein zu können als vorher.75 Solche 71 Emilie Thurneysen-Hindermann (1860–1934), die Stiefmutter von Eduard und Peter Thurneysen, schrieb diesen Dankesbrief. 72 Die Zeitschrift „Neue Wege“ erschien seit 1906 als Organ der religiös-sozialen Bewegung und wurde bis 1945 vornehmlich von Leonhard Ragaz geprägt. Siehe dazu Ruedi Brassel-Moser: Art. Neue Wege, in: HLS 9, 198. Willy Spieler, Stefan Howald, Ruedi Brassel-Moser: Für die Freiheit des Wortes. Neue Wege durch ein Jahrhundert im Spiegel der Zeitschrift des Religiösen Sozialismus, Zürich 2009. 73 Rudolf Liechtenhan, der Bruder von Wernles Frau, war eng mit Wernle befreundet, Mitbegründer der Zeitschrift „Neue Wege“ und Mitglied der Vereinigung antimilitaristischer Pfarrer. Er zählte zusammen mit Ragaz und Benedikt Hartmann zur ersten Redaktion, nachdem er zuvor Redaktor beim „Kirchenblatt für die reformierte Schweiz“ gewesen war. Zur Person siehe Spieler: Freiheit, 18 f. 74 Leonhard Ragaz. 75 Rudolf Liechtenhan trat dann allerdings im Januar 1912 aus der Redaktion der „Neuen Wege“ aus; schon 1910 war Benedikt Hartmann ausgeschieden. Innerhalb der Redaktion gab es beträchtliche Meinungsverschiedenheiten in religiöser, sozialer und politischer Hinsicht. Hartmann beklagte auf seinen Austritt rückblickend in einem Brief an Ragaz, dass die „Neuen Wege“ „zu sehr nur einen Weg beschreiten […] Mein Ideal ist aber heute noch die Synthese von Socialismus und Bürgerthum“; zitiert bei Mattmüller I, 183. Auch Paul Wernle verließ den Redaktionskreis. Er monierte 1929 rückblickend, dass die Zeitschrift „durch Ragaz ihren parteilosen Charakter verloren [habe] und Ragazisches Sozialistenblatt“ geworden sei; Wernle: Autobiographie, 250. Liechtenhan blieb nach seinem Rücktritt aus der Redaktion jedoch eng mit ihr verbunden, ließ aber die Spannungen mit Ragaz erkennen: „Auch seine Freunde haben nicht alle seine Wege mitgehen können, und es ging oft nicht ohne für ihn und die anderen schmerzliche Auseinandersetzungen, wenn sie sich seinem starken Geist gegenüber ihre Selb-

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Menschlichkeiten sind ja schade, aber man darf sie nicht aufbauschen und schlimmer machen. Sie verstehen mich. Das Zusammensein mit Ihnen heut war mir eine liebe Erinnerung alter Zeiten. Leider! Ich beneide Sie darum, wie Sie ein Sehnsuchtsmensch sind. Ich sehe den lieben Gott zu viel hinter mir, zu wenig vor mir. Er ist aber beides und darin liegt alles Leben. Mit herzl[ichem] Gruß Ihr P. Wernle Sie sehen, wie wertvoll eine Schreibmaschine ist. Nr. 10. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 7. April 1911 NL 290: B 346, 5 Lieber Herr Thurneysen! Zu meiner Verwunderung ist in den Neuen Wegen der Passus, von dem ich Ihnen gestern sprach & den ich schon gedruckt gelesen hatte, nicht zu lesen, er ist also zurückgezogen worden in letzter Stunde[.] In diesem Fall liegt mir daran, dass er auch als nicht existierend betrachtet wird & ich möchte Sie bitten, ihn der Nicht Existenz zu übergeben. Ueber Schöpfung & Schöpferglauben müssen wir ein andermal weiter reden. Ich kann mir nicht denken, dass Sie sich die Tragweite überlegt haben. Für den Christen jedenfalls erhebt sich jede Aufgabe auf Grund der Gabe & der mit ihr gegebenen ursprünglichen Zugehörigkeit alles Seins zu Gott. Und dara[uf] beruht dann auch die ganze K[ind]estellung des Menschen, seine Freude am Natürlichen & seine unendliche Dankbarkeit für jeden Atemzug & jeden Sonnenschein. Ich kann Sie wohl verstehen von Kant aus, aber das hängt zusammen mit Kants grösster Schwäche, wie mir scheint, mit dem gleichen Grund, aus dem er es zu keinem Abhängigkeitsgefühl & zu keiner wirklichen Religion brachte. Sie müssten einmal mit Pfarrer Greyerz76 zusammen sein & sich von ihm sagen lassen, welchen Grund wir haben Gott für einen gesunden Dickdarm zu danken. Doch davon ein andermal, ich vermute, dass Ihr Denken ständigkeit zu wahren suchten.“ Rudolf Liechtenhan: Die Anfänge der „Neuen Wege“, in: NW 40 (1946), 184–188, hier 187 f.; ferner Mattmüller I, 183; 313, sowie Spieler: Freiheit, 22. 76 Karl von Greyerz. Lebenslauf und Bibliographie, in: Karl von Greyerz: Briefe, eingeführt von Oscar Moppert, Bern 1953, 331–333.

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da auch andere Wege geht als Ihr ursprüngliches Empfinden & dass letzteres allein Recht hat. Mit herzlichen Gruss Ihr P. Wernle. Nr. 11. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Basel, den 7. April 1911 NL 92: III A 13, 677 Verehrter Herr Professor, Indem ich diesen Brief anfange, habe ich ein böses Gewissen und muss Sie daher von vornherein um Verzeihung bitten, dass ich es wage, Ihre allen meinen Anliegen gegenüber stets bewiesene Güte und Geduld sogar auf diesem Wege in Anspruch zu nehmen. Aber ich hatte heute Abend bei nochmaligem ernsthaftem Besinnen das Gefühl, mit meinem In Frage stellen des Schöpfungsgedankens in die Steine gehauen zu haben und möchte, da es doch eine Hauptsache betrifft, Ihnen meine Revision gleich vorlegen, und ich tue es schriftlich, weil ich glaube, dass es da überlegter und klarer heraus kommt. Was mich zur Opposition verleitete, waren im Wesentlichen 2 Punkte: 1.) Ein, wie ich nachträglich einsehe, falsch gefasster Schöpfungsbegriff überhaupt: nämlich die Schöpfung als die uranfänglich geschehene einmalige Herstellung eines fertigen Weltwerkes und – damit verbunden – diese Welt selber in ihrem Gesamtzusammenhang als eine in sich fertige, abgeschlossene, sich selber identische Substanz gedacht. Gegen eine solche Auffassung müsste allerdings der Vorwurf der „Mythologie“ erhoben werden; denn sie bedeutete nicht anderes als der Versuch einer Erklärung der Entstehung der Welt, eine Erklärung, die, weil sie ausserhalb jeder möglichen Erfahrung Liegendes betrifft, überhaupt unmöglich ist und daher, falls sie doch unternommen wird, eine leere Phantasie bleibt. 2.) Die Realität des Bösen, d. h. in diesem Zusammenhang: der Schöpfungsgedanke, der notwendig den eines einheitlichen, göttlich gesetzten Sinnes der Welt in sich schliesst, widerspricht der Wirklichkeit, die in keiner Weise unter einem einheitlichen Zweck begriffen, sondern nur als scharfer Dualismus (gut und böse, Sinn und Unsinn etc) aufgefasst werden kann. Auf diese meine beiden Einwände habe ich nun folgendes zu erwidern: 77 Im Nachlassverzeichnis werden die vier Bögen dieses Briefes fortlaufend nummeriert, d. h. dieser Brief umfasst III A 13, 6–9.

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Es ist zuerst überhaupt festzustellen, dass der christliche Schöpfungsgedanke ein absolut notwendiger und nicht preiszugebender ist. Denn bei allem positivistischen Hinnehmen der Welt, wie sie nun einmal ist, oder bei der gnostischen Sanktionierung oder gar Hypostasierung der Dualität zwischen gut und böse als zwei ursprünglichen und nicht weiter ableitbaren Wesenheiten – was im Grunde eigentl.[ich] auch eine starke Mythologie ist – geht kurz gesagt alle Absolutheit und die unbedingte Sicherheit und Durchschlagskraft der göttlichen Zwecksetzung, wie Sie hervorgehoben haben, einfach in die Brüche. Es bedingen dann irgendwelche ausser Gott liegende Faktoren, wie Stoff und Materie oder ein selbständig gedachtes böses Princip, das göttliche Wirken, indem sie es zum Mindesten beschränken und hemmen; damit wäre aber der Kern des christlichen Gottesglaubens gefährdet, und das Vertrauen des Christen auf die göttliche Durchhilfe, weil sie ja nicht als absolut durchgreifend gedacht werden könnte, entscheidend erschüttert. Und nun die beiden Einwände: ad 1.) ist zu erwidern: Schon Schleiermacher hat diesen Einwand durch die klare Beseitigung der Trennung zwischen Schöpfung und Erhaltung der Welt hinfällig gemacht.78 Damit ist der Schöpfungsglaube entschränkt und zum Ausdruck für des Christen Stellung zum Weltgeschehen überhaupt geworden. Er lässt sich dahin zusammenfassen: Die Welt ist als Ganzes in Gottes Willen und Gottes fortschaffender, erhaltender und regierender Aktivität begründet. Sie hat allerdings als die reine Setzung aus Gottes Willen etwas absolut unbegreifliches, rein Tatsächliches, Unableitbares an sich, was aber, gerade weil es eingesehen und zugegeben wird, alle „Mythologie“ ausschliesst. ad 2.) a.) Hier ist zunächst die uralte Antwort zu geben, dass das Böse in der menschlichen Freiheit begründet ist, und daher, sofern diese gottgewollt ist, indirekt gerade auf den Schöpferwillen Gottes zurückgeht, ihm daher nicht widerspricht. Dem damit in Gott selbst gesetzten Widerspruch („gut“ und „böse“ geht auf seinen Willen zurück) gegenüber ist, wie Troeltsch einmal treffend sagt, nur festzustellen, „dass überall da, wo überhaupt Gott als die Macht des Guten wirkt, er gleichzeitig die Freiheit mit sich bringt und wirkt als Möglichkeit des Widerstrebens und als Aufgabe der Gewinnung einer innern Notwendigkeit des Guten.“79 b.) Das Böse ist aber nicht restlos als aus der menschlichen Freiheit entspringend erklärbar, sondern auch als die sittlich indifferente Naturwirklichkeit zu verstehen. Das macht aber dem im Sinne Schleiermachers gefassten Schöpfungsgedanken keine Schwierigkeiten, insofern darin nicht die end78 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1, Berlin (West) 71960, 185–254; §§ 36–49: „Beschreibung unseres frommen Selbstbewußtseins, sofern sich darin das Verhältnis zwischen der Welt und Gott ausdrückt“. 79 Möglicherweise stammt dieses Zitat aus einem Vortrag von Troeltsch.

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gültige Herstellung eines fertigen Werkes sondern nur aufs Ganze gehend ein Hingeordnetsein der Welt auf die Zwecke Gottes behauptet wird, wobei, um wieder mit Troeltsch zu reden, „die Geisteswelt jedes mal durch Kampf und Opfer sich der Naturwelt gegenüber zu behaupten“ und durchzusetzen hat.80 Die Welt ist in Werden und Kampf von Gott und auf ihn hin geordnet. Man kann höchstens finden, dass dieser Schöpfungsgedanke unvollständig sei, wenn er allein dastehe, und seinen tiefsten Sinn und seine notwendige Erfüllung erst im christlichen Erlösungsglauben finde. Damit habe ich, so gut es mir in der Kürze möglich war, was ich wollte, dargelegt. Darf ich Ihnen, weil ich nun doch einmal am Klarstellen bin, auch noch kurz vorlegen, wie sich mir nach dem mir von Ihnen heut nachmittag Gesagten das zweite, schon oft berührte Problem der Stellung zu Jesus darstellt? Ich glaube nämlich, dass es bei der Differenz zwischen einer Auffassung, wie ich sie mir zu bilden versuche, und kurz gesagt der Reformatorischen im Grunde „nur“ (?) auf eine Verschiedenheit der Fragestellung hinaus kommt. Ich würde – so habe ich auch Troeltschs Aarauer Vortrag81 ungefähr verstanden – etwa sagen: Es kommt bei der Beurteilung der religiösen Phaenomene allein an auf die lebendige Gegenwärtigkeit und Kräftigkeit des Gotterlebens, auf die Evidenz und Durchschlagskraft, mit der die relig.[iösen] Gedanken und Gefühle in uns auftreten und viel weniger auf die oft von Zufälligkeiten (z. B. der Erziehung) bedingten historischen und dogmatischen Beziehungen und Anschauungen.82 Es ist in dem Reichtum der individuellen 80 Siehe vorangehende Anmerkung. 81 Troeltsch hielt auf der 15. Christlichen Studenten-Konferenz (13.–15. 3. 1911) am 15. März einen Vortrag mit dem Titel „Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für unsern Glauben“. Siehe dazu „Die XV. Christliche Studenten-Konferenz. Aarau 1911. Den 13. bis 15. März, Bern 1911, wo der Vortrag abgedruckt ist (85–112). Dort heißt es in der „Einleitung“ (3) zu Troeltschs Vortrag: „Von Alt und Jung mit grösster Spannung erwartet, redete Herr Prof. D. Ernst Troeltsch am Mittwoch über die ,Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für unsern Glauben.‘ Manchen war es wohl etwas Neues und Ungewohntes, sich plötzlich mit dieser Unerbittlichkeit in all die Probleme hinein versetzt zu sehen. Aber niemand wird doch auch hier den positiven Grundton in dieser nun einmal notwendigen Arbeit des immer neuen Durchdenkens des bisherigen Bestandes überhört haben.“ Der Vortrag wurde mehrfach gedruckt. Wahrscheinlich zitierte Thurneysen hier und im Folgenden anhand seiner persönlichen Mitschrift des Vortrags. Siehe dazu die Ernst-Troeltsch-Bibliographie, hg. von Friedrich Wilhelm Graf und Harmut Ruddies, Tübingen 1982, 109 f. Ferner Busch: Lebenslauf, 90. Diese gesamtschweizerische Konferenz kam regelmäßig im Frühjahr zusammen und versammelte evangelische Studierende und wichtige Theologen. Thurneysen hatte große Erwartungen an diesen Vortrag gehabt: „Ich freue mich immer wieder, dass Troeltsch nach Aarau kommen wird. Es wird sicher etwas Gründliches und Gutes und auch formal Glänzendes. Das soll wieder ein Fest geben, wenn wir Alle wieder in weissen Hüten in Aarau herumstehen. Persönlich hat Troeltsch etwas sehr Einnehmendes. Er ist in keiner Weise der berühmte Mann, sondern gemütlich und witzig. Er hat eher das Ansehen eines Wirtes als eines theol. Systematikers. Aber ich habe selten noch einen Manne gegenüber das so starke Gefühl gehabt, er sei nicht nur ein Vielwisser, auf das kommt es gar nicht so an, als durch viel Denken und Suchen reif und klar geworden.“ Thurneysen an Max Gerber, Brief vom 8. November 1910. 82 So sinngemäß in XV. Christliche Studenten-Konferenz, 98.

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Lebensmöglichkeiten und Lebensführungen begründet, dass es mehr als einen Weg zum lebendigen Gott gibt; dass aber der Einzelne den seinen ernst und wahrhaftig und bis zu Ende geht, ist, worauf Alles ankommt. Demgegenüber würde, so wie ich es jetzt verstehe, der reformatorisch Denkende sagen: „Gewiss“ – und würde vielleicht das „ernst und wahrhaftig“ sein wollen und „die Kräftigkeit und Gegenwärtigkeit des Gotterlebens“ noch unterstreichen – „aber woher nimmst Du das Alles? Woher die Garantie, dass es nicht nur bei Worten bleibt, sondern zu Taten kommt?“ Und er würde antworten: „Von Jesus allein“, „diese lebendige Gotteszuversicht gewinne ich nur aus der immer erneuten Vertiefung in sein Leben“. Ich selber glaube aber und meine es, soweit ich überhaupt davon reden kann, auch selber immer wieder zu erfahren, dass diese zwei Auffassungen, so wie ich sie verstehe, einander keineswegs auszuschliessen brauchen, vielmehr einander ergänzen können. Ich finde sie z. B. in folgendem Satz von Troeltsch innerlich mit einander verbunden: „Es erlöst uns der eigene, lebendige, wirkliche Glaube an Gott selbst; aber diesen Glauben ergrübelt sich nicht jeder selbst, sondern er empfängt ihn als befreiende und emporhebende Macht in den religiösen Eindrücken, die auf ihn ergehen, und die Christus zu ihrem Ausgangspunkt und zu ihrer Verbürgung haben.“83 Indem ich Ihnen nochmals von Herzen meinen Dank ausspreche, dass Sie unser Aller vielfach unreife und unfertige Gedanken und Fragen immer so teilnehmend entgegennehmen und uns selber damit zum innern Vorwärtskommen helfen Ihr Ed. Thurneysen. Nr. 12. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: 3. Mai 1911 NL 290: B 346, 6 Lieber Herr Thurneysen! Ich vergass heute dummerweise im Colleg ein Wort von dem offenen Abend zu sagen, der mit morgen zum erstenmal beginnt. Es soll natürlich niemand extra dazu aufgefordert werden, aber ich hätte es mitteilen sollen. Für die Jüngern kann ichs morgen noch tun, aber für die Aeltern ist es zu spät, wenn Sie nicht zufällig den einen oder andern sehen. 83 So sinngemäß in XV. Christliche Studenten-Konferenz, 87.

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Ich sehe diesen Abenden immer mit Bangen entgegen, weil die meisten Studenten gar nicht herausrücken & man ihnen dann doch nicht näher kommt. Mit herzl[ichem] Gruss Ihr P. Wernle. Nr. 13. Postkarte E. Thurneysen an P. Wernle Poststempel: 3. Mai 1911 NL 92: III A 13, 5 Verehrter Herr Professor, Ihren offenen Abend konnte ich noch ein paar Theologen mitteilen. Ich selber bin, da ich an eine Hochzeit geladen bin, verhindert. Ich wollte Ihnen heute meine freilich verspäteten Glückwünsche zum 1. Mai84 bringen und tu es nun auf diesem Wege. Sie sind deshalb nicht minder herzlich gemeint. Ich kann Ihnen nur immer wieder fröhlich und von Herzen danken für Alles, was ich von Ihnen lernen und empfangen darf, und wünschen und hoffen, dass Sie uns noch recht lang erhalten bleiben. In herzlicher Hochachtung und Dankbarkeit Ihr Eduard Thurneysen, theol.

84 Wernle feierte am 1. Mai seinen 39. Geburtstag.

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Nr. 14. Postkarte Hans und P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: 2. August 1911 NL 290: B 346, 8 [Vorderseite Hans Wernle] Lieber Herr Thurneisen, Es ist sehr schön hier in Dutjen85, wir haben schon dreimal einen Spaziergang gemacht, das Erste mal nach Flims86 ohne Papa, das Zweite mal auf ’s Dutjer Horn und Alp87, das Drit[te] mal zum Tenner Kreuz und Schlüchtli88. Viele Grüße von Hans.89 [Rückseite P. Wernle:] L.[ieber] H.[err] Thurneysen! Ich bin so sehr gespannt darauf, wie Sie sich entschlossen haben. Wenn Sie am Ziel sind, melden Sie mir doch ein Wort. Auch sonst denke ich oft an Sie. Wenn wirs vor einem Jahr so gehabt hätten mit dem Wetter, was hätten wir da Alles unternommen! Es war ganz wunderbar bis jetzt, wo es sich zum Ändern anschickt. Gestern war die ganze Gegend überall von Höhenfeuern90 übersäet und Hans ganz begeistert: Heil Dir Helvetia!91 Mit herzl[ichem] Gruß auch an die Ihren Ihr P. Wernle 85 86 87 88

Siehe Anm. 60. Kanton Graubünden. Berg in der Surselva (Graubünden, 2389 m) oberhalb von Valendas. Das „Tenner Chrüz“ passiert man beim Aufstieg von Tenna (Graubünden) auf das Schlüechtli. Dieser Berg (2283 m) liegt in der Bündner Signinagruppe zwischen Safien- und Valsertal in Graubünden. 89 Hans Wernle. 90 Anlässlich des seit 1899 jährlich gefeierten Bundesfestes am Abend des 1. August. Siehe dazu Georg Kreis: Bundesfeier, in: HLS 3, 7; Christoph Merki: Und wieder lodern die Höhenfeuer. Die schweizerische Bundesfeier als Hoch-Zeit der nationalen Ideologie, Zürich 1995. 91 Aus der ersten Strophe der bis 1961 gebräuchlichen Schweizer Nationalhymne: „Rufst du mein Vaterland, Sieh uns mit Herz und Hand, All dir geweiht Heil dir, Helvetia! Hast noch der Söhne ja,

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Nr. 15. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Basel, den 3. August 1911 NL 92: III A 13, 7 Verehrter Herr Professor, Endlich kann ich Ihnen die Register92 zusenden, damit Sie sie auch nochmals durchsehen. Für Ihr gütiges Anerbieten, Ihnen das Material z[um] Zusammenstellen zu schicken, danke ich bestens; aber ich musste die Sache selber besorgen, weil es noch Manches nachzutragen und nachzuschlagen gab; auch hab ichs ohne allzu grossen Verlust an wertvoller Zeit in kl.[einen] Portionen zus.[ammen] geschrieben. Ich hoffe nun, es seien keine Fehler drin. Noch nicht eingetragen sind natürlich die immer noch ausstehenden letzten Seiten. Auch dafür, dass die nicht-deutschen Namen wie im Buch in latein.[ischen] Typen gedruckt werden, habe ich nicht Sorge getragen; vielleicht machen Sie, falls es Ihnen tunlich erscheint (in der 1. Aufl.[age] wars nicht) ein kleines Zeichen zu den betreffenden Namen; es wird die Correktur erleichtern. Ich habe nun in Gottes Namen nach Zürich zugeschrieben und bin bereits angenommen worden.93 Ich freue mich, dass die Sache nun im Klaren ist und hoffe, es komme nun alles recht heraus. Ich habe wirklich eine Weile ernstlich geschwankt, ob ich nicht in Waldstadt94 zugreifen solle, aber schliesslich fand ich doch, ich habe das Recht noch ein Jahr mit dem Pfarrersein zu warten, besonders da es sich ja auch in Zürich um eine ernsthafte Arbeit an Andern und für Andere handelt, und ich selber dabei noch vorwärtszukommen hoffe. Auch ist es wirklich seit mehrern Semestern mein Plan gewesen, einmal in der Weise, wie ich es in Z.[ürich] tun zu können hoffe, selber ein wenig „christlichsocial“ zu arbeiten. Ich habe mich stets für die Fragen der socialen Ethik und der Stellung des Evangeliums Jesu zu den modernen Verhältnissen und Gedanken besonders interessiert und hoffe nun, in Z.[ürich] in dieser Richtung selber ein wenig praktische Erfahrung und Material sammeln und eigene Wie sie Sankt Jakob sah, Freudvoll zum Streit!“ Vgl. zur Nationalhymne: Ernst Lichtenhahn: Landeshymne, in: HLS 7, 579 f. 92 Es handelt sich um die Register von Wernles „Einführung in das theologische Studium“, Tübingen 21911; siehe Vorwort, X. Schon für die erste Auflage hatte Thurneysen das Register erstellt (Vorwort, IX). Diese Arbeit stürzte ihn aber auch in eine Krise; siehe dazu oben S. 57. 93 Thurneysen war von 1911 bis 1913 für eineinhalb Jahre als Hilfssekretär des Christlichen Vereins Junger Männer im Glockenhof in Zürich und mitverantwortlich für die Herausgabe der Zeitschrift „Die Glocke“. Siehe dazu Rudolf Bohren: Prophetie und Seelsorge. Eduard Thurneysen, Neukirchen-Vluyn 1982, 48 f.; 261. 94 Es handelt sich hier im eine freie Pfarrstelle in Waldstatt im Kanton Appenzell Ausserrhoden nach dem Weggang von Pfarrer Lukas Christ (1881–1958), der diese Stelle seit 1906 versehen hatte.

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Anschauung bekommen zu können.95 Und dass, wenn ich überhaupt etwas Derartiges unternehmen will, ich es jetzt tun muss oder nie, scheint mir klar zu sein. Drum griff ich eben zu, als mir durch Ihre freundliche Vermittlung die Stellung in Z.[ürich] angeboten wurde. Es wurde mir auch auf Ihren Brief hin mit grosser Zuvorkommenheit eine tägliche Freizeit „von einigen Stunden zu privater Arbeit“ gern zugestanden. Ich bin besonders dankbar dafür, denn ich fürchte allerdings nichts mehr als jede Art von Oberflächlichkeit und Zersplitterung, und glaube, diese Gefahren hätten mir gedroht, wenn ich so restlos von Morgens bis Abends in den Wogen praktischer Betätigung hätte untertauchen müssen. Ich habe mich gefreut, dass neben Ihren Jathoartikel96 auch noch Troeltsch97 mit seinem nicht minder scharfen getreten ist. Eine kleine Specialfreude hat er mir mit s.[einem] bitteren Satz über Kaftans Scholastik98 gemacht.99 Mich hat der Fall Jatho100, der uns ja i.[m] Übrigen in der Schweiz nicht so sehr aufzuregen braucht, doch insofern durch alle d.[iese] Wochen hindurch beschäftigt, weil er mich nun[, da] ich am Ende m.[einer] Studien stehe, den ganzen Ernst des praktischen Eintretens für Jesus und s.[eine] Sache auch der Gegenwart und den heutigen Nöten und Fragen gegenüber besonders klar empfinden liess. Wenn wir alle schliesslich doch ohne entscheidende principielle Bedenken es wagen wollen und können, praktisch zu wirken, so verdanken wir das allermeist unsern akademischen Lehrern und besonders Ihnen

95 In einem Brief vom 3. März 1912 fasste Thurneysen Ernst Staehelin gegenüber seine Eindrücke aus der Arbeit im CVJM folgendermaßen zusammen: „Ich sehe mich im Verein – natürlich nicht ausschließlich, aber oft – einer Frömmigkeit gegenüber, die nicht viel anderes ist als katholische Gesetzlichkeit und Unfreiheit auf protestantische Weise.“ 96 Paul Wernle: Eine akademische Ansprache zum Fall Jatho. Basel den 27. Juni, in: ChW 25 (1911), 660–662; Rudolf Schwarz erklärt in seinem Bericht über das kirchliche Leben in der Schweiz des Jahres 1911: „Doch ist der erste und schärfte Protest gegen das Urteil des Spruchkollegiums, Professor Wernles Ansprache an seine Studenten (vergl. ,Christl. Welt‘, Nr. 28), von schweizerischer Seite gekommen“; siehe KBRS 27 (1912), 34; dort auch weitere Informationen zu schweizerischen Reaktionen auf den „Fall Jatho“. Später erschien dann auch noch: Zum Streit Jatho-Harnack. Aus der Neuen Züricher Zeitung, in: ChW 25 (1911), 878 f. 97 Ernst Troeltsch: Gewissensfreiheit, in: ChW 25 (1911), 677–682. Siehe dazu Hans-Georg Drescher: Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 362–370. 98 Auch Rudolf Bultmann erklärte in einem Brief an Walther Fischer im Juli 1905 mit Blick auf seinen Berliner dogmatischen Lehrer, Julius Kaftan sei „ein schrecklicher Sophist und Scholastiker“. Zitiert bei Konrad Hammann: Rudolf Bultmann. Eine Biographie, Tübingen 22009, 23. 99 Mit Blick auf Lösungsmöglichkeiten des Falles Jatho und des Verhältnisses von Kirchenjuristen und Dogmatikern erklärt Troeltsch, Gewissensfreiheit, 682: „Sie [die Dogmatiker] können ruhig aufhören, mit Hilfe der Kaftanschen Dogmatik die Quadratur des Zirkels finden zu wollen.“ 100 Carl Wilhelm Jatho (1851–1913), seit 1891 Pfarrer in Köln. Der „Fall Jatho“ löste u. a. eine Debatte über die Frage aus, ob es angemessen und möglich sei, die Einheit der Lehre in der evangelischen Kirche durch rechtliche Mittel zu gewährleisten. Vgl. Manfred Jacobs: Carl Wilhelm Jatho, in: TRE 16, 545–548.

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und dem Sinn und Geist, in dem Sie uns das Evangelium Jesu und überhaupt unser ganzes protestantisches Christentum auffassen lehrten. – Meine Schaffenslust hat bei der drückenden Hitze oft sich als ziemlich klein erwiesen; ich hoffe aber bis Ende August doch soweit zu sein, dass ich nicht mit ganz schlechtem Gewissen ins Examen z.[u] gehen brauche. Fertig findet sich wohl keiner von uns Verurteilten. – Ich habe den Waldstädtern Herrn Bossert101 genannt als einstweiligen Verweser102, und sie haben ihn nun auch berufen, gestern ist er hinaufgezogen; ich bin sehr erfreut drob, denn nun bekommt er doch eine ordentliche Arbeit unter die Hände, und wenn er sich Mühe gibt und etwas leistet, hat er grosse Aussicht, gewählt zu werden; es liegt nun ein wenig in s.[einer] Hand; so lang er in Basel herumstand, ohne rechte Arbeit, hat er mich oft gedauert; unglücklicherweise verlegte er sich aus purem Zeitüberfluss auch noch mit grossem Eifer auf die Psychoanalyse. Glücklicherweise kostet ein Billet nach Waldstadt 12 fr103, sodass s.[eine] Mutter sich jedenfalls zweimal besinnt, eh sie hinauffährt, und er nun wirklich einmal auf eigenen Füssen steht. Von Paul Ernst104 erhielt ich kürzlich Bericht. Er arbeitet als Vicar ei.[nes] Pfarrers unter den Polen in oesterreich.[isch] Galizien. Entschuldigen Sie das Mischmasch dieses in grosser Eile geschriebenen Briefes, nehmen Sie herzlichen Dank für Ihre freundl.[ichen] Karten – dem Hans lass ich besonders danken für seine – und seien Sie, Frau Prof. und Hans herzlich gegrüsst von Ihrem Ed. Thurneysen.

101 Eugen Bossert. Die Vertretung kann nur von kurzer Dauer gewesen sein, da er noch im selben Jahr Pfarrer in Biel-Benken (1911–1953) wurde. 102 Vertreter für einen Pfarrer. 103 Franken. 104 Von Paul Ernst befinden sich zwei Briefe aus dem Jahr 1912, also nach seiner Rückkehr aus Galizien, im Nachlass von Thurneysen. Aus Frauenfeld schrieb Ernst am 19. Januar 1912 u. a.: „Bei Wernle war’s doch wieder nett. Der Mann kann einen stärken.“

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Nr. 16. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: 7. August 1911 NL 290: B 346, 9 L. H. Thurneysen! Wärmsten Dank für Ihr prächtig ausgeführtes Register! Ich lasse es an Mohr105 abgehn durch Fast106, der noch 2 kleine Fragezeichen von mir controlliert. Es freut mich sehr, daß Sie nach Zürich gehen. Brief folgt bald von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 17. Briefkarte107 P. Wernle an E. Thurneysen August 1911 [Dutjen], [ohne Datum]108 NL 290: B 346, 7 Lieber Herr Thurneysen! Heut kam der Bogen109 endlich nach Dutjen, aber nicht einmal fertig. Darf ich Sie bitten, ihn durchzulesen, Correcturen von sich aus hinzuzutragen und an Mohr zu senden mit beiligendem Couvert a 5 cm. Ich habe gar keine frühern Bogen und Hilfsmittel; darum muß ich Sie bitten, bei Rittelmeyer ai oder ei zu setzen und die Seite p 505110 zu ergänzen; Sie haben ja den frühern Bogen. Es ist schade, daß Sie nicht hier bei uns sind. Das würde Ihnen auch wohl 105 Der Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) ist gemeint. 106 Abraham Fast war ein Kommilitone von Thurneysen und später Pastor der mennonitischen Gemeinde in Emden. Er studierte u. a. in Greifswald, wo er für Wernle eine Liste schweizerischer Theologen anfertigte. Siehe dazu seinen Brief an Wernle vom 14. Juli 1911. 107 Die Karte lag vermutlich den Druckbögen bei. 108 Nachträglich notiertes Datum: „Aug. 11.7.“ 109 Für Wernles „Einführung in das theologische Studium“, 2. verb. Auflage Tübingen 1911. 110 Friedrich Rittelmeyer (1872–1938) wird in der „Einführung“ u. a. auf S. 500 erwähnt.

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bekommen! Luft, und Flora und Aussicht sind herrlich, und unsre ländliche Haushaltung ganz nach meinem Sinn. Ich denke mit Schmerzen an Ihre heiße Basler Existenz und an Ihre Mühe für mich hier oben. Mit herzl[ichem] Gruß von uns 3 Ihr P. Wernle Nr. 18. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Dutjen, den 12. August 1911 NL 290: B 346, 10 Lieber Herr Thurneysen! Ich komme erst so spät zum Schreiben und mein Brief wird kurz, denn die dumme Hand will die Feder immer schlechter führen. Ihr Entschluß nach Zürich111 ist mir eine große Freude, und übrigens auch Fritz Burckhardt.112 Sie stehn dort an der rechten Stelle und haben nun auch die richtige Freiheit. Ich verstehe sehr wohl Ihr Bedürfniß, sich nach außen zu betätigen in sozialen und culturellen Aufgaben. Sie stehn dabei in Contact mit dem Verlangen unserer Zeit, und greifen da an, wo das Christentum so lange rückständig blieb. Und doch zweifle ich gar nicht, daß Sie, sobald Sie es praktisch anfassen, von selbst ins Centrum, zu den persönlichen Fragen geführt werden. Ich habe hier Gelegenheit, einen Fall zu studieren, wo ich die Wirkung von Glauben oder Unglauben so recht mit Händen greifen kann. Es ist tatsächli[ch] Alles anders, wenns im Centrum anders ist. Und die Verhältnisse sind völlig unheilbar, sobald im Innern die Kräfte des Glaubens und der Liebe versiegen. Bloß die Convention und Tradition unsers Christentums läßt uns das übersehen. Da ist ja freilich der Glaube nicht viel wert. Aber wenn er wirklich da, was müsste da aus unsern Gemeinden werden! Und wenn es Ihnen gelingt, den jungen Leuten in Zürich klar zu machen, was einer hat, wenn er Gott hat, dann haben Sie den wichtigsten Dienst getan. Und sehen Sie, das fehlt mir oft so bei Tröltsch113, auch in dem von Ihnen genannten Artikel. Er stellt sich immer außerhalb des Glaubens, um die Dinge 111 Thurneysen hatte sich entschieden, ab 1. Dezember 1911 die Stelle des Jugendsekretärs beim CVJM in Zürich am Glockenhof zu übernehmen. Dort betreute er den Jugendtrupp, schrieb Beiträge für die „Glocke“ (siehe dazu S. 58–61) und hielt Vorträge. 112 Friedrich Rudolf (Fritz) Burckhardt-Pfisterer. Zunächst hatte es so ausgesehen, als würde Thurneysen Vikar bei Pfarrer Gustav Benz in Basel werden, der ihn selbst angefragt, dann aber wieder abgesagt hatte. Siehe den Brief von Thurneysen an Ernst Staehelin, 2. Juli 1911. 113 Handschriftliche Anmerkung von Thurneysen am Seitenende: „,Gewissensfreiheit‘ im Fall Iatho i.[n] d.[er] christl.[ichen] Welt“; siehe oben Anm. 96.

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sachlich zu erfassen. So kommt er zu einem Christuskult ohne ein Erleben Jesu und konstruiert sich jetzt eine Kirche, die von den Kirchenfürsten zurechtgezimmert wird. Ich habe kaum etwas so Phantastisches gelesen. In der Zeit Cromwells, die er anführt, hatten sie tatsächlich einen großen gemeinsamen Glauben; darum war die weitherzige Einheit möglich. Aber eine Kirche ohne die Grundlage von Glauben und Liebe, und damit von innerer Zusammengehörigkeit ist eine Illusion. Wir in der Schweiz werden von unsrer großen protestantischen Vergangenheit noch heute zusammen gehalten + der Macht der Trägheit. Was heute die deutschen Kirchen retten und bewahren kann, das können doch vierzig lebendige Christen sein, die durch ihren Glauben und ihre Liebe über alles Trennende hinweg zusammenstehen können. Und Tröltsch schreibt so, als käme dies gar nicht in Betracht. Er will wieder einmal klug sein auf Kosten des Glaubens, den er wie eine Naivität behandelt. Ich lese hier oben viel in Luther und da kommen mir unsre Professoren, auch die gescheitesten, doch unsäglich klein und schwach an Glauben vor. Und nur um so fester und froher werde ich im Vertrauen zur Kraft des Evangeliums. Gott gebe, daß wir beide immer fester und tiefer darin wurzeln. Mit herzlichem Gruß Ihr P. Wernle Nr. 19. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Dutjen, den 24. August 1911 NL 290: B 346, 11 Lieber Herr Thurneysen! Sie schreiben mir, Sie haben noch keinen Bogen erhalten. D. h. wohl von Mohr114, denn den von mir Ihnen zugesandten haben Sie wohl. Sie könnten wegen des kleinen noch fehlenden Schlusses das Register wohl absenden; es bleibt zuletzt Alles wie in der 1. Aufl.[age]115 Haben Sie aber je keine Zeit, so senden Sie mir Ihr Material herauf; es geht einfach nicht, daß Ihre notwendige Arbeit darunter leidet. Wie ich der Zeitung entnehme, spielt jetzt in Waldstatt die Frage: positiv oder Reformer.116 Sehen Sie zu, daß Sie den Leuten klaren Wein einschenken und nicht unter 114 Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 115 Paul Wernle: Einführung in das theologische Studium, Tübingen 1908. 116 Hier geht es um die theologische Ausrichtung (orthodox oder liberal) des neuen Pfarrers.

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falscher Flagge hinkommen. Positiv im guten Sinn wollen wir freilich alle sein. In Ihre Entscheidung Zürich oder Waldstatt dränge ich mich nicht. Ich habe Vertrauen zu Ihrer Wahl in jedem Fall. Herzl[iche] Dank noch für Ihre Karte von Twann117. Es grüßen Sie alle Dutjer Ihr P. Wernle Nr. 20. Karte E. Thurneysen an P. Wernle Basel, den 23. September 1911 NL 92: III A 13, 11 Verehrter Herr Professor, Nun hab ich schon zwei Mal vergessen, Ihnen den Zürcherstundenplan zurückzugeben und stelle ihn Ihnen, damits nicht noch ein drittes Mal geschieht, auf diesem Wege zu. Meine Schwester118 lässt Ihnen für den Prospekt bestens danken. Ihr freundliches Geschenk119 von heute an mich hat mich von neuem beglückt und zugleich beschämt; ich habe immerzu das Gefühl, ich könne es gar nicht ausdrücken, wie sehr tief ich mich Ihnen gegenüber immer in der Dankesschuld weiss für alles, was Sie mir gegeben haben. Es grüsst Sie in herzlicher Dankbarkeit Ihr Eduard Thurneysen, theol

117 Die Gemeinde Twann (Kanton Bern) umfasste die am nördlichen Ufer des Bielersees gelegenen Dörfer. 118 Elisabeth Thurneysen. 119 Es handelt sich wahrscheinlich (siehe den folgenden Brief) um Paul Wernle (Hg.): Oliver Cromwell. Briefe und Reden, Basel 1911.

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Nr. 21. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Nussbaumen, den 14. November 1911 NL 92: III A 13, 12 Verehrter Herr Professor, Nach einem kurzen Besuch bei Herrn Dr[.] Barth120 in Schaffhausen und H. Gelzer121 in Opfertshofen bin ich hier122 gelandet und geniesse nun schon bald 8 Tage lang die Freuden des Landpfarrhauslebens, ohne seine Lasten und Mühen zu kennen. Ich bin einem fast gänzlichen Nichtstun verfallen, während rings um mich gearbeitet wird. Immerhin hatte ich nun Zeit, mich in Cromwell hineinzulesen. Und das ist der eigentliche Grund und Anlass für mich, Ihnen noch ein kurzes Brieflein zu schreiben, wiewohl ich bald selber wieder nach Basel komme. Ich habe eine so grosse Freude an diesem Buch, dass ich Ihnen nochmals herzlich danken muss dafür. Schon das rein Historische, das Zeitgeschichtliche ist so reich und interessant und ich möchte fast sagen wie in einem Roman von Brief zu Brief spannend, dass man nicht loskommt, und dann erst der Charakter Cromwells selber in s.[einer] seltsamen Mischung von Kraft, ja Härte und Weichheit und Innerlichkeit, auch wenn man gar kein persönliches Verhältnis zu ihm gewinnen könnte, einfach schon religionspsychologisch interessant. Schliesslich aber habe ich oder besser wir alle hier – wir haben nämlich abends viel draus vorgelesen, Freund Wieser123 sogar am Sonntag in der Predigt einen kurzen Brief – einfach ganz persönlich eine Freude und innern Gewinn an der Frömmigkeit dieses Mannes gehabt. Ich darf es wohl von mir sagen, dass mir an dem gewissen Lebensabschnitt, den ich nun mit dem Examen124 und der baldigen Inangriffnahme des Neuen, das vor mir liegt, erreicht habe, nichts in die Hände kommen konnte, an dem ich gerade für mich selber mehr haben konnte, als Ihre Geschenke, die Luther-125 und diese Cromwellbriefe mit ihrer unvergleichlichen Glaubensfestigkeit und Glaubenszuversicht. Und die Hoffnung, davon auch nur ein ganz klein wenig nach und nach mir selber erringen und auch in mein kleines Leben hinein120 121 122 123 124

Albert Barth war seinerzeit Seminarleiter an der Kantonsschule in Schaffhausen. Heinrich Gelzer war 1911 Pfarrer in Opfertshofen (Kanton Schaffhausen). Bei Gottlob Wieser in Nussbaumen (Kanton Turgau). Gottlob Wieser. Thurneysen legte die theoretische Prüfung am 5. Oktober 1911 mit der Note „1b“ ab. Brief an H. Gelzer, 5. Oktober 1911. In den Protokollen der Konkordatsprüfungsbehörde (Band 1898–1913, in: Staatsarchiv Zürich, TT 23.4, 231) findet sich der Eintrag, dass Thurneysen am 23. 10. 1911 mit dem Abhalten einer Probelektion die gesamte theologische Prüfung abgelegt hat. 125 Möglicherweise handelt es sich um die wenige Jahre zuvor erschienene Briefausgabe von Georg Haslinger: Doktor Martin Luthers Deutsche Briefe, Leipzig 1908.

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bekommen zu können, lässt mir meine eigene Zukunft erst recht lebenswert erscheinen. Eine solche Hoffnung habe ich von Neuem aus der Lektüre Cromwells geschöpft. Ich danke Ihnen herzlich dafür wie überhaupt für Alles, was ich jederzeit an Ihnen gehabt habe und noch immer habe. Wieser lässt mit mir Sie und Frau Professor von Herzen grüssen. Ihr getreuer Schüler Eduard Thurneysen. Nr. 22. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Basel, 15. November 1911 NL 290: B 346, 12 Lieber Herr Thurneysen! Herzlichen Dank für Ihren Brief. Es freut mich, dass Ihnen der Cromwell gefällt & dass er sogar gewürdigt worden ist, zu Nussbaumen auf der Kanzel zu erscheinen, worüber er sich selbst im Grabe freuen wird. Hier in Basel habe ich unterdessen konstatiert, dass Sie bei neuankommenden Zofingern126 bereits eine mythische Figur werden & es nächstens dahin kommt, dass ich Ihre historische Existenz bestreiten muss. Unser Freund Zimmerli hat in seiner Familie schweres durchgemacht. Seine Frau hat ihm in der Nacht vom letzten Donnerstag auf Freitag ein Kind geboren, aber unter solchen Umständen, dass sie mit knapper Not am Tod vorbeiging; es haben sich von der Niere her Anfälle eingestellt, die sie bei noch einmaliger Wiederholung umgebracht haben würden. Er ist noch ganz erschüttert davon, aber es scheint nun alles normal weiterzugehen. Grüssen sie mir Freund Wieser & sich selbst herzlich Ihr P. Wernle

126 Die „Zofingia“ (Zofinger-Verein) ist eine wichtige 1819 gegründete Vereinigung schweizerischer Studenten, die zunächst vaterländische, dann seit Mitte des 19. Jahrhunderts liberale Ideale verfolgte. Seine Mitglieder rekrutierten sich vor allem aus den städtischen Bürgerfamilien.

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Nr. 23. Postkarte127 E. Thurneysen an P. Wernle [Bad Boll], den 1. Advent 1911 [3. Dezember 1911] NL 92: III A 13, 13 Verehrter Herr Professor, Ich schäme mich fast, noch Ferien zu haben, während meine Freunde schon auf Kanzeln stehen oder tief im Semester drin stecken. Und doch freue ich mich, hier noch ein paar ganz ruhige Tage für mich zu haben vor m.[einem] Antritt in Zürich. Auch dass es grad Advent ist, trifft sich gut. Wenn irgend Jemand, so kann Bl.[umhardt]128 gerade etwas von Adventsfreude – und sehnsucht in einem wecken. Ich denke oft und dankbar an Sie und bedaure ein wenig (gleich m.[einer] Mutter), dass Sie Bl[umhardt] noch nicht persönlich kennen und grad jetzt hier sein können. Ich glaube, Sie hätten auch Freude an ihm. Er lässt Ihre Grüsse bestens erwidern. Vielleicht komme ich doch noch trotz des schon genommenen „definitiven“ Abschiedes, wenn ich Zeit finde, am Donnerstag schnell bei Ihnen vorbei. Es wird ja dann notwendigerweise endgültig das letzte Mal sein. Mit herzlichen Grüssen auch an Frau Prof. Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 24. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 12. Dezember 1911 NL 92: III A 13, 14 Verehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen herzlich für die freundliche Zusendung Ihrer Vorträge129; ich freue mich sehr, sie nun nochmals mit Ruhe durchstudieren zu können. Auch 127 Postkarte mit Foto und Text „Gruss aus Bad-Boll“. 128 Christoph Blumhardt, den Thurneysen öfter besuchte, auch gemeinsam mit Karl Barth. Blumhardt spielte für theologischen Entwicklungen in der Schweiz – v. a. des Religiösen Sozialismus – eine zentrale Rolle; siehe dazu oben S. 53. 129 Möglicherweise ist gemeint: Paul Wernle, Renaissance und Reformation. Sechs Vorträge, Tübingen 1912; der Band nennt zwar als Erscheinungsjahr 1912, könnte aber durchaus im Dezember 1911 an den Verfasser ausgeliefert worden sein.

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für die Zustellung des Cromwellvortrages130 viel Dank. Es war mir lieb, dass ich ihn noch lesen konnte, es war mir dadurch möglich, Manches klarer und einfacher zu sehen und zu sagen. Aber auch für mein Verständnis von Cromwell überhaupt ist er mir sehr wertvoll gewesen. Dass dem Politiker Cromwell eigentlich alle Berechnung und überhaupt ein klar vorgesehenes Programm abging, ist mir vorher nicht recht bewusst geworden, ich begreife von da aus nun auch erst recht das eigentümliche Schwanken in den Entschliessungen, z. B. vor dem Königsprocess, bis ihm dann mit intuitiver Sicherheit und Gewissheit der Weg der Notwendigkeit aufgeht. Ich muss Ihnen nun noch beichten, dass ich Ihren Vortrag aus meinen Händen gegeben habe, aber in Ihnen wohlbekannte: Pfr. Rud. Schwarz131 tauchte heut plötzlich im Glockenhaus132 auf, als ich grade Ihren Vortrag an Sie zurückschicken wollte; er hätte ihn gern gelesen, ich nahm ihm das Versprechen ab, er müsse ihn bald an Sie zurückschicken. Von meiner Arbeit hier kann ich Ihnen noch nicht viel sagen: Über Manches Feine kann ich mich im Verein von Herzen freuen, Anderes stösst mich ab. Im Übrigen besteht die Arbeit eines Sekretärs auch in Erledigung viel[er] kleiner Bagatellen; da muss ich mich oft ein wenig zusammennehmen, dass ich nicht innerlich ungeduldig werde. Am Morgen habe ich immer frei: ich war zweimal schon bei Ragaz133 und habe vor, Zwingli und Schleiermacher zu treiben; ich habe durch Zufall für sehr billiges Geld Diltheys Schl.[eiermachers] leben134 und die Bücher von Scholz und Süskind135 erwerben können. Die Abende sind meist in Anspruch genommen, teils muss ich im Sekretariat sitzen wie jetzt, wo ich in grossem Stimmengewirr und Schreibmaschinengeklapper diesen Brief an Sie schreibe, teils sind Vorträge oder Bibelstunden und dergl.[eichen] Die Nachmittage sind bis 4 Uhr (ausser Mittwoch) ebenfalls belegt, abends habe ich dann meist um 7 oder 8 Uhr wieder anzutreten bis 10 Uhr. Drei Sonntagnachmittage im Monat ebenfalls besetzt, dafür jede Woche der Mittwoch frei. Ungewohnt ist mir vor allem, dass ich die Abende meist nicht mehr für mich habe und wie gesagt diese Kleinarbeit. Ich wäre schon oft in diesen Tagen gern schnell am Heuberg 33136 130 Im „Sonntagsblatt der Basler Nachrichten“ 7, 1912, Nr. 10–12, S. 37 f. 41–43; 46–48, erschien ein Beitrag Wernles über Cromwell. 131 Rudolf Schwarz, Pfarrer in Basadingen-Schlattingen (Kanton Thurgau), übersetzte für Wernle die Briefe Calvins. 132 Die korrekte Bezeichnung lautet „Glockenhof“, Sihlstraße 33; er ist der Sitz des CVJM. Hotel und Vereinshaus Glockenhof wurden 1911 eingeweiht, deren Trägerin die Stiftung zum Glockenhaus ist. Siehe dazu: Glockenhof Zürich. 133 Thurneysen hörte bei Ragaz an der Zürcher Universität. Siehe dazu oben S. 59 f. 134 Wilhelm Dilthey: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, 4 Bde., Berlin 1858–1863. 135 Heinrich Scholz: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre. Ein Beitrag zum Verständnis der Schleiermachschen Theologie, Berlin 1909; Hermann Süskind: Christentum und Geschichte bei Schleiermacher, Teil 1: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsphilosophie, Tübingen 1911. Beide Bücher verzeichnet Bajohr: Bibliographie, 118; 128. 136 Wohnsitz von Paul Wernle im Frey-Grynaeischen-Institut.

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vorbeigekommen, um dies oder jenes zu fragen und zu berichten! In Gedanken jedenfalls bin ich oft bei Ihnen. Es grüsst Sie und Frau Prof. herzlich Ihr Ihnen stets dankbarer Schüler Ed. Thurneysen. Nr. 25. Brief P. Wernle an E. Thurneysen [Basel], den 22. Dezember 1911 NL 290: B 346, 13 Lieber Herr Thurneysen! Haben Sie besten Dank für Ihren Brief. Ich habe neulich Ihre Mutter besucht, um die Adresse ihres Bruders in Berlin137 zu bekommen & habe dabei auch wieder Neues von Ihnen erfahren. Wenn Sie zu Weihnacht ein wenig Heimweh bekommen, so ists ganz recht. Sie sind dafür mit so viel Leuten zusammen, die kein Heim haben & doch so sehr nach Liebe verlangen. Denen sollen Sie etwas sein & etwas geben. Man gibt natürlich in die Luft hinaus & weiss nicht, was dabei herauskommt, aber das soll man auch nicht wissen. Ihr erster Brief brachte gleich ein paar Töne, die ich erwartet hatte. Sie finden in der Vereinsarbeit Feines & weniger Feines beisammen, müssen viele langweilige Kleinarbeit tun & haben Ihre schöne freie Zeit nicht mehr wie früher. Nun das alles schadet nicht so viel. Da sollen Sie jetzt Ihren Mann stellen in tapferer geduldiger Arbeit. Das Langweilige hat seinen ganz besonderen sittlichen Wert, wenn ein Idealist es tun muss; es ist gewissermassen die Probe für die Echtheit jedes Idealismus. An dem Ihrigen zweifle ich zwar keinen Augenblick, aber er bewegte sich doch bis jetzt stark in den Prinzipien & im Abstrakten & muss jetzt hinuntersteigen in die Prosa der Wirklichkeit. Sagen Sie sich immer nur eins: die reinen Ideale finden Sie nirgends[,] können Sie nirgends verwirklichen, gemischt ist hier auf Erden Alles, anders gehts nicht. Darum hat ja alle solche Arbeit im Glauben & in der Liebe zu geschehen, die man im Idealzustand gar nicht nötig hat, wohl aber in der Wirklichkeit. Denken Sie einmal, was der liebe Gott für langweilige Arbeit mit uns Menschen tun muss, die geht sicher über alle Ihre Secretariatskleinigkeiten & ist unsagbar ermüdend, kommt auch entsetzlich wenig dabei heraus. Dem Umstand, dass er sie dennoch tut, verdanken wir unsre Existenz, sonst hätte er uns schon lang fortwerfen müssen. Die Stürmer & Dränger haben gewöhnlich gar keine Ahnung, was der liebe Gott mit ihnen Geduld haben muss, sonst könnten sie gar 137 Peter Thurneysen.

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nicht so drauf losgehen mit den Menschen. Aber ich will nicht weiter predigen. Ich habe mich so an Ihrer Mutter gefreut, wie sie die Sachen ansieht, das ist so kerngesund. Und eine Idealistin ist sie ja trotzdem, wie ich übrigens hoffentlich auch, wenn auch etwas im Nachtrapp. Was sagen Sie dazu, dass ich in Schlatters Dogmatik138 viel Schönes gefunden & viel Freude gehabt habe. Ich sandte gestern meinen Aufsatz139 an Rade ab, der übrigens daneben starke Kritik enthält. Aber der Mann ist durch & durch gesund & steht unbeschadet seines Biblizismus mit beiden Füssen auf der Wirklichkeit. Wahrscheinlich habe ich es meinem unphilosophischen Sinn zu danken, dass ich an einem solchen Werk Freude haben kann. Besonders zog mich seine Stellung zur Natur an wie überhaupt die nüchterne Anerkennung unsrer durchgängigen Abhängigkeit sich bei ihm verbindet mit dem Freiheits[-] & Verantwortungsbewusstsein. Das ist alles unendlich gesunder & wahrer als die ganze Kantische Philosophie, die aus den Abstraktionen ihrer reinen Vernunft nie herauskommt. Ich erwarte von dem Buch eine nachhaltige Wirkung, gar nicht im Sinn der Orthodoxie, für die ich auch jetzt nichts übrig habe, sondern im Sinn eines mehr realistischen religiösen Denkens im Gegensatz zu den Postulaten & Ideen die wir in die Luft hinausspinnen. Daneben hätte ich immer gern, es würde einmal jemand Zwinglis Stellung zur Mystik gründlich behandeln & wenn Sie Zeit & Lust hätten, wärs schön. Sie kämen dabei zugleich in Mystik & Reformation hinein, Tauler140 & Deutsche Theologie einerseits & Zwingli141 anderseits, sogar noch ein Stück Augustin.142 Er zeigt viel mystische Sprache, hat sicher mystische Schriften gelesen, sympathisiert auch mit der Mystik in seinem Spiritualismus & seiner Opposition gegen die Aussendinge, & geht doch wieder in den Hauptsachen seinen eigenen ganz andern Weg. Bei seinem Nachfolger Bullinger143 fällt dann dieser mystische Einschlag so gut wie weg & daher kommen wir mit ihm wieder in die gewöhnlichen Geleise. Aber es soll um alles kein Zwang sein. Am liebsten ists mir, wenn einer ganz von sich aus auf ein Thema kommt. Es freut mich, dass Ihnen mein Cromwell gedient hat. Denken Sie, ich war an dem Nachmittag, da Sie Ihren Vortrag hielten, gerade in Zürich bei meiner Mutter & schwankte einen Augenblick ob ich Sie hören solle. Aber wegen der 138 Adolf Schlatter: Das christliche Dogma, Calw/Stuttgart 1911. 139 Paul Wernle: Von einer neuen positiven Dogmatik. Rezension von A. Schlatter, Das christliche Dogma, in: ChW 26 (1912), 349–354, 370–373, 397–401. Wernle erklärt am Ende der umfangreichen Rezension: „Ich persönlich empfinde das, was mich mit Schlatter verbindet, stärker als das, was mich von ihm trennt, und wenn ich dieses dennoch hier so stark hervorhob, so geschieht es, um ihm desto ehrlicher für das danken zu dürfen, was er uns und allen Freunden evangelischer Erkenntnis mit seinem Christlichen Dogma gegeben hat“ (401). 140 Johannes Tauler (um 1300–1361) war einer der wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Dominikanermystik und erfolgreicher Prediger. 141 Huldrych Zwingli (1884–1531): Reformator in Zürich. 142 Augustinus von Hippo (354–430): Kirchenvater und Bischof. 143 Heinrich Bullinger (1504–1575): Nachfolger von Zwingli in Zürich.

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kurzen Zeit, da ich meine Mutter sah, stand ich davon ab. Mein Vortrag ging vielen über die Köpfe. Man glaubt nicht, wie schwierig das kirchliche & politische Parteienchaos für jeden Laien ist, der nicht genau in dieser Zeit lebt. Und nun von Herzen frohe Weihnacht. Ich habe Sie heut meinen Studenten gewünscht & schloss damit den Abschnitt vom alten Christentum.144 Wenn man wissen will, was es uns gab, dann muss man sich an die Weihnacht halten. Auf die wäre kein Kantianer gekommen, dort ist Gesetz das letzte Wort & hier Liebe, schenkende verzeihende Liebe. Das ist einfach wunderbar & man kann es nie ergründen. Mit recht herzlichem Gruss Ihr P. Wernle Nr. 26. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Frühjahr 1912 NL 290: B 346, 14 Lieber Herr Thurneysen! Es kommt jetzt mit Aarau145 recht dumm bei uns heraus. Der grössere Teil meiner Zuhörer bleibt hier & hat mir zu verstehen gegeben, dass ich über die Tage lesen solle. Ich hatte früher ausdrücklich erklärt, dass ich ausfallen lasse, um jedem Gelegenheit zu geben, hinzugehen. Aber da unser Semester noch in Gang ist & die Studenten für andere Vorlesungen hier sind, kann man ihnen nicht dagegen sein, wenn sie begehren, dass man auch lese. Es waren nur 10–11 Zuhörer meines Collegs, die nach A[a]rau zu gehen vorher entschlossen sind. Ich sagte den Studenten ausdrücklich, dass ich es bedaure, dass es sie nicht mehr hinzieht, so wie andere Jahre, & dass ich es für wertvoll halte für sie, wenn sie an [d]er Conferenz teilnehme[n]. Mehr kann ich ja nicht tun. Das Aergerliche ist, dass es dann natürlich heissen wird, unserein hätte sie von Aarau abgehalten. Ich schreibe Ragaz speziell darüber, weil er leicht empfindlich ist.146 Ich wüsste auch nicht, warum ich irgend jemand abhalten sollte, 144 Hier dürfte Wernles Vorlesung „Dogmengeschichte des Altertums u. des Mittelalters“ gemeint sein; siehe dazu das „Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Basel im Wintersemester 1910/11“, Basel 1910, 3. 145 Die 16. Christliche Studenten-Konferenz fand vom 4. bis 6. März 1912 statt; siehe dazu: Die XVI. Christliche Studenten-Konferenz Aarau 1912 [.] Den 4. bis 6. März, Bern 1912. Leonhard Ragaz sprach über „Jesus, Christentum und Reich Gottes“, abgedruckt a. a. O., 12–36. 146 Der Brief ist nicht überliefert.

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denn es kann jedem nur gut tun, die Conferenz zu besuchen. Ich empfinde es eigentlich als eine Notwendigkeit, wenn die Basler Studenten gerade Ragaz kennen lernen & sich einmal für seine Art begeistern[.] Aber es ist dies Jahr nicht Mode. Wären Sie hier in der Zofingia147, so brächten Sie ganze Massen dazu[,] aber ein solcher Führer hat diesmal gefehlt. Man lernt dabei freilich auch die Schwächen der Mode kennen; die Studenten sind wunderliche Leute hinsichtlich Bestimmbarkeit. Ich schreibe ihnen das, damit Sie eventuell törrichte Legenden zerstören können. Mit besten Grüssen Ihr P. Wernle Nr. 27. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 23. März 1912 NL 92: III A 13, 15 Verehrter Herr Professor, Schon lange hätte ich Ihnen gern wieder einmal ausführlich geschrieben, aber ich war in der letzten Zeit vollauf beschäftigt; ich musste gleich nach der Aarauerconferenz148 zwei Vorträge halten, einmal versuchte ich über die Zusammenhänge zwischen Religion und Moral zu reden und ein zweites Mal einfach über Friedrich Naumann. Das Letztere gab mir natürlich nicht so sehr zu tun, weil ich den Stoff gut kenne, aber ich musste ihn doch in ganz andrer Weise behandeln als seiner Zeit in der Zofingia149 und mich namentlich wieder von Neuem in ihn hineinlesen. Beide Arbeiten sind ganz wohl aufgenommen worden. Man hat überhaupt ein sehr dankbares Publikum hier im Verein. Ich merke auch, dass ich mir nach und nach ein wenig Boden geschaffen und Vertrauen gewonnen habe. Kürzlich fragte mich sogar unsere „Rechte“ für eine Bibelstunde an. Die Bibelstunden sind nämlich nicht ganz centralisiert, sondern die vom Samstag liegt in den Händen der sog.[enannte] Kommission

147 Siehe oben Anm. 126. 148 Die Konferenz fand vom 4. bis 6. März 1912 statt. 149 Thurneysen veröffentlichte im „Centralblatt“ der Zofingia den Aufsatz: „Ethik und Politik in ihrem gegenseitigen Verhältnis bei Friedrich Naumann“, in: Centralblatt des schweizerischen Zofingervereins 51, 1910/11, 138–160. Siehe dazu: Der Schweizerische Zofingerverein 1819–1969. Eine Darstellung hg. vom Schweizerischen Zofingerverein und vom Schweizerischen Altzofingerverein, Bern 1969, 210.

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für relig.[iöse] Tätigkeit150; die beruft aber meist mit Vorliebe Methodisten, Baptisten und andere Gemeinschaftsleute und nun also merkwürdigerweise auch mich und zwar, wie mir ausdrücklich erklärt wurde, auf Grund meines Referates über „der Christ im öffentl.[ichen] Leben“151; das habe ihnen doch gefallen, was mich einigermassen in Erstaunen setzt, weil es im Grunde seine Spitze gegen alles sich Abschliessen von der Welt hatte und kräftig, so kräftig es wenigstens hier geht, einer sozialen Religion das Wort redete. Aber die Leute sind eben unberechenbar. Jedenfalls bin ich nicht schuld, wenn ihnen dann m.[eine] Bibelstunde nicht gefällt, ich habe sie vor mir gewarnt und werde nicht anders reden als sonst. Mit solchen Vorträgen und dem langsamen Gewinnen einzelner Mitglieder ist allerdings nach m.[einem] Gefühl noch gar nicht viel geleistet für die Hauptsache, für die ich wohl eigentlich hierher gerufen ward, nämlich die Organisation der sog.[enannten] jüngern Abteilung, d. h. der ca 300 15–18 Jährigen, eigentlichen „christlichen“ Jünglinge.152 In diese ungeordnete Bande ein wenig Disciplin und simpelstes Zusammengehörigkeitsgefühl zu bringen, ist aber fast unmöglich. Die Verhältnisse liegen hier ausserordentlich schwierig, ich sage ruhig in gewissem Sinne schwieriger als z. B. bei Classen, nicht deshalb weil wir noch ärgere Schlingel hätten, sondern gerade weil unsere Jugend es im Ganzen auch zu Hause ganz gut hat und daher sehr unregelmässig kommt, und wir in keiner Weise wie etwa Classen die Aufgabe an ihr haben können, ein wenig die Familie zu ersetzen; im Gegenteil, wir müssen dankbar sein, wenn sie sich alle paar Sonntage mal entschliessen, zu uns zu kommen und die Familie zu lassen. Das trifft natürlich lang nicht auf alle zu aber auf die grösste Zahl. Jedenfalls habe ich nie das Gefühl, ich bekomme die Abteilung als ganze in die Finger, was doch dringend nötig wäre. Ich erreiche immer nur Einzelne und weiss das natürlich wohl zu schätzen, aber – es sollte mehr erwartet werden dürfen. Ich bin manchmal am Sonntag Abend, wenn sich der Schwarm verlaufen hat, nicht gerade hochgemut; aber es lässt sich wohl vorläufig nicht mehr erreichen. Mein „Chef“, Herr Egli153, das ist mein Trost, begreift die Sache auch sehr wohl und meint immer, er habe nie von einem raschen Erfolge geträumt, da müsse

150 Im März 1908 hatte sich die „Kommission für religiöse Tätigkeit“ über den schlechten Besuch der Bibelabende beschwert. Siehe dazu Glockenhof Zürich, 229. 151 Der Kirchenrechtler Rudolf Sohm (1841–1917) hatte 1895 auf dem 28. Kongress für Innere Mission mit dem gleichen Titel einen Vortrag gehalten, in dem er Politik und Religion streng voneinander trennte. Dieser Vortrag war wesentlich dafür verantwortlich, dass Friedrich Naumann in die Politik wechselte. Im Kontext der Beschäftigung Thurneysens mit Naumann dürfte deshalb die Wahl seines Vortragstitels nicht zufällig sein. Siehe dazu Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 2: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 168 f. 152 Damit ist der „Jungtrupp“ gemeint; er war bis 1914 die alleinige evangelische Gruppe für Schulentlassene und Konfirmanden und zog bei seinen Zusammenkünften am Samstagnachmittag jeweils bis zu 150 Teilnehmer an. 153 Karl G. Egli war neben dem Präsidenten F. Burckhardt der erste Sekretär des CVJM in Zürich. Zur Person siehe: Glockenhof Zürich, 76–78.

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man eben viel mehr Geduld haben und warten und langsam arbeiten können. Tatsächlich werde doch nicht ins Leere geschafft. Meine private Lektüre habe ich in der letzten Zeit, soweit ich neben meinen Vorträgen und dergl.[eichen] noch dazu kam, eigentlich ausschliesslich auf Luther beschränkt. Teilweise wollte ich gerade wegen der Zusammenhänge von Religion und Moral wieder ein wenig an die Quellen, zu Jesus und den Reformatoren zurückgehen. Und dann beschäftigte mich schon lange, und seit der Aarauerconferenz in erhöhtem Masse andauernd und eindringlich ein Problem, dem ich auch durch die Lektüre der Hauptschriften Luthers ein wenig nachgehen wollte, und von dem ich Ihnen gern noch ein wenig schreiben möchte. Es ist eigentlich die Frage der Stellungnahme zu unsern Religiössozialen, die Frage: wie verhält sich die Gottesreichshoffnung Jesu, wie sie gerade von den Religiössozialen aufgenommen und in das Centrum gestellt wird, zum Sündenpessimismus und individuellen Erlösungsglauben, wie er in der Reformation zum Ausdruck gekommen ist und heute noch bei unsern Positiven154 und wohl am meisten gerade bei den ernsten und ehrlichen als die Form des protestantischen Christentums gilt. Es ist wohl auch, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf, die Form protestantischen Glaubens, der Sie bei aller Offenheit andern Möglichkeiten gegenüber innerlich näher stehen als dem Entwicklungsoptimismus eines Ragaz.155 Ich wenigstens habe überhaupt erst von Ihnen gelernt und begriffen, was für eine Tiefe und Kraft in diesem reformatorischen Erlösungsglauben steckt und habe das vor den meisten zürcher Studenten voraus, die dahinter immer „Historismus“ und „Pietismus“ wittern und es einfach nicht besser verstehen. Ich hätte es sicher auch keinem einzigen unserer braven Positiven156 abgenommen, weil ich bei Ihnen diesen Glauben nicht verbunden sah mit der innern Freiheit, auch andern Möglichkeiten Recht zu geben, vielmehr in den meisten Fällen mit Angst und Enge, und daher nie so recht an die innere Überlegenheit, Echtheit und Sieghaftigkeit ihrer Überzeugung glauben konnte; ich tat ihnen damit wohl Unrecht; aber: wer seiner Sache sicher ist, hat keine Angst mehr und umgekehrt, war nicht nur mein Schluss sondern wohl auch der meisten Mitstudenten um mich herum. Bei Ihnen hatte ich keinen einzigen Moment dies Gefühl der Unfreiheit 154 „Die Positiven“ ist eine Sammelbezeichnung für eine theologische und eine kirchenpolitischkulturelle Richtung. Zu den einzelnen Facetten und Vertretern siehe vornehmlich mit Bezug auf die Verhältnisse in der Schweiz Eduard Buess: Die kirchlichen Richtungen, Zollikon/Zürich 1953, sowie Paul Schweizer: Freisinnig, positiv, religiössozial. Ein Beitrag zur Geschichte der Richtungen im Schweizerischen Protestantismus, Zürich 1972; ferner Rudolf Gebhard: Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 2003. 155 Ragaz vertrat die Auffassung, dass der säkulare demokratische Sozialismus das Reich Gottes ankündige und durch eine direkte Zusammenarbeit von Kirche und Sozialisten ein wahrer gesellschaftlicher Wandel herbeigeführt werden könne. Vgl. dazu die Programmschrift von Leonhard Ragaz: Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart, Basel 1906; vgl. auch ders: Was wir wollen?, in: NW 4 (1910), 245–249. 156 Siehe Anm. 116.

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andern Meinungen gegenüber und wusste mich drum immer auf so festem Boden. Entschuldigen Sie dieses persönliche Geständnis, aber für mich ist die ganze Sache eine stark persönliche. Ich verdanke beiden Stellungen, der ums kurz zu sagen mehr reformatorischen und der ausgeprägt sozial eschatologischen, durch Sie und durch Blumhardt ungemein viel.157 Niemand hat mich stärker beeinflusst und an Niemand hänge ich mehr, weil ich, einmal abgesehen von den Einflüssen des Elternhauses durch Sie und durch Bl.[umhardt] das Beste in mein Leben hineingeschenkt bekommen habe, was ich überhaupt kenne und besitze. Aber grad drum kann ich innerlich nicht zugeben, dass die Differenzen zwi.[schen] beiden Positionen so principielle und entscheidende seien, wie es manchmal behauptet wird, so z. B. von Ragaz in Aarau158, leider in etwas gereizter Weise Zickendraht159 gegenüber. Keine Schwierigkeit macht es mir, seit ich wieder gründlicher Luther gelesen habe, die Verpflichtung zu sozialer Arbeit in weitestem Umfang direkt aus den Grundüberzeugungen der Reformation herzuleiten. Da unterschlagen oft unsere Positiven einfach die eine Hälfte des genuin protestantischen Christentums, das hat mir auch Zickendraht zu wenig betont in s.[einem] Votum in Aarau160; sie bleiben beim getrösteten Gewissen und gnädigen Gott stehen, während Luther eigentlich in jeder Schrift an hundert Stellen gradlinig und direkt fortschreitet zu der grossen Forderung tatkräftiger Bruderliebe aus dem Glauben heraus. Darauf haben Sie mich schon aufmerksam gemacht, wenn Sie mir sagten, für Sie fliesse die Forderung sozialer Liebesgesinnung z. B. aus dem Wort Luthers, dass Jeder dem Andern ein Christus werden solle, und dies ungeheuer hochgespannte Wort steht ja bei Luther seinem Sinn nach nicht allein, sondern bezeichnet nur das Centrum seiner ganzen Ethik. Man fällt also mit solchen Forderungen keineswegs aus der Linie des reformator.[ischen] Glaubens heraus; es lässt sich die aktive Bruderliebe mit dem Sündenpessimismus zusammendenken, ja, er treibt sie eigentlich hervor nach dem einfachen Grundgesetz, dass wer sich tief in der Schuld bei Gott weiss und viel Vergebung nötig hat, viel lieben muss, allerdings vor allem Gott aber in den Brüdern. 157 Christoph Blumhardt wertete die Sozialdemokratie mit ihrer Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft positiv und sah im Sozialismus ein Zeichen des Wirkens Gottes außerhalb der Kirche. Seine Gedanken wurden in der religiös-sozialen Bewegung der Schweiz besonders von Hermann Kutter aufgenommen und weiterentwickelt. In seinem Buch „Sie müssen!“ von 1904 bezeichnete Kutter die revolutionäre Sozialdemokratie als ein Werkzeug Gottes zur Brechung der Macht des „Mammonismus“ und zur Erneuerung des menschlichen Lebens. 158 Leonhard Ragaz: Jesus, Christentum und Reich Gottes, in: Die XVI. Christliche StudentenKonferenz. Aarau 1912. Den 4.–6. März, Bern 1912, 12–36. 159 Karl Zickendraht, ein Schüler Wernles, erlangte durch eine Preisarbeit den Grad eines Lizentiaten. Die Schrift wurde veröffentlicht: Karl Zickendraht: Der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfreiheit, Leipzig 1909. 160 Es scheint sich um ein mündliches Votum gehandelt zu haben. Wahrscheinlich ist aber auch der Bezug auf Aussagen, die in dem wenig später erschienenen Aufsatz formuliert werden: Karl Zickendraht: Stellvertretung und Sündenvergebung im Leiden Jesu, in: ZThK 23 (1913), 390–398.

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Womit jedoch dieser reformatorisch-paulinische Sündenpessimismus, aus dem eben in der gedachten Weise die Forderung der Nächstenliebe erwächst, schwer vereinbar scheint, das ist die Reichsgotteshoffnung, wie sie von unsern Religiössozialen, von Kutter161, Blumhardt, Ragaz behauptet wird. Mir scheinen die Spannungen und Gegensätze auch für das nachprüfende Denken wirklich immer wieder gross, und wenn auch die praktische Einigung auf die Forderung hilfsbereiter Liebe in weitestem Masse vorhanden ist, so kann man sich doch nicht verbergen, dass diese Forderung bei den Religiössozialen eine ganz andere Begründung erfährt: es ist viel weniger die Liebe dessen, der sich selber bei Gott tief in der Schuld weiss und etwas davon an s.[einen] Brüdern abzutragen versucht – das scheint mir immer wieder die Begründung im Evgl [Evangelium] und bei Luther, und davon höre ich z. B. bei Ragaz wenig – als es ist die tatkräftige, umgestaltende Energie dessen, der aus einer grossen Hoffnung heraus arbeiten kann und mit einem alle noch entgegenstehenden Hemmnisse überfliegenden Blicke in der von ihm geleisteten Arbeit schon die Werte sich verwirklichen und erfüllen sieht, auf die er hofft. Er schaut die Vollendung mitten in der Unvollkommenheit herannahen; darum hat man das Recht, hier von einer eschatologischen Frömmigkeit zu reden. Gerade dieses starke Hoffen aber scheint auf der Gegenseite völlig ausgeschlossen durch das ständig gegenwärtige tiefe Bewusstsein der eigenen und allgemeinen sündigen Unkraft und Ohnmacht und die immer wieder eindringlich hervortretende Erkenntnis der geringen Vervollkommnungsfähigkeit der menschlichen Natur und der innerweltlichen Verhältnisse überhaupt. So fallen scheinbar beide Frömmigkeiten immer wieder aus einander, vielleicht nicht gerade feindlich, aber wie zwei Kreise, die sich nicht berühren; wenn sie auch in ihren Consequenzen sich manchmal aufs engste verwandt erscheinen, so sind sie doch heterogen und letztlich keiner tiefern, fruchtbaren Verbindung fähige Formen christlicher Frömmigkeit. Sie mögen, gerade in Übergangszeiten wie der unsrigen sogar lange Zeit in einem einzigen menschl.[ischen] Bewusstsein zusammenliegen; sobald sie sich ihrer innersten Begründungen und Tendenzen bewusst werden, wird es zum Riss und Bruch kommen. So hat sich mir die Sache schliesslich dargestellt, und es schien mir Mangel an Energie und Klarheit des Denkens, dass ich mich von beiden Polen immer wieder angezogen fühlte und es fertig brachte, heute Kutter und Blumhardt und morgen Paul Gerhardt162 und Luther zu lesen und mich an beiden zu freuen. Was mir aber am meisten unerklärlich schien, war die Tatsache, dass beide Gruppen sich aufs Evangelium Jesu beriefen, und zwar wie mir schien und heute noch scheint mit gleichem innern Recht. Bei Jesus verbindet sich die grenzenlose Kühnheit eines Hoffens aufs Gottesreich mit einem absoluten Überzeugtsein 161 Hermann Kutter stammte aus einem pietistischen Elternhaus und kam durch Christoph Blumhardt zum Religiösen Sozialismus; von 1898 bis 1926 war er Pfarrer am Zürcher Neumünster. Zu Thurneysens Beurteilung von Kutter siehe Brief Nr. 29. 162 Paul Gerhardt (1607–1676), Pfarrer und Kirchenliederdichter.

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von der gänzlichen Unkraft, ja Bosheit der menschl.[ichen] Natur („ihr die ihr arg seid“)163. [Das Letztere geben zwar unsere heutigen Reichsgottesleute, Ragaz oder Pfr. Ad. Preiswerk164 nicht oder nur sehr verklausuliert zu.]165 Und da hat sich mir nun die Beobachtung aufgedrängt, dass vielleicht gerade der radicale Ernst, mit dem Jesus vom Menschen und s.[einer] natürlichen Unkraft denkt, diese absolute Hoffnung auf das kommende Reichgottes und seine Erlösung von allem Leid und allen Schmerzen menschlicher Endlichkeit erzeuge, und zwar so, dass sie beide ihren Grund und ihre Wurzel in seinem Gottesglauben haben. Gelänge es, dies bei Jesus deutlich zu machen, gewissermassen die innere Dialektik, mit der beides aus einander hervorgehen muss, aufzuweisen, so wäre auch unsere Situation geklärt. Es ist mir das z. B. an der Perikope vom reichen Jüngling166 ein wenig aufgegangen. Darf ich noch kurz skizzieren wie? 1. „Niemand ist gut ausser Gott…“ Der tiefe Ernst, mit dem Jesus von Gott denkt. Er erschrickt ob der gewöhnlichen Leichtfertigkeit, mit der die Menschen von gut und böse reden. Er kennt Gott als Macht des Guten, neben dem nichts mehr gut heissen darf, weil alles erbärmlich ist im Vergleich zu der Grösse der Güte, die Gott von uns fordert, weil sie sein Wesen ist. 2. Nach diesem gewaltigen Auftakt will Jesus diesem Menschen zur Freiheit helfen; eben aus der innern Liebe, Freiheit und Kraft heraus, die er selber aus Gott schöpft, diesen Mann auch hineinführen in die Hingabe an Gott und seinen absoluten Willen: „Verkaufe alles, was du hast und gibt es den Armen…“167 damit wirst du frei für Gott. Wieder zeugt diese Forderung von der grenzenlosen innern Freiheit, die Jesus selber besessen haben muss. Er verlangt, dass dieser Mensch mit keiner andern Macht mehr rechne als mit Gott allein. Nur noch Gott. Und keine menschlichen Sicherheiten und Stützen mehr. Das ist der Sprung ins Dunkle, der zu gross ist für diesen Jüngling, „denn er besass viele Güter“168. Wer aber überhaupt vermöchte das? 3. „Bei den Menschen ists unmöglich“169. Jesus weiss es, es ist unmöglich. Es klingt kaum wie eine Enttäuschung. Er erwartete es nicht anders. Es ist der radicale Pessimismus im Denken über den Menschen. Und sein Radicalismus liegt eben darin, dass er gar nicht viel Aufhebens macht. Es klingt mit derselben Selbstverständlichkeit: „bei den Menschen ists unmöglich“ wie „ihr, die ihr doch arg seid…“ 4. Bei Gott aber sind alle Dinge möglich: Wer sich entschliesst, an Gott zu glauben, eben weil er gar nichts von Menschenkraft erwartet, der wird ein Optimist ohne Grenzen. Floss erst der ungeheure Ernst – Niemand ist gut 163 164 165 166 167 168 169

Lk 11, 13. Adolf Preiswerk war seit 1897 Pfarrer auf der „positiven“ Pfarrstelle an der Basler Peterskirche. Einfügung von Thurneysen. Mt 19, 16–26; Mk 10, 17–27; Lk 18, 18–27. Mk 10, 21. Mk 10, 22. Mk 10, 27.

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ausser Gott – aus dem Glauben an Gott, so fliesst jetzt die Hoffnung, der das Unmögliche möglich erscheint, aus demselben Glauben an Gott, der die Macht über alles ist. So ist der Gottesglaube der Schlüssel für das Zusammenklingen von grenzenlosem Ernst und grenzenlosem Hoffen in der Verkündigung Jesu. Ja, man darf vielleicht sagen: Jesus spricht eben deshalb verhältnismässig so wenig von der Sünde und all den Widerständen der menschlichen Natur und weltlichen Endlichkeit, weil er sie so ungeheuer hoch wertet. Er erwartet drum gar nichts vom Menschen und seiner Kraft, redet auch nicht enttäuscht davon; er kennt sie ja. Aber weil er vom Menschen nichts erwartet, erwartet er alles von Gott. Von hier aus darf man vielleicht fast die Paradoxie wagen, dass unsere Positiven, die immerzu bei der Sünde und dem Sündentrost stehen bleiben, im Grunde die falschen Optimisten sind: denn es ist wie ein verborgenes doch-noch-rechnen mit menschlichen Massstäben und menschlichen Kräften, wenn sie immerzu von der menschl.[ichen] Unkraft reden. Jesus rechnet überhaupt gar nicht mehr mit der menschl.[ichen] Natur, drum redet er auch nicht so viel von ihrem Versagen. Es ist ihm selbstverständlich: „Niemand ist gut… ihr, die ihr arg seid… was wundert ihr euch über jene, die der Turm zu S.[iloah] erschlug, wundert euch vielmehr darüber, dass ihr noch am Leben seid…[“]170 Aber er erwartet drum auch alles von Gott und dem Einströmen seiner Kräfte. Und so kann er wieder unendlich Grosses erhoffen, sogar den Anbruch und schliesslichen Sieg des Gottesreiches in dieser Zeit und Welt. So fasse ich im Gottesglauben die zwei scheinbar auseinanderfallenden Hälften: Ernst und Hoffnung, Pessimismus und Optimismus und sage: Der Mann, der am tiefsten den Ernst der Widerstände erkannt und gewertet hat, hat auch am glühendsten gehofft. Das schliesst sich nicht aus, fordert und erzeugt sich vielmehr gegenseitig, so paradox es klingen mag. Und es ist nur eine Erneuerung dieser Paradoxie, wenn wir in der Reformation Sünder- und Kindesbewusstsein wundersam verschlungen, und vielleicht dieselbe Paradoxie, wenn wir heute die Hoffnungsfreudigkeit der Gottesreichserwartung bei innerlich ganz ernsten, keinesfalls oberflächlichen Männern aufbrechen sehen. So bestände also doch eine auch gedanklich fassbare innere Verwandtschaft zwischen dem Luthertum, Paul Gerhardt einerseits und Blumhardt, Kutter etc andrerseits. Und es wäre nicht aus Mangel an Unterscheidungsvermögen und Denkkraft, wenn man beides zusammennehmen kann. – Ich habe Ihnen dies alles so ausführlich geschrieben, nicht weil ich meine, damit etwas Neues gesehen zu haben, sondern weil es ein Problem ist, das mich lange beschäftigt hat, und ichs so gewöhnt bin, mit meinen Anliegen und Fragen an Sie wie an einen Vater zu gelangen. Sie haben mir schon so viel geholfen, und ich freue mich schon, dass ich Sie nächstens (ich hoffe jetzt endgültig über den kommenden Sonntag nach Basel zu können) wieder selber besuchen und sehen darf, auch wenn Sie nur kurz Zeit für mich hätten. Es ist 170 Lk 18, 19; Lk 11, 13; Lk 13, 4–5.

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mir einfach auch ein Stück Heimat, dass ich in Ihrem Hause aus- und eingehen darf. Hoffentlich geht es Ihnen und Ihrer Familie gesundheitlich gut; mir fehlt gottlob auch nichts. Es grüsst Sie, Frau Professor und Hans in alter herzlicher Hochachtung und Dankbarkeit Ihr Eduard Thurneysen. Ich danke Ihnen noch für Ihre frdl.[freundliche] Karte von der Aarauer171; ich habe Ihre Studenten eigentlich ein wenig begriffen, ausser Ragaz war eigentlich nicht viel los, und den kannte man schon einigermassen; jedenfalls fiel das Wegbleiben einzelner Theologen nicht sehr auf, es kamen immer noch ziemlich viel Basler. Ich habe eigentlich nur bedauert, dass Sie selber nicht nach Ragaz gehört werden konnten. Entschuldigen Sie, bitte, dass mein Brief trotz Versprechen erst heute am 27.III[.] abgeschickt wird, er ist in vielen kleinen Absätzen entstanden, weil ich zusammenhängend nicht recht dazu kam. Nr. 28. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Basel, 30. März 1912 NL 290: B 346, 15 L. H. Thurneysen. Ich freue mich sehr, Sie zu sehen & mit Ihnen von Ihrem Brief zu reden. Sie melden nicht, wie lang oder kurz Sie hier sind. Ich möchte Sie natürlich auch nicht gern Ihren Eltern entziehen. Kommen Sie, wann Sie wollen, entweder zum Abendessen oder nach der Kirche. Antwort vorher ist nicht nötig. In Basel wird das Reich Gottes sicher nicht bald kommen, wir stehen angesichts der Synodalwahlen vor Miseren über Miseren. Das bestärkt mich in meinem Vertrauen & meinem Mut. Aber mein Schwager hat viel durchzumachen & die Sachen werden genau so wie weniger grasgrüne Optimisten als die Macher seiner Wahl sie von Anfang an kommen sahen.172 Mit besten Grüssen Ihr P. Wernle 171 Gemeint ist die Christliche Studenten-Konferenz; siehe oben Brief Nr. 26. 172 Die neue Synode konstituierte sich am 8. Juni 1912, ihr Präsident wurde der Theologieprofessor Eberhard Vischer. Vor den Wahlen hatte sich ein Verein sozialdemokratischer Kirchgenossen gegründet. An den Wahlen hatten nur 25 Prozent der Stimmberechtigten teilgenommen. Paul Wernle wurde als einziger der Liste der „Unabhängigen“ in die Synode gewählt.

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Nr. 29. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 30. April 1912 NL 92: III A 13, 16 Verehrter Herr Professor, Es ist schon spät, aber ich möchte Ihnen doch noch in aller Kürze ein paar Worte zu Ihrem morgigen 40. Geburtstag schreiben. Ich denke immer mit grosser, herzlicher Dankbarkeit an Sie und all das viele, das Sie mir schon geschenkt haben und immer noch schenken, bin mir aber auch tief bewusst, dass ich dadurch verpflichtet bin, selber soweit es in meinen Kräften liegt etwas rechtes und ganzes zu werden und mich dessen, was ich von Ihnen empfangen durfte soviel es mir möglich ist wert zu erweisen. Ich freue mich und bin dankbar, dass wir Junge in unsrer disparaten, verworrenen und ernsten Gegenwart Sie unter uns haben und auf Sie hören und mit Ihnen in Verbindung stehen dürfen. Wills Gott bleiben Sie uns noch lang erhalten. Ich freue mich immer über Alles, was ich von Ihnen zu Gesicht bekomme; grad Ihre Schlatterrezension173 habe ich mit viel Interesse gelesen, nicht nur weil ich, soweit ich Schlatter (aus Collegheften) kenne und beurteilen kann, mir Ihre Meinung über ihn zu eigen machen konnte, sondern weil ich aus Zustimmung und Kritik wieder Sie selber heraushörte und herauslas und das einfache tiefe Verständnis des Evangeliums und der Person Jesu, das Sie immer wieder vertreten, und das mir selber immer als das wahrste und beste erschien, jedenfalls das, das ich am sichersten erfassen konnte, und auf dem ich am liebsten stehen möchte. Gestern und heute habe ich wieder Probepredigten gehört. Die Leute dauerten174 mich, es ist eben ein rechtes Hindernisrennen. Einige sind denn auch gelegentlich ein wenig gestolpert, aber nicht gefährlich, und natürlich grade die wertvolleren, die nicht nur so im Conventionellen stecken blieben; an Holzers Predigt habe ich eigentlich am meisten Freude gehabt, wiewohl er gerade eher stockend sprach; Hauri175 war dafür umso glätter nach Form und Inhalt. Im Verein habe ich vergangene Woche viel zu tun gehabt: Samstags eine Bibelstunde, Sonntags eine Rede an einem Familienabend, für die ich mir Vor der Wahl hatte sich Wernle kritisch zum kirchlichen Parteiwesen geäußert in einem gehaltenen und später veröffentlichten Vortrag „Kirchliche Parteien und kirchliche Wahlen“, in: Neue Wege 6 (1912), 220–236. Mit dem Schwager ist Rudolf Liechtenhan gemeint, der seit 1910 Pfarrer in Basel war. 173 Siehe Anm. 139. 174 Bedeutet: Ich bin unzufrieden, verstimmt, bekümmert. Siehe Grimm, Bd. 2, 842–844. 175 Hans Hauri wurde 1912 ordiniert und arbeitete auch beim CVJM in Zürich.

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besonders viel Mühe geben musste, weil ich meine ganze Auffassung einmal ein wenig entwickeln und meiner jüngern Abteilung ein wenig ins Gewissen reden wollte. Daneben habe ich nun also Köhlers Zwingli176 belegt und bei Ragaz ein Colleg über die moderne Predigt und ihre Aufgaben.177 Kürzlich durfte ich wieder einen langen und gefreuten Abend mit Kutter verleben. Ich finde immer mehr, er sei von den Zürcher Religiössozialen der Tiefste und Originalste.178 Je mehr ich ihn zu verstehen suche und mit ihm selber reden kann, desto weniger empfinde ich übrigens die Spannungen, von denen ich Ihnen in meinem letzten Briefe zu schreiben versucht habe. Kutter ist eigentlich nichts anderes als ein innerlicher Pietist, nur hat er dazu noch ein überaus feines, scharfes und sicheres Gewissen für alles Ungerechte und jede Art von Compromissfrömmigkeit. Dazu ist er ein wenig ungeduldig, aber das sind diese Zürcher Sozialisten alle. Und ich darf eigentlich dagegen gar nicht soviel sagen, denn ich bins im Grunde auch ein wenig, freilich nicht so fürs grosse Ganze aber im Rahmen unseres Vereins: ich denke manchmal auch wenn ich so die trägen und ein wenig oberflächlichen Massen unsrer Vereinsmitglieder abends im Haus herumströmen sehe oder vor ihnen rede oder mit ihnen herumstehe, es sollte eigentlich eine ganz andre Kraft und ein andrer Geist in sie fahren, mehr Innerlichkeit und Sinn für das grosse Gemeinsame, das uns als Christen im Verein zusammenführt. Ich habe eigentlich im Zofingerverein mehr von diesem innern Zusammengehörigkeitsgefühl und an gemeinsame Aufgaben und Ziele sich Gebundenwissen gefunden als hier, wo doch ein Zentrum gegeben wäre, wie es kein grösseres gibt. Ich seufze oft mit meinem „Chef“, Herrn Egli, ein wenig unter diesem Mangel an „Pietismus“, oder wie ich dem sagen soll, (jedenfalls Pietismus ohne Orthodoxie!). Es ist hier oft noch zu viel Betrieb und Geschäft, und der Geschäftsgeist ist immer das Ende und der Tod alles Lebens. Es wäre schon viel geholfen, wenn mehr Leute ein wenig Sehnsucht und Bedürfnis darnach hätten und ein wenig unruhiger und unsicherer wären. Wir, Herr Eglis und ich gehören jedenfalls zu diesen, die sich in dieser Beziehung noch geistlich arm wissen; wir empfindens eben am stärksten, weil wir am meisten drin stehen, und vielleicht ist das schon etwas wert. Ich hoffe, Sie verstehen mein Georakel ein wenig; ich kanns selber nicht so klar sagen, 176 Walther Köhler war seit 1909 ordentlicher Professor in Zürich. Er las im Sommersemester 1912 u. a. mittwochs von 16 bis 17 Uhr und samstags von 8 bis 9 Uhr „Ulrich Zwingli und seine Zeit (Schweizerische Kirchengeschichte, II. Teil)“; siehe dazu StAZH, III Eef 15.10, Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Zürich im Sommersemester 1912, Zürich 1912, 1 f. 177 Hier ist gemeint: „Die Aufgaben der heutigen Predigt“, Freitag 8–9; siehe dazu StAZH, III Eef 15.10, Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Zürich im Sommersemester 1912, Zürich 1912, 1 f. 178 Gegenüber Ernst Staehelin äußerte Thurneysen seine Wertschätzung Kutters am 11. Dezember 1913: „Meine Verehrung für den geistvollen, genialen Mann ist trotz allerlei Schwächen, die ihm anhaften, immer noch ungemindert. Ich lerne bei ihm immer wieder von neuem und bewundere seinen religiösen Tiefblick und, wie soll ich sagen? – Instinkt.“

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was mir fehlt. Schliesslich aber freue ich mich, dass nicht alles so glatt geht und es noch etwas zu erstreben und manchmal zu tragen gibt; ich habe das Gefühl, dann nicht ganz so umsonst da zu sein und selber innerlich vorwärtszukommen. Viele Grüsse an Frau Professor und Hans. Vor allem aber seien Sie selber in herzlicher Hochachtung und alter Dankbarkeit gegrüsst von Ihrem Schüler Eduard Thurneysen Nr. 30. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 2 Mai 1912 NL 290: B 346, 16 Lieber Herr Thurneysen! Haben Sie vielen Dank für Ihren Geburtstagsbrief, der mich sehr erfreut hat & mir Ihre alte unverdiente Anhänglichkeit an mich neu illustriert. Diesmal haben mich Ihre Eltern so rührend bedacht & die Studenten haben sogar einen grossen Jux gemacht mit Bekränzung des Katheders & Trampeln. Ich habe ihnen dann freilich erklärt, dass mir eigentlich zu condolieren sei, denn von jetzt an gehe es bergab mit mir, jedes Jahr greisenhafter, konservativer & altmodischer aber sie haben dagegen mit Scharren protestiert & einstweilen werden mir die Jungen auch noch helfen, jung zu bleiben. Ich glaube, mein Temperament sorgt ja auch dafür, aber wenn ich im übrigen reifer werde als ich bin, schadet es gewiss nichts. Klarer, fester, ruhiger, das ist wirklich, was ich mir wünsche. Man hat doch eine heillose Verantwortung als akademischer Lehrer. Die Leute glauben einem ja wirklich vielfach jeden Unsinn & wenn einer eine frische begeisternde Art hat, kann er alles mit ihnen machen. Nachher freilich zerstiebts dann in alle 4 Winde. Von der Arbeit erwarte ich am meisten, jung & frisch zu bleiben, von wirklicher Arbeit, die neues lernen & umlernen kann. Und dann habe ich so gute Freunde, meine Frau zunächst, die wahr mit mir sind, mir & sich nichts vorhaben, rücksichtslos korrigieren & kritisieren, aus wirklicher Liebe heraus. Das ist das Beste. So vielen feinen Leuten, die ich kenne, fehlt das, sie werden nur bewundert, aber nicht so geliebt, dass man sie auch haut. Ich las eben den Schlusssatz der prächtigen Abschiedrede von Greyerz179; wie kann ein solcher Mann so geschmacklos schliessen mit seinem Selbstlob in der Ewigkeit! 179 Greyerz wechselte 1912 von Winterthur nach Kandergrund. Seine Abschiedspredigt liegt gedruckt vor: Karl von Greyerz: Abschiedspredigt. Gehalten in der Stadtkiche Winterthur Sonntag den 21. April 1912, Winterthur 1912. Wernle kritisiert folgende Schlusspassage der

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Es ist schade, dass ich nicht Sie noch einmal sah nach der Kutterpredigt, die ich an meinem letzten Tag in Zürich hörte. Am liebsten hätte ich Kutter selbst gesehen & ihm kräftig geschimpft. Ich besann mich, ihm zu schreiben, aber kam zu dem Schluss: es wäre rein in den Wind geschrieben. Es war eine wirklich bedeutende grosszügige Predigt, die man nicht vergessen kann über Röm 6,1 f. Aber ich wurde zum Zerplatzen voll Opposition. Zuerst kam eine Hinrichtung des Christentums wegen der Sünde & dem Wesen, das es aus der Sünde macht, als hätte nicht gerade Paulus am meisten dazu Anlass gegeben & als müsste nicht jeder tiefer Ernst, jeder Bruch mit dem Durchschnittsstumpsinn nach dieser Seite hin treiben. Im Gegensatz dazu kamen dann die Nietzscheschen Töne von dem Leben, der Kraft, der Freiheit jenseits der Sünde & Moral,180 zT [zum Teil] rein naturalistisch, mit dem Protest gegen die Bekehrung, mit dem Appell an die Natur & an die Massen, die so wie sie seien, für Gott recht seien, lauter Dinge, die K[utter] ja ganz anders meint, als er sie sagte. Und dann seine eigene dualistische Sünden & Erlösungslehre181, die gewiss vieles vom alten Paulus für sich hat: die Sünde als eine fremde Macht, die uns gefangen hält, gegen die wir mit dem Willen rein nichts können; du bist nicht böse, du bist gut & das Göttliche rauscht in deinen Tiefen. Und wie die Sünde eine fremde Macht, so die Erlösung. Christus hat uns einfach erlöst & frei gemacht, nun gibt es kein Ringen, Kämpfen sich Anstrengen, du bist frei & damit fertig. Wenn das Christentum dies sowohl auch als182 wäre, dieses Ding, da wir immer wieder in Sünde fielen, immer wieder Gnade brauchten & wieder fielen, so wollten wir lieber es verfluchen & die Kirchen für immer schliessen. Entweder-Oder. Daneben auch eine äusserst scharfe Polemik gegen den Sozialismus, der vor der Reform der äussern Verhältnisse, statt von der allein wichtigen innern Revolution das Heil erwartet etc. Ich konnte sehr wohl das grosse Ideal mitfühlen, das durch das Ganze gieng, eine grosse Sehnsucht nach ganzen Gottesmenschen & Jüngern Jesu, die über alle Misere hinaus wären, frei, stark, furchtlos, im vollen Besitz & in der Kraft Gottes. Aber wenn ich dann mich & alle die Leute um mich herum sah, ich kann Ihnen nicht sagen,

Predigt: „Und so scheide auch ich, meine liebe zweite Kirchgemeinde, von dir als ein Hoffender, der die Saat, die er hier ausstreuen durfte, samt sich und seiner treuen Gattin, einem Höheren befiehlt. Heute geht es ja nur an ein Scheiden von Ort zu Ort. Einst geht dann an ein Scheiden aus der Zeit in die Ewigkeit. Gebe Gott, daß wenn es in dieser Zeit zu keinem Wiedersehen mehr zwischen uns kommt, es einst ein um so seligeres Wiederfinden gebe. Da ruft – o möchte Gott es geben! – Vielleicht auch mir ein Sel’ger zu: Heil sei dir! denn du hast mein Leben, Die Seele mir gerettet, du!“ 180 Anspielung auf Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Leipzig 1886; sowie ders.: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Leipzig 1887. 181 Siehe hierzu: Hermann Kutter: Gerechtigkeit. Ein altes Wort an die moderne Christenheit, Jena 1910. 182 Muss heißen: „als auch“.

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was für Gefühle ich hatte. Ich musste zuletzt an die grossen Sprüche im Breo183 denken & einfach lachen. Und dann sagte ich mir: der Mann ist nun ganz voll von sich & seinen Gedanken & Idealen, aber auf die Menschen um sich her & auf Gott, der diese Menschen gemacht hat & leitet, sieht er keine Spur, er hört nur noch sich selbst & überbrüllt die ganze Wirklichkeit. Und wo bleibt da alle einfache Menschenliebe & Geduld, wenn man dem lieben Gott befiehlt, entweder du machst die Menschen so oder ich schmeisse dich in den Winkel. Wenn ich dann meinen Luther daneben stelle, etwa gerade nach der Rückkehr von der Wartburg oder später auf einer seiner Kirchenvisitationen, dann weiss ich ganz genau, auf welcher Seite Jesus selber ist & auf welcher nicht. Ein Mensch, der in der Wirklichkeit steht, dh [das heisst] aber eben in der Unvollkommenheit & Misere, ohne die ich kein Menschenleben kenne, der konnte mit der ganzen Predigt einfach nichts anfangen, höchstens unendlich entmutigt sein. Es ist zuletzt doch Niet[z]sches Kraftprotzentum ins Religiöse übertragen; das Gewöhnliche ist zu langweilig, zu nüchtern & alltäglich, & darum fort damit, entweder oder. Wenn Kutter nur einmal den Paulus wirklich lesen könnte! Aber daran fehlt es ihm wie Ragaz, sie schöpfen aus sich selbst, es geht nichts mehr in sie ein. Ein paar Verse nach Kutters Text standen die kräftigsten dringlichsten Moralverse mit dem Appell an den Willen. Was wäre aus dem ganzen Werk des Paulus geworden, wenn er nur grosse Sprüche wie Röm 6,1 ohne die Fortsetzung & ohne die unendlich stille geduldige Arbeit gebracht hätte? Sie schrieben mir eben so begeistert von Kutter & bekommen nun diese Antwort. Nun Sie haben ihn nun schon wieder neuer, frischer vor sich[,] darum macht das nichts. Weiss Gott, er hat seinen Beruf von Gott & wenn sein Wort bei vielen einschlägt & Frucht bringt, mir um so lieber! Man kann ihn ja auch bei nichts fassen, er wirft die Sachen nur so enthusiastisch aus sich heraus & wohl jeden Sonntag wieder andere. Ich wollte nur zeigen, warum er für mich kein Prophet sein kann, wie ich überhaupt von dem Ersehnen der Propheten immer mehr loskomme. Männer brauchen wir, die fest in Gott steh[en] & in der Wirklichkeit, die ohne grosse Sprüche ihren Weg gehen mutig, geduldig, ohne Lärm, das Rechte tun als etwas Selbstverständliches, von der Welt & der Zukunft nichts erwarten, aber einfach helfen, dienen, tragen am grossen oder kleinen Platz. Für Sie habe ich bei all dem nicht die geringste Sorge. Sie werden Ihren Weg ehrlich & tapfer gehen, wie Gott Sie führt, werden von allem lernen & gewinnen, bei jedem das Beste erfassen & sich das aneignen, was Ihnen gemäss ist. Nehmen Sie von Kutter, so viel sie können, es wird bei Ihnen gut aufgehoben sein. Für manche andere unter den Jungen habe ich freilich zu Zeiten angst. Wir sind tatsächlich dank Ragaz & Kutter in das lärmige Stadium getreten, wo nur das gilt, was laut auftritt, grosse Worte von sich & vom Neuen macht, Sensation hascht, mit Revolution spielt etc[.] Unsre Ohren sind bereits 183 „Breo“ ist das Vereinslokal der Zofingia in Basel; siehe dazu oben S. 53.

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so, dass wir andere Melodien nicht mehr ertragen können. Alles andere ist gleich Durchschnitt, Gewohnheit, Kirchenwesen. Sie wissen selbst, wie das klingt. Natürlich wird das rasch vorübergehen, aber dann ists schade, dass so wenig Solides bleibt von dem Wertvollen Neuen, was zu bleiben verdiente. Ich möchte gern wirklich jung bleiben & andern helfen jung zu sein gerade im Gegensatz zu dem Ueberschwall, der gross tönt & vergeht. Nächstens sind wir wieder so weit, 1 Kor 13 zu verstehen, nachdem wir durch die Schule der Zungenredner gegangen sind. Dort steht das wundervolle Wort von Mann werden. Ueberhaupt was wir alles noch tiefer persönlicher verstehen sollten im NT [Neuen Testament]! Nun habe ich meinem Herzen viel zu freien Lauf gelassen. Sie wissen ja trotzdem, wie sehr ich Kutter liebe & verehre, ich bin ihm nur darum so böse. Was hat er für Gottesgaben empfangen & wie wenig Zucht hat er mit ihnen. Hol der Teufel seine ihn bewundernde Frau!184 Wenn Sie ihn sehen, so können Sie ihm, wenn Sies für gut finden, wohl andeuten, mit welchem Grimm ich von seiner Predigt schrieb. Und ich hätte ihm selbst wie gesagt darüber geschrieben, wenn ich nicht dächte, dass Propheten wie er über solche Briefe hinaus sind & man eben jeden reden lassen muss, wie ihm Gott den Schnabel gemacht hat. Ich habe viel Arbeit das Semester mit 4 Seminarien, das NTliche [neutestamentliche] 2mal für Aeltere & Jüngere.185 Ich lerne aber viel bei allen, wenn die Studenten nur einen Teil davon, ists schon etwas. Markus ist mir wieder besonders lieb, man kann ihn immer neu lesen & findet immer Neues, Herrliches. Nun mit recht herzlichem Gruß Ihr P. Wernle

184 Lydia Kutter, geb. Rohner. 185 Wernle bot als Seminare an: „Religion der deutschen Klassiker“ sowie „Markus und Parallelen“; siehe dazu das „Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Basel im Sommer-Semester 1912“, Basel 1912, 3.

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Nr. 31. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Basel, 3. Juni 1912 NL 290: B 346, 17 L. H. Thurneysen! Ich möchte schon lange gern wieder etwas von Ihnen wissen & hoffe, mein letzter Brief mit der Expectoration über die Kutterpredigt habe nicht zur Folge gehabt, dass Sie mich ganz als reaktionär betrachten. Aber Sie stecken wohl tief in Tröltsch. Nun muss ich wahrhaftig doch bei den Zofingern einen Vortrag halten & ich habe mir das Thema Idealismus & Christentum vorgenommen, das mir für diesen Kreis passend scheint, aber gar nicht leicht für mich ist, wenn ich die Grössen geschichtlich auffasse & nicht einfach einander gleichsetze. Es klaffen eben in der Praxis einfach 2 Menschenklassen auseinander & da ist es schwer, sie theoretisch & in einem Vortrag zusammenzubringen. Ich weiss noch nicht, wie’s geht. Also lassen Sie wieder einmal etwas hören. Mit herzl[ichem] Gruß Ihr P. Wernle Nr. 32. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 7. Juni 1912 NL 92: III A 13, 18 Verehrter Herr Professor, Nein, für einen Reaktionär halte ich Sie wahrlich noch lange nicht! Aber schämen muss ich mich, dass ich Ihnen noch gar nicht ordentlich gedankt habe für das grosse Werk von Troeltsch186, das mich allerdings die letzten Wochen in m.[einer] freien Zeit fast ausschliesslich gefesselt hat, und gedankt auch für den feinen Brief, den Sie mir freundlicherweise geschrieben haben. Ich habe eine grosse Freude gehabt an beidem, wahrlich auch an Ihrem Brief, der mir den Kopf wieder ein wenig zuweg gesetzt und mir viel gegeben hat. Ich konnte ihn mir, vor allem was das Positive drin anlangt, vollständig zu eigen 186 Troeltsch: Soziallehren.

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machen, nur müsste ich noch hinzufügen und unterstreichen, all das, was ich nun Positives auch an Kutter schätze. Aber Sie selber setzen ja Ihrerseits bei Ihrer scharfen Kritik ein gross[es] Stück Achtung und Schätzung Kutters stillschweigend voraus. Jedenfalls habe ich wieder von Neuem stark empfunden, was ich mir schon bei m.[einem] letzten basler Besuch schon auszusprechen erlaubt habe, wie schade es sei, dass Ihre eigenste, ernste und einfache Auffassung von Pflicht und Stellung des Christen in den Krisen der Gegenwart so gar nicht gehört werden kann ausser von den wenigen, die Sie persönlich kennen und Ihre Schüler sein dürfen. Wir Jungen hätten es dringend nötig, gerade Sie und das, was Sie uns zu sagen haben, zu hören, heute mehr als je, und nicht nur wir, Ihre Schüler, sondern eine ganze grosse Zahl von Pfarrern und Laien im Lande hin und her wären unendlich dankbar dafür, weil es zur Klärung und Festigung helfen könnte, wenn Sie sich mehr zu Worte meldeten. Wir haben immer etwas davon, wenn Sie zu uns reden. Und was Sie gerade zur sozialen Krisis zu sagen haben, geht ja gar nicht gegen das wirklich Gute und Wertvolle, was unsere Religiössozialen wollen, aber es korrigiert ihre Auswüchse und Übertreibungen und leistete damit ihrer Sache selber den grössten und besten Dienst. Und dass das nötig wäre, beweisen mir gerade die letzten Nummern der neuen Wege187 mit den Artikeln von Matthieu188 und Stückelberger189: es ist auffällig, wie da jedes mal das Gerede vom „grossen Stil“ und der Kampf gegen das Philistertum aufrücken.190 Es schreibt es einer dem andern nach; und das ist so schade. Nehmen Sie mir diesen Erguss nicht übel, er entsprang nur der Freude an dem, was ich persönlich immer wieder, gerade in Ihrem letzten Brief von Ihnen empfangen darf. Ich weiss, es würde auch Andern wertvoll sein und ihnen helfen können. Ihre Kritik an Kutter verstehe ich gut. Ich finde auch immer, er rede leider oft so leidenschaftlich, masslos einseitig und daher missverständlich, und würde es nur begrüssen, wenn er dies selber einmal ein wenig deutlich zu hören bekäme. Er versicherte mir übrigens kürzlich, als ich ihm von Ihrem Briefe erzählte, „er wäre über solche Briefe keineswegs hinaus“ und wiederholte von Neuem, er habe Ihnen gegenüber immer den Eindruck, als seien Sie

187 Zeitschrift „Neue Wege“; siehe Anm. 72. 188 Jean Matthieu verfasste ferner u. a.: Das Christentum und die soziale Krise der Gegenwart, Basel 1913. 189 Lukas Stückelberger. 190 Es handelt sich um folgende Artikel: L. Stückelberger: Das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen, in: NW 6 (1912), 41–43; J. Matthieu: Siegen und Unterliegen, in: ebd., 81–84; ders.: Zeichen der Zeit, in: ebd., 121–123. In den Neuen Wegen wurde 1913 eine briefliche Auseinandersetzung zwischen Wernle und Ragaz u. a. um die Reich-Gottes-Erwartung der Religiösen Sozialisten veröffentlicht. Siehe dazu oben S. 28. Wernle warf Ragaz Nähe zum Schwärmertum vor; siehe Paul Wernle: Alt und Neu. Eine Auseinandersetzung, in: NW 7 (1913), 43–61; ferner den Brief von Leonhard Ragaz an Paul Wernle vom 28. Februar 1913, in: Ragaz: Briefe, Bd. 1, 312–315. Hier bittet Ragaz Wernle darum, den öffentlichen Streit um der Sache willen zu beenden, worauf Wernle eine erneute Publikation seiner Replik auf Ragaz zurückzog.

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beide im Grunde nicht so weit aus einander. Was mich aber an ihm anzieht, ist im Grunde zweierlei: 1. Einmal sein scharfes und unerbittliches Gewissen gegen alle soziale Ungerechtigkeit. Daraus entspringt schliesslich all sein erbittertes Losschlagen gegen die Verlogenheiten und Verkehrtheiten unsrer heutigen Gesellschaft. Die Beschäftigung mit Kutter hat etwas Beunruhigendes, Aufweckendes, Gewissenstärkendes. Und ich finde immer, gerade mir als Basler tue das besonders gut und wünschte manchem meiner basler Freunde auch etwas mehr davon. Ich denke da an alle die, die sich in der feinen, alten, aristokratisch- überlegenen wissenschaftlichen und künstlerischen basler Cultur so wohl fühlen, innerlich durchaus nobel und von vornehmer Gesinnung, aber vielleicht doch schon etwas wie müde und ängstlich sind. Sie stecken alle mehr oder weniger fest in den feinen Traditionen ihrer Familien und sehen an allem neuen Werden und Wachsen zumeist und zuerst nur die Schwächen und verdecken mit dem Spott darüber die eigene innere Unsicherheit. Ein wenig etwas davon, wenigstens von Neigung dazu steckt in jedem Basler. Und da möchte ich selber nun alles tun, um ein scharfes, sicheres Gewissen zu bekommen und mir zu erhalten. 2. Das Zweite, das ich immer wieder gern bei Kutter höre, ist etwas viel Subjectiveres, schwer in Worten zu Fassendes. Ich möchte sagen, ich höre bei Kutter immer wieder durch alles hindurch etwas von einer Sehnsucht klingen nach dem, was man „revolutionäre Religion“191 nennen kann; ich weiss, Sie hören das Wort nicht gern, aber es fällt mir grad kein anderes ein, die Sehnsucht nach den gefährlichen und doch seligen Zeiten, wo das Wasser des Lebens wieder einmal stärker rauscht und aufquillt als auch schon. Ich selber kriege diese Sehnsucht nach dem kommenden Gott nun einmal einfach nicht los trotz aller tiefen innern Hochschätzung vor dem einfachen Gottesdienst, der in der Treue der täglichen Pflichterfüllung liegt, der mir selber auch der allerwichtigste ist, und mit dem ich in keiner Weise und niemals fertig bin und fertig zu sein hoffe. Ich bin auch der Meinung, dass beides sich nicht auszuschliessen brauchte, ja, es liegt wohl ein Stück „Mystik“ in diesem Sinne in jedem Gebet, das wir verrichten, jedenfalls im Gebet Jesu. Ich wenigstens muss bei der zweiten Bitte des Vaterunsers immer daran denken, dass wir schon in unser irdisches, enges und unvollkommenes Leben mit seiner Lust und Last etwas von der himmlischen Welt Gottes hereinbeten, -sehnen – und soweit es möglich ist – auch hereinarbeiten sollen. In diesem Sinne möchte ich auch hier in Zürich in ganz bescheidener Weise meine Arbeit auffassen können und tun. 191 Friedrich Naumann verwendet beispielsweise den Begriff in dem Aufsatz „Glaube und Herrschaft“, der zunächst 1904 in den Süddeutschen Monatsheften erschienen war, um dann abgedruckt zu werden in: Friedrich Naumann: Geist und Glaube, Berlin-Schöneberg 1911, 224–233: „Und noch heute ist in allen Konfessionen eine heimliche Sehnsucht nach der gefährlichen und seligen Zeit, wo das Wasser des Lebens wie ein Bergwasser toste und Hunderte von Seelen in seinen gewaltigen Strudel hineinriß, eine Sehnsucht nach dem, was man die revolutionäre Religion nennen könnte.“ (225).

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Und als Pfarrer einmal nicht anders. Ich weiss, Sie rechnen mich deshalb noch nicht zu den Ideologen und Schwarmgeistern. Meine Meinung geht ja auch niemals daraufhin, dass das Reich Gottes von uns schon in diese Welt hereingeführt werden könnte. Ich bin fest überzeugt, dass, mit Troeltsch zu reden, auch unsere sittliche Arbeit, die Arbeit gerade unserer Zeit und unsrer Generation nur „eine der Bemeisterungen der wechselnden Weltlagen ist“, wie das frühere in ihrer Weise gewesen sind. „Es gibt keine absolute Ethisierung sondern nur das Ringen mit der materiellen und menschlichen Natur“.192 Aber es kann doch dieses Ringen ein mehr oder weniger erfolgreiches, und diese Bemeisterung eine mehr oder weniger weit gelungene sein, und da möglichst viel zu hoffen und zu glauben, zu ersehnen und soweit möglich selber zu erringen, scheint mir, heisse nicht in schwärmerischer Begeisterung alle Wirklichkeit überfliegen. Im Übrigen aber will ich mit tausend Freuden auch in allen diesen Dingen noch ein Lernender und Suchender bleiben. Und nun habe ich Ihnen schon von Troeltsch geschrieben. Sein Buch hat mich allerdings die letzten Wochen hindurch gefesselt und wird es noch eine ganze Reihe von Wochen tun. Ich freue mich jedesmal wenn ich darüber komme und danke Ihnen vielmal dafür. Sie haben mir wieder eine grosse Freude damit gemacht und mir einen neuen Erweis Ihrer mir stets bewiesenen Güte und Freundlichkeit gegeben. Der Historiker Troeltsch ist mir von neuem wert und gross geworden dadurch. Ich habe Freund Gerber193 aus dem Anfangskapitel und die Schlusssätze des ganzen Werkes vorgelesen, und er war natürlich wieder entrüstet über die relativistische Methode. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass der historische Relativismus in der Hand eines Gewissen-losen Menschen zur Handhabe werden kann, alles sittliche Sollen in Frage zu stellen und auch fürs eigene Leben keine sittlichen Forderungen mehr anzuerkennen. Ich aber freue mich einfach immer wieder an Troeltschs unvergleichlicher Gabe, den geistigen Gehalt ganzer Epochen in all seiner verwirrenden und widerspruchsreichen Mannigfaltigkeit auszubreiten und zu zergliedern und nehme persönlich den Eindruck des tiefen Ernstes mit, den das Anschauen des gewaltigen Ringens der christlichen Gedankenmassen mit den übrigen Inhalten des jeweiligen Kulturbewusstseins auf einen Menschen machen muss, der selber innerlich entschlossen ist, in eben diesen christlichen Gedanken und Werten die entscheidenden zu sehen für sein eigenes Leben wie für das Leben des Ganzen. Troeltschs Darstellung stärkt also das Verantwortlichkeitsgefühl, in dem sie einfach das Auf und ab, das Ineinander und die Verwicklungen der jeweiligen geistigen Situation zu zeichnen versucht.

192 Troeltsch: Soziallehren, 986. 193 Max Gerber studierte bei Leonhard Ragaz in Zürich und war seit 1913 als Pfarrer eine zentrale Persönlichkeit der Religiös-Sozialen in Graubünden.

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Unterdessen habe ich auch das Buch von Lily Braun194 fast fertig gelesen und Ihr Urteil über diese Frau und ihren Weg eigentlich vollauf bestätigt gefunden: Sie ist mehr Kampfgenossin als wirkliche Gesinnungsgenossin des Sozialismus; ihr Weg ist streckenweise der gleiche, das Ziel aber im Grunde und auch der Ausgangspunkt ein verschiedener; schon die Namen Ibsen195, Goethe196, Nietzsche, die ihren Weg bezeichnen, sagen da genug. Es bricht drum vielleicht auch nirgends so recht das innerste Motiv wahrer sozialer Gesinnung auf, das Kampf nicht der Klassen gegen Klassen sondern in erster Linie einmal Krieg des Menschen gegen sich selber und von hier aus dann Krieg gegen den Krieg der Menschen in jeder Form heisst. Ich habe eine grosse Freude daran, dass Sie nun doch einmal in der Zofingia197 reden wollen und finde es furchtbar schade, dass ich da nicht mehr dabei sein kann. Jedenfalls, das weiss ich sicher, machen Sie auch allen meinen noch aktiven Zofingerfreunden eine Freude damit. Ich hoffe, Sie in Liestal198, wenn auch im Gedränge der Pfarrer natürlich nur flüchtig, sehen und grüssen zu können; ich habe vor, die ganze Sache mitzumachen, obwohl ich ja eigentlich noch gar kein rechter Pfarrer bin, freue mich aber im Übrigen schon, bis ich Sie wieder einmal etwas ausführlich sehen und sprechen darf. Unsicher und unruhig bin ich immer noch darüber, wie ichs eigentlich mit dem Fortgehen von hier halten soll, ob im Spätherbst schon oder doch vielleicht erst im Febr.[uar] oder März 1913? Ich kann mir selber trotz ständiger Skepsis meinen eigenen Leistungen gegenüber nicht verbergen und ausreden, dass ein bescheidener Ansatz mit m.[einer] Abteilung199 gemacht ist. Aber ob das ein Grund des Bleibens wäre? Zunächst kann ich allerdings überhaupt noch keine Entscheidung treffen, sondern muss die Sache an mich heran-

194 Lily Braun veröffentlichte neben zahlreichen Büchern u. a. über die Frauenfrage, Sozialdemokratie und Frauenarbeit eine zweibändige Autobiographie: Memoiren einer Sozialistin, München 1909–1911, auf die sich Thurneysen bezieht. 195 Henrik Ibsen (1828–1906), norwegischer Schriftsteller. 196 Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), deutscher Dichter. 197 Wernle sprach über „Idealismus und Christentum“ und der Semesterbericht der Basler Zofingia hielt das Erstaunen vieler Zuhörer darüber fest, „dass ein so hoch gelehrter Mann derart einfach und anspruchslos über die tiefsten Fragen reden könne“; Semesterberichte, in: Centralblatt des Zofingervereins 53 (1913), 150. 198 In Liestal fand die 68. Jahresversammlung der Schweizerischen reformierten Predigerversammlung vom 10. bis 12. Juni 1912 statt. Zum Programm siehe KBRS 27 (1912), 88, sowie: Verhandlungen der Schweiz. reformierten Predigerversammlung. 68. Jahresversammlung in Liestal 10. bis 12. Juni 1912, Liestal 1912. 199 Damit dürfte er den „Jungtrupp“ meinen.

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kommen lassen. Auf keinen Fall bleibe ich länger als die ersten Monate 1913 hier. Es grüsst Sie, Frau Professor und auch Hans in alter herzlicher Hochachtung und Dankbarkeit Ihr getreuer Eduard Thurneysen. Nr. 33. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Dutjen, den 31. Juli 1912 NL 290: B 346, 18 Lieber Herr Thurneysen! Wir haben hier noch ein Gastzimmer frei und ich wollte Sie fragen, ob Sie eventuell für die Woche vom 11[.] Aug[ust] zu uns kommen könnten und wollten. Sind Sie verhindert, so schreibe ich Ihrem Bruder; ich dachte aber, Sie hatten kürzere Ferien als er. Ich denke, Sie würden für schlechtes Wetter Lektüre mitnehmen; Tröltsch Soziallehren200 habe ich hier. Wir würden uns sehr freuen; Sie so heimelig wie in Brigels unter uns zu sehen, nur statt im Hotel in unsrer eigenen Wirtschaft, was die Gemütlichkeit erhöht. Bloß weiß ich gar nicht, ob Sie frei machen können. Um baldige Antwort bittet mit herzl[ichem] Gruß Ihr P. Wernle

200 Troeltsch: Soziallehren. Wernle verfasste 1912 eine umfangreiche Besprechung dieses Werkes; siehe Paul Wernle: Vorläufige Anmerkungen zu den Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen von Ernst Troeltsch, in: ZThK 22 (1912), 329–368; 23, 1913, 18–80; sowie einen Zeitungsbeitrag, der unter dem Titel „Kirche und soziale Frage“ erschien in: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten, 7, 1912, 157–159; 162–164; 166–168; 171–172.

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Nr. 34. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Valendas, 8. August 1912201 NL 290: B 346, 19 L. H. Thurneysen! Wir freuen uns, besonders auch Hans, daß Sie kommen also mit dem angegebenen Morgenzug. Es ist nur etwas kurz, vielleicht können Sie erst am Sonntag fort (von hier); von einer Pflicht halte ich Sie nicht ab. Grüßen Sie mir Gelzer. Daß Zimmerli krank ist, thut mir sehr leid. Hans will Sie gern abholen. Es ist leicht zu finden; kurz nach dem Bahnhof, wo der Wald beginnt, ist rechter Hand ein Abkürzungsweg. Im Dorf Valendas ist ein Wegweiser, wir kommen dann sicher bis in die Nähe. Aber Sie sind gebeten, etwas schöneres Wetter mitzubringen, als wir eben haben. Wir sitzen ganz im Nebel drin. Wie modern Sie werden mit der Schreibmaschine und ich reaktionär mit der Saupfote. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 35. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Ort: Zürich [Dienstagmorgen im August 1912]202 NL 92: III A 13, 74 Verehrter Herr Professor, Lassen Sie mich noch einmal Ihnen und Frau Professor recht von Herzen danken für die schönen Tage, die ich wieder bei Ihnen geniessen durfte. Ich habe eine grosse Freude und viel innern Gewinn davon gehabt und bin vorgestern erfrischt und mit Dankbarkeit und Freude darüber zurückgekehrt, dass ich wieder so heimelig mit Ihnen zusammen sein durfte, und mit dem Gefühl, auch geistig reich beschenkt worden zu sein. Ich kann nur wiederholen, was von jeher mein Eindruck Ihnen gegenüber gewesen ist, dass Sie uns junge Theologen mit unserm Drängen und Fragen verstehen wie sonst Nie201 Da der Poststempel nicht eindeutig lesbar ist, wäre auch 6. August 1912 möglich. 202 Aus dem Zusammenhang ergibt sich als vermutliches Datum der 13. August 1912.

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mand und uns drum auch so viel sein und helfen können. Ich habe mir wieder von Neuem nur wünschen können, auch einmal so etwas Festes, Sicheres, Ruhiges in mein immer noch unruhiges Denken und Handeln hineinzubekommen, wie ich es bei Ihnen verspüre und bin von Ihnen weg mit dem Ansporn im Gewissen, von Neuem mehr Ernst machen zu sollen mit dem Evangelium und seinen Grundsätzen und noch tiefer und lebendiger in sein Verständnis einzudringen, weil ich klar das Bewusstsein mit mir genommen habe, wie sehr Ihnen alles gerade von einer rechten Stellung zu Jesus und seiner Botschaft abhängt. Meine Reise verlief gut. Leider traf die Sache mit der Mitgliederversammlung so ein, wie ich es voraussah; der Besuch war gut, aber die Stimmung nach den Regentagen der letzten Wochen in überwiegend starkem Masse für Spiele im Freien, wie sie ja auch bei schönem Wetter vorgesehen waren. Also muss ich mit meiner Generaldiskussion warten auf ein nächstes Mal. Ich begnügte mich damit, eine kurze Ansprache an die Leute zu richten, wobei denn auch das Predigtbild aus den Bergen la Zimmerli nicht zu kurz kam: ich verglich Jesus und s.[eine] Botschaft mit einem Gebirgsgipfel. Gleich gestern bin ich wieder fest in die Generalstreiksdebatte203 hineingestellt worden, obwohl mir das nicht ganz recht war. Am Morgen stattete mir Gerber einen langen Besuch ab, auch er fand Ragazens Artikel204 nicht unübertrieben, lehnte es aber im Übrigen völlig ab, bei den Bürgerlichen noch um Verständnis werben zu wollen: wer hören wollte und konnte, hätte hören können. Für ihn ist sozusagen die Entscheidung schon gefallen: die Sache der Arbeiterschaft wird marschieren und siegen und die ganze Gesellschaftsordnung in den Strudel ihrer Erneuerungsarbeit ziehen. Es gibt für ihn eigentlich nur eine Frage in der ganzen Gegenwart eben die soziale, und sein Blick ruht nur auf diesem einen Gegensatz und wartet auf seinen Austrag, oder sieht ihn schon entschieden, etwas anderes existiert für sein Denken kaum. Aber er ist trotz der grossen, mit dieser Denkweise verbundenen Einseitigkeit ein aufrichtiger und ernster Mensch, einer der auch, wenn er einmal in die Partei getreten ist, nicht schweigen wird über die Fehler und Sünden der sozialdemokrat.[ischen] Arbeiterbewegung. Er selber versicherte es. Und solche Leute kann man der Partei eigentlich nur wünschen. Fand ich bei ihm wie immer eine klare Situation und in ihm einen Freund, dem ich auch kräftig widerreden 203 Am 12. Juli 1912 legten in Zürich ca. 20.000 Arbeiter ihre Arbeit nieder. Die Regierung ließ daraufhin u. a. das sozialdemokratische Volkshaus militärisch besetzen. Siehe dazu Bruno Fritzsche und Max Lemmenmeier: Auf dem Weg zu einer städtischen Industriegesellschaft 1870–1918, in: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1994, 158–249, hier besonders der Abschnitt „Der Dämon des Bürgerkriegs“, 242–245. 204 Der Beitrag erschien zunächst in NW 6 (1912), 291–301, und dann separat; Leonhard Ragaz: Der zürcher Generalstreik vom 12. Juli 1912, Zürich 1912; siehe dazu Mattmüller I, 184–190: „So hat das Erlebnis des Streiks für das Klassendenken und das nationale Denken von Ragaz eine entscheidende Rolle gespielt. Es bestimmte aber auch seine Haltung zur Kirche“ (186). Ragaz’ Artikel „wurde wohl das berühmteste Schriftstück, das Ragaz je verfaßt hatte“ (187).

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konnte, so gestalte sich am Abend die Sache schon schwieriger bei Burckhardts. Sie hatten mich eingeladen und man war bald trotz meiner gegenteiligen Bemühungen beim Ragazartikel angelangt. Frau B.[urckhardt] und Frau Pfisterer namentlich schimpften ganz erheblich über diesen misslichen Theologen und wünschten sogar von Staatswegen seine Absetzung, was aber wohl Ragaz selber, wie ich ihn seit seinem Gespräch mit Lhotzky205 kenne, gar nicht unlieb wäre. Ich konnte ihn auch nicht decken, denn mir selber kam sein Artikel bei nochmaligem gründlichen Überdenken (ich hatte mich gestern mittag auf die Schlachten des Abends gerüstet) immer mehr als verfehlt vor, namentlich die förmliche Empfehlung des blutigen Widerstandes und Aufruhrs. Das ist wirklich rein in ohnmächtigem Affekt geschrieben. Aber meine persönlichen Sympathien für ihn liessen mich s.[einen] Artikel mehr nur bedauern und als einmalige Dummheit, wie sie jedem mal passieren möge, namentlich wenn er so rasch Feder und Druckerpresse bei der Hand habe, darstellen. Selbstverständlich aber gab ich rund zu, was mir namentlich in Dutjen wieder klar geworden war, dass ich diese affektvollen Ausbrüche nicht als reichsgottesmässig empfinden könne trotz des erbaulichen Schlusses des Artikels. Im Übrigen aber sah ich mich wieder mit allem Ernst vor die schweren Gegensätze gestellt, die zwischen unsern Religiössozialen und einer Anschauung, wie sie also etwa Troeltsch in s.[einen] Schlussworten formuliert, bestehen, zwischen einer aggressiv sektenhaften und einer mehr zurückhaltenden kirchlichen Denkweise, Gegensätze, die seit langem ein Grundproblem auch meines Denkens bilden, durch die ich mich persönlich schon durchschlagen kann, für die ich aber keine allgemeine Formel und Lösung besitze. Ich könnte mich allerdings, auch wenn ich an diese allgemeinen Hintergründe denke, niemals mit Ragaz identifizieren, denn was ich von Blumhardt her habe ist doch auch abgesehen davon, dass es gänzlich unpolitisch ist, immer etwas anderer, noch mehr pietitischer Art als was Ragaz vertritt. Insofern habe ich etwas leichter, Vermittlungen zu finden, aber trotz allem: ein wenig zu den Hoffnungsleuten gehöre ich doch. Ich habe mich bemüht, dies auch Burckhardts, so persönlich und simpel ich konnte, zu sagen, und mich zu keinem Draufgehen verleiten lassen. Aber Herr B.[urckhardt] ist eben darum in einer etwas schwierigen Situation, weil R.[udolf] Pestalozzi Ragaz diesen Winter im Verein wieder will reden lassen, und es ist ihm noch vor dem Generalstreik anstandslos bewilligt worden vom Vorstand. Aber jetzt, nachdem sich Ragaz politisch so scharf isoliert und so weit herausgewagt hat? Und freiwillig wird P.[estalozzi] kaum weichen und Erörterungen im Vorstand, wo so viel bornierte Köpfe sitzen, müssen möglichst vermieden werden. 205 Dr. Heinrich Lhotzky aus Ludwigshafen sprach u. a. 1905 und 1914 auf den Studenten-Konferenzen in Aarau; 1905 zum Thema „Die Schuld im Lichte des Reiches Gottes“, abgedruckt in: Die IX. Christliche Studenten-Konferenz. Aarau 1905, Bern 1905, 42–65; 1914 über „Der Apostel Paulus“, in: Die XVIII. Christl. Studenten-Konferenz. Aarau 1914. Den 9. bis 11. März, Bern 1914, 43–64.

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Ich muss gestehen, dass ich an diesem Punkte etwas wie Zorn über Ragaz empfinde: er erschwert es einem furchtbar, auch wenn man noch so viel Sympathieen für ihn hat, für ihn einzutreten, und verdirbt auch sich damit so vieles. Ich wusste nicht recht, was raten. Wäre ich Pestalozzi, so würde ich aus Klugheit für diesen Winter von Ragaz absehen, aber sobald im Vorstand von diesen frommen reichen Leuten auf ihn losgeschlagen würde, müsste ich für ihn eintreten. Im Übrigen habe ich aber wieder viel Freude an Herrn und Frau B.[urckhardt] gehabt und namentlich ihm gegenüber wieder hohe Achtung empfunden, geärgert habe ich mich gar rein nicht, im Gegenteil gut begriffen und entschuldigt, auch haben wir noch über viele andere Dinge uns gar gut unterhalten. Und sie werden nun unterdes auf dem Riein206 gewesen sein! Schade, dass ich nicht mehr dabei sein konnte. Aber ich bin dankbar und fröhlich ob dem Genossenen; ich bin wirklich mit innerer Freude und Eifer wieder zu meinen Lehrbuben zurückgekehrt, was ich an Förderung bei Ihnen empfangen habe und an Kräftigung und Ernst wird auch dem Verein wieder zu Gute kommen. Heut will ich noch Ihre Frau Mutter besuchen und mich nach einer Englischlehrerin umtun, ich will diesen Winter nun unbedingt noch Englisch treiben; ich denke gerade bei der Lektüre von Troeltsch oft, ich sollte einfach Englisch lesen können, es gibt da so viel wichtige unübersetzte Sachen. Und dann will ich mich noch aufs Archiv begeben, um nach den Protokollen zu sehen. Ich freue mich darauf, einmal selber da ein wenig Quellen aus einer bewegten und interessanten Zeit zu lesen, was sie mir von der Helvetik207 erzählt haben, hat mich immer sehr interessiert; ich freue mich jetzt schon auf Ihr Buch. Empfangen Sie noch einmal mit Frau Prof. meinen herzlichen Dank und seien Sie mit Hans und Schüle (sofern er noch bei Ihnen ist) in alter Anhänglichkeit gegrüsst von Ihrem Schüler Eduard Thurneysen. Herr Egli bittet mich, Ihnen wenn auch persönlich unbekannterweise (ich habe ihm aber viel erzählt) einen Gruss zu schreiben.

206 Piz Riein (2752 m) in der Signina-Gruppe (Graubünden). 207 „Helvetik“ ist ein Epochenbegriff der Schweizer Geschichte und umfasst die Zeit von 1798 bis 1803, als die sogenannte Helvetische Republik die alte Eidgenossenschaft am 12. April 1798 abgelöst hatte. Sie bestand bis zum 10. März 1803. Siehe dazu Andreas Fankhauser: Helvetische Republik, in: HLS 6, 258–267.

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Nr. 36. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Dutjen, den 22. August 1912 NL 290: B 346, 20 Lieber Herr Thurneysen! Vielen Dank für Ihren schönen Brief. Wissen Sie, was das Beste ist? Daß Gott die Welt regiert und nicht wir dummen Menschen. Das ist Luthers Glaube und mein Glaube. Er läßt die Weisen Torheiten und Kindereien begehn und die Ernsten und Eifrigen straucheln und fallen, damit wir lernen auf ihn [zu] vertrauen und ihm allein die Ehre [zu] geben. Wer das vermag, der hat keine Angst vor nichts in der Welt, es breche, was brechen mag, aber auch keine falsche Hoffnung auf Menschen, weder auf Massen noch auf Propheten, die alle gleich stolpern und im Nebel tappen. Wenn Ragaz nur mehr von diesem Glauben hätte! Er glaubt viel zu fest auf seine Gedanken und Theorien und an die Suggestionen des Massenauftritts. Da wird er dann so elend herumgeworfen vom Himmel in die Hölle und umgekehrt. Er ist Politiker und nicht Prophet wie Jesaja es war. Ich habe oft Angst, er könnte noch in eine grausige Verbitterung und Verzagtheit geraten. Wenn er so etwas erleben müsste, wie die Führer der Helvetik durch Napoleon, ich weiß nicht, was aus seinem Idealismus würde. Aber auf der andern Seite: Gott braucht ihn gewiß und wir müssen ihm dafür danken. Die ängstlichen Frauenseelen sind noch viel weiter davon, Gott zu verstehen, als er. Die sollen Gott danken, daß er sie in keine schwerere Krisis hineingeboren sein ließ, wie etwa die Reformation es war. Sie hätten kaum den Mut gehabt, mit Gott vorwärts zu gehen. Ich freue mich, daß es Leute gibt, wie Sie mir Gerber schildern. Bloß weiß ich gar nicht, was sie als Pfarrer wollen, wenigstens Landpfarrer. Von der inneren Not eines Menschen können sie ja nichts verstehn. Und noch weniger helfen. Und dann diese Freundschaft mit Pfister208, dieser Dreckseele!209 Das ist mir einfach rätselhaft. Es war so schön, daß Sie hier waren und wir so frohe Tage haben konnten. 208 Benjamin Pfister. 209 Wernle hatte sich anscheinend auch an anderer Stelle negativ über Benjamin Pfister geäußert, weshalb Pfister am 10. Januar 1913 an Wernle schrieb: „Und jetzt zur Sache, um deretwillen ich Ihnen schreibe. Von verschiedenen Seiten vernahm ich, dass Sie mich für einen Sozialisten oder gar für einen ,sozialistischen Schwärmer‘ halten. Es tat mir weh, gerade von Ihnen ein solch’ fertige Etiquette angehängt zu bekommen.“ Wernle antwortete am 11. Januar 1913 und erläuterte den Begriff „schwärmerisch“: „Ich verstehe unter schwärmerisch[,] wenn bei jeder grössern Aufsehen machenden Aktion im sozialisten [!] Kampf gleich ein weltgeschichtliches Ereignis & einen Anbruch des Gottesreiches erblickt & werde darin an die Worte in Parusierede erinnert: Siehe hier ist Christus, siehe da ist er.“ Mit Blick auf Ragaz führt Wernle aus: „Für Ragaz ist Christ nächstens fast ein Schimpfwort & Sozialist etwas Heiliges, was ich nicht anders als für eine Marotte halten kann.“

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Sie haben auch Hans so viel Freude gemacht. Darin war Schüle210 Ihr Fortsetzer. Aber auf unser Rieintour211 haben wir oben gar keine Aussicht gehabt. Wir reisen ziemlich sicher am Samstag heim; es reicht nicht, Sie zu sehen. Hoffentlich in Basel wieder einmal. Bemühen Sie sich ja nicht zu viel auf dem Archiv für mich! Falls Sie es irgend zu mühsam finden, so lassen Sie es Bitte! Sie können Ihre Zeit besser brauchen. Viele herzliche Grüße von uns Allen Ihr P. Wernle Nr. 37. Postkarte E. Thurneysen u. a. an P. Wernle Poststempel: Zürich, 25. August 1912 NL 92: III A 13, 17 [Gedruckt auf Vorderseite: 25. August 1912 – UNS HÄLT EIN GOTT ZUSAMMEN DER UNS HIEHER GEBRACHT.212 Verehrter Herr Professor, Von unserm frohen Zusammensein in gleichgestimmten Kreise unter obigen Devisen schicken wir auch Ihnen herzliche Grüsse. Sie haben uns auch dazu geholfen, „als Verschworene der Zukunft“213 in Arbeit und Freundschaft ein Neues zu suchen und zu wollen und vorwärtszukommen. Ihre Fr. Hoch214, Eduard Thurneysen, R. Pestalozzi215, G. Ludwig216, Max Gerber, W. Schüle, Peter Thurneysen, Hans Martz217

210 211 212 213

214 215 216 217

Walther Schüle (auch Schühle). Siehe oben Anm. 206. Aus Johann Wolfgang von Goethe: Bundeslied (1. Strophe). Wohl Anspielung auf den Roman von Heinrich Spiero (1876–1947): Verschworene der Zukunft. Ein Roman um Bismarcks Ausgang, der 1911 in Leipzig erschienen war. Der Schriftsteller und Literarhistoriker Spiero konvertierte als junger Mann vom Judentum zum Protestantismus und beschäftigte sich auch mit Grenzfragen von Literatur und Theologie; siehe Heinrich Detering, in: Killy Literaturlexikon, Bd. 11, Berlin/Boston 22011, 124. Fritz Hoch. Richard Pestalozzi. Siehe zur Person: Zum Andenken an Richard Pestalozzi-Schlegel. 10. März 1889 bis 2. September 1963, St. Gallen [1963]. Gottfried Ludwig, enger Freund von Eduard Thurneysen und Karl Barth. Hans Martz war Mediziner.

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[Rückseite: Abbild mit Mann, der mit Knüppel zwei Teufel vertreibt, gezeichnet von ED. L. Schriftzug: UND WENN DIE WELT VOLL TEUFEL WÄR.218] Es haben sich etwa 60 Zofinger219 von Basel, Bern, Zürich zur Feier des Abschiedes von Gerber220 von ihm eingeladen heut zus.[ammen]gefunden. Nr. 38. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 20. Oktober 1912 NL 290: B 346, 21 Lieber Herr Thurneysen! Ich bin neulich in Zürich gewesen auf der Rückreise von Schaffhausen & St Gallen ohne Sie zusehen, die Zeit reichte nicht, ich hatte bei Burckhardts221 interessantes Material deponiert von Pfarrer Hess222 in Wytikon, der an einer Biographie des Antistes Hess223 schreibt & es mir zur Verfügung stellte. Daran habe ich bei Burckhardts gearbeitet & den ganzen Tag ausgefüllt. Es ist mir oft nicht recht, wenn ich denke, dass Sie etwas für mich arbeiten & viel Besseres für sich selbst tun könnten. Ich hoffe immer, Sie tun auch das letztere zuerst & das andere nur, wenn Sie wirklich gerade nichts vor haben. In Schaffhausen habe ich wieder prächtiges Material gefunden im Nachlass von J Georg Müller224 & dann eben in Zürich wieder wundervolle Briefe von Hess.225 Ich habe vorher nicht gewusst, dass in dieser Aufklärungszeit noch so viel glaubensmächtige & kraftvolle Männer des alten Christentums an hervorragendem Posten standen.226 Es waren eben doch die Leute, die standen & die ganz festen Grund unter sich hatten, etwas unmodern natürlich, aber durchaus nicht borniert, mit klarem Urteil über Vergängliches & Bleibendes in ihrem Kirchenwesen. Hess zB unterscheidet fast wie die späteren Reichgot218 219 220 221 222 223

Beginn der 3. Strophes des Liedes von Martin Luther: Ein feste Burg ist unser Gott. Mitglieder des Schweizerischen Zofingervereins; siehe Anm. 126. Gerber ging 1913 als Pfarrer nach Graubünden. Abel Burckhardt, ein Freund von Paul Wernle. Paul Diethelm Hess. Diese Biographie ist nicht erschienen. Paul Diethelm Heß schrieb aber zuvor: Antistes Dr. Joh. Jacob Heß und Pfarrer Joh. Caspar Lavater in ihrem gegenseitigen Beziehungen, in: Zürcher Taschenbuch, NF 18, 1895, 84–141; ferner ders.: Johann Jakob Hess, in: RE3, 7, 793–801. 224 Johann Georg Müller, dessen Nachlass heute in der Stadtbibliothek Schaffhausen liegt. 225 Johann Jakob Hess, dessen Nachlass in Zürich aufbewahrt wird. 226 Hier handelt es sich um die Vorarbeiten für das beeindruckende Werk von Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1923–1925.

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tesleute zwischen den äussern Kirchenformen, den Anstalten oder Schalen & der Sache selbst & kann ruhig die Zerstörung oder doch gänzliche Umformung der Anstalten gewärtigen, zum Besten der Sache. Während Zürich von den helvetischen Truppen mit glühenden Kugeln bombardiert wurde,227 vertiefte sich der Mann in seine Bibel & studierte über das Geheimnis: der da ist, der da war & der da sein wird. Das halte ich nun nicht gerade für vorbildlich, aber diese innere Ruhe & Festigkeit imponiert mir doch mehr als der Taumel, der Ragaz beim Generalstreik ergriff.228 Mir ist es jedesmal eine besondere Freude & ein Erlebnis, sobald ich auf einen Menschen stosse, der seines Gottes ganz gewiss ist und einen Halt gefunden hat, den nichts ihm rauben kann. Ich meine doch, das ist heute unter uns nicht selbstverständlich. Ich warte mit Sehnsucht darauf, bis aus der religiös sozialen Tätigkeit etwas derartiges bei Einzelnen hervorwächst; alles andere berührt ja doch nur die Oberfläche. Greyerz, mit dem ich ganz zufällig an der Bahn zusammentraf, zeigte mir einen Brief, den Kutter ihm geschrieben hatte zur Motivierung seiner Absage an die Rel[igiös] Sozialen. Ich finde es doch schade, dass er sich so isoliert, den andern würde er gerade gut tun. Ist es nicht auch etwas billig & bequem, immer nur in grossen Tönen zum Kampf zu blasen & es nicht einmal über sich zu bringen, mit den Gesinnungsgenossen sich persönlich zu verständigen? Greyerz hatte auch den Eindruck. Aber wie nun Ragaz den Beleidigten & den Märtyrer spielt,229 zB gegenüber Schwarz230, finde ich einfach kläglich. Er sollte sich künftig hüten, einer Partei vorzuwerfen, dass sie versage wenn er selbst sofort ganz versagt, wenn es einmal gelten würde, seine Person & Sache auseinander zu halten. Gibt es eigentlich für ihn einen andern Gott als er selbst? Das frage ich mich manchmal mit Schrecken. Es ist schade, dass diese Gruppe nicht einen Mann wie Greyerz zum Führer genommen hat, der ist doch gesund durch & durch & nicht psychopath[isch] wie so viele andern, Bader231 zB. Im übrigen ist ja die Lage nicht so schlimm. Was die Religiös Sozialen wirklich Gutes wollten, marschiert trotz ihren Schwächen weiter & wird nicht umzubringen sein. Jetzt gerade nach dem Generalstreik ist wohl etwas Stillstand, aber nachher wird es doch weiter marschieren & Gott wird etwas Rechtes daraus machen. Wir sehen ja im Grunde so wenig weit. Es ist gut, dass wir immer wieder auf den Glauben angewiesen sind, der durch das Dunkel sieht.

227 Wernle spielt wohl auf die zweite Beschießung von Zürich durch den helvetischen General Joseph Leonz Andermatt (1740–1817) in der Nacht vom 12. auf den 13. September 1802 an. 228 Siehe dazu oben Anm. 203. 229 Siehe dazu Mattmüller I, 189 f., sowie Hermann Kutter jun.: Hermann Kutters Lebenswerk, Zürich 1965, 47–51. 230 Rudolf Schwarz. 231 Die Einschätzung Baders durch Wernle spiegelt sich auch im Nekrolog im „Pfarrer-Kalender“ (1936, 2–4, hier 3) wider, wenn es dort heißt: „Im Verkehr mit den Kollegen, im Kampf um das, was ihm das Richtige schien, z. B. in der Kirchensynode, kannte er keine Schonung, keine Rücksichten und mag oft übers Ziel hinausgeschossen haben.“

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Von Zimmerlin232 habe ich einen recht feinen Brief 233 aus England bekommen, er geht jetzt nach Cambridge statt nach St Andrews. Bei uns sind gegenwärtig Pfarrer Schwarz & Familie, die Sie grüssen lassen. Lassen sie bald wieder einmal etwas hören & beherzigen Sie, was ich Ihnen über Ihre Arbeit für mich schrieb. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 39. Karte P. Wernle an E. Thurneysen Basel, ohne Datum234 NL 290: B 346, 22 Lieber Herr Thurneysen! Hier endlich der Lavater. Helbing hatte mir zuerst ein unannehmbares Exemplar zugestellt, darauf wollte ichs gebunden, aber es scheint nicht so zu haben zu sein. Sie müssen also mit diesem vorlieben. Besten Dank für die Ragazpredigt. Ich las gestern ziemlich grimmig seinen Neujahrsartikel & werde wahrscheinlich in die NW [Neuen Wege] einmal offen meine gerade entgegengesetzte Richtung einsetzen. Seine neue Religion ist Unsinn. Was wir brauchen, ist gerade das Gegenteil dessen, was er will, kräftige Durchdringung des alten Christentums mit den neuen Erkenntnissen & Aufgaben; ohne das gehen beide Bewegungen zu Grunde. Gottlob sind unsere Kirchen in der Schweiz durchaus offen für alles Rechte & Gesunde, was R[agaz] will & der beste Beweis ist er selbst, der künftige Pfarrer bildet & unter kirchlichen Christen seine Anhänger findet. Aber diese Entweder-Oder, alte Religion-neue Religion soll der Teufel holen. In Kutters Schrift habe ich nur geblättert & fand es besoffen. Das hilft uns auch nicht einen Schritt vorwärts, im Gegenteil. Und überhaupt es sind bei beiden nächstens doch immer grosse Töne, auf die gar keine Taten folgen & ich fürchte, zuletzt wird man darüber lachen. Doch ich muss schliessen. Mit herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle 232 Franz Zimmerlin. 233 Brief aus London vom 25. September 1912. 234 Handschriftlicher Vermerk: „Jan. 13.“

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Nr. 40. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 24. Januar 1913 NL 290: B 346, 23235 Verehrter Herr Professor, Zu einem ausführlichen Brief komme ich zwar nicht diese Woche: Ich muss am Sonntag in Windisch predigen und kinderlehren, dafür hält Pfr. Pfisterer einen Vortrag in der Mitgliederversammlung meiner Abteilung. Drum habe ich diese Woche vermehrte Arbeit und kann Ihnen nur schnell im Bureau ein wenig berichten, wies mir geht. Vor allem möchte ich Ihnen endlich danken für den Empfang des schönen Lavaterbuches und Ihr Brieflein dazu. Ich habe viel Freude gehabt an beidem. An Ihrem scharfen Urteil über Kutter und Ragaz wüsste ich sachlich nichts zu ändern. Kutter deklamiert eben ewig dasselbe. Ich habe bei ihm gar nicht das Gefühl, dass er ein wirklich lebendiger Mensch sei, der in einem innern Wachstum drin stehe und Neues aufnehme und lerne. Er malt in allen Reden und Predigten im Freskostil236 immer die alten gleichen Sachen, die er einmal entdeckt hat, schade. Dabei habe ich neuerdings in immer stärkerer Weise das Gefühl, dass seine Sache inhaltlich eigentlich merkwürdig unmodern sei. Es fehlt ihm fast jeder Sinn für das, was wir Entwicklung heissen. Er hat wie übrigens manchmal auch Ragaz eine fast antik anmutende primitive Katastrophentheorie an Stelle eines wirklichen Geschichtsbildes. Ganz abgesehen davon dass natürlich sowohl er wie Ragaz alle wirklichen Werte der modernen industriellen und technischen Entwicklungen, wie sie namentlich Naumann herausgestellt hat237, gänzlich zu ignorieren scheinen und nur die Schattenseiten sehen, was ja allerdings aller Kulturduselei gegenüber ganz am Platze ist, im übrigen jedoch auch ungesund und einseitig wirken kann. Ich habe oft eigentlich Bedauern mit Kutter, er ist völlig isoliert und wird nie etwas von wirklichem Erfolg seiner Bemühungen sehen, weil er einfach so etwas Absolutes will, dass er unfähig ist, kleine Schritte nach vorwärts zu würdigen, geschweige denn uns dazu zu helfen. Bei Ragaz bin ich bei einem kürzlichen Zusammensein wieder erschrocken, ob der fast trostlosen Art, mit der er gelegentlich von Kirche und Pfarramt reden kann wenigstens in der Theorie. Eine Durchdringung des Gegenwärtigen mit den neuen Gedanken und Anregungen, wie Sie erhoffen, scheint ihm kaum erwünscht. Er äusserte sich wenigstens einmal sehr scharf und abschätzig über die Pfarrer die nur so ein wenig von ihrem neuen Weine nehmen, um ihr 235 Dieser Briefentwurf stellt die erste Fassung des Briefes Nr. 41 dar. 236 Ein oberflächlicher Stil. 237 Siehe hierzu Friedrich Naumann: Der Christ im Zeitalter der Maschine, in: ders. (Hg.): Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze, Erstes Heft, Leipzig 21896, 30–41.

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eigenes abgestandenes kirchliches Wässerlein damit zu mischen und geniessbarer zu machen. Ich bin damals erschrocken, denn es wurde mir klar, dass ich jedenfalls auch unter das Gericht dieser Worte zu fallen käme wie übrigens fast alle meine Freunde, ausser sie seien ganz rückhaltlose Anhänger des Neuen. Ragaz jedenfalls erhofft eine wirkliche Zertrümmerung des Alten und ein radikales Neuwerden. Gerade dass er als Professor selber noch am alten dienen muss, ist ihm selber ein Problem und eine Last. Er hat dies erst letzthin wieder ausgeführt. Mir geht bei diesen Gedanken manchmal der Atem etwas aus, und Ihr Artikel im Kirchenblatt war mir daher eine rechte Freude. Von dieser Art zu denken haben wir wirklich unendlich mehr. Es sind erhebliche Gegensätze zwischen Ihnen und Ragaz, und es wäre in einer Weise erlösend und klärend, wenn Sie sich darüber einmal endgültig und zusammenhängend in den Neuen Wegen aussprechen würden. Bei alledem bleibt natürlich bestehen, dass sowohl Kutter wie Ragaz entscheidende neue Anregungen und Gedanken ausgegeben haben, nur in einer so exclusiven Weise, dass man manchmal fast keine Verbindungslinien zwischen altem und neuem mehr ziehen kann. Ich selber sehe ihre Leistung immer noch in einer Schärfung des Gewissens für die sozialen Probleme und einer damit zusammenhängenden Verlebendigung alten religiösen Gutes. Ich persönlich habe allerdings gerade für das letztere immer von Blumhardt mehr gehabt, weil bei ihm alles mehr in der mir verständlicheren Sphäre des Subjektiven blieb. […]238 […] schon gedruckt wie jene andern an Häfeli, mit denen ich Ihnen wertvolles Material glaubte gefunden zu haben. Nachdem ich verzichtet hatte, mich für Brunnen zu melden, weil mir von massgebender Seite allgemein gesagt wurde, es sei nicht gerade eine Stelle zum Anfangen, ist man von dort aus neuerdings doch wieder an mich gelangt. Ich bin nun wieder ein wenig schwankend. Rorbas ist immer noch unentschieden. Es scheint, dass ein Pfr. Hermann aus Chur in erster Linie in Betracht kommt, ich erst in zweiter Linie. Mein Vater meint, es wäre gar nicht so ein grosses Glück, dort anzukommen, weil es doch recht viel zu tun gäbe. Aber ob Brunnen viel weniger? Ich lasse es jetzt mit Rorbas drauf ankommen. Wird nichts daraus, weil die Rorbaser den andern nehmen, oder mir selber die Sache zu gross vorkäme, so würde ich neben Brunnen doch trotz Pfarrer Benz239 das Baselbiet überlegen, weil grad im Osten nicht etwas frei ist. Vielleicht tut sich auch infolge der Verschiebungen unerwarteterweise etwas ganz neues auf, das mir grad einleuchtete. Am vergangenen Sonntag hätte ich Sie gern predigen gehört. Es ging mir der Gedanke durch den Kopf, ich wolle extra schnell nach Basel, ich hätte Sie 238 Hier fehlt ein Stück des Briefentwurfes. 239 Gustav Benz war 1909–1937 Hauptpfarrer in Basel und galt als einer der bekanntesten Prediger seiner Zeit. Thurneysen stand ihm kritisch gegenüber, wie im Briefwechsel mit Barth immer wieder deutlich wird. So z. B. 1917: „Am Montag konnte ich mit Pfarrer Benz reden und entnahm unserem Gespräch, daß eine Zusammenarbeit mit ihm nicht in Frage kommt.“ Siehe dazu: Barth – Thurneysen, 242. Zu Benz siehe Markus Mattmüller: Gustav Benz, HLS 2, 204.

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gern über Ihren trostreichen Text reden hören, aber die materiellen Erwägungen brachen meinen Plänen den Hals. Frau Burckhardt war so freundlich, mir einiges aus dem Gedächtnis, aufzuschreiben, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, gelegentlich die ganze Predigt lesen zu dürfen. Oder wird sie gedruckt? Ich würde mich darüber freuen, Sie predigen so selten. Nur noch eine kleine Mitteilung, die mir gerade einfällt, und die ich Ihnen ohne zu wissen, wies sich in Wahrheit schliesslich verhält weitergebe, es ist allerdings auch nichts Wichtiges. Sie sagten mir mit Entrüstung, als ich in Basel bei Ihnen war, das Zürcher Generalquartier der Religiössozialen hätte angeordnet, dass in Basel in der Matthäusgemeinde von den Zürchern Vorträge zu halten seien. Ich sagte das letzthin einmal Tischhauser, ich hätte das gehört, worauf er sehr energisch dementierte, dass die Anregung von Zürich ausgegangen sei. Er behauptete direkt, Herr Pfarrer Liechtenhan habe sie darum gebeten, und sie fänden es schliesslich unzweckmässig. Sie legten damals Gewicht darauf, dass die Anregung von Zürich ausgegangen sei, was ja wirklich ungehörig gewesen wäre. Mir selber geht es gut, ich treibe meine Sachen, nun allerdings nach und nach auf Abbruch, wenn ich nur einmal wüsste, wo es mich denn schliesslich hinschlägt.240 Nr. 41. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 24. Januar 1913 NL 92: III A 13, 19 Verehrter Herr Professor, Zu einem gründlichen Brief komme ich zwar nicht diese Woche: Ich muss am Sonntag in Windisch241 predigen und kinderlehren, dafür hält Pfarrer Pfisterer242 einen Vortrag in der Mitgliederversammlung meiner Abteilung. Drum habe ich diese Woche vermehrte Arbeit und kann Ihnen nur schnell vom Bureau aus per Schreibmaschine berichten, wies mir geht. Vor allem möchte ich Ihnen endlich danken für den Empfang des schönen Lavaterbuches243 und Ihr Brieflein dazu. Ich habe viel Freude gehabt an beidem. An Ihrem scharfen 240 241 242 243

Der Text hört hier mitten auf der Seite auf und endet ohne Gruß und Unterschrift. Kanton Aargau. Karl Pfisterer war seit 1907 Pfarrer in Windisch. Die Bibliographie der Bibliothek Thurneysens verzeichnet kein solches Buch. Vielleicht handelt es sich um das zeitnah erschienene Buch von Friedrich Fischer: Basedow und Lavater in ihren persönlichen und literarischen Beziehungen zueinander, Strassburg 1912, oder um Ernst Trösch: Die helvetische Revolution im Lichte der deutschschweizerischen Dichtung, Leipzig 1911 (Nachdruck Hildesheim 1977).

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Urteil über Kutter und Ragaz könnte ich sachlich nichts ändern. Kutter deklamiert eben ewig dasselbe. Ich habe bei ihm gar nicht das Gefühl, dass er ein wirklich lebendiger Mensch sei, der in einem innern Wachstum drin stehe und Neues aufnehme und lerne. Er malt stetsfort in allen Reden und Predigten und Schriften im Freskostil244 immer die gleichen alten Sachen, die er einmal entdeckt hat. Dabei habe ich neuerdings in immer stärkerer Weise das Gefühl, dass seine Sache inhaltlich eigentlich merkwürdig unmodern sei. Es fehlt ihm fast jeder Sinn für das, was wir Entwicklungsgedanke heissen. Er hat wie übrigens manchmal auch Ragaz eine fast antik anmutende primitive Katastrophentheorie an Stelle eines wirklichen Geschichtsbildes. Ganz abgesehen davon dass natürlich sowohl er wie Ragaz alle wirklichen Werte der modernen industriellen und technischen Entwicklung, wie sie Naumann namentlich herausgestellt hat245, gänzlich ignorieren und nur die Schattenseiten sehen, was ja allerdings aller Kulturduselei gegenüber ganz am Platze ist, im übrigen aber auch ungesund und einseitig wirken kann. Ich habe oft Bedauern mit Kutter, er kommt mir so völlig isoliert vor und wird nie etwas von wirklichem Erfolg seiner Bemühungen sehen, einfach weil er so etwas Absolutes verwirklicht sehen möchte, dass er unfähig ist, kleine Schritte nach vorwärts zu würdigen, geschweige denn uns dazu zu helfen. Bei Ragaz bin ich anlässlich eines kürzlichen Zusammenseins wieder erschrocken ob der fast trostlosen Art, mit der er gelegentlich von Kirche und Pfarramt reden kann wenigstens in der Theorie. Eine Durchdringung des Gegenwärtigen mit den neuen Gedanken und Anregungen, wie Sie erhoffen, scheint ihm wohl kaum erwünscht. Er äusserte sich wenigstens einmal sehr scharf und abschätzig über die Pfarrer, die von ihrem (relig.[iös]-soz.[ialen]) neuen Weine nur so ein wenig nehmen, um ihr eigenes abgestandenes kirchliches Wässerlein damit zu mischen und so geniessbarer zu machen. Ich bin mir damals darüber klar gewesen, dass ich jedenfalls auch unter das Gericht dieser Worte fallen würde wie übrigens fast alle meine Freunde, ausser sie seien ganz rückhaltlose Anhänger des Neuen. Ragaz jedenfalls erhofft eine wirkliche Zertrümmerung des Alten und ein radikales Neuwerden. Dass er selber als Professor noch am alten dienen muss, ist ihm ein Problem und eine Last.246 Er hat dies erst letzthin wieder ausgeführt. Mir geht bei diesen Gedanken manchmal der Atem aus, und Ihr Artikel im Kirchenblatt247 war mir daher eine rechte Freude. Von dieser Art zu denken 244 Ein oberflächlicher Stil. 245 Siehe hierzu Friedrich Naumann: Der Christ im Zeitalter der Maschine, in: ders. (Hg.): Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze, Erstes Heft, Leipzig 21896, 30–41. 246 Hier werden Gründe für den Rücktritt von Ragaz von seiner Professur im Jahr 1921 angedeutet. Die langfristige Folge dieser Haltung manifestierte sich schließlich 1921, als Ragaz von seiner Professur für systematische und praktische Theologie an der Universität Zürich zurücktrat und sich fortan mit seiner Frau der Arbeiterbildung widmete. Zu den Gründen für den Rücktritt und zu Ragaz Plänen für die Zukunft siehe den Brief an Clara Ragaz vom 14. April 1918 in Ragaz: Briefe, Bd. 2, 128–136. 247 Paul Wernle: Kirche und Vergangenheit, in: KBRS 28 (1913), 9–11, 13 f. Wernle hatte diesen

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haben wir wirklich unendlich mehr. Es sind erhebliche Gegensätze zwischen Ihnen und Ragaz, und es wäre in einer Weise erlösend und klärend, wenn Sie sich darüber einmal endgültig und zusammenhängend aussprächen. Bei alledem bleibt natürlich bestehen, dass sowohl Ragaz wie Kutter entscheidende neue Anregungen und Gedanken ausgegeben haben, nur oft in einer so exclusiven Weise, dass manchmal fast keine Verbindungen zwischen dem alten und dem neuen zu ziehen sind. Ich selber sehe ihre Leistung immer noch in einer Schärfung des Gewissens für die sozialen Probleme und einer damit zusammenhängenden Verlebendigung alten religiösen Gutes. Für das Letztere habe ich selber allerdings von Blumhardt immer mehr gehabt, weil bei ihm alles viel mehr in der mir verständlicheren Sphäre des Subjektiven blieb. Im Archiv habe ich wieder ein wenig weiter gelesen und teilweise ganz interessante Briefe gefunden, z. B. einen ausführlichen Bericht über einen Tumult in Küssnacht248 anfangs 1798. Aber vielleicht ist auch dieses Bulletin schon gedruckt wie jene von Häfeli249, mit denen ich Ihnen wertvolles Material glaubte gefunden zu haben. Nachdem ich drauf verzichtet hatte, mich für Brunnen250 zu melden, weil mir von massgebender Seite gesagt worden war, die Stelle sei nichts zum Anfangen, ist man neuerdings von dort aus an mich gelangt. Rorbas251 ist immer noch unentschieden. Es scheint, dass ein Pfarrer Hermann252 aus Chur in Betracht kommt in erster Linie, ich nur in zweiter. Mein Vater findet, es sei gar kein solch grosses Glück dort anzukommen, weil es doch eine recht grosse Gemeinde sei. Brunnen gäbe aber mit seinen zerstreuten Gemeindegliedern auch nicht weniger zu tun. Ich lasse dem Schicksal seinen Lauf. Wird nichts daraus, weil entweder die Rorbaser mich nicht wollen, oder mir die Gemeinde wirklich zu schwer und gross vorkäme, so würde ich neben Brunnen doch ernstlich ans Baselbiet denken, weil im Osten253 sonst grade nichts frei ist. Vielleicht aber tut sich infolge der Verschiebungen unverhofft etwas ganz neues auf, das mir grad einleuchtet.

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Text allerdings schon 1910 verfasst. Er schickte den Text an Max Rüetschi, der kurz zuvor den Artikel „Das Ja-Wort der Kirche“, in: a. a. O., 1–4, veröffentlich hatte. Wernle kritisierte die seinerzeit verbreitete Losung „Los von der Kirche“ sowie die „sozialen Moral- und Bußpredigten“. Ort im Kanton Schwyz. Hier ist Johann Kaspar Häfeli gemeint. Wilhelm Hosäus: Johann Kaspar Häfeli in Wörlitz 1784–1793. Mitteilungen aus Briefen Johann Kaspar Häfeli’s an J. C. Lavater und J. G. Müller, in: Mitteilungen des Vereins für anhaltische Geschichte und Altertumskunde 5, 1890, 137–163; ders.: Johann Kaspar Lavater in seinen Beziehungen zu Herzog Franz und Herzogin Luise von Anhalt-Dessau, in: a. a. O., 201–264. Dorf am Vierwaldstättersee im Kanton Schwyz. Die reformierte Gemeinde entstand erst 1886; vier Jahre später wurde 1890 ihre Kirche eingeweiht. Diese Diasporagemeinde hielt man für Berufsanfänger als wenig geeignet. Kanton Zürich. Theodor Hermann kam 1913 als Pfarrer nach Rorbas-Freienstein. Ostschweiz. Anders als in dem Entwurf fehlt hier der Seitenhieb gegen Gustav Benz.

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Am vergangenen Sonntag hätte ich Sie gern predigen gehört. Ich dachte daran, extra nach Basel zu reisen, aber die materiellen Erwägungen brachen meinen Plänen den Hals. Frau Burckhardt254 hatte eine so grosse Freude daran, sie entschädigte mich einigermassen durch aus dem Gedächtnis niedergeschriebene Notizen, aber ich gebe die Hoffung nicht auf, die Predigt noch einmal ganz lesen zu dürfen. Schicken Sie sie nicht nach Zürich, und dürfte ich sie dann haben? Oder wird sie gedruckt? Wir würden uns freuen darüber, Sie predigen ja so selten. Und ich hätte diese Predigt auch aus meiner persönlichen Lage heraus besonders gern gehört, weil ich das gerade brauchen könnte. Die Vorträge, die vom religiös-sozialen Hauptquartier aus in Basel sollten gehalten werden, und von denen Sie mir in Basel auch erzählt haben, finden nun also, wie mir Tischhauser255 sagt, nicht statt. Er behauptete übrigens sehr energisch, die Anregung dazu sei nicht von Zürich ausgegangen, sondern von Basel aus, und sie, die Zürcher hätten gefunden, es sei nicht ganz recht, wenn sie in Basel vortraghaltend aufträten. Tant mieux. Mir persönlich gehts gut, ich arbeite allerdings schon fast ein wenig auf Abbruch, indem ich Pestalozzi zu meinem Nachfolger zu machen trachte. Er hat auch wirklich Lust dazu. Wenn ich selber nur einmal wüsste, wohin es mich noch schlägt. Doch hoffe ich, es komme alles recht heraus. Neuerdings bin ich noch zu einem Sonntagsschulhelfer avanziert, was mir noch nie vorgekommen ist. Allerdings nur aushilfsweise und nur alle 3 oder 4 Sonntage. Am Grossmünster sind nämlich beide Pfarrer256 krank und nun muss ich ab und zu in die Trittligasse257, wo so ein braves Sonntagsschülein besteht. Nun ist mein Brief doch noch länger geworden, als ich meinte, allerdings merkt man ihm den Entstehungsort, das Sekretariat, wo man alle paar Augenblicke gestört wird und unterbrechen muss, an. Ich sollte ihn wohl gar nicht abschicken aber dann ginge es wieder bis nächste Woche, bis ich Ihnen wieder schreiben könnte. Drum bekommen Sie ihn eben, wie er ist. Legen Sie die Worte nicht auf die Goldwage. Es grüsst Sie in alter herzlicher Hochachtung Ihr Eduard Thurneysen Recht herzliche Grüsse auch an Frau Professor und an Hans.

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Anna Burckhardt-Lüscher war die Ehefrau von Paul Burckhardt. Emanuel Tischhauser war eng mit Hermann Kutter, Hans Bader und Emil Brunner befreundet. Rudolf Finsler (1861–1921) und Viktor Juzi (1872–1913). Gasse in der Zürcher Altstadt.

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Nr. 42. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 30. Januar 1913 NL 92: III A 13, 20 Verehrter Herr Professor, Ich habe nun Ihre Predigt, ohne erst Ihre Erlaubnis abzuwarten, schon gelesen. Ihre Mutter hat sie mir freundlicherweise gegeben, als ich ihr letzthin einen Besuch machte und sie, weil ich vernahm, dass sie sie gerade gelesen habe, darum bat. Ich möchte aber doch Ihnen recht herzlich dafür danken. Ich habe wieder das, was Sie immer so wundervoll zu vereinigen wissen, Trost und Ansporn, daraus schöpfen können und grosse Freude daran gehabt. Wenn nur die Studenten Sie mehr hören könnten, ich meine nicht die Theologen allein, sondern gerade die andern, die vielen, bei denen ich immer wieder die Beobachtung machen konnte, dass sie etwas Klares und sie wirklich Treffendes brauchen könnten; bei der kirchlichen Verkündigung, wie sie im Grossen und Ganzen geübt wird, haben sie mir mehr als einmal vorgehalten, sie fusse auf Voraussetzungen, die ihnen fremd seien. Sie aber haben gerade in dieser Predigt so einfach vom Weg des Gewissens z. B. geredet, dass Jeder es verstehen musste, der noch etwas davon in sich trägt, und so offen davon, dass auch der Christ nicht immer in der reichen Fülle der Gebetserfahrungen und überraschender Durchhilfen drin steht, sondern oft genug Gott auch ihm fern zu sein scheint. Dass aber auch das zum Weg seines Glaubens gehört, und ihm Gott in Wirklichkeit auch dann nicht fern ist sondern nahe. Ich habe gleich beim Lesen gedacht, da wäre so Manches, das auch unsern jungen Leuten hier gesagt werden sollte, und möchte Sie nun im Einverständnis mit der Redaktion der „Glocke“258 bitten, uns die Erlaubnis zu geben, in einer der nächsten Nummern etwas aus Ihrer Predigt abzudrucken.259 Soviel ich weiss, hat Frl. Stähelin260 in Basel sie wieder, vielleicht wären Sie so gut, sie uns noch einmal zukommen zu lassen anfangs des nächsten Monats. Ich danke Ihnen also für mich selber für Ihre Predigt und hoffe, Sie erfüllen 258 „Die Glocke. Monatliches Organ des Christlichen Vereins Junger Männer Zürich I, sowie der C.V.J.M. Aussersihl, Industriequatier (Philadelphia), Neumünster, Wiedikon und Schwamendingen-Oerlikon“ erschien seit 1892. 259 Die Predigt erschien unter dem Titel „Weltüberwindung“ in: Die Glocke 11, Nr. 6, März 1913, 47 f. 260 Es handelt sich um Maria Margaretha Stähelin. Sie war nicht nur eine Freundin von Wernle, mit dem sie in regem persönlichen und wissenschaftlichen Austausch stand (siehe dazu ihre im Nachlass Wernle befindlichen Briefe), sondern sie arbeitete auch mit ihm zusammen als Übersetzerin und Editorin (George Fox und Oliver Cromwell). Das Verhältnis war aber häufig sehr spannungsvoll und M. Stähelin litt unter Wernles Schroffheit. Hans Wernle beschreibt sie als begabte Gelehrte. Sie redigierte eine Wochenzeitschrift für Dienstmädchen; siehe dazu Hans Wernle: Aus grauer Vorzeit, 10 f. (Nachlass Hans Wernle, UB Basel).

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unsern Wunsch. In alter herzlicher Hochachtung grüsst Sie mit Frau Professor Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 43. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 5. Februar 1913 NL 290: B 346, 24 Lieber Herr Thurneysen! Ich habe 2 Briefe von Ihnen bei mir liegen & kann Ihnen nur kurz darauf antworten, da ich eine sehr besetzte Woche habe. Meine Predigt werde ich Ihnen schicken, sobald sie wieder in meine Hände kommt. Es ist mir zwar fast komisch, wenn ich sie so von einem zum andern herumgeben soll & sehe, wie die Leute ein „Geschiss“ daraus machen. Man hat mir sogar den Druck angeraten, was ich mit lautem Lachen anhörte. Fällt mir gar nicht ein. Bloss wenn Sie für Ihr Blatt einen Passus daraus wollen, steht Ihnen das frei. Das Predigt Drucken will ich den berühmten Männern überlassen. Am meisten freute mich, dass unsre Rosa261 nachher sagte, es sei schade[,] dass ich nicht Pfarrer geworden sei, sie habe es so gut verstanden. Das ist einzig, was ich möchte, so zu reden, dass eine Rosa es verstehen kann. Ich habe Sie nach Rorbas an meinen Freund Zimmermann262 warm empfohlen, er schrieb mir aber darauf, dass Herrmann263 wohl vorher in Betracht komme für die Rorbasser.264 Nehmen Sie das ja nicht krumm, es ist ja eigentlich das Nächstliegende. Hartmann265 in Malans266 schrieb sogar eine Empfehlung für Herrmann & er kennt ihn von Chur her am genauesten. Das ist doch in keiner Weise ein Schimpf für Sie, wenn so ein Aelterer Ihnen vorgezogen wird in einer so positiven Gemeinde. Franz Zimmerlin zeigte mir gestern seine Erwählung nach Ziefen an.267 Natürlich wäre ich froh, wenn Sie auch bald etwas Gutes hätten, aber Sie warten ja nicht untätig & es kommt sicher

261 Möglicherweise handelt es sich um eine Hausangestellte. 262 Georg Arnold Zimmermann war 1903–1913 Pfarrer in Rorbas-Freienstein (Kanton Zürich) und 1913–1940 in Zürich-Neumünster. 263 Richtig: Hermann. 264 Hermann wurde dann auch Pfarrer in Rorbas. Siehe oben Anm. 252. 265 Benedikt Hartmann. 266 Östlich von Landquart (Kanton Graubünden) gelegen. 267 Franz Zimmerlin war 1913–1931 Pfarrer in Ziefen-Lupsingen-Arboldswil (Kanton BaselLandschaft).

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bald. Ich wünsche Ihnen also ein bischen268 Geduld & Gottvertrauen, was Sie übrigens wohl von selbst haben. Ich hatte gestern einen so netten Abend mit dem Seminar, das ich vor 3 Jahren im Winter hatte & das jetzt wieder grösstenteils in Basel versammelt ist. Wir lasen eine Studentenpredigt Heitmüllers269, vom Gottschauen & Gott Suchen, welch letzteres er für die einzige Möglichkeit für unserein hinstellte, da das Uebernommene keinen inwendig binden könne. Er zeichnete das Gott suchen ungefähr in der Joh Müllerschen270 Weise, sehr fein & persönlich, aber doch nach dem mystischen Schema, dass jeder einzelne Gott ganz von vorne an suchen & ergreifen muss[.] Unsre Studenten haben in der grossen Mehrzahl das für das Richtige & Normale angesehen, während ich als alter Pietist sehr unbefriedigt war. Mir scheint, dazu sei uns Geschichte & Offenbarung gegeben, dass wir Gott bereits in heller Klarheit uns bezeugt vorfinden, damit nicht jeder ihn ganz von vorne an neu suchen & entdecken, wohl aber ihn sich persönlich aneignen & in persönlichem Vertrauen & Gehorsam als seinen Gott erfassen könne. Das zieht aber nicht. In der Sprache der Alten gesprochen: wir sollen Christus & das Evangelium durchstreichen & ignorieren & dann sehen, wie jeder Einzelne von vorne seinen Weg zu Gott finden kann. Es ist nur gut, dass der liebe Gott so unendlich gnädiger ist als diese seine Verehrer & nicht abwartet, bis die einzelnen Menschen, als Atome da & dorthin zerstreut, überhaupt auf den Gedanken kommen, ihn zu suchen, sondern sie immer schon an seiner Hand führt & ihnen durch hundert Mittel entgegenkommt, sodass sie, selbst wenn sie sich als Gott Sucher vorkommen, in Wahrheit immer schon die von ihm Gefundenen, Geleiteten & eben durch Gemeinschaft & Geschichte auf ihn hin Gezogenen sind. Ob einer das auch weiss, ist ja nicht das Wesentliche, wohl aber, dass es so ist. Sonst würde ich verzweifeln an jeder religiösen Arbeit. Meine Kirchenblattartikel271 von mehr als 3 Jahren her sind selbstver268 Diese Schreibweise kommt häufiger vor. 269 Die einzige nachweisbar selbständig publizierte Predigt von Wilhelm Heitmüller erschien unter dem Titel „Vom Glauben. Predigt in der Universitäts-Kirche zu Göttingen am 2. Sonntag nach Epiphanis gehalten“, Göttingen 1903, 21904. 270 Johannes Müller in Elmau gehörte zu den schillerndsten und umstrittendsten Figuren eines freien Protestantismus im frühen 20. Jahrhundert. Von seinen religiösen Schriften waren besonders erfolgreich „Die Reden Jesu verdeutscht und vergegenwärtigt“, 3 Bde., München 1908–1918. Siehe dazu Harald Haury: Von Riesa nach Schloß Elmau. Johannes Müller (1864–1949) als Prophet, Unternehmer und Seelenführer eines völkisch naturfrommen Protestantismus, Gütersloh 2005. 271 Seit 1909 erschienen von Wernle: Kirchenblatt und Kirchengeschichte, in: KBRS 24 (1909), 101–103; ders.: Ein neues Buch über Luther, in: KBRS 25 (1910), 97–99. Wernle dürfte sich allerdings auf den Beitrag „Zur Verständigung“, in: KBRS 26 (1911), 5–7, beziehen, da er hiermit die Auseinandersetzung mit den Religiös-Sozialen im Kirchenblatt eröffnen wollte. Er reagierte hier auf: Hans Bader: Die Hoffnungen und die Absichten der sogen. Religiös-Sozialen in der deutschen Schweiz, in: KBRS 25 (1910), 210–212. Vgl. ferner Karl Stückelberger: Warum ich mich nicht den Religiös-Sozialen anschließe, in: KBRS 26 (1911), 17 f.; Fritz Sutermeister: Zur religiös-sozialen Verständigung, in: KBRS 26 (1911), 26–28; Jakob Bischoff: Nochmals zur

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ständlich einseitig & drücken meine ganze Meinung sehr unvollkommen & mit einem stark reaktionären Schein aus. Das werden Sie sich wohl gesagt haben. Nun bin ich gespannt auf die Antwort von Ragaz. Debrunner272 erzählte mir neulich, dass seine Reichgotteserwartung von ethischen Postulaten ausgeht. Das glaube ich wohl, allein wir können schlechterdings auch ethisch nicht postulieren, was Gott tun muss; unsre Sa[che] ist, für uns diesen ethischen Idealen uns hinzugeben im Vertrauen, dass es Gottes Sache sei, alles andere aber seinen Händen anzuvertrauen & ihm weder Weg noch Ziel zu bestimmen. Religion heisst in Gottes Namen Abhängigkeit & nicht Postulat. Das kann Ragaz nie einsehen & darum ist er so zu beklagen. Die Leute beten im Unser Vater doch immer: mein Wille geschehe, selbstverständlich mein guter, moralischer Wille. Wenn sie beten könnten: dein Wille geschehe, wie würde das alle ihre Postulate für das, was Gott tun soll, über den Haufen werfen. Es gibt einen moralischen Idealismus mit dem man sich den Weg zu Gott verbaut. Wenn wir doch mehr Kinder sein könnten, die ihm vertraue[n.] Ich muss schleunigst schliessen & ans Colleg. Haben Sie nochmals vielen Dank, auch für die freundlichen Worte aus Anlass meiner Predigt. Das tut mir ja sehr wohl, aber dass ich gegen den Druck bin, werden Sie hoffentlich recht finden. Mit herzlichem Gruss Ihr P. Wernle Nr. 44. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 28. Februar 1913 NL 92: III A 13, 21 Verehrter Herr Professor, Gern würde ich Ihnen mit dem heutigen Brief erzählen, dass ich nun glücklich irgendwo gelandet sei, aber m.[eine] Zukunft schwimmt leider immer noch auf sehr unsichern Wassern, und ich weiss nicht, wohin sie mich treiben wird. Die Rorbaser halten mich immer noch hin. Es war mir von Anfang an gesagt worden, dass ich erst in 2ter Linie neben Hermann aus Chur in Betracht komme.273 Ich habe gut begriffen, dass die grosse und anspruchsvolle Gereligiös-sozialen Verständigung, in: KBRS 26 (1911), 39; Max Rüetschi: Zur religiös-sozialen Verständigung, in: KBRS 26 (1911), 70–72; 73–75. 272 Paul-Rudolf Debrunner. 273 Siehe Brief Nr. 41.

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meinde im Ganzen lieber einen ältern Mann zum Pfarrer hätte, und erklärte meinerseits stets, dass ich meine Candidatur unter keinen Umständen als Concurrenz neben und gegen Hermann auffasse, dass ich vielmehr einfach zur Verfügung stehe für den Fall, dass Hermann ablehne. Nur erwartete ich allerdings, dass Hermann in Bälde entscheide. Er aber zögert bis heute mit s.[einer] Antwort. Ich bin von Zimmermann gebeten worden, zu warten, da Hermann – trotz der in der Zeitung bereits gemeldeten Demission – noch nicht entschlossen sei, von Chur wegzugehen. Ich habe denn vor 14 Tagen auch schon einmal gepredigt, wie Zimmermann mir sagte, zur Zufriedenheit der Rorbaser. Nun wird mir aber allerdings die Sache nach und nach zu langweilig, umsomehr als es, auch Zimmermann glaubt dies, ziemlich ausgemacht ist, dass Hermann doch noch zusagt, und ich also ausser Betracht falle, und zudem fragen die Rorbaser, wie ich seit heute weiss, fortzu noch weiter im Amte stehende Pfarrer an, ob sie eventuell eine Zusage geben würden. Sie wollen also, wie es scheint, viel lieber einen schon tätigen Pfarrer als einen, der erst anfangen will. Zimmermann schreibt mir soeben274, er müsse als neuesten Zollinger in Baar275 fragen. Ich finde nur, dann hätten die Rorbaser mir selber abwinken sollen, ich hätte mich dann auch nach anderm umgesehen. Z.[immermann] fügt allerdings bei, in erster Linie sei immer noch von Hermann und mir die Rede. Jedenfalls wende ich mich jetzt an Gaus276 in Liestal, soviel ich weiss, ist Buus – Maisprach277 noch unbesetzt. Pfr. Schäfer278 und Zickendraht wollen mich gern nach dem weltentlegenen Thalheim279, ihrer Nachbargemeinde, bringen. Doch ist es immer noch nicht ausgeschrieben. Auch nach Brunnen stände mir der Weg, soviel ich weiss, noch immer offen. Ich habe aber Bedenken dagegen: der grosse Fremdenverkehr mit s.[einen] corrumpierenden Einflüssen und die flugsandartige Beschaffenheit der ansässigen Bevölkerung selber lassen es schwer zu einer ruhigen Gemeindearbeit kommen, wie man sie sich wenigstens für den Anfang wünscht. Pfr. Hans Bachofner, der die Sache kennt, warnte mich fast davor. Auch steht man sehr allein da. Aber allerdings hat die völlige Freiheit und die eigentümliche Aufgabe auch etwas Verlockendes. Doch ich will Sie nicht mit dem Hin und Her dieses Wartens, in das mich die langweiligen Rorbaser nun seit Wochen gebracht haben, aufhalten; wills Gott kommt schliesslich doch noch etwas Rechtes heraus. Die Polemik in den N.[euen] W.[egen] habe ich mit grossem Interesse gelesen. Ich habe, wenn ich das sagen darf, nur ein wenig bedauert, dass wenigstens nach meinem Gefühl nicht Ihre ganze Position zum Ausdruck 274 Dieser Brief befindet sich nicht im Nachlass Thurneysen. 275 Hans-Albert Zollinger war seit 1907 Pfarrer in der Diasporagemeinde im Kanton Zug und wohnte in Baar. 276 Karl Gauß war 1897–1928 Pfarrer in der basellandschaftlichen Kantonshauptstadt Liestal. 277 Kanton Basel-Landschaft. Die beiden Dörfer waren von 1535 bis 1935 kirchlich vereinigt. 278 Albert Schaefer amtete 1905–1934 als Pfarrer in Schinznach (Kanton Aargau). 279 Kanton Aargau.

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kam.280 Die grosse innere Freiheit, die Sie selber allem Nur-Institutionellen und Kirchlichen gegenüber sonst vertreten, wird wohl Niemand, der Sie nur aus diesem Artikel kennen lernte, bei Ihnen vermuten. So viele fromme Leute wenigstens nach meinen hiesigen bescheidenen Beobachtungen sind in ihrem Denken über die Kirche oft vielmehr auf dem Wege nach Rom als zu wahrer protestantischer Freiheit, und da wird es wohl immer nötig sein zu sagen: es kommt gerade nicht auf das äussere Kirchliche, die Sakramente, Kirchensonntage und dergl.[eichen] an[,] sondern auf ganz andere Dinge. Und diese Leute werden natürlich auch Ihren Artikel gegen Ragaz in falscher Weise als Beruhigungsmittel verstehen. Aber das kann man ja natürlich nicht vermeiden am allerwenigsten bei polemischen Auseinandersetzungen. Ich persönlich habe mich an Ihrem Artikel gefreut; Ihre Auffassung vom einfachen, geduldigen und nicht auf den äussern Erfolg gehenden Wirken des einzelnen Pfarrers ist mir selber die Quelle, aus der ich Mut und Zuversicht schöpfe, wenn ich an mein eigenes Pfarrersein denke. Ich wüsste nicht, wo ich den Mut dazu sonst hernehmen sollte. Und bis jetzt hat mir Niemand diese Quelle so schlicht und klar gezeigt wie Sie. Dafür bin ich Ihnen mit vielen andern von Herzen dankbar. Nur bin ich seit der Auseinandersetzung in den neuen Wegen darin unsicher geworden, ob diese Auffassung von der Kirche wirklich der Kern des Gegensatzes sei, der Sie und Ihre Position von Ragaz trennt, wie es nun doch vor allem auch durch das Verständnis, das Ragaz von Ihrem Briefe hat und zum Ausdruck bringt281, scheint. Ich würde ihn eigentlich eher an andern Punkten suchen. Aber das sind nur so subjektive und keineswegs abgeschlossene Erwägungen; ich möchte mir nicht anmassen, Sie besser zu verstehen als Ragaz oder Sie sich selber. Das wäre ja lächerlich. – Kürzlich hat mir meine Englischlehrerin, Frl. Dr[.] Tobler282, eine kurze, handschriftliche Selbstbiographie ihres Grossvaters, Pfr. Tobler283, zu lesen gegeben, die vielleicht auch für Sie einiges Interesse hätte durch gewisse, allerdings im Ganzen spärliche zeitgeschichtliche Beziehungen. Tobler war z. B. von 1826–1840 Pfr [Pfarrer] im Hirzel284 und hatte wegen seines unerschrockenen Eintretens für Strauss285 einen scharfen Zusammenstoss mit 280 Paul Wernle: Alt und Neu. Eine Auseinandersetzung, in: NW 7 (1913), 43–51. Wernle reagierte damit auf den Neujahrsartikel von Ragaz: Ein Ende und ein Anfang, in: NW 7 (1913), 3–9, und betonte seinen Standort „auf der Seite des alten kirchlichen Christentums“ und warf Ragaz vor, mit diesem fertig zu sein (43) und sprach sich gegen eine enthusiastische Rede vom Reich Gottes aus. Siehe auch oben S. 28. 281 Leonhard Ragaz: Antwort, in: NW 7 (1913), 51–61. 282 Clara Tobler war Fachlehrerin für Deutsch, Französisch und Englisch. 283 Salomon Tobler (1794–1875) wirkte als liberaler Theologe im Kanton Zürich und stand während des Streits um die Berufung von David Friedrich Strauß (Straußenhandel oder Züriputsch) auf dessen Seite. 284 Kanton Zürich. 285 David Friedrich Strauß (1808–1874) war ein hegelianischer schwäbischer Theologe aus der Tübinger Schule Ferdinand Christian Baurs (1792–1860), dessen Berufung auf eine Professur nach Zürich große Unruhen auslöste. Daraufhin wurde Strauß noch vor seinem Dienstantritt

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s.[einer] Gemeinde, der ihn zum Weggehen trieb. Aber das ist vielleicht das Interessanteste, und das könnte ich Ihnen abschreiben. Immerhin wenn Sie das Ganze durchsehen möchten, würde ich gern drum fragen. Es wird z. B. der Sekretär des Statthalters von Zürich, Tobler286, auch genannt, den[,] soviel ich mich erinnere, Stapfer287 befördern wollte, wogegen Lavater288 in einem Brief, den ich Ihnen excerpiert habe, er muss unter Ihren Excerpten sein, heftig protestiert. Lavaters scharfes Urteil wird durch diese Biographie vollauf bestätigt. Aber das sind ja eigentlich unwichtige Einzelheiten.289 Im Übrigen lese ich mit Frl. Tobler gegenwärtig in Carlyles Briefen an seine Braut290 und finde sie prachtvoll. Die würden es auch wert sein, übersetzt zu werden. Frl. M. Staehelin, die mich kürzlich freundlicherweise besucht hat, erzählte mir, sie habe sich auch darum bemüht, sie übersetzen zu dürfen. Aber sie seien bereits vergeben, jedoch immer noch nicht erschienen. Von Ihrer Predigt habe ich nun nicht den Passus übers Gewissen abdrucken lassen, sondern den ganzen Schluss. Es liess sich nicht anders machen; mich persönlich freuts auch so, ja, eigentlich noch mehr. Aber unsern jungen Leuten hätte ich gern das vom Gewissen zu lesen gegeben. Ich danke Ihnen nochmals recht herzlich für Ihre gütige Erlaubnis. Unterdessen bin ich nun bereits an zwei Hochzeiten von Freunden eingeladen, kurz nacheinander: Karl Barth291 und Wieser.292 Die Glücklichen mit ihren Bräuten und Gemeinden! An die 2te gehe ich mit gemischten Gefühlen, so ehrlich ich mich für Wieser freue.

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pensioniert. Seit der Veröffentlichung seines „Lebens Jesu“ (1835/36) galt Strauß als einer der umstrittensten Theologen seiner Zeit. Zum „Straußenhandel“ siehe Bruno Schmid: Straussenhandel, in: HLS 12, 61; zur Person siehe Thomas K. Kuhn: David Friedrich Strauß, in: TRE 32, 241–246, sowie Werner Zager (Hg.): Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben? David Friedrich Strauß als Theologe und Philosoph, Neukirchen-Vluyn 2008. Johannes Tobler (1771–1829) war Jurist und zur Zeit der Helvetik zuerst Sekretär des Regierungsstatthalters und erhielt 1799 die Ernennung zum öffentlichen Ankläger (Staatsanwalt). Nach dem Sturz der Helvetik wurde das Amt des öffentlichen Anklägers durch dasjenige des Kantonsfürsprechers ersetzt, das Tobler von 1805 bis zu seinem Tod innehatte. Siehe dazu Werner Ganz: Die Familie Tobler von Zürich (1626–1926). Eine historische Studie, Zürich 1928, 59–61. Philipp Albert Stapfer (1766–1840) war u. a. in der Helvetischen Republik Minister der Wissenschaft und Künste und beschäftigte sich maßgeblich mit der Schaffung des neuen Kantons Aargau. Seine zweite Lebenshälfte verbrachte er in Frankreich, wo er mit der Erweckungsbewegung in enger Verbindung stand und sich für diakonische und religiöse Einrichtungen einsetzte. Nach 1815 zählte er zu den Wortführern des französischen Protestantismus. Johann Caspar Lavater (1741–1801) war u. a. seit 1778 Diakon und seit 1787 Pfarrer an St. Peter in Zürich. Er unterhielt zahlreiche Beziehungen zu berühmten Zeitgenossen. Wernle hatte zahlreiche Studierende respektive ehemalige Studierende, die für ihn u. a. Abschriften von Briefen oder Visitationsprotokollen anfertigten. Siehe die Briefe von Richard Pestalozzi an Wernle, 1. Juli 1913; 29. Januar 1914, 13. März 1915. Möglicherweise handelt es ich um folgende Ausgabe: The love letters of Thomas Carlyle and Jane Welsh, ed. by Alexander Carlyle, London/New York 1909. Karl Barth heiratete Nelly Hoffmann am 27. März 1913 in der Berner Nydeggkirche. Gottlob Wieser.

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Ich arbeite Mancherlei, nur nicht immer in richtigem Zusammenhang, in den letzten Wochen begreiflicherweise auch etwas absorbiert durch die ewigen Schreibereien wegen, über und mit Rorbas und das ganze schwankende Verfahren. Hoffentlich leiden Sie und Ihre Familie nicht zu sehr unter der Influenzawitterung. Ich persönlich bin Gottlob bis jetzt unbehelligt davon. Es grüsst Sie in alter herzlicher Hochachtung und Dankbarkeit Ihr Eduard Thurneysen. Viele Grüsse auch an Frau Prof. und Hans. Nr. 45. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 1. März 1913 NL 290: B 346, 25 Lieber Herr Thurneysen! Ihr Brief hat mich in einiges Entsetzen versetzt, dass man mein Eintreten für die Kirche so äusserlich & katholisch verstehen könne, wie Sie schreiben. Ich muss aber sagen: an dieser Sprachverwirrung sind die fanatischen Hetzer gegen die Kirche so gut schuld wie die Kirchenheiligen. Deute ich denn auch nur eine Silbe von Sacrament, Gottesdienst am Sonntag, überhaupt irgend etwas Institutionelles, an? Ich sage doch ganz einfach, die alte grosse Gemeinschaft, Kirche genannt, über deren Zerfall & Auflösung Ragaz jubelt, hat uns bis heute das allerbeste vermacht, was wir besitzen & darum schulden wir ihr bei aller Kritik eine tiefe Dankbarkeit. Ich rede ausschliesslich von dem grossen evangelischen Glauben, der sich durch diese Kirche immer noch fortpflanzt & nirgends von einem andern Träger an ihrer statt übernommen worden ist. Am Detail der Organisation liegt mir nicht das Mindeste, nur dass irgend eine Organisation der allgemeinen Zerfahrung im Chaos steuern muss, steht mir fest. Mit den Sekten geht es nicht, die Mystiker & Individualisten sorgen ganz gut für sich, aber niemal[s] für weite Volkskreise & die sozialdemokratische Kirche ist noch nicht so ganz in der Lage, die Mission des Evangeliums zu übernehmen, also … Aber das muss ich sagen, es ist erbärmlich, wie die paar Schreier gegen die Kirche mit ihrem blossem Gelärm den Leuten & auch den jungen Theologen Sand in die Augen streuen, indem sie bloss beim Aeusserlichsten stehen bleiben & für die einfach unersetzbare innere Mission der Kirche auch nicht den geringsten Sinn haben. Was Sie mir

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da von Peter Barth erzählten,293 ist einfach beschämend; das sollte man bei den gemeinsten Ignoranten nicht für möglich halten & nun erscheint es bei dem Sohn eines der vernünftigsten & lebendigsten im guten Sinn kirchlichen Mannes!294 Für mich ist schon dies dumme Geschwätz gegen die Kirche ein Grund, mich der Sache anzunehmen, damit sich die Kritik wenigstens doch auf das hinlenke, worüber zu streiten sich einzig lohnt. Wenn ich an die Reformatoren denke & ihre treue & solide kirchliche Arbeit & dann an dies moderne blödsinnige Geschrei, dann weiss ich, auf welcher Seite nur schon die tiefere Kultur ist & die reellere Arbeit. Und als ein Mensch, der alles Gute nun einmal aus Gottes directer Hand nehmen muss, gestehe ich, dass ich die Kirche wirklich religiös schätze, wie ich meine Eltern verehre, die mir das Wort von Gott & von Jesus gebracht haben. Ich weiss schon, dass Sie mich verstehen, aber dass Sie nun auch den Eindruck haben, ich müsse schon um dieser paar Worte willen für das, was Gott uns durch die Kirche gibt, den Schein des reaktionären Kirchenmanns haben, zeigt nur, in welcher Verwirrung wir stehn dank der Rhetorik unsrer S[ch]wärmer. Dem Menschlichen & Institutionellen der Kirche stehe ich so frei gegenüber wie als ich Student war & lache über jeden, der Menschliches für göttlich taxiert. Aber so gut als Luther kann ich das Credo in sanctam ecclesiam mir aneignen & freue mich daran, dieser grossen Gemeinschaft von Jesus her anzugehören. Ja ich denke zuweilen, selbst der apokryphe Spruch von den Pforten der Hölle in Mt 16295 sei nicht ganz ohne & was ich von den Geschicken der Kirche in der Geschichte weiss, spricht mir eher dafür. Ich hätte wohl besser auf die Antwort von Ragaz meinerseits schweigen sollen & habe mirs lange überlegt, selbst nachher geschwankt, ob ichs wieder zurück ziehen solle. Aber nun lasse ichs gehen, denn stehen kann ich zu jedem Wort dazu.296 Das Betrübte ist nur, dass ich Blumhardt & allen seinen Freunden, also auch Ihrer Mutter rechte Schmerzen damit machen werde. Aber wenns wahr ist, was ich glaube, was kann ich dafür? Ich bin felsenfest überzeugt, dass Gott diese Reichgottesleute geschickt & gebraucht hat, um uns aufzuwecken & für die Arbeit auf dieser Erde den Blick zu öffnen. Aber eben so fest weiss ich, dass Gott es nicht so fügen wird, wie alle es sich austräumen & dass er auch künftig uns auf dieser Erde für die Ewigkeit erziehen will. Stärker 293 Hier spiegeln sich der Wandel Peter Barths zum Sozialismus und seine Kirchenkritik wider. Siehe dazu die Diskussion in Anschluss an Peter Barth: Was wollen die schweizer ReligiösSozialen? Vortrag gehalten vor den Freunden der Christlichen Welt in Altona am 29. 1. 1912, in: ChW 26 (1912), 875–881; 906–914. Auf Barths Veröffentlichung reagierten folgende zwei Artikel: Rudolf Schubring: Die Schweizer Religiös-Sozialen und wir, in: ChW 27 (1913), 58–63; Emil Fuchs: Die Religiös-Sozialen und wir, in: a. a. O., 153–157. Mit letzteren beiden setzte sich Peter Barth auseinander in: Die sittliche Forderung im Sozialismus. Eine Antwort auf die zwei Artikel über die Religiös-Sozialen aus der Schweiz, in: ChW 27 (1913), 228–232. 294 Johann Friedrich (Fritz) Barth vertrat eine positiv-biblische Theologie, die sich jenseits der Grenzen von Positivismus und Liberalismus bewegte. 295 Mt 16, 18. 296 Wernle zog diese Antwort auf Bitten von Ragaz zurück; siehe Anm. 190.

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als die Kraft einzelner biblischer Sprüche ist die Sprache, die Gott redet durch den Weltlauf. Wer da nicht will, der muss fühlen. Es ist frömmer in meinen Augen, dem Gott der Wahrheit die Ehre zu geben, als sich an Illusionen zu klammern, die nicht er, sondern unsre Wünsche sich bilden. Und unsre Frömmigkeit wird dadurch nur ernster, heroischer, realer. Selbstverständlich möchte ich jedem seine Art zu hoffen lassen. Wenn man aber so tut, als sei die alte evangelische Art, die Art, die einem Calvin solche Kraft für diese Erde gab, wertlos & überlebt, bloss weil jetzt Diesseits Trumpf ist & man unsern Gassenbuben gegenüber sich schämen muss, auf den Himmel zu hoffen, dann ist es eben meine verdammte Pflicht, darauf hinzuweisen, dass all dem grossen Wortlärm gar keine Tat von seiten Gottes entspricht & er einfach darüber zur Tagesordnung geht, indem er uns alle samt & sonders in die Ewigkeit abholt. Aber freilich bei Philosophen ist ja der Tod ausser Kurs gesetzt. Nun, auch das ändert nichts. Aber das ganz Grosse & Wunderbare beginnt da, wenn man in dieser Welt des Todes, des Leids & der Sünde einen Gott hat dem man dennoch als treuen Vater vertrauen darf. So nun habe ich mir das Herz geleert auf Ihren Brief & es wird bei Ihnen gut aufgehoben sein in Vertrauen. Ihr eigenes Los bewegt mich sehr & ich kann wohl Ihr Unbehagen mit empfinden. Aber denken Sie, das sei eine doch recht kurze Uebergangszeit & lassen Sie sich selbst diese von Gott zum Segen dienen. Sie kommen sicher so früh an die Stelle, wo er Sie haben will, als gerade recht ist. Wir lasen heut in Calvins Institutio297 die Kapitel vom Vorsehungsglauben im ersten Buch. Ich bin noch voll davon & kann Ihnen nur wünschen, dass Sie von dem, was Calvin dort schreibt, jetzt etwas betätigen möchten. Wir haben heut Merz298 zum Licentiaten gebacken. P W [Schmidt]299 & Riggenbach300 hätten gern Summa gewünscht & wenn solche Extreme zusammentreffen, könnte man fast an Gottes Wunsch denken. Aber P W [Schmidt] hatte gerade eine weiche Laune & bei R[iggenbach] ists Kirchenpolitik von der er nie frei handeln kann. Es ist bei magna geblieben. Wollen Sie der nächste sein? Von Buus & Meisprach301 aus gienge es wohl leicht. Ich freue mich sehr, wenn Sie endlich etwas Bestimmtes haben werden, aber so gar schlimm sind Sie in meinen Augen nicht dran, es gibt viel Schlimmeres

297 Johannes Calvin: Institutio christianae religionis, erschien seit 1536 in mehreren erweiterten Auflagen bis 1559; in deutscher Übersetzung als „Unterricht in der christlichen Religion“, Heidelberg 1572. 298 Erwin Merz erwarb 1913 den Grad des Lizentiaten mit der Arbeit „Die Blutrache bei den Israeliten“ (Leipzig 1916). 299 Paul Wilhelm Schmidt, Professor für Neues Testament in Basel, gilt als wichtiger Vertreter des theologischen Liberalismus. 300 Eduard Riggenbach war seit 1899 außerordentlicher Professor für Neues Testament und vertrat theologisch die positive Richtung. 301 Siehe Anm. 277.

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& es kommt alles darauf an, dass Sie es von der rechten Seite anpacken, eben von der Seite, da Gott es Ihnen schickt. Mit herzlichem Gruss Ihr bei aller Kirchlichkeit einzig an Gott gebundener P. Wernle Nr. 46. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 5. März 1913 NL 290: B 346, 26 Lieber Herr Thurneysen! Haben Sie besten Dank für Ihre Glocke302 mit dem Abdruck meiner Predigt. Ich bin sehr einverstanden mit der Auswahl & Kürzung am Schluss & freue mich, dass Sie es so gebracht haben. Meine Antwort an Ragaz habe ich auf dessen dringenden Wunsch zurückgezogen.303 Er nahm die Sache unendlich tragisch, sah den grössten Schaden für uns beide kommen & hat wieder einmal grosses Leid durchgemacht. Ich bin von härterem Stoff & traute den Lesern zu, dass sie aus der Discussion etwas lernen könnten. Aber mir ists auch recht, zu schweigen & ihm das letzte Wort zu lassen, dass er so wie so bekommen hätte. Wenn man so entsetzlich weich ist, sollte man sich nicht in die Lage setzen überhaupt kämpfen zu müssen; es ist eine Tragikomödie. Aber nun gut! Von Herzen Ihr P. Wernle

302 Siehe oben Anm. 258. 303 Ragaz schrieb am 28. Februar 1913 an Wernle: „Ich sage mir, daß die Veröffentlichung Ihres zweiten Briefes mit meiner Erwiderung ein schweres Unglück wäre und zwar für uns alle, für Sie, für mich, für die Sache, die wir gegen andere gemeinsam haben, für die Sache Jesu, wenn ich so sagen darf. Ich wäre geschädigt, denn Ihre Argumente würden von meinen Gegnern gegen mich ausgebeutet; Sie wären mindestens so sehr geschädigt, denn ich müßte Ihnen ganz notwendigerweise Dinge sagen, die für Sie die Wirkung einer schweren Wunde hätten – ich müßte das zu meiner Verteidigung tun! So hätten wir uns beide im Bruderkampf halb aufgerieben und den Nutzen hätten unsere Gegner.“ Ragaz fühlte sich von Wernle hinsichtlich des Artikels „Ein Ende und ein Anfang“ völlig missverstanden und versuchte, ein Ausufern der Debatte zu verhindern. Siehe dazu Ragaz: Briefe, Bd. 1, Brief Nr. 137, 312–315.

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Nr. 47. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 6. März 1913 NL 92: III A 13, 22 Verehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren Brief vom Sonntag und Ihre vorgestrige Karte. Ich denke, mich selber haben Sie nicht im Verdacht gehabt, als hätte ich Sie wegen Ihres Eintretens für die Kirche so greulich als reaktionären Kirchenmann missverstanden. Nein, davon ist keine Rede: Ich stehe innerlich und prinzipiell bei all diesen Auseinandersetzungen durchaus auf Ihrer Seite und bin froh und dankbar wie irgend einer, dass wir Sie haben, und dass Sie wieder einmal Ihre Stimme geltend machen. Ich kann nur wiederholen, dass ich Ihrer freien und tiefen Auffassung von der Geschichte, der Art und den Aufgaben der Kirche in der Gegenwart selber das Beste verdanke. Sie hat etwas ungemein stärkendes und Mut, ja, Freude machendes für mich, der ich selber Pfarrer zu werden im Begriff bin und wahrlich sonst nicht wüsste, woher das innere Recht dazu nehmen. Die, um es kurz zu sagen, antihistorische, enthusiastische Auffassung könnte mich nur davon abhalten. Ich erinnere mich noch mit aller Deutlichkeit an die schwierige innere Lage, in die mich schon der Verkehr mit dem ja im übrigen gar nicht diktatorisch auftretenden Blumhardt gebracht hat, als ich in den letzten Jahren des Gymnasiums für die Theologie mich entschliessen wollte und doch an den Ausgängen dieses mir des Stoffes wegen unendlich anziehenden Gebietes die Kirche und den Kirchendienst lauern sah, gegen die ich eine tiefe innere Unlust und Abneigung empfand, weil sie mir unvereinbar erschienen mit dem Ideal der religiösen Freiheit, Weite und Ungebundenheit, das ich als Kern der Botschaft Blumhardts zu erfassen vermeint hatte. Der Gegensatz von Kirche und Gottesreich war mir damals schon sehr geläufig, von mir selber natürlich in jugendlicher Oppositionslust noch verstärkt und gesteigert, von Blumhardt jedenfalls kaum bewusst gewollt, riet er mir doch selber einmal sehr dringlich zu, Pfarrer zu werden. Aber auch als ich dann Theologie studierte, klagte ich mich noch lange des Mangels an Mut an und zu grosser Nachgiebigkeit gegen die Tradition. Ich stand sozusagen gegen mein Gewissen. In steigendem Masse aber fand ich Freude an der Sache und Mut dazuzustehen in erster Linie durch Sie. Bei Ihnen sah ich die grösste Freiheit verbunden mit Ehrfurcht vor dem geschichtlichen Werden. Und ich bekam selber ein Verständnis dafür, dass wir alle aus den Kräften der Vergangenheit leben, dass wir daher der geschichtlichen Gemeinschaft dienen können, ohne selber innerlich unfrei zu werden. Das sind mir jetzt sehr elementare Dinge, aber sie warens nicht immer. Ich bin Ihnen also aus sehr persönlichen Erfahrungen heraus zu grösstem Danke

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verpflichtet für den Dienst, den Sie mir gerade an dem Punkte geleistet haben, der jetzt in Frage steht. Ich weiss nicht, wie ich weiter gekommen wäre ohne Sie, und ich würde mich von Herzen freuen, wenn Sie mit dem Geltendmachen Ihrer Meinung in den Neuen Wegen auch andern helfen würden, die in derselben Notlage drin stehen. Schade, dass Ragaz trotz des Versprechens, auch abweichende Meinungen zu Worte kommen zu lassen – dieses Versprechen wird nun allerdings nicht mehr können ernst genommen werden – die Debatte abschneidet aus Taktik und aus einer gewissen Schwächlichkeit. Sie jedenfalls hätte man bei einer nochmaligen Aussprache nur besser verstehen können als das erste Mal. Und vielleicht hätte es Ragaz und Kutter auch geholfen, endlich ein wenig vom postulieren und kritisieren zur Anerkennung realer Arbeit zu kommen. Ich hatte bei einer Predigt Kutters am letzten Sonntag wieder so stark das Gefühl, Kutter lebe in seiner Religion ausschliesslich von „wenn“ und „sollte“, „müsste“, „wird“. Wer ihn nur aus ein paar Predigten kennte, müsste glauben, er kenne das, was wir ganz einfach persönliche Religion heissen können, gar nicht, jedenfalls redet er nicht davon. Und doch ist dies für das gewöhnliche Leben Tag für Tag das allerwichtigste. Mir persönlich vereinfacht sich das ganze wirklich bleibend wertvolle am Wollen der Religiössozialen immer mehr auf das neue und energische Geltendmachen der sittlichen Forderung auch in den oekonomischen Lebensverhältnissen. Dafür bin ich ihnen dankbar. Soviel ich aus einem flüchtigen Durchlesen des polemischen Artikels von Peter Barth in der neuesten christlichen Welt304 sehe, kommt auch er auf dasselbe heraus. Leider drückt er diesen einfachen Sinn wieder reichlich compliziert aus mit Hilfe der Marburger Kantdoktrin.305 Und stellt den alten Calvin daneben, obwohl der Gedanke von der unendlichen sittlichen Aufgabe mit der ganzen weiten Perspektiven der durch die sittliche Arbeit in ständigem, langsamen Vorwärtsschreiten zu leistenden Weltumgestaltung aus einer andern Sphäre stammt als die calvinische, in rigoroser Selbstdisziplin sich auswirkende Verantwortlichkeit des Erwählten Gott gegenüber. Aber das ist ja nebensächlich. Für Ihren freundlichen Trost wegen meiner immer noch unsichern Zukunft bin ich sehr empfänglich gewesen und danke Ihnen vielmal dafür. Mit Buus-Maisprach ists nichts, die Gemeinde hat schon gewählt. Ich habe jetzt meinen Namen für Fälanden am Greifensee306 nennen lassen, es ist kürzlich frei geworden und wäre eine kleine Ortschaft, wo man noch gut arbeiten könnte, was mir sehr erwünscht wäre, weil ich eigentlich noch immer durch ruhiges Arbeiten auch in meinem persönlichen Denken am allermeisten gelernt habe und vorwärtskam. Oder aber der Aargau kommt in Betracht. Was aber dort frei werden soll, ist immer noch nicht ausgeschrieben. 304 Peter Barth: Die sittliche Forderung im Sozialismus. Eine Antwort auf die zwei Artikel über die „Religiös-Sozialen“ aus der Schweiz, in: ChW 27 (1913), 228–232; vgl. Anm. 293. 305 Damit sind der Marburger Neukantianismus (Hermann Cohen und Paul Natorp) und sein Idealismus gemeint, der um 1912 in seinem Zenit steht. 306 Kanton Zürich.

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An Ihrem Predigtauszug haben wir alle viel Freude gehabt. Wenn wir alle nur mehr davon bekämen, Sie predigen viel zu selten! Ihr alter Bekannter, Herr Traber307 meinte allerdings, die Hauptsache fehle wieder einmal. Diese Leute hören immer nur das, was nicht da ist. Ich freue mich, Sie in Aarau308 wieder selber zu sehen und auch zu hören.309 Ich selber muss den Schlussspruch tun. Wenn mich nur der Geist nicht verlässt wie letzthin, als ich bei einer Taufe nach der Predigt im Vaterunser stecken blieb. Das Buch von Weinel310 habe ich gekauft und finde grossen Gefallen daran. Es hat etwas überaus Anregendes, die Worte Jesu in eigener Weise gruppiert zu sehen. Nehmen Sie nochmals recht herzlichen Dank dafür, dass Sie immer in so freundlicher Weise an mich denken und mir schreiben, und seien Sie mit Frau Professor in alter, herzlicher Hochachtung gegrüsst von Ihrem Eduard Thurneysen Nr. 48. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 17. April 1913.311 NL 92: III A 13, 23 Verehrter Herr Professor, Ich kann Ihnen meine Wahl zum Pfarrer von Leutwyl-Dürrenäsch312 anzeigen. Sie ist aber unter so unerfreulichen Erscheinungen erfolgt, dass ich gar keine Freude daran haben kann. Es scheint mit meinem Pfarrersein nicht recht glücken zu wollen. Die Sache ist nämlich so: Ich sass gestern harmlos in 307 Person konnte nicht identifiziert werden. 308 In Aarau fand vom 10. bis 12. März 1913 die Christliche Studenten-Konferenz statt. 309 Paul Wernle hielt dort am 11. März eine Bibelbetrachtung über Mk 2,18–19 und Thurneysen betonte in seinem Schlußwort den einheitlichen Charakter der Konferenz. Siehe dazu: Die XVII. Christliche Studenten-Konferenz. Aarau 1913. Den 10. bis 12. März, Bern 1913, 3 f. 310 Heinrich Weinel: Biblische Theologie des Neuen Testaments. Die Religion Jesu und des Urchristentums, Tübingen 21913. 311 Briefpapier mit Briefkopf: „Christlicher Verein junger Männer Zürich I Sihlstraße Nr. 33 Ständiges Sekretariat Telephon 3635 Post-Check- & Giro-Konto VIII 1050“. 312 Kanton Aargau.

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meiner Bude, als ein Bewohner von Leutwyl zu mir kam, ein Jünglingsvereinler, den ich bei meiner Probepredigt dort oben kennen gelernt hatte, er wollte sich unser Haus ansehen, und weil er wusste, dass ich da wohne, besuchte er mich. Ich fragte ihn beläufig, wie es gehe in Leutwyl, und er sagte unter anderm, ja, ich sei also am Sonntag zum Pfarrer gewählt worden. Ich fiel aus den Wolken, denn diese Nachricht war mir das Allerneueste, ich wusste von rein gar nichts. Hatte man mich also am Sonntag dort oben zum Pfarrer gewählt, und diese wunderbare Kirchenpflege313 fand es nicht einmal der Mühe wert, mir auch nur mit einer Zeile Nachricht zu geben. Ich habe bis zur Stunde – es ist Donnerstag mittag – noch keine in Händen. Sie können sich denken, dass mir dies nicht gerade ermutigend vorkam. Der Bewohner von Leutwyl erklärte mir dann, der Präsident der Pflege sei allerdings ein grenzenlos wurstiger Mensch, dem einfach alles gleich sei, was die Kirche angehe, obwohl er der Pflege vorsteht, er werde jahraus jahrein nie in der Kirche gesehen, dafür ist er Grossrat und Gemeindeammann314 und politischer Matador und hält sich in seiner Stellung durch eine laxe Steuerpraxis. Dazu liess sich mein Vorgänger, Pfr. Müller315 alles bieten, deshalb ist die ganze Pflege gewohnt, in dieser gleichgültigen und wurstigen Weise mit dem Pfarrer umzugehen. Es seien auch rechte Leute im Dorf, die das schon wüssten, nur die Wirte hätten schon gesagt, sie würden den Pfr. Müller gern wieder haben – weil er selber gern ins Glas schaute und nicht viel galt – aber der Neue bekomme auf den Grind316, wenn er sich mit dem Blaukreuz317 einlasse, eine weitere Ermutigung. Dies letztere nehme ich natürlich nicht tragisch, aber die bodenlose Wurstigkeit, mit der mich hier die massgebende Stelle von Anfang an glaubt behandeln zu dürfen, zeigt mir allerdings, dass es zu einem erträglichen Zusammenarbeiten zwischen Pfarrer und Pflege nicht kommen kann, vielmehr tut sich der Blick auf eine Unzahl von Kächeleien318 und Leidwerkereien319 (z. B. in Armen- und Schulsachen, wo im Aargau die politische Regierung alles in Händen hat) auf. Ich habe mir ernstlich überlegt, ob nicht die beste und heilsamste Antwort auf diese Art der Behandlung einer so wichtigen Sache die Zurückweisung der Wahl wäre. Dies um somehr, als mir seit Sonntag zwei 313 In der deutschsprachigen Schweiz Bezeichnung für das gemeindeleitende Gremium, das auch „Stillstand“ genannt werden konnte. 314 Das gewählte Oberhaupt in einer schweizerischen politische Gemeinde; auch Gemeindepräsident. Siehe dazu Peter Steiner: Gemeindepräsident, in: HLS 5, 196 f. 315 August Müller war von 1880 bis zu seinem Tod 1912 Pfarrer in Leutwil. 316 Kopf. 317 Die Alkohol-Abstinenzbewegung zählte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den wichtigen sozialen Bewegungen der Schweiz, der auch zahlreiche Pfarrer angehörten. Das Blaue Kreuz verband mit der Abstinenz eine missionarische Praxis und arbeitete mit den Landes- und Freikirchen zusammen. Vgl. Rolf Trechsel: Die Geschichte der Abstinenzbewegung in der Schweiz im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Lausanne 1990; ders.: Abstinenzbewegung, in: HLS 1, 68 f.; siehe auch oben S. 26. 318 Kächeln bedeutet zanken. 319 Leid zufügen.

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weitere Anfragen von Gemeinden vorliegen, Fällanden und Frenkendorf320 sind an mich gelangt. Beiden habe ich natürlich abgesagt unter Hinweis auf Leutwyl, aber… Ich sprach mit verschiedenen Leuten, z. B. Pfr. Fröhlich321 in Brugg. Er fand die Sache auch eher bodenlos und wusste keinen andern Rat, als zunächst einen Brief an den Präsidenten, ganz kurz und ruhig, ob die Wahl wirklich erfolgt sei, ich hätte es vernommen. Das habe ich nun getan und warte auf die Antwort, ich habe eine Frist gestellt bis Freitag. Auch Pfr. Nuesch322, der Kirchensekretär und Moppert323, den ich zufällig hier traf, wollen von einer ähnlichen Glunkerei324 nichts gehört haben und wissen wenig Rat, beide meinten, es sei abzuwarten, was weiter erfolge und je nachdem abzubrechen. Sich an den Kirchenrat des Aargau zu wenden hat wenig Wert, er ist machtlos den autonomen Gemeinden gegenüber, machtloser als in andern Kantonen, höchstens einen Verweis kann er erteilen, und da hätte ich nur noch die Folgen zu spüren. Ich bin allerdings nicht gewillt, mich schlecht und nachlässig behandeln zu lassen. Wenn die Leutwyler Kirchenpflege das weiterhin meint, so verhandle ich nicht mehr. Dann mögen sie ihre Pflege durch eine andere ersetzen. Man kann trotz allen guten Leuten nicht Pfarrer sein, wenn ein solcher Präsident und eine solche Behörde einem beigegeben ist. Es wird jetzt gleich von Anfang an eine Kampfstellung einzunehmen sein. Fröhlich machte mich z. B. darauf aufmerksam, dass ich bei Uebernahme des Pfarrhauses einfach klare Forderungen zu stellen habe, es ist mancherlei zu reparieren, und ich müsse daran die Annahme der Wahl knüpfen, sonst werde bei einer solchen Pflege nichts ausgeführt. Das alles ist wenig erfreulich. Wie es noch ausgeht, weiss ich nicht. Ich hoffe das Beste. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen das alles so ausführlich geschrieben habe, aber Sie haben immer so warmen Anteil an meinem Ergehen genommen, dass ich es glaubte tun zu dürfen. Es ist zudem ein neuer Beweis für die Vortrefflichkeit unserer Kirchenverfassungen mit ihrer absoluten Gemeindeautonomie. So etwas sollte doch einfach nicht vorkommen können. Mit recht herzlichem Gruss an Sie und Frau Professor Ihr Eduard Thurneysen.

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Kanton Basel-Landschaft. Edmund Fröhlich war von 1897–1937 „Klasshelfer“ in Brugg (Kanton Aargau). Alexander Nüesch war 1910–1927 Sekretär des Zürcher Kirchenrates. Oscar Moppert war 1908–1918 Pfarrer in Frauenfeld (Kanton Thurgau). „Glunkerei“ dürfte von „Glunggli“ abgeleitet und ans Hochdeutsch angeglichen sein. Der Begriff beschreibt den Prozess der Verzögerung. In der Schweiz ist noch im Gebrauch das Verb „etwas verglunggle“ im Sinn von „etwas verpassen“, „nicht bedacht haben“.

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Nr. 49. Postkarte E. Thurneysen an P. Wernle Zürich, den 18. April 1913 NL 92: III A 13, 24 Lieber Herr Professor, Es ist mir fast leid, dass ich mich über das Ausbleiben der Wahlnachricht so geärgert habe, ich hätte es wahrscheinlich nicht so wichtig nehmen sollen, dem Präsidenten von L.[eutwyl] wird es eben auch nicht besonders wichtig vorgekommen sein. Soeben erhalte ich seinen Bericht. Er teilt mir in dürren Worten mit, natürlich ohne die geringste Entschuldigung, ich sei denn am letzten Sonntag gewählt worden. Ein gleichgültiger Mensch ist er jedenfalls, ich konnte die Wahl gestern abend schon in einem Aargauer Blatt lesen, ohne selber direkten Bericht zu haben, und das ist doch nicht das Normale und Anständige. Nun es mag sein Bewenden damit haben. Ich will mich über mein neues Arbeitsfeld trotz allem freuen. Mit recht herzlichem Gruss Ihr Eduard Thurneysen Nr. 50. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 19. April 1913 NL 290: B 346, 27 Lieber Herr Thurneysen! Donnerwetter, Herr Pfarrer, muss man ja jetzt [sch]reiben. Ihren Brief fand ich gestern abend, als ich spät von Bern ankam & nicht mehr schreiben konnte; heut kam die Karte. Es ist ja miserabel, wie man in Leutwyl den neuen Pfarrer behandelt & wenn Sie gleich erklärt hätten, Sie nehmen die Wahl nicht an, so hätte ich Sie wohl begriffen & Ihnen keinen Vorwurf gemacht. Wenn Sie nun aber annehmen, dann tun Sies gerade als ganzer Christ, der über solchen Erbärmlichkeiten steht & sie die Leute nicht entgelten lässt. Nur dann kann etwas Erfreuliches aus Ihrem dortigen Pfarramt werden. Es kommt so viel auf den Anfang an, natürlich von beiden Seiten. Nun ist der Anfang von den Leutwylern möglichst verkehrt gemacht; falls Sie irgend darauf reagieren & sich auf diese Gesinnung einlassen, ist alles verfehlt. Wenn Sie aber drüber

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stehen, keinen Aerger & keine Verstimmtheit merken lassen, recht & menschlich mit den Leuten sind, wie wenn nichts gewesen wäre, dann verspreche ich mir etwas davon. Es ist eine rechte Probe für Sie & ich freue mich darauf, dass Sie sie gut bestehen werden. Leicht ist es nicht, aber wer soviel Idealismus in sich angesammelt hat wie Sie, sollte das fertig bringen. Im übrigen will ich keinen langen Glückwunsch schreiben. Sie wissen, mit welcher Teilnahme ich Sie in Ihren neuen Beruf begleite & mit welchem Interesse ich Ihnen zusehe, wie Sie es machen. Und wenn ich Ihnen von Herzen Gottes Segen dabei wünsche, so nehmen Sie das nicht als Phrase, denn Sie wissen wie ich, dass es ohne das tatsächlich nicht geht trotz bestem Bemühen & dass selbst das redlichste & edelste Wollen unsrerseits in die grössten Dummheiten fällt, wenn er nicht seine Hand drüber hält. Ist er aber dabei, dann darf man furchtlos an die Arbeit gehen & bei allen Widerwärtigkeiten getrost den Ausgang erwarten. Suchen Sie die Menschen in Leutwyl zu verstehen & vor allem recht kennen zu lernen. Und wenn Sie dann finden, es seien so viel erbärmliche, schwache & auch gemeine darunter, dann glauben Sie nicht, dass Sie mit Wettern & Donnern das Beste ausrichten, obschon das ja auch gelegentlich sein gutes Recht hat, sondern dass unsre Aufgabe ist, den göttlichen Funken in ihnen zu wecken & anzufachen, der ganz tief unter Schmutz & Gemeinheit vergraben liegt. Ich selbst hoffe, bei Ihrer Arbeit auch manches zu lernen & manches Erfreuliche zu erleben & freue mich darauf, von Ihnen dann & wann Bericht zu bekommen. Für Ihre neusten Lavaterexcerpte meinen besten Dank. Es werden nun wohl die letzten sein. Ihre vorletzten habe ich auf der Bahn mit grosser Freude gelesen. Es ist doch ein grosser Reichtum darin & wenn ich einmal ans Ausarbeiten komme, werde ich erst recht darüber froh sein. Man hat selten solche Gelegenheit, einen Mann in einer so grossen Zeit so auf Schritt & Tritt zu begleiten & ihm ins Innerste zu sehen & wie wenige könnten das ertragen, dass Ihre Gedanken so offen vor der Nachwelt liegen. Mir wächst der Mann Lavater trotz all des Kindköpfigen & Eudämonistischen, von dem er nicht loskommt. Man versteht, dass er von Kant nichts wissen wollte & zugleich, worin er ihm überlegen war, nur nicht überlegen, wie einer, der das Grosse & Tiefe des andern in sich aufgenommen hat. Ich habe in Lausanne & mehr noch in Genf reiche Ausbeute gefunden & freue mich, nun so weit zu sein, dass ich an allen wichtigen Orten wenigstens einmal mich orientiert habe. Der Plan & seine Ausführung wachsen immer mehr vor meinen Augen, oft fast angsthaft. Hätte ich das alles vorher gewusst wer weiss, ob ich den Mut zum Anfangen gehabt hätte – Jetzt aber soll es gehen. Die rel[igiös-]soz[iale] Conferenz325 soll diesmal so schön gewesen sein, wie

325 Die Religiös-soziale Konferenz fand in Bern vom 4. bis 5. Mai 1913 statt. Zum Programm siehe NW 7 (1913), 176; 223 f.; KBRS 28 (1913), 78 f.

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ich von Schmidts Frau326 erfuhr. Das ist erfreulich. Für mich müsste das Ganze noch viel mehr religiös orientiert sein & ganz frei von sozialistischem Bekenntnis, das mir nun einmal gegen das Gewissen geht, wenn ich mitmachen könnte. Ein religiöses Anhängsel der sozialdemokratischen Partei zu sein ist für mich auf derselben Linie, wie ein solches der freisinnigen Partei, gegen das ich mich immer aufgelehnt habe. Aber lehnt man es ab, so steht man allein und das ist unerfreulich. Aber nun Schluß! Ich bleibe von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 51. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Basel, Poststempel: 9. Juni 1913 NL 290: B 346, 28 Lieber Herr Pfarrer! Könnten Sie mir von Zwinglis Werken den 1 Band der deutschen Schriften327 zuschicken für einige Zeit für meine Uebungen. Ich brauche ihn am Dienstag abend. Ich denke mit Freuden an den schönen Tag bei Ihnen & dass ich Ihrem Einsatz328 beiwohnen durfte. Ihre Mutter hat mir Gutes von Ihnen gemeldet. Mit herzlichem Gruss Ihr P. Wernle

326 Es dürfte sich um die Frau des Berner Pfarrers Theodor Schmidt handeln. 327 Thurneysen besaß die Ausgabe von Schuler und Schulthess, Zürich 1828–1842. Wernle bittet um: Huldreich Zwingli’s Werke. Erste vollständige Ausgabe durch Melchior Schuler und Joh. Schulthess. Erster Band. Der deutschen Schriften erster Theil. Lehr- und Schulschriften zum Behufe des Ueberschrittes in die evangelische Wahrheit und Freyheit von 1522 bis März 1524, Zürich 1828. 328 Die Einführung ins Pfarramt erfolgte Anfang Juni 1913.

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Nr. 52. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwyl, den 10. Juni 1913 NL 92: III A 13, 25 Verehrter Herr Professor, Es tut mir leid, dass Sie so lange auf den Zw.[ingli] warten und mir noch eine Mahnung daran mussten zugehen lassen. Ich versäumte es in den Geschäften der ersten Leutwylerwoche, ihn zu schicken; hoffentlich kommt er nun doch nicht zu spät. Ich habe eine grosse Freude gehabt, dass Sie an m.[einem] Einsatz teilnahmen; wenn ich jetzt etwas von Mut und Kraft und Zuversicht zum Pfarrersein in mir spüre, so verdanke ich das Ihnen am allermeisten. Die Zürcher Propheten329 haben mir sicher auch starke und lebendige Anregungen vermittelt, aber sie tragen auch wieder so viel Unruhe und Umtriebe in einen hinein, und wenn man sich ernst und aufrichtig fragt, was einen wirklich trägt und immer wieder die Aufforderung und Pflicht vor einem erstehen lässt, täglich vorwärtszumachen, zu predigen und zu kinderlehren, so ist es wahrlich nicht die stets wechselnde subjective religiöse Erregtheit[,] sondern das dauernde Gefühl, an seinem bescheidenen Ort und seiner Stelle in dem grossen Gang des Evangeliums durch die Welt drin zu stehen und mit den Gaben und den Kräften, die man hat, für seine Lebenskräfte einzustehen. Das ist, wenn ich dran denke, unerhört verantwortungsvoll – und doch nichts, was einen gänzlich niederdrücken könnte, weil es nichts Unmögliches ist. Meine Kirche hier ist, wie ich vernehme, eine der ältesten in der Gegend330; seit Jahrhunderten ist jeden Sonntag da „geläutet“ worden, und nun läutet es weiter, und als einer von den vielen, die schon hier von Gott und von Jesus geredet haben, trete ich nun auf und sage meine Sache und hoffe, es sei wie bisher auch nicht ganz umsonst. Für mich liegt in diesem bewussten Erfassen der grossen geschichtlichen Continuität des Evangeliums und dem Reden und Denken und Arbeiten aus diesem Zusammenhang heraus auch ein Verstehen und Vertreten des Reichs-Gottesgedankens, der ja im Übrigen fast schon das Monopol der Industriepfarrer331 sozialistischer Färbung scheint geworden zu

329 Damit sind wohl die Religiös-Sozialen wie Kutter und Ragaz gemeint. 330 Die Kirche ist romanischen Ursprungs und wurde urkundlich erstmalig 1273 erwähnt. Vgl. Michael Stettler: Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau, Bd. 1: Die Bezirke Aarau, Kulm, Zofingen, Basel 1948, 203–208. 331 Hier denkt Thurneysen wahrscheinlich u. a. an Hans Bader und Emanuel Tischhauser in Zürich-Außersihl. Siehe dazu auch die Aussage von Thurneysen gegenüber Barth in einem Brief vom 23. Oktober 1915: „Greyerz sagte mir einmal, es brauche schon ein ziemliches Selbstbewußtsein und Gottvertrauen, um im Angesicht Baders, Tischhausers oder Ragazens eine etwas abweichende Reichgotteserfahrung und –hoffnung zu vertreten, müsse man sich

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sein. Ich hoffe dabei, trotz dieses „Objectivismus“ gehe mir die subjective Lebendigkeit und Aufgeschlossenheit und Angriffslust nicht verloren; meine Zürcherfreunde behaupten das gelegentlich und reden dann von den „resignierten Baslerpfarrern“, ich meine aber, wenn ein Pfarrer müd und resigniert wird und hoffnungsarm, so liegt das sicher nicht am Evangelium und daran, dass er sich darunter stellen will, ihm dienen möchte und nicht zu viel von sich erwartet. Ich habe aus solchen Gedanken heraus auch an m.[einem] Einsatz reden wollen, bin aber freilich gar nicht zufrieden gewesen mit meiner Predigt; ich war gar nicht recht unbefangen. Vorgestern konnte ich viel simpler und natürlicher predigen. Vorher waren die Vertreter der braven und frommen Leute, deren es noch viele gibt in m.[einer] Gemeinde, und sagten mir, sie hätten auch einen Chor, den sog.[enannten] Missionschor, aus einer Missionsstunde hervorgegangen, und möchten auch gern etwas singen, weil sie am Installationssonntag332 selber nicht zu Wort gekommen seien. Ich sagte natürlich, es freue mich und fragte nach dem Text. Da ergab sich: Offenb.[arung] 5 1–12! Und der Sprecher fügte noch bei, es wäre ihnen eben recht, wenn ich in der Predigt darauf Bezug nähme, es seien verschiedene, die die Worte nicht verstehen könnten. Nun ich habe dem willfahrt, „den Löwen aus Juda“ und das [„]erwürgte Lamm“ erklärt[,] aber zugleich Anlass genommen von der Dunkelheit der Apc333 und der Klarheit des Evangeliums ein deutliches Wort zu reden. Mein Text war: Ich bin der Weg. Die Kirche war auch an diesem Sonntag ganz gefüllt. Im Ganzen scheinen die Gemeinden vor allem auch dank der Lebendigkeit und Initiative Einzelner noch recht gut in Ordnung, abgesehen von ein paar Sekten und Gruppen wie den Baptisten und vor allem den merkwürdigerweise stark vertretenen Scientisten334, die beide in jüngster Zeit Eingang gefunden haben. Aber im Übrigen existieren: Sonntagsschulen, Jünglingsverein, Missionsverein und Bibelstunde und Blaukreuz, eher zu viel als zu wenig des Guten. Ich brauche also da nichts Neues einzurichten. Man hat noch das Gefühl, dass den Leuten hier oben der Pfarrer etwas gilt. Ich geniesse da Verehrung, die ich in unsrer Zeit nicht mehr für möglich gehalten hätte, und muss mich dabei erst in meine Rolle einfinden. Die „Knechtsgestalt“ ist einem im kirchenzertrümmernden Zürich so als das Requisit des Pfarrers eingebläut worden. Nun, es gibt natürlich hier auch andere, und dieser Ordligen335 sind nur ein paar. Darunter traf ich eine nette Sonntagsschullehrerin, eine Frl. Baumann336, die in Basel gut bekannt ist, sie diente, als Stütze oder

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doch dabei als den scheinbar weniger Gläubigen und Entschiedenen erscheinen lassen.“ Barth – Thurneysen 1, 96. Sonntag der Einführung in das Pfarramt. Apokalypse des Johannes. Damit sind die Anhänger der aus den USA stammenden religiösen Bewegung „Christian Science“ gemeint, die auf Mary Baker Eddy (1821–1910) zurückgeht. „Ordenlichi“, „Ördligi“ bedeutet: sittsames und freundliches Wesen; vgl. Idiotikon, Bd. 1, 440. Möglicherweise ist die Diakonisse Emma Baumann, wohnhaft in der Hebelstraße 2, gemeint.

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Kindermädchen, bei Dr. Max Stähelin337 und kennt auch Frl. M. Stähelin. Sie machte mir einen guten Eindruck. Es wäre mir eine grosse Freude, wenn Sie vielleicht mit Frau Professor und Hans mir einen Besuch machen würden, bei dem ich ein wenig mehr von Ihnen hätte, als am Installationssonntag. Sie werden mir stets einer der liebsten Gäste sein. Übernächtigen kann ich bis drei Personen. Und meine Wirtschaft geht ordentlich. Ich habe eine brave Tochter als Haushälterin. Und die Gegend ist ganz wundervoll, viel Wald, der See, die Berge in der Nähe, und stets der Blick in „die blaue Ferne“ weit über Wildegg338 und Brugg hinaus bis an den Schwarzwald. Gestern in Zürich erzählte mir Frau Burckhardt ausführlich von den Pfarrwahlgeschichten; der Vorsehungsglaube kann einem da in die Brüche gehen, wenn man von diesen Umtrieben hört, mit denen die Menschen sich ihre Pfarrer einsetzen. Durch alle Ränke und Liebe hindurch scheint jetzt aber doch Herr Pfr. Högger in M.[üllheim] der Candidat zu werden.339 Das wäre eine Freude! Es sitzen eben unglaubliche Leute in diesen Pflegen. Einer soll sehr stark gegen ihn sein, ich kenne ihn gut, „weil er ihn an Savonarola340 mahne, und er diese bleichen, hagern Pfarrer nicht gern sehe“; gottlob sitzen aber auch Männer wie Herr Burckhardt drin, und man hört auf sie, grad weil er als Vereinspräsident auch weiss, was junge Leute brauchen. Nun will ich aber schliessen. Morgen muss ich schon anfangen, an meine Predigt zu denken. Vor diesem allsonntäglichen Predigen habe ich immer noch eine geheime Angst. Es grüsst Sie, Frau Professor und Hans recht herzlich Ihr Eduard Thurneysen.

337 Max Stähelin-Mäglin. 338 Kanton Aargau. 339 Paul Högger wurde tatsächlich Pfarrer am Großmünster, wo er von 1913 bis 1933 wirkte. Er schrieb zum 60. Geburtstag von Paul Wernle in der Neuen Zürcher Zeitung, Nr. 797, vom 1. Mai 1932, Erste Sonntagsausgabe, Blatt 3, und stellte Leben, Werk sowie die Festschrift zum 60. Geburtstag (Aus fünf Jahrhunderten Schweizerischen Kirchengeschichte, Basel 1932) vor. Wernle wiederum dedizierte ihm sein Buch „Evangelisches Christentum in der Gegenwart“ (Tübingen 1914). 340 Girolamo Savonarola (1452–1498), italienischer Dominikanerprior, wirkte als Prediger und Visionär vor allem in Florenz. Wegen seiner pro-französischen Haltung wurde er exkommuniziert und als Ketzer hingerichtet.

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Nr. 53. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 19. Juni 1913 NL 290: B 346, 29 Lieber Herr Pfarrer! Haben Sie Dank für den Zwingliband341 & für Ihren lieben Brief. Der Zwingli kam zwar fürs erstemal zu spät, aber für die zwei folgenden male ist er willkommen. Wir lasen in der Auslegung der Schlussreden, wo so prächtige Sachen stehen. Aber als wir von seiner ja sehr orthodoxen Versöhnungslehre uns unterhielten, erklärte einer meiner Studenten gelassen, er glaube nicht, dass Jesus für ihn gestorben sei. Eine solche bare Negation mit solcher Behaglichkeit ausgesprochen hat mich doch frostig berührt. Ich suchte ihm zuletzt nur a[nz]udeuten, dass auch unser einer vom Tod Jesu einen Gewinn haben könnte & wies ihn zuletzt auf die 2 letzten Verse von O Haupt voll Blut & Wunden342, ob er da beim Lesen gar nichts verspüre. Es ist etwas schönes um die Aufklärung, aber wenn man den Eindruck hat, es ist nun gar nichts mehr Tieferes im Hintergrund, ists doch bös & man hat so gar nicht den Eindruck von Ueberlegenheit. Neulich habe ich Sie im Verdacht gehabt, ich hätte mit durch Ihr Zutun die Petition Straubs343 in Zürich gegen die jetzige Art der Probepredigt zur Unterschrift zugeschickt bekommen.344 Es waren ein paar Namen darauf, die 341 Siehe oben Anm. 327. 342 „Wenn ich einmal soll scheiden, / So scheide nicht von mir / Wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür; / wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / So reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein! Erscheine mir zum Schilde, / zum Trost in meinem Tod, / und laß mich sehn dein Bilde / in deiner Kreuzesnot! / Da will ich nach dir blicken, / Da will ich glaubensvoll / dich fest an mein Herz drücken. / Wer so stirbt, der stirbt wohl.“ (Paul Gerhardt, 1656). 343 Karl Straub war Pfarrer in Bremgarten und Arbon. 344 Jeder reformierte schweizerische Theologe, der innerhalb des Konkordatsgebietes das Wahlfähigkeitszeugnis erwerben wollte, musste innerhalb des praktischen Teils der theologischen

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mich gerade an den Tag von Leutwyl erinnerten. Ich sandte das Machwerk an den Urheber zurück mit der Mahnung, es noch e[in]mal gründlich zu überlegen & zu revidieren. Denn so wie es lautet, ist es ganz unverschämt. Ich & mancher unter den vielen Hunderten schweizerischer Pfarrer hat die Probepredigt durchaus ohne die schwersten Gewissensbedenken gehalten & wenn wir alle deshalb keine ernsthaften Männer mehr sein sollen, hols der Kuckuck. Ja ich möchte direkt dagegen protestieren, dass man so grosse Dinge wie Gewissen & Wahrhaftigkeit mit dieser Ordnungsfrage ve[rq]uicken darf. Auch wäre der Nachweis nicht schwer zu führen, dass nach den Kriterien & der ganzen Auffassung von der Predigt, die in der Petition vertreten ist, es wenig wahrhaftige & ernste Prediger unter uns gibt. Es liegt eine furchtbare Ueberschätzung der feierlichen Stimmung & der freudigen Begeisterung des Predigers vor, die ganz schön ist, wenn sie sich einstellt, auf die aber unmöglich irgend ein Prediger das ganze Jahr hindurch & bei jeder Gelegenheit zählen kann. So gehts, wenn man den Prediger zum Propheten heraufschraubt, statt ihn als simplen Diener des Evangeliums an die Gemeinde zu nehmen, der sich oft genug schwer überwinden muss zu diesem Dienst & gar nicht immer in der „Stimmung“ ist, wohl aber beherrscht von seiner Pflicht, seiner Gemeinde etwas von Jesus & seinem Evangelium zu geben in aller subjectiven Unvollkommenheit & Beschränktheit. Uebrigens zürne ich Ihnen kein bischen, wenn Sie der Sünder sind, der meinen Namen auf die Liste gebracht hat. Ich bin auch kein Hüter des Bestehenden, bloss mit dem Enthusiasmus des Wortlauts der Petition habe ich gar nichts zu tun & finde ihn vergeudet. Ich habe diese Woche ein längeres Gespräch mit Adolf Preiswerk gehabt, immer freundschaftlich & weitherzig, aber doch mit dem Gefühl des gewaltigen Abstandes. Er behauptete, dass er mit Ragaz die Linie der biblischen Verkündigung inne halte, während ich der Rationalist & Moderne sei. Darin ist sicher etwas Wahres, wobei nur die Frage ist, was in der Bibel eben der Kern ist, was die Schale. Aber ich könnte es wirklich in diesem unklarem Gebräu apokalyptischer Phantastereien, Geister- & Wunderglaubens keinen Augenblick aushalten & es wäre für mich eine Versündigung, diese für mich von Got[t] & der Wahrheit abgetanenen Sachen künstlich festzuhalten. Es ist ein beharrliches Ausweichen vor jeder Klarheit & eine Flucht in den Nebel der Begeisterung. Das ist kein Evangelium, das Stand halten kann. Es bleibt dabei, die Eschatologie in der jüdischen Form des N Ts [Neuen Testaments] ist das Konkordatsprüfung nach Erledigung des theoretischen Examens in einer Kapelle vor dem Kollegium der Prüfer eine Predigt über einen vorgeschriebenen Text halten. Gegen dieses Verfahren erhob sich seit Herbst 1912 Widerspruch und einige Kadidaten reichten Petitionen ein, in denen sie deutlich machten, dass eine Probepredigt ohne Gemeinde sie in Gewissenskonflikte bringe. Als Reaktion auf eine im Frühjahr 1913 eingereichte Petition mit ca. 65 Unterschriften von Pfarrern und Kandidaten wurde ein modifiziertes Verfahren eingeführt. Einer der Wortführer war Pfarrer K. Straub, der im KBRS 29 (1914), 31 f., zur neuen Praxis kritisch Stellung bezog.

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Vergängliche am Christentum, das, was Gott eben durch die Geschichte überwunden hat, wenn wir auch selbstverständlich das Beste von jener Sehnsucht mit uns in die neue Welt herüber nehmen sollen. Heut vernahm [i]ch die schreckliche Kunde von dem Tod eines meiner jungen Schüler im Rhein, als er einem Kammeraden heraushelfen wollte.345 Da sage ich mir doch immer wieder: was für ein Jammerding, nein, was für ein Schwindel ist doch dies irdische Gottesreich & wie bös sind wir dran, wenn wir darauf hoffen! Können wir denn gar nicht verstehen, was Gott durch jeden Todesfall zu uns spricht? Der Hebräerbrief hat doch die einzige richtige Consequenz der neutestamentlichen Eschatologie gezogen: wir erwarten hier keine bleibende Stadt, sondern die künftige suchen wir.346 Aber wir müssen heut alt werden, bis wir das lernen, was doch gerade immer jung zu halten vermöchte. Denn wer daraus quietistische Folgerungen zieht, der ist einfach ein Schuft & hat Gott & das Gewissen nie verstanden. Was ich heut gerade für unsre Basler am allermeisten ersehne, das sind Leute, die noch kräftiger als Benz347 es vermag, das Gewissen der reichen frommen Basler zu wecken wüssten & die Kraft hätten [dur]ch einfache Vorführung der Tatsachen das Eis in den selbstsüchtigen Herzen zu schmelzen. Das ist noch lange nicht geschehen. Die Ungeduld & die Uebertreibung in der Rhetorik der Rel[igiös] Sozialen (von Greyerz348 abgesehen) hindert mehr, als dass sie nützt & gibt den Leuten immer ein gewisses Recht, die Ohren zu schliessen. Wir müssten zB noch mehr solche Briefe haben wie neulich den der Färbersfrau im Briefkasten der Nachrichten (mit dem blödsinnigen horribeln Schluss)349, da erst gienge manchem das Auge auf. Aber das Drohen, Poltern & Schimpfen tuts nicht, das weckt keine Liebe & verhärtet nur, es braucht wirklich Evangelium mit seinem grossen Ja, seiner Freude & Kraft & der Beschämung & Wehmut, die es auslöst. Ich glaube doch, Gott ist noch lange nicht fertig mit unsern Baslern & es ist kein Grund zum Verzweifeln, man muss es nur besser, ernster machen. Adolf Preiswerk meinte, 345 Es handelt sich um stud. phil. Eduard Dietsche, der am 18. Juni bei Birsfelden ertrank, als er einem in Gefahr befindlichen Kameraden helfen wollte; siehe dazu die Basler Nachrichten, Jg. 69, Nr. 281, 20. Juni 1913, Erstes Blatt [2], sowie das Basler Jahrbuch 1914, 431. 346 Hebräerbrief 13, 14. 347 Gustav Benz. 348 Karl von Greyerz. 349 Siehe dazu den „Briefkasten des Publikums“, in: Basler Nachrichten, Jg. 69, Nr. 275, 17. Juni 1913, Beilage [2], o. S. Der redaktionelle Schluss lautet: „Soviel aus dem Brief der Färbersfrau. Er zeigt mit furchtbarer Deutlichkeit, wie viel Mühe und Not der Färberstreit in zahlreichen Arbeiterfamilien verursacht und wie sehr zu wünschen ist, daß das Arbeitsverhältnis zwischen Färbereibesitzer und Arbeiter baldmöglichst wieder hergestellt werde.“ Zum Färberstreit siehe das Basler Jahrbuch 1914, 428: „Es treten 1200–1400 Arbeiter und Arbeiterinnen der baslerischen Färbereien in Ausstand wegen Lohndifferenzen mit den Meistern und aus Sympathie für einen Streik in den Färbereien am Niederrhein.“ Der Streit verschärfte sich im Verlauf des Juni, so dass sich die Regierung am 14. Juni veranlasst sah, zwei Kompagnien des Bataillons 97 „auf Piket zu stellen“, d. h. in Bereitschaft zu versetzen; am 30. Juni endete der Streik, a. a. O., 431 f. Siehe ferner die „Basler Nachrichten“, die im Mai und Juni 1913 regelmäßig darüber berichteten.

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sie nehmen ihm nichts ab, er predige vergebens, aber das liegt doch z[um] T[eil] auch an ihm, an seiner Verworrenheit. Dass man manchmal bei manchen Aeusserungen der Basler am liebsten drein schlagen möchte, empfinde ich sehr wohl mit, aber geholfen wäre doch nichts dabei. Haben Sie Dank für Ihre Karte aus Safenwyl.350 Ich freue mich, dass Frau Barth351 trotz extremer Aeusserungen meiner katzenfreundlichen Gesinnung mir nicht gram geworden ist. Ich habe mich sehr an ihm gefreut, aber lachen muss ich stets, wenn der Philosoph grossartig mit dem Transcendentalen kommt & sagt, das andere ist ja „nur“ psychologisch.352 Das ist allerdings der Graben zwischen Idealismus & Evangelium, denn mit dem Psychologischen hats das Evangelium zu tun, mit der realen Schlechtigkeit & Kraftlosigkeit, die gen Himmel schreit & aller Ideen & Transcendentalismen spottet. Und da muss das Evangelium die neuen höheren Kräfte bringen & aus dem Dreck herauszuhelfen suchen. Cognitio non est vis353, wie Luther so tiefsinnig sagt gegen allen Idealismus, der nicht mehr sein will. Das werden Sie in Leutwyl auch erleben. Sie wissen aber ja, wie ich den Idealismus schätze & froh bin, wenn einer überhaupt welchen hat. Sonst muss es doch der Teufel holen. Ich glaube, das Allein Sein in Leutwyl fällt Ihnen ziemlich schwer. Sie fliegen ja beständig umher zwischen Zürich & Safenwyl & wer weiss wo noch. Grüssen Sie mir Dietschi354 herzlich. Ich war erstaunt, wie er über die Thalwylerconferenz355 sich in hohen Worten aussprach, denn was die Herren schwatzen, das hat er längst in sich & handelt in der Stille darnach. Sie könnten mehr von ihm lernen als er von ihnen. Nun genug geklappert & ins Bett. Heut habe ich Pestalozzi356 engagiert für 350 Thurneysen besuchte Barth. Die Karte befindet sich nicht im Nachlass Wernle. 351 Karl Barth hatte 1913 Nelly Hoffmann (1893–1976) geheiratet, die Tochter des Juristen und Staatschreibers in St. Gallen Robert Hoffmann. 352 Wahrscheinlich spielt Wernle hier auf Heinrich Barth und dessen Transzendentalphilosophie an. Siehe dazu auch Eduard Thurneysen in einem Brief an Karl Barth vom 9. März 1915: „Du hast einen weiten Vorteil vor mir an dem lebendigen Austausch mit deiner Frau und mit Heinrich. Ihr verfolgt jeweilen angesponnene Fäden weiter, überlegt euch in gemeinsamem Nachdenken, was bei einem Zusammensein, wie wir es hatten, etwa herausgekommen sein möge.“ Barth – Thurneysen 1, 34. 353 Martin Luther: De servo arbitrio (1525), WA 18, 677 (12). Der Wernle-Schüler Karl Zickendraht hatte diese Aussage seiner Arbeit über die Willensfreiheit (siehe Anm. 159) als Motto vorangestellt, als – so Wernle – „Zeichen, wie tief er Luther verstand“. Siehe dazu Paul Wernle: Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd. 1: Luther, Tübingen 1918, 174: „,Erkenntnis ist keine Kraft und verleiht keine Kraft, sondern zeigt wie keine Kraft da ist und wie gross die Schwachheit ist.‘ [WA 18, 677, 12 f.] Vielleicht hat Luther nie in so knappen Worten (cognitio non est vis = Wissen ist nicht Macht) die Summe seiner persönlichen Erfahrung und seiner neuen reformatorischen Erkenntnis ausgedrückt. Der ganze Gegensatz zwischen sittlichem Optimismus und Pessimismus tut sich hier vor uns auf, wenn Luther die Auffassung vom Menschen bei Erasmus und in der Bibel kontrastiert.“ 354 Jakob Max Dietschi avancierte für den jungen Pfarrer Thurneysen zu einem einflussreichen Mentor. 355 Diese Zusammenkunft in Thalwil (Kanton Zürich) konnte bislang nicht identifiziert werden. 356 Richard Pestalozzi.

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ein paar bestimmte Lavater & Stapferbriefe.357 Stapfer wird mir immer lehrreicher als Typus der Aufklärung, mit glänzend idealen Zielen & auch wirklich edelm reinem Herzen & doch, wenns an die Mittel geht, reiner Macchiavellist & aufgeklärter Despot, dass man erschrecken muss. Etwa so gehts allen Weltverbessern; der Idealismus & die gemeinste Politik sind in erschreckender Nähe, Zwingli ist ja auch ein Beispiel. Und dann staune ich wieder vor dem Ein feste Burg ist unser Gott & Mit unser Macht ist nichts getan.358 Morgen muss ich mit Luther schliessen. Ich habe ihn so menschlich & roh dargestellt, dass manche keine Ahnung haben, wie mein Herz an ihm hängt, ich muss es morgen noch zu verstehen geben. Leben Sie wohl & lachen oder schimpfen Sie auch kräftig über manches in meinem Brief, ich würde mitlachen. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 54. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwyl, den 20. Juni 1913 NL 92: III A 13, 26 Verehrter Herr Professor, Ich habe soeben inter meditationem Ihren freundlichen Brief erhalten und mit viel Freude, Stärkung und Zustimmung gelesen. Im Widerspruch bin ich nur da, wo Sie mich im Verdacht haben, ich habe Ihnen die Petition Straub zugehalten. Davon ist gar keine Rede. Ich wusste von der ganzen Aktion in dieser Form rein gar nichts bis gestern und habe den Zeddel ebenfalls ohne meine Unterschrift weitergehen lassen, aus gleichen Gründen, wie Sie sie anführen. Der Ton, den der dickhäutige Straub – ich kenne ihn persönlich – anschlägt, kam mir ungehörig vor, zudem habe ich seinerzeit meine Predigt auch ohne Vergewaltigung meines Gewissens halten können; am wenigsten imponierte mir aber die Anführung des jüngsten Verweigerungsfalles, der mir als sehr wenig ernsthaft vorkommt, was übrigens von den „führenden“ Zürcherstudenten selber zugegeben wird. Umso bedauerlicher fand ich seine agitatorische Ausnützung im Tonfall tiefster Ueberzeugungstreue. Heute habe ich meine erste „Unterweisungsstunde“ erteilt mit viel Freude. Ich habe 20 Confirmanden, also eine Schaar, die sich noch leicht übersehen 357 Zu Stapfer siehe oben Anm. 287. 358 Lied Martin Luthers. Evangelisches Gesangbuch, Nr. 362, Strophe 1 und 2.

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und individuell behandeln lässt. Die Kinder hier oben haben – ich merke es auch in der Sonntagskinderlehre – noch etwas Unverdorbenes, jedenfalls gar nichts Blasiertes, was mir im Unterschied von manchen m.[einer] Zürcherlehrlinge sehr wohltuend auffällt. Es erleichtert natürlich die Aufgabe ungemein, die im übrigen doch wieder so viel schwerer ist als die in Zürich gestellte. Ich muss vor allem lernen, kleine und kleinste Schritte nach vorwärts zu machen. Dafür haftet das Besprochene und von allen Seiten Durchleuchtete dann vielleicht auch besser. Am Sonntag predige ich über den letzten meiner drei Texte: Ich bin der Weg – die Wahrheit – das Leben.359 Ich habe einfach versucht, von Jesus zu reden, in einer etwas programmatischen Form und will nun ans Concrete des evangelischen Stoffes gehen, vielleicht indem ich ein paar Themata aus dem Weinelschen „Jesus“360 herausgreife. Er hat mich manches Wort Jesu wieder neu empfinden gelehrt. Ich denke immer an Ihre Mahnung, einfach zu reden. Letzten Freitag bin ich, [be]vor ich ans Schreiben ging, extra zu einer mir schon etwas bekannten Bauernfamilie und habe mich da unterhalten und nachher beim Predigtmachen an diese Leute zu denken versucht. Das hat mir ein wenig geholfen. Aber es gibt da noch manches zu lernen. Von Pfr. Max Dietschi denke ich auch jedesmal höher, wenn ich mit ihm zusammen war, er gefällt mir weitaus am besten von meinen Nachbarn. Ihren Gruss werde ich gern ausrichten. Er redet am Sonntag abend in meinem Blaukreuzverein. Er ist mir ein Trost: wenn ich über etwas im Unsichern bin, darf ich mich immer an ihn wenden. Nochmals herzlichen Dank für Ihren ausführlichen und mir wertvollen Brief. Es grüsst Sie und Frau Professor in alter herzlicher Hochachtung und Verbundenheit Ihr Eduard Thurneysen. N.B. Die Ruhe und Einsamkeit meiner Zeit gefällt mir mehr, als Sie anzunehmen scheinen; nur manchmal erwacht das Verlangen nach Zwei- oder Dreisamkeit. Daher habe ich mich am letzten Montag in plötzlichem Entschluss zu Barth begeben.

359 Johannes 14, 6. 360 Siehe dazu Anm. 310.

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Nr. 55. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 4. Juli 1913 NL 290: B 346, 30 Lieber Herr Pfarrer! Ich sende Ihnen hier den Zwingli wieder mit bestem Dank zurück. Wir sind schon bei Calvin & lesen den schönen Abschnitt de vita hominis christiani, dessen Latein freilich meinen Schülern wieder Schwierigkeit macht, obschon es geradezu klassisch ist. Ende nächster Woche ist Schluss. Wir gehen diesmal nach dem Wallis nach Gruben im Turtmannthal.361 Ich war noch nie in jenen Gegenden & meine Frau findet, es sei zu langweilig mit mir jedes Jahr im Bündnerland362 herumzusitzen. Und der Spruch einer solchen Frau ist gewaltig, sodass man gehorchen muss. Zu der Vermutung wegen der Petition Straumann363 war ich gekommen, weil auf der Liste ausser mir gerade Dietschi & Preiswerk-Umikon364 standen, die sich da bei Ihnen getroffen hatten. Uebrigens hätte ich es Ihnen gar nicht gezürnt. Mein Brief ist bei Straumann auf bösen Boden getroffen, er hat sich mit Ragaz beraten, bevor er mir antwortete & es standen ganz Ragazische Dicta gegen mich darin. Das Lustigste aber war, dass ich als Historiker doch begreifen müsste, dass sich jetzt in 20 Jahren die ganze Welt geändert habe & ein ganz neuer Geist gekommen sei, sodass was zu meiner Zeit wahrhaftig gewesen wäre, es eben heute nicht mehr sein könne. Ich habe dann eine gepfefferte Antwort für mich behalten & nicht abgeschickt. Es ist nicht der Mühe wert, sich deshalb zu ärgern; die Leute merken es eben nicht, wie dünkelhaft sie ihr Enthusiasmus andern gegenüber macht. Für mich bleibt es beim Geist eben bei den simpeln Kriterien, die Paulus im Galaterbrief angibt. Das blosse Wort Geist macht auf mich gar keinen Eindruck mehr, ich will wissen, ob es der Geist Jesu ist & vertraue darauf, dass der sich schon das Regiment behaupten werde. Einen feinen Brief hat mir neulich Schüli365 aus Marburg geschrieben. Er hat dort über die Religiös Sozialen gesprochen am Radeabend366 & sich zu dem 361 362 363 364

Seitental der Rhone im Oberwallis. Kanton Graubünden. Johann Jakob Straumann war 1884–1922 Pfarrer in Dübendorf (Kanton Zürich). Umiken bei Brugg statt Umikon. Richard Preiswerk war seit 1881 45 Jahre Pfarrer in Umiken (Kanton Aargau). Er veröffentlichte u. a.: Die sozialistischen Zukunftshoffnungen unsrer Zeit im Lichte der göttlichen Offenbarung, Basel 1893, sowie: Was ein Schweizer Pfarrer in England gesehen hat, Basel 1895. 365 Walther Schüle an Paul Wernle, Marburg, den 5. Juni 1913. Auf die Antwort Wernles reagierte Schüle am 1. Juli 1913. 366 Hier dürfte ein Zusammenkommen bei Martin Rade gemeint sein. Die Gastfreundschaft im

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Zweck in die Predigtsammlung367 vertieft. Er nimmt das Lebendige & Frische heraus & lässt das Uebertriebene & Unreale auf der Seite. Das vermögen freilich nicht alle. Mir bleibt es immer das Ziel, ob schon ich gut fühle, wie leicht es mir so ergeht, dass ich durch den vielen Schwulst & Schwindel dabei ins Gegenteil getrieben werde. Es ist so schwer mit Gott seinen festen eigenen Weg zu gehen & sich nicht durch Menschen die Richtung bestimmen zu lassen sei es auch im gegensätzlichen Sinn. Interessant muss der hiesige Discussionsabend mit Bader gewesen sein. Er sprach über Gesetz & Geist & soll, wie mir nachher ein feiner sozialistischer Teilnehmer erzählt hat, die Zuhörer, meistens einfache Arbeiter, ganz konfus gemacht haben mit anarchistischem & revolutionärem Wortgerassel. Diese Arbeiter hätten solche Mühe, selber einen festen Standort einzunehmen & nun komme Bader368 & mache ihnen den Boden wankend unter den Füssen. Das stimmt ganz zu meinem Eindruck von Bader. Ueber sein gutes Wollen kein Zweifel, aber er kennt weder die andern noch sich ehrlich genug & ist nicht im stande, den andern den Dienst zu leisten, den sie jetzt zunächst einmal brauchen. Dabei soll es erst noch weit über die Köpfe gegangen sein. Mir scheint, unsre Arbeiter brauchten einen festen sittlichen Elementarunterricht, ein Verständnis der Bedingungen menschlichen Gemeinschaftslebens, nicht die Losung Geist. Aber das wird sich von selbst korrigieren & wer in die Luft säet, wird Luft ernten. Ich werde in die Ferien womöglich Zwinglis Briefe mitnehmen, um für den Fall, dass Pfarrer Farner sich an eine deutsche Auswahl von Zwinglibriefen wagt369, wie ich ihn dazu antrieb, bei der Auswahl mitzuhelfen. Ich kenne sie zum grossen Teil noch nicht. Am Calvin habe ich auf Grund der Briefe doch meinen Zuhörern solche Freude machen können, dass sie am Schluss sogar trampelten. Ganz unpassend nach Vorführung von Calvins ernstem Testament! Als ich zuerst über Calvin las vor 12 Jahren, hätten sie eher scharren mögen. Sie werden wohl nicht grosse Ferien machen, aber dafür haben Sie diese herrliche Landluft, um die ich Sie beneide. Ich hoffe im Herbst einmal bei Ihnen vorbeizukommen. Vielleicht können Sie mir dann auch von Ihren Zwinglistudien erzählen. Ich sende Ihnen den Band, damit Sie „keine Ent-

Haus von Rade betont Johannes Rathje: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 171. Siehe auch Eugen Haffter an Paul Wernle, Postkarte vom 7. Juni 1916: „Bei Prof Rade waren wir letzthin an einem offenen Abend. Er ist sehr freundlich gegen uns Schweizer.“ 367 Jakob Eugster (Hg.): Wir zeugen vom lebendigen Gott! Predigten religiös-sozialer Pfarrer der Schweiz, Jena 1912. 368 Hans Bader. 369 Oskar Farner war seit 1908 Pfarrer in Stammheim (Kanton Zürich). Die Briefe erschienen wenige Jahre später: Huldrych Zwinglis Briefe, übersetzt von Oskar Farner, 2 Bde., Zürich 1918–1920.

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schuldigung haben“. Meine Helvetik370 geht langsam vorwärts, aber ich habe glücklich die 80 Hauptbände von Stapfers Ministerium371 durch. Leben sie herzlich wohl Ihr P. Wernle Nr. 56. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen [Gruben]372, den 8. August 1913 NL 290: B 346, 31 L. H. Pfarrer! Ich denke hier oben oft an Sie, gleich auf der Hinreise zur Gemein373 mit Lehrer Merz374 aus Reinach375, der Sie kennt, und bei Troeltschlektüre und Edelweißpflücken. Die Theologie ruht fast vollständig; zu meiner großen Freude hat aber Pf.[arrer] Farner eine deutsche Zwinglibriefausgabe zugesagt und schon begonnen. Hans ist heut 11 und freut sich des Zuwachses seiner Kriegsheere (höchst unsozial!). Es ist prächtig hier oben. Wären Sie nicht eben erst Pfarrer, so hätten Sie heraufkommen müssen. Von Herzen Ihr P. Wernle

370 Wernle beabsichtigte ursprünglich, die Geschichte des schweizerischen Protestantismus im 19. Jahrhundert zu schreiben. In seiner Autobiographie notiert er dazu: „Aus diesem Plan ist nun gar nichts geworden; nicht einmal die Geschichte der Helvetik ist bis heute von mir geschrieben. Dafür entstand durch beständiges Rückwärtsgreifen von der Zeit der Helvetik bis zu den Anfängen des 18. Jahrhunderts das dreibändige Werk unter dem schon genannten Titel [Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert], in voller Gesundheit begonnen und in zunehmender Krankheit zu Ende geführt.“ Wernle: Autobiographie, 244 f. Wernles Helvetik erschien postum in zwei Bänden unter dem Titel „Der schweizerische Protestantismus in der Zeit der Helvetik“, Leipzig 1938–1942. 371 Archivalien von Minister Philipp Albert Stapfer. 372 Wernle schreibt aus seinem Ferienort, den er in Brief Nr. 55 als Gruben im Wallis angekündigt hatte. 373 Gemeindeversammlung. 374 Albert Merz war seit 1894 Lehrer in Reinach (Kanton Aargau). 375 Kanton Basel-Landschaft.

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Nr. 57. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwyl, den 19. August 1913 NL 92 III A 13, 27 Verehrter Herr Professor, Ich muss mich ganz schämen, dass ich so lange gar kein Lebenszeichen mehr gegeben habe, während Sie mir in Ihrer alten, freundlichen Weise immer wieder Ihre Kartengrüsse ins Haus schickten. In Gedanken bin ich viel bei Ihnen und bei Ihren Gedanken, wenn ich so sagen kann; d. h. ich fühle mich grade in Ausübung meines neuen Amtes von neuem als Ihr dankbarer Schüler. Und Alles, was von Ihrer Hand zu mir kommt, wird jeweilen mit Freuden aufgenommen, und es hat etwas ganz besonders Ermutigendes und Stärkendes für mich, mich in Verbindung zu wissen mit Ihnen, weil es mir das Gefühl gibt, in meinen innern Dingen, sowohl mit dem Haben als mit dem noch weit grössern Soll, mit Besitz und Aufgaben, nicht allein und isoliert zu sein, sondern in einer Gesinnungsgemeinschaft stehen zu dürfen mit Ihnen und dem Kreis, der sich in engerer oder loserer Weise um die Auffassungen und Anschauungen gruppiert, die Sie als unser Lehrer und, wenn Sie den Ausdruck erlauben, – er ist durchaus sachgemäss – als unser Führer ausgegeben haben. So ein wenig „Kirchenbedürfnis“ haben wir jüngern, im übrigen ja alle mehr oder weniger „kirchenfreien“ Theologen eben doch immer wieder; ich beobachte wenigstens, mit Troeltsch zu reden, „Kultbedürfnisse“,376 Sehnsucht nach Zusammenhang und – allerdings unsichtbarer – Kirche nicht nur bei mir, sondern bei fast allen meiner Gleichaltrigen. Dass deshalb eine Art Analogie zur Christologie oder Trinitätslehre mit Ihrer Person als Kristallisationscentrum entsteht, wie es nach den von Troeltsch beobachteten Gesetzen eigentlich gehen sollte, werden Sie nicht befürchten, Personencult ist wahrhaftig gegen alle Ihre Intentionen, und Sie haben uns nie an sich gebunden sondern immer nur an die Sache, die Sie vor uns vertreten wollten; im übrigen aber werden Sie uns ein wenig dankbare persönliche Anhänglichkeit auch nicht wehren wollen und können. Ich danke Ihnen für Ihren Brief von vor den Ferien und Ihre Karten aus den Ferien. Sie haben wohl Hans zu Liebe weniger lang fortbleiben können als andere Jahre. Hoffentlich haben Sie, Frau Professor und Hans sich trotzdem gut erholt. Das Wetter ist allerdings so wenig wie letztes Jahr übermässig günstig gewesen. Mir geht es gut, vor allem dem äussern Menschen, dem innern mit Unterschieden. Ich habe mich nun einigermassen eingelebt und eingearbeitet. Es bestand hauptsächlich darin, die Leute einigermassen kennen zu lernen, was 376 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911, 26.

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bei der immerhin ziemlich grossen Ausgedehntheit der Gemeinde viel Zeit brauchte. Gut im Stand ist die Gemeinde nicht, im Gegenteil, sie ist in vielen Beziehungen unter dem langen und leider gegen Ende immer mehr unglücklichen Regime meines Vorgängers, Müller, erheblich aus dem Leim gegangen und in sich zerspalten. Da gibt es viel zu ackern. Gleich zu Anfang erhob sich ein gross Geschrei wider mich in den Wirtschaften, weil ich das Blaukreuz in die Hand nahm. Ich sehe aber Tag für Tag mehr ein, wie nötig diese Arbeit ist, und müsste mich schämen, wenn ich sie liegen liesse. Und ich finde es ganz wohltätig für den natürlichen Menschen in einem, wenn man gleich von Anfang an gezwungen ist, an einem ganz klaren Punkte unerbittlich zu sein und gegen alle vermeintlichen oder wirklichen Mehrheiten mit einer bestimmten gegensätzlichen Richtung einzusetzen. Einstweilen ist der Verein noch auf schwachen Füssen, aber ich treibe die Arbeit eigentlich gern; es ist mir auch an sich etwas wert, einmal in der Woche mit ein paar Männern und noch mehr Frauen und Töchtern in heimeliger Weise mich in einem Schulzimmer zusammenzufinden und zu reden. Eben das Vereinsmässige, oder, wieder mit Troeltsch zu reden, der „Sektengedanke“, der dahinter steckt, hat etwas Sympathisches für mich; ich bin unbefangener und freier als auf der Kanzel, rede Dialekt, lese etwas vor, singe mit den Leuten. Die Kirche am Sonntag wird bis jetzt in sehr guter Weise besucht auch von den Männern. Mir persönlich macht das Predigtausarbeiten immer noch erhebliche Mühe; ich fange meist am Freitag an, dran herumzudenken und brauche dann den ganzen Samstag. Das Predigthalten selber macht mir dagegen, wenn ich einigermassen das Gefühl habe, meine Predigt sei nicht ganz null, was auch vorkommt, Freude und fällt mir auch nicht eigentlich schwer; ich rede manchmal recht gern. Daneben habe ich nun auch mit dem Confirmandenunterricht angefangen nach eigenem Gang. Ich würde Ihnen aber von all diesen Dingen am liebsten mündlich erzählen. Machen Sie mir doch bald die Freude Ihres Besuchs für ein paar Tage! Meine Wirtschaft ist so angetrieben, dass Sie sich ihr ruhig anvertrauen können. Es würden Sie auch noch andere Aargauer Pfarrer gern wieder einmal sehen, Karl Barth und Dietschi377 z. B. Man könnte sich ja trefflich bei mir oben zusammenfinden. Es gibt da noch keine Pfarrfrau, die erblasst, wenn 5–6 aufs Mal auftauchen. Dietschi ist mein liebster Nachbar. Er ist der Lebendigste und Feinste, den ich kenne und versteht uns Jüngere auch noch so gut. Leider, leider wird er wahrscheinlich Pfr. Höggers Nachfolger378, was ihm selber seiner wirklich ruhebedürftigen Gesundheit wegen zu wünschen ist; aber für mich wird es ein Verlust. Doch ist die Sache noch im Unsichern. Neben meinen Amtsgeschäften wird nun also der Zwingli geackert. Doch dürfen Sie nicht schon nach Resultaten fragen. Das kann noch lange gehen. Denn wie gesagt, bis her brauchte ich Zeit und Gedanken fast völlig für meine 377 Max Dietschi. 378 Dietschi wurde nicht Pfarrer in Müllheim (Kanton Thurgau).

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Pfarreraufgaben. Erst jetzt besserts. Und ich muss sagen: meine Lust, etwas zu arbeiten ist grösser als je. Es gibt Momente, wo ich es schmerzlich bedaure, dass ich es nicht einfach mit allen Mitteln ermöglicht habe, gleich nach dem Examen noch 2 Sem.[ester] für eine Arbeit frei zu halten. Dann hätte ich eine sichere Basis; ich glaubte damals, wegen m.[einer] Eltern es mir nicht erlauben zu dürfen. Und hoffte in Zürich zu etwas zu kommen. Aber dort brachen dann ganz andere Dinge über mich herein, die mich innerlich ausserordentlich stark beschäftigten und in Anspruch nahmen, und denen ich nicht ausweichen konnte, und übrigens auch heute nicht wünsche, es getan zu haben, denn gelernt habe ich sicher ungemein viel. Aber jetzt, wo wieder Ruhe einkehrt, habe ich eben keine freien Hände mehr, sondern ein Pfarramt als erste Pflicht und Aufgabe, und nicht ein ganz leichtes und gemütliches. Da ist es mir fraglich, wie weit ich es in m.[einen] privaten Arbeiten bringen kann. Ich habe den Willen zu tun, was möglich ist. Wenns nur geht! Überdies hängt noch eine andere, allerdings nicht gerade grosse, aber doch heikle und eher schwierige Aufgabe in der Luft: Der Verein in Zürich, vor allem Herr Burckhardt379, hat mich gebeten, aufs Jahresfest hin eine Art Bericht zu schreiben – „zügig soll er werden“ – der in grosser Auflage gedruckt als Propagandaschrift wirken soll.380 Es soll eine Art Rechtfertigung unserer Sache in Zürich von ihren innersten Motiven her werden und zugleich ein für unsere Zukunftsaufgabe und Zukunftsarbeit begeisternder und werbender Aufruf. Also etwas „im grossen Styl“, wie sichs für Zürich gehört! Aller statistische und jahresberichtsmässige Kleinkram soll wegfallen, das Ganze soll ein grosser Trompetenstoss sein. Ich muss sagen, dass ich nur ungern die Zusage gab, aber man bat mich um diesen letzten Dienst für eine Sache, der mein Herz allerdings immer noch gehört, und jetzt warte ich der Stunde, da „der Geist“ über mich kommt, denn so etwas muss ja aus dem Geist geboren werden! An sich hat die Aufgabe auch einiges Verlockende. Ich kann bei dieser Gelegenheit Manches aussprechen, was ich ganz gern einmal sage, Polemisches und Principielles. Ich habe mich einstweilen in Troeltsch II381 eingelesen, weil ich gern die Aufgabe des Vereins und seinen Zukunftsweg aus unserer religiösen Lage heraus erfassen und skizzieren möchte und mich von Troeltsch wollte anregen lassen. Es hat mir wieder viel Freude gemacht; er ist ein fabelhaft fesselnder und geistvoller Schriftsteller. Die Zeit vergeht nur zu schnell über 379 Fritz Burckhardt. 380 Eduard Thurneysen: Der Sinn unsrer Arbeit. Zum 26. Jahresfest des C.V.J.M. Zürich I., in: Die Glocke 22, Nr. 2. November 1913, 9–13. Thurneysen geht in diesem Artikel von dem Gedanken der zeitgenössischen „Entkirchlichung“ aus, dessen Herausforderungen sich der Verein zu stellen habe. Paul Wernle berichtete im „Kirchenblatt“ unter der Überschrift „Gute Zukunftsmusik“ über Thurneysens Darstellung und empfahl nachdrücklich deren Lektüre; siehe KBRS 28 (1913), 182 f. „Die Glocke“ wiederum druckte ausführlich aus Wernles Bericht ab, in: Die Glocke 22, Nr. 3, Dezember 1913, 20. 381 Ernst Troeltsch: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. Gesammelte Schriften Bd. 2, Tübingen 1913.

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seinen Essais, von denen ich manche schon recht gut kannte. Im Ganzen erwarte ich von dem noch ausstehenden 3. Bde382 eine einheitlichere Leistung. Er wird alle s.[eine] Publikationen zur Geschichte des Protestantismus enthalten. Jetzt findet dann die Predigerversammlung statt.383 Ich werde aber kaum hinreisen. Diese Massenansammlungen frommer Männer jeder Richtung, die es sich so 3 Tage lang geist-leiblich schmecken lassen, sind mir nicht sympathisch. Von den Themata interessiert mich nur das von Hartmann zu behandelnde.384 Was zum Gehen verlockt, ist die Aussicht, ein paar Freunde zu treffen. Kürzlich wurde mir der Kirchenblattaufruf 385 zugestellt, der einen einladet, einer Neugeburt beizuwohnen, von der man aber nicht weiss, was zu erwarten ist; die seltsam matten und fadenscheinigen Redensarten des Aufrufs haben wenig Verheissungsvolles; oder was soll denn das heissen: „frommer Glaube unter dankbarer Verwertung (!) der Errungenschaften der Reformation“, und dann alle die andern langweiligen Sätze ohne jede programmatische Kraft! Das wird nicht besser, als es war! Schade, denn ein lebendiges Blatt wäre etwas wert; aber es scheint schwer zu sein; auch die christliche Welt386 kommt mir seit langer Zeit so versimpelt vor, dass ich mich besonnen habe, sie abzu382 Thurneysen besaß den 3. Band der „Gesammelten Schriften“ von Troeltsch. 383 Das Treffen der Schweizerischen reformierten Prediger-Versammlung fand vom 1. bis 3. September 1913 in Chur statt und versammelte etwa 200 Teilnehmer. Im Gegensatz zu Thurneysen nahm Wernle daran teil; vgl. das Verzeichnis der Teilnehmer in: Verhandlungen der Schweizerischen reformierten Prediger-Versammlung. Chur. 1.–3. September 1913. 69. Jahresversammlung, Chur 1913, 156–158. 384 Benedikt Hartmann sprach über „Unser Glaube an den persönlichen Gott“, in: Verhandlungen der schweizerischen Predigergesellschaft 1913, 32–65; ferner Rudolf Schwarz: Das kirchliche Leben der Schweiz vom Bettag 1913 bis Pfingsten 1914, in: KBRS 44 (1914), 101. Im Jahr zuvor hatte Hartmann die Predigt bei der Predigersammlung gehalten; siehe dazu: Verhandlungen der Schweiz. reformierten Predigerversammlung. 68. Jahresversammlung in Liestal 10. bis 12. Juni 1912, Liestal 1912, 13–31. 385 Dieser Aufruf war bislang nicht auffindbar. Da er nicht im KBRS abgedruckt ist, ging er wahrscheinlich nur als Anschreiben an Thurneysen. Das Kirchenblatt war in eine ökonomische Krise geraten mit der auch inhaltliche Probleme einhergingen. Über diese Schwierigkeiten wurde am 1. September 1913 in Zürich beraten. Siehe dazu den Brief von Rudolf Schwarz an Paul Wernle, 26. August 1913. Diese kritische Situation nahm das redaktionelle Geleitwort des Jahrgangs 1914 auf: „Es war als ein Uebelstand empfunden worden, daß das Blatt mit seinen Lesern und Freunden in zu wenig enger Berührung stand. Das bedeutete für die Fülle, Haltung und Stellung des Blattes eine empfindliche Einbuße. Es sollte den Wünschen der Freunde, namentlich auch der jüngeren, besser Rechnung getragen werden. Das war aber schwierig, weil viele unter ihnen sich nicht entschließen konnten, dem Kreise der eigentlichen Herausgeber des Blattes, der schweizerisch-kirchlichen Gesellschaft beizutreten. Diese hat sich darum bereit erklärt, das Blatt einem weiteren Kreise zu überlassen; sie wird als dessen Glied aber auch weiterhin dem Blatte ihr Interesse erhalten.“ Die neugegründete „KirchenblattGesellschaft“, zu deren Vorstand auch Paul Wernle und Eduard Vischer (Vorsitzender) gehörten, übernahm die Herausgabe; als Redaktoren wirkten mit Max Rüetschi (Stetteln bei Bern) und Rudolf Schwarz (Basadingen, Kanton Thurgau). Siehe dazu KBRS 29 (1914), 1. 386 Hier ist Martin Rades Zeitschrift „Die Christliche Welt“ gemeint.

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henken387; was sollte man mit diesen langweiligen Freimaurersprüchen von Tidje388 oder den Zastrowbriefen389 allen anfangen. Ich muss sagen: in den Neuen Wegen finde ich immer noch relativ am meisten Anregendes, wenns auch an Sprüchen nicht fehlt. Über dem Kirchenblatt stehen sie jedenfalls, vor allem eben auch an aktueller Bedeutung. Aber das ist allerdings nicht schwer. Nun möchte ich nochmals meine Bitte wiederholen um Ihren baldigen Besuch! Bis Mitte nächster Woche sind meine Eltern noch bei mir. Sie lassen vielmal grüssen. In alter herzlicher Hochachtung und Verehrung grüsst Sie mit Frau Professor und Hans Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 58. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Bern, Poststempel: 25. August 1913 NL 290: B 346, 32 L. H. Th.! Schreiben Sie doch Ihre Kritik des Aufrufs zum KB390 an Pf[arrer] Schwarz; es kann nur gut thun. Es wird wohl nichts daraus werden. Dank für Ihren Brief, den ich hier erhielt. Ich sitze seit 8 Tagen auf dem Archiv und sehne mich auf Schluß. Ihre Lavater Excerpte sind prachtvoll. In Leutwyl hat vor 100 Jahren Pf[arrer] Unger391 die Erlaubnis erbeten, Wein ausschenken zu dürfen, um dabei mit seinen jungen Schülern fromme Lieder aus Bachofen und Schmidlin392 zu singen. O Tempora! 387 Ablegen, aufgeben, ein Verhältnis lösen. 388 Johannes Tiedje war ein deutscher Pfarrer, Ministerialbeamter und aktiver Freimaurer. Thurneysen bezieht sich auf Tiedjes Aufsatz „Die deutsche Freimaurerei“, in: ChW 27 (1913), 564–569; 590–592; 608–614; 635–639; 654–659; 691 f. 389 Diese Anmerkung bezieht sich auf Constantin von Zastrow: Dieseits und Jenseits. Ein Beitrag zu Jathos Diesseitsreligion, in: ChW 27 (1913), 458–466. Von Zastrow war Amtsrichter in Guben (Niederlausitz) und zählte zum Umfeld der „Christlichen Welt“. 390 Kirchenblatt für die reformierte Schweiz. 391 Siehe zu dieser Episode Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus in der Zeit der Helvetik 1798–1803, Erster Teil, Zürich/Leipzig 1938, 406. 392 Johann Caspar Bachofen: Musicalisches Hallelujah, oder Schöne und Geistreiche Gesänge, mit neuen und anmühtigen Melodeyen Begleitet, und zur Aufmunterung zum Lob Gottes, Zürich 1727 (111803). Diese Liedersammlung war außerordentlich beliebt. Johannes Schmidlin: Geistliche Lieder mit Choral-Melodien zum allgemeinen Gebrauch, Zürich 1762, erlebte dann mehrere Auflagen.

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Ich wünsche Glück zu Ihrem Unternehmen. Von Herzen P. Wernle Nr. 59. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 11. September 1913 NL 290: B 346, 34 Lieber Herr Pfarrer! Es ist möglich, wenn auch noch unsicher, dass ich am nächsten Montag bei meiner Mutter in Vitznau393 bin. Können Sie mir schreiben, ob Sie den Sonntag Abend besetzt haben? Ich will aber nicht, dass Sie das geringste meinetwegen aussetzen, besonders nicht das Blaue Kreuz. Sonst könnte ich eventuell bei Ihnen den Sonntag Abend zubringen. Zu einem selbständigen Besuch bei Ihnen reicht es gegenwärtig nicht. Ich stecke in einem historischen Detail, in dem ich fast nicht vom Fleck komme & ich bin vorher unverantwortlich lang herumgefahren in West- & Ostschweiz. Ich möchte mich aber sehr gern mit Ihnen über vieles aussprechen & auch für Ihren letzten Brief lieber mündlich danken. Wenn nur der Tag doppelt so viel Stunden hätte & man nicht so faul wäre. Also wir wollen sehen, was Sie schreiben. Mit herzl.[ichem] Gruss Ihr P. Wernle

393 Kanton Luzern, am Vierwaldstättersee gelegen.

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Nr. 60. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwyl, den 12. September 1913 NL 92: III A 13, 28 Verehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre Karte. Ihr Besuch wird mir eine grosse Freude sein. Ich bin Sonntag von mittags 1 Uhr ab frei. Das Blaukreuz findet immer an einem Wochenabend statt. Sekretär Egli394 ist für einige Tage (über Sonntag) zur Erholung bei mir, aber ich werde ganz ungestört mit Ihnen allein sein können. Also kommen Sie doch wenn immer möglich. Es ist gar nicht nötig, dass Sie mir extra Bericht geben müssen, wiewohl ich Sie mit Freuden abholen werde, wenn Sie mir Ihre Ankunft melden können. In herzlicher Hochachtung Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 61. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Basel, Poststempel: 13. September 1913 NL 290: B 346, 33 L. H. Pf! Leider scheint das Wetter umzuschlagen & ich möchte lieber an einem schönen als an einem blossen Regentag bei meiner Mutter in Vitznau sein. Darum ist es höchst unsicher, ob ich komme & Sie müssen mich jedenfalls nicht erwarten. Sie sehen meinen guten Willen & Wunsch. Grüssen Sie Herrn Egli von mir; das muss schön sein, bei Ihnen die Ferien zuzubringen. Komme ich nicht, so kommt nächstens ein Brief. Mit herzl[ichem] Gruss Ihr P. Wernle

394 Karl Egli.

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Nr. 62. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 19. September 1913 NL 290: B 346, 35 Lieber Herr Pfarrer! Ich muss Ihnen noch einmal schönen Dank sagen für Ihre Gastfreundschaft letzten Sonntag Abend & zugleich einen guten Sonntag wünschen. Wer weiss vielleicht predigen Sie diesmal über das Wachen oder nach 1 Thess 5395 über das Wandeln als am Tag mit der gleichen Energie wie letztesmal über das Schlafen & die Ruhe. Ich wollte Sie gerne hören. Grüssen Sie Herrn Egli gelegentlich von mir. Es war so fein mit ihm zusammen. Ich finde eben immer wenn einer aus der positiven, sagen wir einmal: Enge weitherzig, auf das Centrum concentriert & menschlich wird, dann ist es zugleich so etwas Festes, Zuverlässiges, dass einem dabei wohl werden muss. Während ich bei den meisten andern immer den festen Grund vermisse. Und nun fahren Sie fort mit Ihrer Angriffslust des Christentums & treiben Sie tapfer alle bösen Geister aus Leutwyl aus. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 63. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 5. Oktober 1913 NL 290: B 346, 36 Lieber Herr Pfarrer! Soeben las ich Ihr Programm396 zu Ende & möchte Ihnen meine grosse Freude ausdrücken. Da hat S[ie] wirklich der Geist erfasst & Sie haben die rechte Sprache gefunden, die da hin gehörte. Wenigstens hoffe ich, es sei nicht für viele zu schwer, obschon Sie sich vor dem Troeltschschen Stil in Acht nehmen müssen. Es ist jedenfalls alles gesund, jung & wahrhaft erhebend gesagt. Die gute alte Kirche kommt einem nach Ihrer Lektüre wie eine alte heimelige Tante 395 1. Thessalonicherbrief 5, 1–11. 396 Anscheinend hatte Eduard Thurneysen Wernle vorab seinen Text „Der Sinn unserer Arbeit“ zugeschickt, der in der „Glocke“ im November 1913 erscheinen sollte. Siehe oben Anm. 308.

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vor, die die neue Zeit nicht mehr verstehen kann. Vielleicht stimmt an einem Punkt Ihr Bericht nicht ganz. Sie haben etwas vereinfacht. In Wahrheit ist das universal kirchliche Band von früher her als Macht der Gewohnheit & Sitte doch stärker, wie mir scheint, wenn ich an die sog.[enannten] kirchlichen Handlungen denke. Natürlich bedeutet das innerlich nicht viel, aber es kompliziert unsre Lage, dass der Bruch mit der Kirche & überhaupt die Consequenz der neuen Zeit so tausendfältig noch nicht erfolgt ist & gerade dadurch, durch das Mitschleppen aller gleichgiltigen & indifferenten Elemente unsre Kirche einen so schleppenden Gang erhalten muss. Sie muss sogar beständig auf diese Elemente Rücksicht nehmen & darf sie nicht ganz wegstossen. Es wäre bedeutend einfacher, wenn es so stünde, wie Sie es consequent schildern, aber ich denke, es ist nur z[um] T[eil] so. Urteilen Sie selbst, ob ich nicht recht habe. Endlich erwacht meine alte Skepsis bei der heraufsteigenden neuen Welle religiöser Lebensfülle, wobei mir auch schon der vage Ausdruck nicht behagt. Ich beneide Sie, dass Sie so sehen können. Ich fürchte aber, es ist mehr Schaum & Rausch als Substanz dabei. Das gebe ich zu, es muss hier jeder urteilen [au]s seinen Erfahrungen & Sie standen ganz anders im Centrum als ich. Wollte Gott, Sie hätten recht! Ich werde mich bemühen, wenn das Leben mit Gott kommt, die Augen offen zu halten. Also meinerseits vielen herzlichen Dank für Ihre guten Worte. Gott gebe seinen Segen dazu. Sie haben die Kraft, Menschen zu packen durch Ihre Begeisterung & dabei nicht selbst hochmütig zu werden. Das kann ja auch kein Mensch, der Gott ernst nimmt. Aber Sie werden es bei Ihrer Arbeit in Leutwil genug empfinden, dass man da nicht im Sturm vorwärts kommt, wie überhaupt Ihre jetzige Arbeit wieder ganz andere Aufgaben stellt. Sie werden da auch viel mehr Tüchtiges & Gutes bewahren müssen, dass es nicht absterbe. Ich habe heut im Kolleg von den Jesuiten & Pascal397 geredet & dafür gesorgt, dass meine Zuhörer nicht hochmütig auf die Jesuiten herabsehen können. Unser Durchschnittsfreisinn ist nichts anderes als protestantischer Jesuitismus, Allen alles recht machen & von keinem etwas Grosses fordern. Auch von der Orthodoxie gibt es genug Wege dahin. Ich bin etwas grimmig geworden dabei fast wie Sie in Ihrem Aufsatz.398 Und nun leben Sie wohl & fahren Sie fort wie bisher & bleiben Sie froh dabei. Von Herzen Ihr P. Wernle

397 Blaise Pascal (1623–1662). 398 Damit ist das zu Beginn des Briefes erwähnte Programm gemeint.

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Nr. 64. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 22. Dezember 1913 NL 92: III A 13, 29 Verehrter Herr Professor, Ihre vorwurfsvolle Begrüssung am Sonntag vor 8 Tagen in Zürich, ich sei wohl gestorben, hat mein Gewissen beschwert, und ich muss ihm nun doch unmittelbar vor den Festtagen noch eine Erleichterung geben, indem ich mich mit ein paar Worten bei Ihnen einstelle. Gedacht habe ich immer wieder viel an Sie, und es hätte nicht an Stoff und Erlebnissen gefehlt, die ich manchmal von Herzen gern vor Sie gebracht hätte; wenn ich nur grad wie einst als Student schnell nach dem Mittagessen hätte an den Heuberg springen können. Das Verlangen darnach war umso grösser, als mir nachbarlicher Austausch mit Collegen fast gänzlich fehlt. Pfr. Dietschi399, der dem ich am meisten Vertrauen entgegenbringe, wohnt einfach zu weit weg, ich kann eben meist nicht einen ganzen Nachmittag so leichthin opfern, und dann ist er immer angestrengt beschäftigt, und mein näherer Nachbar Müller400 in Birrwil ist mir, wie soll ichs ausdrücken? in allen seinen Taten und Meinungen zu heimelig! Und auf keinen Fall ein verlässlicher Ratgeber; er hat Koerber401 seinerzeit den so verhängnisvollen Rat gegeben, in die Zeitung zu schreiben, statt dass er ihn beruhigt hätte!402 Und dann eben wäre ein eventueller Brief ein kräftiger Schimpfbrief geworden über die traurigen kirchlichen Verhältnisse hier herum, und das behielt ich doch lieber für mich. Ich weiss wohl, dass Koerber in Seengen403, dessen Fall404 immer noch die Gemüter in Spannung hält und 399 Max Dietschi. 400 Julius Friedrich Müller war von 1910 bis zu seinem Tod Pfarrer in Birrwil (Kanton Aargau). 401 Albrecht Ludwig Heinrich Koerber war seit 1913 Pfarrer in Seengen (Kanton Aargau), bevor er 1915 nach Gotha wechselte. Siehe auch Barth – Rade, 91 f.: Rade erwähnt Koerber und charakterisiert ihn als „etwas wunderlich“; Barth beschreibt ihn als „etwas unglücklichen Charakter“ und als Pfarrer, der sich leicht von den äußeren Fragen und Problemen in den Kirchen beeinflussen lässt. Siehe dazu Willy Pfister: Die reformierten Pfarrer im Aarau seit der Reformation 1528–1985, Aarau 1985, 155. Die Seengener Gemeinde hatte „ihn gewählt in der Meinung, er sei ein Reformer. Er sei allerdings ein Reformer, allein nicht derart, wie sie meinten; Er sei einer der neuesten Richtung & Strömung, er gehöre zu den Freunden der christlichen Welt. Darauf seien sie bei der Art seines Auftretens nicht gekommen, anzutönen, ob es nicht besser wäre, er würde Seengen verlassen.“ So der Bericht im Kirchenrat am 14. Januar 1914 in Aarau. 402 Siehe dazu: Kirchenrats-Protokoll 1910–1914; Archiv der Reformierten Landeskirche Aargau, Sign. B1. 50. 4, 410. 403 Kanton Aargau. 404 Pfarrer Koerber hatte am 24. November 1913 an den Kirchenrat des Kantons Aargau geschrieben und diesen darum gebeten, er möge sich des „schwer gefährdeten Kirchenlebens in der Gemeinde Seengen annehmen & dasselbe wieder auf rechte Bahnen zu leiten“; siehe

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immer noch spielt, Fehler gemacht hat, der Mann ist mir auch persönlich gar nicht sympathisch, er hat etwas Pfäffisches an sich, aber das entschuldigt alles nicht das unerhörte Vorgehen der führenden Kreise seines grossen Kirchspiels und die absolute Gewehr bei Fuss-Stellung der aarg.[auer] Kirchenbehörden dem schwer angegriffenen Pfarrer gegenüber. Auch ein so ruhiger und reifer Beurteiler wie Dietschi schrieb mir kürzlich: „Dass man einen Pfarrer trägt, der säuft oder der ein Ehebrecher ist, dafür einen, der – wenn auch in ungeschickter Weise – den faulen Zuständen den Schleier vom Gesicht reisst, wegekelt, das drückt mehr nieder als schlechter Kirchenbesuch. Und so kann es jedem von uns gehen.“405 Und auch der Notschrei von Karl Barth406 über die Synode kam im Grunde einfach aus dem Staunen und der Entrüstung heraus, das einem beim so völligen Versagen dieser Kirche und ihrer Behörden den geringsten Selbstverständlichkeiten gegenüber aufsteigen muss.407 Ich finde es Kirchenrats-Protokoll, 410 f. Nachdem seine Proteste bei der Gemeindebehörde erfolglos geblieben waren, hatte sich Koerber im „Aargauer Tagblatt“ darüber beschwert, dass bei den in der Kirche stattfindenden Gemeindeversammlungen geraucht, gelärmt und unwürdiges Verhalten gezeigt würde. Der Wahlausschuss seinerseits griff daraufhin den Pfarrer an. Siehe dazu KBRS 29 (1913), 102; ferner siehe: Der Kirchenfreund. Blätter für evangelische Wahrheit und kirchliches Leben 47 (1913), 398 f. Der Streit zog sich über einen längeren Zeitraum hin und beschäftigte den Kirchenrat auch wieder in seiner Sitzung am 4. Februar 1914; siehe Kirchenrats-Protokoll 413–418. Die Kirchenpflege warf Koerber nicht nur eine unzureichende Berufsaussübung vor, sondern auch dass er „Unfrieden in Familien hineinbringe, Sport treibe, Separatversammlungen besonders in den Ausgemeinden pflege, statt nach Frieden & Einigung zu trachten, die Predigten zu Ausfällen & Schimpfereien missbrauche, anspruchsvoll auftrete etc.“ (a. a. O., 414). Gegen diese Klagen erklärte der Kirchenrat: „Wenn H.[err] K.[oerber] durch Reiten, Radeln, Rodeln, also durch heutzutage von Pfarrern auch gepflegten Sport vielen Leuten Anstoß geben sollte, so könne doch der K[irchen]R[at] sich nicht viel daraus machen & nicht eigentliche Klagepunkte darin finden“ (a. a. O., 416). Der Kirchenrat lehnte die von der Kirchenpflege geforderte Abberufung Koerbers ab und forderte eine gemeinsame Sitzung von Kirchenpflege und Pfarrer. Diese fand am 25. Februar 1914 in Seengen statt (siehe dazu das Protokoll a. a. O., 431–434) und die kirchenrätliche Kommission empfahl Koerber, von sich aus eine neue Stelle zu suchen. Nach diesem Treffen stellte Koerber hinsichtlich seines Wegganges neue Bedingungen, so dass der Kirchenrat beschloss „auf ihn etwas Druck auszuüben, daß er seine Schritte so viel als möglich beschleunige, & ernstlich sich bemühe, eine andere Stellung zu finden, aber auch nicht weiter Anstoß zu geben“ (a. a. O., 425 f.). Doch davon ließ sich Koerber nicht beeinflussen, so dass eine weitere Sitzung am 19. Mai erforderlich wurde. Hier wurden Zuschriften von den Nachbarpfarrern Dietschi, Müller und Thurneysen vorgelesen (a. a. O., 449), mit denen sie beabsichtigten, „auf seine schwere Neurasthenie & die mit Rücksicht hierauf gebotene Behandlung des Mannes aufmerksam zu machen“ (a. a. O., 450). Schließlich wird ein ärztliches Gutachten „über den körperlichen & seelischen Gesundheitszustand des H. K.“ in Auftrag gegeben (a. a. O., 452). Koerber wurde für sechs Monate beurlaubt; seinen angekündigten Rücktritt legte der Erziehungsrat auf den 1. November 1914 fest (a. a. O., 477). 405 Der Brief befindet sich nicht im Nachlass Thurneysen. 406 Barth schrieb: „O Aargau! O Staatsreligion! Daß Gott erbarm!“ Siehe die Basler Nachrichten, Jg. 69, Nr. 525, 11. November 1913, 2. Beilage, [1]; Nr. 573, 9. Dezember 1913, 3. Beilage, [1] (hier das Zitat); dann später nochmals 70. Jg., Nr. 179, 19. April 1914, 3. Beilage, [1]. 407 Die Aargauer Synode war einer Entscheidung bezüglich des Glücksspiels durch „Davonlaufen“

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manchmal auch zum Dreinfahren und schäme mich des kläglichen Schauspiels, das die sichtbare Kirche des Kts [Kantons] Aargau ihrem Volke gibt. Das Gute mag ja die Geschichte für mich haben, als ich nun wohl für alle Zeiten von der Versuchung mich als kirchlicher Funktionär – im unguten Sinn – zu fühlen bewahrt bleiben werde. Ich erfahre beim Nachdenken und Miterleben dieser Dinge etwas von innerm Freierwerden. Ich weiss, dass ich vom äussern Apparat dieser Kirche und den Menschen, die sie leiten und verwalten, nichts zu erwarten habe, sondern auf mir selber stehe und einfach meinen Weg für mich ruhig zu gehen habe, auch in meiner Gemeinde meine Sache tue nach eigenem Wissen und Können. Das so klar vor mir zu sehen, hat etwas Beruhigendes. Und Angst habe ich gar keine. Höchstens die eine, da und dort noch zu unsicher und zu wenig tapfer vorzugehen und die Angst vor der Popularität, denn die ist im Seetal408 kein Ruhm. Ich bin heute schier erschrocken: ich erklärte grad einer Frau, die allerlei vorbrachte, man dürfe sich rein gar nicht kümmern um das Geschwätz der Leute. Sonst komme man nicht durch. Wenn ich auf alles achten müsste, was die Leute auch von mir sagen… etc. „O Herr Pfarrer“, meinte sie, „von Ihnen hört man nie etwas Schlimmes, Sie sind vielmehr ganz berühmt!“ Das „blaue Kreuz“ ist mir einfach darum schon lieb, weil es etwas einstweilen noch mitleidig belächeltes und heimlich befehdetes, jedenfalls etwas Unpopuläres ist. Ich treibe es übrigens gar nicht aggressiv, sondern wirklich weitherzig und heimelig; es soll einfach ein stiller offener Hafen sein, wo der und jener Schutz suchen kann, wenn ers nötig hat, und ein durch sich selbst wirkendes Gewissen in der Gemeinde. Im übrigen ist mir, vom Glaubensstandpunkt aus gesehen, das sozusagen Leitsatz geworden, was Sie mir seinerzeit zum Generalstreik geschrieben haben, dass Gott die Weisen Torheiten und Kindereien begehen und die Ernsten und Eifrigen straucheln und fallen lasse, damit wir lernen auf ihn vertrauen und ihm allein die Ehre geben. Wer das vermag, der hat keine Angst. Aber freilich daneben hoffe ich doch stark auf ein Vorwärts meinetwegen durch Bruch und Krach hindurch. Gestern habe ich wenigstens von ganzem Herzen eine Sehnsuchtspredigt gehalten auf den Ton gestimmt: bereitsein und warten. Es muss doch ein Erwachen geben. Und das „Gott erbarm“ am Ende von Karl Barths Artikel ist mir mehr als ein conventioneller Ausruf. Warum feiern wir denn sonst Advent und Weihnacht? Für Ihren Weihnachtsartikel im Kirchenblatt409 danke ich Ihnen vielmal. Ich habe etwas davon gehabt. Als ich den erbaulichen Aufsatz an der Spitze sah, wollte ich schon zornig weiterblättern, weil ich dachte, er sei wieder vom

ausgewichen und deswegen scharf kritisiert worden; siehe dazu KBRS 29 (1914), 101 f. Seit 1912 diskutierte der Bundesrat über ein neues Gesetz zur Regelung der Glücksspiele. 408 Gebiet um Hallwilersee und Baldeggersee im Kanton Aargau. 409 Paul Wernle: Weihnacht, in: KBRS 28 (1913), 201.

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Verfasser des letzten so wunderbaren Adventsaufrufs410, aber als ich dann Ihren Namen drunter sah, las ichs mit Freuden. Und dann danke ich Ihnen noch einmal recht herzlich für Ihre so freundliche Empfehlung meines Programms für den Zürcherverein.411 Ich habe mich mehr darüber gefreut als über alle die vielen freundlichen Händedrücke, die ich sonst etwa dafür bekam. Nur insofern hatte ich ein klein wenig ein schlechtes Gewissen, als ich doch grad ein Abschnitt über die soziale Gruppen zwei etwas schärfere Stellen auf den Wunsch des Vorstandes streichen musste. Vielleicht hätten sie auch Ihr Lob etwas eingeschränkt. Nun, ich habe auf der Heimreise von Zürich die „Erinnerungen einer Serviertochter“412, diese kleinen, kürzlich erschienenen Memoiren einer Kellnerin gekauft und habe mich darum beworben, sie im Zofingercentralblatt413 kurz besprechen zu dürfen, weil sie die Studenten sehr nahe angehen, und hoffe da dann noch ein paar Gedanken zum Sozialismus zu äussern. Eine Freude habe ich immer wieder beim Zurückdenken an meine Zeit im Zürcherverein, da konnte man doch auf beschränktem Boden noch etwas ausrichten und vorwärtsbringen. In der Gemeinde arbeitet man naturgemäss unter viel weniger übersehbaren Verhältnissen und mehr ins Leere. Namentlich die Jugendpflege, wo ich mir doch am ehesten etwas zutraute, ist ein ganz schwieriges Kapitel auf dem Dorf. Es ist sowieso hier alles ein bischen aus dem Leim. Und die Theologie? werden Sie schliesslich noch fragen. Nun, abgesehen von den Festtagen grad jetzt, kann ich sagen, dass ich immer mehr Zeit dafür gewinne. Von Erfolgen und Funden kann ich freilich noch nichts berichten, ich habe mich in letzter Zeit, wo ich im Unterricht ans eigentlich Centrale, an Jesus kam, wieder mehr mit neutestl. Sachen beschäftigt, auch für die Predigt. Das Buch von Deissmann414 über Paulus hat mir trotz seines etwas überspannten Stils Freude und Gewinn gebracht. Es ist alles so lebendig gesehen. Ich freue mich, bis Ihre Vorträge gedruckt vorliegen. Über Neujahr, d. h. wahrscheinlich erst am 4. Jan.[uar] komme ich für ein paar Tage nach Basel. Vielleicht darf ich Sie dann selber sehen.

410 Rudolf Wernly, 1882–1918 Pfarrer in Aarau, hatte unter dem Titel „Advent“ im „Kirchenblatt“ vom 29. November 1913, 189 f., eine pathetische und überaus salbungsvolle Besinnung veröffentlicht, die Thurneysens Ablehnung provozierte. 411 Christlicher Verein Junger Männer. 412 Annelise Rüegg: Erlebnisse einer Serviertochter. Bilder aus der Hotelindustrie, Teil 1, Zürich 1914. Der zweite Teil erschien 1916. A. Rüegg (1879–1934) war eine engagierte Sozialdemokratin und Pazifistin und hielt mehrere Vorträge in der Schweiz und im Ausland. Im KBRS 29 (1913), 135, erschien ein Artikel von „A.M.“ zum Thema „Die Kirche in ,Erlebnisse einer Serviertochter‘“. 413 Eine Rezension von Thurneysen konnte nicht nachgewiesen werden. 414 Gustav Adolf Deißmann: Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 1911.

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In alter Verehrung grüsst Sie und wünscht Ihnen und Frau Prof. und Hans eine fröhliche Weihnachtszeit von Herzen Ihr Eduard Thurneysen Nr. 65. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 23. Dezember 1913 NL 290: B 346, 37 Lieber Herr Pfarrer! Ihr temperamentvoller Brief hat mich sehr gefreut & auch mir die Sehnsucht erweckt nach den früheren Stunden der Aussprache in örtlicher Nähe. Wir würden einander gegenseitig gut tun, Sie mich aufregen, wenn ich drohe der Gelassenheit zu verfallen, ich Sie etwas bändigen, wenn Sie in Ihrem Ungestüm zu rasch fertig sind mit Menschen & Verhältnissen. In der Hauptsache denken wir ja nicht anders, aber ich sehe Gott gern in der Stille & im Unscheinbaren zu, während Sie ihn gern da sehen, wo Lärm & Bruch & Krach ist. Aber sehen Sie nun z. B. dieser Fall in Seengen: es war eine solche nicht nur Taktlosigkeit, sondern Lieblosigkeit Körbers, seine Gemeinde mit ihren groben Fehlern vor dem ganzen Kanton blosszustellen, dass ich finde, ein solcher Mann ist schuld an allen weitern Folgen. Stellen Sie sich einmal vor, der Apostel Paulus hätte im Brief an die Thessalonicher die groben christlichen Misstände in Korinth ausgekramt, wie fänden wir das? Da muss alles Vertrauen & alle Liebe zu Grunde gehn. Ich nehme die Gemeinde mit keinem Wort in Schutz, aber ich halte einen solchen Pfarrer für unmöglich in seiner Gemeinde. Und wenn sich dabei die Gemeinde in der Mehrheit schäbig benimmt, was ist das anders als die gepriesene Demokratie in ihrer wahren Gestalt, die wir Schweizer den Deutschen mit Ueberlegenheitsgefühl vorhalten? Wie kann man sich darüber wundern auch nur einen Augenblick. Sehen Sie, aus Ihrem ganzen Brief heraus spricht ein fundamentloser Idealismus, wenn ich ein starkes Wort brauchen darf. Ein Idealismus, der immer voraussetzt, das Gute ist das Mächtige & im Grund selbstverständliche in allen Menschen & der dann zusammenzuckt & aufschreit, wenn die Wirklichkeit das Gegenteil zeigt. Das ist ungefähr die Art des guten Ragaz, die ihn so ungeduldig & so tief unglücklich macht. Und nun sind Sie gar erst ein halbes Jahr in Leutwyl & rufen schon nach dem Erwachen & vorwärts durch Ach & Krach. Sehen Sie, so schnell kann der liebe Gott nicht reiten, Sie müssens ohne ihn tun, wenn Sie es doch durchsetzen wollen. Das ist auch, was mich an Barth so abstösst. Dies rasche Fertigsein, wenn man so kurz erst wirklich mit gearbeitet hat & vielleicht im Ernst noch nicht probiert hat in

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der Synode den andern ruhig & überlegen Rede & Antwort zu stehen & sie von ihrem Standort aus zum eigenen hinüberzuführen. Diese Art Kritik kann nur reaktionär machen, verbittern & verblenden & dann trägt man selbst einen Teil der Schuld, wenns nicht vorwärts geht. Das alles ist nicht evangelisch, nicht göttlich, sondern allzu menschlich & bringt uns & unsre Gemeinden nicht wesentlich weiter. Sie fragen: warum feiern wir denn sonst Advent & Weihnacht? Nun, Sie wissen doch, das Festfeiern ist überhaupt so eine Sache, soweit es Stimmungsmache ist. Man darf das ja nicht überschätzen, so wenig als die Konfirmation & ähnliches. Es hat gewiss auch sein Gutes, dass man jährlich an diese grossen Dinge erinnert wird, aber je ehrlicher man ist, desto weniger wird man auf solche Festzeiten geben dürfen. Gerade Advent ist zum grössten Teil Poesie & vage Stimmung & zerfährt wie ein Dunst. Sie werden mich nicht missverstehen, als ob ich an der Höhe & Herbe Ihres Ideals markten wollte. Aber wie ganz anders wird man gestimmt, wenn man wie das NT [Neue Testament] ehrlich davon ausgeht, dass die Welt im Argen liegt (meinetwegen rechnen Sie die Kirche auch dazu), dass die um uns & wir mit & jeder neu geborne Mensch von neuem selbstsüchtig, sinnlich & schäbig sind & trotzdem der liebe Gott uns nicht von sich wirft, sondern unser Vater sein will & uns aufwärts führen will mit unendlicher Geduld & Treue, jeden Tag von vorne an. Von da aus kann ich mit Freuden Weihnacht feiern, indem ich immer wieder Gottes Liebe anschaue, die mich tröstet über meine & aller Menschen Erbärmlichkeit & die mir auch die Augen öffnet für die kleinen Spuren Gottes an den Herzen der Menschen. Es soll noch viel herrlicher werden, gewiss, auch ich sehne mich nach einem Durchbrechen der Kraft Gottes, aber wenn er nur überhaupt da ist, wenn er uns nur nicht ganz im Stich lässt, bin ich schon dankbar & froh. Lassen Sie sich das nicht ganz rauben, es ist sicher nicht fromm, in der ewigen Stimmung der Opposition, des Trotzes & der Ungeduld zu stehn, obschon ich Ihre Gründe ganz begreife. Aber nun genug, ich weiss, dass Sie verstehen, wie es gemeint ist und aus welchem Herzen es kommt. Nichts für ungut, und frohe Weihnacht. Von Herzen Ihr P. Wernle

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Nr. 66. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 2. April 1914 NL 92: III A 13, 30 Verehrter Herr Professor, Wenn ich an Sie denke, und das geschieht täglich und bei vielen grossen und kleinen Anlässen, Aufgaben und Fragen, so befällt mich ein eigentlicher Schrecken darüber, dass ich Ihnen schon so lange nicht mehr geschrieben habe. Obwohl ich innerlich und in meinen Gedanken in demselben steten Austausch mit Ihren Gedanken, Ihren Anregungen und der ganzen Art zu denken und zu handeln stehe, die Sie schon uns als Studenten gegenüber vertreten haben und weiter vertreten und die für mein und meiner Freunde Leben, Denken und Handeln wiederum so bestimmend geworden ist, dass wir uns mit Dankbarkeit und Freude Ihre Schüler nennen, und dass Sie in uns weiterhandeln, wo wir etwas ein wenig rechtes und gutes tun und zu standebringen dürfen, jeder an seinem Orte, oder, was vielleicht noch häufiger geschieht, insofern in uns hineinhandeln, als uns die Ziele und Kräfte, die Sie uns erschliessen wollten und wollen, uns gleichsam verpflichtend und richtend vor Augen stehen, und wir uns schämen, wo wir lässig und träg waren und untreu, sie zu ergreifen und ihnen nachzuleben. Oft genug treibt mich dieses innere Verbundensein zum Schreiben, Berichten, Fragen, Bitten, vielleicht auch Entgegnen, aber allerlei Gründe halten mich leider dann vielfach wieder ab: ich schreibe nur gern bei voller innere Ruhe, und die ist oft gerade dann nicht da, wenn es mich am meisten dazu drängte, und dann habe ich einfach oft das vielleicht dumme Gefühl, ich müsse Ihnen etwas Rechtes zu erzählen haben, nicht nur allerlei von neuesten Fragen oder Entrüstungen und Enttäuschungen, etwas Fertiges gleichsam, das aus meinem Arbeiten in der Gemeinde oder in der Studierstube als Frucht oder als Ansatz zu einer Frucht herausgewachsen sei; sonst dürfe ich gar nicht vor Sie treten. Und daran fehlt es mir eben, ich bin fast versucht zu sagen, mehr und mehr: denn ich habe immer lebendiger das Gefühl am Anfang aller Anfänge zu stehen, je mehr ich in die Arbeit und die Aufgabe hineinzudringen versuche, nichts zu wissen, vor allem was die Methoden betrifft, und von mir aus erst langsam erobernd vorwärtsgehen zu können. Ich denke an die Unterrichtsstunden, wie viel ist da noch zu lernen für mich den Lehrer! Oder an eine Aufgabe, die mir oft genug schwer zu denken gibt, an die Krankenbesuche, die eigentlich erst schwer zu werden beginnen, wenn man irgend einen schweren chronisch kranken Patienten kennen lernt und nicht nur ein paar Wochen, sondern Monate hindurch besuchen soll. Im Unterrichtgeben habe ich übrigens in den letzten Monaten

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viel lernen können bei Pfr. Dietschi415. Er hat mir erlaubt, so oft ich Lust habe, seinen Confirmandenstunden beizuwohnen, und ich habe trotz der recht kräftigen Entfernung Seons von Leutwil reichen Gebrauch gemacht davon.416 Dietschi hat eine ganz wundervolle Art, mit s.[einen] Kindern zu reden. Obwohl es 40 sind, Buben und Mädchen, und nicht zähmere als an andern Orten, sind sie in seinen Stunden wie eine grosse Familie. Ich muss bei Dietschi immer an die Stelle in Lienhard und Gertrud417 denken, wo es heisst, der Religionslehrer müsse so von Gott und s.[einen] ewigen Dingen reden, dass es den Anschein habe, als rede er mit den Kindern von Vater und Mutter, von Haus und Heimat, kurz von Sachen, die sie auf der Welt nah angehen. Das trifft buchstäblich bei Dietschi zu, weil er aus der Fülle s.[einer] Erfahrungen unterrichtet. Mit mir hat niemals als Kind jemand so offen und zugleich so ernst und eindringlich geredet über alles, was mein äusseres und inneres Leben betraf, wie Dietschi zu s.[einen] Seonern redet. Die Stunden sind auch für mich manchmal ganz ergreifend. Dietschi hat überhaupt in allen Beziehungen etwas Vorbildliches als Pfarrer, und ich bin von Herzen froh und dankbar, dass er nicht aus dem Seetal fortgegangen ist. Er hat durch seine Unabhängigkeit und seine furchtlose und zugleich taktvolle und innerliche Art, Menschen und Verhältnisse zu behandeln, ein grosses Gewicht nicht nur in Seon selber und mehr Einfluss, als er vielleicht selber weiss; ich merke es auch in meinen Dörfern. Die Seenger Kirchensache gibt mir fortgesetzt zu denken. Es ist trotz allem ein jämmerlicher Anblick diese Kirchgemeinde, in der, ich kann es nicht anders sagen, die Feinde Gottes und der Kirche, Leute ohne jede Ehrfurcht vor dem Heiligen, wie ich an erschreckenden Beispielen zeigen könnte, die Kirche leiten und regieren. Ich wäre als schlichter Laie wahrhaftig schon hundertmal aus dieser Kirche ausgetreten in Seengen und zu irgend einer Sekte gegangen. Denn in den Augen unserer freisinnigen Matadoren, ich habe kürzlich selber auch ein treffendes Beispiel dafür erlebt, ist die Landeskirche einfach die Anstalt, wo man, im Gegensatz zu allen ernsteren und eifrigeren Gruppen und Sekten, es nie zu ernst und zu fromm nimmt, wo man ruhig einen Bund schliessen kann zwischen Geld und Gott und niemals im Gewissen ernstlich gepackt wird. Kommt es doch vor, so wütet man über den Fanatismus des Pfarrers und arbeitet mit allen Mitteln gegen ihn. Ebenso verargt man es ihm gründlich, wenn er mehr macht, als er gerade muss: Bibelstunden, Blaukreuz und dergl.[eichen]. Das völlig Unwahre in unserer kirchl.[ichen] Situation kommt eben dadurch, dass wir als Pfarrer alle diese Leute, denen Gott und Kirche unsäglich gleichgiltig sind, zur Kirche rechnen müssen. Da hat es jeder Missionar oder freie Prediger besser, er braucht doch seinen Heiden und 415 Max Dietschi. 416 Die Entfernung beträgt ca. 8 km. 417 Johann Heinrich Pestalozzi: Lienhard und Gertrud. Ein Buch für das Volk, Berlin/Leipzig 1781–1787.

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Weltleuten nicht mit dieser verlogenen Fiktion gegenüberzutreten. Wir können es nicht anders, denn jede Kirchgemeindeversammlung belehrt uns mit grosser Eindringlichkeit, dass Männer mitreden und meist in sehr entscheidender Weise, die niemals in die Kirche kommen, aber Stimmrecht und Entscheid haben418 und wie ein Hemmschuh am Wagen allen lan verunmöglichen, und die einfach alles Leben ersticken und doch nicht austreten wollen! Ist es uns da zu verargen, wenn es Augenblicke gibt, wo man trotz der und gegen die Kirche Pfarrer ist und einem jedenfalls von Grund auf die Lust vergeht, Kirchensonntage und dergl.[eichen] zu feiern! Nach meinem Eindruck hätte es eben die Kirche gerade heute so furchtbar nötig, aus ihrer Starrheit aufzuwachen und jung und lebendig zu werden. An Aufgaben fehlte es nicht. Auch auf dem Lande. Aber weil sie, wie Sie selber seinerzeit es zu meinem Erstaunen ausgedrückt haben, „die Toten und die Feinde“ sogar „mitschleppen muss“, bleibt sie so unendlich gehemmt. In der Stadt, wenigstens in Basel, wie ich den Basler Nachrichten419 entnehme, plätschert das kirchliche Leben ruhig in den zwei alten Rinnsalen weiter, einmal ein freisinniger Familienabend, einmal ein positiver, und ist doch kein Unterschied! Und hier im Aargau ist sie in den Händen der freisinnigen Politiker420. So, nun habe ich doch wieder ein Stück Entrüstung und Enttäuschung vor Sie gebracht, eigentlich fast wider meinen Willen. Aber ehrlicherweise lasse ichs stehen. Ich möchte übrigens nicht, dass Sie dieses Klagelied von der Kirche im Klageton sich gesungen denken, ich bin gar nicht verzweifelt an meiner Aufgabe und meinem Pfarrersein, nur weiss ich oft nicht recht, was das Wort Kirche im alten, historischen Sinn in diesen Zuständen soll, diese sichtbare Kirche empfinde ich mehr als Hemmnis. Ich glaube aber fest an eine unsichtbare Kirche, und manchmal träume ich von einer neuen Form einer sichtbaren Kirche der Zukunft. Und nun möchte ich Ihnen noch einmal ausdrücklich und herzlich danken für Ihre Drei Vorträge.421 Sie haben mich durch die letzten Wochen begleitet und mir viel Freude gemacht und Anregungen verschafft. Am meisten, wenn ich es sagen darf, der erste, weil er für mich sozusagen der neueste war; ich habe Sie nie vorher über dieses oder ein ähnliches Thema reden hören und habe viel davon gehabt. Die beiden andern enthielten Gedankenreihen, die ich liebe, die mir aber auch schon vertrauter sind.

418 Zur Frage nach dem Stimmrecht und insbesondere nach dem Frauenstimmrecht siehe die Einleitung S. 24 f. 419 So z. B. die Berichte über „Freisinnige Gemeindevereine“ in den „Basler Nachrichten“, 70. Jg., Nr. 115, 11. März 1914, [2]. Beilage, 2; „Kirchliches Frauenstimmrecht“, 12. März 1914, Nr. 117, 1. Beilage, [2]; „Positive Gemeindevereine“, Nr. 129, 19. März 1914, 2. Beilage, [2], sowie Nr. 131, 20. März 1914, 2. Beilage, [2]. Die „Basler Nachrichten“ waren um 1914 eine liberal-konservative protestantische Tageszeitung, die zweimal täglich erschien. 420 Damit sind liberale Politiker gemeint. 421 Paul Wernle: Evangelisches Christentum in der Gegenwart. Drei Vorträge, Tübingen 1914.

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Erst vor kurzem habe ich Pfr. Hartmanns422 und Karl Barths423 Arbeiten gründlich zu überdenken versucht. Bei Pfr. Hartmann hat mich vieles nicht sehr befriedigt, wenn ich es offen sagen soll. Ich liebe bei solch wissenschaftlichen Überlegungen die ganze aesthetisierende Methode, die er anwendet, nicht sonderlich. Prachtvoll ist seine Art zu reden in einem Vortrag wie dem Zürcher über „Jesus unser Zeitgenosse“, der gegenwärtig im Christl.[ichen] Volksfreund erscheint.424 Es hat uns jüngern Pfarrern leid getan, dass Sie nicht nach Aarau kommen konnten.425 Ich freue mich aber, dass Sie uns, wie mir Karl Pfisterer sagte, nächstens einen Vortrag halten im Pastoralverein. In Aarau habe ich vor allem Freude gehabt an Pfr. von Greyerz. Er hat eine prächtige Predigt gehalten426, die beste, die ich je in Aarau gehört habe, und auch im persönlichen Zusammensein war er so kräftig und erfrischend. Von den Vorträgen war mir der von Ernst Staehelin427 der wertvollste. Er hat überaus offen und tapfer geredet, und es ist sicher nicht umsonst gewesen. Die Conferenz hat in s.[einen] Darlegungen gleichsam, hegelisch zu reden, ihr Selbstbewusstsein gewonnen. Persönlich geht es mir gut. An allerlei Abwechslung, auch äusserer wie gelegentlichen Besuchen fehlt es nicht, sodass mir mein Leben hier sehr erträglich vorkommt. Kürzlich musste ich eine feierliche Traurede halten für Rudolf Pestalozzi428 in Zürich. Frau Burckhardt fand, sie sei nicht einmal so welt- oder besser ehefremd gewesen, wie bei meinem Junggesellenleben, und weil es erst meine zweite war, zu erwarten stand. Es war ein recht gefreuter Tag. 422 Möglicherweise meint Thurneysen hier Benedikt Hartmann: Unser Glaube an den persönlichen Gott. Referat, Chur 1913, sowie seine Beiträge in der Zeitschrift „Neue Wege“. Hier handelt es sich um eine Sonderausgabe aus dem Verhandlungsbericht der Schweizerischen reformierten Predigerversammlung in Chur 1913. Weitere Veröffentlichungen von Hartmann nennt Erich Wenneker: Benedikt Hartmann, in: BBKL 19, 627–633. 423 Wahrscheinlich handelt es sich um folgende Arbeiten: Karl Barth: Der christliche Glaube und die Geschichte. Referat gehalten an der deutschen Pastoralkonferenz der Westschweiz, 5. 10. 1910, in Neuenburg, in: SThZ 29 (1912), 1–18; 49–72; siehe auch Barth: Vorträge 1909–1914, 149–212; ders.: Der Glaube an den persönlichen Gott, in: ZThK 24 (1914), 21–32; 65–95; siehe auch Barth: Vorträge 1909–1914, 494–554. Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den Barth am 19. Mai 1913 während der Sitzung des aargauischen Gesamt-Pastoral-Vereins in Lenzburg gehalten hatte. 424 Benedikt Hartmann hatte diesen Vortrag an einem „sozialen Abend des ,Christlichen Vereins Junger Männer‘ in Zürich“ gehalten; er erschien in: Christlicher Volksfreund. Blätter zur Förderung christlichen Glaubens und Lebens 40 (1914), 134–139; 148–154, hier 134. 425 Es handelt sich um die Teilnahme an der 18. Christlichen Studenten-Konferenz, die vom 9. bis 11. März 1914 in Aarau stattgefunden hatte. Siehe dazu den Bericht in den Basler Nachrichten, 70. Jg., Nr. 141, 26. März 1914, 2. Beilage, [1]. An der Konferenz nahmen 63 Theologiestudenten und 73 anderer Fakultäten teil; so KBRS 42 (1911), 115. 426 Karl von Greyerz: Von Gottes Ruf und Mahl. Predigt über Luk. 14,16–24, in: Die XVIII. Christl. Studenten-Konferenz. Aarau 1914. Den 9. bis 11. März, Bern 1914, 7–16. Eine Zusammenfassung bieten die Basler Nachrichten, Jg. 70, Nr. 141, 26. März 1914, 2. Beilage, [1]. 427 Ernst Staehelin: Wesen und Aufgabe der Aarauer Konferenz und ihre Stellung zum Weltbund, in: XVIII. Christl. Studenten-Konferenz. Aarau 1914. Den 9, bis 11. März, Bern, 1914, 65–89. 428 Rudolf Pestalozzi heiratete Gerty, geb. Eidenbenz.

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Daneben suche ich, so oft es geht, im Zwingli weiterzudringen. Grad jetzt stockt freilich die Arbeit infolge der starken Inanspruchnahme durch Unterricht und nahe Festtage. Es graut mir vor dem vielen Reden „aus vollen Backen“, wie Greyerz sagte, an den hohen Tagen. Es ist überhaupt die erste Passionszeit, die ich predigend durcherlebe, und das macht doch einen Unterschied aus. In meinen beiden letzten Predigten habe ich das Leiden Jesu gleichsam mehr von aussen als Vorbild für unser Kämpfen, Leiden, Arbeiten zu fassen versucht. Am Karfreitag möchte ich nun das Evangelium im eigentlichen Sinn, das drin liegt, herausarbeiten, so gut ichs vermag. Gestern las ich mit grosser Freude das Teilstück aus dem Vortrag in Ihrem Basler Kreise, das Herr Burckhardt429 in der „Glocke“ veröffentlicht hat.430 Dieser und der Leitartikel431 treffen in ausgezeichneter Weise das Bedürfnis der vielen jungen Leute, die nun nach der Confirmation in die Arbeit hineintreten. Überhaupt ist der Zürcherverein für mich immer noch ein Stück Zukunftsverheissung. Gerade Rich. Pestalozzi hat, wie ich das letzte Mal sehen konnte, die Pfadfindersache ausgezeichnet organisiert432: da wächst doch etwas und versucht man noch neues. Nun muss ich schliessen. Ich hoffe, mein Brief treffe Sie und Frau Professor und Hans bei guter Gesundheit. Hoffentlich steht es auch mit Frau Wernle in Zürich nicht schlimmer. Sie werden immer ausserordentlich stark in Anspruch genommen sein durch die Arbeit an Ihrem Buche.433 Wenn Sie irgend einmal ein Teilstück wie seinerzeit die Lavaterbriefe zur Erledigung und Mithilfe abgeben können, so bin ich mit Freuden bereit, nach Ostern habe ich wieder viel Luft und die Hände freier, und gerade die Arbeit an Lavater hat mir doch eigentlich viel Freude gemacht und meine Kenntnisse auf einem bisher mir völlig dunkeln und doch zeitlich eigentlich so nahen und wichtigen Gebiet bereichert, wie überhaupt das Quellenlesen immer etwas erfreuliches ist. In alter herzlicher Hochachtung und Verehrung und mit der nochmaligen Bitte, mein langes Säumen entschuldigen zu wollen, grüsst Sie, Frau Prof. und Hans, Ihr Eduard Thurneysen. Wäre es ganz ausgeschlossen, dass Sie anlässlich Ihres Vortrages oder sonst mich wieder mit einem Besuche erfreuen würden?

429 430 431 432

Fritz Burckhardt. Fritz Burckhardt: Etwas vom Kaufmannsstand, in: Die Glocke 22, Nr. 7, April 1914, 46 f. Friedrich Otto Pestalozzi-Junghans: Zur Berufswahl, in: Die Glocke 22, Nr. 7, April 1914, 45. Richard Pestalozzi beantragte im Juli 1913 beim Zentralvorstand des CVJM, dass die Pfadfinder als Arbeitszweig aufgenommen werden. Siehe hierzu: Glockenhof Zürich, 159. 433 Der Kontext des Briefes lässt vermuten, dass es sich um Wernles „Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert“ handelt. Der erste Band erschien allerdings erst 1923.

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Nr. 67. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 23. April 1914 NL 290: B 346, 38 Lieber Herr Pfarrer! Ihr freundlicher Brief wartet schon lange auf Antwort, zu der ich doch wegen so vieler Arbeit nicht früher kommen konnte. Vorerst möchte ich Ihnen sagen, dass Sie meinetwegen volle Freiheit haben, statt nach Lenzburg434 zu der Tagung der Rel[igiös] Sozialen in Baden435 zu gehen, die fatalerweise mit meinem Vortrag zusammenfällt. Ich habe noch kürzlich eine Umgehung der Collision durchzusetzen versucht, aber vergebens. Mein Vortrag sollte zuerst eine Woche vorher stattfinden, wurde dann aber verschoben, weil [de]r Praesident dann verhindert war. Nun mag er nicht noch einmal verschieben. Aber ich begreife es vollständig, wenn mein historischer Vortrag über Dinge vor mehr als einem Jahrhundert einen heutigen Aargauer Pfarrer viel weniger interessieren mag als die aktuellen Fragen, worüber sie in Baden reden. Wollen Sie das doch auch Freund Dietschi sagen, es ist mir viel lieber, es folgt jeder dem, was ihn in erster Linie interessiert. Mein Vortrag ist auch viel zu sehr mit Stoff beladen, da ich über so reiches Material verfüge für 3 Vorträge. Ich kann nur das Wichtigste herausgreifen & das übrige übergehen & werde damit Zeit genug in Anspruch nehmen. Also lassen Sie sich das gesagt sein, nicht als Phrase, sondern als meinen wirklichen Ernst. Ich würde an Ihrer Stelle sehr wahrscheinlich nach Baden gehen. Ihr Brief ist mir lieb als ein Zeichen Ihrer treuen Anhänglichkeit, wobei ich die Hochachtung & Verehrung am Schluss mir gern wegwünsche & durch etwas Menschliches ersetzt denke, ich bin immer noch nicht Geheimrat. Nun hat mir auch Ihre Mutter & Ihr Vater von Ihnen erzählt & heut [b]erichtete eben Eugen Hafter von einer Predigt, die er in Leutwyl gehört hatte. Sie sehen, ich habe auch verschiedene Quellen, die aber im wesentlichen ein einheitliches Bild geben. Es freut mich immer, Sie in voller frischer Tätigkeit zu wissen

434 Am 19. Mai tagte in Lenzburg der aargauische Pfarrverein. Möglicherweise hielt Wernle dort den von Thurneysen im Brief vom 2. April 1914 erwähnten Vortrag. Barth sprach dort zum Thema „Der Glaube an den persönlichen Gott“; der Beitrag erschien in: ZThK 24 (1914), 21–32; 65–95; vgl. oben Anm. 423. 435 In Baden fand am 11. und 12. Mai 1914 eine religiös-soziale Konferenz statt, auf der über „Schuld und Erlösung“ sowie über die Aufgaben der Religiös-Sozialen und über die Stellung zum „Internationalen Kongress für soziales Christentum“, der zunächst auf Ende September 1914 terminiert, dann aber wegen des Kriegsausbruches abgesagt worden war, diskutiert werden sollte. Siehe dazu Bajohr: Ursprung, 266.

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Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen

gelegentlich begeistert & stürmisch nach Art der Biastai von Mt 11.436 Ich finde das völlig an der Ordnung & will kein Wasser in Ihren Wein giessen. Gespannt wäre ich nur, die Ideale Ihrer Kirche der Zukunft zu erfahren. Ich habe die meinen ja auch niedergelegt in meiner Einführung437, aber die Ihren sehen vielleicht anders aus. Täus[ch]e ich mich aber ganz, wenn es mir scheint, dass Ihre berechtigte Entrüstung über die Ecclesia visibilis in Seengen & anderswo verbunden ist mit einem Uebersehen des als Aufgabe & Verheissung immer grossen & evangelischen kirchlichen Universalismus, der bei jedem Versuch, die ideal Gesinnten zusammenzuschliessen im Gegensatz zu den Lauen & Toten in die Brüche geht. Ich habe sehr oft auch so gedacht wie Sie, es wäre eine lebendigere engere Gemeinschaft der Gleichgestimmten, der wirklich Gläubigen dem Hinnehmen unsrer halb oder kaum christlichen Majoritäten vorzuziehen, aber je weiter ich komme, desto mehr sehe ich in jenem Wunsch eine Versuchung, nicht von Gott. In den Städten ist ja das Uebel fast noch schlimmer. Wenn man erwägt, wer bei unsern kirchlichen Wahlen wählt, zum Wählen herbeigezogen wird mit gemeinsten Mitteln & durch die Majorität entscheidet, möchte man jedesmal gerne austreten. Die kirchliche Demokratie ist ein viel verflüchterer Unfug noch als die politische (Sie verzeihen mein Urteil über die letztere) & manchmal könnte es scheinen, als fegen wir auf diesem Wege langsam das Christentum aus unsern Kirchen hinaus. Dennoch, trotz allem, was für ein Glaube an die Kraft Gottes liegt doch darin, Weizen & Unkraut nicht scheiden zu wollen, sondern auf den Sieg der Sache Gottes über & gegen die stumpfsinnigen Mehrheiten zu vertrauen. Und wohl auch mehr Liebe als bei jedem Sektenversuch. Es kann ja sein, dass es Gottes Wille ist, dass schliesslich das Christentum wieder zu den kleinen Gemeinschaften zurückkrebst, aus denen es ursprünglich hervorgieng & die Welt wieder neben sich sehen wird, um nicht ganz von ihr aufgesaugt zu werden. Aber wir dürfen schwerlich diesem Willen Gottes vorgreifen & aus Kleinglauben & schwärmerischer Ungeduld den Massen in unsrer Kirche den Rücken kehren, um sie sich selbst zu überlassen. Wir müssen eben ausharren, nicht müde werden & nie verzagen & unsre Liebe & Arbeit denen weiter schenken, die sich wenig oder nichts aus ihr machen. Mir scheint das grösser & jedenfalls evangelischer zu sein. S[o l]ange Gott so mit uns selbst Geduld hat, sollen wir sie auch an den andern haben, mit denen er uns durch Aufgaben zusammenfügt. Nun habe ich aber zu meinem Schrecken doch schon Wasser in Ihren Wein gegossen & da ich im Zug bin, muss ich doch noch etwas über Basel hinzufügen. Sie sind ein gar schlechter Historiker, wenn Sie unser Leben in Basel wirklich nur nach dem beurteilen, was die Zeitung über die Versammlungen der beiden Parteivereine bringt. Ich muss ein für allemal dagegen protestieren, 436 Bezieht sich auf Matthäus 11, 12 und die dort erwähnten „Gewältigen“, die das Himmelreich an sich reißen. 437 Paul Wernle: Einführung in das theologische Studium, Tübingen 21911, 472–479: „Kirchliche Ideale“.

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dass man auf die Zeitungen & das, was sie für Wissenswert halten, hereinfalle & darnach sich ein Bild mache. Ja ich finde darin ein eigentliches Verfallszeichen unsrer Zeit, diese verfluchte Lust am Sensationellen, am Krach, wie Freund Barth sich ausdrückt. Wenn man zB über den Aargau bloss nach seinen Zeitungsberichten schliessen wollte, wo bliebe da alles Erfreuliche, was Sie mir von Dietschi zB erzählen, was Sie selbst & Barth & andere wirken! Gottlob geschieht so unendlich viel Erfreuliches, was nicht in den Zeitungen steht & an die grosse Glocke kommt. Und so steht es auch in Basel, über das ich sonst gar nicht optimistisch denke & dessen verknöcherte Parteiverhältnisse ich genau so beurteile wie Sie. Aber meinen Sie, die Zeitungen bringen ein Wort von Benz & seinem hoch erfreulichen Arbeiten438 oder auch von der treuen sozialen Kleinarbeit meines Schwagers!439 Sie müssen selber sagen, es wäre horrend & total verkehrt, so Erfreuliches zu übersehen & aus den paar Zeitungsberichten sich ein wirkliches Bild machen zu wollen. Ich behaupte rundweg, nichts wirklich Gutes kommt in die Zeitung, wenn etwas hineinkommt, dann ist es schon nicht gut. Ich meine aber, ich habe da den grössern Glauben als Sie, wenn ich daran festhalte, dass Gott unter uns arbeitet ohne viel Lärm & Geräusch & dass keine treue Arbeit für ihn umsonst ist. Ich gebe zu, das ist rein Glaube, aber ohne diesen Glauben hielte ichs einfach nicht aus. Es ist oft merkwürdig, wie die Enthusiasten am wenigsten von diesem Glauben haben. Sie wollen immer sehen & hören. Das ist nicht aus Gott. Ich habe selber Augenblicke, wo mir meine Arbeit als fast wertlos vorkommt, weil sie direct eigentlich gar niemand hilft & kaum irgendwo Fühlung hat mit unserem Gegenwartsleben. Da habe ich mich schon gesehnt, eine Kanzel besteigen zu dürfen & zu den Menschen unsrer Tage direct reden zu können. Die innere Berechtigung meiner historischen Arbeiten ist etwas, worüber man jedenfalls sehr verschiedener Ansicht sein kann. Aber ich sage mir immer wieder: das ist dies verfluchte Geschissmachen & Lärmschlagen Wollen & sich in Dinge mischen Wollen, die nicht des mir von Gott gegebenen Berufs sind. Schuster bleib bei deinem Leisten! Es ist auch bei mir selbst bloss Glaubenssache, dass ich Gott an meiner Stelle dienen kann, denn ich sehe oft ganz bedenklich wenig davon. Und wenn ich dann wieder höre, wie verächtlich Ragaz theologische Forschung & Arbeit behandelt, sobald sie nicht in seine engen Geleise einmündet, ohne jeden Sinn für die Sachlichkeit & Selbstverleugung, die zu jedem echten Forschen gehört, dann sage ich mir gerade im Gegensatz: hier nachzulassen, wäre wider Gottes Willen. Es wäre ihm drauslaufen & seinen eigenen Willen thun. Wobei ich niemand anders richten will, bloss fest halten an dem, was für mich jedenfalls Pflicht bleibt.

438 Benz war u. a. Sekretär und Präsident des evangelischen Arbeitervereines und engagierte sich intensiv für die soziale Arbeit in Basel. Anscheinend urteilten Wernle und Thurneysen über Gustav Benz unterschiedlich. 439 Rudolf Liechtenhan.

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Ich habe gestern das Semester440 begonnen & bin froh, dass diese Arbeit wieder da ist. An Studenten ist der Zahl nach kein Mangel. Ich muss mein NTl [neutestamentliches] Seminar für die Jüngern441 teilen, damit die Einzelnen mehr dran kommen. Es wird synoptische Frage exerciert, sehr unerbaulich, aber i[ch] hoffe doch, sie kommen näher an Jesus heran. Das Wesen des Christentums442 werde ich völlig neu ausarbeiten, da ich mit der ersten Fassung nicht zufrieden bin.443 Dann bleibt aber leider fast keine Zeit für mein Buch444, & ich komme ewig nicht aus dem Sammeln heraus. Haben Sie nochmals vielen Dank für Ihren lieben Brief. Ihr P. Wernle. Nr. 68. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 30. April 1914 NL 92 III A 13, 31 Verehrter Herr Professor, Oder darf ich nicht mehr so beginnen? Nun, „unmenschlich“ wird deswegen mein Verhältnis zu Ihnen noch lange nicht, ich hoffe, Sie spüren das auch dem Inhalt meiner Episteln ab, wo ich immer alles so grad heraus sage, wie ich es empfinde, und ein wenig etwas wie „Verehrung“ und Dankbarkeit müssen Sie sich unsrerseits schon gefallen lassen, freilich nicht geheimrätliche, aber die gleiche, wie wir sie auch unsern Eltern entgegenbringen. Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren letzten Brief; er hat mir grosse Freude gemacht; ich empfinde das, was Sie mir sagen, wahrhaftig nicht als Wasser in meine Begeisterungen oder Entrüstungen, ganz im Gegenteil, nichts zwingt mich mehr, über die gerade bei mir vorherrschenden Stimmungen hinweg ruhig nach dem Wesentlichen, Bleibenden zu fragen und zu suchen wie Ihre Einwendungen, die aus einer so grossen Ruhe und Vertiefung in das, was an bleibenden Werten 440 Das Sommersemester begann am 15. April 1914. 441 Wernle meint hier sein „Neutest. Seminar für jüngere Semester: Synoptiker, Do. 6–8.“ Vgl. das Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Basel im Sommersemester 1914, Basel 1914, 3. 442 Samstags „pbl.“ (publice) 10–12; siehe Vorlesungsverzeichnis, ebd. 443 Diese erste Fassung der Vorlesung wurde sehr gut besucht. Franz Zimmerlin berichtet, dass sich „wohl über 80“ Hörer einfanden, darunter auch Mediziner und Naturwissenschaftler. Zimmerlin an Thurneysen, Brief vom 24. Mai 1910. 444 Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1923–1925.

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und schaffenden Kräften hinter dem Geräusch des Augenblicks steht, stammen. Wahrhaftig, Ihre ganze, grosse historische Arbeit ist mit allen Mühen, die sie verursacht, keineswegs ohne direkten Wert für unser Gegenwartsleben; ich empfinde das bei jedem Ihrer Briefe und bei jeder Schrift: Sie erarbeiten da einfach Einsichten und Klarheiten, die uns allen zu Gute kommen, uns die Augen öffnen und uns ruhiger und geduldiger machen in unserm Arbeiten. Ich habe mit vielen andern einfach doch einen festern Stand dadurch, dass Sie uns zur Seite stehen; vielleicht scheint es von ferne bei manchen unsrer Aktionen nicht gerade darnach auszusehen, aber im innersten Grunde ist es doch so. Und ich wünsche Ihnen zu Ihrem Geburtstag445 mit allem Guten für Ihr und Ihrer Familie äusseres Ergehen, dass Sie uns allen auch als Lehrer und Führer so erhalten bleiben möchten, wie wir Sie bis jetzt haben durften. Auf Ihr Referat in Lenzburg freue ich mich; ich kann selbstverständlich gut kommen; den Verhandlungen in Baden446 kann ich abends und folgenden Tags noch beiwohnen; sie sind ja meist doch nicht so concentriert und fortlaufend, dass man nicht kommen könnte, ohne den Anfang gehört zu haben; es treten meist immer wieder ähnliche und verwandte Gedankengruppen auf, sodass man doch noch einen bestimmten Eindruck von den gerade herrschenden Ansichten mitnehmen kann. Ich muss das wenigstens nach der letztjährigen Tagung im Nidelbad447 vermuten. Auch finde ich, ich habe schon so ein wenig aus aargauischer Solidarität zu kommen; so ganz verlassen bin ich doch nicht von diesen Gefühlen. Karl Barths Abfertigung durch Preiswerk448 und seine letzte Erwiderung449 werden Sie gesehen haben. Ich selber war mit der Form seines ersten Artikels in keiner Weise einverstanden; sachlich denke ich ungefähr so, wie seine letzte Einsendung es ausdrückt. Nur meine ich, dass, da vorläufig bei der Minorität, in der wir stehen, überhaupt nicht viel zu wollen ist, auch das Opponieren, das K.B.450 so zu lieben scheint, nicht viel wert hat, und möchte das kräftig unterstreichen, was Sie mir geschrieben haben, dass der wertvolle und zukunftskräftige Teil unsrer Arbeit ja ganz anders wo liegt als in der Kirchenpolitik. 445 Wernle feierte am 1. Mai 1914 seinen 42. Geburtstag. 446 Siehe oben Anm. 434. 447 Das Datum dieser religiös-sozialen Tagung in Nidelbad (Kanton Zürich), die wahrscheinlich von Hans Bader initiiert worden war, ließ sich nicht ermitteln. Siehe dazu Bajohr: Ursprung 265. 448 Richard Preiswerk in: Basler Nachrichten, Jg. 70, Nr. 187, 24. April 1914, 1. Beilage, [1 f.], kritisierte den dritten Bericht von „K.B.“ über die aargauische reformierte Synode, der in der vorhergehenden Sonntagsnummer der „Basler Nachrichten“, Nr. 179, 10. April 1914, 3. Beilage, [1], erschienen war, als „so obenhin und einseitig, daß eine Richtigstellung nicht kann vermieden werden.“ Preiswerk polemisiert in diesem Artikel heftig gegen „K.B.“ Zu Barths Synodenbericht und dem historischen Kontext siehe Barth: Vorträge 1914–1921, 3–8. 449 Barths Duplik „Nochmals die letzte Sitzung der aargauischen reformierten Synode“ erschien in den „Basler Nachrichten“, Jg. 70, Nr. 193, 28. April 1914, 2. Beilage, [3]. Sie ist abgedruckt in Barth: Vorträge 1914–1921, 33–35. 450 Karl Barth.

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Ich muss schliessen. Franz Zimmerlin schrieb mir, es finde heute eine Gedächtnisfeier für unsern unglücklichen Freund E. Z. in Diegten451 statt; da möchte ich teilnehmen. Ich war furchtbar bestürzt, als die Zeitungen sein Ende meldeten. Eben noch hatten wir ihn in Aarau gesehen, und jetzt – Nächste Woche, Sonntag abend – Mittwoch hoffe ich wieder einmal nach Basel kommen zu können, um ein paar Freitage zu haben. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie auch ein wenig sehen darf; ich werde es jedenfalls versuchen. Es grüsst Sie, Frau Prof. und Hans recht herzlich Ihr alter Schüler Eduard Thurneysen. Nr. 69. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 26. Mai 1914 NL 92 III A 13, 33 Verehrter Herr Professor, Meine Mutter schreibt mir, Sie hätten vergangenen Sonntag zu St. Theodor die Predigt gehalten, von der Sie mir bei m.[einem] letzten basler Besuch etwas andeuteten. Sie hat ihr einen ganz besonders tiefen Eindruck gemacht. Nun möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht so freundlich wären und mir die Predigt für ein paar Tage überliessen; ich würde sie selber gern lesen, Sie predigen ja so selten, dass Sie diesen Wunsch begreifen werden, und dann möchte ich sie vor allem auch daraufhin durchlesen, ob wir nicht wieder ein grösseres Stück daraus in der „Glocke“ abdrucken könnten, und möchte Sie zugleich um Erlaubnis dafür bitten. Sie haben mit dem letzten Fragment, das wir unter dem Titel „Weltüberwindung452“ gedruckt haben, vielen eine Freude gemacht. Wenn es Ihnen immer möglich ist, möchte ich Sie bitten, uns diesen Wunsch zu erfüllen. Sie machen uns und den vielen, die auch unter Ihren Freunden und Schülern die „Glocke“ lesen, eine Freude damit. Aber vielleicht haben Sie sie schon sonst wie zur Veröffentlichung gegeben, dann stehen wir natürlich gern zurück. Vorgestern hatte ich einen recht wohl besetzten Tag. Sie sehen an dem

451 Emil Zimmerli (1878–1914) war zunächst Kaufmann und seit 1902 Generalsekretär des CVJM. Nach dem Theologiestudium war er von 1912 bis 1914 Pfarrer in Diegten-Eptingen. Er verstarb am 23. April 1914 an den Folgen eines Autounfalls. Siehe dazu: Blätter der Erinnerung an Pfarrer Emil Zimmerli, o.O. [1914]. 452 Siehe Anm. 259.

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beiliegenden Inserat453, dass ich, in den Bahnen meines vielgeschäftigen Freundes Lauterburg in Saanen454 wandelnd, mich mit einem Gemeindevortrag über die Kirche versucht habe. Gott Lob ist der Versuch über Erwarten gut gelungen. Trotz des trüben Wetters war der Besuch ausgezeichnet. Ich habe ganz einfach v.[on] Greyerzs Laienwünsche455 vorgenommen und in Auswahl besprochen. Eine grosse Mühe kostete also die Vorbereitung nicht, aber die bunte Anschaulichkeit und Fülle dieser Stimmen aus dem Volke fesselte die Zuhörer und regte ihr Interesse an, und ich merkte, wie da mancher ausgesprochen fand, was er selber etwa schon bei sich gedacht hatte. Zugleich bot sich mir die erwünschte Gelegenheit, in aller Freiheit einmal Dinge auszusprechen, die sich sonst nicht so leicht sagen lassen, z. B. über meine Stellung zu den kirchlichen Richtungen; oder allerlei kleine Missbräuche, die die Laienwünsche geiseln, und die sich auch in m.[einer] Gemeinde finden, ans Licht zu bringen und Verbesserungsvorschläge zu machen, z. B. in betreff der kirchl.[ichen] Handlungen. Ich schloss den Vortrag ab mit den Voten, die eine energische Stellungnahme der Kirche nach aussen fordern, in der Alkoholund sozialen Frage. Dann fasste ich alles dahin zusammen: die Kirche hat vielerlei Fehler und Mängel, wir wollen und können sie nicht verherrlichen; aber andrerseits hat sie, das zeigt gerade auch die Kritik dieser Laien, eine wunderbar grosse Aufgabe. Es handelt sich bei ihr um das Beste und Tiefste, das uns vermittelt werden soll, um das Evangelium Jesu. Und so kann schliesslich die Antwort auf die Frage: was fehlt der Kirche? immer wieder nur lauten: es fehlen ihr viele einzelne, Männer und Frauen aus allen Kreisen und an allen Orten, die vom Evgl [Evangelium] ergriffen sind und Ernst damit machen wollen. Mit diesen Ausführungen schloss ich. Ich habe mir selber wieder eine Antwort zu geben gesucht in diesem Vorträglein auf das Kirchenproblem. Und die ganze Veranstaltung gestaltete sich zu einem kleinen Schritt auf dem Wege, der mir bei meiner Arbeit hier vorschwebt: Aufbau einer wirklichen Gemeinschaft aus meinen Dörfern in ge453 Der Text des Inserates lautet: „Kirchgemeinde Leutwil. Nächsten Sonntag, den 24. Mai 1914, wird Herr Pfarrer Thurneysen einen Gemeindevortrag halten über das Thema: Was fehlt unserer Kirche? Der Vortrag findet statt nachmittags 4 14 Uhr im Schulhaus Leutwil und wird abends 8 Uhr im Gemeindesaal Dürrenäsch wiederholt. Es soll nach dem Vortrag Gelegenheit zu freier Aussprache geboten werden. Freundlich ladet ein Die Kirchenpflege.“ 454 Otto Lauterburg war Klassenkamerad von Karl Barth in Bern gewesen und Pfarrer in Saanen (Kanton Bern). Nicht zu verwechseln mit dem Berner Otto Lauterburg (1873–1927), der die religiös-soziale Zeitschrift „Der freie Schweizer Arbeiter“ herausgab. 455 Karl von Greyerz: Laienwünsche an die schweizerisch-reformierte Landeskirche. Referat am ersten schweizerischen Volkstag für kirchliche Arbeit in Zürich den 19. Okt. 1911, Bern 1912. Greyerz hatte 1911 eine Umfrage unter den Mitgliedern der reformierten Kirchen der Schweiz durchgeführt, deren Antworten er dem Vortrag zugrunde legte. Deutlich wurde der Wunsch nach einem stärkeren sozialen Engagement der Kirchen. Siehe Mattmüller I, 161 f.

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meinsamer Arbeit und gemeinsamem Vorgehen aller derer, die ein Herz dafür haben. Es ergab sich denn auch eine kurze, aber interessante Diskussion, die keineswegs nur an der Oberfläche blieb, sondern namentlich dank einem Votum des Kirchpflegepräsidenten und Gemeindeammanns von Dürrenäsch456 wirklich in die Tiefe ging. Er stellte ganz einfach die Frage, die ihm die Hauptsache sei; alle diese kleinern oder grössern Verbesserungen beim Gestalten des Gottesdienstes seien nur äusserliche Nebensachen dagegen: warum geht man überhaupt am Sonntag zur Predigt? Was hat man davon? Und beantwortete sie für sich in einer feinen und persönlichen Weise, forderte aber die Andern auf, nun auch herauszurücken, was denn auch teilweise geschah. Man könnte fast sagen, der Mann sei kutterisch orientiert. Am Vormittag in der Predigt hatte ich eine Einzelfrage der Zusammenarbeit von Pfarrer und Gemeinde herausgegriffen, die Mithilfe der Eltern an der relig.[iösen] Jugenderziehung, und die Eltern am Sonntag vorher extra dazu eingeladen; sie waren denn auch ziemlich zahlreich erschienen. Das nächste, was ich nun doch versuchen will, ist eine Confirmandenvereinigung; ich habe Ihnen bereits von der Absicht erzählt. Ob die jungen Leute in der rechten Weise darauf eingehen, ist mir freilich noch eine offene Frage. Nun, eine grosse Mühe bedeuten ja solche Versuche nicht, und wenn sie gelingen wie der vorgestrige, sind sie doch etwas wert. Im Seenger Kirchenstreit457, der immer noch tobt, bin ich nun zur festen Überzeugung gekommen, das Pfr. Koerber ein kranker Mann ist, der einfach einmal eine gründliche Erholung durchmachen sollte, sonst weiss er bald nicht mehr, was er in seinen Erregungszuständen für dumme Sachen sagt und tut. Dietschi, Müller-Birrwil458 und ich haben in diesem Sinne kürzlich eine gemeinsame Eingabe an den Kirchenrat gerichtet, damit diese Quälerei des kranken und überreizten Mannes endlich einmal ein Ende nimmt.459 Die relig.[iös]-soziale Conferenz in Baden460 brachte wieder mehrfach die 456 457 458 459

Siehe oben Anm 312. Siehe oben Anm. 404. Julius Friedrich Müller. Das Schreiben vom 17. Mai 1914 befindet sich in den Akten zu den Kirchenratssitzungen im Archiv der Reformierten Landeskirche Aargau. Es lautet: „[…] Nach unseren eigenen Beobachtungen, sowie nach Aussagen zuverlässiger Personen der Kirchengemeinde Seengen kommen wir zum Schluss, dass Pfarrer Koerber ein schwerer Neurastheniker ist, dass man es also mit einem kranken Mann zu tun hat. Ein ärztliches Gutachten würde Ihnen unsere Auffassung bestätigen. Darum halten wir dafür, der schwere Konflikt mit einem Teil der Gemeinde könne nur von diesem Gesichtspunkt aus verstanden und gelöst werden. Wir erlauben uns daher, Sie zu bitten, in dem Sinne vorzugehnen, dass Sie Pfarrer Körber und die Gemeinde zur Erkenntnis dieser Sachlage bringen. So allein kann ein menschlicher Weg gefunden und eine Katastrophe verhütet werden. Wir glauben uns um der Verantwortung willen, die wir unserm Kollegen und seiner Gemeinde gegenüber haben, zu dieser Erklärung verpflichtet und ersuchen Sie der Kirchenpflege Seengen Kenntnis davon zu geben.“ Siehe dazu ferner die Kirchenrats-Protokolle 1910–1914 aus dem Kanton Aargau (Anm. 404), 449. 460 Siehe dazu oben Anm. 435.

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feine und persönliche Aussprache, die diesen Kreis auszeichnet. V.[on] Greyerz war da und griff wieder sehr temperamentvoll und wie immer anschaulich und fein in die Verhandlungen ein. Er hat mich für einen Augustsonntag zum Predigen in Kandersteg engagiert, während er gleichzeitig in Kandergrund461 predigen muss; das ist so Sitte während der Saison. Ich gehe gern und benütze dann die Gelegenheit, um die Lötschbergbahn und die Ausstellung ein wenig zu besichtigen.462 Ihr Artikel über Boussets Buch ist noch nicht erschienen?463 Ich freue mich auf die Lektüre. Herzlich grüsst Sie, Frau Professor und Hans Ihr alter Eduard Thurneysen. Nr. 70. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 26. Mai 1914 NL 290: B 346, 39 Lieber Herr Pfarrer! Haben Sie vielen Dank für Ihren Brief. Wie hat mich Ihre Erzählung von Ihrem Kirchensonntag begeistert & gefreut. Das Beste ist, wenn Sie so einzelne Menschen einmal zur Aussprache bringen können. Es wird doch ganz anders lebendig bei uns als noch vor ein paar Jahren & Greyerz hat da ein entschiedenes Verdienst. Nun wünsche ich von Herzen guten Erfolg zu Ihrem Vorhaben mit den Konfirmanden. Erzählen Sie mir gelegentlich davon. Ich komme mit grosser Freude von Frenkendorf zurück. Wie anregend ist eine solche vertrauliche Aussprache, wenn man so jeden das vorbringen hört, was er auf dem Herzen hat oder beim Nachdenken gefunden hat. Wenn ich das mehr hätte, gäbe ich viel darum. Und bei diesen Leuten weiss man wirklich, dass es allen ernst ist. In dem, was Sie sagten, war mein Herz ganz auf Ihrer Seite, ich sage übrigens S 117464 unten nicht viel anderes. Aber mein Verstand, 461 Kandersteg und Kandergrund sind Orte im Berner Oberland. 462 Die Lötschbergbahn war eine 1906 gegründete private Eisenbahngesellschaft. Im Juli 1913 wurde der Lötschbergtunnel von Kandersteg nach Goppenstein eröffnet, der den Kanton Bern mit dem Wallis verbindet. 463 Siehe dazu unten Anm. 590. 464 Siehe dazu Paul Wernle: Evangelisches Christentum in der Gegenwart. Drei Vorträge, Tübingen 1914, 117: „Mit der Moralpredigt machen wir’s wahrlich nicht, auch nicht mit der Kritik und dem Protest und der Empörung, – Kräfte müssen wir schaffen, die wir den Kräften der Selbstsucht und Lieblosigkeit entgegenstellen können, und ich wüßte keine Kraft, die dem

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dh in diesem Fall, meine Kenntnis gerade der frommen Menschen der Geschichte zwingt mich zu den Reserven, die ich gemacht habe. Wenn Sie zB das Leben Luthers & Calvins vornehmen, welchen andern Eindruck müssen Sie da bekommen & sind doch gewiss beides Gottesmänner. Die Epochen des Geistes & des Getrieben Werdens sind in der Regel Episoden von nicht zu langer Dauer, dann kommt der mühsame Kampf, mit Niederlagen & das Ausschreien nach Erlösung. Und wie gesagt, am Schluss von Jesu Leben „quillt“ es auch nicht heraus. Und wissen Sie: ich bin froh darüber. Ohne das würde ich verzweifeln. Wenn ich aber sehe, wie diese grossen Gottesmänner Mühe hatten in ihrem Leben mit sich selbst & andern, dann bekomme ich Mut. Es kommt sicher die Stunde, wo Sie das auch besser begreifen. Wir sind eben hier nicht zu Hause, sondern auf dem Kampfplatz, das wird mir klarer jeden Tag. Fragen Sie einen rechten Soldaten, ob er auch mit Geist & Enthusiasmus seine langen Märsche mache. Ich wenigstens habe anderes gehört. Darum freue ich mich, dass unser Gott so geduldig & barmherzig ist & seine Kinder hindurch führt durch viel geistverlassene Wüsten. Aber bleiben Sie jetzt nur bei dem, was Ihnen das Höhere scheint, wir wollen doch dasselbe. Mein Aufsatz über Bousset465 will kaum vom Fleck, o[ft] komme ich im Tag eine Viertelstunde dazu, oft mehrere Tage oder eine Woche lang gar nicht, so viel anderes drängt sich zusammen. Die letzte Nr [Nummer] der Rundschau466 hat mich aber bestimmt, unter allen Umständen ihn zu schreiben & drucken zu lassen. Das Triumphgeschrei, das Brückner467 da erhebt, zeigt mir, dass der Unsinn Mode wird. Denn es ist z[um] T[eil] nichts als Unsinn, ich weiss, was ich schreibe. Aber es ist eine bittere Sache, wenn es um wirkliche Fr[eu]nde geht. Ich schreibe nicht mit leichtem Herzen.468 Beiliegend sende ich Ihnen meine Predigt, ich habe manches anders, deutlicher & anschaulicher gesagt, kann es aber nicht mehr eintragen. Sie können daraus etwas nehmen, wenn Ihnen wirklich etwas passt. Mir kam es gerade auf das an, was auch heut in Fr[enkendorf]469 mir nicht gefiel: dass wir nicht unbestimmt aufs Wunder warten sollen, sondern anfangen sollen die

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gleich käme, wenn einer wirklich Gott im Herzen trägt, den ernsten heiligen Gott, der doch der Gott wunderbarer Liebe und Güte ist. Wer diesen Gott Jesu einmal als seinen Gott kennengelernt hat, der ist auf dem besten Weg zum Bergpredigtchristentum.“ Siehe dazu unten Anm. 590. Theologische Rundschau (ThR). Martin Brückner: Zur neutestamentlichen Christologie, in: ThR 17 (1914), 169–187. Brückner war ein Schüler William Wredes (1859–1906) und hatte das Buch „Die Entstehung der paulinischen Christologie“, Straßburg 1903, veröffentlicht. Siehe dazu den Brief von Wernle an Bousset vom 30. Oktober 1914, in: Özen: Bousset, 189, in dem er berichtet, dass er sich intensiv während des Sommersemesters mit Bousset beschäftigt und seinen „Antibousset“ am letzten Tag vor seinen Sommerferien fertiggestellt habe. Ihm war bei aller Freundschaft zu Bousset eine kritische Auseinandersetzung wichtig und er rechtfertigte sich Bousset gegenüber mit den Worten „da Deine Aufstellungen Schule machen und [Martin] Dibelius und Brückner u. a. sie fast wie allgemein anerkannt behandeln“ (ebd.). Frenkendorf.

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Gebote zu halten & zu lieben. Das ist aber so primitiv, dass ich nicht weiss, ob es für die Glocke passt. Mein Schwager hat mir sehr Erfreuliches aus Ihrer Badener Zusammenkunft erzählt. Im Grunde liebe ich die Leute & freue mich nur, dass Sie da sind, suche das auch kräftig zum Ausdruck zu bringen in einer Besprechung der Volkshauspredigten, die im KB erscheinen soll.470 Ich bedaure nur manches Lieblose & Unwahre, was übertreibend von Bader & besonders von Ragaz gesagt wird, zumal vor diesen Adressaten. Die Leute haben keinen Sinn für Ritterlichkeit & sie können, sobald sie auf Christentum & Kirche zu reden kommen, nicht bei der Wahrheit bleiben. Und das ist schade, weil ich nichts so sehr wünsche, als dass diese Wahrheit gehört werde & wirke. Aber deshalb ist es doch ein feines Predigtbuch. Wollen Sie mir meine Predigt bald wieder zusenden, man begehrt sie sonst noch: Sie werden den Passus, den Sie wollen, bald herausgeschrieben haben. Mit herzlichem Gruss in alter Freundschaft Ihr P. Wernle Nr. 71. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 30. Mai 1914 NL 92: III A 13, 34 Verehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen recht herzlich für die Übersendung der Predigt und Ihrer so freundlichen Begleitworte. Beides hat mir grosse Freude gemacht. Ihre seltenen Predigten haben immer etwas Programmatisches, Wegweisendes für uns. So habe ich aufs neue die einfache Zurückführung der sozialen Pflichten auf die Liebesforderung des Evangeliums empfunden. Dafür bin ich Ihnen dankbar, weil es mir in meiner eigenen Orientierung aufs neue zurechthilft. Auf dieser klaren Linie kann man fest und sicher stehen wie sonst nirgends, aber allerdings, in Zürich wird sie, abgesehen von Kutter, nicht vertreten, vielmehr, wie mir scheint, als zu simpel, zu wenig hinreichend empfunden und hingestellt, obwohl sie tiefer und vor allem verpflichtender, zwingender ist als alle andern Motive. Mein letztes Artikelein in der Glocke471 scheint mir, wenn 470 Paul Wernle: Volkshauspredigten, in: KBRS 29 (1914), 88–91; siehe dazu auch die Auseinandersetzungen in: KBRS 29 (1914), 96 f. 471 Eduard Thurneysen: Unsere roten Brüder, in: Die Glocke 22, Nr. 8, Mai 1914, 53 f.

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ich darüber nachdenke, ebenfalls auf dieser Linie zu stehen; R. Pestalozzi472 sagte mir denn auch, Ragaz sei nicht zufrieden damit gewesen; es fehle die Hauptsache darin. Ich danke Ihnen, dass Sie diese „Linie“ wieder so klar und unnachgiebig herausgestellt haben; und dass man von hier aus auch zu den schärfsten, dringlichsten Forderungen kommt, wird ebenfalls deutlich genug, deutlicher vielleicht als in dem Bergpredigtvortrag. Auch das verstehe ich gut, dass Sie die soziale Frage, wenn auch als eine der allerwichtigsten, so doch nicht als die einzige Frage und Aufgabe des Christentums darstellen. Pfr. v. Greyerz473 hat das in Baden auch gelegentlich mit Nachdruck betont und nachgewiesen an simplen, aber anschaulichen Beispielen aus seiner Praxis. Ich finde immer mehr, es sei bei aller Verschiedenheit der Nuancen doch in der Grundstellung ein grosser und tiefer consensus aller, wie soll ich sagen? Aufrichtigen vorhanden, der nur von den äussersten Flügeln auf beiden Seiten bestritten wird; ich habe das in Baden auch mit Betrübnis an meinem Freund Gerber474 erfahren, dem ausser ein paar wenigen kaum ein Mensch gesinnungstüchtig genug ist, ich natürlich nicht, aber auch Peter und Karl Barth sind ihm zu sehr freundschaftlich verbunden mit den christl.[ichen] Weltleuten, eine besonders starke Abneigung hat er gegen Pfr. von Greyerz oder gar Hartmann und Schmidt.475 Schade, diese lächerliche Exclusivität ist nicht vom guten, vor allem für ihn selber nicht. Leider hat der Ausschnitt aus Ihrer Predigt in der jetzt erscheinenden Nummer der Glocke keinen Platz mehr, ich habe telephonisch gefragt, sie ist bereits zur Hauptsache gedruckt. So erscheint er erst in der Julinummer476, ich bin auch noch nicht ganz entschieden, welchen passus ich meinen Freunden schicken solle, die Wahl fällt mir schwer, wahrscheinlich das Mittelstück vom Bleiben bei Jesus, vielleicht etwas gekürzt und ergänzt durch Sätze aus dem Schlussteil. Ich habe, um ruhig entscheiden zu können, die ganze Predigt abgeschrieben. Die Volkshauspredigten habe ich gekauft, aber noch nicht lesen können. Pfr. v. Greyerz meinte in Baden, der Versuch an sich sei sehr zu begrüssen, einmal einfach in diesem Volkshaussaal zu den Leuten zu reden, das wolle der liebe Gott heute von uns Pfarrern, dass wir auf alle verfügbaren Weisen das Evangelium hinaustragen. Das habe ich gut verstanden. Mit grosser Achtung habe ich in den basler Nachr.[ichten] von der Arbeit gelesen, die Pfr. Benz in der Arbeitslosenfürsorge geleistet hat.477 Das finde ich 472 473 474 475 476

Rudolf Pestalozzi. Karl von Greyerz. Max Gerber. Benedikt Hartmann und Theodor Schmidt. Die Predigt von Wernle erschien nicht im Juli 1914. Erst im Septemberheft der Glocke (86) erfolgte ein Abdruck aus dem „Kirchenblatt“ 44 (1914) unter der Überschrift: „Ist auch ein Übel in der Stadt, das der Herr nicht tut? Am 3, 6.“ Das scheint allerdings nicht die erwähnte Predigt zu sein. 477 Siehe dazu die Basler Nachrichten, Jg. 70, Nr. 242, 27. Mai 1914, 2. Blatt, [1] und Nr. 243,

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bewundernswert. In solcher praktischen sozialpolitischen Arbeit soll dann doch schliesslich aller soziale Eifer sich bewähren. Ich würde überhaupt, darum gefragt, meine Anforderungen, oder die ideale religiös-soziale Stellung in die 3 Punkte zusammenfassen: 1. Einsetzung für den Sozialismus, als Gesinnung, nicht als politisches Princip verstanden. 2. Es ja nicht verhindern, oder dagegen, im Gegenteil dafür arbeiten, dass die Sozialdemokratie die ihr gebührende Stellung im Staate hat: Proporz!478 3. Praktische sozialpolitische Arbeit eben in dem feinen Sinn, wie Benz es tut. So, nun habe ich wieder genug geplaudert und muss an der morgigen Predigt weiterarbeiten. Ich danke Ihnen nochmals für alles und grüsse Sie herzlich Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 72. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 7. Juli 1914 NL 92: III A 13, 35 Verehrter Herr Professor, Mein Freund Brunner479 schickt mir ein Exemplar seiner Arbeit480 mit der Bitte, es Ihnen zu übermitteln. Das will ich nun natürlich gerne tun, obwohl er es trotz seines persönlichen Unbekanntseins mit Ihnen selber hätte besorgen dürfen. Aber er scheint es nicht für angemessen zu halten. Der Empfehlung bedarf die Schrift weiter nicht. Sie war wenigstens für mich sehr aufschlussreich und gehaltvoll. Ich habe sie sorgfältig gelesen und würde sie gern ir-

28. Mai 1914, 1. Beilage, [1] sowie Nr. 245, 29. Mai 1914, 2. Beilage, [1]: „Die staatliche Arbeitslosenkasse von Basel-Stadt“. Benz war der Präsident der Arbeitslosenkasse und hatte den Jahresbericht 1913 verfasst, den die Basler Nachrichten abdruckten. 478 Eine proportionale Stellung der Sozialdemokratie in den staatlichen Organen wurde angestrebt. 479 Emil Brunner war zunächst 1912 in Leutwil (Kanton Aargau) Vikar, bevor Thurneysen dort Pfarrer wurde, dann an anderen Orten und seit 1916 Pfarrer in Obstalden (Glarus). 480 Emil Brunner: Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis. Beitrag zu einer Theorie des religiösen Erkennens, Tübingen 1914; hierbei handelt es sich um Brunners Zürcher Dissertation.

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gendwo kurz anzeigen. Vielleicht im Kirchenblatt.481 Sie hat mir viel zu denken gegeben, weniger wegen ihres eigentlich sie beschäftigenden Gegenstandes als wegen ihrer Voraussetzungen, namentlich in Hinsicht auf die Erkenntniskritik. Ich habe mir das Recht dieser modernen, an Bergson482, Eucken483 und ä.[hnlich] orientierten Betrachtungsweise wieder einmal gründlich überlegen müssen und sie an den Theorieen der Marburger Cohen484 und Natorp485 gemessen und mich aufs neue von der totalen Unmöglichkeit überzeugt, in der Rel.[igions]philosophie mit den Grundsätzen der Marburger Transscendentalphilosophie durchzukommen. Es ist mir während dieser Überlegungen so deutlich wie eigentlich noch nie aufgestiegen, was für eine furchtbare Verarmung und Vergewaltigung der Wirklichkeit diese kritische Immanenzlehre bedeutet. Von der Welt der Religion ganz zu schweigen, was für dürftige Fetzen religiöser Überzeugungen erlaubt einem Natorps Religion innerhalb der Humanität! Und der Grundfehler dieser Erk.[enntnis]kritik liegt da, wo sie ihren Vorzug sieht, in der Straffheit und Strenge, mit der sie durchweg alles in der Anschauung gegebene Qualitative begrifflich aufarbeiten zu können behauptet. Was sich nicht von den Begriffen fressen lässt, wird abgehauen, existiert nicht; fragt man laienhaft bescheidentlich darnach, so lautet die überlegene Antwort: das ist keine Frage der Philosophie, die mag Buridans Esel486 beantworten, wie Cohen einmal an einer Stelle der Ethik487 höflich bemerkt. Ich habe von Kants „lückenhafterem“ System, seiner scharfen Scheidung zwi.[schen] Anschauung und reinen Verstandesbegriffen, seinem schon in d. Kr. d. r. V.488 auftauchenden ahnungsvollem Reden vom Ding an sich als einer letzten Einheit von Denken und Sein neue Hochachtung bekommen. Ganz zu schweigen von seiner Ethik. Zu was für Gewalttätigkeiten die Gefolgschaft Cohens in der Ethik führt, die sich ja bei ihm aufs engste auf die Logik bezieht, zeigt mir die ebenfalls erst erschienene Arbeit von

481 Im KBRS erschien keine Rezension und die Bibliographie von Thurneysen verzeichnet auch keine solche. 482 Henri Bergson ist einer der bedeutendsten Vertreter der Lebensphilosophie und beeinflusste neben Brunner beispielsweise auch Ragaz. 483 Rudolf Christoph Eucken. 484 Hermann Cohen. 485 Paul Natorp. 486 Das philosophische Gleichnis meint einen Esel, der in der Mitte von zwei gleichartigen und gleich weit entfernten Heuhaufen steht und verhungert, da er sich weder für den einen noch für den anderen entscheiden kann. 487 Cohen gebrauchte das Bild von Buridans Esel folgendermaßen: „Nicht darum allein dreht sich das Interesse an dem Begriffe der Handlung, ob sie in dem Handelnden einen absolut anfangenden Urheber hat; das ist die metaphysische Frage, die Buridans Esel beantworten mag. Aber dafür schlägt dem modernen Menschen das Herz, ob die Handlung einen absoluten Zweck hat.“ Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, (2. Nachdruck der 2. rev. Aufl., Berlin 6 1907), Hildesheim/Zürich/New York 2002, 321. 488 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft.

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Loew(-Naumann) über die Schleiermachersche Ethik489, die durchwegs an Cohen-Kant gemessen und – zu leicht erfunden wird. Aber wie gesagt, Brunner berührt diese Voraussetzungen höchstens streifend, sie sind mir geradezu zu wenig klar ausgesprochen – aber das ist wohl mehr nur ein subj.[ektives] Bedürfnis, denn die Arbeit will etwas anderes leisten, und was er da über das Symbol als Ausdrucksform des relig.[iösen] Bewusstseins ausführt, war mir grösstenteils ganz neu und interessant, voll von allerlei feinen psychologischen Beobachtungen. Als Ganzes ist sie ein feines Zeugnis für den philosophischen Geist, der unsre Zürcherschule beherrscht, und den sie vor allem Ragaz verdankt. Es ist überhaupt interessant, zu sehen, wie von allen Seiten und unter den verschiedensten Führern die intellektualistische Orientierung bekämpft wird. Während Brunners Arbeit, die gern Bergson und Eucken, auch etwa Rickert490, Windelband491, Troeltsch nennt, bekam ich Karl Heims Gewissheitsproblem492 in die Hand, Ernst Staehelin hatte es mir übermittelt, und soviel ich sehe und aus erst mehr flüchtigem Durchlesen verstehe, ist hier ebenfalls eine scharfsinnige Begründung der Gewissheit auf, nun wie soll ich sagen, die überlogische Intuition angestrebt; freilich das Buch will erst historische Vorarbeit leisten und soll durch einen systemat.[ischen] Teil ergänzt werden. Ich finde das alles sehr hoffnungsvoll, man gibt im Innersten diesen Versuchen hundertmal recht und erstarkt in dieser innern Befreiungstendenz selber dadurch. Vorgestern habe ichs nun also einmal mit den frühern Confirmandenjahrgängen versucht. Ich hatte sie von der Kanzel aus zu einer Vereinigung in einem zu diesem Zweck von mir gemieteten Zimmer einer Wirtschaft eingeladen. Sie erschienen denn auch, aber natürlich zur Hauptsache die Töchter, die man nach Karl Barth sowieso immer vom Erfolg abziehen müsse – ich finde das nun zwar gar nicht – immerhin auch einige Burschen. Ich hielt ihnen eine erbauliche Ansprache, nach Schluss schlug ich vor, entweder einen gemeinsamen Spaziergang, oder ich wolle ihnen noch etwas weiteres erzählen; ich hatte die Cromwellbriefe493 bei mir. Aber da es prächtig schönes Wetter war, wollte alles ausrücken, sodass wir dann einfach in den Wald zogen. Gerade „imposant“ war der Verlauf also nicht, aber doch so, dass ichs wiederholen will, vielleicht dann in etwas veränderter Form. Ich persönlich hatte Freude an diesem Zusammensein mit nur jungen Leuten.

489 Wilhelm Loew: Das Grundproblem der Ethik Schleiermachers in seiner Beziehung zu Kants Ethik, Berlin 1914. 490 Heinrich Rickert war ein Schüler Wilhelm Windelbands und Philosophieprofessor in Freiburg im Breisgau und Heidelberg. 491 Der Philosoph Wilhelm Windelband gilt als Begründer des südwestdeutschen Neukantianismus. 492 Karl Heim: Das Gewissheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher, Leipzig 1911. 493 Siehe Anm. 119.

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Am Samstag vor 8 Tagen bis Montag war Pfarrer Kutter494 mein Gast. Ich habe von neuem einen tiefen Eindruck von ihm bekommen; er hat einfach etwas Prophetisches, oder wenn mans modern sagen will religiös-schöpferisches in sich, das in oft ergreifender Weise aus dem herausklingt, was er sagt. Und dabei ist er philosophisch und systematisch ungemein durchgebildet und hat eine merkwürdige dialektische Kraft und Gabe. Für mich war das Zusammensein sehr anregend, aber auch anstrengend. Nun hat ja Kutter eine Freude in seiner Familie erlebt, indem Freund Theo Pestalozzi495 sich in sturmhaft rascher Eile mit Kutters Tochter Vreni verlobt hat. Ich muss mir fast denken, dass der alte, ehrwürdige Kantonsrat ein wenig den Kopf geschüttelt hat ob der sozialistischen Nachbarschaft, in die er nun mit Kutter kommt. Theo Pestalozzi hat seit ein paar Wochen eine Doktorarbeit bei Walther Köhler496 über die Katholischen Gegner Zwinglis im Kanton Zürich497; er kam letzthin einmal zu mir und weckte mit der Begeisterung, mit der er sich nun an Zwingli machen will, auch mein Zwingligewissen wieder. Rudolf Pestalozzi hat den Auszug aus Ihrer Predigt, den ich „Vom Bleiben bei Jesus“ überschrieben habe, noch nicht gedruckt, weil er scheints die Nummern von langer Hand her vorbereitet und die Hauptartikel im Voraus bestellt, so z. B. den seines Bruders in der letzten Nummer für die Ferien. Er wird ihn später bringen.498 Ich habe ihm kürzlich auch ein Stück aus einer Lutherpredigt übers Abendmahl zum Abdruck geschickt, das ich gern veröffentlicht sähe; es ist merkwürdig kühn und radikal in der Liebesforderung, die Luther dort ans Abendmahl knüpft.499 Die Zürcher haben mich als Festprediger bei ihrer Jahresfeier im Fraumünster ausersehen. Das ist nun ja sehr ehrenvoll, aber ich scheue mich, ja zu sagen aus allerlei innern Gründen. Ein Innerer-Missionsfestredner bin ich nun und nimmer, und das liebe, brave Vereinspublikum insbesondere in Zürich erwartet dergleichen; zudem habe ich an den Stimmen, die die „roten Brüder“500 im Verein selbst ausgelöst haben, gesehen, dass auch die Jungen vielfach noch gar nicht da sind, wo ich stehe; und die „roten Brüder“ waren im Grunde wahrhaftig nicht zu radikal, im Gegenteil. Also der Mund des Vereins bin ich noch nicht, eher so eine Art Beunruhiger. Nun, ich wills noch überlegen. 494 495 496 497

Hermann Kutter. Theodor Pestalozzi heiratete Lydia Verena („Vreni“) Kutter 1918. Professor für Kirchengeschichte in Zürich. Theodor Pestalozzi: Die katholische Opposition gegen Zwingli in Stadt und Landschaft Zürich 1519–1531, Diss. phil. Zürich 1917; ein Teildruck erschien unter dem Titel: Die Gegner Zwinglis am Grossmünsterstift in Zürich, Zürich 1918. 498 Die Predigt erschien im Mai 1915; Paul Wernle: Vom Bleiben in Jesus, in: Die Glocke 23, Nr. 8, Mai 1915, 48 f. 499 Das Stück scheint nicht erschienen zu sein. 500 Unsere roten Brüder, in: Die Glocke 22, Nr. 8. Mai 1914, 53 f., hier geht es um das Verhältnis zur Arbeiterjugend, das Thurneysen verbessern und intensivieren will.

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Nächste Woche gehe ich mit m.[einen] Eltern für 8 Tage ins Prättigau, nach Seewis.501 Ich freue mich sehr auf diese Ort- und Luft- und Menschenveränderung. Verbringen Sie Ihre Ferien wieder im Wallis? Können Sie mir nie während der Ferien, vielleicht bei Gelegenheit einer Archivreise die Freude eines langen oder kurzen Besuches machen? Aber ich möchte Sie gar nicht drängen, ich weiss wohl, wie ausgekauft Ihre Zeit ist und darf Sie ja immer wieder von Zeit zu Zeit in Basel sehen. Es grüsst Sie mit Frau Prof. und Hans in alter Herzlichkeit Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 73. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen [Basel], den 11. Juli 1914 NL 290: B 346, 40 L. H. Pfarrer! Wollen Sie mir doch gütigst mitteilen, wo denn Ihr Freund Brunner zu Hause ist, damit ich ihm danken kann. Ich nehme sein Buch502 mit in die Ferien nach Klosters.503 Dank für Ihren Brief. Es wäre mir lieber, Sie liessen meine Predigt ganz ungedruckt, ich habe das Gefühl, sie sei eine Einheit & es lasse sich nicht gut ein Brocken herausnehmen. Ich freue mich auf die Ferien am Mittwoch. Herzl[ichen] Gruss Ihr erg.[ebener] P. Wernle

501 Kanton Graubünden. 502 Siehe Anm. 480. 503 Kanton Graubünden.

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Nr. 74. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Bahnpost Rhät. Bahn, 19. Juli 1914 NL 290: B 346, 41 L. H. Pfarrer! Es ist schade, daß Sie so kurz in Seewis504 bleiben können; ich habe Sie nicht für so kirchlich gehalten. Ich kam gestern abend hier an, tüchtig abgeklagt505. Es geht alle mal ganz gut bis zur letzten Stunde; steht aber die Mühle still, dann spürt man erst, wie müd man ist. Es wird rasch besser werden, aber gleich nach Seewis hinauf möchte ich nicht. Ich hoffe, Sie sehen meinen Freund Hartmann506, mit dem ich gestern fr[ohe] Stunden erlebte. Er fühlt sich doch zu den Jungen gehörig, wie ich auch, aber nicht zu den Sektierern und Fanatikern. Ich hätte so gern mit Ihnen geplaudert und hoffe, es gebe später Gelegenheit. Sie melden mir also gelegentlich Brunners Adresse. Einstweilen schwärme ich gar nicht für das Symbolische, will aber sehen, ob er mich bekehrt. Herzl[iche] Grüße an Ihre Familie Ihr P. Wernle Nr. 75. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Bahnpost Rhät. Bahn, 21. Juli 1914 NL 290: B 346, 42 L. H. Pfarrer! Sie haben vergessen, mir Brunners Adresse aufzuschreiben. Ich fange zu lesen an und bin bei den einleitenden Capiteln als Rel[igions] Historiker arg ent504 Thurneysen wohnte dort in der „Pension Tischhauser“. In einem Brief an Emil Brunner vom 19. August 1913 spricht er von „der religiössozialen Pension von Frl. Tischhauser“; dabei handelt sich um die Pension Vilan, die gegenüber dem heutigen Hotel Scesaplana lag; siehe dazu Frank Jehle: Emil Brunner. Theologe im 20. Jahrhundert, Zürich 2006, 60; 633. Siehe auch Thurneysens Postkarte an Max Gerber vom 7. Juli 1914: „Ich gehe nächsten Montag für 8 Tage zu m. Eltern nach Seewis zu Frl. Tischhauser.“ 505 Wahrscheinlich: abgeplagt. 506 Benedikt Hartmann.

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täuscht. Religion als Selbstbeurteilung und aus der Selbstbeurteilung entspringend, das ist auch eine Art Atheismus. Ich bin erstaunt, wenn Sie das kritiklos lesen konnten, bloß weil es ein Freund schrieb und möchte niemals ein solcher Freund von Ihnen sein. Aber es kommt wohl nachher besser und ich will nicht urteilen vor Schluß. Haben Sie nochmals herzlichen Dank für Ihren lieben Brief. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 76. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 28. Juli 1914 NL 92: III A 13, 36 Lieber Herr Professor, Brunner hat mir eben erst seine Adresse für die nächsten Wochen gesandt: 1 York street (Browning Settlt.) London S.E. Ich habe die Eingangscapitel s.[einer] Schrift durchaus nicht widerspruchslos geschluckt; in meinem Exemplar beweisen das sehr kräftige Ausrufwörter gerade auch an den offenbar auch von Ihnen beanstandeten Stellen. Es ist eben die alte Sache: Wir müssen principiell bei allen systemat.[ischen] Untersuchungen den Ausgang vom Selbstbewusstsein nehmen als dem zunächst sicher Gegebenen, und da gerät man leicht in Gefahr das Historische zu verkürzen. Aber für die Hauptleistung der Abhandlung kommen diese anfängl.[ichen] Fehlgriffe nicht so in Betracht. Für Ihre Karte von Davos507 danke ich Ihnen herzlich. Herr B.[runner] und ich haben offenbar am selben Tage an Sie gedacht, und Sie werden das Zeichen davon erhalten haben. Jetzt sind m.[eine] Eltern bei mir eingetroffen. Wenn nur das Wetter besser wäre. Es stimmt zur Weltlage. Vielleicht hellt beides in Kürze sich auf. Mit herzl.[ichen] Grüssen auch v.[on] m.[einen] Eltern an Sie, Frau Prof. und Frl. St.508 Ihr Ed.Th.[urneysen] 507 Kanton Graubünden. 508 Margrit Stähelin.

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Nr. 77. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Kurhaus – Kloster Dörfli509, den 31. Juli 1914 NL 290: B 346, 44 Lieber Herr Pfarrer! Besten Dank für Brunners Adresse. Ich danke ihm vorläufig per Karte und schreibe ihm von Basel aus ausführlicher. Das Missliche scheint mir sein einseitig ethischer (kantischer) Religionsbegriff. Dem gegenüber vertritt Schleiermacher oder B[ernhard] Duhm510 eine viel reichere und mannigfaltigere Auffassung. Die Offenbarung Gottes durch die sittliche Norm ist ein Letztes und Höchstes, auf das alles hinzielt. Aber zuvor teilt sich Gott p|kuleqyr jai pokutq|pyr511 mit, und das kann gerade der Idealist bei seiner verächtlichen Stellung zur Außenwelt nicht fassen, es zerfällt ihm stets in Illusion oder bloß subjektive „Deutung“. Während ich es mit allen Frommen ebenfalls für reales Entgegenkommen Gottes halten möchte. Daneben aber enthält Brunners Buch prachtvolle, klärende und stärkende Ausführungen und ich fühle mich sehr angeregt dadurch. Jetzt gibt uns Gott durch die Weltereignisse512 eine Probe für unser Gottvertrauen. Der Postulatengott hält nicht stand, wir müssen uns dem Allmächtigen anvertrauen. Ich finde es bitter, daß alle mir Bekannten bloß klagend und richtend bei den causae secundae513 stehen bleiben und niemand zu Gott durchdringen will.514 Klosters in Graubünden. Bernhard Duhm. Vielfach und vielgestaltig, siehe Hebr 1, 1. Nach dem Mord an dem österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaar am 28. Juni 1914 in Sarajewo richtete die österreichisch-ungarische Regierung am 23. Juli ein scharfes Ultimatum an Serbien. Obwohl Serbien das Ultimatum in fast allen Punkten angenommen hatte, wurde eine Teilmobilmachung der österreichisch-ungarischen Armee verordnet. Ein britischer Vorschlag auf Einberufung einer Botschafterkonferenz der Großmächte zur friedlichen Lösung des Konflikts wurde in Wien und Berlin zurückgewiesen. Am 28. Juli erklärte ÖsterreichUngarn Serbien den Krieg. Dieser Schritt entfesselte den 1. Weltkrieg in Europa; vgl. Wolfgang J. Mommsen: Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 17), 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2002, 22–40; sowie Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014. 513 Die fundamentaltheologischen Begriffe „causa prima“ (erster Grund) und „causa secunda“ (zweiter Grund), die aus der Antike stammen und in der Scholastik wichtig wurden, differenzieren das Wirken Gottes als primäres und das Tun der Menschen als sekundäres. 514 Zu den theologischen Kontroversen im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg siehe Thomas K. Kuhn: „Die empfindlichsten und stacheligsten Patrioten“? Die reformierte Schweiz zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Hans-Georg Ulrichs (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, Neukirchen-Vluyn 2014, 299–326.

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Lesen Sie einmal Zwingli De providentia Dei.515 Mit herzl Gruß an Sie und Ihre Familie, Ihr P. Wernle Nr. 78. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 9. September 1914 NL 92: III A 13, 37 Verehrter Herr Professor, Darf ich mich zu einem kurzen Plauderstündchen einstellen, ohne allen besondern Anlass, einzig aus dem Bedürfnis heraus, in diesen Tagen und all den schweren Dingen gegenüber, die sie mit sich bringen, wieder einmal zu Ihnen zu kommen und mein Herz zu leeren. Sie hören mir stets alles so geduldig und väterlich ab, auch das was Ihnen unreif und verkehrt vorkommt und wissen mir stets das zu sagen, was mich corrigiert, und was ich nötig habe. Das fehlt mir sehr; ich bin so allein mit m.[einen] Gedanken, höre selten oder nie eine überlegene Kritik, höchstens so ein paar freundliche Complimente hie und da nach einer Predigt. Und ich spüre gerade gegenwärtig sehr deutlich, dass sich vieles nicht bewährt, was ich bisher gedacht und für richtig gehalten hatte, und lebe in dem ständigen Gefühl, dass ich bei all meinem Denken und Reden einfach an Versuchen, unvollkommenen und sicher oft genug nicht geratenen Versuchen bin, des ernsten und schweren Themas, das Gott uns stellt im Weltlauf, für mich selber und zu Handen meiner ja jetzt sehr eifrig gewordenen Kirchgänger und Gemeindeglieder einigermassen Herr zu werden. Ich komme mir oft fast wie desorientiert vor, die ganze Struktur der Welt, die dieses Chaos aus sich entlässt, wird einem von neuem rätselhaft. Sie ist viel härter, dunkler, ungeheurer, als das bisherige Geschehen ahnen liess. Und der einzelne Mensch ist viel mehr Objekt im Weltgeschehen als Subjekt; er muss mit sich geschehen lassen, und alles Selberkönnen und Leiten- und Wirkenwollen hört mit einem Male sehr merkbar auf. Und doch hatte sich unsere reformierte Art mehr oder weniger gerade auf diese Seite hin eingestellt und muss nun umlernen. Das Entscheidende ist, dass dabei der Glaube nicht verloren gehe, dass der ganze Prozess des Weltgeschehens etwas Gottgewolltes und Gottgeleitetes ist, seien wir nun Subjekt oder Objekt in demselben, und sei er in all seinen Stössen und Widerständen noch so rätselhaft. So habe ich Ihren ersten Artikel über die

515 Sermonis de providentia Dei anamenema, 1530.

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Amosstelle im Kbl.516 verstanden und bin sehr dankbar gewesen dafür. Wenn ich auch die ganze Haltung, die daraus zu uns redete, viel mehr als lutherisch und eben so ein wenig im Gegensatz zu unserm reformierten Wesen empfand. Wir haben bisher so stark von unsrer, dass ich so sage, Mitarbeiterpflicht geredet, und sollen uns nun wieder ganz anders tief und neu auf unsere Kindesstellung und unser Kindesrecht besinnen im sich bescheiden, stille sein, Gott machen lassen und vertrauen. Das war und ist ungefähr mein Verständnis Ihrer Parole. Darf ich Ihnen sagen, dass ich gewünscht hätte, Sie hätten ein wenig ausführlicher geschrieben und Ihr Verständnis der schweren Frage nach dem Bösen in der Welt breiter entwickelt. Das ist mir in diesen Tagen ganz neu klar geworden, wir stehen auch den ganz grossen Ausbrüchen des Bösen gegenüber mit dem Gefühl, dass wir ganz schuldig sind, und zugleich dass wir uns ganz unter Gott stellen dürfen. Wieso das Böse in die Welt kam, das bleibt das grosse Geheimnis, das die Bibel mit dem tiefsinnigen Mythos vom Fall umschreibt und dabei eben das eine deutlich werden lässt, dass wir, wo wir uns mit diesen Mächten einlassen und mit diesem verbotenen Feuer spielen, schuldig werden und erlösungsbedürftig. Aber zugleich und trotzdem bleibt auch die gefallene Welt und Menschheit Gottes. – Ich lese viel in den christlichen Blättlein oder den gerade herauskommenden Mobilisationspredigten unserer Stadtpfarrer517 herum und entdecke auch da, mir zum Trost, mehr Versuche als wirklich gelungene Lösungen und klare Antworten. Am tiefsten und einfachsten redet für mein Urteil immer wieder Benz in s.[einem] Volksfreund.518 Unverständlich visionär kam mir Ragaz vor.519 Beschwerden und Anstoss bereitet mir die Christl.[iche] Welt mit ihrem hilflosen Abdruck der nun in diesem Punkt nicht ganz auf der Höhe des Evgls [Evangeliums] stehenden Lutherschrift520 und überhaupt ihrer teilweise sehr wenig bussfertigen und wenig christlich-neutralen deutschen Militärreligion. Ich kann nicht helfen: der Überfall von Belgien und der dortige Verzweiflungs516 Paul Wernle: Ist auch ein Uebel in der Stadt, das der Herr nicht tut? Am. 3, 6, in: KBRS 29 (1914), 133 f. 517 Hier sind z. B. die Predigten zu nennen von Hermann Kutter: „Ihr seid alle Brüder“. Predigt vom 2. August 1914 bei Gelegenheit der Mobilisation der schweizerischen Armee, Zürich 1914 oder Gustav Benz: Am Vorabend des Krieges. Predigt gehalten am 2. August 1914 zu St. Matthäus, Basel 1914; ders.: Im Blick auf ’s Kreuz. Predigt gehalten am 16. August 1916 zu St. Matthäus, Basel o. J. Ferner Johannes Sutz; Adolf Keller: Gotteshilfe in Kriegszeit. Sechs Predigten, Zürich 1914; Johannes Hauri: Nicht Frieden, sondern das Schwert. Acht Kriegspredigten, Basel 1914. 518 Beispielsweise seien genannt: Gustav Benz: Auch im Dunkeln wohnt Gott, in: Christlicher Volksfreund. Blätter zur Förderung christlichen Glaubens und Lebens 40 (1914), 373 f.; ders.: Begegne deinem Gott!, in: a. a. O., 398–401; das ist eine „Feldpredigt vor Truppen der Grenzbesetzung am 9. August 1914“; ders.: Gottes und der Menschen Rat. (Betrachtungen über eine alte Kriegsgeschichte), a. a. O., 401–404; 412–414; 423–427; 437–440; 452–456; 466–468; 476–480; 490–492; 502–504; ders.: Du wirst mehr tun, denn ich sage, in: a. a. O., 421–423. 519 Leonhard Ragaz: Das Gericht, in: NW 8 (1914), 298–304. 520 „Die Christliche Welt“ druckte seit dem 20. August 1914 in Auszügen Luthers Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können“ aus dem Jahr 1526 ab.

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kampf und seine deutsche Beleuchtung geben mir zu schaffen, so sehr ich aus allen natürlichen Motiven Deutschland einen vollen Sieg wünsche. Darf ich Ihnen auch sagen, dass ich mit Ihrem letzten Artikel im Kbl.521 über Reich Gottes und Vaterland für meine Person innerlich nicht recht fertig wurde. Nicht dass ich ihn irgendwie inhaltlich anfechten wollte, aber, wenn ich so fragen darf: ist es wirklich nötig, einen solchen Nachdruck daran zu wenden, uns zu sagen: Ihr sollt und dürft Gott und das Vaterland zusammendenken und jeder für das seine beten? Ich denke und hoffe, das tun wir alle. Aber dass es ein grauenvoller Widerspruch ist und bleibt, dass wir die Hände zum einen Gott und die Waffen gegen einander erheben, das, scheint mir, ist doch der eigentlich entscheidende Punkt und dasjenige, was uns zum Bewusstsein gebracht werden muss, wenn es mit uns vorwärts gehen soll, und wir etwas lernen aus dieser Zeit. Gewiss, jeder betet für sich und sein Land, Deutsche, Franzosen, Russen, sogar der Türke für den Deutschen, wie zu lesen war, aber das ist eben das für mein Gefühl tief Beunruhigende, das ich allerdings nicht ändern kann, über das ich aber auch nicht beruhigen soll und kann, weil ich eben bete: dein Reich komme. Entschuldigen Sie dieses freimütig geäusserte Bedenken. Ich empfand die Sache so und dachte, es interessiere Sie vielleicht. Ich erlaube mir, Ihnen eine der letzten Predigten beizulegen, nicht weil ich sie für etwas besonderes hielte, sie hat vielmehr gerade im Aufbau recht kräftige Mängel; sondern einfach aus dem erwähnten Bedürfnis, Ihnen im Vertrauen wieder einmal zu sagen, was und wie ich ungefähr denke. Wenn es Ihnen aber im Geringsten Mühe macht, sie zu lesen, so legen Sie sie doch ja ruhig bei Seite. Ich weiss auch wohl, dass sie sehr einseitig ist; sie wuchs, wie Sie sehen werden, aus allerlei Äusserungen m.[einer] Leute heraus und ist einer der vielen Versuche, an den wir Pfarrer gegenwärtig wie gesagt mit unsern Sonntagspredigten stehen. Überhaupt muss ich sagen: ich habe oft eigentlich Angst vor dem Sonntag und wäre von Herzen froh, wenn ich nicht immer aufs neue denken und reden müsste. Es fällt einem schwerer in dieser Zeit als gewöhnlich und macht einen müder. Man ist manchmal wie am Ende. Letzten Sonntag hatte ich den schönen Text aus der Gethsemaneszene: wachet und betet….522 ich hatte das starke Gefühl, es gebe schon so viele, die sich wieder vorschnell beruhigen und in den alten Leichtsinn verfallen. Überhaupt: der letzte Krieg wird auch das noch nicht sein; neben manchen erfreuenden Zügen von Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft, erlebt man jetzt gerade auch oft genug Beispiele von wahrhaft erschreckender Selbstsucht und Härte. Ich danke Ihnen, dass Sie mir so lange zugehört haben und grüsse Sie, Frau Professor und Hans in alter Herzlichkeit. Ihr Eduard Thurneysen. 521 Paul Wernle: Reich Gottes und Vaterland, in: KBRS 29 (1914), 141 f. 522 Markus 14, 38; Matthäus 26, 41; vgl. auch Lukas 22, 40; 46.

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Nr. 79. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 22. September 1914 NL 92: III A 13, 38 Verehrter Herr Professor, Ich muss Ihnen noch recht herzlich danken für Ihren ausführlichen Brief und ganz besonders für Ihre klare und gerade Kritik an meiner Problempredigt. Es war für mich ein wahrer Segen, Sie wieder einmal so persönlich und offen hören zu dürfen, und ich habe Ihnen nur recht geben müssen in Ihren Aussetzungen. Allerdings predigte und predige ich auch nicht immer so, im Gegenteil, es ist wirklich eine Ausnahme, aber eben weil es eine gedankliche Auseinandersetzung war, wollte ich sie Ihnen schicken; ich habe in die nächste Glocke523 ein Artikelein geschrieben, das dann die andern Töne, Trost und Zusprache, bringt und auch so quasi aus meinem Predigen heraus geschrieben ist. Reflexion und einfaches Trauen und Glauben geht bei mir ein wenig neben einander her, bald überwiegt dies, bald jenes. Auch meine Empfindungen Rade gegenüber haben sich geändert, und ich schäme mich ein wenig, weil ich mir sagen muss, dass ich im Kt. Aargau es ja sehr leicht habe, zu kritisieren, wo andere in hartem innerm und äusserm Kampfe stehen. Ich habe unterdessen per Zufall ein paar grosse deutsche Zeitungen in die Hand bekommen, und sehe, wie hoch und vornehm Rade doch der Breite der politischen Journalistik gegenüber dasteht. Und in der neuesten Nummer, die ich in die Hände bekam, spricht er ja sehr offen über das, was auch wir als Bankerott der christl.[ichen] Gesellschaft empfinden.524 Ich habe jetzt nach dem Bettag525 ein wenig Ferien und hoffe daher nächste Woche für ein paar Tage, nach Basel kommen zu können. Ich freue mich darauf; Ihr väterlicher Brief hat mir wieder von neuem gezeigt, wie gut mir eine Aussprache mit andern tut, namentlich wenn ich auch Correktur und 523 Eduard Thurneysen: Trost im Kampfe, in: Die Glocke 23, Nr. 1, Oktober 1914, 1 f. Es handelt sich um eine Auslegung von Mt 26, 41 angesichts des ausgebrochenen Krieges. 524 Martin Rade: Der Bankerott der Christenheit, in: ChW 28 (1914), 849 f. Er beklagt angesichts des Krieges den „Bankerott der Christenheit als eines völkerverbindenen Ganzen. […] Ich zweifle nicht an Gott, aber ich verzweifle an der Christenheit. Ihr Bankerott ist unabwendbar, er ist schon Tatsache“ (850). 525 Die Tradition des „Grossen Gebets der Eidgenossen“ ist erstmals 1517 belegt. Die evangelische Tagsatzung beschloss während des Dreißigjährigen Krieges 1639 den jährlichen Bettag, 1643 folgten die katholischen Stände. Die Bettage wurden allerdings an unterschiedlichen Tagen begangen. Erst 1832 legte die Tagsatzung den Bettag für alle Kantone auf den dritten Sonntag im September fest. Siehe dazu Victor Conzemius: Bettag, in: HLS 2, 357; ferner Rosa Schaufelberger: Die Geschichte des Eidgenössischen Bettages mit besonderer Berücksichtigung der reformierten Kirche Zürichs, Langensalza 1920; Peter Ochsenbein: „Das grosse Gebet der Eidgenossen“. Überlieferung, Text, Form und Gestalt, Bern 1989.

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Kritik erfahre. Und in diesen Zeiten verlangt man ganz besonders nach ein wenig Anschluss. Eben fällt mir ein, dass in diesen Tagen, wohl am Samstag? Frau Professor den Geburtstag hat. Ich wünsche ihr von Herzen viel Gutes. Ihr Haus am Heuberg ist für uns junge und alte Studenten und Schüler eine stets offene Heimat, und für dieses stete, gastliche Offenstehen Ihrer Tür sind wir auch der Frau Professor zu bleibendem, herzlichem Dank verpflichtet, wie für ihre stete warme und persönliche Anteilnahme an unserm ganzen Ergehen. Wenn ich nicht Blaukreuzler wäre, würde ich einen kräftigen Schluck auf das Wohl Ihrer verehrten Frau mir zu trinken erlauben. So muss es ohne das gelten! Ich freue mich, Sie auch wieder besuchen zu dürfen und grüsse Sie mit nochmaligem herzlichem Dank für Ihren Brief. Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 80. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 13. Oktober 1914 NL 92: III A 13, 39 Verehrter Herr Professor, Darf ich nun mit meiner Bitte um Ihre Predigt kommen und gleich die zweite dranknüpfen, mir wieder zu erlauben, wenn es sich machen lässt, ein Stück daraus für die nächste Nummer der „Glocke“ als Leitartikel bereitzustellen? Die Zürcher sind, weil die Redaktoren beide im Dienste sind, etwas in Verlegenheit und bitten mich wieder, für einen Leitartikel zu sorgen für die Nov.[ember-] oder Dez.[ember]nummer.526 Da dachte ich, ich dürfe Sie auf diese Weise darum bitten. Sie würden mir und meinen Freunden eine Freude machen, ich habe sie ihnen bereits in Aussicht gestellt. Ich werde das Manuskript nicht lange behalten. Ich fahre fort, zu verfolgen, was in Deutschland und Frankreich bei den geistigen Führern über den Krieg gedacht und gesagt wird. Eben las ich Harnacks, Troeltschs und Loofs Kundgebung in einer deutschen Monatsschrift527, die mir Wieser528 zukommen liess. Harnack rechnet sehr scharf mit

526 In beiden Nummern erschien kein Beitrag von Wernle. 527 Die „Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik“, Bd. 9, 1914/1915, hrsg. von Max Cornicelius, druckte am 1. Oktober 1914 folgende Beiträge ab: Ernst Troeltsch: Der Krieg und die Internationalität der geistigen Kultur, 51–58; Adolf von Harnack: Rede zur „Deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung“ im Berliner Rathaus am 11. August 1914,

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England ab, ebenso Loofs, das verstehe ich gut und finde die Mahnung an die engl.[ischen] Christen durchaus berechtigt, gleichsam vor der eigenen Türe zu wischen, wenn ich auch wünschte, dass die Hoffnung auf das Zusammengehen in der Zukunft, das doch einfach wieder kommen muss, schärfer zum Ausdruck gebracht würde. Troeltsch lässt diesen Glauben an die Einheit der Culturgemeinschaft stärker durchklingen. Ungefreut aber fand ich den Ton der vor ein paar Tagen in den Nachrichten abgedruckten Kundgebung deutscher Gelehrter529, und dass auch Herrmann530 mitunterschreiben konnte, hat mich betrübt. Was ich von dem Belgischen Schriftsteller Romain Rolland531 in einer Nummer des Journal de Gen ve532 las533, war – zwar natürlich ein wenig welsch-theatralisch – aber einfach vornehmer im Ton. Und der Ton ist bei allem sachlichen Recht, das man haben mag, doch in solchen Kundgebungen einfach nicht gleichgültig. Interessiert hat mich auch, was v.[on] SchulthessRechberg über die Militarisierung der deut.[schen] Cultur im Kirchenblatt schrieb.534 Ganz zufällig bekam ich letzthin ein paar Nummern des Protestantenblattes535 in die Hand; die Art von Fertigwerden mit dem Krieg, die da offenbar obenauf ist, ist nun allerdings erschreckend ungenügend, und das naive Toup 536, mit dem, wie ich gerade sah, Marbach537 von seinen Taten als Feldprediger schreibt, ist erstaunlich; Ernst Staehelin ist einer s.[einer] Zuhörer und beklagte sich über den Mangel an allem Tieferen und Ernsteren, das in der allgemeinen Versimpelung des Dienstbetriebes so not täte, ich kann s.[eine] Klage nun verstehen.

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5–12; ders.: Antwortschreiben auf ein Schreiben englischer Theologen, 19–28; Friedrich Loofs: Erinnerungen und – Fragen, 63–72. Gottlob Wieser. Abdruck des am 4. Oktober 1914 veröffentlichten Aufrufs von 93 Gelehrten: Ein Aufruf deutscher Gelehrter, in: Basler Nachrichten, 70. Jg., Nr. 477, 7. Oktober 1914, 1. Blatt, [1]. Siehe dazu Jürgen von Ungern-Sternberg und Wolfgang von Ungern-Sternberg: Der Aufruf „An die Kulturwelt!“, Stuttgart 1996. Wilhelm Herrmann. Romain Rolland (1866–1944) war Schriftsteller und Pazifist und erhielt 1915 den Nobelpreis für Literatur. Siehe dazu Michael Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000. Eine 1826 gegründete und ab 1850 täglich in Genf erscheinende liberale Zeitung. Rolland hatte sich am 29. August 1914 in einem offenen Brief an Gerhard Hauptmann gewandt. Dieser hatte zuvor in seiner Schrift „Gegen die Unwahrheit“ ausländische Kritik an der grausamen Kriegsführung energisch zurückgewiesen. Rolland protestierte gegen die Verletzung der Neutralität Belgiens. Ferner ist sein Aufruf „Au dessus de la mel e“ zu berücksichtigen, der im „Journal de Gen ve“ vom 22./23. September 1914 erschien und den Thurneysen meinen dürfte. Ragaz veröffentlichte ihn in deutscher Übersetzung in: NW 8 (1914), 426–429. Gustav von Schulthess-Rechberg: Reflexionen zum Kriege, in: KBRS 29 (1914), 157 f.; 161 f.; 165–167; 169 f. Das „Schweizerische Protestantenblatt“ vertrat eine freisinnige Position. Schweizerisch steht der Begriff auch für „Unverfrorenheit“. Otto Marbach: Von der Juragrenze, in: Schweizerisches Protestantenblatt 37 (1914), 285–287; ders.: Aus dem Soldatenleben, in: a. a. O., 319 f., und ders.: Eine Simplontour mit fünf Feldpredigten, in: a. a. O. 326–328.

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Ich habe gegenwärtig ein paar schwierige Sachen in meiner Gemeinde zu erledigen, hoffe aber auf guten Ausgang im Frieden. Ich merke nur deutlich, dass wo es Geld kostet, der Bauer sehr schwer zu haben ist, auch wenn die Aktion noch so nötig wäre. Daneben gibt es aber auch immer wieder erfreuliche Erlebnisse in gegenteiliger Richtung. Gestern dachte ich stark an die Binninger Zusammenkunft538 zurück: wir hatten wieder einmal nach langer Unterbrechung das aarg.[auische] Pfarrkränzli; aber diese Kränzli ältern Styls mit viel Kaffeetrinken und Essen und entsprechenden Gesprächen behagen mir nicht; da sind Zusammenkünfte wie die in Binningen doch ganz anders anregend und wertvoll. Es macht mir Freude, Ihnen und Frau Professor einen kleinen Gruss aus meinem Obstgarten schicken zu dürfen. Hoffentlich kommt er gut an. In alter Dankbarkeit Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 81. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 30. Oktober 1914 NL 290: B 346, 45 Lieber Herr Pfarrer! Ich glaube, ich habe Sie in meinem letzten Brief etwas unsanft angefasst, nachdem Sie mir gerade das schöne Obst schickten. Sie ersehen daraus meine Ehrlichkeit & mein Vertrauen zu Ihnen. Nehmen Sies mir darum nicht übel. Bei der Sache bleibe ich freilich, dass ich wünschen möchte, Sie könnten mehr Ihren eigenen Weg gehen & weniger auf die andern horchen. Sie sind fabelhaft beeinflussbar. Auch von mir, was nichts bessert. Und ich sehne mich nach Menschen, die ihren eigenen Weg gehen mitten durch die Welt von Moden und Schlagworten hindurch. Ich [gl]aube, ich hatte Ihnen Troeltsch versprochen.539 Es gefällt mir im Anfang nicht al[le]s, besonders nicht das hohe Lob, das er der Friedenszeit 538 Wahrscheinlich ein Treffen von Pfarrern, wie sie recht häufig stattfanden. Gottlob Wieser war von 1914 bis 1920 Pfarrhelfer in Binnigen und gehörte auch zu der Gruppe junger Theologen und Pfarrer, die sich am 21. Juli 1914 in Safenwil zu einem „Religiös-sozialen Kränzchen“ getroffen hatten; siehe dazu Barth: Vorträge 1914–1921, 48. 539 Es dürfte sich um folgende Rede handeln: Ernst Troeltsch: Nach Erklärung der Mobilmachung. Rede gehalten bei der von Stadt und Universität einberufenen vaterländischen Versammlung am 2. August 1914, Heidelberg 1914.

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spendet. Man muss aber seine Rede nehmen ganz als spontanen Ausdruck der erregten Stimmung & da hat er im zweiten Teil das rechte Wort doch prächtig gefunden. Wir haben doch keine Ahnung von dem, was drüben vorgeht, wir können es nicht haben. Da sollen wir uns doch in Acht nehmen vor zu vielem Kritteln & Nörgeln des vielen Fehlerhaften. Denken Sie einmal, unsre Existenz stünde von einem Tag zum andern in Frage. Wie vieles liessen wir da fahren & wie anders als in der Zeit des Friedens & Reflektierens stellte sich da unsre Seele dar! Ihr Bruder war eben bei mir & sagte mir, Ihre Mutter weile bei Ihnen. Grüssen Sie sie von mir. Und wenn Sie sich gegen mich zu wehren haben und finden, ich thue Ihnen unrecht, dann frisch drauf los! Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 82. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 3. November 1914 NL 92: III A 13, 40 Verehrter Herr Professor, Ich finde im Augenblick wirklich keine Zeit zu einem ausführl.[ichen] Brief; nicht einmal der letzte Sonntag nachmittag war frei, und die Wochentage muss ich neben der andern Arbeit schulmeistern; ich empfand es als Pflicht, einzuspringen, weil sonst überhaupt die ganze Schule ausgefallen wäre. Aber da will ich Ihnen doch mit ein paar Worten vielmal danken für Brief und Karte. Wahrhaftig, von übelnehmen und dergl.[eichen] war nie die Rede, und dass meine Äpfel und Ihre kräftigen Mahnungen zusammenfielen, das habe ich wirklich auch so empfunden als einen Beweis eines besonders feinen und geraden Vertrauens Ihrerseits. Für mich persönlich darf ich Ihnen sagen, dass mir Ihr Brief, der mich so dringlich aufmerksam macht auf die besondern Gefahren, die mir aus meiner lebhaften Gemüts- und Charakterverfassung erwachsen, sehr zu denken gegeben hat und immer noch gibt, und dass er mir zum Anlass geworden ist zur Erneuerung alter und ernster Vorsätze und Entschlüsse und mich als heilsame Warnung begleitet bei dem, was ich denke und rede und schreibe. Ich kann selber von meinem Gewissen aus nicht sagen, dass Sie einfach Unrecht haben und danke Ihnen für Ihre Warnung, wenn sie mir auch beschämend sein musste. Allerdings nur nachgeredet und nachgemacht ist sicher nicht alles, was Sie vielleicht bei mir und m.[einen] Freunden

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so empfinden, ich suche wirklich und wahrhaftig alle die Dinge und Gedanken, die ich aufnehme, innerlich zu verarbeiten und zu prüfen und habe oft einfach das Gefühl, dass es bei manchen jungen Theologen und Pfarrern nicht nur Selbständigkeit ist, wenn sie alles, was von den Neuen Wegen und Kutter und diesen Leuten ausgeht, glatt ablehnen, sondern ein bequemes Stehenbleiben. Als nicht ganz gerecht empfinde ich auch das, was durch das rein Persönliche und mich betreffende hindurchklingt in Ihrem Briefe als allgemeines Urteil über die Religiössozialen. Aber ich kann Ihnen wie gesagt im Moment nicht ausführlicher antworten, und es ist vielleicht gut so, denn Sie dürfen nun nicht den Eindruck haben, als wolle ich mich entschuldigen und dem ausweichen, was Sie mir als mich und meine persönliche Art angehend entgegenhalten. Nur noch ein Wort über das, was Sie von Karl Barth geschrieben haben. Ich habe mir erlaubt, ihn brieflich darüber zur Rede zu stellen. Er antwortet mir, er habe nie daran gedacht, eine solche allerdings geringe und einfach unwahre Bemerkung zu machen und müsse das Ihnen von ihm Gesagte nach Form und Inhalt und Sinn als einfach entstellt bezeichnen.540 Er glaubt, die Sache beruhe auf einem Missverständnis seines Vetters Högger541, dem er in einem Gespräch etwas gesagt habe von dem starken Einfluss, den die Zürcher auch auf die basler Theologen ausüben, wobei er sich auf mich glaubte berufen zu können. Pfr. H.[ögger] sei ihm sogleich ins Wort gefallen mit der Bemerkung, das sei den basler Lehrern, insbesondere Ihnen gleichgültig, Sie hätten überhaupt nie daran gedacht, etwas wie eine basler Theologenschule zu bilden, „worin ich ihm“, schreibt Barth, „selbstverständlich recht gab mit dem Bemerken, so sei es auch gar nicht gemeint“, was er gesagt habe.542 Barth bedauert sehr, dass Pfr. H.[ögger] die Bemerkung nun doch so behalten und weitergegeben habe. Er würde Ihnen wohl selber geschrieben haben, wenn ich ihn nicht gebeten hätte, es mir zu überlassen, weil die Angelegenheit doch in Ihrem Briefe an mich und mehr nur nebenbei erwähnt sei. Mir ist es sehr unangenehm gewesen, dass B.[arth] mich so als Schulbeispiel des eben von Zürich beeinflussten Baslers angeführt hat; ich bin wirklich innerlich und äusserlich in keiner Weise Parteimensch und will es gar nicht werden. Ich glaube im Grunde doch viel zu sehr an einen innersten Consensus aller ernsten Christen und hasse das Abspalten und Abtrennen von sog.[enannten] „Lagern“. Werde ich es gewahr, dass man mich so oder so zu einem solchen Lager rechnet, so protestiere ich jeweilen energisch und, wie ich glaube, mit innerm Recht. Mir ist darum auch Kutter immer sympathischer als Ragaz, weil er bei allem Parteimässigen aus starken principiellen Gründen nicht mitmacht und die politischen Versuche 540 Siehe dazu Barth – Thurneysen 1, 15 f. 541 Paul Högger, ein Vetter von Karl Barth, war von 1913 bis 1933 Pfarrer an der Großmünstergemeinde in Zürich und mit Paul Wernle befreundet. 542 Barth berichtet Thurneysen in einem Brief vom 28. Oktober 1914 über die Auseinandersetzungen mit Paul Högger; siehe dazu: Barth – Thurneysen 1, 15 f.

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nicht liebt. Im übrigen habe ich jedenfalls nie von ferne B.[arth] Anlass gegeben zu einer so hässlichen Bemerkung wie der gemeldeten. Da müsste ich wirklich alles verleugnen und auf den Kopf stellen, was ich von Ihrem Verhältnis zu den Studenten weiss. Ich habe Barth das alles sehr deutlich geschrieben. Barth dauert mich gelegentlich: er hat so eine heftige und aggressive Art, seine Sachen zu sagen, der Brief an Rade543 zeigt das wieder etwas, und doch ist es wirklich niemals seine Absicht, Händel zu suchen; er geniesst im Grunde, wie ich sehe, recht wenig Sympathieen infolge dieser seiner Art und empfindet das gelegentlich selber. Er ist in jedem Fall besser und nobler, als sein Styl manchmal ist. Die Zürcher schickten mir einen Aufruf an die Christen anderer Länder zum Unterzeichnen.544 Ich konnte mich aber nicht entschliessen, zu unterschreiben, weil mir dieses einander Anschreien mit vielen Unterschriften nachgerade widerwärtig vorkommt und sinnlos. Dieses Chorsprechen von Sätzen wie: „das Herz blutet uns“ hat überhaupt etwas lächerliches. Ich habe es Tischh.[auser] geschrieben. Die Rede von Troeltsch habe ich mit grossem Interesse gelesen. Mir war sein Beitrag in dem Theologenheft der Internat.[ionalen] Monatsschrift545 schon weitaus der sympathischste. Er hat einen wirklich vornehmen Ton. Sobald ich ein grosses Couvert habe, schicke ich Ihnen das Heft zurück. Pfr. Ruetschi546 hat mir 3 Bücher von Pfr. Hans Wirz547 zum Lesen und

543 Der Briefwechsel zwischen Barth und Ragaz wurde veröffentlicht in: NW 8 (1914), 429–438. Siehe dazu auch den Briefwechsel zwischen Barth und Rade, in: Barth – Rade, 100–122. 544 Siehe dazu aus freisinniger Perspektive die Kritik von Willy Wuhrmann: Der Krieg und die Religiös-Sozialen, in: Schweizerisches Protestantenblatt 37 (1914), 358 f. Das Schreiben „An die evangelische Christenheit in den kriegführenden Ländern“ war nach Wuhrmann von acht religiös-sozialen Pfarrern als Antwort auf ein Schreiben von deutschen Theologen gedacht. Sowohl in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung vom 4. September 1914, 843 f., als auch in der Christlichen Welt 28 (1914), 464, war der Aufruf „An die evangelischen Christen im Auslande“ ergangen. Der Text ist abgedruckt bei Karl Hammer: Deutsche Kriegstheologie (1870–1918), München 1971, 203 f. Die Zürcher forderten: „Suchet nicht Eure Rechtfertigung, sondern suchet die Gerechtigkeit vor Gott! Waget alle politischen und nationalen Bedenken von Euch zu werfen und mit uns zu bekennen: Wir sind alle schuldig.“ (Wuhrmann, 359). Zunächst war ein Entwurf des Aufrufs verschickt worden, auf den etwa 200 Personen reagierten. Siehe dazu die Notiz von Adolf Maurer, einem der „Zürcher Initianten“, in: KBRS 29 (1914), 184. Aufgrund der kritischen Einwände verzichteten die Zürcher Theologen auf die Veröffentlichung des Aufrufes und begründeten diese Entscheidung in der Erklärung „An die Theologen und Geistlichen der Schweiz“ (a. a. O., 205), die von folgenden Pfarrern unterzeichnet war: Carl Arbenz (1873–1932), Ernst Altwegg (1870–1955), Hans Bader (1875–1935), Karl Bär (1881–1953), Wilhelm Geyer (1860–1929), Theodor Goldschmid (1867–1945), Adolf Maurer (1883–1976) und Emanuel Tischhauser (1868–1943). Weitere Angaben zu den genannten Pfarrern bietet das Zürcher Pfarrerbuch. 545 Siehe oben Anm. 527. 546 Max Rüetschi. 547 Hans Wirz. Ernst Etter: Personalien, in: Zum Andenken an Hans Wirz, Pfarrer von Rorschach-

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eventuell Besprechen geschickt: „Erlösung“, „Gebet“ und „Religion in der Gegenwart“.548 Ich muss aber sagen, trotz aller meiner Liebe zu ein wenig Relig.[ions] philosophie kann ich mit diesen Sachen nicht viel anfangen. Es ist gar nichts Neues und Eigenes darin, es sind, wie mir scheint, die Bücher eines Grüblers, der mit sich ins Reine kommen will, aber durch alle geht so etwas Kaltes; er seziert das Religiöse Bewusstsein teilweise, wie mir scheint stark mit den Mitteln des ersten Teils der Glaubenslehre, aber wie einen Leichnam. Im übrigen waren die Sachen mir ganz neu, ich habe nichts von ihrer Existenz gewusst. Und weil ich noch nicht zu Ende gelesen habe, will ich nicht endgültig urteilen. Es ist schon spät, und ich muss schliessen; meiner Mutter habe ich den Gruss ausgerichtet, sie lässt ihn bestens erwidern. Mit herzlichem Gruss Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 83. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 14. November 1914 NL 290: 346, 43 Lieber Herr Pfarrer! Besten Dank für Ihren letzten Brief & dass Sie den meinen so aufgenommen haben. Ihre Antwort war mir eine Wohltat. Wegen K[arl] Barth lasse ich das Geschwätz gern auf sich beruhen; Sie werden aber begreifen, dass ich in diesem Punkt empfindlich bin & sein muss. Ich habe sonst die Discussion & den Widerspruch bei ihm immer gern gehabt. Heut nur kurz etwas anderes. Pfarrer Pletscher549 hätte gern Troeltsch, Protestantismus in d[er] modernen Welt, 2. Auf.[lage]550. Haben Sie etwa mein Goldach und evangelischer Religionslehrer am st. gallischen Lehrerseminar, Rorschach 1918, 1–7; siehe auch Stückelberger: Pfarrerschaft, 87. 548 Hans Wirz: Die Religion in der Gegenwart, Basel 1909; ders.: Die Erlösung. Eine Studie über die Frage: Wie wird das Leben lebbar?, Leipzig 1912; ders.: Die Psychologie des Gebets unter der Lebensgestaltung der Gegenwart, Haarlem 1914. 549 Ernst Pletscher. 550 Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, München/Berlin 1911. Dieser ursprünglich auf der IX. Versammlung deutscher Historiker in Stuttgart 1906 gehaltene Vortrag erschien zunächst in: HZ 97 (1906), 1–66, und als Sonderabdruck München/Berlin 1906. Die nicht als solche gekennzeichnete „zweite“ Auflage wurde erheblich erweitert.

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Exemplar, das ich nicht finden kann? Oder besitzen Sie es sonst? Sodann könnten Sie mir Kutters Predigt nach dem Kriegsausbruch leihen551, die ich noch nicht habe bekommen können? Neulich traf ich in meinen Gedanken mit Norman Angel552 zusammen & entsetzte mich in Erinnerung an Ihre Freude über dies Buch. Da haben Sie vorübergehend sich selbst & allen Idealismus vergessen, ich kenne Sie anders. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 84. Postkarte E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 15. November 1914 NL 92: III A 13, 41 Verehrter Herr Professor, Die Schrift von Troeltsch besitze ich weder selbst, noch habe ich sie je von Ihnen entliehen; ich habe sie seinerzeit in der 1. Aufl.[age] gelesen, die zweite kenne ich nicht. Soviel ich mich erinnere, habe ich sie schon bei meinem Bruder gesehen, falls er sie hat, könnte er sie Pletscher zur Verfügung stellen. – Ihren Artikel im Kirchenblatt553 habe ich mit grossem Interesse gelesen und bin gespannt auf die Fortsetzung. Wegen Norman Angel habe ich im Stillen bereits Busse getan, seine Hoffnung geht im Grunde auf eine Überwindung der Welt durch die Mittel der Welt selber, und das ist allerdings einfach Materialismus. Übrigens war meine Bemerkung in Binningen nicht als absolute Anerkennung dieser unmögl.[ichen] These gemeint, wie überhaupt damals bei diesem Reden ohne genaue Präparation manches Unhaltbare und Halbwahre zu Tage gekommen sein muss, dass ich nachträglich nur mit Unbehagen an alle diese Sünden denke. Am Donnerstag hatten wir wieder eine Synode, an der 551 Hermann Kutter: „Ihr seid alle Brüder“. Predigt vom 2. August 1914 bei Gelegenheit der Mobilisation der schweizerischen Armee, Zürich 1914. 552 Norman Angell: Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?, Berlin-Charlottenburg [1913]. Dieses ursprünglich 1910 mit dem Titel „The great illusion. A study of the relation of military power in nations to their economic and social advantage“ erschienene Buch, das Angell (1874–1967), einen britischen sozialliberalen Politiker und Schriftsteller, berühmt machte und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, setzte sich mit Krieg und Pazifismus auseinander und war der Beginn einer neuen Friedensbewegung. Angell erhielt 1933 den Friedensnobelpreis. 553 Paul Wernle: Gedanken über Krieg und Frieden, in: KBRS 29 (1914), 185–187; die Fortsetzung erschien auf den Seiten 187–191; 193–196; 201–204.

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wir, d. h. Dietschi und ich gern etwas Principielles zum Falle Seengen554 gesagt hätten, aber durch Mehrheitsbeschluss nicht zu Worte kamen. Mit herzl. Gruss Ihr Ed. Th.[urneysen] Nr. 85. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 24. November 1914 NL 290: B 346, 46 Lieber Herr Pfarrer! Hier sende ich Ihnen mit bestem Dank die 2 Kutterschen Predigten zurück555, damit sie nicht in meiner allgemeinen Unordnung untergehen. Ich kann allerdings persönlich gar nichts damit anfangen, es steht für mich alles von A bis Z in einer unrealen Welt, & hat mit dem unter Gott stehen, wie ich alle echte Frömmigkeit verstehe, gar nichts mehr zu thun. Kutter ist m[eines] E[rachtens] ein Mensch, der nur an sich glaubt & nur sich hört & sieht. Alle andern Menschen sind ihm Mittel, um seine Phantasien & Postulate anzuhören. Er will nicht [di]enen sondern herrschen über den Glauben der andern. Er kann gar nicht fragen, was sagt uns jetzt Gott durch dies Ereignis & was will er uns sagen, sondern er weiss alles vorher & dictiert von seinem fertigen Standort aus, was Gott hätte thun sollen. Mit dieser religiösen Art will ich in Ewigkeit nichts zu schaffen haben. Das ist m[eines] E[rachtens] einfach nicht Frömmigkeit, sondern Phantasterei. Ich weiss wohl, dass ich Ihnen damit wehe thue, aber ich kann nicht anders. Und Sie selbst werden wählen müssen. Es gibt da keinen Consensus. Da steht sich Religion gegen Religion gegenüber. Unbegreiflich ist mir manchmal nur, dass Sie in Marburg & bei Troeltsch & bei mir studiert haben wenn Sie gleich nachher allen Boden der Realität so rasch gegen das Traumland vertauschen konnten[.] Das könnte einem, der sich bemüht, die Jugend zur Wahrheit zu erziehen, wirklich Kummer machen. Aber es muss jetzt so sein, der Strom geht für ein Weilchen unaufhaltbar nach dieser Seite & man muss ihn schwimmen lassen. Ich verstehe Sie darin ganz wohl, dass Sie gern alle Menschen, die überhaupt etwas Rechtes wollen & denen es Ernst ist, gern zusammenbringen 554 Siehe dazu oben Anm. 404. 555 Neben der Predigt von Hermann Kutter, „Ihr seid alle Brüder“ (siehe oben Anm. 517) könnte Wernle folgende erhalten haben: Hermann Kutter: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben“. Predigt, gehalten am Bettag, den 20. September 1914, Zürich 1914.

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wollten. Das ist auch mein Bestreben & ich suche darum immer wieder Fühlung zu bekommen, mich nicht in mich zu verschliessen & auf die andern zu hören. Aber eine solche Predigt wie die Kuttersche [„]Ihr seid Brüder[“] zerstört meine Hoffnung ganz. Da gibt es kein Verstehen mehr. Ich bewundere nichts daran, finde nur ein unwahres Wort ans andere gereiht. Und dabei der Ton so laut, so frech, so hochmütig. Mein ganzes Herz s[te]ht bei den Männern im Krieg, über deren Begeist[er]ung & Opfermut er Worte des Hohns & des Gifts hat. Gern will ich alle Sünden des deutschen Volkes mittragen, wenn ich seine wundervolle Hingabe in Not & Tod, seinen Idealismus der Tat, nicht der Worte, auch mittragen darf. Und dahinter sehe ich so gewiss Gott & göttliche Notwendigkeit als ich selber da bin. Ohne das würde ich mein Christentum wegwerfen. Die Vorsehung für diesen Krieg zu leugnen ist für mich platter Atheismus. Selbst das Motiv ist nicht besser auch der rechte Atheist leugnet Gott, weil er nicht das thut, was er seiner Meinung nach unbedingt hätte thun sollen. Immer ich, ich & nie Gott, der das Gegenteil von meinem Willen thun darf & wird. Wir haben hier an Heidrich556 dem Kunsthistoriker einen besonders feinen bescheidenen & ganz seinem Beruf lebenden Menschen vom völlig unkriegerischen Typus verloren, dem es doch entsetzlich gewesen wäre, wenn er nicht hätte gehen dürfen & der noch kurz vor seinem Tod Worte des Friedens & der Begeisterung schrieb. Nun schmerzt mich der Tod Zurhellens557 & der Hermelinks558, von dem man noch viel Feines in der Kirchengeschichte erleben durfte. Es sind die Besten & Feinsten, die weggerissen werden. Und doch könnte ich keinen Augenblick sagen: das ist jetzt Gericht. Es ist auch Segen & kommt in jedem Fall aus der Hand dessen, der es recht macht mit der Welt, auch wenn er es uns allen schwer macht. Ich halte es direct für Gnade, wenn einer heute für sein Vaterland fallen darf. Ich glaube auch, dass nicht der Hass gegen die Feinde, sondern wirklich die L[ie]be zu den Brüdern, zum eigenen Volk das Treibende ist. Es ist so grosse Zeit & mir thut es so leid, wenn Sie & andere nur scheltend, richtend, Gott & Menschen anklagend daneben sitzen & diese Stunden verpassen. Und das müssen Sie ja vom Standort Kutters & der

556 Ernst Friedrich Rudolf Heidrich (1880–1914) fiel am 4. November 1914 bei Dixmuide (Dixmude) in Westflandern. Der deutsche Kunsthistoriker wurde Ende 1910 als Extraordinarius an die Universität Basel berufen und dort 1912 zum Ordinarius befördert; am Ende des Sommersemesters 1914 erhielt er einen Ruf an die Universität Straßburg. 557 Pfarrer Otto Zurhellen war Pfarrer in Frankfurt am Main. Er wurde 1903 in Bonn mit der Arbeit „Johannes der Täufer und sein Verhältnis zum Judentum“ promoviert. Posthum erschienen von ihm 1915 in Tübingen „Kriegspredigten“. Gemeinsam mit seiner Frau veröffentlichte er „Wie erzählen wir den Kindern die biblischen Geschichten?“, Tübingen 1906; 61925. Zur Person siehe Martin Rade: Pfarrer Lic. Otto Zurhellen, in: ChW 28 (1914), 1023 f.; Christian Nottmeier (Hg.): Adolf von Harnacks Briefe und Karten an Else Zurhellen-Pfleiderer, in: ZNThG 8 (2001), 96–145, hier v. a. 100–108. 558 Siehe dazu unten Anm. 560.

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NW559 aus. Ich wollte nichts lieberes als wir könnten zusammen dies grosse durchmachen und aus Gottes Hand nehmen. Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 86. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 24. November 1914 NL 290: B 346, 47 Lieber Herr Pfarrer! Ich schüttete Ihnen heut morgen meinen Zorn über die erste Kuttersche Predigt mit so harten Worten aus, wie wenn Sie daran schuld wären, da Sie doch nur die Freundlichkeit hatten, sie mir zu leihen & ausserdem hätte ich überhaupt, wie ich mir zuerst vornahm, Ihre Freundschaft mit ihm anders respectieren sollen. Ich selbst würde es unfein finden, wenn mir einer einen Mann, dem ich persönlich viel verdanken würde, so schelten würde. Sie sehen, wie misslich es steht mit solchen brieflichen Ergüssen & diesmal um so mehr, als ich bereits früher einen Brief an Sie angefangen & wieder auf die Seite gelegt hatte. Wollen Sie das mit anderem nicht zu übel nehmen. Sie hätten das Recht dazu. Es rührt bei mir aber auch daher, dass ich einst Kutter persönlich so hoch schätzte & nun so enttäuscht bin über seine Art, die doch zu ihm gehört & die er selbst nicht ändern kann so wenig als ich, wie es scheint, die meine. Aber ich meine allerdings, es sei heut so bitter nötig, dass wir den Leuten helfen die schweren Dinge mit ihrem Gottesglauben, der sonst schon schwach genug ist, zusammen zu halten & nicht Gott & die Wirklichkeit so auseinanderzureissen, wie er es thut. Ich habe heut meinen Zuhörern von Hermelinks Tod erzählt & ihm ein Nachwort gewidmet & höre nach der Stunde, er sei nur verwundet.560 Um so besser wenns wahr ist. Leben Sie wohl. Von Herzen Ihr P. Wernle

559 Neue Wege. 560 Heinrich Hermelink wurde im November 1914 schwer verwundet. Er kehrte nicht als Soldat in den Krieg zurück, sondern wurde 1915 in Bonn und 1918 in Marburg Professor für Kirchengeschichte.

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Nr. 87. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 25. November 1914 NL 92: III A 13, 42 Verehrter Herr Professor, Ihre Sendung traf mich grad an der Lektüre von Troeltsch. Er beschäftigt mich wieder fast täglich in letzter Zeit. Einmal kündet Pletscher einen Vortrag über Troeltschs Auffassung vom Neuprotestantismus an im sogenannten Pastoralverein561, da will ich nicht ganz unvorbereitet gehen, und dann brauche ich Troeltsch wieder als Wegweiser in meinem Nachdenken über die Bücher von Wirz562, die ich zusammen mit Brunners Schrift563 oder gesondert besprechen sollte.564 Sie mögen daraus ersehen, dass ich doch nicht so ganz von allen guten Geistern verlassen bin und restlos dem absoluten Geiste von Zürich mich übergeben habe. Das ist überhaupt in keiner Weise so der Fall, wie Sie fortgesetzt zu vermuten scheinen. Ich kann das ja nicht so einfach und exact beweisen, wie ich gern möchte, sondern nur aufs neue es versichern und Sie bitten, mir zu glauben und mir und manchem meiner Freunde Liebe und Treue auch weiterhin nicht zu künden. Doch, das tun Sie ja nicht; eben Ihre nie unterbrochene briefliche Aussprache ist mir Zeichen und Beweis dafür, dass Sie mit alter Geduld und Teilnahme uns auf unsern Wegen weiterbegleiten, auch wo Sie Ihnen nicht gefallen können. Ich bin Ihnen immer aufs neue dankbar dafür und nun nur darüber etwas betrübt, dass Sie, wie Sie schreiben, mir gegenüber bereits gelegentlich in die Lage kommen, einen Brief anzufangen und wieder bei Seite zu legen. Wahrhaftig, Sie müssen mir glauben, dass ich niemals empfindlich bin und mich einfach der Aussprache freue, die Sie mir gewähren, auch wo sie in scharfer Gegensätzlichkeit verläuft. Auch ist es sicher nicht so, dass Sie alles umsonst sagen, was Sie uns Jüngern zu sagen haben; ich mache mir zu schaffen mit Ihren Angriffen und Einwänden, und sie begleiten mich und ich erfahre innerlich viel Correktur und glaube gerade durch Sie einfach an vielen Punkten klarer zu sehen und sicherer zu gehen als mancher meiner relig.[iös]-soz.[ialen] Freunde, Karl Barth, z. B. Es ist nicht so, dass ich einfach begeistert verschlucke, was in Zürich gebraut wird; ich

561 Ein Zusammenschluss von Pfarrern, der sich regelmäßig traf. 562 Siehe Anm. 548. 563 Emil Brunner: Das Symbolische in der religiösen Erkenntnis. Beiträge zu einer Theorie des religiösen Erkennens, Tübingen 1914; siehe dazu Jehle, Brunner, 49–52. 564 Die Besprechungen sind nicht nachzuweisen und deshalb wahrscheinlich nicht verfasst worden. In dem in der Staatsbibibliothek in Berlin deponierten Archiv des Verlags J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), in dem sich zahlreiche Rezensionen von Brunners Schriften finden, ist keine von Thurneysen überliefert.

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habe Tischhauser kürzlich s.[einen] Aufruf 565 mit entschiedener Kritik zurückgesandt und könnte Ihnen noch sonst Belege genug anführen aus Briefen und Diskussionen von meinem Kampf gegen links, wenn es darauf ankäme, mich zu verteidigen. Es war mir darum betrübend, in Ihrem Briefe zu lesen, dass Sie finden, ich habe umsonst in Marburg, bei Ihnen und bei Troeltsch gelernt und studiert. Ganz abgesehen davon, dass ich trotz allem und allem566 die absolute Kluft zwischen Ihrem Denken und Zürich nicht anerkennen kann und der christlichen Gemeinsamkeit noch mehr finde als der wirklich entscheidenden und ganz scharf und klar fassbaren Gegensätze – auch abgesehen davon glaube ich, meine, sagen wir einmal, basler Herkunft nicht zu verleugnen, ich empfinde die nüchterne religiöse Erziehung meines Vaters567 und die historisch-kritische Bildung, die ich Ihnen und Marburg verdanke einfach immer als den Boden, auf dem ich stehe und von dem ich ausgehe, auch wenn ich Entdeckungsreisen in Neuland mache und Neues dazunehme und dazulerne und mich ihm öffne. Es ist immer in meinem Empfinden das Hinzu gekommene, von dem allein ich niemals leben möchte und auch tatsächlich nicht lebe, wenn es mich auch oft lebhaft beschäftigt und anregt, mehr und dringlicher vielleicht als der alte Besitz, in dem ich daheim bin. Weil sich mir das wirklich so darstellt und nicht anders, war ich allerdings etwas erstaunt über Ihren neuerlichen Brief. Ich hatte das Gefühl ihn nicht verdient zu haben. Nicht, dass Sie so über Kutter urteilen, empfand ich als das Unverdiente, sondern dass ich in dem allem mitgetroffen werden soll. Ich kann Ihnen mit gutem Gewissen erwidern, dass ich die erste Predigt Kutters, die ja Ihren besondern Zorn erregt hat, von Anfang an ebenso ablehnen musste. Ich hatte seinerzeit ein Gespräch mit Rud.[olf] Pestalozzi darüber, der sie verteidigte und erklärte, beim Hören habe sie einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Ich habe drum auch gleich die zweite beigelegt, die ich für besser halte. Im übrigen kenne ich Ihr heutiges Urteil über Kutter schon von früher her und verstehe, wie ich meine, auch recht gut, was Sie so stark an seiner Art abstösst, dass Sie den Gegensatz zwischen sich und ihm als einen unüberbrückbaren, als einen Gegensatz 2 er Religionen ansehen müssen. Ich kann nur wiederholen, was ich immer zu seiner Verteidigung sage: er ist sicher besser als seine Art zu schreiben und ex cathedra zu reden es leider Gottes ist. Ich höre ihm wahrhaftig auch lieber zu bei einer Cigarre und Tasse Kaffee, wo er Mensch ist, als auf der Kanzel oder in seinen Büchern. Sie wirken merkwürdig wenig oder gar nicht auf mich. Aber ich nehme ihn fast ganz so, wie ich mich als Student für Duhm568 begeistert habe: als homo religiosus, als einen Mann, der zwar in einer ganz andern Weise als ich fromm ist und seinem Gotte zu leben und zu dienen sucht, aber in einer so ungemein kraftvollen und 565 566 567 568

Siehe Anm. 544. Soll möglicherweise „allen“ heißen. Eduard Thurneysen (sen.). Bernhard Duhm.

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ausgeprägten Art und mit einer so tiefen, seelischen Leidenschaft, dass man nicht ohne Gewinn und Erhebung für sich selber mit ihm verkehren kann. Und dazu hat er eine ausserordentliche Fähigkeit und begabte Art, aus sich heraus zu reden und seine Anschauung mit allen philosophischen Mitteln auszubauen und auszudrücken, ganz anders als z. B. Blumhardt.569 Dass er daneben in seinem Charakter etwas Herrisches hat und gern von fertigem Standort aus orakelt, weiss ich und kann es gar nicht verteidigen. Aber wo er sich selber überlassen ist, nicht orakelt und nicht disputiert, da spricht doch immer wieder etwas Bedeutendes aus dem Mann, dem ich gern von Zeit zu Zeit zuhöre. Von intimerer Freundschaft mit ihm ist aber nicht zu reden, er hat etwas, wie soll ich sagen, Unnahbares an sich, wie er, soviel ich sehe, überhaupt kaum einen nahen Freund hat, sondern immer nur, darin haben Sie völlig recht, Hörer. Dass darin eine schwere Kritik über ihn beschlossen liegt, eine Beschränktheit seiner geistigen Organisation, die zu den extremsten Einseitigkeiten führen muss, weiss ich. Aber er ist nun einmal so und trägt, wie mir scheint, selber schwer genug an dieser fürchterlichen Isolierung und Einsamkeit. Darf ich Ihnen noch sagen, dass ich im Grunde wünsche, Sie möchten ihm einmal selber und direkt Ihre abweichende Meinung kundtun. Ich habe darin ja nichts zu raten, aber ich glaube, es wäre nicht aussichtslos und ungefreut sich mit ihm auseinanderzusetzen. Ihr Brief mit der sehr scharfen Ablehnung Kutters und Genossen war mir auch insofern eher etwas befremdlich, als er mir nicht ganz zu stimmen schien zu Ihren Artikeln im K.[irchen]bl.[att]570 Ich habe sie mit grosser Freude und weiter Zustimmung gelesen, nun, ich bin noch nicht so recht fertig damit, sie fahren ja auch noch weiter und haben das Gute an sich, dass sie einen nicht so schnell wieder loslassen und in eine wirklich fruchtbare Auseinandersetzung treiben. Sie sind eine Wohltat für mich, nachdem ich namentlich in der „Hilfe“571 teilweise wirklich deutschblinde Artikel (Rohrbachs572 z. B. und überhaupt dieser Orientpolitiker573) gelesen hatte, und in den neuen Wegen Ragaz und Barth574 ihre scharfe Stellungnahme in ihrer ganzen radikal-un-

569 Christoph Blumhardt. 570 Hier spielt Thurneysen vermutlich auf die Artikel an, die Paul Wernle in Reaktion auf die „Volkshauspredigten“ veröffentlicht hatte. Siehe dazu KBRS 29 (1914), 88–91; 104; 107 f. 571 Die Zeitschrift „Die Hilfe“ wurde von Friedrich Naumann begründet und herausgegeben; sie vertrat einen sozialen Liberalismus. 572 Siehe beispielsweise Paul Rohrbach: Deutschlands Weltstellung unter Wilhelm II., in: Die Hilfe 19 (1913), 387–389. 573 Damit ist Friedrich Naumann gemeint, der beispielsweise seine 1898 erfolgte Reise in den Orient in dem Buch „Asia“ (Berlin 1899) beschrieben hatte. Dieses sehr populäre Werk hatte Rohrbach in der „Christlichen Welt“ besprochen: ChW 13 (1899), 469. Zur diesbezüglichen Auseinandersetzungen zwischen Rohrbach und Naumann siehe Axel Meißner: Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien. Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus, Berlin/Münster 2010, 155–157. 574 Karl Barth: „Die Hilfe“ 1913, in: ChW 28 (1914), 774–778.

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complizierten Art eingesetzt hatten, kam ihre Artikelserie575 und hatte das Gute, möglichst ruhig an beide Seiten anzuknüpfen, um zu verstehen und die ungemeine historische und psychologische Compliziertheit der behandelten Krieges- Friedens und Evangelium-frage zu entwickeln und es zu versuchen, einen Weg zu bahnen, der wirklich ein Verständnis bedeutet. Ich hatte eben Freude an der ganzen Tendenz und der ruhigen und unvoreingenommenen Art, wie ich Sie zu verstehen glaube. Sie reden, wie mir scheint, zur Mitte, aber nicht als „Vermittler“, und es schien mir doch auf dem vorgeschlagenen Boden eine Verständigung oder zum mindesten eine Diskussion zwischen rechts und links möglich. Jedenfalls liegt in dieser ruhigen Besprechung eine Hilfe für alle, die noch hin und hergeworfen zu werden, bekennen müssen. Ich rechne mich auch dazu. Ich komme grad aus dem Blaukreuz576 und will vor dem Zubettegehen noch fertigschreiben, nachdem ich zwischen Licht und Dunkel angefangen hatte. Ich habe meinen paar Leuten, die zu mir in die Stunde kommen, gerade den ersten der prächtigen Briefe von Dr Rösch aus der christl. Welt577 vorgelesen und ihnen erzählt, dass dieser junge Gelehrte und Missionar nun auch gefallen sei. Ich suche immer etwa auf eine solche Weise das Kriegserlebnis vor Augen zu stellen und zum Mitdabeisein anzuregen. Und ganz gewiss nicht nur, wie Sie uns Jüngern vorwerfen, im Sinne des Absprechens und Richtens. Gegenwärtig beschäftigt mich wieder der Unterricht in starkem Masse. Es ist eine feine, aber schwere Aufgabe. In für mich einfach immer wieder bewundernswerter Weise löst sie mein Nachbar Dietschi. Ich besuche gelegentlich seine Stunden und gehe selber nie weg ohne eigene Erbauung und voll Freude über die prachtvolle Art, wie er mit seinen ca 50 Kindern reden kann. Er hat darin eine ganz seltene Gabe. Ich habe viel an ihm und bin herzlich froh, dass er im Seetal geblieben ist. Er ist ein unbedingt zuverlässiger Berater von feinstem Takt und Menschenverständnis. Ich wollte, Sie könnten ihn auch einmal hören in einer Unterrichtsstunde! Nun will ich schliessen. Umsomehr als ich hoffe, Sie nächstens persönlich wiederzusehen. Ich habe mir schon seit langem auf den Missionssonntag eine

575 Paul Wernle: Gedanken über Krieg und Frieden, in: KBRS 29 (1914), 185–187; 189–191; 193–196; 201–204. 576 In Reaktion auf den in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv angestiegenen Alkoholkonsum gründete der freikirchliche Pfarrer Louis-Lucien Rochat (1849–1917) in Genf zusammen mit anderen in Anlehnung an die amerikanische und englische Abstinenzbewegung das Blaue Kreuz. Die Gründer verpflichteten sich auf Enthaltsamkeit von Alkohol. Siehe dazu Werner Beck: Sie wagten Nächstenliebe. Louis-Lucien Rochat Arnold Bovet Curt von Knobelsdorff, Bern 1980; Thomas K. Kuhn: Louis-Lucien Rochat, in: HLS 10, 372. Auch Karl Barth gab in Safenwil Blaukreuz-Stunden; siehe dazu Eberhard Busch: Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 465. 577 Friedrich Rösch: Missionarsbriefe aus Algier, in: ChW 28 (1914), 879 f.; 914–918; 1017–1021; 1087–1091; von Rösch war zuvor erschienen: Unter Kabylen. Aus einem Tagebuch, in: ChW 27 (1913), 305–309; 326 f.; 401–403; 425–428.

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Vertretung durch einen Missionar selber gesichert und möchte von Samstag bis Montag nach Basel kommen. Mit herzlichen Grüssen Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 88. Postkarte P. Wernle an E. Thurneysen Poststempel: Basel, 2. Februar 1915 NL 290: B 346, 48 L. H. Pfarrer! Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir meine letzte Predigt zurücksenden wollten. Es begehrt sie noch jemand zu lesen. Ich hoffe, Sie seien gesund & haben wie andere Menschen gehörig zu thun. Mit herzlichem Gruss Ihr P. Wernle Nr. 89. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 3. Februar 1915 NL 92: III A 13, 43 Verehrter Herr Professor, Endlich schicke ich Ihnen mit herzlichem Dank Ihre mir freundlicherweise geliehene Predigt zurück, zugleich mit dem Geständnis, dass Ihre Gedanken in einer meiner letzten Predigten nachgeklungen haben. Das werden Sie mir nicht verübeln. Wer wie wir Landpfarrer immer wieder aus seinem Brünnlein zu bestimmter Stunde schöpfen muss, bei dem merkt man leichter als bei andern, was er zuletzt getrunken hat. Durch einen hindurch muss es natürlich gehen. Und das was Sie in dieser Predigt zu uns sagen, war für mich etwas so befreiend Einfaches und doch so Wahres, Tiefes, dass ich auf einmal wusste wieder wie neu: daraus lebe ich und daraus können die andern alle auch leben. Ich begreife die Kinderlehrerin, die jene andere, Weltfriedensorientierung

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darin vermisste, und begreife sie doch wieder nicht, dass sie nicht merkte, warum das von ihr Vermisste hier fehlte, fehlen musste. Deswegen ist jene Orientierung natürlich doch da und gibt auch mir reichlich zu schaffen. Wir, d. h. Dietschi, Karl Barth und ich werden nächstens an 3 Abenden nach einander in der Kirche Seon von diesen Kriegs- Friedensfragen und ihrem Verhältnis zum Evangelium zu unsern Seetalern sprechen. Dabei ist unsere Absicht, gleichsam auch ein wenig evangelisatorisch zu wirken, d. h. unsere Leute aufzurütteln und ihnen zu denken zu geben. Dietschi will die Serie eröffnen und, Sie werden bei ihm das Wort nicht missverstehen, eine Art Apologie versuchen, d. h. Gottes Macht- und Gerichtswillen im Kriege aufweisen und, wenn ich ihn recht verstanden habe, mit dem Heil und der Verheissung schliessen. Am 2. Abend soll ich Jesus, seine Art und den Krieg mit einander auseinandersetzen. Ich habe gestern den Gedankengang skizziert, stelle zuerst das Problem und möchte den Lösungsversuch ungefähr in folgenden 5 Gedankengängen durchführen: 1. Die Trennung der scheinbar so scharf geschiedenen Welten (Jesusart – unsere Welt und Zeit) ist in der bei der Problemstellung gezeichneten Schärfe gar nicht vorhanden und wahr. Wir alle, auch die „Weltlichkeit“ des Staatesoder Geschäftslebens werden auch heute schon aus den tiefen Quellen gespiesen, die uns Jesus erschlossen hat. Es ist nicht wahr, dass wir – wie z. B. Naumann in s.[einen] Briefen ausführt578 – als Geschäftsleute oder Staatsbürger nur von Gewalt und Selbstsucht leben. Überall brauchen wir und haben wir Menschen und Gesinnungen, die wenn auch schwach und unvollkommen Jesusart an sich tragen. Ich will das an ganz einfachen Beispielen klar machen. Z. B. wird natürlich kein Meister oder Geschäftsherr, der einen Lehrling, keine Frau, die ein Mädchen einstellt, nach Paul Gerhardliedern und Bibelversen fragen, aber auch der geriebenste, vielleicht nur auf Profit und Geld ausgehende, ganz in der Weltlichkeit seines Geschäftes aufgehende Kaufmann wird doch nicht nur Maschinenschreiben und doppelte Buchführung verlangen, sondern auch etwas viel Tieferes, Inneres: Treue und Redlichkeit. Und das kommt aus jener andern Welt und nur dorther, wenn es echt ist. Und wenn auch immer wieder da und dort bei ganz „verweltlichten“ Leuten ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass ihre geschäftlichen oder sonstigen Manipulationen nicht immer ganz saubere sind, so kommt das daher, dass auch sie einmal durch eine Unterweisung hindurchgegangen sind und auch an ihrem Leben Jesus nicht ganz spurlos vorbeigegangen ist. Und dass auch der Staat nicht nur das Raubtier ist, als das er uns etwa vorkommen mag, ist doch auch leicht zu zeigen; es steckt in seinem Werden und Wesen ein Stück Gotteswille und er kann gar nicht bestehen ohne, sagen wir wieder, Gewissen, Treu und Glauben, selbst da nicht, wo er grosse Politik treibt. Ja, man kann geradezu sagen: was an Staats- oder Geschäfts- Bank- GeldVolksleben nur auf Gewissenlosigkeit, Härte, Gewalt steht, das eben bricht 578 Friedrich Naumann: Briefe über die Religion, Berlin 1913.

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zusammen, daher vielfach auch die heutige Catastrophe, nur weil wir noch allenthalben zu wenig tief und entschlossen unser Leben von den Kräften Jesu haben durchdringen lassen. 2. So steht das was Jesus ist und will zugleich auch als eine Aufgabe und Hoffnung vor uns und als etwas, das uns in Kampf und Arbeit treibt. 3. Seine Welt ergreift uns mit der Kraft der Sehnsucht und der Reue. Unsere Doppelnatur. Wir sind in der Welt und doch nicht von der Welt. Wir müssen tapfer in die schweren diesseitigen Notwendigkeiten (Krieg) hineinstehen und doch nie vergessen, dass etwas in uns ist, das viel tiefer wurzelt: die Seele, Jesu Worte darüber. Wie sich das heute erweist auf den Schlachtfeldern selbst. (Sie erkennen hier Troeltschs Gedanke wieder). 4. So leben wir als Bürger zweier Welten. Das ist gleichsam unsre metaphysische Lage. Kein Compromiss (im schlechten Sinne!), ein nie ganz vernarbender innerer und äusserer Conflict, eine ständig und tief empfundene Spannung. Das soll so sein. Auf diesen Weg, da wir nie ganz in der Welt aufgehen können, führt uns Jesus, führt uns z. B. die Bergpredigt. Es ist ein Leidtragen und Leiden dabei, aber zugleich eine starke innere, überlegene Position: Warten auf Gott, Leben aus Gott, Glauben. 5. Darin dass immer wieder viele einzelne Menschen von der Reinheit und Grösse der Welt Jesu ergriffen sind und so mitten in dieser Welt und Zeit dafür offenstehen, darin liegt das, was ich zur Bedeutung der Jesussittlichkeit, der Bergpredigt heute sagen kann. Sie ist uns nicht ein Gesetz, das notwendig zum Zwingen und Zwängen führen müsste, sondern hat für uns die Bedeutung, dass uns an ihr immer wieder die Gewissheit eines sinnvollen Lebenshintergrundes überwältigend aufgeht mitten in der Verdunkelung des sonstigen Weltgeschehens. Wir entscheiden uns beim Abwägen der zwei Tatsachenreihen, der zwei Seiten unseres Erfahrungsbestandes, für das, was uns in Jesus aufgeht. Eine letztlich nicht mehr begründbare Tat meiner Freiheit und meines Glaubens. Wer sich so entscheidet, wird selber wieder in seinem Dorf, Volk, Vaterland ein Ferment des Guten sein. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so ausführlich über das unterhalte, was ich gerade denke und treibe. Es ist die alte Studentenart, worin wir mit unsern Gedanken und Meinungen zu Ihnen kommen und immer ein freundliches Interesse finden durften. Ich lege Ihnen die Predigt von Dietschi bei. Er hat am letzten Sonntag trotz seiner nun glaub 15 jährigen selbstlosen Arbeit mit einem zum Besten der Seoner Gemeinde vertretenen Vorschlag eine schwere Abfuhr erleben müssen. Ich traf ihn nachher, er war ganz kaput[t]. Nicht weil der Plan nicht durchging, aber weil er die Abweisung durch eine erdrückende Mehrheit als gegen ihn und seine Arbeit gerichtete Handlung empfand: Sachliche Gründe waren nicht da. Er spürte nur das Bestreben, ihm und den Leuten, die zu ihm halten, eine Freude und Hoffnung zu verderben. Wirklich, diese Seoner Mannen wussten nicht, was sie ihm zu Leid taten. Und doch ist er in seiner Weise ein schlechthin vorbildlicher, wenn auch nicht im üblichen Sinne populärer Pfarrer, daran ist

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schon sein Eintreten für die Abstinenz schuld, das einfach ein in der Minderheit bleiben mit sich bringt und allerlei Gegnerschaft einem zuzieht, auch wenn man gar nicht fanatisch ist. Endlich danke ich Ihnen auch noch für die Übersendung der Troeltschschrift.579 Sein Standpunkt ist mir aufs neue als der ehrlichste und wahrste erschienen, auf den ein Mann sich stellen kann, der einer ringenden Nation angehört. Ich empfinde das, was er sagt, als wirklich lösendes Wort und wüsste selber nirgends etwas besseres zu finden. Seine ganze Art, zu denken und zu reden, ist mir ungemein verständlich und sympathisch, weil ich die geschichts-philosophischen Überzeugungen, die dahinter stehen, wie selten bei einem Denker, innerlich mitempfinden und teilen kann, wenn ich auch seinem Irrationalismus die Ergänzung durch die religiöse Position noch stärker wünschte. Soeben kommt Ihre Karte und verlangt die Predigt von mir. Haben Sie nochmals vielen Dank dafür und auch dafür, dass Sie mir so geduldig zuhören und ich das Gefühl haben darf, Sie schenken mir immer neu Ihr altes väterliches Interesse. Mit herzlichem Gruss auch an Frau Professor Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 90. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 26. Februar 1915 NL 92: III A 13, 44 Verehrter Herr Professor, Ich habe Ihnen noch gar nicht erzählt, dass wir eine grosse Freude erlebt haben mit unsern 4 Abendvorträgen in Seon. Die Kirche war jedesmal ganz voll. Der Versuch ist also gelungen. Zum Voraus sicher war es nicht, ob unser Publikum 4 mal nach einander an einen solchen kirchlichen Anlass kommen werde. Auch haben wir den Hörern die Sache nicht gerade leicht gemacht, sondern ihrem Denken etwas zugemutet. Trotzdem sind unsere Leute dafür zu haben gewesen. Ich freute mich vor allem für Dietschi; es ist doch eine Frucht seiner Arbeit, dass die Seoner diesen Versuch so gut aufgenommen haben, in Seengen, glaube ich, wäre so etwas vorläufig noch nicht möglich. Es ist für Dietschi 579 Vermutlich Ernst Troeltsch: Das Wesen des Deutschen, Heidelberg 1915; diese Schrift war zwischen dem 28. Januar und 3. Februar 1915 erschienen. Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf und Hartmut Ruddies (Hg.): Ernst Troeltsch. Bibliographie, Tübingen 1982, 132.

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auch wirklich eine Freude gewesen; nach Schluss des letzten Vortrages kamen wir noch mit ein paar Männern zusammen und besprachen allerlei im Anschluss an das Gebotene aufgeworfene Fragen. Auch mir persönlich war dieses zusammenhängende Durchdenken der durch das Weltgeschehen gestellten Fragen etwas wert, auch freute ich mich einfach, wieder einmal selber Hörer sein und in einer vollen Kirche unter unsern Leuten sitzen zu dürfen. Meinen eigenen Vortrag habe ich schliesslich doch noch völlig anders durchgeführt, als ich ihn anfangs entworfen und Ihnen mitgeteilt hatte; ich glaube, er ist besser gegliedert und klarer herausgekommen. Am Sonntag in 8 Tagen will ich dann wie letztes Jahr in meiner eigenen Gemeinde wieder einen Vortrag halten oder eine Art Besprechung und zwar möchte ich allerlei Praktisches und Grundsätzliches über das Verhältnis von Pfarrer und Gemeinde zu sagen versuchen. Hoffentlich kommt etwas dabei heraus. Letzten Sonntag war ich wieder einmal in Zürich und redete in der Jüngern Abteilung.580 Durch Burckhardts581 erfuhr ich nachher, dass es Frau Professor nicht so gut gehe, d. h. dass sie eine Kur in Grindelwald582 machen müsse. Hoffentlich erholt sie sich wieder gründlich, ich wünsche von Herzen alles Gute, wünsche vor allem auch, dass Sie selber gesundheitlich gut durch den Winter kommen und nicht durch Husten und Heiserkeit gestört werden, wo so viel Arbeit immerfort auf Ihnen liegt. Werden wir wohl auf den Sommer hin das Erscheinen Ihres ersten Bandes erwarten dürfen?583 In Basel ereignen sich gegenwärtig in gehäufter Weise so schwere Dinge, ich denke an den plötzlichen Tod der Frau von Pfr. Ad.[olf] Preiswerk584 und vor allem den erschütternden Hingang von Reg.[ierungs]rat Burckhardt585. Kantonsrat Pestalozzi586 erzählte mir noch kurz in Zürich ein paar feine Züge von ihm, und überhaupt wer immer von ihm etwas weiss, redet ihm viel Gutes, Nobles, Prächtiges nach. Dass er ein ungemein gescheiter, feiner Mann und auch ein ernster Christ war, wussten wir alle, und wer hätte sich nicht für ihn begeistert, wenn er mit seiner charaktervollen, tapfern Art für politische Sauberkeit und Wahrhaftigkeit eintrat. Und dieser Mann musste so587 sterben! 580 581 582 583 584 585 586 587

Gemeint ist der CVJM. Fritz Burckhardt und Frau. Berner Oberland. Das Buch „Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Bd. 1: Das reformierte Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie)“ erschien erst 1923 in Tübingen. Helene Preiswerk, geb. Zäslein, war am 13. Februar 1915 im Alter von 49 Jahren in Folge eines Herzschlages verstorben. Carl Christoph Burckhardt. Friedrich Otto Pestalozzi. Burckhardt beging Suizid. Die „Basler Nachrichten“, Jg. 71, Nr. 94, 21. Februar 1915, 1. Blatt, [1 f.] berichteten: „Aber eine entsetzliche, von erblicher Belastung getragene Bangigkeit vor Versagen des geistigen Gleichgewichts ist hin und wieder bei ihm aufgetaucht und bedrängte und umnachtete ihn in der letzten Zeit so, daß er im Tode Schutz suchte.“

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Das gibt einem zu denken und macht eigentlich zu schaffen. Es ist etwas unbegreiflich Trauriges darin. Ich habe in Zürich auch Pfr. Kutter, freilich nur flüchtig gesehen, er war gerade am Verreisen. Leider ist auch er gesundheitlich so angegriffen, dass er für ein halbes Jahr Urlaub nehmen muss, es haben sich Herzanfälle eingestellt. Hoffentlich erreicht der Urlaub seinen Zweck, aber wie schnell es gerade bei solchen Herzgeschichten ein Ende nehmen kann, zeigt gerade der Fall von Frau Pfr. Preiswerk. Nun Kutter selber macht wirklich gar kein Aufhebens von seinem Zustand, aber ich selber konnte den Gedanken nicht ganz unterdrücken, es möchte sein, dass auch dieser sonst so selten frische und lebendige Mann plötzlich auch davon müsste. Und ich habe immer das Gefühl, dass er uns noch viel Gutes zu sagen hätte; wie überhaupt alle diese Männer nach menschl.[ichem] Ermessen zu früh aus ihrer Arbeit weg müssen oder sonstwie darin stillgestellt werden. Aber darüber entscheiden ja nicht wir. Mir geht es gut, natürlich habe ich immer kräftig zu tun. Auch Ungefreutes und Widriges stellt sich oft genug ein, und ich muss oft gegen den Gedanken kämpfen, es komme gar nichts heraus bei allem Arbeiten und Reden in der Gemeinde, natürlich suche ich den Fehler vor allem bei mir und meiner Art, die ungeheure Aufgabe, die vor einem steht, zu erfassen und zu packen; es ist alles unzulänglich, was man tut, und doch wäre gerade heute eine Art Gotteszeit, wo es leichter sein sollte, die Augen zu öffnen und sich öffnen zu lassen und neue Wege in seinem Leben endlich einmal entschlossener zu gehen als bisher. Ich habe oft Angst beim Gedanken, ich selber und meine Zuhörer und Gemeindegenossen könnten durch diese Zeit hindurchgehen, ohne anders, besser, entschlossener zum Guten und Göttlichen geworden zu sein. Und wichtiger noch als die Bitte um Frieden ist mir dies Anliegen, wir möchten mehr klar sehende und in allen Dingen freiere Männer und Frauen bekommen und selber werden. Doch ich muss schliessen; es ist schon spät, morgen wartet die Predigt auf mich, und ich wollte Ihnen eigentlich nur in Kürze eben vom guten Ausgang unserer Ihnen gemeldeten 4 Vorträge schreiben. Herzlich grüsst Sie Ihr Eduard Thurneysen.

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Nr. 91. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 6. März 1915 NL 290: B 346, 49 Lieber Herr Pfarrer! Es ist so freundlich von Ihnen, dass Sie mir zum zweitenmal schreiben, bevor Sie eine Ant[wo]rt erhalten haben. Heut schreibe ich noch ein kurzes Wort am Abend nach dem Konzert, weil ich morgen zu meiner Frau nach Grindelwald reise & für 8 Tage nichts thuen werde. Der Grund meines langen Schweigens ist neben viel Arbeit, die mich überhaupt an die nächsten Freunde wenig Briefe schreiben lässt, das bestimmte Gefühl, dass wir uns in dieser grossen & schweren Zeit ganz besonders schlecht [ve]rstehen & mit unsern Gefühlen & Gedanken in zwei verschiedenen Welten leben. Da man immer doch nicht mit einander streiten will, wird man dann eben einsilbig & hält lieber für sich zurück. Es ist ja sonnenklar, wer so wie Sie & die meisten Jungen im Sozialismus, Internationalismus, Pacifismus etc lebte & im Gedanken des kommenden Gottesreiches muss zu den jetzigen Ereignissen vollständig anders stehen als wer wie ich von Fortschritt & irdischem Gottesreich nie viel gehalten hat, den Sozialismus immer ablehnte & gerade im Gegensatz zur Zeitströmung immer fester altprotestantisch & religiös individualistisch gedacht hat. Für sie kann das Ergebnis grundsätzlich nur eine negative Stellung sein, für mich ist sie positiv, dh eine schwere Erprobung unsres Glaubens & unsrer Liebe, aber nicht wunderbarer & dunkler als andere schwere Proben der Friedenszeit & nur besonders grossartig, weil sie alle Tiefen des Menschenherzens offenbart & uns zeigt, was für scheussliche, was für herrliche & heldenhafte Kräfte da sind. Einander überzeugen oder gar bekehren werden wir doch nicht, darum muss einer den andern lassen, aber das bedeutet, dass man getrennt & gründlich verschieden gestimmt alle diese furchtbaren Dinge erleben & innerlich verarbeiten muss. Ich empfinde dasselbe gegenwärtig gegenüber den meisten meiner Schüler & Studenten, dass ich in einer ganz andern Welt lebe als sie. Grösstenteils hängt dies allerdings mit der Schweiz, ihrer besondern Lage & Aufgabenlosigkeit zusammen. Ich wäre wirklich gegenwärtig in Deutschland besser am Platz, dort könnte ich der Jugend helfen, könnte sie verstehen & würde von ihr verstanden. Deshalb aspiriere ich nicht von ferne dorthin & würde jeden Ruf, wenn einer an mich käme, mit der ersten Post negativ beantworten, aber Sie werden auch von Ihrer andern Lage aus begreifen, dass ich mit meiner Gesinnung wirklich nicht ganz am rechten Posten stehe. Ob freilich Sie & Ihre Gesinnungsgenossen auch immer gerade das rechte Wort finden, das unserem Volk jetzt in seiner misslichen Lage nötig ist, weiss ich nicht: leicht kann es

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Ihnen nicht werden. Es hätte mich darum sehr interessiert zu erfahren, wie Sie es denn mit Ihren Vorträgen eigentlich gemacht haben & ob Sie dabei verstanden worden sind. Das ist sicher, Sie & ich müssen den Weg gehen, den jeden sein Gewissen weist & Arbeit haben wir beide, innerlich & äusserlich, genug. Aber ich empfinde oft eine starke Einsamkeit bei meinem Weg, den ich doch unter keinen Umständen verlassen darf, es ist nicht ganz leicht, mit so frühen Jahren alt geworden zu sein, aber ich kann mir doch mit bestem Willen nicht die Jugend von Kutter oder Ragaz wünschen, nach der ich gar keine Sehnsucht habe. Ich habe mir immer gewünscht, reif zu werden & fest mit Gott in der Wirklichkeit zu stehen, aber ich habe nicht gedacht, dass man dann zugleich so einsam werde & so sehr die Fühlung verliere mit denen, welche noch im reinen Reich des Absoluten & der Ideale zu Hause sind. Apropos Kutter ist auch mir die Nachricht, die Sie mir melden, schmerzlich, & ich habe neulich bei einem kurzen Besuch in Zürich von einen seiner Kollegen, den ich auf der Strasse antraf, dieselbe ungünstige Prognose vernommen. Derselbe Kollege hat aber auch erzählt, was für wunderliche Sprünge im Quäckergeist588 Kutter gegenwärtig mache, nicht mehr taufen, nicht mehr konfirmieren, wolle, bereits auch an den Morgengottesdiensten rüttle & es vielleicht gut sein589, wenn die Gemüter deshalb während einer Pause zur Ruhe kommen. Ich finde das schade, eine Verpuffung von idealer Kraft an einen Kampf gegen Ordnungen, die vielleicht für solche Geistesmenschen ganz heilsam sind. Etwas Grosses & Geistvolles jedenfalls kann ich darin gar nicht sehen, eher eine Demütigung für unsre Auffassung des Menschen, dass ein so wirklich bedeutender & originaler Mann an solchen Bagatellsachen Anstoss nimmt. Ich werde aber deshalb nie vergessen, was auch ich ihm zu danken habe. In einiger Zeit hoffe ich Ihnen eine neutestamentliche Studie von mir schicken zu können, meinen Antibousset, der jetzt unter dem Titel Jesus & Paulus erscheint.590 Vielleicht finden Sie mich auch dort reaktionär, ich konnte aber den guten Paulus nicht so zum Milieuprodukt werden lassen & glaube, hier wenigstens eine wirklich idealistische Tat getan zu haben. Schade, dass es gerade gegen einen lieben alten Freund sein musste, aber das scheint überhaupt mein Los, dass ich unter Freunden immer Krach habe; mit Troeltsch 588 Anspielung auf die Ablehung der äußerlich sichtbaren Sakramente durch die Quäker und deren kritische Haltung gegenüber den etablierten Kirchen und ihrer Praxis. 589 Wohl eher: sei. 590 Paul Wernle: Jesus und Paulus. Antithesen zu Boussets Kyrios Christos, in: ZThK 25 (1915), 1–92 (auch als Separatabdruck: Tübingen 1913). Wernle wandte sich mit diesem umfangreichen Aufsatz gegen seinen Freund Wilhelm Bousset und dessen Schrift „Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus“, Göttingen 1913, in dem Bousset die Aussagen über Jesus in den Kontext des Gottesdienstes stellt und als Schöpfungen der Jünger deklariert. Im selben Jahrgang der ZThK setzte sich der Marburger Wilhelm Heitmüller, ein „Intimus“ von Bousset (so Özen: Bousset, 187), mit Wernles Beitrag auseinander. Siehe Wilhelm Heitmüller: Jesus und Paulus. Freundschaftliche kritische Bemerkungen zu P. Wernles Artikel „Jesus und Paulus“, in: a. a. O., 156–179.

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gieng es ja ähnlich. Wenn ich irgend Zeit finde, möchte ich in den Ferien ein kleines Jesusschriftchen schreiben.591 Es hat sich viel in mir dazu gesetzt in den letzten Jahren, wo ich immer wieder durch die NTlichen [neutestamentlichen] Uebungen auf die Hauptprobleme gedrängt wurde. Ich lasse es aber nur von Stapel, wenn es mir einigermassen aus einem Guss gelingt, sonst kann ich damit bis später warten. Es hätte einen eigentümlichen Reiz für mich, gerade jetzt in dieser Zeit mir die Hauptzüge an Jesus zu vergegenwärtigen; manche Centralpunkte treten gerade jetzt schärfer heraus als gewöhnlich & jedenfalls für das Abstandsgefühl ist jetzt gesorgt. Mein Buch592 kommt sehr langsam vorwärts, aber doch kontinuierlich. Leider muss ich jetzt mitten in Rousseau abbrechen, den ich gern aus einem Guss geschrieben hätte. Ich stehe in der Aufklärungszeit in der Schweiz & lasse doch fast [di]e ganze Bewegung an mir vorbeiziehen, gegen meine anfängliche Absicht. Die Welschen593 haben mich mit vielen Büchern versehen müssen & auch mit manchen Winken & Ratschlägen, ich bin ihnen daher besonders verpflichtet & es wäre mir leid, wenn sie mir jetzt gram würden, was ich infolge meines Artikels fast befürchten muss. Gesundheitlich gehts mir sehr gut, ich habe einen besonders guten Winter gehabt. Weniger meiner Frau, die aber ganz entschieden auf der Besserung ist nach langem Schwnnz594 einer trockenen Brustfellentzündung. Darum ist sie eben in Grindelwald. Ich habe sie vor 3 Wochen dorth[in] gebracht & dabei auch Pfarrer Nil595 besucht. Ich werde ihn wohl nächste Woche wieder sehen. Hansel596 hat riesiges Vergnügen an unsern Schweizersoldaten, er weiss alles, was man nur über das Militär in seinem Alter wissen kann & verfolgt mit grösster Aufmerksamkeit die kleinste Veränderung in unserem Militär. Er ist darin ein guter Schweizer. Persönlich aber um so weiter von allem Militärischen entfernt, ein Glungi597 ersten Rangs, dem man geradezu preussischen Drill wünschen möchte. Jetzt heisst aber Schluss & ins Bett. Ich hoffe, Sie sehen aus meiner Plauderei, dass ich von Herzen gern Ihr Freund bleibe, aber ein ehrlicher Freund, der sich nichts vormacht über die scharfen innern Gegensätze, die zwischen uns bestehen. Das ist überhaupt mein einziges Ziel unter den gegenwärtigen Verhältnissen, dass man auch, wenn man verschieden denkt & fühlt, eineweg persönlich mit einander verbunden sein möchte & die Menschen, die man 591 Siehe dazu unten Anm. 662. 592 Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1923–1925. 593 Westschweizer, Romandie (Welschschweiz). 594 Muss wohl „Schwanz“ heißen. 595 Martin Nil war fast 40 Jahre Pfarrer in Grindelwald (Kanton Bern). 596 Hans Wernle, der Sohn von Paul Wernle. 597 „Glunggi“ bedeutet im Alemannischen „nachlässiger Mensch“. Vgl. dazu Othmar Meisinger, Volkswörter und Volkslieder aus dem Wiesentale, Freiburg im Breisgau 1907, 21; Idiotikon, Bd. 2, 634.

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einmal in sein H[er]z geschlossen hat, wegen anderer Prinzipien, nicht wieder daraus entfernt. Meinethalben können Sie darauf zählen & Sie selbst sind so freundlich & anhänglich immer gegen mich, dass ich nur wünschen kann, Sie bleiben es auch in Zukunft bei aller vollständigen geistigen Bewegungsfreiheit, für die Sie von selbst sorgen & die ich persönlich Ihnen immer nur wünschen muss. Seien Sie herzlich gegrüsst von Ihrem P. Wernle Nr. 92. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 29. März 1915 NL 92: III A 13, 45 Verehrter Herr Professor, Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihren letzten Brief und die heute erhaltene Auseinandersetzung mit Bousset.598 Zu viel langts heute nicht, es liegt reichlich Arbeit vor, aber es drängt mich, Ihnen doch wenigstens zu sagen, wie sehr mich immer wieder alles freut, was von Ihrer Hand zu mir kommt, und wie tief ich es wünsche, dass ich trotz mancherlei Differenzen der Auffassung in naher Verbindung mit Ihnen bleiben darf. Ich kann nach wie vor nicht finden, dass das, was ich und manche meiner Freunde, anders empfinden und ansehen müssen, uns von Ihnen und Ihrer Art notwendig trennen müsse oder uns aus der Arbeitsgemeinschaft scheide, die uns alle, Lehrer und Schüler, Jüngere und Ältere an die grosse, gemeinsame Sache bindet. Wir vergessen es nie, dass gerade Sie uns die Sache des Evangeliums, der wir dienen möchten, gross und lieb und verständlich gemacht haben und immer wieder machen, wie Niemand Zweiter, ich muss es wenigstens von mir aus so sagen. Recht dankbar bin ich Ihnen gewesen für Ihr kürzliches Wort zu dem französ.[ischen] Schauerbüchlein in den basler Nachr.[ichten.]599 Ein hiesiger Fabrikant, der mich immer zu deutschfreundlich findet, gab es mir auch in die 598 Siehe oben Anm. 590. 599 Paul Wernle: Dreckige Propaganda, in: Basler Nachrichten, Jg. 71, Nr. 159, 28. März 1915, 2. Beilage, [1 f]. Wernle kritisierte zum einen, dass die französische Regierung ihren offiziellen Bericht „über deutsche Greueltaten“ in breitem Umfang verteile. Dieser Bericht aus dem Herbst 1914 wurde nämlich in der Schweiz von Genf aus auch in deutscher Übersetzung gratis zugesandt. Zum anderen verurteilte er die französischen Berichte über deutsche Greueltaten als „dreckige Propaganda“, um „die Herzen der Neutralen“ zu gewinnen.

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Hand, und ich musste es mit den gleichen Empfindungen zurückweisen wie Sie. Auch Pfr. Benz veröffentlichte ein paar bezeichnende Beispiele für die welsche Trübung des Bewusstseins.600 Und die Vorgänge in Freiburg601 reden da deutlich genug. Ich werde nun selber Gelegenheit haben, die deutsche Stimmung kennen zu lernen. Peter Barth hat mich an seine Hochzeit eingeladen, und ich habe zugesagt.602 Auf der Rückreise gedenke ich, weil ich gerade in Deutschland bin, den alten Blumhardt603 noch einmal zu grüssen, man weiss doch nicht, wie lange man ihn noch sehen kann; ich verspreche mir viel von dieser Reise und den Männern, die ich da zu sehen wieder Gelegenheit haben werde. Auch Naumann soll an die Hochzeit kommen. Gegenwärtig ist mein Bruder604 hier. Er erholt sich von den Strapazen des Primarlehrerexamens und trägt mir auf, Sie von ihm zu grüssen. Ich komme gerade aus einer Laienversammlung. Aus Anlass meines Vortrages über „Pfr [Pfarrer] und Gemeinde“ wünschten ein paar Männer und Frauen ab und zu in ungezwungener Weise – ohne alle vereinsmässige Organisation – mit mir zusammenzukommen und von Mal zu Mal über allerlei religiöse Fragen zu reden. Ich sagte natürlich zu unter der Bedingung, dass es nicht einfach auf eine neue Predigt oder dergl.[eichen] hinauslaufe, sondern wirklich zu Unterredungen komme. Wir beschlossen nun, um nichts ins Leere zu reden, die Bergpredigt vorzunehmen und haben heute über die Seligpreisungen geredet, wobei ich allerlei teilweise schwierige Fragen über die Bibel und Textauslegung überhaupt auszuhalten hatte. Aber es wurde wirklich von den Leuten selber geredet und gefragt. Es waren etwa 2 Dutzend Männer und ca 20 Frauen erschienen. Es wäre eine schöne Sache, wenn der Eifer anhält; in 4 Wochen kommen wir wieder zusammen. Es ist schon sehr spät, und ich will schliessen. Nach meiner Rückkehr aus Deutschland hoffe ich noch ein paar Tage in Basel sein zu können und freue mich dann, Sie auch wieder sehen zu dürfen. Mit herzlichen Grüssen an Sie, Frau Prof. und Hans Ihr Eduard Thurneysen.

600 Gustav Benz veröffentlichte 1915 einige Predigten wie zum Beispiel: Neutralität? Predigt gehalten am 7. März 1915 zu St. Matthäus, Basel 1915. 601 Möglicherweise spielt hier Thurneysen auf die Bombardierung Freiburgs durch die Franzosen im März 1915 an. 602 Peter Barth heiratete am 9. April 1915 in Marburg Helene Rade, eine Tochter von Martin Rade. Thurneysen nahm gemeinsam mit Karl Barth an der Hochzeit teil. Siehe oben S. 66. 603 Christoph Blumhardt in Bad Boll. 604 Peter Thurneysen.

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Nr. 93. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 11. Juni 1915 NL 92: III A 13, 46 Verehrter Herr Professor, Vielleicht würde ich Ihnen das beiliegende aarg.[auische] Monatsbl.[att]605 mit dem Anfang meines Vortrages nicht übersenden, wenn ich es nicht versprochen hätte, denn es scheint mir eigentlich nebensächlich, ob man neben dem Hauptstück des Vortrages, das in der Glocke steht606, den Eingang auch noch liest oder nicht. Ich weiss nicht, was Sie beim Lesen des Artikels gedacht haben, aber ich muss fast annehmen, Sie stehen dieser ganzen Auffassung nach wie vor mit mehr oder weniger ablehnenden Empfindungen gegenüber. Immerhin werden Sie mir, glaube ich, zugestehen, dass ich mir Mühe gebe, nicht rundweg in dem zu enden, was Kutter Pharisaeismus der Idee nannte, und dass doch sicher von manchem Punkt auch meines Nachdenkens über diese schweren Dinge Linien hinüberführen zu einer Stellung, wie Sie sie für richtig halten. Aber freilich im Ganzen bleibt es dabei: bejahend und positiv ist der Grundton nicht, das bringe ich vorläufig nicht auf, wenn ich an der Zusammenstellung Jesus/ Krieg herumdenke, ich ende im Wesentlichen doch immer aufs neue beim starken Betonen und irrationalen Festhalten und Behaupten dessen, was Troeltsch „christliche Utopie“607 zu nennen liebt, ohne freilich die ersten und nächsten Pflichten gegen Vaterland und Volk, wie sie vor uns stehen, damit leugnen oder auch nur als unerheblich erklären zu wollen. Ich finde keine bessere „Lösung“, so wenig ich mir auf die dargebotene etwas einbilde, ich weiss sehr wohl, dass sie mit schweren Bedenken belastet ist, aber welche von allen andern ist das nicht ebenso? Ich möchte eigentlich überhaupt nicht von „Lösung“ eines „Problemes“ reden, das klingt alles so verflixt intellektuell, und doch ist es gar nicht so gemeint, es ist doch alles ernst gemeinte, was zur Lage gedacht und gesagt wird, im Grunde nichts anderes ist als ein sehr unmittelbares sich finden und sich schicken in die Lage voller Widersprüche, Rätsel und Inconsequenzen, aber aus jener Logik des Herzens und Gewissens heraus, die eine sehr viel andere und reichere ist als die dürre, armselige Logik der Vernunft, und bei jedem wieder neu, so wie es ihm eben gegeben ist, so wie sein lebendiges Herz gerade schlägt und sein Gewissen ruft. Ich glaube, ich verstehe diese Sprünge des Menschenherzens überhaupt erst 605 Eduard Thurneysen: Jesus und der Krieg. Vortrag gehalten in der Kirche zu Seon am 15. Februar 1915, in: Monatsblatt für das reformierte Volk des Aargaus 26, Nr. 6, 1915, 41–44; Nr. 7, 1915, 52–54. 606 Eduard Thurneysen: Jesus und der Krieg, in: Die Glocke 23, Nr. 9, Juni 1915, 56 f. 607 Ernst Troeltsch: Renaissance und Reformation, in: HZ 110 (1913), 519–556, hier 538.

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recht durch das, was wir heute durcherleben und durchdenken müssen. Es ist mir selber oft genug ein Rätsel, dass unser Herz mit aller Kraft protestieren will gegen den Weltlauf und es tun muss aus innerm Drang und Verlangen, und mit seinem Proteste Welt und Gott gewaltsam auseinanderreisst und doch in demselben Augenblicke sich und die Welt und das Leben umspannt und getragen weiss von Gottes grosser Macht und Gegenwart und sehr erstaunt ist, wenn man es bei seinem Proteste behaften will. Ja, vor dem Forum der Vernunfteinheit ist das ein Rätsel, aber es ist doch da, beides da oft genug beisammen in einem lebendigen Bewusstsein. Ich wenigstens finde es so vor bei mir und andern und kann es nicht aufarbeiten eines in das andere und weiss mir nicht anders zu helfen als beides gelten zu lassen. Soeben lese ich einen Brief meines Freundes Liz[entiat] Loew608, der Naumanns Tochter609 zur Frau hat und gerade von der Karpathenfront zurück ein wenig auf Urlaub weilt. Ich habe dabei an das denken müssen, was Karl Barth in der Glocke610 vom Auseinanderkommen schreibt, da ist wirklich viel daran wahr, ich will mir aber Mühe geben, Loew recht verständnisvoll und freundschaftlich zu schreiben und nicht „der Rechthaber“ zu sein. Das möchte ich überhaupt nie und nirgends und bin vielmehr dankbar und offen für allen Widerspruch und alle Zurechtweisung. Etwas erstaunt war ich über das, was Rade in der christl.[ichen] Welt von Troeltsch abdruckt611; Troeltsch redet da von einer Pflicht der Kirche zum Protest gegen die Kriegsidee und den Unfriedensgeist, aber so von aussen her, wie wenn er selber gar nicht dazu gehörte. Gerade wenn man ihm sachlich beistimmt, fragt man sich, warum er nicht selber diese von ihm erhobene Forderung kräftig erfüllt. In meiner Gemeinde ist jetzt Heuet612, und ich helfe auch gelegentlich so ein wenig mit, wenn ein Wetter am Himmel steht und freue mich der schönen Sonnentage. Für mich selber denke und arbeite ich viel an Predigt- und Gemeindeproblemen herum, vielleicht darf ich namentlich über erstere gelegentlich mit Ihnen ein wenig ausführlicher reden. Ich habe auch Pfr. Schaefers613 Confirmandenbüchlein614 aufs neue noch einmal vorgenommen, habe es aber aufs neue nur mit Betrübnis aus der Hand gelegt. Es sind so merkwürdige Sachen darin, was soll z. B. gleich auf S.[eite] 7 beim Sabbathgebot die Beifügung „noch dein Arzt“? Das ist doch direkt gegen den Sinn Jesu. Und 608 Der im Kreis Limburg geborene Wilhelm Loew erwarb 1914 den Grad des Lizentiaten der Theologie mit der Arbeit „Das Grundproblem der Ethik Schleiermachers in seiner Beziehung zu Kants Ethik“, die 1914 als Ergänzungsheft Nr. 31 der Kantstudien in Berlin erschien. 609 Liese Loew, geb. Naumann. 610 Karl Barth: Friede, in: Die Glocke 23, Nr. 9, Juni 1915, 55 f. 611 Ernst Troeltsch: Der Völkerkrieg und das Christentum, in: ChW 29 (1915), 294–303. Der Beitrag war am 15. April 1915 erschienen. 612 Heuernte. 613 Dr. phil. Albert Schaefer war seit 1905 Pfarrer im aargauischen Schinznach. 614 Albert Schaefer: Konfirmanden-Büchlein, Basel 1915.

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dann ist alles so furchtbar bieder und das Ganze schliesst mit einem sehr oberflächl.[ichen] Verse von Sturm.615 Die Christologie fehlt sozusagen ganz. Und besonders anstössig ist mir die Gliederung des Schlussabschnittes 1.) Die Kirche 2.) Jesus Christus… Mir ist das ganze Büchlein ein Rätsel. Jetzt muss ich aber mein Geplauder abbrechen und an die Predigt. Hoffentlich trifft Sie alle dieser Brief gesund und wohl. Herzlich grüsst Sie, Frau Prof. und Hans Ihr Eduard Thurneysen

615 Es handelt sich um das Gedicht „Abschiedsworte“ des Pfarrers und spätromantischen Dichters Julius Carl Reinhold Sturm (1816–1896); siehe dazu das „Konfirmanden-Büchlein“, 27: „Abschiedsworte Du wanderst in die Welt hinaus Auf dir noch fremden Wegen; Doch folgt dir aus dem stillen Haus Der treu’sten Liebe Segen. Ein Ende nahm das leichte Spiel, Es naht der Ernst des Lebens; Behalt im Auge fest dein Ziel, Geh’ keinen Schritt vergebens. Gerader Weg, gerades Wort, So will es dir gebühren; Wer Ehre sich erwählt zum Hort, Den kann kein Schalk verführen. Nimm auf die Schultern Last und Müh’ Mit frohem Gottvertrauen! Und lerne, wirkend spät und früh, Den eig’nen Herd dir bauen. Halt hoch den Kopf, was dir auch droht, Und werde nie zum Knechte; Brich mit den Armen gern dein Brot Und wahre deine Rechte. Treib nicht mit heil’gen Dingen Spott Und ehre fremden Glauben, Und laß dir deinen Herrn und Gott Von keinem Zweifler rauben! Und nun ein letzter Druck der Hand Und eine letzte Bitte: Halt’ dich getreu im fremden Land Zu deines Volkes Sitte.“

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Nr. 94. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 18. Juni 1915 NL 92: III A 13, 47 Lieber Herr Professor, Ich möchte Ihnen gern vor dem Nachtessen616 noch schnell ein paar Worte schreiben. Es plagt mich ein wenig, dass ich meinen letzten Brief an Sie mit einem unnötigen Schimpfen über Pfr. Schaefers Leitfaden beschlossen habe. Ich wollte letzten Montag den wiedergenesenen Karl Pfisterer in Windisch besuchen und traf dort zufällig mit Pfr. Schaefer zusammen und hatte von ihm wieder so sehr den Eindruck eines feinen und reifen Mannes, dass ich mich einfach ein wenig schäme, über seine Leistung geschimpft zu haben. Nicht deshalb, weil ich nun auf einmal dieses Büchlein gut finden könnte, aber weil ich mir sagen muss: es hängt gar nicht viel an einem solchen Unterrichtsaufriss, sondern an der lebendigen Kraft, die dieses Gerippe mit Fleisch umkleidet, und die ist sicher bei einem Manne wie Sch.[aefer] vorhanden. Ich weiss das eigentlich aus immer neuer Erfahrung von mir selber, wie wenig die Einteilung besagt, und wie alles abhängt von der Zucht und Frische, mit der man in die einzelne Stunde geht und sie gibt. Was die Kinder behalten, das sind einmal die Verse oder Sprüche, die sie lernen, und das ist zweitens der Eindruck vom Ganzen, ob sie sich sagen können, es waren lebendige und anregende Stunden oder nicht, und es stand etwas hinter dem Pfarrer, während er zu uns redete, oder man spürte nichts von diesem Tieferen. Darum meine ich persönlich eigentlich auch immer, besser als immer neue Pläne des Ganzen, Leitfäden und Aufrisse zu drucken, wäre der Versuch, einzelne gute und frische Unterredungen mit Kindern selber mitzuteilen mit allen Einzelheiten der psycholog.[ischen] Vertiefung und Anwendung, wie man sie in den Stunden versucht; vielleicht läge ein solcher Versuch, der natürlich nur aus langer Übung und Erfahrung herauswachsen könnte, in der Richtung einer Art religiöser Jugendlehre, wie sie Förster617 uns fürs Sittliche geschenkt hat. Ein Mann wie Dietschi könnte einmal so etwas leisten. Das wäre etwas sehr wertvolles. Denn recht zu unterrichten, gehört zum Schwierigsten an unsrer Aufgabe. Ich bin sehr dankbar, dass ich da von Dietschi lernen und ihm einmal gründlich zuschauen durfte. Das hat mir viel geholfen und erspart. Es ist jetzt prachtvolles Wetter hier oben, ein Tag wie der andere; ich will am Sonntag versuchen, diesen Sonnenreichtum und den l.[ieben] Gott zusammenzubringen, aber eigentlich sollte man es gar nicht noch extra zusam616 In der Schweiz und im Südwestdeutschen gebräuchliche Bezeichnung für das Abendessen. 617 Friedrich Wilhelm Foerster: Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche, Berlin 1904.

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menbringen müssen, sondern es spüren, und ich glaube, viele unsrer Bauernleute spüren es auch, dass dieser gute Heuet im Kriegsjahr wie ein Geschenk ist. Und ich bin auch lieber Pfarrer, wenn einem Gott selber gleichsam hilft, und die Leute zufrieden macht. Am Montag ist Kirchenblattgesellschaft618 in Zürich. Ich werde aber nicht kommen können. Rich.[ard] Pestalozzi, der jetzt sehr angebunden ist in s.[einem] Pfarrdienst, hat sich seit einiger Zeit auf diesen freien Montag bei mir angemeldet, wir haben uns schon länger nicht mehr recht gesehen und möchten vor s.[einem] endgültigen Weggang von Zürich noch einen Tag zusammen haben. Und von den geschäftl.[ichen] Verhandlungen verspreche ich mir nicht viel, so gern ich die Bekannten und Freunde wieder gesehen hätte. Seit langem traf ich am letzten Montag in Windisch auch mit Pfr. Zickendraht wieder zusammen und hatte allerlei Gespräche mit ihm, wir kamen zu keinem rechten Ende und fanden, wir wollten uns gelegentlich wieder treffen. Er macht immer hin und wieder neue exegetische Fündlein, die oft sehr einleuchtend sind, oft auch weniger; so hat er kürzlich im aarg.[auischen] Monatsblatt619 die Stelle Mt 10, 29 vom Sperling, der zur Erde fällt, neu beleuchtet und im Zusammenhang gebracht mit dem vom Klappnetz des Vogelstellers gefangenen Vogel: die Jünger in Verfolgungszeiten, dadurch die Anwendbarkeit des Wortes zwar verengt, aber sicher dem Sinne gemäss. Meine Haushälterin ruft eben zum Essen. Herzlich grüsst Sie Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 95. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 21. Juli 1915 NL 92: III A 13, 48 O Herr Professor, Grosse Dinge geschehen! Wer hätte das gedacht, als ich das letzte Mal bei Ihnen war! Ich bin seit ein paar Tagen verlobt! Wie ein Dieb in der Nacht ist ein Stücklein Himmelreich zu mir hereingebrochen, und ich habe es an mich gerissen wie ein Gewalttätiger. Es ist mir ein grosses Bedürfnis, Ihnen und Frau Professor mein neues Lebensglück zu sagen, bevor noch die Karten es aller Welt verkünden. Sie haben immer in so väterlicher Weise Anteil genommen auch an allem Einzelnen und Persönlichen und Äussern meines Lebens; da 618 Siehe dazu oben Anm. 385. 619 Karl Zickendraht: Etwas, das nicht in der Bibel steht, in: Monatsblatt für das reformierte Volk des Aargaus, Nr. 3, März 1915, 22 f.

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weiss ich, dass Ihre Freude mit uns sein wird und freue mich darüber und hoffe aus ganzem Herzen, dass Ihre alte Freundlichkeit und treue Teilnahme uns beide auch weiter begleiten werde auf dem neuen Wege, der sich nun mit allen s.[einen] Verheissungen vor uns öffnen will. Sie kennen meine Braut vielleicht von ferne, sie heisst Margrit Meyer620 und ist eine Tochter des basler Lehrers Dr. P. Meyer-Lieb621; sie hat seinerzeit auch Ihr „Wesen des Christentums“ mit Ihrer Erlaubnis gehört.622 Sie hat sich bisher in der Musik ausgebildet und wollte diesen Herbst das Conservatorium besuchen, aber da bin ich nun zwischen hinein gekommen, und es wird alles, alles anders werden für mich und für sie. Wir haben einander nur sehr kurz gesehen, aber sogleich innerlich angezogen und uns rasch und stürmisch für einander entschlossen. Meine Freude ist gross; wir haben uns in der Gemeinsamkeit unsrer Gedanken und Ideale und letzten, tiefsten Lebensabsichten gefunden und wissen uns eins darin, aber in allem Einzelnen sind wir uns noch sehr fremd und fern, und eines dem andern ein tägliches, liebes Rätsel, das wir aus der Ferne durch Briefe zu lösen versuchen. Es ist ein sehr stäpfeliweises623 Zusammenkommen, aber Morgen, Donnerstag, darf ich nun bis am Mittwoch zu Margrit nach Wengen624 (Hotel Waldrand), wo sie mit ihren Eltern in den Ferien ist. Darum müssen wir auch mit den Karten noch warten. – Ich empfinde es tief und täglich, was es Grosses ist, dass Gott mitten in so viel Leid und erschütterndem Geschehen gleichsam Zeit hat, sich zu zwei so kleinen Menschenkindern herabzubeugen, wie wir es sind, und sie so glücklich zu machen. Ich weiss, dass darin auch ernste Verpflichtungen und Verantwortungen liegen und möchte nun auch mit unserm neuen gemeinsamen Leben an ihm hangen und seiner Sache Treue halten. Ich wünsche Ihnen und Frau Prof. und Hans recht gute, fröhliche Ferien und grüsse Sie in herzlicher, alter Anhänglichkeit und Dankbarkeit! Ihr aus allen Einsamkeiten erlöster Eduard Thurneysen. Meine Eltern sind hier in Leutwil und grüssen mit!

620 Margrit Meyer. 621 Paul Meyer-Lieb. 622 Wernle bot im Sommersemester 1910 mittwochs und samstags von 11 bis 12 Uhr „publice“ die Lehrveranstaltung „Wesen des Christentums“ an. Siehe dazu das „Verzeichnis der Vorlesungen an der Universität Basel im Sommersemester 1910“, Basel 1910, 3. 623 „Stäpfeli“ bedeutet v. a. im Alemannischen die „Stufe“. 624 Berner Oberland.

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Nr. 96. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Kloster Dörfli625, den 23. Juli 1915 NL 290: B 346, 50 Lieber Herr Pfarrer! Das hätte ich auch nicht gedacht, als ich meine alte Schreibmaschine hierher transportierte, dass sie dazu dienen werde, Ihnen zu Ihrer Verlobung Glück zu wünschen. Aber bei Ihnen gehts gewöhnlich im Sturmschritt, dem unser einer kaum nachkommen kann. Ich habe laut aufgelacht, als ich in Ihrem Brief die Stelle las: zwar nur sehr kurz, aber dann gleich rasch & stürmisch. Das ist recht so. Also die herzlichsten Glückwünsche von mir & meiner Frau & wir wissen es sehr zu schätzen, dass Sie uns das Geheimnis ausbringen, bevor alle Welt es weiss. In diesem S[tü]ck sind Sie zwar überhaupt lustig, Sie können Geheimnisse & was man Ihnen gelegentlich anvertraut, äusserst schwer in Ihrem Innern behalten. Aber diesesmal freut michs rein & ich nehme an diesem Geheimnis den wärmsten Anteil. Ja das ist ein wunderbarer Segen Gottes, den man nie verdient hat, wie alles Grosse Herrliche in unserem Leben. Bei mir persönlich ist das Gefühl des unverdienten Glücks & das Staunen darüber eigentlich immer neu, je älter ich werde, ob schon dicht daneben auch wieder das Gefühl des Selbstverständlichen & es hat so müssen kommen, Platz hat. Ich habe leider einstweilen nicht die Freude, Ihre Braut zu kennen. Ich [er]innere mich sehr wohl, dass Sie sich bei mir zu jenem Kolleg schriftlich anmeldete, aber ich würde sie nicht auf der Strasse grüssen, bisher da ich im Kolleg niemals Zeit hatte, meine Zuhörerinnen, die nicht bei mir zu Hause waren, näher ins Auge zu fassen. Ich bin aber ganz gewiss, dass Sie die Rechte nehmen & dass der liebe Gott dahinter steht & ich freue mich darauf, wenn Sie mit Ihrer Braut bei mir auf dem Heuberg vorsprechen. Einstweilen grüssen Sie sie ehererbietig von mir & ich lasse auch ihr herzlich gratulieren aus meiner guten Kenntnis Ihrer Person von manchen Jahren her. Hoffentlich sind Sie nicht gar zu gleichartig, sondern so verschieden, dass Sie gelegentlich auch Kritik bekommen & hie & da ein kräftiger Dissens entsteht. Das gehört für mich zur Gesundheit einer rechten Ehe. Wir haben genug Leute & sogar Freunde, die uns schmeicheln, aber so wenig, die uns die Wahrheit sagen. Wenns die Frau nicht thut, ist man bös daran. Die Voraussetzung ist natürlich immer das gegenseitige Verständnis in allem Centralen & das ist ja das Schönste, was Sie jetzt bekommen werden. Dass Ihre neue Freude gerade in diese böse Kriegszeit fällt, wird Ihnen beiden auch zum Guten dienen. Weniger glücklich werden Sie deshalb auf keinen Fall werden, denn so ist eben unser Herz, dass es Platz hat für ganz verschiedene & entgegen gesetzte Empfindungen & dass der ernste 625 Kanton Graubünden.

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Hintergrund der Zeit die Freude im nächsten Kreis doppelt mächtig erklingen lassen kann. Sie lieben & heiraten nun auch dem Teufel zum Trutz & unserm Gott zur Freude, dem mit Schwermut & Sauersehen niemals gedient worden ist, wohl aber mit einem tapferen freudigen Herzen. Meine Frau trägt mir eben auf, Ihnen von Ihr zu gratulieren, was ich ja schon gethan habe. Sie empfindet warm mit Ihrem Glück. Vor einem Jahr waren Sie bei uns in Klosters, da gabs noch gar keine Liebesgedanken, gerade wie auch noch keinen Krieg. Ich habe ja so manche schöne Ferienerinnerungen an Sie auch von Brigels & Dutjen her. Mit meinen gegenwärtigen Studenten ist das etwas anders, ich werde älter & sie jünger & das spürt man leider gelegentlich. Ich habe mich aber gestern wieder so gefreut, als ich in der Vereineklubhütte626 just einen meiner Studenten traf. Nun bei Ihnen ändert sichs ja auch schon & Sie werden diesmal Ihre Braut nicht mit dem religiösen Apriori627 bestürmen & auch das Zusammentreffen der verschiedenen Apriori in einem Punkt ihr lieber unerklärt lassen. Und wenn überhaupt dieses neue A posteriori Sie noch herzhafter auf den Bod[en] der Wirklichkeit stellt unbeschadet des Flugs zum Himmel, zu dem es nötigt, können Sie den Menschen dieser Erde noch mehr sein & helfen & dass Ihre Braut Ihnen dazu gegeben werde, ist mein warmer Wunsch, wie es der Ihre sein wird. Viel Freude & Sonnenschein in Ihr neues Leben mit allen herzlichen Grüssen und Wünschen Ihr getreuer P. Wernle

626 Hier ist das „Berghaus Vereina“ im Silvretta-Gebirge in Graubünden gemeint. 627 Ernst Troeltsch z. B. gebrauchte den Begriff, um „die Religion als eine dem Geiste wesentliche Funktion dem System der Vernunft einzugliedern, wobei gleichzeitig ihr untheoretischer antiintellektualistischer Charakter gewahrt bleiben sollte“; siehe Ansgar Paus: Religiöser Erkenntnisgrund. Herkunft und Wesen der Aprioritheorie Rudolf Ottos, Leiden 1966, hier 65, Anm. 17; ferner auch Reinhard Schinzer: Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk, in: NZSTh 11(2009), 189–207.

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Nr. 97. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 22. August 1915 NL 290: B 346, 51 Lieber Herr Pfarrer! Beim Aufräumen meiner Bücher stosse ich auch auf dies mir von Ihnen geliehene. Es werden wohl Jahre vergehen, bis ich an dessen Gegenstand kommen werde & deshalb sende ich Ihnen das Büchlein retour mit bestem Dank. Ich bin seit Freitag Abend wieder in Basel zurück, Sie waren inzwischen hier & machten Besuche. Ich hoffe, Sie kommen bald wieder & dann darf ich auch Ihre Braut zu sehen bekommen. Sie hat mir so lieb nach Klosters geschrieben. Ich habe gut ausgeruht in den Ferien, so dass ich wieder frisch an die Arbeit gehen kann. Aber es bangt mir manchmal vor ihrer Weitläufigkeit & Unübersichtlichkeit. Nun, wir werden sehen. Ich denke mir Sie immer sehr fröhlich & mit den schönsten Erwartungen der Zukunft entgegensehend. Mit herzlichen Grüßen Ihr P. Wernle Nr. 98. Brief P. Wernle an M. Meyer Basel, den 27. August 1915 NL 290: B 346, 52 Geehrtes Fräulein! Sie sind meinem persönlichen Glückwunsch mit so lieben Zeilen zuvorgekommen & ich komme nun etwas verspätet damit an. Ihr Bräutigam ist mir ja ein so lieber Schüler & Freund, dass mir selbstverständlich sein neues Glück zu Herzen geht & ich mich freue, auch mit seiner Braut Bekanntschaft zu machen. Ich bin aber so kurzsichtig, dass ich Sie trotz des Kollegienbesuchs nicht gleich erkennen würde & mich somit auf den Besuch mit Ihrem Bräutigam besonders freue. Ein reiches herrliches Leben steht Ihnen beiden bevor, Ihr Bräutigam sorgt dafür, dass es nicht einförmig & gemächlich verlaufe, er hat so etwas von einem Seefahrer, der Wind & Wellen gern kommen sieht; Sie werden für die

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nötige Ruhe & Festigkeit sorgen, wie ich hoffe, das übrige steht alles in Gottes Hand. Wir, seine Freunde, können nur frischauf zur Fahrt! rufen. Mit allen herzlichen Wünschen Ihr erg.[ebener] P. Wernle Nr. 99. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 16. September 1915 NL 290: B 346, 53 Lieber Herr Pfarrer! Auf die Gefahr hin, bei Ihnen auch als ein Christ minderen Grades betrachtet zu werden – – – was mich übrigens in meinen Gefühlen gegen sie nicht ändern würde – – muss ich Ihnen nachträglich doch berichten, dass ich nun die berühmte Korrespondenz in der Glocke628 gelesen habe & vollständig auf der Seite von K[arl] Pfisterer stehe, sachlich wie formell. M[eines] E[rachtens] kann man die Sache gar nicht besser formulieren, als er es thut in dem Passus: jetzt steht vor allem das eine Problem im Vordergrund. …. Es ist eben gerade so formuliert, dass jeder spüren kann, dass der Mann ein Herz zu unsrem Volk hat & es wirklich, im tieferen Sinn, gut mit ihm meinen möchte. Ich begrüsse diese Auseinandersetzung vor allem darum, weil Pfisterer so wenig als ich für den landläufigen freisinnigen Patriotismus zu haben wäre, gegen den wir immer gekämpft haben & von dem wir uns jetzt noch geschieden wissen. Ich bin fest überzeugt, er hat in seinen Predigten sein Gewissen geltend gemacht & sich bemüht, unsern Soldaten wirklich zu dienen als Jünger Jesu. Darum kann er ein gutes Gewissen haben & hat auch das Recht, sich für das zu wehren was er will. Aber um den Hauptmannsgrad & solche Kleinigkeiten handelt es sich ja wirklich gar nicht in dieser Sache. Es hiesse die ganze Frage verschieben, wenn man das in den Vordergrund stellen würde. Die Meinung von R[udolf] P[estalozzi], ein nicht offiziersmässiger Feldprediger könnte leichter gegen

628 In der Wochenschrift „Die Glocke“ 23, Nr. 12, September 1915, 83, wurden zwei Leserbriefe von dem Windischer Pfarrer Karl Pfisterer und von Rudolf Pestalozzi abgedruckt. Pfisterer, der auch Feldprediger war, reagierte auf den Artikel „Grenzbesetzung 1914/15. Eine Erinnerung“, den Pestalozzi veröffentlicht hatte, in: Die Glocke 23, Nr. 11, 71–73 und warf Pestalozzi vor, er würde einen „versteckten Kampf“ gegen das schweizerische Heer führen.

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den Krieg predigen, ist fast lächerlich; er würde viel abhängiger sein & man könnte ihm viel leichter das Maul verbinden.629 Man sollte doch die einfachen Sachen einfacher nehmen. Entweder es ist einer überzeugt, dass einstweilen in dieser Welt zur Erhaltung unsres Vaterlandes Militärdienst & wenn nötig Gebrauch der Waffen nötig ist in Gottes Namen, dann wird er die Voraussetzung für einen Feldprediger haben & kann an die hohen & schweren Aufgaben gehen, die ihm dieser Beruf stellt. Oder es ist einer inwendig so antimilitaristisch & antikriegerisch gerichtet wie R[udolf] P[estalozzi] & wie Ihre meisten Freunde, dann wird er eben nicht Feldprediger & soll es mit Recht nicht werden. Sie haben sicher gut gethan bei Ihrem Entschluss. Aber denken Sie bloss an Pfarrer Benz, so würden Sie jedenfalls da von innerem Zwang & ä[us]serlichem Zwang nichts sagen können, ein solcher Mann hat eine Freude, den Soldaten ein rechtes Wort zu sagen, einerlei ob er Offizier sei oder nicht, er steht innerlich so, dass er frisch & ehrlich seinem Beruf dienen kann. Dagegen so wie R[udolf] P[estalozzi] es möchte, als Feldprediger den Soldaten dienen in direct antimilitaristischem & pacifistischem Sinn, das sind auf die Dauer innerlich unmögliche Dinge. Das wäre, wie K[arl] P[fisterer] mit Recht sagt, nur eine Erschwerung des ohnehin schon sauern Dienstes. Und es wäre m[eines] E[rachtens] einfach auch wider den Willen Gottes. Man kann Gott nur dienen, indem man wirklich auf seinen Willen eingeht, den er durch keinen Buchstaben & durch kein Wort Jesu uns geschrieben kundgibt, sondern durch seine Lebendigkeit in den Geschicken & Lagen, in die er uns gestellt hat. Es ist einfach die Frage, ob unser Vaterland ein Gut ist, das uns Gott zu bewahren & frei erhalten gegeben hat oder nicht. Zu dieser Frage möchte ich gern von jedem ein Ja oder Nein hören. Wer die Freude & den Mut hat, Ja zu sagen, der muss eben die Konsequenzen ziehen & auch die nötigen Opfer bringen bis hinauf zum höchsten. Mir kommt oft, vor, Ihrer Freu[nd]e 629 Rudolf Pestalozzi bedauerte, dass „die Vertreter dieser grundandern Welt [die Feldprediger] nun so Teile der militärischen Organisation geworden und sie mit dem Degen unter Trommelwirbel auf eine Kanzel steigen zu sehen, die auf Brigade- oder Regimentsbefehl hin errichtet worden ist und zu der Offiziere und Mannschaft größtenteils gegen ihren Willen geführt worden sind. Es nimmt mir dies von vornherein die Empfänglichkeit für seine Worte, denn ich kann diesem zum militärisch gradierten – und dadurch auch von seinem Oberkommando abhängig gewordenen – Pfarrer gegenüber nicht mehr recht das Vertrauen haben, daß er an diesem Platze von Jesus und seinem Evangelium zu mir reden wird.“ Die Glocke 23, Nr. 12, September 1915, 83. Pfisterer antwortete nochmals in: Die Glocke 24, Nr. 1, Oktober 1915, 3 f. Dort findet sich auch ein Leserbrief von Thurneysen (7), der die seelsorgerliche Aufgabe der Feldprediger hervorhebt. Siehe zu dieser Diskussion auch den Brief von Rudolf Pestalozzi an Eduard Thurneysen, 25. September 1915, in dem sich Pestalozzi auch über den fehlenden Rückhalt im CVJM beschwert und Thurneysen um einen Artikel bittet. Schließlich setzte sich Pestalozzi auch polemisch mit einem Brief Wernles auseinander und erklärt: „Er [der Brief Wernles] wirkt wirklich nicht überzeugend […] Und die Sprüche von dem uns von Gott gegebenen Vaterland berühren von einem Mann wie Wernle einfach beschränkt. Als ob die Schweiz nun gerade der botanische Garten oder ,Naturpark‘ des lieben Gottes wäre und wir Schweizer seine verbrieften Gendarmen.“

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ganze Dialektik bestehe darin, um diesen einfachen Punkt hinwegzutanzen. Wir mögen von ganzen Herzen bedauern, dass wir in dieser harten Welt stehen & dass eine solche Aufgabe Waffen & Blut erfordern muss, einverstanden. Schön ists wahrlich nicht & sich zu begeistern gibts da wenig. Aber wenns Pflicht ist, dann ists mir genug. Wir mögen mit aller Kraft im Frieden daran arbeiten, dass es anders werde & dass die Völker einander näher kommen, aber wir dürfen auch im Frieden keinen Augenblick unsre Pflicht versäumen, damit es uns nicht gleich wie den armen Belgiern ergehe & damit die andern wissen, so leicht wie im Spazieren kriegen sie uns sicher nicht unter. Sehen Sie, Sie & Ihre Freunde reden so oft, von Kriegsbegeisterung, die ein Christ nicht haben dürfe etc. Darum handelt es sich ja gar nicht bei uns & schliesslich sogar in Deutschland nicht. Die Begeisterung ist unsern Soldaten schnell vergangen, wenn sie sie je gehabt haben. Aber um den sittlichen Willen handelt es sich, durchzuhalten & sein Vaterland nicht im Stich zu lassen, wenns noch so hundserbärmlich langweilig & eintönig & weiss Gott was ist. Und da hat m[eines] E[rachtens] ein Feldprediger bei uns wirkliche & nahe liegende Pflichten, denn da liegen die Schwierigkeiten & Nöte so offen auf der Hand. Ich habe mich darum in der letzten Nr630 der Glocke sehr über Peter Barths Aufsatz gefreut, wenn ich auch sein Gerühm mit unsrer Demokratie nicht teilen kann.631 Aber es war gesund & gieng von gesunden Voraussetzungen aus. Bei R[udolf] P[estalozzi] & ich muss sagen, manchmal auch bei Ihnen, habe ich den Eindruck, Sie haben kein rechtes Herz zu unserem Volk & es brennt Sie die Gefahr noch zu wenig. Ists denn wahrhaftig nötig, dass Bomben & Granaten zu tausenden in unser Land fliegen, bis Sie endlich erwachen & merken, dass es brennt. Man möchte wirklich manchmal fast einen Krieg im eigenen Land wünschen, um Sie & Ihre Freunde endlich einmal auf den Boden der Wirklichkeit zu stellen. Ihre Problempredigt vom letzten Sonntag ist mir auch ein Beweis dafür. Sie merken noch nicht, was unsre Leute jetzt brauchen, einen Patriotismus, der sie tragen, entbehren, ausdauern, Opfer bringen macht. Es handelt sich ganz & gar nicht, wie R[udolf] P[estalozzi] meint, um die „Weihe patriotischer Gefühle“ & anderes dummes Zeug, sondern um patriotische Pflichten & Aufgaben, um einfache Volkssittlichkeit. Dass wir dann den Leuten nicht die Einbildung beibringen, damit seien wir schon Christen & das sei 630 Nummer. 631 Peter Barth: Zum Wiederaufgebot der 5. Division, in: Die Glocke 23, Nr. 12, September 1915, 79 f. Dort schreibt er (79): „Äußerlicher Friede kann unter seiner Decke innerliche geistige, soziale und politische Fäulnis und Zersetzung bergen. Bekanntlich hat die friedliche Schweiz des 18. Jahrhunderts ein Ende mit Schrecken nehmen müssen. Dem gegenüber bedeutet die selbständige Schaffung und Ausgestaltung unseres demokratischen Bundesstaates im vergangenen Jahrhundert eine sittlich wertvolle gemeinsame Friedensleistung unseres Volkes, auf der wir nicht ausruhen dürfen, die uns aber die Richtung einer eigenen wertvollen sittlichen Weiterentwicklung weist. Mit der Aufrichtigkeit, Lebenskräftigkeit und sittlichen Leistungsfähigkeit unserer Demokratie stehen und fallen wir als selbständiger, daseinsberechtigter Staat. Es ist ein herrlicher Grundsatz, den das Schweizervolk sich zu eigen gemacht hat, daß überall wir, das Volk, selber zum Rechten sehen wollen.“

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genug, dafür wird das Evangelium schon sorgen. Das verlangt auf jeden Fall etwas weit Höheres & Innerlicheres als alle Volkssittlichkeit, aber ich denke, doch auf deren Basis, nicht mit Ueberspringung derselben. Wer seinem Volk in diesen elementaren Dingen nicht dienen & helfen kann, wird ihm auch zum Höhern nicht dienen können. Mir thut es oft in der Seele weh, wenn ich in dieser schweren Zeit Sie so hoch oben in den Lüften & theoretischen Problemen sehe & so weit weg von unserem Volk & dem, was es jetzt braucht. Ich weiss nicht, wie mans machen müsste, um Sie aus Ihrer Welt der Postulate & Theorien wegzubringen zu den einfachen Elementen, die jetzt in Frage stehn. Gerade weil es so viel faulen & windigen Patriotismus unter uns gibt, brauchen wir so dringend ernste Christen, die zu unserem Volk stehen & ihm in der Lage, in die Gott es jetzt stellt, helfen & dienen können. Ein solcher Mann ist bei uns Pfarrer Benz, aber wir sollten viel mehr solche Männer haben. Liebe zum Volk, statt Liebe zu Gedanken & Ideen, das is[ts], was ich meine. Bei R[udolf] P[estalozzi] finde ich einen feinen Idealismus, der einfach verliebt ist in Ideen & gar nicht zu dem Gottes Willen durchdringen kann für die Gegenwart. Für einen solchen ist der ganze Weltkrieg umsonst, er wird ihn nur bestärken in den Ideen, die er vorher hatte. Aber unserem Volk helfen können jetzt nur Männer, die zu ihm stehen in der Not & den Aufgaben, die Gott ihm jetzt gegeben hat & die gerade das harte Geschick aus seiner Hand & als Fingerzeig für die nächsten Aufgaben zu nehmen vermögen. Später werden Sie das auch einmal merken. Jetzt gehts Ihnen eben so gut, dass Sie Zeit & Musse haben, in der Idee zu leben. Wenn nur unsre Zeit nicht doch zu ernst wäre! Das ist ein wunderlicher Brief für einen Bräutigam. Sehen Sie, ich bilde mir auch gar nicht ein, dass ich Ihnen Eindruck mache. Sie stehen jetzt in einem Kreis, wo man im ganzen gegen solche Stimmen verschlossen ist. Aber da ich Sie von alters her so liebe & meine, es schade ja auch nichts wenn unter den zwanzig andern Stimmen diese eine unharmonische zu Ihnen dringt, schreibe ich Ihnen so, wies mir ums Herz ist, in der Hoffnung, Sie werden den Grundton nicht missverstehen. Mit herzlichen Grüssen auch zu Handen Ihrer Braut, die ich mich freue nun endlich kennen gelernt zu haben Ihr P. Wernle

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Nr. 100. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 17. September 1915 NL 290: B 346, 54 Lieber Herr Pfarrer! Ihr Brief hat mich wirklich gerührt, wie Sie das Donnern eines so sauertöpfischen Alten annehmen. Ich kann Ihnen nur sagen, was Sie betonen, liegt mir auch sehr am Herzen & klingt immer in meinem Innern mit. Ich komme über das Furchtbare & Unjesusgemässe dieser harten schweren Realitäten eben nur so hinüber, dass ich immer nach den Pflichten & Aufgaben frage, die darin von uns verlangt werden & in der Selbstüberwindung & dem Opfern des Particularen & Egoistischen sittliche Werte festzuhalten suche. Aber die Welt des Evangeliums liegt weit darüber & sie ist & soll unsre Heimat sein, nach der alle unsre Sehnsucht geht. Also zürnen Sie mir nichts & haben Sie die Versicherung meiner Freude an dem Gedankenaustausch mit Ihnen. Ich bin ganz besonders froh, daß die letzten Berichte von Ihrer Mutter tröstlich lauteten. Hoffentlich gehts so weiter. Ihr P. Wernle Nr. 101. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 17. September 1915 NL 92: III A 13, 49 Lieber Herr Professor, Ich danke Ihnen vielmal und herzlich für Ihren soeben erhaltenen Brief. Glauben Sie nur nicht, Ihre Einwendungen seien mir gleichgültig, oder ich halte Sie gar für einen Christ 2. Ordnung. Auch ich bezahle meine Militärsteuer632 und habe mich kürzlich, als die Aufforderung dazu erfolgte, als des Schiessens kundiger, wenn auch militärisch nicht eingeteilter Bürger gemeldet wie die andern Männer meines Dorfes, die im gleichen Falle sind, und weiss 632 Steuer, die von wehrpflichtigen Männern erhoben wurde, die den Militärdienst aus irgendeinem Grund nicht leisteten.

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genau, warum ich das tue. Ich spiele wirklich auch in m.[einen] Predigten nicht mit antimilitarist.[ischen] Gedanken und habe den Mann aus dem Waadtland633, klarer als es Ihnen viell.[eicht] aus m.[einem] Referate vorkam, als „in seinem Gewissen irrenden Menschen“ bezeichnet.634 Aber ich gab meiner Hochachtung vor ihm Ausdruck und dem Gefühl der Schwere solcher Entscheidungen. Ich weiss, dass diese militär.[ischen] Dinge Notwendigkeiten sind, denen ich mich nicht entziehen kann, denen ich mich unterziehen soll und sie auf mich nehmen auch als einen, vielleicht dunkeln, Gotteswillen. Und ich verstehe sehr gut, was Sie mir sehr eindrücklich mündlich sagten von dem Trachten nach dem in der gegebenen Lage erkennbaren und geforderten Gotteswillen. Aber ich kann allerdings das andere nicht aus meinen Gedanken verbannen, die Welt Jesu. Das ist mir keine selbstgemachte Idee, sondern ebenfalls etwas von Gott gegebenes, das mich nicht ruhig lässt. Und aus dieser Unruhe heraus muss ich oft auch reden und sagen, dass ich beides in mir trage, ohne es vereinigen zu können, ausser in der Hoffnung: diese Welt mit ihren Pflichten und Realitäten und jene andere erlöste und erlösende Ewigkeitswelt. Ich möchte die zwei Welten nicht gegen einander ausspielen, ich sehe in beidem Gott, aber ich möchte auch nicht, dass ihr vorwärtstreibender Zwiespalt ersterbe, oder ihn mir auflösen lassen in einem stufenweisen Aufbau, wobei sich Demokratie und Gottesreich langsam einander nähern und in einander übergehen. Darin sind sich vielleicht Peter Barth und Ragaz einander näher, als es scheint, nur über die Annäherung an dieses Ziel herrscht Streit. Mir dagegen schien seit jeher die lutherische Auffassung, so wie sie Troeltsch zeichnet als innerweltl.[iche] Askese dem Geist der Ethik Jesu am nächsten zu stehen.635 Aber ich will schliessen, ich schreibe nur deshalb, um Sie zu bitten, Ihre Kritik doch an Pestalozzi selber zu schicken für die „Glocke“. Ich möchte Sie sehr darum bitten, es zu tun; ich habe selber die Nummer an ein paar Offiziere und Soldaten geschickt, Wilhelm636 und Eberhard Vischer637, Felix Lüssy638 und Fritz Wieser mit dem Ersuchen, sich zu äussern und hoffe, es geschehe, da wäre Ihr Wort doch einfach auch nötig und gut, der Sache selber wegen. Ihr Brief enthält in der Hauptsache Sätze, die ich ohne weiteres zugeben muss, und ich denke Sie zweifeln nun nicht an meinem klaren und 633 John Baudraz; siehe Anm. 648. 634 Eduard Thurneysen: Irrendes Gewissen. Zur Frage der Dienstverweigerung aus religiösen Gründen, in: Die Glocke 14, Nr. 1, Oktober 1915, 1. 635 Siehe dazu Troeltsch, Soziallehren, 427–448; ferner ders.: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt. (1906–1913), hg. von Trutz Rendtorff und Stefan Pautler, Berlin 2001, 199–316; dazu Thomas Kaufmann: Luther zwischen den Wissenschaftskulturen. Ernst Troeltschs Lutherdeutung in der englischsprachigen Welt und in Deutschland, in: Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, hg. von Hans Medick und Peer Schmidt, Göttingen 2004, 455–481. 636 Wilhelm Eduard Vischer. 637 Der Jurist Wilhelm Eberhard Vischer ist der Bruder von Wilhelm Eduard Vischer. 638 Felix Lüssy.

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ehrlichen Ja zum Vaterland und zum Staat, in dessen und von dessen Schutz und Integrität ich lebe, aber dass ich gleichzeitig immer auch jenes andere mit empfinden und mitdenken muss, dafür kann ich nichts. Ich verstand vor allem Ihre sehr ernste These, dass wer mit antimilitarist.[ischen] Theorieen heute spielt, viell.[eicht] schwerere Verantwortungen auf sich nimmt, als er selber zu tragen bereit wäre. Das habe auch ich schon sehr energisch manchen meiner Freunde wie Gerwig639 und Gerber entgegengehalten, die ja beide zufällig nicht in die Lage kommen, mit der Waffe zu dienen aber doch zum mindesten Steuer zahlen. Sehr in Eile aber mit allem Dank auch für die freundl.[iche] Aufnahme am Dienstag. Ich freute mich so, meine Braut zu Ihnen bringen zu dürfen. Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 102. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 17. November 1915 NL 92: III A 13, 50 Lieber Herr Professor, Ich wollte gestern vormittag noch zu Ihnen, um Sie schnell zu grüssen; es war aber Besuch da. Ich dachte halb, was mir nachher bestätigt wurde, es seien die Gebrüder Barth640, die sich noch irgendwie persönlich mit Ihnen auseinandersetzen würden. Aber auch wenn ich es sicher gewusst hätte, wäre ich nicht hereingekommen, denn ich hatte nach dem Montagabend641 sehr wenig das 639 Max Gerwig. 640 Peter und Karl Barth. 641 Am Montag, den 15. November 1915, hatte Karl Barth in Anwesenheit auch von Wernle und Thurneysen vor den Mitgliedern der „Vereinigung unabhängiger Kirchgenossen Basels“ einen nur noch fragmentarisch überlieferten Vortrag über „Kriegszeit und Gottesreich“ gehalten. Der Vortrag ist abgedruckt in: Barth: Vorträge 1914–1921, 186–210. Siehe auch a. a. O., 177–186 zur historischen Einordnung des Vortrags. Hintergrund der Diskussion waren die ersten beiden Militärdienstverweigerungen in der Schweiz 1915 gewesen sowie die breite publizistische Debatte darüber. Auch Wernle hatte Stellung bezogen in seiner im Herbst 1915 erschienenen Schrift „Antimilitarismus und Evangelium“. Barth setzte sich sehr intensiv mit Wernles Veröffentlichung auseinander. Drei Tage vor dem Vortrag hatte Barth am 12. November an Thurneysen geschrieben: „Der Basler Vortrag ist fertig. Er enthält u.A. auch eine Generalabrechnung mit Wernle. Ich dachte daran, ihn nachher drucken zu lassen. […] In den ,Neuen Wegen‘ unter all dem Pazifismus wäre er etwas verlocht. Was nun?“; vgl. Barth – Thurneysen 1, 101. Am 17. November dankte Thurneysen Barth für den „gründlich und überlegen abrechnenden Vortrag“ und erklärte: „Abrechnen sage ich und nenne damit das, was für mein Empfinden seine Stärke und seine Schwäche war.“; a. a. O., 102. Siehe dazu Busch: Lebenslauf, 99 f.

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Bedürfnis nach Auseinandersetzung, sondern es überwog ganz das andere, Ihnen noch einmal recht von Herzen zu sagen, wie sehr nah verbunden und tief und persönlich verpflichtet ich mich Ihnen gerade da weiss, wo am Montagabend der dissensus zwischen Barth und Ihnen aufzubrechen schien, in meiner Stellung zu Jesus. Abgesehen von den Kinderjahren hat für mich ein ernsteres und wahreres und zugleich ehrfürchtiges und mich ganz persönlich erfassendes und bindendes Verhältnis zur Person Jesu einfach erst mit den Studentenjahren angefangen und da – ich glaube ich bin nicht ungerecht gegen andere Lehrer – fast ausschliesslich durch Ihren Einfluss, Ihre Bücher und neutestamentl.[ichen] Übungen und das viele Unwägbare und doch tief Einschneidende, das in allen Ihren Vorlesungen und Ihrem Umgang mit uns Studenten spürbar und lebendig wurde. Sie haben uns gezeigt, wie wir auch mitten in einer intellektuell und gesellschaftlich völlig veränderten, modernen Welt Jesus lieb haben und uns von ihm geführt und in seiner Nachfolge wissen können. Das hat mir selber dann ermöglicht, in Zürich und jetzt in meiner Gemeinde bei aller Freiheit doch in herzlichem Einverständnis mit allen denen zu leben, die bei einer vielfach unfreien Haltung zur Bibel doch im Innersten sich einfach an Jesus gebunden wissen. Und es hat auf mein eigenes inneres Leben einen starken und befreienden Einfluss geübt. Ich bedaure, dass ich das am Montag abend nicht noch viel stärker und freudiger gesagt habe. Aber ich war innerlich in keiner Weise darauf vorbereitet, dass Barth seine Ausführungen so stark polemisch wenden werde. Es war mir stellenweise direkt unbehaglich zu Mute. Und zwar nicht nur, weil ich mich in meinen intimen und persönlichen Beziehungen zu Ihnen verletzt fühlte, sondern weil ich auch um des Willen, was Barth nach meiner Empfindung eigentlich sagen wollte und hätte sagen sollen, betrübt war. Ich erwartete, um es so auszudrücken, viel mehr Predigt und Zeugnis von ihm als abrechnende Auseinandersetzung, die ja doch immer irgendwie ungerecht und einseitig wird. Ich hatte mich auf den Abend gefreut, weil ich ein gegenseitiges Austauschen religiösen Besitzes und positiver Ergebnisse erwartete, und sicher war, dass, wenn es dazu komme, eine weitgehende Gemeinsamkeit des Glaubens und des Wollens sich ergeben werde. Das wäre eine Stärkung und Freude gewesen, die ich gerne erlebt hätte. So aber kam das Positive bei Barth einfach zu kurz und kündigte sich nur in dem von Ihnen dann kritisierten Stichwort: „warten“, „glauben“ an, ohne sich irgendwie in seine einzelnen positiven Beziehungen zu entfalten, die doch viel reichere und fruchtbarere sind, als Barth ahnen liess. Ja, es entstand durch seine Kritik an dem, was er Ethik nannte, und seine Entwertung selbst des Sozialismus und aller gesellschaftl.[ichen] Arbeit der Schein, als höre da überhaupt jede Form concreten Stehens und Schaffens in der Welt auf und ende alles in einer eschatologischen Hymne. Das ist sicher nur ein Schein, ich brauche das ja gar nicht zu versichern, aber auf den grünen Zweig des sich gegenseitig verstehens und freuens war nun eben nicht mehr so leicht zu kommen. Ich finde es so schade, dass nun wieder eine Gelegenheit vorbeiging, wo man, ich kann es nur wiederholen, sich Christ mit Christen zusammenfand

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in aller Freiheit und doch mit dem Wunsch, sich des gemeinsamen Besitzes zu vergewissern und zu freuen und ihn gegenseitig einander mitzuteilen und auszutauschen. Das wieder einmal zu erleben, wäre für mich viel mehr Pfingsten als ein Pfingstgottesdienst mit der Predigt eines einzelnen Pfarrers über den Geist. Das wäre ein Stücklein von der Sache, vom Geiste selber. Ich möchte damit niemand anklagen, es scheint vorläufig wie noch nicht möglich zu sein: aber es muss einfach möglich werden. Zur Sache selber kann ich nicht mehr ausführlicher schreiben, vielleicht darf ich bei einem gelegentl.[ichen] Besuch bei Ihnen einmal wieder daraufkommen. Es war mir nur bei meiner Rückkehr in m.[eine] Gemeinde eigentlich eindrücklich, dass ich in drei seelsorgerlichen Fällen drei Mal wirklich keinen andern Rat und Trost wusste für die Betroffenen und für mich als: warten, gläubiges warten; es betraf ein schwieriges Kind, eine verwickelte Geschichte mit einem bösen Nachbarn (nicht von mir!) und die Frau eines brutalen Mannes. Und im Grunde geht es mir in den meisten tiefer greifenden Fällen so, wo ich auf schwer verwirrte Verhältnisse und gebundene Menschen stosse, dass ich freilich einesteils die sittlichen Kräfte mobil machen möchte, andernteils aber den Betroffenen ein Warten auf Gott, ein Aushalten und Glauben zumute. Und ich finde jedesmal, solch ein inneres starkbleiben in Zuversicht und Hoffnung und bitten und flehen (etwa im Sinne Blumhardts) sei ein grosses Stück innerer Arbeit. – Doch ich muss Ihnen nun vor allem noch für Ihre Schrift über Evangelium und Antimilitarismus642 danken. Vielleicht denken Sie nun, das Wörtlein „danken“ sei nicht ganz wörtlich gemeint. Aber ich kann und muss Ihnen versichern, dass ich Ihre Schrift offenbar mit andern Augen gelesen habe als mein Freund Barth und wirklich zu den dankbaren Empfängern gehöre. Einmal weil ich einfach Sie dahinter spürte und Ihre lebendige und anregende Art, der ich mich schon seit meiner Studentenzeit so vielfach zu Danke verpflichtet weiss. Ich spürte aus allen Seiten dieser Schrift Ihr uns Jüngern zu Klarheit und Festigkeit helfenwollen heraus, Sie möchten gern unsre noch tastenden Füsse auf feste, gerade Strassen stellen. Es ist bei aller Entschiedenheit viel hilfreiche Freundlichkeit darin, für die ich Ihnen von neuem

642 Paul Wernle: Antimilitarismus und Evangelium, Basel 1915. Es geht Wernle in dieser Schrift darum, „Recht und Pflicht des Militärdienstes vor unsrer schweizerischen Jugend öffentlich zu verteidigen“, und er erklärt gegen Thurneysen u. a. gewandt: „Und unter denen, die mich dazu nötigen, sind manche liebe Schüler und Freunde, deren religiösen Eifer ich bewundere und vor deren Ernst und Freimut in Beurteilung der Schäden unseres Volkslebens ich den grössten Respekt habe. Aber mit einer Wehrlosigkeit ohne gleichen fallen sie nun einer nach dem andern, der neuen Losung des religiösen Antimilitarismus zum Opfer und verfechten zu einer Zeit, da unser Vaterland, wahrlich nicht zum Scherz und aus irgend einer Laune, seine Söhne zu den Waffen ruft, in einer ganzen Reihe religiöser schweizerischer Blätter den Satz, dass Evangelium, Militär und Kriegsdienst schroffe Gegensätze sind, und der rechte Jünger Jesu wenigstens mit dem Herzen Antimilitarist sein müsse. Sie treten dabei erstaunlich kühn und sicher auf. Dass das echte Evangelium nur auf ihrer Seite ist, bedarf kaum mehr des Beweises.“ So Wernle in dem auf den Oktober 1915 datierten Vorwort S. 3.

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dankbar wurde.643 Ich muss Ihnen offen sagen, dass der fast höhnische Ton, den Herr Pfr. Wirz644 in seiner Notiz im Kirchenblatt645 anschlug, für mich und viele andere sehr betrüblich war und dem sachlich Hörenswerten, das er sagen wollte, sicher nicht diente, wenigstens nicht bei denen, die es vor allem hören sollten. Da empfand ich Ihre Weise, in dieser Sache zu reden, als eine grosse,646 Wohltat. Und es hat denn auch sachlich vieles sehr entscheidend und überzeugend auf mich gewirkt. Es hat mich z. B. um nur eines zu nennen, zu ganz neuem Nachdenken gezwungen, was Sie über die Überfeinerung des subjektiven Gewissens und den versteckten Egoismus, der darin liegt, geschrieben haben. Ich hatte ja ein wenig darauf mein Compliment647 vor Baudraz648 in der Glocke649 aufgebaut. Man hätte wohl überhaupt besser weniger von Baudraz geredet, oder seinen Fall dann noch schärfer erfasst. Ich persönlich war sehr gereizt worden durch den Unverstand der Zeitungen, die mir die Sache meldeten, und fand, es sei nun einmal nötig, das zu sagen, was für Baudraz spricht, obwohl ich in keinem Fall dazu raten könnte, die Waffen wegzulegen, sondern zum Gegenteil verpflichten müsste, es bei Fritz Lieb650 z. B. auch kräftig getan habe, und selber die Verpflichtung fühlte, auszurücken, wenn mich der Fall träfe. Im übrigen kann ich nur von mir sagen: ich werde mit der Spannung zwischen Evangelium und Welt an diesem Punkt wie an den andern nicht 643 Diese Stellungnahme steht allerdings in deutlicher Spannung zu jener Kritik an Wernle, die Thurneysen in einem Brief (22. November 1915) an Barth äußerte: „Ich war eben doch jahrelang Wernles intimster Schüler und in täglichem Verkehr mit ihm. Da könnte ich dein scharf abrechnendes Urteil aus diesem persönlichen Grund heraus mir nicht aneignen, könnte also nicht sagen: er [hat] mir nichts gegeben. Aber das gilt wirklich nur für mich. Und ich muß allerdings auch sagen, ich bin dir dankbar, daß du mir nicht widersprochen hast. Daß dir Wernles Theologie nicht behagt, verstehe ich völlig, auch ich finde sie mißlich, darin sind wir einig. Es ist eine ,Werturteilstheologie‘ schlimmen Stils, die einfach sagt: das und das an Jesus behagt mir, das kann ich gut brauchen, also ist es das Zukunftskräftige an ihm, was allein gilt und Bestand haben wird. Denkerisch durchgearbeitet ist es bei Wernle nicht, sondern es entspricht seinen subjektiven Bedürfnissen. Er hat eine Seite an Jesus herausgehoben, aber es erscheint bei Wernle wie herausgeschnitten und in der Luft hängend, und darum muß er es so krampfhaft betonen.“ Barth – Thurneysen 1, 105. 644 Jakob Wirz war von 1911 bis 1941 Hausvater am Alumneum in Basel. Zudem redigierte er 1912–1943 den „Pfarrer-Kalender“ und wirkte 1915–1928 als Redaktor des „Kirchenblattes“. 645 Jakob Wirz besprach Wernles Antimilitarismus-Schrift unter dem modifizierten Titel: „Antimilitarismus und Christentum [statt Evangelium]“, in: KBRS 30 (1915), 202. 646 Gestrichen: „dankbar empfundene“. 647 Im Sinne von „Verbeugung“. 648 John Baudraz (1880–1968) war ein Waadtländer Primarlehrer, der 1915 den militärischen Dienst aus religiösen Gründen verweigerte. Im Jahr 1915 kam es während der Kriegszeit in der Schweiz zu mehreren Dienstverweigerungen aus Gewissensgründen; siehe dazu Mattmüller II, 273–290. Ferner NW 9 (1915), 422–427; 551 f.; NW 10 (1916), 372–375. 649 Eduard Thurneysen: Irrendes Gewissen? Zur Frage der Dienstverweigerung aus religiösen Gründen, in: Die Glocke 24, Nr. 1, Oktober 1915, 1 f. Thurneysen setzt sich mit der Erfahrung auseinander, dass sein Freund Fritz Lieb durch den Einfluss von Ragaz den Wehrdienst verweigern wollte. Siehe dazu den Brief von Thurneysen an Barth vom 21. September 1915, in: Barth – Thurneysen 1, 85. 650 Fritz Lieb zählte zu den Anhängern des Religiösen Sozialismus und war ein Freund Karl Barths.

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fertig und kann dieses Gefühl hier so wenig wie dort unterdrücken. Ich kann Ihre Schrift vollständig gelten lassen, auch in ihrer starken Freudigkeit den schweren, blutigen Pflichten unsres Lebens in Volk und Vaterland gegenüber, wenn Sie mir jenes andere Gefühl in seinem Rechte auch gelten lassen. Es sind für mich mit gleicher Notwendigkeit aus dem gleichen Centrum fliessende Consequenzen. Dabei weiss ich, dass ich leicht nur die eine Seite ausspreche, weil ich durch irgendwelche subjective Nötigungen gerade diese Seite stark empfinde, aber grundsätzlich möchte ich dies eigentlich nicht. Ihre Schrift hat mir das wieder von neuem eindrücklich gemacht. Im einzelnen würde ich auch hier manches gern noch näher besprechen. Ich kann z. B. das von Ihnen wieder stark unterstrichene Jesuswort vom Kaiser- und Gottesdienst nicht loslösen von seinem eschatologischen Hintergrund, und darauf gesehen verliert es doch an Beweiskraft für eine positive Wertung der diesseitigen Dinge. Doch genug hievon. Den Ausgang der Pfarrwahl Moppert-Waldb.[urger]651 habe auch ich mit grosser Spannung erwartet wie sicher viel andere jüngere Kameraden. Ich finde aber, es sei der Versuch doch nicht umsonst gewesen, weil vielleicht doch wieder etwas von einer Möglichkeit des Glaubens und Arbeitens an der Überwindung der Parteischablonen in das Bewusstsein der Menge gedrungen ist und die kleine Herde vielleicht doch wieder ein paar Schritte vorwärts gebracht hat. Es ist fast wie mit unsern Blaukreuzschäärlein652 inmitten der noch seltsam zuschauenden Gemeinden und wie mit allen andern kleinen Herden überhaupt. Ich muss schliessen und danke Ihnen für Ihr geduldiges Zuhören. Es war mir ein wahres Bedürfnis, Ihnen wieder einmal ausführlicher schreiben zu dürfen. Sie nehmen stetsfort in alter Weise ein freundliches Interesse an mir; es war mir eine solche Freude, dass ich auch mit meiner Braut so herzlich von Ihnen und Frau Prof. begrüsst und aufgenommen wurde. Ich möchte auch weiterhin immer wieder zu Ihnen kommen dürfen, weil ich es brauche und weil ich so offen zu Ihnen reden darf und das Gleiche von Ihnen erfahre. Ich möchte in allem Weiterarbeiten und Aufnehmen neuer Gedanken und Auf651 Bei der Besetzung der dritten Pfarrstelle der damals neuen Basler Kirchgemeinde St. Elisabethen-Gundeldingen wurde am 13./14. November 1915 der Kandidat der Freisinnigen, August Waldburger aus Ragaz (Kanton Graubünden), gewählt mit 595 von 1188 abgegebenen Stimmen. Der unabhängige Oscar Moppert erhielt 289, der von den Sozialdemokraten vorgeschlagene Arnold Knellwolf aus Erlach 242 Stimmen. Siehe dazu Fritz Baur: Basler Chronik. Vom 1. November 1915 bis 31. Oktober 1916, in: Basler Jahrbuch 1917, 374. Siehe dazu auch die Wahlwerbung in den Basler Nachrichten 71. Jg., Nr. 578, 1. Beilage, [3]. Dort warb der „Münstergemeinde-Verein der Positiven“ für Oscar Moppert und der „Wahlausschuss der kirchlich fortschrittlichen Richtung“ für August Waldburger. Wernle äußerte sich zu dieser Wahl auch in den Basler Nachrichten; siehe dazu Paul Wernle: Eine letzte Richtigstellung zur Gundeldinger Pfarrwahl, in: Basler Nachrichten 71 Jg., Nr. 578, 14. November 1915, 2. Beilage, [1]; ferner KBRS 48 (1916), 74. Als Problem der Basler Kirchenverfassung wurde in diesem Zusammenhang das Fehlen einer „Kirchengemeindeversammlung“ moniert (ebd.). 652 Kleine Gruppe, die sich zur Abstinenzbewegung Blaues Kreuz zählt.

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gaben doch im Innersten ein freier Mensch bleiben, der nur auf das Wahre und Echte sieht und dem dienen darf.– Das Anliegen meines l.[ieben] Vaters653 kommt erst in der Frühjahrssynode zur Behandlung. Ich glaube, der Kirchenrat hat Bedenken, darauf einzugehen, weil vielleicht dann auch noch andere kommen könnten; es scheint auch aus formellen Gründen nicht mehr zur Behandlung haben kommen können.654 Ich hätte Ihnen vielleicht gar nichts davon sagen sollen; jedenfalls soll nichts weiter davon verlauten, ich denke, es wird schon auf dem rechten Wege sein. Es grüsst Sie in herzlicher Hochachtung Ihr Eduard Thurneysen. Herzl.[iche] Grüsse auch an Frau Prof.

653 Friedrich Eduard Thurneysen war zu dieser Zeit Pfarrer am Bürgerspital in Basel. Er stellte zunächst einen Antrag auf Gehaltserhöhung an das Pflegamt und wandte sich nach der Ablehnung seiner Eingabe an den Kirchenrat. Dieser nun teilte ihm mit, dass man den Antrag nicht mit ihm persönlich, sondern mit dem Bürgerrat oder mit dem Pflegamt verhandeln müsse. Zudem ließ man Thurneysen wissen: „Uebrigens ist die gegenwärtige Zeitlage der Uebernahme dauernder Verpflichtungen nicht günstig.“ Siehe dazu das Protokoll der Sitzung des Kirchenrates vom, 12. Januar 1916, in: Protokoll des evangelisch-reformierten Kirchenrates Baselstadt 1911–1918, 371, Archiv der Evangelisch reformierten Kirche Basel-Stadt (StABS). Siehe ferner die Einträge zu diesem Antrag a. a. O., 377; 382. Am 15. März 1916 beschloss der Kirchenrat, der Synode vorzuschlagen, dem reformierten Pfarrer des Bürgerspitals eine jährliche Besoldungszulage von 500 Franken ab 1. Januar 1916 zu gewähren, damit er, „wie seine Kollegen in den Gemeinden, auf eine Maximal-Bareinnahme von Fr. 7000,– käme“. Auch solle das Pflegamt dem Spitalpfarrer „ein dem Spital gehörendes Haus zu kostenfreier Bewohnung“ überlassen, a. a. O., 383. Am 29. März 1916 wurde dem Antrag beigefügt, dass die Besoldungserhöhung „bis auf Weiteres“ erfolge (a. a. O., 386 f.). In der Kirchenratssitzung vom 6. Dezember 1916 (a. a. O., 429) wird er Beschluss der Synode zur Kenntnis genommen (siehe dazu die folgende Fußnote). 654 Die Herbstsynode hatte am 10. November 1915 stattgefunden; die Frühjahrsynode wurde auf den 10. Mai 1915 in den Großratssaal einberufen. Unter dem Präsidenten Rektor Dr. Robert Flatt (1863–1955) verhandelte sie in ihrer Nachmittagssitzung als fünften Tagesordnungspunkt folgenden Antrag des Kirchenrates: „Die Synode bewilligt ab 1. Januar 1916 bis auf Weiteres dem Pfarramt am Bürgerspital einen jährlichen Beitrag von Fr. 500.– als Zulage zu der gegenwärtig vom Pflegamt dem evangelisch-reformierten Pfarrer am Bürgerspital entrichteten Besoldung.“ Prof. Eberhard Vischer erklärte daraufhin, „dass die Verfassung zu dieser Besoldung keine Handhabe biete“. Der Präsident der Synode stellte zudem wegen fehlender Synodaler die Beschlussunfähigkeit fest, so dass die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen wurden. In der folgenden Synode am 15. November 1916 stand der Antrag des Kirchenrates als erstes Traktandum auf der Tagesordnung. Prof. Vischer stellte nun den Antrag auf Ablehnung, Pfarrer Adolf Preiswerk einen auf Erhöhung um Fr. 1000. Schließlich wurde der Antrag des Kirchenrates mit überwältigender Mehrheit (51:3 Stimmen) angenommen. Siehe dazu: Protokoll der Synode. Vom 30. Mai 1911 bis 17. Mai 1922, Archiv der Evangelisch reformierten Kirche Basel-Stadt, 105–107.

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Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen

Nr. 103. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 18. November 1915 NL 290: B 346, 55 Lieber Herr Pfarrer! Sie haben mich am Dienstag noch besuchen wollen, es tat mir leid, dass ich nicht dazu gekommen bin. Denn es thut doch immer wohl, zusammen zu schwatzen & man kann sich manches so viel besser klar machen als brieflich. Sie sind auch sonst immer so lieb zu mir & leiden jedenfalls unter unsern Differenzen, wie ich auch darunter leide, mit so lieben & ernsten Menschen nicht gehen zu können. Aber ich bin da wirklich für Klarheit & Ehrlichkeit & mit liebenswürdigen Worten kann man solche Differenzen nicht verwischen. Ich musste mir sagen, wie Sie sich da im Ganzen so zu Ihres Freundes Barth Auffassung bekannt haben, da sagte ich mir: & der Mann ist einmal mein Schüler gewesen & ich konnte mir einbilden, er habe ungefähr verstanden, was ich will? Dass das einzige, was mich nur einen Augenblick wehmütig, ja bitter berühren könnte, aber auch nur einen Augenblick, denn von wirklicher Bitterkeit Ihnen gegenüber verspüre ich nichts & meine Hoffnung auf Sie & Ihre Zukunft bleibt die gleiche wie immer, wenn Sie auch sehr im Zickzack & auf wunderlichen Umwegen ins Gerade & Rechte, ich meine: für Sie Rechte, kommen müssen. Sie müssen auch nie meinen, dass ich Ihre, Barths & Kutters Position nicht wohl verstehen & mitempfinden kann. Ich spüre sofort heraus, wie viel Urchristliches darin steckt, wie viel Seiten an Jesus & Paulus nach dieser Richtung zu gehen scheinen. Und ich selbst komme so sehr vom alten Pietismus her, bin so sehr von Haus zu dieser pessimistischen & apokalyptischen Weltbeurteilung geneigt & ein Feind des geradlienigen Fortschrittglaubens, dass mich das alles berührt, wie Klänge aus einer alten Heimat. Ich habe ja auch, & das werden Sie mir selber vorhalten, diese Dinge [im]655 Urchristentum wahrhaftig kräftig berührt. Aber dass Sie mich darin nicht verstanden haben, dass ich das Lebenskräftige, Neue & für uns allein Giltige an Jesus & seinen Jüngern gerade nicht darin erblickte, nicht in der Apokalyptik, nicht im Wunder & Reichgottesglauben, nicht im Enthusiasmus, sondern im Evangelium vom gegenwärtigen & nahen Gott mitten in der Welt & in der Weckung & Kräftigung aller sittlichen & Glaubenskräfte mitten in diesem Weltleben? Das ist meine ganze Freude & mein ganzer Mut, dass, dank Jesus, Gott da ist in dieser Welt drin, trotz Leid & Sünde & Tod & Dämonen, & dass wir in einfachem Glauben & L[ie]ben, jeder an der Stelle, wo er steht, Tag für Tag mit seinem Gott vorwärts gehen dürfen & seine nächste Pflicht thun. Ob dann 655 Wort fehlt durch Lochung der Seite vollständig.

Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen

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Kriegszeit oder Friedenszeit ist, ob etwas mehr oder weniger Weltschlechtigkeit & eigne Schlechtigkeit zum Vorschein kommt, ändert gar nichts an der Sache, es macht nur die Aufgabe ernster, dringlicher, aber Aufgabe wie Kräfte & Ziele bleiben partout die gleichen. Ich warte auf keinen neuen Gott & auf kein wunderbares Gottesreich im Weltlauf, sondern gehe meinen Lauf an Gottes Hand & in seiner gegenwärtigen Liebe & Treue der Ewigkeit entgegen. So kann ich im Wahren & Wirklichen bleiben, ich erlebe die hochgemuten Augenblicke des Enthusiasmus nicht, aber auch nicht seine bittern Depressionen & Verzweiflungsanfälle, wenn der Weltlauf so ganz anders geht als ich meinte, dass Gott ihn werde gehen lassen müssen. Das ist das Evangelium, das ich nun vertreten habe seit bald 20 Jahren, wenn auch nicht immer mit gleicher Sicherheit & Ruhe, es hat stand gehalten & hält auch ferner Stand. Und ich erlebe immer wieder, wie das einfachen und theologischen Menschen hilft & Freude & Mut macht. Es hilft ihnen, im Nächsten & Wichtigsten, worein sie Gott gestellt hat, auszuharren & ihre Pflicht zu thun. Alles andere sind Blasen, Grossartigkeiten, grosse Sprüche, wie Sie im Breo656 sagten. Es lüpft einen bis in den Himmel hinauf, erledigt mit einem Ruck alle Probleme, aber nachher bleibt ja alles gleich schwer & alle Aufgaben gehen von vorne an. Es kam mir nach dem Barthschen Vortrag vor657, ich hätte geträumt & je mehr Zeit seitdem verstrichen ist, desto mehr glaube ich geträumt zu haben & kann mir oft das laute Lachen fast nicht erwehren. Es war ja so meisterhaft angelegt, zuerst alles Dunkle, die arge böse Welt mit dem Teufel als Regenten. Welt bleibt Welt & alle die guten Anläufe zu etwas Gutem & Tüchtigen wurden nur registriert, um nachher in das gleiche Dunkel eingesackt zu werden. Dann kam der wundervolle Kontrast, Gott ist Gott, das Gottesreich macht alles anders, ist die Welt des reinen & absoluten Gegensatzes zur Welt & dann was thun; gar nichts thun, sondern Glauben an den Herrn Jesus, auf das Gottesreich harren, dann ist man über den Berg, dann ist alles anders geworden. Ja mein Lieber, wenn das der Herr Jesus noch sagen würde, bei dem man genau weiss: er hats erwartet in Zeiten & Monaten als die real durch Wunder & Katastrophen auf dieser Erde anbrechende Wunderwelt. Da weiss man wenigstens woran man ist. Hier war statt dessen kluges Ausweichen, Schweigen, 656 Siehe oben Anm. 183. 657 Barth: „Kriegszeit und Gottesreich“; siehe oben Anm. 641. Wernle schrieb Martin Rade über diesen Vortrag: „Ich mußte mich nur wundern, wie ein Schweizer so ohne weiteres besser wissen kann, was für Deutschland nötig ist. Der Vortrag war aber auch sonst vom Unglücklichsten was ich je gehört habe in meinem Leben. 3 Thesen. 1. die Welt bleibt Welt, vom Teufel regiert, alle Versuche in allen verschiedensten Richtungen, etwas zu bessern & helfen, sind wertlos & erfolglos, 2. Gott ist Gott, das Reich Gottes muß kommen, dann wird alles anders, 3. was haben wir zu thun, an Jesus Christus zu glauben & zu harren auf das Gottesreich. Das war ganz schön & verständlich für Leute, die von Boll her an solche Gedanken gewöhnt sind, aber direct ärgerlich & absolut unverständlich für einfache Seelen. Einzelne giengen mit wahrem Zorn davon.“ Abgedruckt bei Friedrich W. Kantzenbach: Zwischen Leonhard Ragaz und Karl Barth. Die Beurteilung des 1. Weltkrieges in den Briefen des Basler Theologen Paul Wernle an Martin Rade, in: ZSKG 71 (1977), 393–417, hier 406.

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Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen

Vertuschen der Wichtigkeit d[ie]ser greifbaren Nähe, wie das Paul Burckhardt ganz klar empfand.658 Ich musste mich nur immer fragen: ist das Traum? Es ist ja alles nicht wahr. Die Welt ist eben nicht des Teufels, keinen Augenblick, sondern unser Herrgott hat sie so fest in seiner Vaterhand, dass wir ohne ihn keinen Atemzug thun & keinen Gedanken denken könnten & trotz allem immer noch so unendlich viel Zeichen seiner Liebe & Treue erfahren dürfen jeden Tag, dass ich wenigstens auch mitten in Kriegszeit nicht fertig werde mit Danken. Und ebenso ist Gott nicht dieser Gott, der grosse Herr Meyer, der alles mit einem Schlag anders macht & einen so im Lupf über den Berg hilft[,] sondern er ist der von Alters her uns bekannte langmütige & geduldige Gott, der in unermesslich langen Zeiträumen seine Kinder aufwärts & näher zu sich führt, mit jedem Menschen sein besonderes Weglein geht, überall anknüpft an einer andern Stelle, keinen sogleich wegwirft, sondern immer wieder vorn anfängt mit ihm, keinen auch vollkommen macht ruckweise, sondern jeden mit seiner Schofligkeit659 trägt & hält, jeden aber auch in die konkrete Arbeit, die konkreten Nöte & Aufgaben hineinführt, in denen es gilt, Gottes konkreten Willen zu vernehmen & mit ganzem Ernst diesen Willen zu thun, als hienge von dieser kleinen konkreten Arbeit die ewige Seligkeit ab. O wenn doch Ihr lieber Herr Pfarrer v[on] Greyerz660 einmal so einen Barthschen Vortrag mit Ihnen besprechen könnte, der würde Ihnen ganz anders als ich zeigen können, wie anders Gott & Welt aussehen, wenn man sie im Licht des Evangeliums ansieht & wie ganz anders man im Sinn Jesu an die einzelnen Menschen herantreten & ihnen helfen & dienen muss. Da weiss ich mich mit ihm ganz einig, er hat ja nicht umsonst das Wort vom grossen Herrn Meyer geprägt. Und das Beste ist ja immer, dass Sie & Ihre Freunde in Wirklichkeit es ganz anders machen mit den Menschen & ganz anders einfach & schlicht ohne grosse Kontraste & Wunder die Menschen da anpacken, wo Sie etwas von Gott in ihnen wahrnehmen & sehen, dass Sie etwas dabei helfen können. Ich bin jetzt wieder bei meinem braven Pestalozzi661, der mir sagt, dass in allen 658 Anscheinend hatte sich Burckhardt zum Vortrag von Barth in der Diskussion geäußert. 659 Armseligkeit, Niedrigkeit. 660 Karl von Greyerz berichtet in einem Brief vom 14. Mai 1915 von einem Referat, das er „Zur Frage nach Gott“ gehalten habe und fasst den Inhalt zusammen. Möglicherweise bezieht sich Wernle auf diesen Vortrag. Siehe dazu Karl von Greyerz: Briefe. Eingeführt von Oscar Moppert, Bern 1953, 96–99. 661 Wernle sprach in Basel am 21. Dezember 1915 im fünften „Akademischen Aula-Vortrag“ über „Pestalozzi und die Religion“. Siehe dazu den zusammenfassenden Bericht in der „NationalZeitung“, Nr. 607, Donnerstag, 23. Dezember 1915, Abendblatt, [1]. Im Anschluss daran kritisierte der Basler freisinnige Pfarrer Hans Baur (1870–1937), ohne den Vortrag selbst gehört zu haben, dass Wernle Pestalozzi die religiöse Kraft abgesprochen habe: „Bei keinem religiösen Schriftsteller läßt sich die Gefahr des Pietismus so gut nachweisen wie bei Professor Wernle. Ich traute meinen Augen nicht, als ich in übereinstimmenden Referaten der Blätter las, daß er in seinem akademischen Vortrag Heinrich Pestalozzi die religiöse Kraft absprach. Das ist nun schon der dritte religiöse Heros, der seiner Kritik unterliegt. Bereits liegen Huldreich Zwingli und Gotthold Ephraim Lessing auf der Strecke. Alle haben das Unglück, die pietistische Note

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Menschen neben den intellektuellen Kräften auch Kräfte des Glaubens & der Liebe schlummern & dass diese Kräfte herauszulocken, zu üben, zu fördern alle Aufgabe der Erziehung sei. Und Pestalozzi hat gemeint, er habe damit gerade Jesus verstanden & das sei das Jesusgemässe, dass man bei jedem Menschen an den göttlichen Funken anknüpfen könne. Da hat er ganz gewiss eine Seite an Jesus verstanden, die Ihnen solange dunkel bleiben muss, als Sie diesem Hang zur Grossartigkeit folgen & so verächtlich über Moral, Quäckermoral, Bruderliebe denken können, wie Ihr Freund Barth wenigstens anscheinen liess. Geben Sie auf das, was ich sage gar nichts, aber sehen Sie sich doch das Evangelium wieder einmal schlicht & einfach an, nicht nur das grosse Wort vom kommenden Gottesreich, sondern die konkrete Art, wie nun Jesus mit den einzelnen Menschen vorgeht & sie hinzulenken versteht, sie anfangen & sich einüben heisst in die Reichgotteswelt. In meinem neuen Büchlein ist das Kapitel Forderung Jesu662, das längste von allen geworden. Das stimmt nicht zu der vornehmen Art, mit der Ihre Freunde von der Moral reden. Aber es stimmt sicher zur Art Jesu, der eben doch den nahen & gegenwärtigen Gott den Menschen brachte & sie jetzt schon mit diesem Gott an ihrer bestimmten Lebensstellung arbeiten, anfangen hiess. Ich hatte übrigens nicht allein den Eindruck, den ich etwas grob äusserte. Soweit die Laien von Boll schon angeregt waren, kamen sie nach & waren glaub ich, ergriffen. Wem Boll fremd war, der hatte gar nichts daran, es war ihm eine total fremde Welt, & er konnte ungefähr gar nichts für sein eigenes Leben mitheimnehmen. Das musste ich von verschiedenen Seiten hören. Das muss Ihnen doch auch zu denken geben. Wollen Sie denn für Sektierer reden & nicht für jedes einfache Menschenkind?663 Aber da komme ich auf den wunden Punkt, der mir immer zu schaffen macht. Sie stehen eben im Sektiererkreis, ich meine, wenn Sie unter sich sind in Ihrem Kränzchen & mit Ihren nächsten Freunden, da versteht einer den vermissen zu lassen“; Hans Baur: Aus Sturm und Stille, in: Schweizerisches Protestantenblatt 39 (1916), 10–12, hier 11. Daraufhin schrieb Wernle an Baur, siehe a. a. O. 20; zu dessen Antwort siehe: Hans Baur: Pestalozzi’s religiöse Kraft, in: Schweizerisches Protestantenblatt 39 (1916), 20 f.; zu Baur siehe Hermann Kocher: Hans Baur, in: HLS 2, 113. Wernle ließ seinen Vortrag abdrucken: Paul Wernle: Pestalozzi und die Religion, in: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten 11, 1916, 13–15; 19 f.; 22–24. Das ganze Material seiner Studien zu Pestalozzi verarbeitete Wernle in seinem Buch: Pestalozzi und die Religion, Tübingen 1927. 662 Paul Wernle: Jesus, Tübingen 1916: Das Kapitel heißt korrekt „Der Mensch und die Forderung Gottes“ und umfasst die Seiten 102–204. 663 Wernle moniert hier, dass Barth Blumhardtsche „Sonderlehren“ verbreitet habe. „Boll“ steht für das bei Göppingen gelegene württembergische Bad Boll, wo Blumhardts Vater, Johann Christoph Blumhardt (1805–1880), 1852 eine Hausgemeinde gegründet hatte. Seine dort über fast 30 Jahre parktizierte seelsorgerliche Tätigkeit verlieh ihm internationales Ansehen. Sein Sohn folgte ihm als Pfarrer nach, öffnete Boll, das zu einer Anlaufstelle für viele junge Theologen wie Thurneysen, Ragaz, Barth u. a. wurde. Der jüngere Blumhardt betonte stark die Diesseitigkeit des Reiches Gottes und dessen politische wie soziale Konkretionen. Siehe auch oben Anm. 157.

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andern, man braucht nur anzutönen. Aber draussen, lieber Herr Pfarrer, rings um Sie herum liegt eine grosse Welt, die ganz anders denkt & zunächst kaum irgend eine Anknüpfung Ihnen entgegenbringt. Nun besteht alle Ihre Kunst, dass Sie mit Ihresgleichen sich enger verbinden & sich gegenseitig bestärken & die andern Menschen auf der Seite liegen lassen, bis man sich zuletzt gar nicht mehr versteht. Das ist bei Ihren lieben Zofingern in einem erschreckenden Mass geschehen & die Folgen dieser Sektierei habe ich kommen sehen & sehe sie eben jetzt erst recht. Wohin kommen wir damit? Und wo bleibt da unsre einfache Nächstenliebe? Was für ein Riss geht dann zuletzt durch unser ganzes Volk & wie viele wären auf der andern Seite, die etwas Rechtes & Tüchtiges wollen & die sicher Gott wertvoller sind, als Sie vielleicht meinen? Denken Sie ein einzigmal an unsre Reformatoren im Unterschied von der Täuferei! Die wollten & konnten sich von ihrem Volk nicht trennen & hatten eben mehr Glauben & Liebe dabei. Was ist der Welt geholfen, wenn die paar Leute Ihren Gott haben & auf sein Reich harren? Hoch über allen mühsamen Gegenwartsfragen & Nöten, mit denen unser Volk sich plagt? Ich habe Ihnen schon oft geschrieben, dass ich an Kutter diese weitherzige geduldige Liebe zu den einfachen Menschen, zum ganzen Volk vermisse. Ich sehe jetzt mit Bangen, wozu das bei Ihnen führt. Man kann ja nicht mehr einfach zusammen reden & sich verstehen. Gleich heisst es: der andere versteht Gott nicht, nimmt Gott nicht ernst. Haben Sie mehr Liebe zu den vielen Ungezählten, die Ihre enthusiastischen Gedankengänge nie verstehen können & werden & in denen doch so viel Verlangen lebt, einfach einen Schritt weiter zu kommen, nicht ganz zu versinken, mit dem schwachen dürftigen Glauben nicht zu erlahmen. Die brauchen keinen Propheten, aber Menschen, die Geduld & Liebe zu ihnen haben & dem die Hand nicht entziehen möchten, dem Gott sie sicher nicht entzieht. Ich weiss ja, Sie haben im Grund diese Liebe, aber Sie merken nicht, dass da & da allein das Göttliche bei Ihnen steckt & suchen es statt dessen im Grossartigen, wo es gerade nicht sein kann. So will mein Brief nichts anders als ein Appell an Sie sein, mehr zu sich selber zu kommen, dem Rausch mehr zu misstrauen & in diesem simplen Kindesvertrauen [&] der simplem Bruderliebe das zu spüren, was allein besteht & alles überdauert, & allein den Menschen helfen kann. Mein Brief ist lang geworden, mehr als gut ist. Es ist schade, dass man darüber nicht reden kann. Aber versuchen Sie nicht zu vermitteln. Mein Schüler und zugleich der Anhänger der Kutterschen Theologie sein können Sie nicht. Das ist rein unmöglich & soll es bleiben. Darüber brauchen wir Klarheit. Ich lasse Sie mit Freude gehen auf dem Weg, den Sie jetzt momentan gehen müssen. Es ist für Sie sicher notwendig & ein Weg Gottes für Sie. Ich meine auch nie, dass es nur einen Weg geben soll. Gott muss jeden den seinen führen. Meine ganze Liebe & Dankbarkeit für so vieles, was Sie mir gegeben haben, bleibt Ihnen sicher. Ich bin auch so überzeugt, dass unser Gott Sie recht führt & dass Sie immer weiter & ihm näher darauf kommen. Was mich eigentlich einzig bewegt, das ist, dass ich von Ihnen so gern noch mehr erwartete

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für die andern, für Ihre simplen Brüder, zwischen denen & Ihnen ich eine schlimmere Kluft sich aufmachen sehe als zwischen uns beiden. Haben Sie unser Volk lieber, als die Sektierer es haben! Ich glaube, dieser Wunsch ist erlaubt & wird Ihnen verständlich sein. Und nun in alter herzlicher Freundschaft Ihr P. Wernle Nr. 104. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 18. November 1915 NL 290: B 346, 56 Lieber Herr Pfarrer! Eben hatte ich meinen langen Brief an Sie abgeschickt & schon es wieder bereut, mit der Feder so scharfe Sachen geschrieben zu haben, wo man mündlich sich so viel besser verstehen kann, als Ihr Brief bei mir ankam.664 Wie schade, dass ich nicht länger gewartet hatte. Haben Sie also vielen Dank dafür. Sie haben darin recht, dass im Positiven, in dem, was jeder hat, ja wohl auch mehr Berührung wäre, & dass die ganze Sache unter der polemischen Zuspitzung leiden musste: das haben auch manche Zuhörer empfunden. Im übrigen ist mir ja soviel klar: Ihr Freund & Sie haben dieses dualistische Denken nun einmal ehrlich erlebt im Gegensatz zu einer bequemen Heimeligkeit, die sichs wohl sein lässt & da ist es Ihnen Herzenssache, die Gegensätze zwischen Gott & Welt recht scharf herauszuarbeiten & ja nicht zu verwischen. Das verstehe ich als ein Stadium ganz wohl. Bei mir aber müssen sie denken, dass ich gerade von diesem scharfen Dualismus & Pessimismus herkomme & mich mühsam zu einer mehr fröhlichen & dankbaren Betrachtung im Sinn Ihres Freundes Greyerz durchgearbeitet habe, die überall die Spuren Gottes erkennen möchte in Natur & Menschenleben & mit den Kr[äf]ten des Guten & Göttlichen, die allenthalben schon da sind, vorwärts schaffen muss. Ich darf Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie nicht so die Dinge sehen, wie ich thue, & Sie werden ja mir das, was wirklich erarbeitet ist, auch nicht nehmen wollen. Aber ich empfand diesmal so peinlich stark im Gedanken an andere Zuhörer, wie fremd & unpraktisch ihnen all das klingen muss & wie wirklich enttäuscht & leer sie davon gehen m[ü]ssen. Denn sehen Sie, was Sie da vom Warten sagen mit konkreten Beispielen aus Ihrer Gemeinde, das ist natürlich wahr & schön, aber für dies Warten hat unser einer von altersher das Wort Geduld gehabt, das 664 Siehe Brief Nr. 102.

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vielleicht etwas abgedroschen ist, aber eben doch das ausdrückt, dass wir eigentlich nicht auf einen erst kommenden Gott erst warten müssen, sondern mit dem gegenwärtigen, der sich uns verbirgt, tapfer durch alles Dunkle gehen dürfen. Sie werden wohl zugeben, darauf kommt es eigentlich auch bei Ihnen heraus. Aber ich kann nicht genug sagen, wie wichtig es mir eben ist, immer wieder zu betonen, dass Gott da ist & darum war mir an dem ganzen Barthschen Vortrag am liebsten die Strophe aus dem „So nimm denn meine Hände“,665 das mir überhaupt ein ganz unschätzbares Kleinod ist. Und ferner würde ich zu Ihren Beispielen hinzufügen: gewiss warten muss man da in Geduld, aber vielleicht doch nicht bloss warten, vielleicht doch auch schon in der Liebe stehen & im kleinen Kreis etwas Liebe ausstrahlen dürfen. Oder ist das schon zu viel? Ich denke da an so manches lange Krankenlager, von dem so viel Liebe ausgeht. Und endlich, wenn das reine blosse Warten auch auf einzelne Kinder Gottes zutreffen möchte, für wie Unzählige kommt es doch darauf an, dass sie anfangen dürfen, wo sie gehen & stehen, aus Glauben & Lieben zu handeln & zu arbeiten & dabei ein wenig zu spüren, wie Gott dabei ist & ihnen hilft. Aus meinen Schriftchen über den Antimilitarismus666 mache ich mir nun gar nicht viel, es ist ja in nicht 3 Tagen geschrieben & füllt mich ganz gewiss nicht aus. Das soll uns jedenfalls nicht trennen. Mit der Spannung haben Sie ganz recht, wenn sie echt ist. Es kann aber schwerlich ein Mensch aufrichtig sie in jedem Augenblick fes[th]alten & wird bald mehr das Unterchristliche empfinden, bald mehr das schlicht Pflichtmässige darin, in dem er Gott bei sich hat. Aber ich muss wirklich schliessen. Wie gesagt, mein erster Brief thut mir leid nach Ihrem Brief. Sie wissen aber das von mir, dass ich scharfe Gegensätze der Gedenken mit wirklicher Freundschaft & Liebe verbinden kann & hoffentlich immer vermag. Daher mein Bedürfnis nach Klarheit im Gegensätzlichen. Dass wir im Leben viel näher stehen, weiss ich gewiss. Auch bei Karl Barth, den ich nach wie vor schätze & liebe & auf den ich die grösste Hoffnung setze. Sie haben so recht: wir sollten einander mehr verstehen, ergänzen, tragen, einer dem andern weiter helfen. Alles andere ist nicht viel wert. K[arl] Barth sagte mir auch, dass ich ihn und seine Freunde mehr lieben und verstehen sollte. Das will ich gern. Nun etwas ganz anderes: wann darf ich Sie einmal mit Ihrer Braut zum Mittagessen sehen? An einem Montag oder Dienstag? Es würde uns beide sehr freuen. Mit herzlichen Grüßen, Ihr P. Wernle

665 Die Verse stammen von der deutsch-baltischen Dichterin Julie von Hausmann (1826–1901). 666 Siehe oben Anm. 642.

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Nr. 105. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 15. Dezember 1915 NL 92: III A 13, 51 Verehrter Herr Professor, Ich komme mit zweierlei zu Ihnen, mit einem grossen Dank und einem grossen Wunsch. Mein Dank gilt Ihrem Jesusbuch.667 Ich habe es gestern fertig gelesen, und nun muss ich Ihnen recht herzlich die Hand geben und Ihnen danken für das, was Sie uns mit diesem Buche geschenkt haben. Ich habe mich kaum jemals mehr so lebendig zurückversetzt gefühlt und auch zurückgesehnt in meine Studentenzeit und in die Abendstunden, wo wir unter Ihrer Leitung das N.[eue] T.[estament] lesen durften, wie bei der Lektüre dieses Buches. Ja, ich habe einfach wieder aufs neue Heimweh und Hunger bekommen nach der lebendigen Arbeit und Auseinandersetzung, in die Sie uns damals eingeführt haben. Als Pfarrer lese ich ja mein N.[eues] T.[estament] vielfach anders, sozusagen einfacher, aber die offenen Augen habe ich glaub doch behalten dank Ihrer Schulung vor allem und habe von neuem einfach gewaltig spüren dürfen, dass sie uns nicht um den innern Ertrag des einfachen Lesens bringen, ganz im Gegenteil ihn unendlich vertiefen. Ich muss Ihnen offen sagen, dass mir im Lauf der letzten Zeit und überhaupt seit ich Pfarrer bin, die Arbeit der neuern historischen Schule ganz merkwürdig wenig zu geben und zu helfen schien bei meinem, wie soll ich es ausdrücken? – glauben und arbeiten in der Gemeinde. Ich legte selbst den Marburger Kommentar668, wenigstens soweit er die Synoptiker betraf, oft genug sehr enttäuscht bei Seite, von dem Handbuch das Windisch herausgibt669, und von dem ich auch das meiste besitze, ganz zu schweigen. Ich las eher in Schlatter670 oder in Robertson Korintherbriefen671 und das sicher nicht nur deshalb, weil das von vornherein auf Erbauung angelegte Bücher sind, sondern weil ich da einfach das auch sachlich congenialere Verständnis fand. Aber Ihr Jesusbuch hat mir da wieder die andere 667 Siehe dazu oben Anm. 662. Paul Wernle: Jesus, Tübingen 1916. Das Buch war anscheinend schon Ende 1915 erschienen. 668 Johannes Weiß (Hg.): Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt von Otto Baumgarten u. a., 2 Bde., Göttingen 1906–1907. 669 Hier ist das 1906 von Hans Lietzmann begründete und in Tübingen erscheinende „Handbuch zum Neuen Testament“ gemeint, das allerdings nicht von Hans Windisch herausgegeben wurde, sondern er trug die Bände zum Hebräerbrief (Bd. 14, 1913) und zu den Katholischen Briefen (Bd. 15, 1911) bei. Zudem verfasste er den Band zum Barnabasbrief (1920), der zum Handbuch zum Neuen Testament. Ergänzungsband. Apostolische Väter, gehört. 670 Adolf Schlatter: Die korinthische Theologie, Gütersloh 1914. 671 Frederick William Robertson: Reden über die Korintherbriefe, Göttingen 31910. Diesen Band besaß Thurneysen.

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Briefwechsel Paul Wernle – Eduard Thurneysen

Note gebracht, die wir als Pfarrer und religiös-Gebende oft in den wissenschaftlich sich gebenden Werken vermissen müssen; es gab Augenblicke, wo ich direkt eine gewisse Bitterkeit gegen die Universitätsforschung nicht unterdrücken konnte. Es schien mir, es fehle dort oft einfach an der Liebe zur Arbeit der Kirche und zu uns draussen auf den Gemeindeposten, sonst würde anders geschrieben. Nicht weniger wahrhaftig, das werden Sie mir schon zutrauen, dass ich das nicht meine, aber religiös und das heisst doch beim N.[euen] T.[estament] im Tiefsten der Sache wärmer, weniger reserviert, mit mehr Einsatz der Person und des eigenen innern Lebens. Das haben Sie uns ja, Gott Lob, nie vorenthalten, und ich habe es in Ihrem neuen Buche wieder dankbar gespürt. Ihr Buch schlägt, wie Pfr. Moppert672 sehr gut sagte, stellenweise und überhaupt in seinem ganzen Entwurf ins Systematische. An diesem Systematischen, das ja auch das Persönlichste ist, hat sich bei mir oft auch Widerspruch und Bedenken erhoben. Ich sehe da vieles anders, und das sind auch die Stellen und Punkte, wo man am liebsten nun in ein ausführliches Fragen und Reden und erneutes Lesen mit Ihnen eintreten möchte. Man könnte ein reiches Seminar über das Buch und seine Grundauffassung abhalten. Ich beneide die, die jetzt Studenten sein dürfen. Aber das soll doch nicht mein letztes Wort sein, sondern nochmals der Dank für alle Antriebe und Klarheiten, die ich schon aus dem ersten Durchlesen empfangen habe. Und nun noch mein Wunsch. Sie ersehen ihn schon aus der gedruckten, feierlichen Karte, die ich Ihnen beilege, und die Sie einladen möchte, an unsrer Hochzeit teilzunehmen. Sie wissen ja, wie das gemeint ist, gar nicht feierlich, sondern sehr herzlich und freudig. Sie würden uns eine grosse Freude machen, wenn Sie unser Gast sein wollten. Sie haben an meinen Wegen bisher mit so herzlicher Teilnahme teilgenommen und sind mir schon so viel gewesen, dass es mir und auch Marguerite673 und meinen Eltern fehlen würde, wenn Sie an diesem Tage nicht unter uns wären. Ich hoffe, Sie können es ermöglichen; es werden hauptsächlich meine Freunde daran teilnehmen, die Sie ja auch kennen, Barths674, Ernst Staehelin, Pestalozzi675. Sie haben mir freilich schon gesagt, Gesellschaften seien Ihnen nicht sonderlich erwünscht, ich möchte Sie natürlich nicht dazu drängen, aber ich bin sicher, dass es nichts ungemütlichfeierliches gibt. Vielleicht richten Sie Ihre Antwort direkt an mich. Mit herzlichen Grüssen an Sie und Frau Prof. Ihr Ed. Thurneysen

672 673 674 675

Oscar Moppert. Marguerite Meyer, derzeit Thurneysens Verlobte. Karl und Peter Barth. Rudolf Pestalozzi.

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Nr. 106. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 16. Dezember 1915 NL 290: B 346, 57 Lieber Herr Pfarrer! Ich finde es rührend & lieb von Ihnen, dass Sie mich an Ihre Hochzeit676 einladen, aber da Sie selbst mir die Freiheit lassen, so nehmens Sie mirs nicht übel, wenn ich lieber verzichte. Die Hochzeitsfestlichkeiten haben wie alles Verwandte immer zu den Anlässen gehört, denen ich, wenn ich konnte, aus dem Wege gieng. Dies Jahr bin ich nun aber mit meinem unglücklichen Rectorat677 so im Arbeitsgedränge & zudem mitten im Semester, dass ich besonders froh bin, wenn ich nicht muss. Ich werde mich bei Ihrer Trauung in der Kirche e[in]finden & werde von Herzen Ihrer & Ihrer Freude gedenken, aber viel lieber von meiner Bude als von der Festgesellschaft aus. Und sobald ich kann, werde ich mich einmal bei Ihnen in Leutwyl einstellen, wo dann Ihr Heim nicht nur die Katze, sondern einen viel heimeligeren Mittelpunkt besitzt. Empfangen Sie also nochmals meinen herzlichen Dank & meine allerbesten Wünsche für Ihre Feier. Es ist ja nachher alles so viel schöner & lieber als vorher, das pflegen meine Frau & ich uns oft zusagen. Wenn Sie dann glücklich verheiratet sind, müssen Sie mir einmal herausrücken mit Ihren verschiedenen Einwänden & Bedenken zu meinem Jesusbuch, die mich mehr interessieren, als was Sie mir Freundliches sagen. Ich höre gelegentlich, dass ich wie ein Systematiker an die Sache gehe. Das müsste ich selbst entschieden ablehnen. Ich versuche mit den centralen Fragestellungen an den Stoff zu treten, wenn das systematisch sein soll. Aber ich anerkenne methodisch keine andere Beantwortung als die streng historische, die alle systematischen Eintragungen hasst. Mein Buch ist auch aus lauter historischen Uebungen mit Vergleichung & Analyse aller einzelnen Stellen entstanden, ganz anders als etwa die Arbeiten von Troeltsch, wo aus einiger Entfernung her die grossen Gesichtspunkte an den Stoff herangetragen werden. Ich hoffe, das spürt man doch heraus & sonst hätte auch ein Mann wie Jülicher678 nicht so zustimmen können.679 676 Thurneysen heiratete am 25. Januar 1916. Siehe dazu seine Karte an Max Gerber, 24. Januar 1916. Der „Hochzeitsaufenthalt“ führte nach Waldhaus-Flims (Kanton Graubünden); dort logierte das Paar im Hotel Segnes. 677 Wernle war 1916/17 Rektor der Universität Basel. Seine am 10. November 1916 in Basel gehaltene Rektoratsrede trägt den Titel: „Die Führerschaft der Laien. Ein Charakterzug der schweizerischen Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts“, Basel 1916; siehe dazu Georg Boner: Die Universität Basel in den Jahren 1914–1939, Basel 1943, 285. 678 Adolf Jülicher schrieb am 28. November 1915 an Wernle. 679 Wernle hatte an seinen Verleger Paul Siebeck in einem Brief vom 23. November 1915 gebeten,

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Was Sie vom Wert, resp[ektive] Unwert der geschichtlichen Studien & Kommentare schreiben, hat mich lebhaft interessiert. Ich frage mich in solchen Fällen immer, was daran ist. Aber wenn ich mich an Ihre eigene Studienzeit erinnere, mit welcher Seligkeit Sie damals bei Johannes Weiss & Heitmüller680 arbeiteten & wie Sie bei einem Kommentar, aus dem Sie zu deutlich die Liebe zur Arbeit der Kirche herausgespürt haben würden, geradezu ausgespuckt hätten, finde ich es schwer, es allen recht zu machen. Es hat sich eben bei Ihnen selbst gar viel geändert, aus begreiflichen Gründen. Ich verstehe es nur zu gut, dass ein praktischer Pfarrer in unsern geschichtlichen Büchern unendlich viel vermissen muss, was ihn interessieren würde & was dem Historiker fern liegt. Aber dazu kam dann bei Ihnen, wie mir unleugbar scheint, auch eine ganz entschiedene Abwendung vom geschichtlichen Denken & das erklärt mir Ihre Vorliebe für Schlatter bei dem unser einer nie weiss, steht er eigentlich bei Paulus im ersten oder bei uns im 20. Jahrhundert. Das ist ja auch der Grund, warum Sie & ich uns niemals mehr über das Gottesreich verstehen können, weil ich stets den geschichtlichen Sinn Jesu damit verbinde, während Sie sich etwas für mich & jeden Historiker ganz Ungreifbares, wenn auch für Sie höchst lebendiges darunter vorstellen, von dem man nur leider nie sagen kann, wo & w[an]n & wie es kommt. Da muss ich Sie nun fröhlich machen lassen & darf Ihre Kreise nicht stören. Wäre ich Pessimist für die Zukunft, so würde ich jetzt schon auf dem Umweg über Sie & Ihre Freunde die Rückkehr der alten erbaulich orthodoxen Schriftauslegung weissagen, die darauf ausgeht, sich den Abstand von der Zeit des Urchristentums beständig zu verschleiern. Unsre historische Arbeit der letzten Jahrzehnte wäre dann eine kurze vorübergehende Episode dazwischen. Aber ich bin nicht dieser Pessimist, sondern warte ganz getrost, bis dass sich wieder ändert. Die Dinge gehen ja äusserst rasch vorwärts & wenn man älter wird, kann man noch Wunder erleben. Froh bin ich, dass ich an meiner Arbeit so viel habe & es erlebe, wie reich einen die Geschichte machen kann. Und nun fröhliche Weihnacht. Sie haben gewiss noch keine so froh gefeiert & das ist auch ein Zeichen, dass die Welt nicht Welt bleibt, sondern Lichtlein Gottes darin strahlen & wärmen. Von Herzen Ihr P. Wernle

einigen Gelehrten ein Exemplar des Jesus-Buches zukommen zu lassen. Die Namen erscheinen in folgender Reihung: Karl Holl, Otto Baumgarten, Ernst Troeltsch, Adolf Jülicher, Wilhelm Herrmann, Wilhelm Heitmüller, Martin Rade, Wilhelm Bousset, Friedrich Loofs und Theodor Häring; Angaben nach Ernst Troeltsch: Rezensionen und Kritiken (1915–1923), hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Berlin/New York 2010, 95. Troeltsch rezensierte das Buch in der ThLZ 41, 1916, 54–57; wieder abgedruckt in Troeltsch: Rezensionen 96–101, und nannte den Band ein „vortreffliches Buch“ (101). 680 Thurneysen hatte in Marburg bei den Neutestamentlern Johannes Weiß und Wilhelm Heitmüller studiert.

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Brief Nr. 107. E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 24. Mai 1916 NL 92: III A 13, 32 Lieber Herr Professor, Ich hörte kürzlich in Zürich und las in der Zeitung von dem schweren Leid, das in Ihre Familie eingekehrt ist.681 Da möchte ich Ihnen doch auch mit ein paar Worten sagen, dass ich in diesen Tagen in herzlicher Teilnahme an Sie und Ihre Angehörigen, insbesondere an Frau Wernle in Zürich denke. Ich weiss zwar, dass Ihr Bruder lange Zeit schwer krank war, und muss mir fast denken, dass Sie seinen Hinschied auch wie eine Erlösung empfunden haben, aber es bleibt trotzdem ein schweres und schmerzliches Erlebnis, durch das Sie hindurchgehen mussten. Vielleicht ist es Ihnen da auch ein wenig etwas wert, zu wissen, dass auch viele aus dem Kreise Ihrer alten Schüler und jüngern Freunde von Herzen Anteil nehmen. Darf ich Ihnen noch ein wenig erzählen, wie es mir, oder ich muss jetzt viel mehr sagen, uns beiden ergeht, und was wir erleben? Ich hoffe zwar, in nächster Zeit auch wieder einmal persönlich bei Ihnen vorbei kommen zu können. Wir haben im Sinn, am nächsten Sonntag zum ersten Mal selbzweit682 nach Basel zu fahren, meine musikalische Frau will sich das Konzert des Gesangvereins nicht entgehen lassen. Unser beider Hauptinteresse concentriert sich nun natürlich auf die Gemeinde. Meine Frau sucht neben ihren Pflichten als Hausfrau und Gärtnerin sich nun in unsern zwei Dörfern einzuleben und mit den einzelnen Familien bekannt zu werden. Das braucht natürlich sehr viel Zeit, aber es hat auch für mich den Vorteil, dass ich, da wir die Besuche zum Teil zusammen machen, wieder ein wenig in der ganzen Gemeinde mich umsehe. Es kommt doch sehr schnell und leicht dazu, dass man sich auf einen kleinern Kreis von durch allerhand Zufälle enger mit einem verbundenen Familien beschränkt und so trotz allem guten Willen, es zu sein, doch nicht für alle gleichmässig da ist. Da bringt nun die Aufgabe, meine Frau mit den Familien und Verhältnissen bekannt werden zu lassen, auch für mich die gute Gelegenheit, mich von neuem umzusehen und nicht festlegen zu lassen. Auch schaut Marguerite die Leute wieder mit durchaus eigenen und unvoreingenommenen Augen an, und das tut mir ebenfalls gut, ich kann manches Urteil über den oder jenen revidieren. Wir wollen nun auch zu zweit mit neuer Energie hinter allerlei, was mir allein nicht so recht gelingen wollte. Insbesondere bin ich froh, dass nun meine Frau sich der jungen Jahrgänge der confirmierten Mädchen annehmen kann; sie hat einen Abend für sie einge681 Paul Wernles Bruder, Christian Carl Wernle (1856–1916), Drogist und Chemiker, war nach längerer Krankheit am 14. Mai 1916 im Alter von 52 Jahren verstorben. 682 Zu zweit.

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richtet, keinen Verein gegründet!, wie andere Pfarrfrauen auch. Und ich hoffe, die confirmierte Jugend beiderlei Geschlechtes sei nun doch dazu zubringen, einmal an einem Nachmittag oder Abend mit uns zusammenzukommen und eine Vereinigung abzuhalten, wie wir sie etwa im Glockenhof683 abhielten. Meine bisherigen Versuche dazu wollten nie recht ziehen. Meiner Frau tut ihre Musik bei alledem recht gute Dienste. Wir haben nun auch ein kleines Blaukreuzmaitlichörlein684 gebildet, um dieser stets etwas darniederliegenden Sache wieder etwas auf die Beine zu helfen. Bei alledem freuen wir uns des wundervollen Frühlings, der uns dies Jahr trotz Kriegszeit und was damit zusammenhängt, so reich und so voll Sonne erscheinen will wie noch nie. Ich wollte, Sie könnten uns einmal an einem dieser schönen Tage allein oder mit Frau Prof. und Hans besuchen. Oder ist das ganz ausgeschlossen? Wir könnten Sie, sogar selbdritt685, gut über Nacht behalten. Vor 8 Tagen hielt ich wieder einen Vortrag in meiner alten Jüngern Abteilung in Zürich.686 Es weht ja jetzt dort im Verein eine Luft, die unser einem das Atmen erschweren möchte.687 Umsomehr freute ich mich, zu sehen, dass jedenfalls die Jugendabteilung, in der frischen, undogmatischen Art des jungen Hauri688 geleitet, von dieser ja von lange her vorbereiteten Wendung, der die Glocke erlegen ist, nicht berührt wurde. Immerhin der Fall der Glocke bleibt eine betrübende Sache. Ich war zuerst der Meinung, es sei alles nicht so gefährlich und R. Pestalozzi689 könnte am Ende doch weiter an der Leitung des Blattes bleiben. Aber ich bekam dann Einblick in das eingegangene Antwortmaterial690, und das war doch einfach erdrückend gegen ihn und seine Mitarbeiter gerichtet. Ich kann Ihnen vielleicht noch mündlich einiges davon erzählen, es war ja auch rein an sich nicht uninteressant, diese Stimmen zu durchgehen. Aber ich musste doch daraus ersehen, wie wenig wir es den altmodischeren Leuten treffen können; es war gar nicht so sehr das Soziale oder das Fehlen des vaterländischen Tones, was beanstandet wurde, das war nur sehr gelegentlich gerügt, was aber einfach immer und immer wieder683 684 685 686 687 688 689 690

Sitz des CVJM in Zürich, siehe oben Anm. 132. Ein Mädchenchor aus dem Blaukreuzverein. Zu dritt. Thurneysen sprach am Sonntag, den 14. Mai 1916, abends auf der „Obligatorischen Mitgliederversammlung“ der Jüngeren Abteilung des CVJM Zürich I über „Das Gewissen“. Siehe dazu den Hinweis in: Die Glocke 24, Nr. 8, Mai 1916, 66. Thurneysen spielt auf die Entwicklungen im CVJM an, die zum Ausscheiden Rudolf Pestalozzis aus der Redaktion der „Glocke“ und zur Übernahme der Redaktion durch Karl Egli führten. Ernst Hauri war nach dem Examen 1915–1917 als Jugendsekretär des CVJM im Zürcher Glockenhof tätig. Rudolf Pestalozzi. Die Redaktion hatte eine Umfrage durchgeführt. Danach erklärte Pestalozzi: „Doch hat unsere Umfrage gezeigt, daß es besser ist, wenn ich nun die Feder wieder aus der Hand lege und andere läuten lasse.“ Siehe dazu: Die Glocke, 24, Nr. 8, Mai 1916, 59 f. Unter der Redaktion von Pestalozzi erschien vielen Lesern die Glocke nicht ausreichend theologisch positiv positioniert, und man kritisierte die häufigen Stellungnahmen zu sozialen Herausforderungen. Siehe dazu auch: Glockenhof Zürich, 249 f.

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kehrte, war der Vorwurf, wir seien zu wenig „positiv“. Zum Teil wurde das, namentlich auch von Pfarrern, die Abonnenten waren, in einer geradezu verletzenden Weise der bisherigen Leitung entgegengehalten. Mir persönlich tat dieser Ausgang der Sache sehr leid, denn ich hatte immer gern an der Glocke mitgearbeitet, und das laienhafte, impulsive und undogmatische, das Pestalozzis Redaktionsführung an sich hatte, kam mir, trotz mancher Bedenken im Einzelnen, doch als Ganzes sehr erfreulich vor.691 Ich muss schliessen, weil wir in ein paar Minuten verreisen sollen an die Hochzeit von Fritz Hoch, die morgen in Rorschach692 stattfinden wird. – Mit grossem Interesse habe ich Ihre Arbeit im basler Sonntagsblatt693 gelesen, namentlich den Schluss und hätte gern noch mit Ihnen davon geredet. Auch Ihr Jesusbuch beschäftigt mich immer noch, ich habe es in einem kl.[einen] Kränzli mit Schild694 und Barth695 und Epprecht696 zu besprechen versucht; die alten Fragen über die Grenzen der histor.[ischen] Kritik und wie weit die Persönlichkeit Jesu überhaupt historisch fassbar werde, plagen mich wieder. Aber nun Schluss. Meine Frau ruft sehr dringlich von unten. Wir grüssen Sie beide herzlich, Sie und Frau Prof. und Hans. Ihr Eduard Thurneysen.

691 Rudolf Pestalozzi trug sich schon länger mit dem Gedanken, die Arbeit als Redakteur niederzulegen. Siehe dazu seinen Brief an Eduard Thurneysen, 27. Februar 1916: „Uebrigens komme ich eben immer mehr zu der Ueberzeugung, dass meine Zeit als Redactor der Glocke zusammen mit Egli und im Auftrag unserer Vereine vorbei ist. Mit dem Älterwerden habe ich immer mehr das Bedürfnis nach voller Freiheit der Gedankenäusserung + nach Leistung einer Arbeit (in der knappen mir verbleibenden Freizeit)[,] die mich ganz befriedigt, weil ich dabei nicht auf ganze ,Kreise‘ Rücksicht nehmen muss, deren Denken mir je länger desto fremder wird. Auch empfinde ich es als unrecht + unehrlich, mich mit meiner Eigenart dem Verein aufzuzwängen + in seinem Auftrag + doch von ihm nicht getragen, dieses Blatt weiter herauszugeben. Willkommen Kritik + Anfeindung – aber ohne Abhängigkeit.“ 692 St. Gallen. 693 Paul Wernle: Ein neuer Versuch der christlichen Wahrheitsbegründung, in: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten 11, 1916, 73 f.; 77 f; 81 f. Es handelt sich um eine Besprechung von Gaston Frommel: V rit humaine, 3 Bde., Neuchatel 1910–1915. 694 Paul Alexander Schild war Pfarrer im aargauischen Uerkheim. 695 Karl Barth. 696 Robert Epprecht war Pfarrer im aargauischen Schöftland.

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Nr. 108. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 3. Juli697 1916 NL 290: B 346, 58 Lieber Herr Pfarrer! Es ist mir erst hintendrein zum Bewusstsein gekommen, dass Sie Ihr letztes Separatkränzchen698 gerade just auf die Tage der Predigerversammlung verlegt hatten, gerade wie Sie es das letztemal auf den Tag der Aargauischen Pastoralkonferenz verlegt hatten. Ich nehme an, dass beides Zufall war, aber frage Sie doch, wohin kommen wir in der Schweiz mit dieser Sektiererart Ihrer Freunde? Ist es wirklich gut, dass Sie so den Zusammenhang abbrechen mit der Gesammtheit & Ihre Separ[at]versammlungen über alle Gelegenheiten stellen mit anders gerichteten Kollegen Gemeinschaft zu pflegen? Ich weiss ja, mit welcher Verachtung man in Ihrem Kreis gewöhnlich über diese andern spricht, aber ich habe Ihnen immer etwas Besseres & Christlicheres zugetraut. Wollen Sie denn durchaus eine eigene Kirche haben, in welcher bloss die engsten Gesinnungsgenossen beisammen sind & man sicher ist, dass kein scharfer Widerspruch & überhaupt möglichst wenig von andern Meinungen hineindringt? Es ist ja so thörricht, so etwas bei Ihnen zu denken, aber die Praxis läuft genau darauf hinaus. Redet man in Ihrem eigenen Kreis über Staat oder Kirche, so sind Sie dabei, wenn die Redner darüber vielleicht noch so inkompetent sind. Redet man darüber in der Predigerversammlung, so erscheint ungefähr niemand aus dem ganzen Kreis der Rel[igiös] Sozialen. Ich glaube das schreiben zu dürfen, weil ich & meine Freunde in den Jahren, wo Sie jetzt drin stehen, das ganz gleiche Gefühl wie Sie hatten über die bestehenden Gegensätze hinauszuwachsen & dennoch sagten wir uns: wir schliessen uns nicht ab unter uns, wir wollen mit den andern zusammenbleiben. Wir hielten das einfach für evangelisch & antisektenhaft. Ich hatte gemeint, von dieser weiten & freien Art könnte ich meinen Schülern etwas hinterlassen & sehe mit eigentlicher Trauer, wie ich mich getäuscht habe. Denn dass Sie mich jedesmal dabei persönlich besuchen in alter Liebenswürdigkeit, beziehe ich eben nur auf das Persönliche. Das ändert am andern nichts. Sie kommen ja doch jedesmal nur, weil Ihr engeres Kränzchen die Gelegenheit mit sich bringt. [Ic]h frage noch einmal: wohin kommen wir mit dieser Absonderung? Sind 697 Vermutlich hat sich Wernle hier vertan und es muss „Juni“ heißen. Thurneysens Brief vom 4. Juni 1916 nimmt direkt Bezug auf Wernles Schreiben vom Tag zuvor. 698 Wernle spielt wahrscheinlich auf die Tagung der schweizerischen religiös-sozialen Konferenz an, die am 23. Mai 1916 in Brugg stattgefunden hatte; siehe dazu Barth – Thurneysen 1, 139, Anm. 3.

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Sie sich der Folgen bewusst? Und dient das wirklich Ihnen selbst & Ihren Freunden? Diesmal hat Greyerz die Predigt gehalten, aus der Sie doch auch etwas hätten für sich haben können. Ich habe es schmerzlich bedauert, dass ich nicht zugegen sein konnte, weil das Semester es mir einfach verbot. Ich darf darum aber auch die Sache berühren, weil für mich persönlich gar nichts dabei in Frage steht. Nehmen Sie mein offenes Wort in guten Treuen auf. Es ist besser, ich schreibe offen, als ich behalte es in meinem Herzen. Mit allen herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle Nr. 109. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 4. Juni 1916 NL 92: III A 13, 52 Lieber Herr Professor, Wie soll ich Ihnen antworten? Zuerst möchte ich Ihnen dafür danken, dass Sie, wie Sie selber sagen, lieber offen mit mir reden, als weiter mit sich herumtragen, was Sie an uns auszusetzen haben. Es würde sonst vielleicht nur eine bittere Empfindung zurückbleiben. Und dann möchte ich Ihnen sagen, dass Sie mir zwar in diesem Falle Unrecht tun, wenn Sie mir Sektierertum vorwerfen – es hatte andere Gründe, warum ich nicht nach Frauenfeld699 konnte – dass ich aber verstehen kann, wie Sie zu den schweren Vorhaltungen kommen, und Ihnen Recht geben muss, wenn Sie die Tendenz zum Cliquenwesen scharf verurteilen und vor allem das gelegentliche verächtliche Herabschauen der einen Pfarrer auf die andern und das gehässige und bittere Reden von der Kirche, wie es die Neuen Wege etwa lieben, als etwas minderes taxieren. Ich möchte nun nur von mir allein und für mich reden, und da muss ich sagen: ich weiss, dass auch ich gelegentl.[ich] in diesen Ton fallen konnte, aber glauben Sie mir, ich ringe und arbeite dagegen und finde es durchaus nicht fein und bin Gott sei Dank auch nicht mehr stark in Versuchung, darein zu kommen, je länger ich selber Pfarrer bin, desto weniger. Nein, wirklich, damit möchte ich selber fertig sein. Aber das andere bleibt allerdings bestehen: ich kann mich nicht so einfach und so ohne Wi699 Die Predigergesellschaft tagte vom 26.–28. Juni 1916 in Frauenfeld. Zum Bericht über diese Tagung siehe Walther Staub: 70. Versammlung der schweizerischen reformierten Predigergesellschaft in Frauenfeld, in: KBRS 31 (1916), 111 f.; 117 f.; 121–123.

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derspruch und Bedenken innerlich in den kirchlichen Betrieb finden, und da muss ich Sie einfach bitten, mich zu verstehen, soweit es möglich ist, und Geduld zu haben und zu warten, bis ich, wie andere meiner Freunde, mich durch diese innern Schwierigkeiten hindurchgefunden habe und dann auch wieder in manchem weniger einseitig denken und urteilen kann, als es mir heute noch möglich ist. Ich bin sehr tief davon überzeugt, noch im Wachstum zu sein, aber ich muss mir selber treu bleiben. Damit hängt es zusammen, dass ich mich in vielen Grundfragen mit manchen ältern Collegen, oft gerade mit solchen, denen ich sonst sehr nahestehe, nicht recht verständigen kann. Es fällt mir schwer, weil ich immer aus erst halberarbeiteten Orientierungen heraus reden sollte, und dann – das muss ich einfach aus vielerlei Erfahrungen heraus auch sagen – weil auf der Gegenseite oft auch nicht gerade eine starke Bereitwilligkeit da ist, unsereinen zu hören und zu verstehen. Ich möchte diesen letzteren Vorwurf ausschliesslich beschränkt wissen auf allerlei offizielle und halboffizielle Zusammenkünfte, Synoden, Conferenzen und dergl.[eichen] Im Privatgespräch geht alles meist viel einfacher und besser, und daher kommt es, dass ich allerdings oft wenig Lust habe, an grössere pastorale Anlässe zu gehen. Aber ich muss wieder sagen: ich sehe es neuerdings selber immer besser ein, dass in diesem Verhalten Gefahren liegen, und ich darf das ruhig sagen: mehr als zwei drei Mal bin ich aus diesem genannten Grunde nirgends fortgeblieben. Ich habe mir auch vorgenommen – nicht erst auf Ihren Brief hin – mich auch bei diesen offiziellen aargauischen Vereinigungen immer wieder zu beteiligen, nur damit der Vorwurf des Cliquenwesens nicht zu Recht bestehen kann. Wirklich, ich sage und denke das nicht erst auf Ihre Vorhaltungen hin, sondern arbeite schon lange an diesem Verhältnis zu meinen Collegen und meiner innern Stellung zur Gesamtkirche herum, ich behandle diese Dinge nicht leichtfertig. Ich habe, um zu tun, was ich kann, auch immer, wo sich Gelegenheit bot, Besuche bei den einzelnen Collegen gemacht und mit ihnen in ein menschlich rechtes Verhältnis zu kommen gesucht. Denn schliesslich ist es wahrhaftig mein innerstes Anliegen, nicht ein Parteimensch zu sein, sondern für die Sache Gottes dazustehen. Sie lachen mich vielleicht aus und wollen es nicht recht glauben, dass ich auch nicht einmal mit religiössozial belegt sein möchte. Aber es ist mir innerlich gar rein nicht darum. Ich habe keine Freude an der Taktik von Ragaz, die wirklich die Sache, um die es sich handelt, schliesslich doch wieder nur in eine Parteianschauung verkehrt. Ich habe keine Freude an den Neuen Wegen, soweit dieser Ton darin erklingt. Ich halte sie nachgerade eben deshalb für ein Unglück. Das hindert aber nicht, dass ich sagen muss: ich finde unter den Leuten, die irgendwie auf diesen Flügel gehören, eine Denkungsart und eine Art, die Fragen, an denen wir ja allerdings alle stehen, zu bearbeiten, finde dort gewisse Gesichtspunkte und Gedanken, die mir selber auch wichtig sind, und deren Recht und Wichtigkeit in andern Lagern nicht so anerkannt werden. Dieses rein sachliche Interesse führt mich immer wieder mit ihnen zusammen. Dabei sind es in viel eminenterem Sinne die religiösen Gedanken, die mich fesseln, als die sozialen

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oder gar sozialistischen Direktiven, die andern wichtig sind. Bei alledem aber ist es mir selber nur peinlich, wenn aus dieser sachlichen Arbeit eine Parteiunternehmung werden sollte. Ich habe in so starkem Masse das Gefühl, dass das, was sich mir in der innern Beschäftigung mit diesen Dingen herauszustellen beginnt, gerade die Pfarrer und die Arbeit der Kirche im allerersten Grade angeht und für sie hilfreich und vielleicht auch umgestaltend werden könnte, ja, ich bin fast der Meinung, diese ganze Anschauung sei eigentlich angewiesen auf die Pfarrer, um überhaupt fruchtbar werden zu können, dass ich gegen meine eigensten Intentionen handeln würde, wollte ich mich damit absondern und abschliessen in einer Clique, wie man es etwa in Künstlerkreisen beobachten kann. Ich bedaure es einfach ganz tief und ehrlich, dass durch allerlei Umstände gerade die Pfärrer nicht mehr mit offenen Ohren und Gedanken auf das sich richten können, was mir selber so wertvoll geworden ist an diesen Anschauungen. Ich glaube ganz fest, dass es noch manchem helfen könnte zu freudigerer Arbeit und zu mehr Trost in den innerlich und grundsätzlich und auch praktisch oft schwierigen Lagen der kirchl.[ichen] Gemeindearbeit. Aber nun ist, wie ich wohl sehe, eine Parteiaktion geworden aus einem Gewissensruf, der allen gelten sollte, und aus einer Botschaft, die im Grunde eine frohe, vieles erleichternde und vor allem eine einigende sein wollte. Und weil nicht mit genug Liebe und Sachlichkeit geredet wird gerade von denen, die berufen waren, davon zu reden, verschlossen sich die Ohren und versperrten sich die Zugänge, und es entstand ein Streit, an dem sich natürlich beide Seiten abwechselnd beteiligen. So sehe ich die Sache an, aber gerade das ist mir ein Grund, mich selber nicht zu viel in Diskussionen, Dispute, geistige Turniere, schriftliche und mündliche einzulassen. Ich möchte ganz einfach Ruhe haben, um selber noch zu lernen und zu wachsen, vielleicht kommt dann auch noch einmal die Zeit, wo man wieder besser reden kann. Aber ebensowenig möchte ich nun deshalb in ein System der Absonderung hineinkommen und mich dem Vorwurf des Parteimenschentums aussetzen. So, ich weiss nicht, verstehen Sie meine Erklärungen. Ich hoffe, Sie spüren doch den guten Willen zur Verständigung heraus und glauben mir, dass es mehr als persönliche Liebenswürdigkeit ist und sein will, wenn ich bei meinen basler Besuchen bei Ihnen anklopfe; ich tue es in dem sehr klaren Gefühl, auch von Ihnen viel, sehr viel empfangen zu haben für das Verständnis der Sache, der ich in meiner Weise dienen möchte, und im Gefühl, darin auch mit Ihnen verbunden zu sein. Was nun speziell Frauenfeld und das basler Kränzli anbetrifft, nur noch kurz folgendes: ich bin in keiner Weise für die Ansetzung des Kränzlis verantwortlich. Es war dies eine Zusammenkunft des basler Kreises, dessen Mitglieder: Ad. Preiswerk700, Pfr. Liechtenhan701, Wieser702, Christ703, Zim700 Adolf Preiswerk. 701 Rudolf Liechtenhan. 702 Gottlob Wieser.

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merlin704, Sandreuter705 u. a., soviel ich weiss, ca alle 14 Tage zusammenkommen. Etwa alle 2–3 Monate laden sie auch noch Ammann706, Schild707, Barth708 und mich ein. Aber das wann und wo ist ihre Sache. Wieser hat diesmal angesetzt und eingeladen. Die Hauptsache aber ist die: Ich habe es mir durchaus ernstlich überlegt gehabt, ob ich nach Frauenfeld wolle, es ging aber einfach nicht und zwar rein nur aus dem Grunde, weil mir gerade die nötigen 20–25 fr709 hiezu fehlten! Meine Frau, die an dem Kriegsrat teilnahm, könnte es Ihnen bezeugen: Billet + Teilnehmerkarte hätten reichlich soviel gekostet. Wir waren beide erst vor ein paar Wochen in der Ostschweiz gewesen an der Hoch’schen Hochzeit710, da langte es einfach nicht schon wieder zu einem solchen Sprung. Wäre die Versammlung näher gewesen, so wäre ich gegangen.711 Natürlich hätte ich viel gehabt an der Predigt von Pfr. v. G712. Es hat mir leid getan, ihn nicht hören zu können; ich habe es ihm sogar direkt ausgedrückt. Und daneben hätte mich vor allem Pfr. Moppert713 interessiert, Häberlin714 weniger. Sie müssen mir glauben, dass mich das Kränzli nicht abgehalten hätte, zu gehen, aber ebensowenig hatte ich Grund, nicht nach B.[asel] zu gehen, weil ich mir Fr.[auenfeld] nicht leisten konnte, umsomehr als eine Beerdigung mich sowieso nach Basel rief. Das ist der Sachverhalt. Es sind, wie ich aus der Teilnehmerliste ersah, auch sonst aus der Nordschweiz sehr wenig nach Frauenfeld gegangen, wohl auch der Entfernung wegen. An der Pastoralconferenz im Mai hier in Aargau habe ich allerdings nicht teilgenommen, weil mich die Themawahl gar nicht interessierte. Der eine Hauptverhandlungsgegenstand war: „die Pflege der Stimme.“ Ich wäre auch ohne Kränzli nicht gegangen, wie es viele meiner Collegen, die nichts mit unserem Kränzli zu tun haben, auch taten. Hätte ich gehen wollen, so hätte mich das Kränzli sicher nicht daran gehindert, es wäre verlegt worden. Aber es hatte wirklich nichts damit zu tun und war auch in diesem Fall nicht der Sünder. 703 Lukas Christ vertrat zunächst eine religiös-soziale Position, wandelte sich aber durch die Bücher Barths und durch die Freundschaft mit Thurneysen zum dialektischen Theologen. 704 Franz Zimmerlin. 705 Karl Sandreuter war seit 1913 Pfarrer im basellandschaftlichen Frenkendorf-Füllinsdorf. 706 Guido Emanuel Ammann übernahm 1910 eine Pfarrstelle in Mönthal bei Brugg (Kanton Aargau). 707 Paul Alexander Schild war Pfarrer in Uerkheim im Aargau. 708 Karl Barth. 709 Schweizer Franken. 710 Siehe oben Brief Nr. 107, S. 295. 711 Zum Programm der Versammlung der Predigergesellschaft siehe KBRS 31 (1916), 96. 712 Karl von Greyerz. 713 Moppert hielt ein Koreferat zum Thema „Der Christ und der Staat“. 714 Paul Häberlin sprach „Über die Wahrheit der Religion“. Als Pfarrer im Kanton Schaffhausen wurde er mit einer Arbeit „Über den Einfluss der spekulativen Gottteslehre auf die Religionslehre bei Schleiermacher“, 1903 in Basel zum Dr. phil. promoviert. Die Dissertation erschien 1903 in Zürich separat sowie in: SThZ 20 (1903), 1–25; 65–99, und nochmals separat Zürich 1908.

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Ich schreibe sehr in Eile, aber es lag mir daran, nicht von Ihnen missverstanden zu sein, und hoffe, dies sei erreicht. Wie gesagt, es ist mir sehr leid, dass durch die relig.[iös]-soz.[iale] Parteibildung, an der ich nicht teilhaben möchte, auch die sachliche Auseinandersetzung, der ich allein dienen möchte, so sehr getrübt und belastet worden ist. Dafür können wir Jüngere nichts oder nur wenig, ich weiss von allen ernsthaften meiner nähern Freunde, dass sie in diesen Dingen ähnlich denken wie ich und mit mir auf eine Zeit hoffen, wo wieder mehr Zutrauen in die Sachlichkeit Platz greifen kann, an der auch uns trotz unserer vielfachen Fehler im tiefsten Grunde am meisten liegt. Ich danke Ihnen aber nochmals, dass Sie mir Gelegenheit gaben zu dieser Aussprache. Ich hätte sie lieber mündlich geführt, vielleicht darf ich sie bei einem nächsten basler Besuch fortsetzen. Recht von Herzen grüsst Sie und Frau Prof. Ihr Ihnen dankbarer Eduard Thurneysen. Meine Frau grüsst vielmals mit. Nr. 110. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 5. Dezember 1916 NL 92: III A 13, 53 Lieber Herr Professor, Ich schicke Ihnen hier den kl.[einen] Vortrag, den ich im letzten Sommer in einer heissen, vollen Wirtsstube vor unsern Erziehungsvereinlern gehalten habe, und zwar im Dialekt.715 Der fürchterlich lange Satz im Anfang, S.[eite] 11, den eine Frau, die ihn las, mit den Fäden verglichen hat, die sich beim Confitüreneinmachen vom erhobenen Schöpflöffel nach der Pfanne ziehen, dieser gigantische Satzfaden ist also seinerzeit beim Vortragen nur in kleine Sätzlein zerteilt serviert worden. Die kl.[eine] Arbeit ist natürlich an sich nicht wichtig, ich habe sie drum auch nicht weiter verschickt, Ihnen aber sende ich Sie gern, weil Sie so freundlich darnach fragten und überhaupt sich in alter Weise so väterlich für mein Tun und Treiben als Pfarrer interessieren. Ich hoffe, Sie erleben auch Ihrerseits beim Durchgehen dieses kl.[einen] Arbeitsausschnittes eine Freude, weil Sie sehen, dass wir doch nicht nur in 715 Thurneysen hatte am Montag, den 16. August 1915 im Arbeiterverein eine Rede über das Thema „Wer ist ein Sozialist?“ gehalten; ein Vortrag vor dem Erziehungsverein konnte nicht nachgewiesen werden. Siehe Barth – Thurneysen 1, 71.

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unabgeklärten Empfindungen und drängenden Gefühlen und Erwartungen leben, sondern wos Not tut auch im Kleinen die Wege schlichter, selbstverständlicher Arbeit zu gehen versuchen und also doch auch mit von den Kräften des Gegenwartsglaubens leben, den Sie vielleicht etwa über unsern Hoffnungen allzu stark bei uns zurückgestellt sehen. Wir beide, meine Frau und ich, haben uns gefreut an dem Besuch, den wir Ihnen und Frau Prof. kürzlich machen durften. Wir kommen und versuchen es gern wieder, Sie zu treffen, wenn wir nach Neujahr für ein paar Tage in Basel sein werden. Letzten Donnerstag716 hatten wir in Aarau Synode und erlebten die Freude Pfr. Dietschi als Kirchenrat durchbringen zu können. Die Freisinnigen hatten vorher über unsern Vorschlag gespottet und meinten, leichtes Spiel zu haben, aber nun hat wirklich einmal die persönliche Tüchtigkeit Dietschis den Sieg über den Parteivorschlag davongetragen. Natürlich ist nun die Gegenseite wütend und sieht erst recht in allem eine abgekartete Parteisache, woran aber kein wahres Wort ist. Wir haben einfach einen Bogen bei allen nicht als dezidiert freisinnig bekannten Pfarrern herumgehen und für Dietschi unterzeichnen lassen und dann diesen Vorschlag mit den Namen der Unterzeichner drucken und vor der Wahl verteilen lassen. Ich lege Ihnen einen Zeitungsausschnitt bei, aus der neuen Aargauerzeitung,717 der den Geist zeigt, der unter diesen aarg.[auischen] Freisinnigen herrscht, die es Dietschi nicht vergessen können, dass er nicht zu ihrer Gruppe gehört. Gegenwärtig bin ich wieder viel mit dem Unterricht beschäftigt. Ich ver716 30. November 1916. 717 In der Neuen Aargauer Zeitung erschien am 2. Dezember 1916 unter dem Titel „Zur Kirchenratswahl“ folgender Bericht: „Diese hat – ein außergewöhnliches Ereignis – ihre Wellen sogar in die Presse geworfen, ein Beweis dafür, daß man diese Sache nicht allein als Angelegenheit der Pfarrer und Synodalen ansieht, sondern des reformierten kirchlichen Volkes. Beide kirchliche Richtungen hatten mobil gemacht, die Freisinnigen für ihren alten bewährten Führer und Kämpen Pfarrer Großrat Widmer in Gränichen, die sogenannten Unabhängigen, unter ihnen die meisten orthodoxen Pfarrer, für den Scharfmacher ihrer Richtung, Pfarrer Dietschi in Seon. Gegen alle bisherige Uebung wurden vor dem Wahlakt gedruckte Wahlvorschläge ausgeteilt. Aus der Urne stieg – ein neuer Phönix – Pfr. Dietschi hervor, der bei einem absoluten Mehr von 62 mit 63 Stimmen gewählt wurde, währenddem Pfarrer Widmer 56 Stimmen erhielt. Interessant sind hiebei zwei Tatsachen, einmal, daß die konservative kirchliche Partei der freisinnigen ein Mandat im Kirchenrate entriß, da Herr Pfr. Graf in Aarau zu ersetzen war. Und das geschah seitens von Leuten, deren Lippen vom Honigseim des Proporzes und der Gerechtigkeit triefen. Sodann ist es interessant, zu sehen, wie der Kanton Aargau seit Jahren von jungen Pfarrern der sogenannten sozialen Richtung (Ragazianer) von Basel und Zürich her überschwemmt wird. Diese – es befindet sich sogar der Sohn eines Führers der schweizerischen Reformpartei darunter – lehnen jeden Eintritt in eine Partei ab, speziell in die freisinnige, da sie Gegner des Parteiwesens auf dem Boden der Kirche seien, spielen dann aber das Zünglein an der Wage [sic!], nie zu Gunsten des Freisinns, sondern immer der Orthodoxie. Und doch wäre auch auf diesem Gebiete eine offene Deklaration zu wünschen. Für die kirchlich freisinnige Partei aber erwächst die dringende Aufgabe, ihre Reihen enger zu schließen, denn es weht Kampfesluft in den Hallen, wo man sonst die Rache nicht kennt.“ Siehe Neue Aargauer Zeitung. Freisinning-demokratisches Organ für den Kanton Aargau, Nr. 284, Samstag den 2. Dezember 1916, 2.

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suche es mit einem neuen Gang, der mir selber viel Freude macht und Anregung gibt. Wie früher schon einmal mache ich mir nach jeder Stunde Aufzeichnungen. Ich erzähle Ihnen gern einmal davon. Daneben geht immer allerlei Neutestamentliches. Ich habe mich aus Anlass von Predigten wieder mehr mit Gleichnissen beschäftigt und glaube auch da ein wenig eigenen Weg in der Auslegung und im Verständnis gefunden zu haben. Darüber würde ich Sie besonders gern einmal befragen; in Kürze lässt es sich nicht gut andeuten, umsomehr als mir selber noch vieles nicht klar ist, und ich nicht weiss, ob ich mit meiner Empfindung eines eigenen Weges auf einer guten Spur bin. Und nun geht es wieder auf Weihnachten zu, für unsereinen die strengste Zeit im Jahre; aber zu zweit gehts doch leichter und besser, das merkt man schon in den Vorarbeiten. Zum Schluss noch ein aarg.[auisches] Dokument, das gerade vor mir liegt: die Einladung zum Pastoralverein, wo also über die Art, wie man bei Cremationen beten! soll, geredet werden wird. Was für ein langweiliges und trostloses Thema! Gibt es wirklich nichts besseres zu verhandeln, wenn wir als Pfarrer alle paar Monate ein mal zusammenkommen! Nichtwahr, Sie verstehen mich doch ein wenig, wenn ich wenig Freudigkeit habe, hinzugehen. Den letzten Vortrag habe ich gehalten, ich könnte also auch nicht gut sagen, ich wolle lieber selber über etwas gescheiteres zu reden versuchen. Übrigens geht die Reihenfolge der Redner streng nach dem Alphabet.– Morgen ist also Herrmanns718 70. Geburtstag. Da wird mancher von uns Pfarrern dankbar an Marburg zurückdenken. Das was Herrmann über die Tiefe und Kraft und den Sinn des Glaubens in langer Lebensarbeit herausgestellt hat, ist doch für viele von uns der feste Boden geworden, auf dem wir nun alle weitern Schritte tun konnten. Pfr. Benz hat es ja im Kirchenblatt für uns alle ausgesprochen.719 Ich finde, dass auch durch alle unsere weitern Schritte und Entwicklungen, die uns jüngere Schweizer dann dahin und dorthin auseinandergeführt haben, dieser Boden, auf den uns Herrmann im Anschluss an Erkenntnisse Ritschls720 stellen wollte, nicht angetastet und wieder in Frage gestellt worden ist. Bei allem Nachdenken über das, was wir „glauben“ heissen, wüsste ich nicht, wie und auf welche Weise sich einer unter uns neben das von Herrmann Erarbeitete auf eine andere, bessere Grundlage stellen wollte. Selbst Troeltsch würde das in wirklich entscheidender Weise nicht gelingen. Auch er endet schliesslich immer wieder beim Geheimnis der aller Rationalisierung entnommenen axiomatischen Tat und persönlichen Entscheidung, die es uns einfach erlaubt, uns innerlich frei und willig unter das, was uns Jesus gebracht hat, zu stellen bei aller Freiheit allen Erkenntnissen gegenüber, die die neue Zeit und Welt uns gebracht hat. 718 Wilhelm Herrmann. 719 Gustav Benz: Zum 70. Geburtstag Wilhelm Herrmanns, in: KBRS 31 (1916), 195 f. 720 Albrecht Ritschl.

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Ich muss schliessen. Ich habe heute, wo ich an Herrmann denken musste, gern auch an Sie geschrieben, einfach weil ich wieder, – eben durch die Erinnerung an Herrmann geweckt – das starke Bedürfnis hatte, mich des vielen und tiefen Gemeinsamen zu freuen, das über alle nationalen und Anschauungsunterschiede uns einzelne doch mit einander verbindet und in diesem meinem Falle mich mit Herrmann und Ihnen ganz besonders verbindet durch die alte Dankbarkeit, die ich Ihnen beide schulde. Mit herzlichen Grüssen an Sie und Frau Professor – meine Frau grüsst mit – Ihr Eduard Thurneysen Nr. 111. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 10. Dezember 1916 NL 290: 346, 59 Lieber Herr Pfarrer! Haben Sie besten Dank für Ihre letzte Sendung. Ich schicke Ihnen das Pestalozzibuch721 hier zurück, nachdem ich es durchblättert habe. Der Verfasser gibt Wahrheit & Dichtung, mit sehr guter Kenntnis Pestalozzis & feinem Takt, auch wo er mit seiner Phantasie ergänzt. Wenn das Buch Pestalozzi mehr Freunde schafft, solls mich freuen. Rechte gute Freunde, die ihn kennen, hat er nicht allzuviel, die meisten sind Lobredner & Nachschwätzer. Aber diese Erzählung thut einem wohl. Mit viel Freude habe ich Ihren Vortrag über die Pflegkinder gelesen, das haben Sie abgesehen vom ersten Bandwurmsatz gut gemacht. Es ist alles so konkret & fasslich & kommt so aus warmen Herzen & sollte jedes Wort verstanden & zu Herzen gegangen sein. Da sind wir wieder einmal ganz einig & ich freue mich, einen solchen Schüler zu haben. Als ich aber meiner Frau davon erzählte, speziell von dem Punkt eigne Kinder & Pflegkinder, meinte sie, das sei noch viel zu hoch gegriffen. Solange man Pflegkinder dem am wenigsten Heischenden verdinge, müsse man froh sein, wenn sie einigermassen gut versorgt seien & recht zu essen & zu schlafen haben, & könne kaum mehr verlangen. Meine Frau denkt prinzipiell weit sozialer als ich, aber sie ist praktisch & kennt die Menschen. Natürlich haben Sie recht, dass Sie die Forderung höher spannen aber klar muss man sich darüber sein, dass die Realisierung lange unter diesem Ziel bleiben wird & einstweilen muss. Ich 721 Vermutlich handelt es sich um: Arnold Rüegg: Heinrich Pestalozzi, der Volksfreund mit dem liebeglühenden Herzen. Sein Leben und Wirken, Zürich 1914.

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kann Ihnen sagen: eine mir sehr nahe stehende Pfarrfrau hat kürzlich zwei solche Pflegkinder angenommen, um ihr einziges Kind nicht so allein aufwachsen zu lassen. Sie ist sonst das Muster von Sachlichkeit & Gerechtigkeit, aber von irgendwelcher Gleichbehandlung war gar keine Rede, ihr Kind war eben ihr Kind & das merkte jederman, der zum Besuch da war, auf den ersten Blick. Wenn das am grünen Holz geschieht… Also halten wir unsre Ideale in Gottes Namen fest, aber seien wir zugleich ganz ehrlich & fragen uns selbst: ob wirs in der betreffenden Lage so halten würden. Es freut mich von Herzen, dass Dietschi Kirchenrat geworden ist, da haben sie einmal einen rechten bekommen. Das Traktandum Liturgie bei Cremation,722 ist wirklich nicht herzerhebend, man muss aber wissen, wie entsetzlich unselbständig manche Pfarrer sind. Als ich in Dutjen war, war einmal Gottesdienst im Freien in wundervoller Waldesgegend. Am Schluss las der Pfarrer die übliche Liturgie mit dem Satz: Und nach Verrichtung des christlichen Lobgesangs, gehet hin mit dem Segen… Aber keinem Menschen, am wenigsten dem Pfarrer fiel ein zu singen, das kann man ja nur in der Kirche, jedoch die Formel steht da & muss gelesen werden. Für solche Pfarrer ists wohl nötig, dass man solche Detailfragen der Liturgie bespricht, wenns auch jammervoll genug bleibt, dass man sonst sich nichts zu sagen hat. Gott bessere die heilige aargauische Kirche! Aber meine liebe Mutter stammt ja auch aus ihr & so manches Kind Gottes hat seinen Segen daraus bekommen. Ich habe Kutters Buch zur Lektüre.723 Das ist nicht mein Fall. Ich finde, was sich mir jedesmal bei Kutter aufdrängt, er sieht nur sich, hört nur sich & meint, das sei Liebe, wenn er seine Gedanken & Inspirationen in die Welt hinausspritzt, wobei Sie & Ihre Freunde dann andächtig aufmerken. Hätte er das deutsche Volk lieb, so müsste er es besser kennen mit seiner Schwachheit & Schlechtigkeit & müsste sich ehrlich fragen, was es fassen & auf was es reagieren kann. Ich liebe die Deutschen ganz anders als Kutter, darum traue ich ihnen nie das zu, was er, aber möchte um alles gern sie in ihrer Not verstehen & ihnen auch nur zum allernächsten Schrittlein weiter helfen. Ich komme nicht drum herum: für Kutter ist doch er selbst das Centrum, wenn er schon hundertmal Gott & Chris[tu]s in die Mitte stellt. Es ist ein Jammer: so viel Kraft & Fülle & so immer nur Er, Er. Er weiss einfach nicht, was dienen heisst. Aber ich fürchte, da werden wir uns schwer verstehen. Schön ist aber sein Satz, dass man sich kräftig widersprechen & dazu lieb haben soll. Das wollen wir uns auch, nicht wahr? Sie müssen nicht meinen, dass ich Kutters Kraft nicht zu würdigen weiss. In einer Seite bei Kutter steckt mehr Genialität als in einem Aufsatz von 50 Seiten Ragaz. Und so thut mir a[uc]h das Zutrauen, das er zum deutschen Volk hat, in der Seele wohl & verstehe ich diese Art, statt zu richten & zu tadeln, einem zu vertrauen & etwas zuzutrauen. Aber soll dabei wirklich etwas herauskommen, 722 Thema beim Treffen des Pfarrvereins. 723 Hermann Kutter: Reden an die deutsche Nation, Jena 1916.

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so muss man ganz eng mit der Seele des andern gelebt haben, nichts an ihm idealisieren, ihn ganz schlicht, nüchtern & wahr sehen & wenn man dann dennoch vertraut, dann ists recht. Kutter sitzt so im Nebel & sieht durch den Nebel, ist so meilenweit entfernt von der Seele des deutschen Volks jetzt in diesem Krieg, dass er nur nebelhaft mit ihm reden & ihm Nebelhaftes zutrauen kann. Das ist dann wirklich im eigentlichen Sinn falsche Prophetie. Nun es wird weder viel nützen noch viel schaden, er selbst bleibt gottlob fest in seiner Zuversicht & unter den Deutschen werden ihn so wenige verstehen, & die wenigen werden die Einflusslosesten sein. Wogegen ich aber immer kämpfe, ist dass das fromm sein soll & uns andern als Muster von Frömmigkeit hingestellt wird: so ins Blaue hinein phantasieren & sich keinen Deut kümmern um das, was Gott der Herr uns durch die Ereignis[se] zu sagen hat. Ich las das ganze Kapitel Jesus Christus724 & dachte dann nachher an die Evangelien & an den Jesus, den ich kenne zurück. Himmel was ist das nur für eine andere Sprache. Markus 4 das Gleichnis vom Säemann & Kutter daneben! Wie kann einer nur Jesus & Kutter im gleichen Atemzug bewundern? Jesus steht auf der Erde & unter dem wirklichen Gott wie Kutter im Nebel herumfährt. Bei Jesus weiss man mit jedem Wort, was gemeint ist. Liest man aber Kutters Jesus Christus & fragt sich nachher, was habe ich eigentlich gelesen, so gerät man in grosse Verlegenheit. Grossartigerer ists schon als bei Jesus, aber das ist, was ich am meisten fürchte: diese Grossartigkeit, die jetzt noch den Humor & das Lachen zur Geste nimmt. Mein lieber Herr Pfarrer, Sie sind immer so lieb mit mir & mir so anhänglich, & das freut mich, aber wir sind leider im Denken & Empfinden himmelweit von einander & das thut mir immer wieder leid. Ich weiss aber keinen andern Rat, als dass Sie getreu Ihren Weg weiter gehen wie ich den meinen. Es steht & fällt jeder seinem Herrn. Nur haben wir da wirklich einen andern Geist & muss der eine bewundern, was dem andern als Zeichen arger menschlicher Schwäche & Befangenheit vorkommt. Drum ists aber auch eine gute Probe für uns, dass wir doch uns lieb behalten & einander Gutes zutrauen & jeder den andern Gott befiehlt auf seinem Weg. Wir kommen vielleicht später näher zusammen & sollte das nicht der Fall sein, dann ists auch recht, & müssen wir eben lernen, uns in unsrer Art respektieren. Ich hätte das nicht so herausgeschrieben, wenn ich nicht an dem Buch von Kutter gemerkt hätte, wie weit wir eben doch auseinandergehn. Ich leide oft darunter, dass ich so isoliert dastehe & frage mich natürlich auch immer, wie weit der Fehler bei mir selber liegt. Aber ich kann mich auch nicht anders schaffen & sage mir, ich sei dafür für Menschen vielleicht etwas nutz, die nun einmal realer, nüchterner, konkreter veranlagt sind & gern Gott auf dem Boden dieser Wirklichkeit dienen möchten. Aber meine Sehnsucht nach warmer religiöser Gemeinschaft ist oft ungehe[ue]r & das macht dann einen oft bitter & verdrossen, weil wir Menschen zur Gemeinschaft bestimmt 724 Hier handelt es sich um die siebte Rede mit dem Titel „Jesus Christus“, a. a. O., 122–139.

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sind & in der Isolierung langsam verkümmern müssen. Vielleicht kommts auch wieder anders, einstweilen muss ich warten & hoffen. Nun mit herzlichen Grüssen an Ihre Frau Ihr P. Wernle Nr. 112. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 17. Dezember 1916 NL 290: 346, 60 Lieber Herr Pfarrer! Ich schrieb Ihnen vor 8 Tagen, als ich erst ein Kapitel von Kutter gelesen hatte. Heute bin ich mit dem Ganzen durchgekommen & glaube es zu übersehen. Es ist eine grandiose Einheit, an der man nicht Einzelheiten beanstanden darf. Aber ich halte den grossen Wurf für ebenso grandios wie im letzten Grund nicht wahr. Es ist letztlich der alte Spiritualismus oder der Glaube an das Unmittelbare, der dem ganzen Buch zu Grunde liegt. Gott ist unser Wesensgrund[,] wir sind nur in Gott & darum heisst Leben so v[ie]l wie Lieben, sich Freuen, Spielen, das Innere ins Aeussere umsetzen, die innern Werte allein gelten lassen. Alle Sünde & Verkehrtheit besteht in der Umkehrung dieses Verhältnisses, im Abfall vom Innern ins Aeussere, vom Geist in die Sachen im Respect vor den äussern Gewalten & Fürstentümern, statt in der freien Entfaltung des Geistes. Da aber dies ganze sog[enannte] Leben nur ein Scheinleben & eine verborgene Sehnsucht nach Gott & dem Geist ist, ist die Umkehr zur Realität, zu Gott eine ganz einfache Sache. Es gilt nur den Standort zu verändern, Gott als wahre Realität gelten zu lassen & von innen statt von aussen sich zu orientieren. Das traut Kutter jetzt den Regierungen zu wie er davon durchdrungen ist, dass das der verborgene Glaube der sozialdemokratischen Massen jetzt schon ist. Die Grossartigkeit dieses Glaubens verkenne ich keinen Moment, es ist vor allem ein grossartiger Optimismus. Aber da eben kommen meine Bedenken. Ich sehe eben die menschliche Situation in der Welt für viel schwerer & schmerzlicher an, etwa so wie Paulus im Römerbrief, der zu diesem neuen Evangelium nicht stimmt. Kutter hat ganz recht in seiner Betrachtung von innen heraus, aber ich finde im Innern die schwersten Widerstände gegen Gott & das Gute. Es ist das Wesen unsrer selbstischen & sinnlichen Natur als innerer Factoren & die daraus sowohl für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft resultierenden schweren innern Verwicklungen. Das Schwere liegt darin, dass

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diese Widerstände mit den schöpfungsmässig gegebenen Factoren zusammenhängen & in Tiefen jenseits unsres Einzelwillens hinabreichen. Ohne unsre sinnliche Bestimmtheit keine Fortdauer der Gattung & ohne unsern Selbsterhaltungstrieb keine Kultur. Ich sehe darin die tiefste & schwerste Tragik des Menschenlebens, wie hier im Quellpunkt Gutes & Böses sich vermischt & die Doppelheit unsres Wesens von Gott selbst gesetzt ist. Darum ist für mich das ganze Geschichtsleben Kampf von Willen gegen Willen, von naturgebundenem Willen gegen frei gewordenen oder werdenden Willen & gerade der Idealismus, die Betrachtung nach innen, offenbart die Grösse & Schwere dieses Kampfs. Es ist nicht von ferne so einfach, wie Kutter mit seiner Unmittelbarkeitstendenz es sich denkt, es sind unendlich grössere Hemmungen zu überwinden & das was ihm eine fast selbstverständliche Wendung scheint, die Rückkehr zu Gott, ist für mich wie bei Paulus die Sache einer schweren innern Umwandlung des Einzelnen, über die es keinen Sprung gibt & die, auch wenn sie radikal & in der Tiefe erfolgt, sofort in neue grosse Kämpfe mit dem eigenen & dem fremden unerlösten Wesen eintritt. Hier aber schlägt für mich Kutters Optimismus in eine Oberflächlichkeit um, die geradezu fürchterlich ist & fast der Frivolität nahekommt. Er stürmt tatsächlich über Sünde & Erlösung einfach hinweg, meint, durch seinen gläubigen Appell Regierungen & M[as]se mit sich fortreissen zu können & reisst auch alle die Leser mit sich fort, die sich selbst & die menschliche Natur von der leichten Seite nehmen. Und das ist für mich die verhängnissvolle falsche Grossartigkeit, von der ich mir nichts Gutes versprechen kann. Ich weiss, wie leicht Kutter das als Unglauben & das Böse ernster nehmen als Gott abthun würde. Aber weiss Gott, wenn ich nicht die Erfahrung hinter mir hätte, ich würde nicht so darauf bestehen. Und ich wünsche mir & andern jenen hohen Mut, der bei voller Offenheit für diese gottgesetzten Widerstände dennoch an Gott nicht zweifelt & im Glauben fest & fröhlich steht. Ich weiss nicht, verstehen Sie mich diesmal oder sage ich es wieder zu undeutlich. Ich wollte Ihnen aber zeigen, wie ernst ich Kutter nehme und wie sehr ich es bedauere, ihm die Gefolgschaft verweigern zu müssen. Nun mit herzl[ichem] Gruß Ihr P. Wernle

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Nr. 113. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 8. Mai 1917 NL 92: III A 13, 55 Lieber Herr Professor, Natürlich stelle ich Ihnen die gewünschten Lutherbände725 gern zur Verfügung. Sollten Sie auch wieder einmal Zwingli726 oder Rothes Ethik727 bedürfen, so weisen Sie die betreffenden Studenten nur auch ruhig an mich. Sie werden mitten in der Arbeit des kurzen Sommersemesters stehen; wie gern würde ich Sie wieder einmal besuchen und sehen, aber ich bin auch viel sesshafter geworden als früher und komme seltener mehr in die Städte; in Basel war ich seit langem nicht mehr, doch hoffe ich gerade in nächster Zeit schnell zu kommen und will es dann versuchen, Sie in einem Ihrer freien Augenblicke zu treffen. Wir sind hier oben erst in diesen Tagen völlig aus dem Winter herausgekommen und freuen uns nun doppelt an der Sonne, am Frühling, an den Blüten. Und unsre Leutwiler stürzen sich mit allen Kräften in ihre Arbeiten; durch die unaufhörliche Aufklärung in Zeitungen und Vorträgen (sogar wir Pfarrersleute haben wenigstens indirekt daran mitgeholfen) ist es doch schliesslich allen klar geworden, dass es heute gilt, das letzte aus dem Boden zu holen, was in unsrem Vermögen steht.728 Auch wir, meine Frau und ich, haben unser bescheidenes Teil getan und angepflanzt, was uns möglich war. Der Winter selber hat uns auch seine allerlei Arbeit reichlich gebracht. Eines meiner Hauptanliegen war wieder die Unterweisung; ich habe sie nach eigenem Plane ausgebaut und sogar kurz geschrieben, diesmal auch ein einfaches Diktat gegeben. Für die Erwachsenen habe ich im Februar einmal es wieder mit einer kleinen Vortragsreihe an drei aufeinanderfolgenden Abenden versucht. Und der Besuch war namentlich auch von Seiten der Männer über alles 725 Da ein schriftlicher Hinweis von Wernle bezüglich der erbetenen Lutherbände fehlt, kann nicht präzise gesagt werden, um welche Bände es sich handelt. Thurneysen besaß mehrere Ausgaben von Luthers Schriften. Es könnte sich durchaus um die 1917 erschiene Ausgabe „Deutsche Briefe, Schriften Tischreden. Ausgewählt und lebensgeschichtlich verbunden von Dr. Tim Klein“ oder um „Martin Luthers Briefe“, hg. von Reinhard Buchwald, 2 Bde., Leipzig 1909 handeln; siehe dazu Bajohr: Bibliographie, 86 f. 726 Siehe Brief Nr. 115, Anm. 739. 727 Thurneysen besaß Richard Rothe: Theologische Ethik, 5 Bde.,Wittenberg 21869–1871; siehe dazu Bajohr: Bibliographie, 54. 728 Wie auch in anderen Teilen Europas hatten 1916 und 1917 Missernten zu einer enormen Verknappung der Getreideproduktion geführt. Da 1917 weitere Versorgungsschwierigkeiten hinzukamen, wurden auch Rationierungsmaßnahmen durchgeführt. Hans von Greyerz: Der Bundesstaat seit 1848, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, Zürich 1977, 1019–1267, hier 1127 f. Jacob Ruchti: Geschichte der Schweiz während des Weltkrieges 1914–1919. Politisch, wirtschaftlich und kulturell, Bd. 2: Kriegswirtschaft und Kulturelles, Bern 1930.

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Erwarten gut. Ich habe freilich nicht selber geredet, sondern drei meiner Freunde gebeten: Brunner729 aus Obstalden redete am ersten Abend über: Gottes Wort in der Bibel. Dann Wieser730 über: die Bibel als Buch der Hoffnung, zum Schluss Karl Barth: die neue Welt in der Bibel.731 Es wurde den Zuhörern eigentlich etwas zugemutet in diesen Vorträgen, aber sie kamen und hatten Freude. Es hat sich mir aufs neue gezeigt, dass diese Art von Verkündigung auch in der Kirche und auf dem Lande möglich und wertvoll sein kann. Ich muss schleunig schliessen, sonst kommt das Paket nicht mehr fort vor morgen abend. Ihre Bemerkung im Kirchenblatt732 neulich zu Mott-Ragaz733 habe ich so gut verstanden. Wirklich[,] was Ragaz über Wilson734 schrieb und die neue Auferstehungszeit, die mit dem amerikan.[ischen] Eingreifen kommen sollte, war doch eine furchtbare Enttäuschung.735 Wir beide grüssen Sie und Frau Prof. recht herzlich. In alter Liebe Ihr Eduard Thurneysen

729 Emil Brunner. 730 Gottlob Wieser. 731 Eine Zeitungsannonce, die auf die Vorträge hinweist, findet sich im Brief von Thurneysen an Rudolf Pestalozzi, 5. Februar 1917. In diesem Schreiben charakterisiert Thurneysen die Reden von Wieser und Barth als „gut, stark, ja, gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten“. 732 Paul Wernle: Verschiedene Beurteilung, in: KBRS 32 (1917), 67. 733 Wernle nahm Bezug auf einen Artikel in der „Christlichen Welt“ 31 (1917), 298, zur Ausfuhr von Kriegsmaterial aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Zunächst zitierte er eine Aussage von Ragaz aus dem Artikel „Das Schicksal einer Tat“, in: NW 11 (1917), 87–95, hier 92, über eine Rechtfertigung der Munitionslieferungen des amerikanischen Präsidenten Wilson. Mit scharfer Kritik bezeichnete Wernle Ragaz als einen „religiösen Politiker, der vom Sieg der Entente entscheidenden Gewinn für das Reich Gottes erwartet“. Dem politischen Urteil von Ragaz setzte Wernle ein Votum von John Raleigh Mott (1865–1955), dem damaligen Generalsekretär des von ihm mitbegründeten CVJM, gegenüber. Dessen Votum hatte die „Chronik der Christlichen Welt“ 27 (1917), 127, abgedruckt. 734 Ragaz bezog sich 1917 in seinem Buch über die „Neue Schweiz“ ausführlich auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) und zitierte längere Passagen aus dessen „Peace-without-Victory“-Rede vom 22. Januar 1917. Thurneysen dürfte sich auf folgende Passage beziehen: „Denn von dem größten Volk der Welt her kommt zu uns und allen Völkern die Losung eines Völkerbundes für Recht und Frieden. Es sind die Gedanken, die einst auf unserem Boden entstanden, dann übers Meer gewandert sind und nun, entfaltet, in neuer Form zu uns zurückkehren. Es sind die Gedanken, die unsere Rettung und zugleich die Rettung der Welt bedeuten. Es ist ein Aufleuchten jungen Lichtes aus der Nacht. Es ist das Weichen eines Alpdruckes, worunter wir manches Jahr gelitten.“ Siehe Leonhard Ragaz: Die Neue Schweiz, Olten 1917, 120; 41919, 162. Zur Wahrnehmung des Buches durch Thurneysen siehe den Brief an Rudolf Pestalozzi, 23. Februar 1918. 735 Leonhard Ragaz: Das Schicksal einer Tat, in: NW 11 (1917), 87–95.

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Nr. 114. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 24. Mai 1917 NL 92: III A 13, 56 Lieber Herr Professor, Darf ich Ihnen also hier meine Aarauerpredigt schicken?736 Ich kann ihr nicht viel erklärende Worte mitgeben. Es ist wohl auch nicht nötig. Eine besondere Leistung will sie nicht sein. Sie möchte einfach dem Ausdruck geben, was mich gegenwärtig am meisten bewegt und mir zu sagen am nötigsten erscheint. Ich weiss, dass Sie vielfach anders empfinden und das Eine, was Not ist, in einer andern Richtung suchen und finden. Aber ganz fremd und unverständlich kann Ihnen mein Ruf nach lebendiger Gotteshilfe doch auch nicht sein. Ich kann es immer noch nicht zugeben, dass wir, meine Freunde und ich, weit von Ihnen entfernt sein sollen, nachdem wir so vieles von Ihnen empfangen haben. Wir haben ja freilich das Empfangene nach unsern eigenen innern Nötigungen verarbeitet und weitergebildet, aber doch nicht verleugnet und von uns geworfen. Und darum möchte ich auch heute noch wie früher und in alle Zukunft in alter Weise zu Ihnen kommen können und Ihnen erzählen, was mich gerade bewegt und beschäftigt, aus dem Gefühl heraus, es sei auch bei abweichendem Wege eine innere Verbindung möglich. Ich kann Sie nur bitten, auch meine Predigt so entgegenzunehmen. Sie gibt nicht Zeugnis von einer besondern innern Position, die ich gegen andere Positionen setzen und ausspielen könnte und möchte, viel eher von einem innern Mangel, einer innern Not, einem Nichtbesitz. Das ist überhaupt vielleicht der einzige Unterschied, der mich und meinesgleichen langsam, aber in zunehmendem Masse von allen andern Gruppen und Strömungen unterscheidet, dass uns scheinen will, als sei überall der Mangel grösser als der Besitz und gelte es vor allem das voll und tief zu erfassen und zuzugeben und Gott um Sättigung und Hilfe zu bitten. Aber vielleicht ist doch gerade das ein Unterschied, der leichter als viele andere sich überwinden lässt, der uns jedenfalls nicht zu Trennung und Entfremdung führen muss. Wir können einstweilen nicht anders als die Dinge so ansehen und so sagen, obwohl es vielfach als ärgerliche Friedensstörung und ungerechte Anklage empfunden wird. Es sind nicht so sehr irgendwelche dogmatische oder soziale Einstellungen und Parteinahmen, es ist diese sich uns immer neu aufdrängende Gewissheit und Hoffnung, die uns, ohne dass wir es wollen, so vielfach in Opposition und Isolierung bringt. Aber ich glaube, wir 736 Die Predigt über Lukas 14, 28–33 hielt Thurneysen am 12. März 1917 im Abendgottesdienst in Aarau auf der Christlichen Studenten-Konferenz. Sie ist abgedruckt unter dem Titel „Gotteshilfe“ in: XXI. Christliche Studenten-Konferenz. Aarau 1917. Den 12. bis 14. März, Bern 1917, 5–15.

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müssen nun einmal da hindurchgehen. Ich möchte nur, wenigstens für meine Person, dass es ohne Zank und gehässige Abschliessung geschehe. Im übrigen kann ich überhaupt nur für das einstehen, was ich selber empfinde und sage und möchte bei weitem mich nicht für alles haftbar machen lassen, was unter der Flagge „religiös-sozial“ segelt und gedacht und geschrieben wird. Die persönlichen Zänkereien und Empfindlichkeiten, die z. B. in den Neuen Wegen zu Tage treten, finde ich so traurig wie irgendjemand.737 Ich verstehe Sie darin gut, wenn Sie diese ganze Art ablehnen. Ich hoffe aber auf einen Tag, wo auch diese persönlichen Reibungen, dieses ganze gegen andere ausspielen, wie es gerade die Neuen Wege gegenwärtig lieben, aufhört und die Sache wieder zu Worte kommt, und man sich auch wieder verständigen und verstehen kann. Wir beide grüssen Sie und Frau Prof. recht herzlich und wünschen Ihnen einen schönen Pfingstsonntag – und Montag. Vielleicht benützen Sie ihn wie wir zu einem Ausflug. Ich will am Montag mit den Confirmanden auf die Gislifluh.738 Ihr Eduard Thurneysen Nr. 115. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 8. Juni 1917 NL 290: B 346, 61 Lieber Herr Pfarrer! Haben Sie besten Dank für Predigt & Brief. I[ch] wende mich z[u]nächst an Sie, weil ich für meine Schüler noch den ersten deutschen Band der Zwinglischriften739 von Ihnen haben sollte. Es ist besonders schwer, Zwinglibände aufzutreiben & wir sind ziemlich viel Leute bei einander. Ihre Predigt habe ich mir zu Herzen gehen lassen als Ausdruck Ihrer ehrlichen wahrhaftigen Stimmung, mit der Sie vor dem Absoluten stehen, das in die Welt kommen sollte & doch nicht kommen will. Ich verstehe von da aus sehr wohl, wie scharf oppositionell Sie sich zu unsrer ganzen sog[enannten] 737 Siehe zum Thema „Trennung und Neuaufbau der religiös-sozialen Bewegung“ Mattmüller II, 227–238. 738 Berg (772 m. ü. M.) im Jura, Kanton Aargau. 739 Hier handelt es sich um: Huldreich Zwingli’s Werke. Erste vollständige Ausgabe durch Melchior Schuler und Joh. Schulthess, Bd. 1: Der deutschen Schriften erster Theil. Lehr- und Schulschriften zum Behufe des Ueberschrittes in die evangelische Wahrheit und Freyheit von 1522 bis März 1524, Zürich 1828. Thurneysen besaß die 1812–1842 in acht Bänden erschienene Ausgabe; siehe dazu Bajohr: Bibliographie, 147.

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Christenheit stellen müssen & wie schwer Sie enttäuscht werden durch unsre Kirchen & ihre Art. Ob Sie gerade für unsre Studenten das rechte Wort getroffen haben, weiss ich nicht. Sie haben, wie mir scheint, zu wenig Empfindung für die schweren intellektuellen Nöte, in denen gerade manche unsrer jungen Theologen stehen, die man nicht einfach auf die Bibel weisen kann. Und auch die sittlichen Nöte, die einem Studenten das Leben oft schwer machen, werden durch Ihre Predigt kaum erreicht. Aber das müssen unsre Studenten selbst mit Ihnen ausmachen & im allgemeinen sprechen sie sich nicht viel darüber aus. Meine persönliche Empfindung geht, wie Sie wissen, stark in anderer Richtung. Ich erwarte nun einmal nicht die Revolutionen & Neuschöpfungen, die nach Ihrer Meinung die Christen sogleich vollbringen müssten, wenn sie wirklich Christen wären. Ich kenne weder Gott noch die Menschen von dieser Seite. Unsre Aufgabe sehe ich viel bescheidener, aber gerade darum für schwerer an. Gott gibt uns jeden Tag unsre Aufgabe & alle die Widerstände, die sie uns erschweren & will, dass wir treu sind im Glauben & der Liebe & ausharren & nicht müde werden, wenn Jahr für Jahr Kampf & Widerstand dieselben zu scheinen bleiben. Dass er aber dabei doch bei uns ist & wir seine Treue jeden Tag spüren dürfen, das ist meine Freude & Kraft. Und eben das ist für mich die Grösse & Schwere des Glaubenslebens, dass wir in den Widerständen, Nöten & Sorgen des Alltagslebens mit seiner Trägheit, Dummheit & Bosheit nicht verzagen & ermüden, sondern tapfer & getrost ausharren & bei der Arbeit bleiben. Das wollen Sie ja natürlich auch. Aber es ist bei Ihnen alles auf den grossartigen Ton gestimmt mit dem Entweder Oder, Alles oder nichts, der mich & manche andere ganz zur Verzweiflung bringen würde, wenn ich keine andere Wahl hätte. Ich möchte Ihnen nicht dreinreden & im geringsten nicht zumuten, anders zu denken & zu reden. Aber Sie verstehen vielleicht, dass es auch andere Tonarten geben muss, wie ich es bei Ihnen verstehe & mich freue, wenn Ihr Ton in die Herzen dringt & Gutes schafft. Leid hat mir doch gethan, dass Sie von der Mitarbeit am Kirchenblatt740 nichts wissen wollten. Dass Ihr Freund Barth nicht von Wirz741 aufgefordert wurde, lag rein darin, dass er keine persönliche Beziehung zu ihm hatte, aber er schrieb ausdrücklich, dass Sie & die andern andere herbei ziehen sollten & er wäre uns lange recht gewesen. Ich selbst bin mit so manchem nicht zufrieden, was das KB742 bringt, aber ich hielt bis heute daran fest rein aus christlichem Universalismus, damit wir nicht ganz aus einander fallen & keiner mit dem andern mehr etwas haben kann. Aber wenn es Sie so viel ärgert, so ists besser, Sie lassen es, selbstverständlich. Und ich würde es wohl

740 Das „Kirchenblatt für die reformierte Schweiz“ war das Organ der „Vermittlungstheologie“. 741 Jakob Wirz war seit 1915 Redaktor des Kirchenblattes. 742 Kirchenblatt für die reformierte Schweiz.

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begreifen, wenn Sie unter einander zum Ausdruck Ihrer Gedanken ein eigenes Blatt gründen würden.743 Ich freue mich wieder mächtig am Studium der Reformatoren.744 Das ist mir immer wie Heimat. Ich halte mich dabei ans Centrale & mache mir aus den persönlichen Differenzen nicht viel. Ich bin darin so glücklich, dass ich bei allen drei Reformatoren immer vor allem den gleichen Glau[be]nsgeist heraushören darf. Nur noch eins. Das Gefühl des Mangels gehört zu jeder echten Frömmigkeit, aber ich denke, Sie & ich leben nicht vom Mangel, sondern von dem, was Gott uns gibt & gegeben hat. Darum sind wir beide evangelisch. Glaubst du, so hast du, sagt Luther. Das hätte ich gern kräftiger bei Ihnen gehört. Mit herzlichem Gruß an Ihre Frau in alter Liebe Ihr P. Wernle Nr. 116. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 9. Juni 1917 NL 92: III A 13, 57 Lieber Herr Professor, Nur zwei Worte! Vielen, herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief! Und hier der Zwingliband. Ich bin eben an der Predigt über die Sonne, die Gott über Gute und Böse scheinen lässt745, wie wir es in diesen Tagen so reich erfahren. Mit herzl. Gruss Ihr Eduard Thurneysen

743 Erst 1923 erschien dann die Zeitschrift „Zwischen den Zeiten“ in München unter der Schriftleitung und Herausgeberschaft von Georg Merz (1892–1959) im Christian Kaiser Verlag. Merz war von 1922 bis 1933 Herausgeber der Zeitschrift und theologischer Berater des Verlags. Siehe dazu: Manacnuc Mathias Lichtenfeld: Georg Merz. Pastoraltheologe zwischen den Zeiten, Gütersloh 1997. 744 Paul Wernle: Warum feiern wir das Gedächtnis der Reformation?, in: ders. u. a.: Zum Gedächtnis der Reformation. Vier Vorträge, gehalten auf Veranstaltung des Kirchenrates von Basel-Stadt, Basel 1917, 5–27; und vor allem ders.: Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, 3 Bde. Tübingen 1918–1919. 745 Mt 5, 45.

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Nr. 117. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 9. Juli 1917 NL 290: B 346, 62 Lieber Herr Pfarrer! Der Student, dem ich Ihren Zwingli ausgeliehen hatte, hat ihn erst zur Stunde, nachdem wir schon lange fertig sind mit dieser Lektüre, zurückgegeben. Daher die Verspätung der ganzen Rücksendung. Haben Sie vielen Dank für Ihre Freundlichkeit. Ich bin augenbli[ckl]ich wieder ganz in Zwingli & [Ca]lvin746 vertieft & freue mich an dem Gesunden & Kräftigen ihrer Schriften. Am Freitag reise ich in die Ferien wieder nach Silvaplana747. Empfangen Sie herzliche Grüsse von Ihrem erg.[ebenen] P. Wernle Nr. 118. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 15. August 1917 NL 92: III A 13, 58 Lieber Herr Professor, Diesmal habe ich Ihnen eine grosse Freudenbotschaft zu melden: am Morgen des 13. Aug. ist uns ein gesundes Maiteli748 Dorothea Margaretha749 geschenkt worden. Nun ist die Erleichterung und Freude gross, doppelt gross, weil alles gut gegangen ist. Mich sieht man jetzt oft genug vom Studierzimmer ins Schlafzimmer hinübergehen, um das kleine Wesen zu betrachten und mich in das neue Gefühl hineinzuleben, dass ich Vater geworden bin und es immer besser zu werden habe. Das kleine Maiteli hat freilich sein Anfänglein in eine böse Welt und Zeit hineingelegt bekommen, aber einstweilen weiss es noch 746 Wernle hielt in Genf während der Zusammenkunft der Schweizerischen reformierten Predigergesellschaft im Juni 1917 einen Vortrag über „La notion du salut dans le protestantisme r form “. Siehe dazu: Actes de la soci t pastorale Suisse. 71e assembl e. Gen ve, 19–21 Juin 1917, Gen ve 1917, 65–83. 747 Kanton Graubünden. 748 „Maiteli“ oder „Meiteli“ bedeutet „Mädchen“. 749 Dorothea Margaretha Thurneysen.

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nichts von den Stürmen, die es umbrausen und von dem, was uns Grosse bewegt und umtreibt, einstweilen lebt es sein Lebelein noch fast wie ein Blümlein auf der Matte750, wächst langsam, und lässt Sonne und Regen walten, …„und unser himmlischer Vater ernähret es doch“751, … wir freuen uns seines Daseins, und wissen, dass auch Sie unsre Freude verstehen und teilen. Ich habe es Ihnen ganz besonders gern ausführlich geschrieben, weil ich das von Ihnen weiss. Es geht uns im übrigen auch sonst persönlich gut. Viel zu denken und allerlei vorzukehren gibt mir der langsam stets mehr anwachsende Druck der wirtschaftl.[ichen] Not, die auch bei uns auf den kleinen Leuten lastet. Und da wir fast nur „kleine“ Bauern und Arbeiter haben, sehen wir auch bei uns keinen leichten Zeiten entgegen. Ich möchte mir auch da das „unser himml.[ischer] Vater ernähret sie doch“ von unserm sorgenlosen Maiteli recht deutlich sagen lassen, freilich wird gerade an solch einem Kindlein auch das andere greifbar deutlich, dass er es nicht durch vom Himmel herabkommende Wunderwirkungen tut, sondern durch natürliche Vermittlungen, durch Menschen, die Liebe haben und zu Opfern bereit sind. Bis vor Kurzem habe ich mich durch eine zufällige Anregung aufmerksam gemacht, einmal gründlicher mit dem Pietismus beschäftigt, vor allem dem süddeutschen. Ich habe eine Reihe von Biographien seiner führenden Männer gelesen, z. B. L. Hofacker752, der mir besonders instruktiv scheint, Barth753 in Möttlingen und Calw754, Knapp755, Kapf 756 und als Gegenstück die Straussbiographie von Hausrath757 und das von Strauss selber gezeichnete Lebensbild von Pfr. Märklin758, von Norddeutschen Tholuck759 und G. Menken760. Ich habe 750 „Matte“ bedeutet „Wiese“. 751 Mt 6, 26. 752 Vermutlich ist gemeint die weit verbreitete Biographie Albert Knapp: Leben von Ludwig Hofacker. Mit einer Auswahl aus seinen Briefen, Heidelberg 1852, Calw 61895. Diese und die folgenden Biographien sind nicht verzeichnet bei Bajohr: Bibliographie. 753 Vermutlich Wilhelm Kopp: Christian Gottlob Barth’s Leben und Wirken, Calw 1886. 754 Barth (1799–1862) war 1824–1838 Pfarrer im württembergischen Möttlingen, bevor er 1838 die Leitung des Calwer Verlagsvereins übernahm. In Möttlingen wird Johann Christoph Blumhardt (1805–1880) auf seinen Wunsch hin sein Nachfolger. 755 Vermutlich Martin Knapp: Albert Knapp als Dichter und Schriftsteller, Leipzig 1912. Albert Knapp (1798–1864) war ein württembergischer Theologe und bedeutender Hymnologe. 756 Vermutlich Carl Kapff: Lebensbild von Sixt Carl von Kapff, 2 Bde., Stuttgart 1881. S. C. Kapff (1805–1879) war ein Theologe, der als Mitglied der württembergischen Kirchenleitung die Landeskirche pietistisch prägte. 757 Adolf Hausrath: David Friedrich Strauß und die Theologie seiner Zeit, 2 Bde., Heidelberg 1876–1878. 758 David Friedrich Strauß: Christian Märklin. Ein Lebens- und Charakterbild aus der Gegenwart, Mannheim 1851. 759 Vermutlich Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gottreu Tholuck’s, 2 Bde., Bielefeld 1884–1886. 760 Vermutlich Carl Hermann Gildemeister: Leben und Wirken des Dr. Gottfried Menken, 2 Bde., Bremen 1860–1861.

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gesehen, dass sie in den Basl.[er] Nachr.[ichten] Menken aus Anlass einer Bücherbesprechung auch in beifälligen Worten erwähnt haben.761 Mir ist er besonders sympathisch geworden, viel mehr als z. B. Geheimrat Tholuck. Ich habe allerlei gelernt bei dieser Lektüre, auch für mich selber und unsere Zeit. Ich habe vor allem wieder einen Abscheu bekommen vor aller Kirchenpolitik und dem polit.[ischen] Machtstreben religiöser Kreise und Bewegungen überhaupt. Der Pietismus scheint mir daran vor allem entartet zu sein. Im Augenblick, wo seine Vertreter in die grossen Städte (Berlin!) kommen, wo sie Kirchenblätter (Hengstenberg!762) redigieren, wo sie als Professoren kirchenpolit.[ischen] Einfluss suchen und finden (Tholuck!), wo sie aus schlichten, innerlich arbeitenden Landpfarrern (wie es z. B. L. Hofacker und der originelle Spleiss763 waren) zu Stadtpfarrern, Dekanen, Antistites, Prälaten, Hof- und Dompredigern werden (wie z. B. F.L.W. Hofmann764 oder in s.[einem] Alter auch Spleiss), da scheint alsbald der innere Stillstand einzutreten, und das menschliche und allzumenschliche oben auf zu kommen. Einer der wenigen die davor bewahrt blieben, scheint mir der ältere Blumhardt765 zu sein, der mir überhaupt gerade in der Menge seiner berühmteren Zeitgenossen wieder sehr gewachsen ist, und eben auch der stille Biblizist Menken. Daneben treibe ich natürlich auch, wie es die Zeit einem nahelegt, Reformationslektüre; ich habe mir kürzlich die Staehelinsche Calvinbiographie766 vorgenommen. Vor Kurzem war Eugen Haffter bei mir und hat mir wieder viel von Marburg erzählt, von wo er eben erst zurückgekehrt war. Er scheint sehr eingehend bei Natorp767 gehört zu haben,768 und ich musste mich wieder kräftig auf die 761 Wernle besprach: Karl Holl: Die Bedeutung der großen Kriege für das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus, Tübingen 1917; siehe dazu: Sonntagsblatt der Basler Nachrichten 12, 1917, 15. Juli 1917, 111 f. 762 Die gegen den Rationalismus gerichtete Evangelische Kirchen-Zeitung wurde 1827 von Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) begründet und herausgegeben. 763 David Spleiss (1786–1854) lebte und wirkte im schweizerischen Schaffhausen als Professor und Antistes. 764 Der aus Württemberg stammende Ludwig Friedrich Wilhelm Hoffmann (1806–1873) wurde 1852 in Berlin Dom- und Hofprediger sowie Mitglied des Oberkirchenrates. Er galt als einflussreichster Mann der preußischen Kirchenregierung. 765 Johann Christoph Blumhardt. 766 Ernst Staehelin: Johannes Calvin: Leben und ausgewählte Schriften, 2 Bde., Elberfeld 1863. Der Verfasser Pfarrer Dr. Ernst Staehelin-Hagenbach (1829–1888) war 1855–1860 Pfarrer im aargauischen Rheinfelden und seit 1860 in Basler Gemeinden; siehe Basileia Reformata, 301. 767 Paul Natorp. 768 Haffter schrieb am 9. Juni 1917 an Wernle: „Ziemlich viel treibe ich auch Philosophie, indem ich bei Natorp ein sehr feines Kolleg über Logik und entsprechendes Seminar höre. Das liegt vielleicht etwas nebenab von den wichtigsten Fragen und doch glaube ich, dass es mir für systemat. Denken sehr heilsam ist.“ Am 17. Juli 1917 schrieb Haffter: „Bei einer solchen Studentenzusammenkunft hörte ich nämlich einen ausgezeichneten Vortrag von Prof. Natorp über Weltanschauungsfragen. Es wird mir ein bleibender Eindruck sein, solche Anschauungen über den Krieg im ,militaristischen‘ Deutschland während der Kriegszeit gehört zu haben. Wenn alle Deutschen so dächten, wäre allerdings der Vorwurf des Militarismus nie aufge-

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Neukantischen Fragestellungen und Antworten einstellen; es hat mir viel Freude gemacht, wieder von Marburg zu reden und zu hören. Wie geht es Ihnen? Hoffentl.[ich] haben Ihnen die Ferien gut getan. Sie waren doch noch in der Schönwetterperiode in den Bergen. Wir waren dies Jahr für 10 Tage am Zugersee,769 aber meine Frau hat bereits ein grosses Verlangen, auch wieder einmal Bergluft zu spüren. Wenn alles gut geht, hoffen wir nächstes Jahr wieder einmal ein wenig irgendwo hinaufzu kommen in unsern Ferien. Einstweilen leben wir, wenn das Verlangen darnach erwacht, wohl an Erinnerungen, wobei vor allem Brigels770 eine grosse Rolle spielt, weil meine Frau auch einmal dort war. Wie lebendig stehen doch diese und die Tage in Dutjen,771 die ich bei Ihnen verbringen durfte, noch vor mir! Ich schliesse mit herzlichen Grüssen an Sie und Frau Prof. Meine Frau grüsst vom Bett aus (müd aber fröhlich) mit Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 119. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 18. August 1917 NL 290: B 346, 63 Lieber Herr Pfarrer! Bei meiner Heimkehr aus Silvaplana nach Basel finde ich Ihren frohen Brief; er begegnete sich mit meinen Gedanken an Sie in den letzten Tagen. Herzlichen Glückwunsch Ihnen & Ihrer Frau! Ich freue mich mit Ihnen, dass Sie Vater sind & dass Gott Ihnen diese Freude schenkt in der bösen & schweren Kriegszeit. Er wolle Ihrem Kind an der Seite gehen & ihm der beste Vater sein. Vielleicht haben Sie einmal in der Erziehung bessere Erfolge als ich mit meinem Hans. Aber ich muss immer sagen: wie w[en]ig richten wir aus mit dem bischen Erziehungskunst & wie viel wichtiger ist es, dass Gott etwas Rechts in das Kind hineinlegt & aus ihm heraus arbeitet trotz allen unsern Fehlern. Ich bin am Auspacken & Ordnen meiner Sachen, da gibts keinen langen kommen. Eine so gründliche Absage an alles Machtstreben habe ich noch nie gehört. Da lebt noch deutscher Idealismus in seiner reinen Form. Ich schätze auch Natorp in seiner Logik sehr. Er hat mir zum erstenmal den Sinn etwas geöffnet für kritische Philosophie, und er ist eben nicht nur Theoretiker, sondern bemüht sich auch, die verschiedenen Gebiete der Kultur nach ethischen Gesichtspunkten umzugestalten.“ 769 See in der Zentralschweiz. 770 Kanton Graubünden. 771 Siehe Brief Nr. 96.

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Brief. Mich freuts, wenn Sie neben Ihren lieben Pietisten gegenwärtig auch reformatorische Kost zu sich nehmen. Beides kommt mir immer vor wie klein & gross. Ich meine, in Gottes Haushaltung, nicht nur nach menschlicher Einschätzung. Ich habe diese deutschen Pietisten auch studiert, aber dann zog es mich immer wieder zu einem E M Arndt772 oder Uhland773 & zu all den Männern, die im Leben & in der Welt stehen & den Sinn offenhaben für die grossen Aufgaben, die Gott uns stellt. Selbst bei Blumhardt774 spüre ich zu viel reaktionär Biblisches; das Urchristentum soll nicht wiederkommen wie er es gemeint hat, sondern Gott will, dass wir mit den Hauptkräften, die Jesus uns bringt, mit Glauben & Liebe ihm & den Brüdern dienen in voller Freiheit & Weltoffenheit. Bei den Reformatoren stehe ich immer im Centrum, bei den Pietisten viel mehr in sonderbaren Nebensachen wie zB diesen Dämonengeschichten & Wundern, d[ie] doch immer nur zum Transitorischen775 gehören können. Ueber Tholuck freilich denke ich anders als Sie. Er hat mich in meinen Gymnasialjahren persönlich gepackt & dafür danke ich ihm zeitlebens. Aus seinem „Rat“776 mache ich mir gar nichts & für das viele Allzumenschliche an ihm bin ich sicher nicht blind. Aber er ist als einer der ersten wieder in den Kern des Sünden & Gnadenerlebnisses eingedrungen aus ganz persönlicher Führung & dann rechne ich es ihm hoch an, dass er die Wendung zum Konfessionalismus nicht mitgemacht hat, dass er als Lutheraner soviel für Calvin777 that & überhaupt das Recht der Wissenschaft hoch hielt gegenüber den Zeloten. Lassen Sie uns aber gute Freunde bleiben als Menschen & Christen, auch wenn wir in Meinungen weit auseinandergehen. Es sind ja eben Meinungen & die meinen müssen nach dem Alter von den Ihren differieren. Ich habe wirklich vieles in Ihren Jahren ganz ähnlich wie Sie angesehen & kann es heute nicht mehr so. Mein ganzes Sehnen & Streben ist darauf gerichtet Gott in der Welt & in der Ge[gen]wart an der Arbeit zu sehen. Das ist oft sehr schwer, aber es ist für mich mit dem Glauben selbst gegeben. Das Verhältnis der Idealwelt zur Wirklichkeit wird mir immer mehr das Problem aller Probleme aber die Lösung kann ich nicht in irgend einem schroffen Dualismus finden, sondern in irgend einem Herausarbeiten der Idealwelt aus der Wirklichkeit selbst, die von Gott geschaffen & auf sie hingeordnet wird. Nun, das erleben Sie ja ge772 Ernst Moritz Arndt (1789–1860) war zunächst Professor für Geschichte und Philosophie in Greifswald und seit 1818 in Bonn; dort zwei Jahre später suspendiert und erst 1840 durch Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert. Arndt förderte das deutsche Nationalbewußtsein und den Kirchengesang. 773 Ludwig Uhland (1787–1862) war als Dichter ein Vertreter der Schwäbischen Romantik. 774 Christoph Blumhardt. 775 Vorübergehenden. 776 Friedrich August Gottreu Tholuck (1799–1877) war seit 1825 Professor in Halle, Konsistorialrat und Oberkonsistorialrat und zählt zu den Theologen der Erweckungsbewegung. 777 August Tholuck (Hg.): Ioannis Calvini in Novum Testamentum commentarii ad editionem Amstelodamensem, accuratissime exscribi curavit et praefatus est, 7 Bde., Berlin 1833–1834.

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genwärtig selber in Ihrem Kindlein, das vielleicht geeignet ist, Sie in ein positiveres Verhältnis zur Natur & dem Natürlichen zu bringen, als es manchmal bei Ihnen & Ihren Freunden klingt. Selbstverständlich hat der Dualismus auch seine Wahrheit & sein Recht, aber gerade da sind mir die Reformatoren wahrhaft ehrwürdig, wie sie ihren kraftvollen Dualismus hineingestellt haben in & unter Gottes Allmachtswirken & schliesslich doch alles aus Gott & zu Gott begriffen oder besser geglaubt haben. Vergleichen Sie damit die Leichenpredigt Lejeunes in den N W778, so wissen Sie, was ich meine & wovor mir graut. [P]aul Gerhardt singt: ja auch den Tod hat er in Händen, gib di[ch] zufri[e]den.779 Nun meine herzlichen Wünsche für das Ergehen von Mutter & Kind & Ihnen selbst täglich neue Freude an dem Geschenk Gottes! Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 120. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 16. Oktober 1917 NL 290: B 346, 64 Lieber Herr Pfarrer! Ich werde in diesem Semester im Seminar Zwingli behandeln mit Jungen & mit Aeltern & sollte dazu wieder mehr Exemplare haben.780 Band 1,3,4 & 7.781 Könnten Sie mir die Ihren leihen? Falls Sie je selbst gerade daran sind, verzichte ich natürlich darauf. Wir haben Sie neulich in Baden782 vermisst, es war sehr anregend & Hofmann783 sprach gut. Bornhausen784 war auch erschienen & brachte ein interessantes Votum. Er kommt nun wahrscheinlich im Winter nach Basel sammt 778 Robert Lejeune: Vom Tode, in: NW 11 (1917), 163–166. 779 Aus der 2. Strophe des Liedes „Gib dich zufrieden und sei stille“ (Evangelisches Gesangbuch 371, 2). 780 Wernle bot an: „Kirchengeschichtliches Seminar: Schriften Zwinglis von 1522, Mi 6–8.“ Siehe dazu: Verzeichnis der Vorlesungen an der Univesität Basel im Wintersemester 1917/18, 3. 781 Wernle meint hier die noch nicht abgeschlossene Zwingli-Ausgabe des Corpus Reformatorum von Emil Egli u. a. (Hg.): Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, die seit 1905 erschien. 782 Das Ereignis konnte nicht identifiziert werden. 783 Vermutlich handelt es sich hier um den Kirchenhistoriker Heinrich Hoffmann (1874–1951), der von 1912 bis 1944 Professor in Bern war. 784 Karl Bornhausen.

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seiner Pflegeschwester, um hier geistig sich mehr beschäftigen zu können als in Heiden785 & vor allem, um sich der internierten Theologen anzunehmen. Ich habe nicht weniger als 5 Vorträge über lauter verschiedene Themata diesen Herbst auszuarbeiten & zu halten.786 Am meisten lernte ich selbst bei demjenigen über das Verhältnis der schweizerischen zur deutschen Reformation.787 Ich sammelte alle Zeugnisse für das erste Auftreten Luthers in der Schweiz & gewann den Eindruck, dass tatsächlich in allen Gegenden von Luther der Stoss ausgieng, den dann Zwingli, aber erst nach ein paar Jahren auffieng & ihm seine Eigenart verlieh. Wir danken die Reformation wirklich Luther auch in der Schweiz, aber unsre schweizerische Eigenart hat ihr Zwingli gegeben, lange vor Calvin. Das ist ja eigentlich selbstverständlich, aber es war mir sehr lehrreich, das Material überall nach dieser Richtung weisen zu finden. Mein Arm geht immer noch mässig, nicht gerade schlimmer, aber auch nicht entschieden besser. Darum Schluss! Ich traf Ihre Mutter & Schwester in der Bahn, als sie von Leutwyl zurück fuhren. Es geht also gut bei Ihnen allen! Mit herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle Nr. 121. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 18. Oktober 1917 NL 92: III A 13, 59 Lieber Herr Professor, Ihrer Bitte um Zwinglibände komme ich gern entgegen. Sie kam mir freilich etwas ungelegen, insofern ich sie selber gerade gebrauche. Ich habe mir aber helfen können; ich bin nicht ausschliesslich und speziell an Zwingli. Vielleicht ist es Ihnen aber möglich, mir den 1. Band noch eine kleine Zeit, etwa bis Ende nächster Woche zu lassen; ich sollte noch etwas ausziehen; dann folgt er gerne nach. Ich kann mir denken, dass Sie mit Reformat.[ions]darbietungen überaus stark beschäftigt sind. Es wird ja von allen Seiten viel dazu geredet und ge785 Dorf im Kanton Appenzell Ausserrhoden. 786 Paul Wernle: Warum feiern wir das Gedächtnis der Reformation?, vgl. dazu oben Anm. 744, ferner ders.: Zum 31. Oktober 1917. Rede bei Anlass der Reformationsfeier der theologischen Fakultät Basel, Basel 1917. 787 Paul Wernle: Das Verhältnis der schweizerischen zur deutschen Reformation, Basel 1918.

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schrieben. Eben habe ich Ihren Genfervortrag in den Verhandl[un]gen der Pred.[iger]ges.[ellschaft]788 zugesandt bekommen, heute morgen kam ein kleines Schriftlein, offenbar aus dem rel.[igiös] soz.[ialen] Lager, die Briefe des Tob. Fromm an s.[einen] Pfarrer789. Vorgestern sandte mir Rud. Schwarz s.[ein] Büchlein790 und noch früher nahm ich Einsicht in ein Schriftlein, das Pfr. Grob an der Epilept.[ischen] Anstalt in Zürich über Calvin791 herausgeben wird. Es ist eine grosse Aktion[,] hoffentlich verläuft sie nicht nur so platonisch, sondern hinterlässt einen Segen und eine Kraft. Ich selber muss drei Mal reden, am 31. Okt.792 und am Sonntag darauf zwei Mal. Ich tue es im Grunde gern und freudig, finde es aber keine leichte Aufgabe, denn trotz allem Feiern sind wir in unsern Kirchen doch weit weg von dem, was die Reformatoren bewegt hat. Ich hoffe, Sie in Bälde wieder einmal persönlich zu sehen und ein wenig mit Ihnen reden zu dürfen. Aus Ihrem Briefe entnehme ich, dass Sie durch ein Leiden am Arm oder in der Hand behindert sind.793 Ich hoffe von Herzen, es sei nichts ernstes und langwieriges und wünsche Ihnen jedenfalls gute Besserung. Uns geht es allen drei gut. Wir freuen uns tagtäglich am Maiteli. Herzlich grüsst Sie und Frau Prof. Ihr alter Ed. Thurneysen

788 Siehe: „Verhandlungen der Schweizerischen Reformierten Predigergesellschaft“ im Band für das Jahr 1917 oder direkt „Actes de la Soci t pastorale suisse. 71e assembl e, Gen ve, 19–21 juin 1917“, Genf 1917. 789 Tobias Fromm: Briefwechsel des Tobias Fromm mit seinem Pfarrer, hg. von Theophilos [d. i. Bodo Freiherr von Hodenberg], Bern 1917. 790 Hier handelt es sich um Rudolf Schwarz: Reformations-Gedächtnis, Basel 1917. Schwarz war ein Kenner Calvins und gab heraus: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung, 2 Bde., Tübingen 1909. Zu diesen beiden Bänden steuerte Wernle jeweils ein ausführliches Geleitwort bei (Bd. 1: III–X; Bd. 2: III–X). 791 Rudolf Grob: Briefe über Calvin, Zürich 1918. 792 Paul Wernle: Zum 31. Oktober 1917. Rede bei Anlass der Reformationsfeier der Theologischen Fakultät Basel, Basel 1917. 793 Paul Wernle litt seit 1917 unter Parkinson. Siehe dazu oben in der Einleitung, S. 15.

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Nr. 122. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 27. Dezember 1917 NL 92: III A 13, 60 Lieber Herr Professor, Es ist mir ein langgefühltes inneres Bedürfnis, wieder einmal mit einem Brief zu Ihnen zu kommen. Unser letztes Zusammentreffen in Basel war ja leider nur sehr kurz und flüchtig, und ich werde jedenfalls in den nächsten Tagen auch nicht gerade nach Basel reisen, so sehr es einen um die Zeit der Weihnacht und des Neujahrs herum dazu verlocken möchte. Ich bin doch wirklich, seitdem ich eine Frau habe und gar noch ein Kindlein, das uns ans Haus bindet, sesshafter geworden als früher. Ich habe auch noch einen äussern Grund, heute zu Ihnen zu kommen; ich möchte Ihnen gern das Predigtbüchlein794 überreichen, das ich zusammen mit Karl Barth auf diese Weihnacht habe ausgehen lassen. Es enthält 6 Predigten von mir und 6 von Barth und dazu noch einen Vortrag795. Wir haben die einzelnen Beiträge nicht weiter gezeichnet, weil wir im Ganzen in der Sache eins sind, die wir aussprechen möchten, und das Persönliche Nebensache sein soll. Am liebsten hätten wir das Büchlein anonym ausgehen lassen, aber das ist vielleicht doch kein so guter Brauch und bringt immer ein gewisses Zwielicht mit sich. Und das wollen wir nicht um uns verbreiten. Aber jedenfalls wollen wir mit unserm Worte nicht uns selber oder irgend einer Sekte oder Partei dienen, sondern einfach aussprechen, was uns bewegt. Wir glauben, damit etwas zu sagen, was vielleicht doch von andern nicht allzuoft auch gesagt wird, und was doch auch zu Gehör kommen darf, weil es, wie wir es wenigstens persönlich erfahren zu haben meinen, etwas Hilfreiches ist. Ich bin mir allerdings dessen bewusst, dass viel Menschliches, Unvollkommenes und Unausgereiftes mitgelaufen ist: wir haben dagegen gekämpft, so gut wir konnten, und hoffen nur, das eigentlich Gemeinte und Gewollte komme trotzdem zum Vorschein. Es wäre mir eine grosse, aufrichtige Freude, wenn Sie in unserm innern Bemühen trotz aller unsrer Fehler etwas Gutes und Wahres sehen könnten, aber ich bin auch von Herzen offen und dankbar für alle Ablehnung und Kritik, die Sie vielleicht da und dort notwendig finden. Ich weiss, dass Sie 794 Karl Barth und Eduard Thurneysen: Suchet Gott, so werdet ihr leben, Bern 1917. 795 Karl Barth sprach am 6. Februar 1917 in einer von Thurneysen in Leutwil organisierten Vortragsreihe, die unter dem Thema „Die neue Welt in der Bibel“ stand und vom 4. bis 6. Februar stattfand. Sein Thema lautete: „Die neue Welt in der Bibel“. Vor Barth hatten Emil Brunner und Gottlob Wieser gesprochen. Dieser Vortrag ist in dem Predigtband „Suchet Gott“ abgedruckt (154–174); ferner in: Karl Barth: Das Wort Gottes und die Theologie, Gesammelte Vorträge, Zollikon 1929, 18–32; und in: ders.: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, 317–343.

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in alter persönlicher Herzlichkeit und Güte meine innern Wege verfolgen und daran Anteil nehmen, eine Anteilnahme, die Sie mir eben auch durch Ihre Kritik bezeugen. Von meiner Arbeit in der Gemeinde könnte ich Ihnen besser mündlich erzählen als brieflich. Ausserordentliches fällt nicht vor, und wo es vorfällt, ist es meist nicht gerade erfreulich. Es ist immer viel, viel Kleines, Einzelnes und Äusseres zu tun, und mein Bemühen muss darin bestehen, es aus einem grössern Zusammenhang heraus zu verstehen und zu tun. Ich finde immer mehr, man sei als Landpfarrer allein auf einem kleinen Dorfe doch recht hart am Leben und an der Wirklichkeit an, gleichsam in die vorderste Linie auf einen einzelnen, exponierten Posten gestellt, wo man zuzusehen hat, woher man die Kraft und Geduld und Einsicht herbekommt, um fertig zu werden. Ratgeber und ältere Freunde vermisst man oft schmerzlich. Aber für den inwendigen Menschen ist es eine heilsame Sache und Schule; ich verstehe allerlei – ich möchte sagen: – seelsorgerliches in der Bibel besser und persönlicher als früher und darf vielleicht innerlich auch langsam immer etwas freier werden von den Menschen und von den Dingen und meinen eigenen Weg gehen lernen. Meine Frau ist mir in allen diesen persönlichen Sachen viel, und auch in der Gemeinde arbeitet sie oft mehr, als ihre Kräfte es eigentl.[ich] erlaubten. Fehler und Ungeschicktes kommen natürlich immer wieder vor, aber ich erfahre auch, dass ohne unser Zutun auch aus Fehlern etwas Gutes hervorgehen kann und darf, wenn wir uns nicht aufs Falsche versteifen. Ich lerne warten, auf Gott und auf die Menschen, aber ich kann es noch lange nicht gut genug. Ich freue mich immer wieder am Verkehr mit der Jugend, den mir mein Pfarramt bringt. Aber freilich da spüre ich auch ganz besonders stark mein Ungenügen; zu haben wären die Burschen und die Mädchen schon, aber nur für etwas ganz Lebendiges, Kräftiges, Wahres. In letzter Zeit bin ich innerlich stark von der Frage umgetrieben, ob ich mich nicht doch noch einmal ganz der Arbeit an der Jugend hingeben solle, indem ich mich um eine der neuzuschaffenden Jugendpfarrstellen bewerbe. Von Zürich lag eine direkte Anfrage vor, allerdings mehr privater Art, aber ich habe mich doch noch nicht dazu entschliessen können. Es spricht allerlei auch wieder dagegen. – Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie? Ich könnte mir denken, dass der kalte Winter und das spärliche Heizmaterial Ihnen bei Ihrer Disposition zu Erkältungen nicht gerade zuträglich sei. Hoffentlich kommen Sie aber trotzdem gut durch die kalten Monate. Wo stehen Sie nun wohl im 19. Jahrhundert?!796 Wird doch bald ein erster Band herauskommen? Ich habe Sie schon so lange nicht mehr davon erzählen hören. Im Frühling kommen wir jedenfalls selbdritt nach Basel für einige Tage, und dann hoffe ich doch, komme es dazu, dass ich Sie wieder einmal ruhig besuchen kann und darf. 796 Wernle las im Wintersemester 1917/18 über „Kirchengeschichte seit 1648“, im Semester zuvor Reformationsgeschichte.

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Es ist schon spät; ich will schliessen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie von Herzen ein gutes Neues Jahr und bin mit herzlichen Grüssen Ihr Eduard Thurneysen Meine Frau wünscht und grüsst vielmal mit. Nr. 123. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 4. Januar 1918 NL 290: B 346, 65 Lieber Herr Pfarrer! Das ist schön von Ihnen, dass sie mir Ihr [er]stes Predigtopus schenken.797 Wäre es ganz das Ihre, es wäre mir wohl noch lieber gewesen; ich bin kein Freund der Firmen auf diesem Gebiet. Die Predigten haben mich aber so interessiert, dass ich das Bedürfnis fühlte, mich zustimmend & auch widersprechend damit auseinanderzusetzen & eine längere Besprechung, vielleicht fürs Kirchenblatt schrieb.798 Darin hebe ich zuerst kräftig hervor, was mich an diesen Predigten freut & wofür ich Ihnen dankbar bin: die Koncentration auf die Hauptsache, das Zeugnis vom lebendigen Gott mit dem Aufzeigen des Gewaltigen, was wir damit haben könnten, wenn wir es wirklich mit Gott wagen wollten & mit der Erweckung der ehrlichen Selbsterkenntnis & der Sehnsucht darnach. In diesem Kernpunkt weiss ich mich mit Ihnen eins & halte es wie Sie für dringend notwendig, dass das immer wieder gesagt & in den Mittelpunkt gestellt wird. Dagegen bin ich weniger erbaut von der vielen Polemik mit dem so oft höhnischen & satirischen Ton, den Ihr Freund so trefflich versteht & mit dem manche Predigten mit Realitäten wie Naturgesetz, Schicksal, Erfahrung, Denken sehr oberflächlich abfahren. Das Positive selbst endlich ist mir oft zu enthusiastisch ausgedrückt, ZB jedesmal wenn vom Tod die Rede ist, dass man nicht weiss, ob wir eigentlich wirklich nicht mehr sterben werden oder nicht & an so manchen Stellen, die den Schein erwecken, wenn man nur Gott habe, dann seien alle Nöte & Schwierigkeiten erledigt, was einfach nicht stimmt. Und dann wieder klingt es mir & das hängt mit der Stärke dieser Predigten zusammen, zu unkonkret gegenüber aller wirklichen Arbeit im Leben; ich vermisse jede Richtlinie vom Unmittelbaren des Got797 Siehe Brief Nr. 122. 798 Die umfangreiche Rezension von Paul Wernle erschien unter dem Titel „Suchet Gott, so werdet ihr leben!“, in: KBRS 33 (1918), 9–11.

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tesbesitzes zur konkreten Arbeit an der Welt & ich hoffe sehr, Ihre wirklichen Predigten seien in dieser Hinsicht weniger monoton als diese gedruckten. Anderes ist dann wieder einfach Stimmungsunterschied nach den verschiedenen Jahren; Sie & ich müssen anders empfinden, wie Sie auch nach 20 Jahren für etwas andere Melodien empfänglicher sein werden. Das ungefähr wollte ich in meiner Besprechung zum Ausdruck bringen, weit besser begründet als hier i[n] diesem Brief & mit mehr Eingehen auf Ihre jedesmaligen Motive zB bei der Polemik. Aber wenn Sie wirklich ein so guter Freund von Barth sind, so thun Sie ihm auch diesen Freundesdienst, dass er zwischen seiner witzigen Laune am Karrikieren & Durchhecheln gewisser philiströser Bürger & dem Göttlichen, das er vertritt etwas besser unterscheiden lernt. Für mein Gefühl einfach abgeschmackt ist das Wort von den Uniformen als Zeichen der Schmach & Gottlosigkeit der Menschheit.799 Welches Crescendo haben Sie dann noch übrig, wenn einer seine Uniform durch Besoffenheit & Schweinerei beschmutzt? Und wäre das so, dann hätten Sie beide die Pflicht mit allen Waffen gegen den Militärdienst zu kämpfen & auch die Folgen dieses Kampfs auf sich zu nehmen etwa wie Humbert Droz.800 Ein solches Schimpfwort sagen & drucken lassen, ohne weitere Konsequenz ist nicht fein. Ich habe aber diesen Punkt in meiner Besprechung nur ganz nebenbei erwähnt, ohne dazu Stellung zunehmen. Es ist ja Nebensache. Im Kern, in dem, was Sie im Grunde wollen, weiss ich mit Ihnen beiden eini[g] & betone das am Anfang wie am Schluss. Man kann es eigentlich nicht anders meinen, wenn Gott einem die Hauptsache geworden ist. Dasselbe freut mich auch immer wieder an Kutter trotz seinen horrenden Einseitigkeiten & seinem vielen Geschimpf, das auch nicht aus göttlicher Quelle stammt. Aber halten Sie einmal Jesus neben Kutter in der Art des Vortrags! Was ist das für ein anderer Ton. Wenn wir doch von ihm noch mehr lernen könnten! Haben Sie auch schon darüber gedacht, wie er sich zu[r] Erfahrung & zum Naturgesetz gestellt hat? Lassen Sie meine Kritik bei seite & schauen Sie ihn an! Ich hoffe immer, dass wir bei ihm am besten einig werden können. Nun nochmals meinen Dank & recht gute Neujahrswünsche für Ihr Haus von Herzen Ihr P. Wernle

799 A.a.O., 9. Karl Barth hatte in der Predigt „Wo ist nun dein Gott?“, in: Suchet, Gott, so werdet ihr leben, a. a. O., 92–104 geschrieben: „Wo ist nun dein Gott? Was soll dir eigentlich alles, was du bis jetzt meintest, glaubtest, träumtest? Was hilft es dir nun? Hast du nicht auch schon gehört, wie jetzt die Kanonen jenseits des Jura, diese gewaltigen Apostel des radikalsten Zweifels, wie jede Uniform, die wir sehen oder gar tragen müssen (diese Abzeichen der Schmach und Gottlosigkeit der Menschheit!) wie das alles alles uns fragt und fragt: wo ist nun dein Gott?“ (102). 800 Jules Humbert-Droz wurde 1916 als Kriegsdienstverweigerer für sechs Monate inhaftiert. Siehe Nöthiger-Strahm: Protestantismus, 158–161.

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Nr. 124. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 5. Januar 1917 801. NL 92: III A 13, 54 Lieber Herr Professor, Ich möchte doch meine Predigtarbeit schnell unterbrechen, um Ihnen mit ein paar Worten herzlich zu danken für den ausführlichen Brief, den Sie mir über unser Predigtbüchlein802 schreiben und zum Voraus auch für die eingehende Besprechung und Kritik, die Sie darüber in Aussicht stellen.803 Ich sehe und spüre daraus wieder aufs neue, wie Sie in alter, treuer Weise meine innern Wege verfolgen und mich mit Zustimmung, wo Sie sie geben können, und mit Tadel und Kritik, wo es Ihnen nötig erscheint, weiterhin begleiten. Dafür bin ich Ihnen einfach von Herzen dankbar, und das hat mich an Ihrem Briefe so froh gemacht. Ich möchte nun weiter gar nichts erwidern auf Ihre Einwände und Ablehnungen; ich möchte sie zunächst einfach auf mich wirken lassen und hoffe aus der Rezension noch genauer zu ersehen, wie alles gemeint ist. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich dafür offen sein werde. Ihre Aussetzung am satyrischen Ton meines Freundes Barth verstehe ich gut; da liegt in der Tat seine schwächste Seite; er weiss das übrigens selber auch, obwohl er seiner Dialektik immer wieder erliegt. Es ist die dunkle Kehrseite seines scharfen Geistes. Ich werde ihm aufs neue sagen, wie Sie diese Haken und Angeln in seinen Beiträgen empfunden haben, muss und will aber natürlich auch seine Sünden mit den meinigen tragen, da ich nun einmal meinen Namen zum ganzen Büchlein gegeben habe. Leid getan hat mir, dass Sie insbesondere den Ausdruck von den Uniformen als dem Zeichen der Schmach und Schande der Menschheit in seiner Predigt „wo ist nun dein Gott?“ als so direkt beleidigend und verletzend empfunden haben.804 Muss er so aufgefasst werden? Es ist uns geradezu ein Anliegen, nicht unbarmherzig und billig absprechend dazustehen. Wir möchten auch nicht einfach Antimilitarismus oder Anarchismus oder irgend einen andern solchen geistigen Kurzschluss predigen, wirklich das nicht. Barth hat ja gerade in der Kriegsfrage in seinem das Büchlein abschliessenden Vortrag (auf S.[eite] 164 f) gezeigt, dass er wohl gesehen hat, wie 801 Thurneysen hat hier versehentlich 1917 statt 1918 geschrieben. Der Brief antwortet eindeutig auf Brief Nr. 123. 802 Karl Barth und Eduard Thurneysen: Suchet Gott, so werdet ihr leben!, Bern 1917. 803 Paul Wernle: Suchet Gott, so werdet ihr leben, in: KBRS 33 (1918), 9–11. Siehe dazu Wolfgang Schildmann: Karl Barths Träume. Zur Psychodynamik seines Werkes, Zürich 2006, 84 f. 804 Karl Barth: Wo ist nun dein Gott?, in: Suchet Gott, 92–105. Sie stammt von Barth; siehe dazu Barth – Thurneysen 1, 232; sie ist wieder abgedruckt in: Karl Barth: Predigten 1917, hg. von Hermann Schmidt, Zürich 1999, 269–282.

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die Bibel hierüber anders denkt als manche unserer moralistischen Antimilitaristen. Er wollte wahrscheinlich nur sagen mit jenem Ausdruck, wie eben gerade an diesem Punkt und Zeichen das, was wir „die Verborgenheit Gottes in unserer Welt“ nennen805, erscheint, aber er hätte es natürlich nicht so pointiert und verkürzt nur mit dem allerdings fast persönlich haftbar machenden Wort „Uniform“ sagen sollen. Aber ich möchte nicht rechthabern und bitte Sie einfach nocheinmal meinen recht herzlichen Dank entgegenzunehmen für das, was Sie mir gesagt haben und noch sagen werden. Mit herzl.[ichen] Grüssen Ihr alter Eduard Thurneysen Nr. 125. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, Ende Januar 1918 NL 290: B 346, 69 Lieber Herr Pfarrer! Ich habe erst gestern das Kirchenblatt bekommen mit meiner Besprechung806, nachdem mir am Samstag aus Versehen Nr 2 zugesandt worden war. Da ich nicht weiss, ob Sie das Blatt haben, sende ich Ihnen die Nr zu. Es that mir leid, von Ihrem Bruder zu hören, dass es Ihrem Vater seit einiger Zeit weniger gut gehe. Hoffentlich ist es nichts Schlimmeres. Dato lebe ich ganz in Calvin seit mehr als einem Monat und bekomme immer neuen Respect vor ihm. Mein Buch über Luthers Glaube nach seinen Hauptschriften wird gedruckt,807 die Fortsetzung über Zwingli ist schon fertig gestellt. Mit Calvin werde ich schliessen. Mit herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle

805 Karl Barth: Die neue Welt der Bibel, in: Suchet Gott, 154–174. 806 Paul Wernle: Suchtet Gott, so werdet ihr leben!, in: KBRS 33 (1918), 9–11. 807 Paul Wernle: Luther. Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd. 1, Tübingen 1918. Das Vorwort zu diesem Band schrieb Wernle im März 1918.

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Nr. 126. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Ohne Ort und Datum, wahrscheinlich Ende Februar / Anfang März 1918. NL 290: B 346, 66 [gedruckt auf der Vorderseite:] Für die herzliche Teilnahme beim Hinschied unserer lieben Mutter Frau Louise Wernle808 geb. Ringier danken aufrichtig Die trauernden Hinterlassenen. [Rückseite handschriftlich:] Lieber Pfarrer! Haben Sie herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Meine Mutter und ich haben sehr eng zusammengehört und meine Religion hat viel von der ihren. Darum fehlt sie mir sehr. Aber es war für sie ein Heimgang und ich darf sie nicht zurück wünschen. Mit freundlichem Gruß Ihr P. Wernle Nr. 127. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 20. März 1918 NL 290: B 346, 67 Lieber Herr Pfarrer! Hier mit vielem Dank Ihre Bücher zurück! Hoffen[t]lich kommen Sie auf Ihre Auslagen, sonst reklamieren Sie bitte! Ich schloss soeben mein Hauptkolleg in dem Ihre Schwägerin sass, mit 2 Stunden, nach denen ich gehörig müde bin &

808 Verstorben am 26. Februar 1918.

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froh, dass die Beredsamkeit vorläufig ein Ende hat. Ich hoffe, es geht bei Ihnen a[ll]es gut. Mit herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle Nr. 128. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 2. November 1918 NL 92: III A 13, 61 Lieber Herr Professor, Eben habe ich Ihren Artikel in der Glocke809 gelesen und empfinde das Bedürfnis, Ihnen wieder einmal ohne besonderen Anlass ein paar Worte zu schreiben. Ich komme selber gerade erst von der unheimlichen Krankheit her810, die jeden, den sie befällt, vor so ernste Möglichkeiten stellt und uns in den langen Tages- und Nachtstunden, wo man still daliegen muss, so viel zu denken gibt, und ich bin eigentlich auch ganz einfach vor den grossen Gegensatz von Diesseits und Jenseits gestellt worden so persönlich wie noch selten. Das arbeitet innerlich an einem, und wenn ich auch manches nicht so sehen und sagen könnte, wie Sie es tun, so habe ich doch Ihr Wort vom Ewigkeitschristentum sehr tief und gut verstanden, und wenn ich aus den Erfahrungen dieser Tage heraus etwas denken und sagen muss, so werde ich auf den gleichen Weg geführt und in die gleiche Richtung gewiesen. Auch die Gedanken, die der Gang der Weltereignisse auslöst, treffen eigentlich mit diesen persönlichen Erfahrungen zusammen. Auch da sage ich mir mehr als jemals früher: man kann nicht transscendent genug von den letzten Zielen Gottes denken, und wer sich am meisten gehütet hat, diesseitige politische Entwicklungen in unmittelbare Beziehung zum kommenden Reich Gottes zu setzen, der steht heute in der Flut der Entwicklung am freiesten und sichersten da. Ich sehe auch deutlicher als früher, dass das Neue Testament jedenfalls die weltlichen Entwicklungen und das Kommen der neuen Welt von Gott her in unmissverständlicher Weise auseinanderhält. Darauf haben ja auch Sie uns immer hingewiesen. Freilich an das Vorhandensein und sich erfüllen letzter 809 Paul Wernle: Ewigkeitschristentum, in: Die Glocke 24, Nr. 2, November 1918, o.S. 810 Hier handelt es sich um die Spanische Grippe; siehe weiter unten im Brief. Der Spanischen Grippe – der größten „demograf. Katastrophe der Schweiz“ im 20. Jahrhundert – fielen zwischen Juli 1918 und Juni 1919 in der Eidgenossenschaft 24.449 Menschen zum Opfer; siehe dazu Christian Sonderegger: Grippe, in: HLS 5, 710 f.

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und grösster Ewigkeitsziele Gottes über der Welt glaube ich doch auch immer stärker, und ich kann nicht an die Ewigkeit denken, ohne zugleich an dieses Kommen der Ewigkeit uns entgegen und dieses sich erfüllen ihrer Ziele an der unerlösten und zerrissenen Menschheit zu denken; aber freilich da kann man dann nicht mehr von Diesseits oder Jenseits mehr reden, wenn man an diese letzten Möglichkeiten und ihre Verwirklichung denkt. Doch ich wollte nicht von meinen Gedanken viel reden, sondern Ihnen danken für Ihr kurzes Wort und Ihnen sagen, dass ich Sie darin verstehe. Ich tue es auch darum gerne, weil ich seit dem Frühjahr ohne direkte Verbindung mit Ihnen bin. Ich war nie mehr in Basel ausser einmal schnell an einer Beerdigung. Man schränkt sich schon der Kosten wegen im Reisen möglichst ein. Indirekt bin ich freilich in Fühlung geblieben, in Gedanken, durch Gespräche (z. B. mit Eugen Haffter), auch durch Ihre Bücher. Und so habe ich trotzdem das lebendige Gefühl der Verbindung. Ihr Lutherbuch811 hat uns kürzlich in unsere Ferien begleitet. Ich bin freilich nicht dazugekommen, es zu lesen, meine Frau hat es in Angriff genommen, dann aber sind unsere Ferien plötzlich jäh abgebrochen worden durch den Ausbruch der Grippe in meiner Gemeinde. Ich musste heim, und es kam eine ernste Zeit; es galt, von Bett zu Bett zu gehen und in 10 Tagen waren 7 Tote zu beerdigen. Schliesslich hat mich die Krankheit selber erfasst; aber ich durfte Gott Lob wieder gesund werden. Der Gottesdienst ist von oben herab seit Wochen abgestellt812, aber ich hoffe nun, da ich wieder eingreifen darf, ich könne die Aufhebung des Verbotes für unsere Dörfer erwirken, da die Krankheit im Abnehmen ist. Meine Frau liegt immer noch, glücklicherweise nicht schwer; unser Maiteli dagegen ist gesund durch diese Zeit hindurchgekommen. Ich will hoffen, Sie seien auch alle verschont geblieben. An Arbeit wird es Ihnen nicht fehlen, wenn auch das Semester immer noch nicht hat anfangen dürfen. Darf ich Ihnen als Zeichen aus meiner Arbeit die Predigt beilegen, die ich in Regensberg813 gehalten habe? Sie liegt nun zwar schon ziemlich zurück, vor der Grippezeit, und wenn Sie nicht gerade Zeit und Lust haben für eine Predigt, so lassen Sie sie doch ja ungelesen. Es kam mir damals darauf an, dem gewissen allzugrossen christl.[ichen] Selbstbewusstsein dieser jungen „Be-

811 Paul Wernle: Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformation, Bd. 1: Luther, Tübingen 1918. 812 In den Kantonen wurden während der Dauer der Epidemie öffentliche Veranstaltungen untersagt. Im Kanton Zürich beispielweise wurde von Juli 1918 bis März 1919 ein Versammlungsverbot erlassen. 813 In Regensberg (Kanton Zürich) fand vom 21. bis 22. September 1918 die „Landsgemeinde der Jugendgruppen des C.V.J.M.“ statt, nachdem diese wegen des durch die Grippe-Epidemie verordneten Versammlungsverbots hatte verschoben werden müssen. Über 650 Teilnehmer wurden verzeichnet. Thurneysen predigte am 22. September 1916 unter dem Titel „Was sagt Gott uns?“ über Richter 7, 1–7. Die Predigt ist abgedruckt in: Die Glocke 27, Oktober 1918, o.S.

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wegung“ den Ernst des Anspruchs zu bedenken zu geben, der in ihren Programmen und Kundgebungen erhoben ist, Gott in neuer Weise zu dienen. Ich schliesse mit herzlichen Grüssen als Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 129. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 7. November 1918 NL 290: B 346, 68 Lieber Herr Pfarrer! Ihr lieber Brief traf mich an einem schweren Tag, da meine Frau eben eine Nierenoperation (Herausschneiden der einen tuberkulösen Niere) durchmachen musste, wodurch meine Ewigkeitsgedanken, die eben doch wie so vieles andere Gedanken waren, ganz anders als vorher Erfahrung geworden sind. Gottlob gieng die Operation recht normal von statten, aber man hat sich seitdem viel mehr als zuvor geschenkt, resp[ektive] geliehen & die naive Sicherheit des früheren Besitzes wird nicht wieder kommen. Ich hatte meine Frau für kerngesund gehalten & auch eine lange schleichende Krankheit in Kloster814 hatte keinen solchen Verdacht bei mir erregt. Ich hör[te] nicht ohne Sorgen von Ihrer [Gr]ippe & jetzt von der Krankheit Ihrer Frau. Gott behüte sie beide! Auch Ihr Vater ist ja ergriffen worden. Gegenwärtig sorgen wir um Ernst Stähelin. Es will kein Ende nehmen. Ihre Predigt war mir schon bekannt aus der Glocke815; sie ist für mein Gefühl zu wenig konkret, ich sehne mich aus diesen Allgemeinheiten heraus. Ich halte es darin mit Greyerz.816 Aber jeder soll seine Weise haben. Es freut mich, dass wir doch in vielem zusammenstimmen. Nur machen Sie es mit der Hoffnung auf Kräfte & Wunder im Diesseits & ich ohne diese Hoffnung mit Gottvertrauen & Liebe, die für mich der wahre Anbruch des Ewigen im Zeitlichen sind. Da muss jeder sehen, wie weit er kommt. Die gegenwärtigen Zeiten sind gute Prüfungszeiten; was nicht echt ist, kann nicht halten, in

814 Klosters in Graubünden, wo Wernle seine Ferien verbrachte. 815 Siehe oben Anm. 258. 816 Karl von Greyerz.

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diesem Glauben stimmen wir sicher zusammen. Und nun gottbefohlen Sie & Ihre Frau! Von Herzen Ihr P. Wernle Nr. 130. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 16. Januar 1919 NL 92: III A 13, 62 Lieber Herr Professor, Unter den Briefschulden, die aus den Wochen vor Weihnacht sich angesammelt haben, stehen herzlicher Dank und ein etwas ausführlicheres Wort an Sie oben an; verzeihen Sie mir, dass ich erst heute damit komme; Sie haben mir im November eine so feine Überraschung und aufrichtige Freude bereitet mit der Übersendung Ihres Zwinglibuches817. Ich nahm mir damals vor, Ihnen erst zu danken, wenn ich am Lesen Ihres Werkes sei, nicht weil ich seinen Wert erst meinte prüfen zu sollen, sondern weil ich Ihnen selber damit glaubte am besten und ehrlichsten zu danken, dass ich Ihnen sage: ich bin im Studium des Buches drin, und ich freue mich, daraus schöpfen zu dürfen. Das kann ich jetzt sagen, trotzdem ist es mir leid und nachgerade peinlich, dass ich Ihnen nicht wenigstens mit ein paar Worten seinerzeit den Empfang angezeigt habe, aber ich dachte damals, es sei mir möglich, noch vor Weihnacht dahinter zu kommen. Es ging nicht; es kamen ein paar Wochen voll allerlei äusserer und innerer Arbeit, und über Weihnacht selber ist es unsereinem schlechterdings unmöglich, etwas grösseres anzugreifen; ich musste vom Weihnachtstag an bis zum 1. Sonntag im neuen Jahr allein fünf Mal predigen; das ist wirklich fast zu viel, und man freut sich nachher aufs Ausruhen. – Ihr Buch ist ein feines Studienbuch, das man nur mit dem Bleistift in der Hand und mit dem betr.[effenden] Zwingliband neben sich lesen sollte und lesen möchte. Es fehlt ja nachgerade nicht an Schriften, die einen zu Zwingli hin und um Zwingli herum führen; es sind sehr feine darunter; aber Sie führen uns nun einfach in Zwingli hinein, hinein in die innere Auseinandersetzung, in das Zwiegespräch seiner eigenen Gedanken, und ich freue mich, Ihnen nun dahinein folgen zu dürfen. Ich habe in dem letzten Jahre viel über Zwingli nachgedacht und auch versucht, über ihn zu reden und ihn ein wenig darzustellen, aber er hat mir in 817 Paul Wernle: Der evangelische Glauben nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd. 2: Zwingli, Tübingen 1919.

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seinem ganzen Wesen, Tun und Denken viele Rätsel aufgegeben; vieles Rätselhafte an ihm mag in dem innern Zwiespalt seines Wesens selber begründet sein, auf den Farner in s.[einer] neuesten Arbeit über Zw.[inglis] Gegenwartsbedeutung hinweist,818 noch mehr darin, dass sein ganzes Leben und Wesen abgebrochen ist, bevor er seine verschiedenen Strebungen und Gedankenströme zur Einheit zusammenzufassen vermochte, worauf Sie uns seinerzeit schon deutlich aufmerksam gemacht haben, sehr vieles aber vor allem auch in den tiefen Antinomieen der Sache selber begründet liegen, die er vertreten hat, und der er mit seinen den Dingen auf den Grund dringenden Gedanken und seinem radikalen Wollen so rastlos sich hingab. Vor diese letzten, grössten Fragen findet man sich in seinem Denken und Leben immer wieder gestellt, sie spielen ja bis in sein Sterben hinein, und mir persönlich ist dies gerade das Besondere an Zwingli, das was ich an ihm liebhabe, dass er einem immer wieder so viel zu denken und zu fragen aufgibt. Aber freilich, ich weiss und spüre ja auch das andere, grössere an ihm, worauf Sie nun ganz besonders den Finger legen, sein Glaube und seine Liebe, das dass er vor allem Problematischen doch auch einen festen Boden unter den Füssen hatte und einen klaren, einfachen Rückhalt kannte. Das war ihm selber das Hauptsächliche, das blitzt immer wieder hervor, davon hat er in urchigen819 Worten Zeugnis gegeben. Und das möchten Sie uns, wenn ich Ihr Buch, in dem was es eigentlich will, recht verstehe, wieder neu und besser sehen lehren. Denn das kann man nicht sehen, ohne selber innerlich wieder vorwärtszukommen, Antrieb, Freude, Zuversicht, Kräftigung zu empfangen, und uns etwas davon zu vermitteln und zu erwecken, ist der Dienst, den uns Ihr Buch leistet, und für den wir ihm dankbar werden. – Es ist schon spät. Ich wollte eben zu Bette gehen und morgen etwas abschliessendes beifügen, aber weil mein Fraueli auch noch schreibt, fahre ich jetzt noch ein wenig fort und erzähle von dem, was uns hier gerade bewegt. Da muss ich sagen, dass es leider wieder ein Pfarrerstreit ist, der wie vor ein paar Jahren der in Seengen820 die Umgegend in Atem hält. Sie werden davon gehört haben, dass Pfr. Wirth821 in Fahrwangen822 wahrscheinlich gehen muss, weil er 818 Oskar Farner: Huldrych Zwingli, der schweizerische Reformator, Emmishofen 1917; ders.: Huldrych Zwingli und seine Sprache, Basel 1918. 819 „Urchig“ bedeutet „bodenständig“, „ursprünglich“. 820 Siehe Brief Nr. 64. 821 Werner Wirth. Ein Teil der Aargauer Pfarrer, der „untere Pfarrverein“, ließ folgende Presseerklärung veröffentlichen: „[…] wir verurteilen es aufs Schärfste, dass die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sowie die Tätigkeit in der Abstinzenzbewegung als Grund zur Amtsenthebung eines Pfrs [Pfarrers] betrachtet wird und wir verlangen für Hrn. Pfr Wirth wie für uns das volle Recht freier Überzeugung und Wirksamkeit wie es jedem Schweizerbürger gewährleistet ist. Dagegen bleibt die Frage offen, ob Hr. Pfr Wirth mit dem nötigen Takt und unter Berücksichtigung des besonderen Karakters des Pfarramtes, das für alle dasein soll, vorgegangen ist. Darüber enthalten wir uns des Urteils.“ Siehe dazu den Brief von Max Dietschi an Eduard Thurneysen vom 20. Januar 1919.

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in prononcierter Weise für den Generalstreik823 Stellung genommen hat. Dafür fehlte nun freilich in s.[einer] Gemeinde alles Verständnis. Sie war für alles andere eher geschaffen als für ein ragazisches Hervorbrechen auf breiter Front, wie Wirth es versuchte. Es ist eine sehr schwere Gemeinde, viel, viel ungerechter Mammon hat sich dort angesammelt, und ich kann Wirths Zorn dagegen verstehen, sowenig ich seine Methode gutheisse, dazu regiert der Alkoholismus in Gestalt einer grossen Schnapsbrennerei, die im Besitze des Gemeindeammannes ist, und auch dagegen ist Wirths Zorn entbrannt, und nun hat er ein Feuer entzündet, in dem er selber wahrscheinlich mitverbrennen muss. Er ist auf „Friedensstörung“ beim Reg.[ierungs]rat angeklagt, und der wird ihn als „ungeeigneten Beamten“ absetzen.824 Er kann einen menschlich dauern, denn er hat Frau und Kinder und wird weithin als Pfarrer unmöglich sein. Ich bin persönlich freilich nur sehr selten und flüchtig mit ihm zusammengetroffen; aber die Wirkungen seines Streites gehen bis zu uns herüber. Man spürt im ganzen Seetal etwas wie ein tiefes Misstrauen gegen alles, was Pfarrer heisst und etwa noch im Verdacht sozialer Töne steht. Sogar Dietschi hat es zu spüren bekommen. Seine Seoner haben ihm, weil er „nicht bauernfreundlich“ sei, 200 fr.825 Besoldungszulage wieder gestrichen unter allerlei hässlichen Vorwürfen. Es hat ihn zuerst hart, sehr hart getroffen, nachdem er nun fast 20 Jahre lang in s.[einer] Gemeinde Zeit und alle Kraft geopfert hat. Aber als ich ihn letzten Sonntag besuchte, traf ich ihn wieder aufgerichteter; er hat Ruhe und Mut zum weitermachen wieder gefunden. Auch in meiner Gemeinde ist einer Predigt in den Novembertagen des letzten Jahres wegen ein Gemurmel entstanden, das sich noch nicht ganz gelegt hat; ich habe die Predigt – fast wider Willen – drucken lassen müssen826, um allerlei Anschuldigungen, die von Leuten, die sie gar nicht gehört hatten, erhoben worden waren entgegenzutreten. So gehen wir durch allerlei hindurch, und es gibt Augenblicke, wo man, um allem zu entrinnen, am liebsten den Pfarrerrock ausziehen und als gewöhnlicher, einfacher Mensch unter den andern verschwinden möchte, aber ich weiss, dass das Anwandlungen von Schwäche 822 Kanton Aargau. 823 Der Landesstreik im Novermber 1918 war die schwerste politische Krise des schweizerischen Bundesstaates und bildete den Höhepunkt sozialer Unruhen. vgl. dazu Bernhard Degen: Landesstreik, in: HLS 7, 582–584; Nöthiger-Strahm: Protestantismus. 824 „1919 nahm er [Wirth] seinen Rücktritt und wurde Armeninspektor in Zürich, wo er sich politisch der extremen Linken zuwandte, zeitweilig ein Wortführer der 1921 gegründeten Kommunistischen Partei der Schweiz war und in den Kantonsrat gelangte.“ Siehe Stückelberger: Pfarrerschaft, 186. Zudem war er in Zürich, Buchhändler, Verleger und Redaktor. Zum „Fall Wirth“ siehe Marianne Jehle-Wildberger: Das Gewissen sprechen lassen. Die Haltung der Evangelisch-Reformierten Kirche des Kantons St. Gallen zum Kirchenkampf, zur Flüchtlingsnot und zur Flüchtlingspolitik 1933–1945, Zürich 2001, 160–166. 825 Schweizer Franken. 826 Eduard Thurneysen: Die neue Zeit. Der Menschensohn. Zwei Predigten über Sach 1, 3 und Matth 8, 19–20, gehalten in Leutwil am 17. und 24. November 1918 in der Kirche zu Leutwil, Seengen 1919.

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sind, vor welchen einen gerade der Gedanke an Zwingli bewahren sollte. Ich wünsche mir auch im Grunde nicht, allen Schwierigkeiten enthoben zu werden; aber ich wünschte mir mehr kräftige und klare Gemeinschaft unter uns Pfarrern und in den Gemeinden, aber davon sind wir weit weg, und das scheint jetzt zur Zeit der Auflösung und Zersetzung zu gehören, in der wir stehen: man muss alleinstehen und kann sich nirgends ganz daheimfühlen, bei keiner Gruppe und in keinem Zirkel. – Ich muss, so oft ich an Sie denke auch an Frau Prof. denken, und wie es ihr wohl gehe. Durch Herrn Burckhardt827 in Zürich hörte ich etwas von Besserung und hoffe nur, sie halte auch wirklich an, und das Ernsteste sei überstanden. Jedenfalls wünsche ich es von Herzen. Im März hoffen wir mit unserm Maiteli wieder einmal nach Basel zu kommen, und dann werde ich auch wieder bei Ihnen anklopfen. Wir sind schon so lange nicht mehr drunten gewesen, das letzte Mal im Dez.[ember] für 2 Tage an einer Hochzeit, aber da langte es zu keinen Besuchen. Hoffentl.[ich] sind Sie selber bei guter Gesundheit. Es ist mir oft so leid, dass ich nicht mehr wie früher schnell ein wenig zu Ihnen kommen und über alles reden kann, was gerade anliegt. Ihr Buch ist mir nicht zum mindesten auch darum so lieb und wert, weil ich es als Zeichen nehmen durfte, dass auch Sie die Verbindung festhalten, obwohl Sie viel abweichendes an unsereinem sehen und oft nicht leicht nehmen können. Ich glaube trotz allem auch an das Gemeinsame, das uns mit Ihnen verbindet und vergesse nicht das viele, das ich schon von Ihnen empfangen durfte. Jetzt wo die Grenzen wieder aufgehen wollen, denke ich auch wieder nach Deutschland hinüber und an die dortigen Lehrer und Freunde unter den Theologen und frage mich, ob und wie schnell es wieder zu einer ernsten Gemeinschaft über die Grenzen hinweg kommen werde. Es muss sich da ja allerlei neu bilden. Man wird sich sehen und aussprechen können müssen. Und es wird wohl auf der deutschen Seite zunächst eine gewisse Zurückhaltung herrschen, ganz abgesehen davon, dass sie draussen alle mehr oder weniger sich zuerst von ihren nervösen und physischen Entkräftungen und Erschütterungen langsam werden erholen müssen. Es wird ja erst jetzt klar, wie sehr die Hungerblockade Verwüstung angerichtet hat. Ich wage fast nicht, Sie zum Schluss auch noch zu fragen, was Sie von Barths Römerbrief 828 halten; aber es käme mir wie nicht ganz aufrichtig vor, wollte ich ganz davon schweigen. Ich lese neben Ihrem Buche gerade jetzt auch darin, und ohne dass ich es besonders suchte, gehen die Fäden bei mir vom einen zum andern herüber und hinüber. Es geht ja in beiden Büchern sozusagen ums Ganze, bei beiden ums gleiche Ganze, und bei beiden in der Weise ums Ganze, dass der Versuch gemacht ist, einen Grossen vergangenen Tage zu uns Heutigen reden zu lassen. Ich weiss ja freilich nicht, ob Sie schon dazu gekommen sind, in Barths Buch zu lesen, ich weiss auch, dass Sie allerlei an Barths Art als 827 Fritz Burckhardt-Pfisterer. 828 Karl Barth: Der Römerbrief, Bern 1919.

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unerfreulich empfinden und darin mit andern einig gehen, andrerseits haben Sie mir schon gesagt, dass Sie mich nicht nur als seinen Freund, sondern als unter seinem Einfluss (in weniger gutem Sinne) stehend betrachten müssen (ich muss es freilich bestreiten!), es ist also allerlei im Wege, was einer Aussprache hinderlich sein könnte; ich möchte sie auch gar nicht um jeden Preis herbeiführen; es liegt mir nur alles an einem saubern, aufrichtigen Verhältnis Ihnen gegenüber und an der Erklärung, dass ich ganz sicher vollständig offen sein will für alles, was Sie vielleicht aus Anlass von Barths Buch sachliches uns gegenüber zu sagen haben. Natürlich bin ich nicht einfach Barth und umgekehrt; wir lassen uns wirklich frei, wenn wir auch innerlich zusammenstimmen in vielem Hauptsächlichen und durch die Verhältnisse auch äusserlich neben einander stehen. Aber ich könnte mich sachlich mit dem gleichen Recht z. B. neben oder in die Nähe eines Adolf Preiswerk829 stellen, was die gewisse innere Einstellung betrifft, in die ich wie manches andere mit mir hineingeführt worden bin. Ich könnte auch einfach meine Mutter nennen als einen Menschen, bei dem sich das, was mich innerlich bewegt, besonders rein und stark herausgebildet hat unter Blumhardts Einfluss und durch viel Erfahrungen hindurch. Es ist, glaub ich fest und tief, wirklich nicht nur Menscheneinfluss, sondern innere Führung, gegen die ich nichts vermag. Ich habe aber trotz allem Differenten niemals den Eindruck gehabt, als ob diese „Führung“, um es so zu nennen, uns innerlich weit weg von dem geführt habe, was auch Ihnen das Centrale ist. Dafür bürgt mir auch die Freude, die gerade Adolf Preiswerk oder meine Mutter an allem empfunden haben, was Sie vor allem in gelegentl.[ichen] Predigten aussprechen, und die gewisse Verbindung, die ja tatsächlich zwischen Ihnen und diesen Menschen besteht. Dass Differenzen da sind, weiss ich wohl und möchte sie nicht verwischen; ich denke an unsere Stellung zur Kirche, wohl auch zum Sozialismus, als zwei Punkten, die nicht an sich besonders wichtig sind, an denen sich aber doch das Differente der Denkweise zeigt. Ein weiteres mag sein, dass bei uns Jüngern das Speculative wieder mehr hervortritt. So wäre noch allerlei Controverses zu nennen; aber ich möchte Sie bitten, wirklich zu glauben, dass wir vor allem offen bleiben und die sachlichen Differenzen nicht zu persönlicher Entzweiung führen lassen möchten, so sehr wir oft hierin gefehlt haben mögen. Und nun muss ich schliessen, wirklich endgültig und Sie bitten, mir nichts zu verübeln, was ich da noch, ohne es vorgehabt zu haben, aus mir herausgeredet habe. Ich bin in alter Anhänglichkeit Ihr Eduard Thurneysen.

829 Der Basler Pfarrer an St. Peter war ein Anhänger Christoph Blumhardts, ein „Boller“, der sich, ohne den Sozialdemokraten anzugehören, für die Belange der Arbeiter einsetzte.

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Nr. 131. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Leutwil, den 1. Mai 1919 NL 92: III A 13, 63 Lieber Herr Professor, Es ist heute Ihr Geburtstag830; ich habe an Sie denken müssen und möchte diesen Abend doch nicht zu Ende gehen lassen, ohne Ihnen von weitem und über ein paar Berge hinweg die Hand gegeben und Ihnen gesagt zu haben, dass auch ich immer noch dankbar auf Sie schaue und herzliche Wünsche für Sie in mir trage. Ich denke ganz besonders an die so schwer bedrohte Gesundheit von Frau Professor. Ich weiss zwar nichts näheres darüber, wie es jetzt um sie steht, aber aus den ernsten Sorgen werden Sie und Ihr Sohn Hans noch nicht heraus sein. Ich kann es nun selber ermessen, was es heissen will, um das Leben einer eigenen Frau in Bangnis sein, und es tut mir so leid um Sie und um Frau Professor. Ich lasse sie herzlich grüssen und hoffe immer noch gutes für sie. Uns geht es nach allerlei Krankheitsgeschichten wieder gut, wir dürfen aufs neue einem frohen Ereignis entgegensehen. Wills Gott geht alles gut. Über alles Persönliche hinaus lebt man von s.[einem] Orte aus dann ja auch Furcht und Hoffnung der Zeit und Welt mit und hat darüber seine Gedanken und Wünsche. Ich weiss, dass aufs Persönliche wie aufs Leben der Zeit gesehen Ihre und meine letzten Gedanken sich treffen im Vertrauen auf Gott, die Ihrigen in viel reiferer und festerer Weise als die meinigen; aber ich ende doch auch immer wieder dort und freue mich, mich mit Ihnen darin eins zu wissen. Ihr Eduard Thurneysen

830 47. Geburtstag.

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Nr. 132. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 3. Mai 1919 NL 290: B 346, 70 Lieber Herr Pfarrer! Herzlichen Dank für Ihren Gruss zum Geburtstag, der mir wohl tat. Meine Frau ist noch für 14 Tage hier, was wir sehr geniessen, dann gehts nach Langenbruck,831 im Herbst wohl nach Leysin832. Es ist eben tuberkulose Hüftgelenkentzündung; sie zeigte sich nicht lang nach Ihrem Besuch in Basel. Es ist im besten Fall eine überaus langwierige Sache, bei der das Traurige ist, dass man solange getrennt leben muss. Und überhaupt wer kennt die Zukunft? Wir sind dazu von Gottes Güte so verwöhnt & übergossen gewesen, dass wir beide es erst lernen müssen, sich in die andere Lage zu schicken[,] wie sie so viele Menschen von Haus aus kennen [mü]ssen. Und bei solchen Anlässen [l]ernt man mit Schmerzen, wie viel doch theoretisch war & wie anders ernst die Erfahrung aussieht. Ich freue mich herzlich, dass Ihnen ein neues freudiges Ereignis bevorsteht & wünsche Ihnen Gottes Hilfe dabei. Freuen Sie sich, solange Sie es so haben dürfen. Gegenwärtig drucke ich fest an meinem Calvinbuch833 & stecke bis über die Ohren in der Arbeit. Das ist ja auch gut, man hat dann etwas weniger Zeit, weich zu sein. Mit herzlichen Grüssen & Wünschen an Ihre Frau & Sie Ihr getreuer P. Wernle

831 Kanton Basel-Landschaft. 832 Kanton Waadt. 833 Paul Wernle: Der evangelische Glaube nach den Hauptschriften der Reformatoren, Bd. 3: Calvin, Tübingen 1919.

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Nr. 133. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 5. Juni 1919 NL 290: B 346, 71 Lieber Herr Pfarrer! Es freut mich von Herzen, dass Sie einen Buben bekommen haben.834 Herzlichen Glückwunsch. Ihnen beiden & Ihrer lieben Frau alle guten Wünsche zur Genesung! Meine Frau befindet sich in Langenbruck im Sanatorium recht wohl & konnte jetzt lange ununterbroc[he]n die Sonnenstrahlen auf sich [s]cheinen lassen. Wir erwarten aber keine baldige Wirkung. Wollten Sie so freundlich sein & mir schon wieder den 1. Band Zwingli senden für meine Uebungen. Es ist langweilig, dass ich Sie so viel damit belästigen muss. Mit herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle Nr. 134. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Leysin, den 20. Oktober 1920 NL 290: B 346, 72 Lieber Herr Pfarrer! Heut stiess ich beim Lesen der Armennot von Jer Gotthelf 835 auf die darin liegende Karte, die an Sie gerichtet ist. Ich sende sie Ihnen in Erinnerung an die schönen Tage in Dutjen. Ich weiss noch sehr gut, wie Sie mir auf dem schönen Plätzchen, wo man das Rheinthal hinaufsah, aus der Armennot

834 Der Sohn Matthias Eduard wurde am 1. Juni 1919 geboren. 835 Jeremias Gotthelf: Die Armennoth, Zürich 1840; Berlin 21851. Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) (1797–1854) studierte seit 1814 Theologie in Bern. 1820 Vikar bei seinem Vater in Utzenstorf (Bern), 1821–1822 Studienjahr in Göttingen, Vikariate im Kanton Bern 1824 in Herzogenbuchsee, 1829 in Bern, 1831 in Lützelflüh, dort 1832–1854 Pfarrer. Seit 1836 zudem als Schriftsteller tätig, der sich in seinen Romanen mit den neuzeitlichen Modernisierungskrisen sowie mit sozialen Entwicklungen auseinandersetzte.

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vorlasen & ich dabei friedlich einschlief. Sie dauerten mich dafür. Jetzt ist Ihr Bruder dort in der Nähe. Ich habe die ganzen Sommerferien hier oben bei meiner Frau zugebracht & muss sie Übermorgen hier zurücklassen, leider. Es ist nicht lustig in Bas[e]l ohne sie. Mit freundlichen Grüssen & allen [gu]ten Wünschen Ihr P. Wernle Nr. 135. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 25. Oktober 1920 NL 92: III A 13, 64 Lieber Herr Professor, Vielen Dank für die Zusendung der Karte von 1912. Auch mir steht die schöne Zeit in Dutjen noch ganz frisch vor Augen mit der Landschaft und den Gesprächen, durch die ich damals mit Ihnen hindurchgehen durfte. Die Soziallehren von Troeltsch836 waren damals eben in meine Hände gekommen und haben mich viel beschäftigt. Und zum Schluss stieg Schühli837 den Berg hinauf, der ja jetzt auch nicht mehr da ist. Ich habe so viel Reiches und Anregendes und Förderndes immer in Ihrem Hause und von Ihrer Seite erfahren dürfen; das ist mir alles ganz unvergessen. Übrigens wollte ich Sie eben dieser Tage bei einem Aufenthalt in Basel besuchen, ungefähr zu gleicher Zeit als Sie mir diese Karte schrieben. Aber eben Ihr Haus war verschlossen. Ich werde es wieder versuchen, wenn ich das nächste Mal nach Basel komme. Es ist mir ein Bedürfnis, Sie wieder einmal zu sehen, wieder einmal mit Ihnen reden zu können. Vielleicht denken Sie, das sei nicht so, aber es ist so. Hier stehe ich vorläufig noch reichlich fremd in meiner neuen Arbeit. Gegenwärtig muss ich mich hinter einen neuen Unterrichtsentwurf machen. Die Unterrichtszeit ist so viel beschränkter, die Kinder sind so viel absorpierter838 durch Geschäft und Fabrik als auf dem Lande. Ich will mich ganz an die Evangelien halten. Wenn auch die Ethik, die in den gangbaren Leitfaden so breit zu Worte kommt, dabei stärkste Beschneidung erleidet. Was soll von den „Anwendungen“ gesagt werden können, wenn „das Anzuwendende“ kaum einigermassen klargemacht ist! 836 Troeltsch: Soziallehren. 837 Walter Schüle. 838 Absorbierter.

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Von Herzen nehme ich von weitem Anteil an dem Leiden von Frau Professor und allem Schweren, das für Sie damit zusammenhängt. Wer hätte in früheren Jahren an solch eine Wendung gedacht! Darf ich sie durch Sie grüssen lassen? Ich bin selber mit herzlichen Grüssen an Sie Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 136. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 16. März 1921 NL 92: III A 13, 65 Lieber Herr Professor, Ich habe im Kirchenblatt jene kl.[eine] Betrachtung über Judas von Herrn Liz.[entiat] Zickendraht839 gelesen, und diesem darauf die beiliegende Betrachtung zugesandt, weil ich das Gefühl hatte, unsere Gedanken gingen nahe bei einander vorbei, und es sei also eine kleine Begegnung und Begrüssung möglich, wozu ich bei der seltsamen Isolierung, in der man sich heute mehr als je einander gegenüber findet, ein starkes Bedürfnis empfinde. In seiner Antwort erwähnt er nun eine Unterredung mit Ihnen, in deren Verlauf Sie ihm von meinem Predigtaufsatz in den sächs.[ischen] Pastoralblättern840 erzählt haben. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Aufsatz Ihnen zu Gesichte kommen werde, aber nun es geschehen ist, möchte ich zur Ergänzung Ihnen die beiliegende Passionsbetrachtung senden.841 Ich weiss, dass Ihnen alle diese Äusserungen nur als fast mutwillige Destruction erscheinen müssen, wenigstens auf den ersten Blick. Eben das hat mich zurückgehalten, Ihnen seinerzeit auch den Predigtaufsatz selber zu senden, so gern ich es an sich getan hätte; ich hatte lange ein Heft für Sie bereitgelegt, aber ich wollte Ihnen nicht Anlass geben, wieder den Kopf über mich schütteln zu müssen oder sogar Ärgernis an meinen Thesen zu nehmen. Ich möchte gerade das aufrichtig vermeiden, weil man sich dadurch unwillkürlich jedes Mal wieder einen Schritt weiter von einander entfernt, weiter als es, wie ich im tiefsten glaube, im Grunde nötig wäre. Damit möchte ich nichts verwischen von vorhandenen Gegensätzen, aber ich möchte so gern das Gespräch nicht von vornherein abreissen lassen oder unfruchtbar machen. Ich selber habe von mir aus das Bewusstsein, wirklich nicht nur destructiv zu wirken, sondern mit allen Ne839 Karl Zickendraht: Judas, in: KBRS 36, 1921, 37 f. 840 Eduard Thurneysen: Die Aufgabe der Predigt, in: PBl 63 (1921), 209–219. 841 Eduard Thurneysen: Jesus und Judas. Eine Passionsbetrachtung, in: Evangelisches Gemeindeblatt Straubenzell, Nr. 29, 1921.

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gationen möchte ich nur den dialektischen Prozess fördern, der die wahre Position ans Licht bringt. Das ist mein einziges inneres Bemühen. Und zeigt sich denn wirklich gar nichts von dieser Position hinter all den Verbergen der Negation, über die hinweg unser einer den letzten Gipfeln entgegeneilen möchte? Und ist mein Denken wirklich so weit entfernt von den Wahrheiten und den Wegen zur Wahrheit, auf die gerade die Passionszeit hindeutet? Ich muss auch da von mir sagen, dass ich nicht von eigenen Construktionen, sondern von den Texten aus zu solcher Betrachtung der Dinge – fast wider Willen – geführt werde. Aber ich will mich nicht selber rechtfertigen. Sie wissen aber, dass mir Ihr Urteil niemals gleichgültig war und ist, auch wo ich es nicht einfach annehmen konnte. Ich weiss gar nicht recht, wie es Ihnen in der letzten Zeit gesundheitlich geht. Hoffentlich sind die peinlichen Schmerzen wieder gewichen. Und Frau Professor? – Ich wünsche Ihnen jedenfalls herzlich gute Besserung und möchte wünschen, dass auch für Frau Prof. noch eine Hoffnung auf Erleichterung des Leidens möglich ist. Darf ich einen Gruss an sie aufgeben in treuer Erinnerung an viel schöne Stunden des Zusammenseins? Uns geht es soweit gut. Ich habe viel Arbeit; es ist mir manchmal, ich erfahre erst jetzt, was arbeiten heisst. Es liegt so viel zu schaffen und zu lernen vor einem. In 4–5 Wochen hoffe ich, schnell nach Basel zu können und werde versuchen, Sie zu treffen. Aber vielleicht sind Sie dann gerade wieder verreist bei Frau Prof.? Ich würde mich auf ein persönliches Gespräch nach so langen Unterbrechungen freuen. Mit herzlichen Grüssen bin ich in alter Hochschätzung Ihr Eduard Thurneysen. Nr. 137. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Leysin Le Trient, den 27. März 1921 NL 290: B 346, 73 Lieber Herr Pfarrer! Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mir Ihre Judaspredigt842 zuschicken & ich danke Ihnen auch herzlich für den Begleitbrief. Ich bin aber i[n] einer gewissen Verlegenheit, wie ich Ihnen antworten soll & das ist der Grund, warum ich bis heute gewartet habe. Ich möchte Ihnen so ungern wehe thun & doch auch nicht unwahrhaftig sein Ihnen gegenüber. 842 Siehe dazu den vorangehenden Brief.

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Ihre beiden gedruckten Aeusserungen sind mir wertvoll als Spiegelungen Ihres g[e]genwärtigen Denkens & Empfindens & ich zweifle gar nicht daran, dass Sie so geführt wurden, dass dies der echte Ausdruck Ihres Innenlebens ist. Und Ihr grosser Ernst & Ihr reines Wollen reden deutlich aus dem einen Schriftstück wie dem andern. Anderseits ist mir das alles wenigstens in dieser Form so fremd wie nur möglich & ich habe aufs neue den Eindruck, dass wir in andern Welten leben. Nun bin ich für Sie selber nicht in geringster Sorge, vertraue vielmehr fest darauf, dass Gott Sie den Ausgang aus diesem Irrgarten schon finden lassen wird & dass Ihnen selber Ihr konstruierter Heilsweg einmal so zerbrechen wird, dass Sie selber erstaunen. Wirklich leid thun mir nur Ihre Kirchgenossen, die Sonntag für Sonntag nach Ihrem Programm dieselbe Melodie, dass[elb]e Evangelium der Unmenschlichkeit anhören müssen, das ich selbst länger als einmal nicht anhören wollte. Das allein ist der Grund, warum ich davon schreibe auf die Gefahr hin, Sie zu verletzen. Sie scheinen den Sinn verloren zu haben, was für ein konstruiertes, künstliches, von der wirklichen religiösen Erfahrung abseits liegendes Evangelium Sie verkünden, ein ganz anderes jedenfalls, als dasjenige Jesu & dasjenige des Gottes, der uns die Menschlichkeit anerschaffen hat. Letztlich rufen Sie Ihre Zuhörer zu einem gesetzlichen Eigenwerk auf, zu einer gewaltsamen Ertötung des Menschlichen in der eigenen Seele, auf welche dann die Gnadenarbeit Gottes erst einsetzen kann. Ich sage mir natürlich selbst, dass Sie das nicht so haben wollen, aber so lassen Sie es drucken, wiederholen es variieren den einen Gedanken in trostloser Eintönigkeit. Das ist für mich das Sektenhafte & trotz Ihrer Abneigung gegen den Pietismus Pietistische, diese Festlegung der Wege Gottes in ein fertiges Schema, ein bestimmtes Mödeli,843 das ihm gera[d]ezu seine Freiheit & sein Leben nimmt. Und v[er]zeihen Sie, darin sehe ich auch ein grosses Stück Lieblosigkeit gegen Ihre Kirchgenossen, für deren besondere & manigfaltige Führungen Sie weder Aug noch Ohr haben wollen, denn das wäre ja Psychologisieren & das könnte zur Abwechslung im Predigen führen. Ich glaube fast, Sie wären im stande sogar hier in Leysin844 unter den vielen Kranken & Betrübten vom Tod alles Menschlichen zu predigen, einerlei, ob der eine oder andere Zuhörer deswegen noch den letzten Rest seines Verhältnisses zu Gott einbüssen würde. Wenn Sie doch nur zwischen hinein einmal Jesu Art mit den Menschen umzugehen sich ansehen würden, wie menschlich das alles ist & wie er es wunderbar verstand, im Menschlichen die Züge des Vaters zu zeigen! Da müsste ja Ihr ganzes Gebäude zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Und dabei berufen Sie sich auf so wunderliche Autoritäten, Nietzsches Wort vom Menschen, der überwunden werden muss, als wüssten Sie nicht wie

843 „Mödeli“ bedeutet „Form“. 844 Urlaubsort von Wernle im Kanton Waadt.

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anders, wie gottlos das Wort gemeint ist, auf Overbecks Todesweisheit845, die darin besteht, dass man mit Gleichgiltigkeit & ohne Affekt sterben kann, auf Kierkegaard846, der freilich nich[t] Weib & Kind & eine bezahlte Pfründe besass, sondern Konsequenzen zog, die Sie ihm doch niemals nachmachen. Nur für Jesu warmherzige Menschlichkeit haben Sie keinen Blick. Wie gesagt, Ihnen selbst wird das nichts schaden, aber dass Sie sich nun den andern Pfarrern mit Ihrer Losung so überlegen fühlen G847 sie nach Deutschland ausgeben müssen, finde ich schade. Und mein Hauptbedenken ist stets das eine, wie anders hat es Jesus gemacht! Er heisst uns Kinder sein & das Reich Gottes annehmen wie ein Kind & Sie wollen nur den Tod alles Menschlichen verkünden. Und er heisst uns von menschlicher Liebe auf Gottes Liebe schliessen, während Sie erst den Menschen ausziehen wollen, bevor er Gott begegnen darf. Nun habe ich doch länger & schärfer geschrieben als ich wollte. Aber ich kann nicht gleichgiltig zusehen, wenn einer meiner frühen Schüler, den ich warm in mein Herz geschloss[e]n hatte, dera[rt] entgleist, wenn auch in noch s[o] ehrlichem Wollen, wie das Ihnen in meinen Augen begegnet ist. Sehen Sie, was Sie mir da in Ihrem Brief schreiben von der Negation, mit der sie den dialektischen Prozess fördern wollen, der die wahre Position ans Licht bringen hilft – das sind ja geradezu furchtbare Theorien & Konstruktionen. In Ihrer Studentenzeit hatten Sie noch Humor & lachten mit mir zusammen, wenn einer grosse Sprüche that. Ich muss Ihnen aber sagen, ganze Partien & sehr viel Formulierungen Ihrer beiden Drucksachen, berühren mich wie grosse Sprüche eines theoretischen Konstructeurs, der von Erfahrung & Leben meilenweit abgekommen ist. Ich möchte mir Sie manchmal wünschen, wie Sie früher gewesen sind, da Sie über alle Künstlichkeiten & Gezwungenheiten herzhaft lachen & Kind sein konnten. Ich bin hier seit 2 Wochen bei meiner Frau & habe [ge]stern mit ihr den 20 Hochzeitstag gefeiert. Ihre Krankheit will nicht recht vom Fleck kommen & wir finden es beide recht schade, dass wir so ganze Monate & Semester lang fern von einander leben müssen. Hans hat die Matur848 gemacht & sucht eine Stelle bei einem Bauern für vorläufig. Ich selbst spüre noch die Folgen meiner 845 Eduard Thurneysen: Die Aufgabe der Predigt, in: PBl 63 (1921), 214. Zum Verhältnis zwischen Thurneysen und Franz Overbeck siehe auch den Brief Thurneysens an Barth vom 24. März 1920 (in: Barth – Thurneysen 1, 377), wo er von seiner „Overbeck-Predigt“ spricht, die neben Barths „Abhandlung“ stehen soll. Letztere war eine Buchanzeige unter dem Titel „Unerledigte Anfragen an die heutige Theologie“ für den aus dem Nachlass herausgegebenen Band „Christentum und Kultur. Gedanken und Anmerkungen zur modernen Theologie von Franz Overbeck […]“, hg. von Carl Bernoulli, Basel 1919. Siehe dazu Franz Overbeck: Christentum und Kultur […]. Werke und Nachlass 6/1, hg. von Barbara von Reibnitz, Stuttgart 1996. Beide Texte erschienen in: Karl Barth und Eduard Thurneysen: Zur inneren Lage des Christentums. Eine Buchanzeige und eine Predigt, München 1920. Siehe dazu auch Busch: Lebenslauf, 128 f. 846 Søren Kierkegaard (1813–1855). 847 Muss heißen: „&“. 848 Reifeprüfung (Abitur) nach einer höheren Schulausbildung.

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Ischias, die mir das ganze letzte [S]emester verdorben hat. Das älter Werden bringt vieles mit sich, was nicht schön ist, wir wissen aber, wer es uns schickt & wem wir für das überviele, das wir noch haben, zu danken haben. Sie schreiben mir so freundlich & fragen nach dem Persönlichen, das ist im Grund die Korrektur Ihrer Theorie. Ich fahre fort, Sie als Menschen & Kind Gottes lieb zu haben & vertraue darauf, dass unsre Wege zuletzt zusammenführen. Mit herzlichen Grüssen Ihr P. Wernle Nr. 138. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 30. März 1921 NL 92: III A 13, 66 Lieber Herr Professor, Ich bin in meiner Arbeit über Dostojewski849, aber ich möchte Ihnen doch mit ein paar Worten danken für Ihren Brief. Fürchten Sie nicht, mich verletzt zu haben. Wenn ich auch wirklich allerlei gute Eigenschaften, die ich früher an mir hatte, sollte verloren haben, so bin ich doch jedenfalls nicht empfindlich geworden. Ich spüre aus Ihren Worten bei aller schroffen Divergenz der Meinung Ihre freundliche, alte Anteilnahme an meinem Wege heraus, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Es liegt mir auch abgesehen von diesem Persönlichen viel daran, dass die Unterredung zwischen Ihnen und mir nie einfach abreisse. Im übrigen ist auch auf meiner Seite das Kopfschütteln und schmerzliche Erstaunen kein kleines über das seltsame Licht, in dem Sie unsereinen sehen müssen. Ich bin erstaunt über die völlige Sprachverwirrung, die zwischen Ihnen und mir offenbar herrscht; es wird wohl im Augenblick unmöglich sein, sie zu entwirren. Wovon ich mich am meisten entfernt glaube, von allem Pietismus, von aller Werkgerechtigkeit, da sehen Sie mich mitten drin. Wenn ich einen Vorwurf verstehen könnte, so wäre es der der absoluten Weltlichkeit, der Zertrümmerung aller Moral und aller „Frömmigkeit“, der allzugrossen Nähe, in die ich zu der „Gottlosigkeit“ eines Nietzsche und der Skepsis eines 849 Eduard Thurneysen: Dostojewski, München 1921. Thurneysen hatte auf der Aargauer Studenten-Konferenz am 21. April 1921 einen Vortrag über Dostojewski gehalten. Daraus entstand die erweiterte publizierte Fassung, die zahlreiche Auflagen erlebte. Siehe dazu Maike Schult: Im Banne des Poeten. Die theologische Dostoevskij-Rezeption und ihr Literaturverständnis, Göttingen 2012, 427 f.

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Overbeck treten muss, der Aufhebung jeder Art von ordo salutis und jeder Möglichkeit dazu – statt dessen werfen Sie mir exclusivsten Pietismus und einen ganz besonders fatalen ordo salutis, Methodismus und Schematismus vor. Mir liegt alles daran, die Unmöglichkeit zum Bewusstsein zu bringen, die menschlicherseits besteht, auf irgend einem Wege den Himmel zu erklettern, um dann das einzige zu sagen, was da gesagt werden kann: Gottes Erbarmen. Und Sie sehen nur einen neuen, allersteilsten Heilsweg bei mir verkündet. Ich lebe ein wenig des Glaubens, meine Zuhörer müssten innerlich aufatmen, wenn Sie hören, wie alle Last moralischer oder kirchlich-religiöser Gesetzlichkeit von ihnen abgewälzt wird und sie gerade in ihrer ganzen menschlichen Fragwürdigkeit als vor Gott recht dargestellt werden. Und Sie haben den Eindruck, es würden erst recht Lasten auf sie geladen und eine ganz und gar unfreudige, unmenschliche Botschaft werde verkündigt. Ich meine, gerade das Neue Testament immer wesentlicher und originaler zu verstehen in seinem einheitlichen Sinne, und Sie glauben, es müsste mir alles wie ein Kartenhaus zusammenfallen gerade angesichts des Neuen Testamentes. Sie bedauern meine Gemeinde, dass sie mich hören muss. Das ist auch mir klar, dass es sich auf dem Boden der Gemeinde entscheiden muss, ob eine Verkündigung etwas wert ist oder ins Leere geht, ja, unnütz und verkehrt ist. Ich bin nun freilich nicht geneigt, ohne weiteres den Kirchenbesuch als Massstab anzulegen. Aber ich kann nur sagen, dass in dem Jahre, seitdem ich hier bin, meine Zuhörerschaft sich nicht verläuft, sondern eher langsam wächst, und dass ich allerdings auf Seiten der Pietisten einigen Bedenken begegne, im übrigen dagegen nicht ganz ohne Zeichen freundlichen Interesses bleibe ob dem, was ich sagen muss. Ich würde davon gar nichts bemerken, wenn Sie nicht zwei Mal gerade auf diesen Punkt den Finger gelegt hätten. Ich möchte auch Ihren so schweren Einwänden und Ablehnungen den sachlichen Gehalt abgewinnen. Ich glaube ihn darin zu sehen, dass die Botschaft von dem Erbarmen Gottes noch stärker jenseits aller Negationen des menschlichen Könnens und Wollens hervorleuchten muss. Ich weiss, dass ich leicht in diesen Negationen stecken bleibe. Aber bleibe ich wirklich ganz darin stecken? Ist es nicht möglich, dass auch Sie etwas überhören und übersehen, weil es vielleicht in ungewohnter Weise und von Ihnen entlegenen Gesichtspunkten aus entwickelt wird, etwas überhören, das meine Zuhörer doch hören und das ihnen keine nur unmenschliche Botschaft ist. Ich könnte Ihnen auch von mir persönlich sagen, dass ich gerade diesen Winter schwere sittliche Verfehlungen unter Confirmanden nur darum bei allem Erschrecken darüber ohne jede pietistische Enge und Strenge ins Licht der Vergebung ruhig stellen konnte, weil ich auf den Voraussetzungen stehe, auf denen ich stehe. Andere hätten solche Fehlbare ausgeschlossen. Ich musste es nicht tun und bin heute noch froh darüber. Am besten verstehe ich Ihre Bedenken gegenüber dem Predigtaufsatz.850 Dort sieht ja alles so aus, als ob doch wieder eine Methode aus 850 Siehe oben Brief 137.

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der „Todesweisheit“ gemacht werden sollte. Aber sind nicht genug Sicherungen gegenüber diesem Missverständnis in dem Aufsatz selber angebracht? Vielleicht würde man besser über das „wie“ mans sieht und macht niemals reden, nicht einmal mit sich selber. Diese Selbstdarstellungen haben in der Tat etwas fatales an sich. Aber ich habe mich nicht dazu gedrängt. Der Herausgeber851, den ich weiter gar nicht kenne, schrieb mir, Freunde in der Schweiz hätten ihm meinen Namen genannt, und er stellte mir das Thema. Es reizte mich etwas daran, und ich schrieb, was ich dazu zu schreiben hatte. Wir drängen uns den Deutschen nicht auf, aber in der absoluten Verwirrung und Ratlosigkeit ihrer innern Lage liegt es selber begründet, dass sie von allem kirchlichen Machen nicht mehr viel sich versprechen, und darin begegnen wir uns mit ihnen, wenigstens mit einigen unter ihnen. – Es liegt mir manchmal eine Sie vielleicht, nein, nach dem, was Sie mir schrieben, sicher naiv anmutende Frage auf der Zunge, wenn ich an Sie denke, nämlich die, ob ich mich denn wirklich einfach glatt täusche, oder ob Sie es gar nicht sehen können (und warum denn nicht?), dass wir uns eigentlich einfach der Rechtfertigungslehre, dem sola fide der Reformatoren in starkem Masse nähern, wenn auch auf neuen Wegen? Sollte diese Frage eines Tages von Ihnen her nicht einfach negativ beantwortet werden, sollten Sie vielleicht doch, – alle unsere Irrtümer und Fehlgriffe zugestanden! – uns in diesem Bemühen verstehen, dann wäre die Brücke bei aller Divergenz im Einzelnen sofort geschlagen. Ich hoffe, es sei auch auf meiner Seite kein ungehöriges, unehrerbietiges Wort gefallen trotz meiner unverhohlenen Verteidigung Ihren schweren Angriffen gegenüber. Ich freue mich, dass wieder einmal ein Wort von Ihnen zu mir kam, wollen Sie auch diesen Brief nur als Zeichen dafür nehmen, dass mir innerlich nichts abgebröckelt ist von dem aufrichtigen und lebendigen Verhältnis, das ich zu Ihnen haben durfte, und dem ich so vieles verdanke. Mit herzlichen Grüssen an Sie und Frau Prof. bin ich Ihr Eduard Thurneysen.

851 Erich Stange (1888–1972) in Leipzig, Reichswart des CVJM, hatte im Februar 1921 ein Sonderheft der von ihm redigierten Zeitschrift „Pastoralblätter für Predigt, Seelsorge und kirchliche Unterweisung“ herausgegeben, in dem deutschen Lesern Beispiele aus der kirchlichen Arbeit der Schweiz präsentiert wurden. Thurneysen war mit Barth und anderen Schweizer Theologen deshalb angefragt worden. Vgl. dazu Barth – Thurneysen 1, 425, Anm. 2.

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Nr. 139. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 3. April 1921 NL 290: B 346, 74 Lieber Herr Pfarrer! Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie meinen Brief so gut aufgenommen haben & sich durch ihn nicht verletzen liessen. Ich schreibe nicht zur Fortsetzung der Polemik, sondern weil ich den Punkt sp[ü]re, wo wir uns nahe kommen. Sie nennen in Ihrem Brief Gottes Erbarmen als ihr Ziel. Seien Sie überzeugt, wenn Sie das in Ihren gedruckten Sachen so verkündet hätten, hätte ich Ihnen ganz anders geschrieben. Ich gienge zwar auch dann nicht mit Ihnen einig, wieder weil ich bei Jesus einen viel grössern Reichtum & wenns sein muss auch das Wort vom Gericht finde, aber ich würde Sie verstanden haben, wie ich meine Reformatoren verstehe[,] d[ie] kaum weniger einseitig gepredigt haben. Aber statt dieser Position haben Sie so schroff wie nur möglich & in vielen Variationen nur die Negation in der Form Tod alles Menschlichen als die Aufgabe der Predigt hingestellt & daraus wirklich eine Methode gemacht, als werden a[l]le Menschen ohne Ausnahme von Gott den Weg des verlorenen Sohnes oder des Schächers geführt [&] trage jeder Mensch der Mensch schlechthin die tiefe Sehnsucht in sich, zu sterben, um Gott zu begegnen. Das ist dann m[eines] E[rachtens] allerdings der steilste Heilsweg, der sich denken lässt & eine Aufnahme der alten mystischen Methode vom Tod als Weg zum Leben. Hätten Sie umgekehrt geschrieben, Gottes Erbarmen sei das Thema der Predigt & im Licht des göttlichen Erbarmen[s] werde jeder Mensch sich ganz klein & schuldig finden, so wären wir wieder völlig einig gewesen. Aber Sie haben in Ihrem Brief selber die Empfindung, Sie hätten die Negation zu sehr unterstrichen & daran eben stiess ich mich. Des weitern mit Ihnen zu streiten widerstrebt mir, ich wollte nur zeigen, woher meine Interpretation Ihrer Gedanken kommt. Ich weiss auch, was Sie zu Ihrer Verteidigung sagen werden, man könne die Position nur durch die Negation recht verstehen & ohne sie sei ihr Verständnis gefährdet. Aber diese Gefährdung risquieren Sie ja mit Ihrer Methode auch wie mein Beispiel zeigt, der ich Sie gewiss nicht aus Bosheit misverstehen wollte. Wir sind beide offenbar ganz entgegengesetzt disponiert, wenn Sie mir diesen psychologischen Exkurs verzeihen. Sie haben das Bedürfnis, die alten & einfachen Wahrheiten in neuer paradoxer Sprache zu sagen mit starker Hervorhebung des Gegensatzes zu allem Gewöhnlichen, während ich die alte Sprache vorziehe & überall gern das mit andern Gemeinsame hervorsuche. Bei Ihnen hat das die fatale Folge, dass dann leicht der Schein entsteht, Sie & Ihre Freunde seien die ersten Menschen, die d[e]n ganzen Ernst & die ganze Tiefe

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an die Sache heranbrächten, was wahrscheinlich gar nicht Ihre Meinung ist, aber es klingt tatsächlich so, während meine Diktion eher abgestanden aussieht. Vielleicht empfinde ich in manchem noch heute nicht so viel anders als Sie, aber Ihre Sprache steht mir nicht zur Verfügung. Uebrigens jenen Eisenacher Vortrag über die Heiligung der Gefühle852 h[a]be ich wohl mit ganz gleichen Em[pfi]ndungen, soweit ich ihn überhaupt lesen konnte wie Sie gelesen, aber ich würde ihn nie durch die Polemik verewigen. Machen Sie doch solche nebensächliche Polemik gegen Augenblicksprodukte Ihrem Fr[e]und K[a]rl Barth nicht nach; es lohnt sich nicht & vor Gott kommt es so ganz auf anderes an. Je älter ich aber werde, desto unmöglicher erscheint es mir, Gottes Wesen & Art mit uns Menschen irgendwie mit Worten oder Methoden festzulegen. Ich staune immer mehr über den Reichtum [&] die Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit seiner Wege mit uns Menschen. Alle führen gewiss zum gleichen Ziel, eben zu ihm, aber er geht nicht leicht mit 2 Menschen denselben Weg. Wenn ich nur denke, wie anders meine Frau, wie anders mein Sohn als ich selbst geführt werden oder wie verschieden alle die Menschen, die ich in Leysin kennen lernte oder meine vielen Studenten, die ich schon näher kennen lernte, so vergeht mir jede Lust, ihn zu systematisieren & wärs auch ein biblisches Schema. Meine Aufgabe scheint mir immer nur die, den Punkt zu finden, wenn es möglich wäre, wo Gott mit jedem an der Arbeit ist & wo jeder für Gott zu haben ist[.] Bei Ihnen mache ich dies Experiment nicht, weil ich für Sie gutes Mutes bin & Gott meiner auch nich[t] bedarf, es wundert mich nur, ob wir später in eben dieser Art, die Ihnen als Psychologisieren & mir als Frömmigkeit & Liebe vorkommt, nicht noch näher kommen, doch ist auch das einerlei, wenn nur jeder Gott nahe ist. Ich bin leider wieder hier in Baden gelandet, die Pflicht zwang mich, meine Frau in Lysin allein zu lassen & meinen dummen Leib zu pflegen, to katargoumenon.853 Ich konnte nur 3 Wochen in Leysin oben sein, nun mit h[e]rzlichen Grüssen und alter Liebe Ihr P. Wernle

852 Die Vorträge der Wartburgtagung der Freunde der „Christlichen Welt“ im November 1920 dokumentiert „Die Christliche Welt“ 34, 1920. Der hier erwähnte Vortrag: Carl Mensing: Frömmigkeit als Heiligung der Gefühle, in: a. a. O., 705–710. 853 Den vergänglichen.

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Nr. 140. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 24. November 1921 NL 290: B 346, 75 Lieber Herr Pfarrer, Endlich komme ich dazu, Ihnen für die Zusendung Ihres Dostojewsky854 bestens zu danken. Ich kam erst jetzt zum rechten Lesen. Leider bin ich aber ein viel zu schlechter Kenner des Mannes um beurteilen zu können, ob es der ganz echte und rechte Dostojewsky ist, den Ihr Vortrag wiedergiebt. Sie haben sich jedenfalls so in ihn eingelebt, dass Sie mit ihm zu einer Einheit verwachsen sind und man die Distanz zwischen Ihnen und ihm kaum mehr empfindet. Ihre Schrift bekommt dadurch einen stark persönlichen Charakter, auf den Sie sicher nicht ausgegangen sind und der ihr doch einen besondern Reiz verleiht. Am wenigsten eingeleuchtet hat mir Ihr Vergleich mit Jeremias Gotthelf. Der Mann, der so wunderbar im Buch der Natur wie im Bibelbuch zu lesen verstand, der eins durch das andere ergänzte und berichtigte und überall Worte Gottes heraushörte, passt nicht zu Ihrer Methode des radikalen Gottverneinens im Diesseits. Er hat mit dieser Freude an dem, in Welt und Menschenherz sich offenbarenden Göttlichen denn auch Gestalten schaffen können, bei denen ich mit ganz anderer Herzensfreude verweilen kann als bei all den Russen, von denen Ihr Vortrag erzählt. Dass daneben im Menschenherzen ein Teufel oder Verbrecher wohnt, hat er freilich auch gewusst, wie alle tiefern Menschenkenner es längst vor Dostojewsky wussten. Und wie kann man fröhlich lachen bei Gotthelf, wie geht ein Hauch der Freude und Gesundheit durch seine herrliche Gestalten! Sie werden das wohl nicht zugeben aber ich glaube, dass nicht ein einziger wirklicher Kenner von Gotthelf Ihre Parallele unterschreiben wird. Das Wichtigste ist natürlich die Sache, die Sie und Dostojewsky vertreten! Da scheint mir manchmal, es sei nur eine andere Sprache, in der Sie auch meinen Glauben ausdrücken und wir seien im Grund nicht weit von einander, wenn doch auch mir das Leben aus der wunderbaren Verzeihung des Vaters die Hauptsache ist. Dann aber habe ich wieder den Eindruck, Ihnen sei alles gerade an diesem Unterscheidenden und Trennenden gelegen und mein ganzes Christentum gehöre für Sie in die Rumpelkammer der Vorkriegszeit. Ihre Methode, erst Gott auszulöschen aus Welt und Menschenherz und dann nachträglich ihn wieder aus dem Jenseits durch das Christuswunder so radikal hereinzubringen, dass alles in ihm seine Begründung hat, kommt mir vor wie ein theologischer Sport, der sich zuerst zu allen schwindelnden Felszacken und Abgründen versteigt, um nachher wie unser854 Siehe Anm. 849.

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einer auf ebener Erde weiterzuwandern. Schade ist nur, dass dabei die Negation das Ja so gewaltig übertönt und dass Menschen auseinandergerissen werden, die im Grund zusammengehören. Aber es reisst Sie nun fort in diesem Strom und wir andern können nur zuschauen. Ich hoffe, wir kommen wieder einmal näher, wenn ein Anzahl Jahre vergangen sind. Einstweilen bleibt mein Beruf gerade der entgegengesetzte, den Offenbarungsspuren Gottes in Natur und Geschichte nachzugehen, und die Verbindungsbrücken von der Welt zu Gott und von Gott zu der Welt aufzusuchen. Von hier aus ist mir Jesus immer lieber, weil er, wie kein anderer es verstanden hat, Gott den Menschen zu zeigen und ihn ihnen nahe zu bringen. Wie Sie ihn dagegen darstellen, im Anschluss an den Grossinquisitor855, müsste er bei mir mehr Hass als Liebe erwecken. Genug für diesmal. Zu meiner grossen Freude darf ich mit meiner Frau wieder zusammenleben, wenn sie auch noch meistens im Bett liegen muss. Sie hat Ihren Vortrag auch gelesen und mir vorgelesen daraus. Mit herzlichem Gruss an Sie und Ihre Frau Ihre P. und M. Wernle Nr. 141. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 1. Dezember 1922 NL 92: III A 13, 67 Verehrter, lieber Herr Professor, Ich hatte eben etwas bereit gelegt, um es Ihnen zu schicken, Leitsätze aus meiner Unterrichtsarbeit, und wollte bei diesem Anlass meinem alten, tiefen, vielleicht ein wenig scheuer gewordenen, aber nicht minder aufrichtigen und herzlichen Bedürfnis, Ihnen zu schreiben, wieder einmal Genüge tun – da kam Ihre Trauernachricht, und nun wird es mir erst recht unabweisbares Bedürfnis, zu Ihnen zu kommen, freilich nicht mehr mit einigen mehr oder weniger belangreichen Mitteilungen über dies und das aus meiner Arbeit, nicht mehr, nur irgendein Gespräch zu eröffnen oder fortzuführen, sondern um des menschlich wahren und herzlichen und unvergesslichen willen, das zwischen Ihnen und Ihrem Hause und mir einst werden durfte und immer noch ist. Ich spüre nun aufs neue, wie viel mir das bedeutet, und wie sehr ich daran hänge, und es tut mir alles, alles so leid, was jemals in diesen letzten Jahren diese 855 „Der Großinquisitor“ ist Teil von F. M. Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ und erschien auch separat.

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ursprüngliche Beziehung zurücktreten liess; ich weiss, ich hätte Ihnen und auch Frau Professor öfters über alles, was an trennenden Gedanken zwischen uns lag, hinweg gern ein persönlich warmes Wort gesagt, und habe es dann doch nicht getan, nun bleibt mir Frau Professor gegenüber jedenfalls nichts anderes mehr übrig als dankbare, warme Erinnerung an viel Güte und Herzlichkeit und Anteilnahme, die ich von ihr erfahren durfte. Ich denke still zurück an so manches Mal, wo auch sie dabeisass, wenn ich zu Ihnen kommen durfte als Student und in jenem Fensterwinkel beim Klavier über alles offen reden konnte, was mich bewegte; ich denke ganz besonders zurück an jene sonnigen Ferientage in Dutjen und in Brigels, wo ich ganz zu Ihnen und Ihrer Familie gehören durfte. Frau Professor ist mir damals ganz besonders in der Klarheit und Offenheit und wortlosen Güte ihres Wesens lieb geworden. Ich habe das nie mehr vergessen und werde es nun erst recht nicht mehr vergessen können. In ihren Leidensjahren habe ich sie nie mehr gesehen, aber ich weiss, mit welcher Kraft und Geduld sie ihren schweren Weg zu Ende gegangen ist. Und ich weiss, wieviel Sie Ihnen gewesen ist, und wie einsam Sie nun geworden sind. Aber ich muss nun auch denken an so manches starke und hilfreiche Wort, mit dem Sie uns andern, vielleicht ohne es zu wissen, in schwierigen Augenblicke etwas gegeben haben. Und ich kann nur denken, dass die Tiefe, der Schatz, aus denen Sie uns, Ihren Schülern, und vielen mehr etwas geben konnten, nun auch Ihnen selber für Sie selber unverschlossen sein wird. Jedenfalls, das ist mein Wünschen und meine feste Zuversicht für Sie in diesen Tagen. Ich weiss, das sind alles arme, schwache Worte gemessen an dem ganzen Ernst dessen, was ja nun seit so lange schon auf Ihnen und Ihrem Hause liegt, aber was können wir andern mehr tun als Ihnen ein Zeichen geben aufrichtigen und warmen Gedenkens. Auch alles, was ich erst kürzlich wieder durch meine Mutter von Ihrem eigenen Gesundheitszustand hörte, tut mir so leid. Aber auch da ist mit noch so herzlichem Wünschen und Bedauern nichts getan. Ich hoffe nur, Ihre nun eben erscheinende und darum wohl auch dem Abschlusse nahe Kirchengeschichte sei durch Ihre wankende Gesundheit nicht geradezu gefährdet. Es ist mir bei der Lektüre der ersten Lieferung so klar geworden, was für unerschlossene und ausser Ihnen von niemandem beherrschte Gebiete nun durch Ihre Arbeit vor uns aufgehen werden.856 Ich hoffe sehr, im Januar einmal wieder für ein paar Tage nach Basel kommen zu können, und möchte Sie dann so gerne wieder einmal in Ruhe besuchen dürfen. Geschrieben hätte ich Ihnen gerne schon gestern abend, aber wir sind durch einen furchtbaren Schrecken hindurchgegangen, indem unser ältestes, fünfjähriges Mädchen hart am Tode vorüberglitt, es ereignete sich ein Unfall; glücklicherweise kam es mit einer schliesslich doch nicht

856 Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Bd. 1: Das reformierte Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie), Tübingen 1923.

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lebensgefährlichen Verletzung davon. Aber wir standen für ein paar Stunden auch unter dem Schatten äusserster Möglichkeiten. Und nun möchte ich Sie und auch Ihren Sohn857 herzlich grüssen, mit Ihnen bewegt durch das, was Sie nun getroffen hat, und voll dankbarer Erinnerung an vieles, was auch ich in Ihrem nun einsamer gewordenen Hause empfangen habe, und mit aufrichtigen Wünschen für Sie und Ihr Ergehen als Ihr Eduard Thurneysen, Pfr. Nr. 142. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 3. Dezember 1922 NL 290: B 346, 76 Lieber Herr Pfarrer! Haben Sie meinen herzlichen Dank für Ihre lieben teilnahmvollen Zeilen & zugleich meinen innige[n] Glückwunsch zu der Bewahrung Ihres Töchterleins.858 Ich verstehe, dass dies Ereignis Sie tief bewegen musste. Sie haben wohl meine Frau besonders gut kennen gelernt & gehören zu denen, die am besten wissen, was mir der liebe Gott in ihr gegeben & wieder genommen hat.859 Ja es ist ungeheuer einsam geworden in meinem Haus & Herzen & da ich körperlich von Woche zu Woche reduzierter bin, mache ich mir oft Gedanken über meine Zukunft, die nicht rosig si[n]d. Sicher ist, dass ich meine Frau mit ihrer Frische & Tapferkeit nie so notwendig gehabt hätte als jetzt, da G[o]tt sie mir nimmt. Ich weiss nicht was ich noch vorhabe & wozu ich noch nötig bin auf Erden; nur das weiss ich, dass ich meine nächste Pflicht zu tun habe, solange die Kraft dazu reicht. Mein Hans steht mir treu zur Seite; wir sind durch die Krankheit meiner Frau fest mit einander verwachsen. Wäre ich gesund, ich würde mich so gerne doppelt & dreifach in die Arbeit werfen & dabei die Zähne zusammen beissen. Jetzt aber heisst es, jeden Tag sein bescheiden Tagwerk tun & zufrieden sein, wenn man es gerade noch tun darf. Hinter allem, was mich trifft, verehre ich die Hand meines Gottes auch wenn [ich] ihn nicht verstehe. Er hat mir so unsäglich viel Glück & Freude geschenkt, 857 Hans Wernle. 858 Siehe den vorangehenden Brief. Die Tochter Dorothea wäre fast von einem umstürzenden Zimmerofen erschlagen worden. 859 Marie Elisabeth Wernle, geb. Liechtenhan, verstarb im Herbst 1922 „nach vier schweren Krankjahren“; Wernle: Autobiographie, 251.

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da war es leicht, ihm zu dienen. Jetzt will er mein menschliches Kraftgefühl zerbrechen & mich zuletzt zum Klotz machen, dass ich ihn als Klotz verherrlichen soll. Sein Wille geschehe; alienum est opus Dei ut faciat opus suum, sagt Luther860 mit dem alten Jesaja861. Ich grüsse Sie & Ihre liebe Frau in herzlicher Dankbarkeit Ihr ergebener P. Wernle Nr. 143. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 14. September 1923 NL 92: III A 13, 68 Lieber Herr Professor, Wie es Ihnen wohl weiter ergeht? Ich hoffe so sehr, der Sommer mit all seiner Sonne habe auch auf den Verlauf Ihrer Krankheit einen zum mindesten sie stillstellenden Einfluss gehabt. Sodass Sie doch ein wenig hoffnungsvoller in das neue Semester hineingehen können. Ich hatte diesen Sommer mehrfach Gelegenheit, mit Degersheimer862 Kurgästen, z. B. Pfr. v. Greyerz863, zusammenzusein und fragte mich immer wieder, ob nicht auch Ihr Leiden hier günstig beeinflusst werden könnte. Aber ich habe ja natürlich keine weitere Einsicht, und Ihre Ärzte werden schon wissen, was zu machen ist, und was einfach hingenommen werden muss. Ihr erster Kirchengeschichtsband864 mit seinem fast unerschöpflichen Reichtum an Stoff gibt auch mir, wie jedem Leser, viel zum Nachdenken und Überlegen, auch zum Staunen und Verwundern. Ich komme durch gelegentliche Anregungen von Karl Barth, der ja jetzt unermüdlich, sozusagen Tag und Nacht in Studien über die reformierte Vergangenheit, ihre Quellen und Bekenntnisse, drinsteckt,865 auch wieder mehr als bisher hinein in die altreformierten Dinge und bin froh darüber, auch die Stimme der spätern Zeit und Ihre Beurteilung zu mir reden lassen zu können. Es hat alles auf mich die Wirkung, dass ich über die Bedeutung der Kirche und unserer Confession im besondern ganz neu ins Nachdenken komme. Ich weiss mich viel bewusster als früher als reformiert, wozu auch das 860 861 862 863 864 865

WA 3, 246: „Alienum est opus eius, ut operetur opus suum“. Vgl. Jes 28, 21. Kanton St. Gallen. Karl von Greyerz. Siehe oben Brief Nr. 141. Seit 1921 war Karl Barth Honorarprofessor für reformierte Theologie in Göttingen.

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ständig fortgesetzte Gespräch mit ausgeprägten deutschen Lutheranern, das manchmal fast ein wenig zum Abendmahlsstreit wird, beiträgt, wiewohl wahrhaftig die Leidenschaften des 16. und 17. Jahrh.[underts] nicht mehr aufwachen sollen! Wenig halten kann ich freilich von den unter Anführung von Pfr. Keller866 in Zürich, dem sogenannten „Welt-Adolf“867, versuchten grossen Verbrüderungsversuchen, bei denen es doch ausschliesslich um taktische und fast gar nicht um auf Besinnung über die grossen, gemeinsamen Inhalte gegründete sachliche Einigung zu gehen scheint. Mein Vortrag über Schrift und Offenbarung, von dem ich Ihnen das letzte Mal kurz redete, ist vor unserm Capitel gestiegen; ich kann ihn aber, da er nur stenographiert ist, nicht zum Lesen schicken; vielleicht arbeite ich ihn noch aus und drucke ihn in unsern Heften ab.868 Ich habe vor allem Calvins Ausführungen über Schrift und testimonium spiritus s.i.869 wieder einmal vorgenommen und überlegt und bin grundsätzlich, wie ich glaube, ganz auf dieser Linie gefahren, ohne das grundsätzliche Recht der modernen historisch-psychologischen Kritik zu bestreiten oder zu beschränken, aber freilich unter der These, dass diese histor.[isch]-psycholog.[ische] Betrachtung an das eigentliche Thema der bibl.[ischen] Literaturdenkmäler nicht herankommen könne. Den Sommer über hatte ich keine Ferien, dafür hoffen wir, im Oktober noch einmal ein wenig fortzukommen. Vielleicht werden wir auch Basel noch berühren, und in diesem Falle hoffe ich, Sie auch persönlich wieder sehen zu können. Mit aufrichtigen Wünschen für Ihr Ergehen und herzlichen Grüssen an Sie und Ihren Sohn bin ich Ihr Eduard Thurneysen.

866 Adolf Keller in Genf war 1909 der Lehrpfarrer von Karl Barth im Vikariat gewesen. Siehe dazu Marianne Jehle-Wildberger: Karl Barth und Adolf Keller. Geschichte einer Freundschaft, in: ThZ 66 (2010), 355–380. 867 Karl Barth und Thurneysen bezeichneten Adolf Keller als „Welt-Adolf“, weil dieser häufig auf ökumenischen Reisen war. Siehe dazu Eberhard Busch: Meine Zeit mit Karl Barth. Tagebuch 1965–1968, Göttingen 2011, 652. 868 Eduard Thurneysen: Schrift und Offenbarung, in: ZZ 3 (1924), 3–30; abgedruckt in: ders.: Wort Gottes, 28–63. Diesen Vortrag hat Thurneysen auch am 20. Februar 1924 in Marburg gehalten. 869 Calvin spricht vom „testimonium Spiritus Sancti internum“. Die Wahrheit der biblischen Schrift erschließt sich für den Hörer oder Leser nicht ohne das Wirken des Heiligen Geistes; siehe dazu Johannes Calvin: Institutio christianae religionis (1559), in: Joannis Calvini Opera, hg. von Peter Barth und Wilhelm Niesel, Bd. 3, München 1928, 68–71, hier 69, 11; 70, 5.

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Nr. 144. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 12. Januar 1924 NL 92: III A 13, 69 Lieber Herr Professor, Es ist wahr, ich zögerte ein wenig, Ihnen dieses Predigtbüchlein zu übersenden.870 Weiss ich doch zum mindesten von einer der darin enthaltenen Predigten, dass Sie wenig damit anzufangen wissen, und kann mirs von mancher andern fast ein wenig denken. Nun tu ich’s aber doch, einmal weil ich zu hoffen wage, dass das Gesamtbild, das sich hier bieten möchte, doch nicht nur schroffe Ablehnung bei Ihnen finden wird, wenn auch im Einzelnen vieles Ihnen wenig entsprechen sollte, und dann, weil es mir einfach Bedürfnis ist, meinem alten Empfinden Ihnen gegenüber wieder einmal Ausdruck zu geben. Ich möchte Sie in keiner Weise zu einer Äusserung über das Büchlein veranlassen und nötigen, schon weil ich weiss, wie Sie körperlich am Schreiben gehindert sind. Nehmen Sie es nur entgegen als kleines Zeichen meines Gedenkens, und wenn es Ihnen wenig zusagen sollte, so lassen Sie es eher ungelesen, als dass es Ihnen Anstoss bereitete. Vielleicht aber ist es Ihnen auch zugänglicher als allerlei theologische Äusserungen unsrerseits. Das Büchlein ist hauptsächlich meiner Anregung entsprungen, ich habe es auch zusammengestellt, weil es mir recht schien, auch wieder einmal einfach Predigten zu veröffentlichen, weil der wirkliche Sinn und Wert einer Theologie sich schliesslich auf der Kanzel entscheidet. Dabei bin ich mir der Vorläufigkeit und Unfertigkeit auch dieser Äusserungen tief bewusst und hoffe sehr, das was mich bewegt an göttlichem Anliegen noch einmal besser, klarer, entschiedener aussprechen zu können, als es hier geschah. Wie geht es Ihnen wohl? Ich möchte immer wieder hoffen, Ihr Leiden komme doch noch zu einem Stillstand, bei dem Sie trotz aller schweren Hemmung doch noch arbeiten können. Es war mir leider nicht möglich, Sie im Herbst noch zu besuchen, wie ich, glaub’, angekündigt hatte. Meine Baslerreise kam damals nicht zu Stande, und seither kam ich auch nicht von hier fort. Die Gemeinde gibt immer viel Arbeit, und die Arbeit gibt mir viel zu seufzen und zu kämpfen, aber ich bin gern hier und möchte es ja gar nicht glatt und einfach haben. Kürzlich las ich eine alte Predigt von Ihnen über Joh. 16,33, die ich mir seinerzeit abgeschrieben hatte, und fühlte mich dem, was Sie dort ausführten, sehr nahe. Vielleicht ist trotz grosser theologischer Divergenzen die wirkliche Kluft im innersten Punkte nicht so gross, wie es vielleicht scheinen möchte. Mit herzlichen Wünschen für Ihr Ergehen grüsst Sie Ihr alter Schüler Eduard Thurneysen 870 Karl Barth und Eduard Thurneysen: Komm, Schöpfer Geist! Predigten, München 1924.

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Nr. 145. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 19. Februar 1924 NL 290: B 346, 77 Lieber Herr Pfarrer! Haben Sie herzlichen Dank für die Zusendung [I]hrer Predigten,871 die ich gern als ein Zeichen Ihrer treuen Anhänglichkeit und Ihrer freundschaftlichen Gesinnung gegen mich annehme. Ich schrieb Ihnen nicht vorher, weil ich bis heute auf keinem Weg zur Lektüre gelangte und erst heute endlich mir zwei Predigten vorlesen liess. Ich habe meine Vorlesungen und Uebungen vier Wochen vor Semesterschluss abbrechen müssen und suche mich jetzt in Basel etwas auszuruhen. Es gibt aber noch viel Hindernisse und gerade das Lesen ist mir durch das Zittern fast unmöglich geworden. Ich bin so aufs Vorlesenlassen angewiesen und auch dazu findet sich nicht immer die Zeit. Ich werde aber gern mir noch andere Predigten des Bändchens ansehen und mir kein Urteil erlauben über das Ganze vorher. Es wird Sie vielleicht interessieren, wie mir diese beiden ersten Predigten (Sorget nicht und Nikodemus) vorgekommen sind. Ich nehme an, Sorget nicht stamme von Ihnen und Nikodemus von Karl Barth. Die zweite Predigt passt völlig zu der Schroffheit des johannäischen Christus. Und diese fast unmenschliche Schroffheit, welche die Verständigung von vornherein ablehnt, hat in dem Prediger einen kongenialen Vertreter gefunden. Mir ist es freilich bombensicher, dass Jesus nicht so gesprochen hat. Merkwürdig aber, wie auch der Schluss der ersten Predigt auf eine ähnliche Schroffheit hinausläuft. Jesus selbst wollte doch offenbar seinen Zuhörern helfen durch den Hinweis auf die Vögel und auf die Lilien und den Schluss: Wieviel mehr wert seid Ihr. Dies menschlich Gütige an Jesus mit seiner Grundlage im Schauen der Natur ist dem Prediger ganz entgangen, er weiss mit den Lilien und den Vögeln gar nichts anzufangen und zeigt dadurch, wie sehr er vom Geist Jesu absteht. Ich meine aber, wir können gar nicht genug bei Jesus in die Schule gehen und von seiner Liebe und Menschlichkeit lernen. In dieser Beziehung weiss ich mich an Jesus gebunden so fest oder noch fester als Sie und ich hoffe, dass wir in dieser Bindung an ihn uns am ehesten zusammenfinden. Ich hoffe, Sie legen mir das nicht als bösartige Polemik aus. Eine solche liegt mir gegenwärtig ferner als je und ich gehe allem, was theologischer Streit heisst, so viel ich kann, aus dem Wege. Ich bin jetzt auf die praktische Theologie geworfen und finde ihr Erlernen sehr schwer. Ich ringe beständig um die Kraft, das mir von Gott geschickte Leiden aus seiner Hand hinzunehmen und mich darein zuschicken; bin aber doch ein rechter Stümper darin und kann 871 Siehe den vorangehenden Brief.

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noch nicht die ersten Schritte gehen und muss noch unendlich viel lernen und werde schwerlich bald fertig mit dieser Schule sein. Dass Sie und ich im Grunde gar nicht so weit auseinander sind, diese Ueberzeugung teile ich mit Ihnen. Wir meinen oft dasselbe, drücken es aber in anderer Sprache aus. Wenn ich oben das Natürliche an Jesus so stark hervorhob, so weiss ich doch genau, welche Paradoxien und Tiefen darin liegen, aber eben im Einfachen möchte ich alle Tiefen sehen. Ausserdem sind Gott und Mensch für mich nicht bloss Gegensatz, sondern auch Verwandtschaft und hier liegt der Punkt, wo wir wohl am meisten auseinandergehen. Ich möchte um alles am Vatergott festha[lt]en. Das Neueste in meinem Leben werden Sie von Ihrer Mutter vernommen haben: meine bevorstehende Vermählung mit Fräulein Maria Nussberger in Zürich.872 Wir können leider noch nicht heiraten, weil wir beide sehr erholungsbedürftig sind. Ich bin überzeugt, dass Sie sich mit mir über diese Erleichterung meines Loses freuen. Mit herzlichsten Grüssen auch an Frau Pfarrer Ihr erg.[ebener] P. Wernle Nr. 146. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 29. März 1924 NL 92: III A 13, 70 Verehrter, lieber Herr Professor, Ihr Antwortbrief auf meine Übersendung des Predigtbuches hat mich so gefreut! Ich danke Ihnen herzlich dafür. Je weniger ich meinen innern Weg als willkürlich von mir selbst eingeschlagen und begangen empfinden und sehen musste, desto mehr war es eine Hoffnung, dass auch die gewisse Befremdung, die darob bei Ihnen, dem ich persönlich so viel verdanke (Sie sind doch mit meiner ganzen Studienzeit für mein Erinnern untrennbar verwachsen), entstehen musste, nicht zu einem eigentlichen Bruch und Gegensatz werden, sondern sich lösen werde. Dafür ist mir Ihr Brief ein neues Zeichen. – Und nun möchte ich Ihnen sagen, wie freudig ich die Nachricht von Ihrer Vermählung aufgenommen habe. Allen, die an Sie dachten, musste Ihr einsamer, krankheitsbeschwerter Weg immer neu eine Sorge und ein Rätsel sein: und nun ist doch auch da eine freundliche Wendung eingetreten, und man atmet mit Ihnen auf und freut sich dieser tiefen Erleichterung Ihrer Lage von Herzen. Ich 872 Die standesamtliche Eheschliessung fand am 3. März 1924 in Zürich statt; vgl. StABS PD-REG 14a 12–4, Nr. 14829.

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war im Februar in Marburg anlässlich eines Vortrages, zu dem mich die Theologiestudenten dort aufgefordert hatten.873 Da besuchte ich auch Prof. Jülicher,874 den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und traf einen nun wirklich auch sehr alt gewordenen Mann: er klagte aber nicht, sondern erzählte viel von der Erfrischung, die ihm seine Schweizer-Vortragsreise geboten habe; und auch er freute sich herzlich über die Nachricht von Ihrer Verheiratung, wie sicher alle, die Sie kennen und die an Ihrem nun so schwer gewordenen Weg innern Anteil nehmen möchten. – Der Tag in Marburg war auch mir eine so grosse Erfrischung: die alte Stadt zeigte sich von ihrer sonnigsten Seite; ich schritt ihre winkligen Gassen ab und musste rückwärts und vorwärts denken. Die Gespräche mit den Studenten und den Dozenten verliefen so anregend und wertvoll und nachdenklich: ich kehrte sehr bereichert zurück. – Und nun sind wir Pfarrer mitten in der Vorostern, in den Schlussstunden des Unterrichts: es drängt sich vieles zusammen, und doch sollte man nie mehr innere Ruhe und Freiheit und Zeit zum Nachdenken haben als gerade in diesen Wochen, wo in Unterricht und Predigt die mächtigsten Gegenstände vor einem stehen wie hohe Berge. Ich hoffe, nach Ostern einmal für ein paar Tage nach Basel kommen zu können, und werde Sie dann, falls Sie da sind, aufsuchen. Unterdessen grüsse ich Sie herzlich. Was die zwei Predigten betrifft, die Sie in Ihrem Briefe nannten, so haben Sie sich insofern getäuscht, als beide von mir sind, auch die von Ihnen mit etwas Unbehagen gelesene über den Joh.[annes]text. Von mir sind in dem Büchlein: die 1. 4. 8. 9. 10. 12. 14. 15. 16. 18. und 20.875 Darf ich Sie bitten, auch an Frau Professor meine herzlichsten Wünsche und Grüsse – unbekannterweise – auszurichten. Herzl. Grüsse auch an Ihren Sohn Ihr Eduard Thurneysen.

873 In Marburg hielt Thurneysen den Vortrag „Schrift und Offenbarung“. Er war „auf Einladung der Theologenschaft der Universität Marburg am 20. Februar“ dort aufgetreten; siehe dazu Thurneysen: Wort Gottes, 28; siehe auch Anm. 868. 874 Adolf Jülicher. 875 Thurneysen bezieht sich auf die in Anm. 870 genannte Predigtsammlung „Komm, Schöpfer Geist!“ Folgende Predigten stammen von ihm: 1. Mach hoch die Tür (Ps 24; 3–13), 4. Die neue Zeit (Prediger 3, 11; 36–45), 8. Mach’ mich reinen Herzens! (Mt 5, 8; 77–85), 9. Sorget nicht! (Mt 6, 25–34; 86–95), 10. Jesus und Nikodemus (Joh 33, 1–10; 96–105), 12. Jesus und Judas (Mt 26, 14–16; 116–128), 14. Jesus ist Sieger (Eph 2, 1–2, 4; 137–147), 15. Er selber (1. Kor 15, 12–14; 148–159), 16. Komm’ Schöpfer Geist! (Apg 2, 4, 7–11; 160–170), Höher als alle Vernunft (Phil 4, 7; 180–189), 20. Die Freiheit des göttlichen Wortes (2. Kor 2, 14–17; 200–212).

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Nr. 147. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 21. Mai 1924 NL 92: III A 13, 71 Lieber Herr Professor, Ich bin diese Woche, die schönen Tage benützend, noch einmal ein wenig von hier ausgerissen und sende Ihnen daher den Schriftaufsatz erst heute.876 Ich lege noch zwei Kleinigkeiten aus der Gemeindearbeit bei: mein Kollege und ich haben dies Jahr in der Abhaltung der Konfirmationsfeier eine kleine Aenderung getroffen, uns war sie freilich nicht unwichtig. Sie ersehen es aus dem Artikel im Gemeindeblatt.877 Ich möchte Sie durch keine dieser Drucksachen zu einer schriftlichen Gegenäusserung veranlassen, so sehr mich jedes Wort, das mir von Ihnen zukommt, freut, denn ich weiss, wie sehr Ihnen alles Schreiben Mühe macht, und wie Sie Ihre leider nun so sehr beengte Kraft für das wirklich Wichtige aufsparen müssen. Es ist mir genug, zu wissen, dass Sie auch weiter meiner Arbeit mit Teilnahme folgen und selbst da, wo Sie anders denken müssen, in Freundlichkeit meiner gedenken. Es ist ja auch hoffentlich immer etwa wieder eine persönliche Begegnung und Aussprache möglich. Es darf doch, möchte man wünschen und bitten, geschehen, dass Ihr Krankheitszustand nicht immerzu fortschreitet, dass auch wieder ein Stillstand, eine Erleichterung in den Störungen eintritt und Ihnen wieder etwas mehr Luft gegönnt wird, als es gegenwärtig der Fall ist. Es wird sich doch ganz sicher die hilfreiche und wohltuende Gegenwart von Frau Professor geltend machen, es war für mich etwas trotz allem so frohmachendes, sie bei meinem letzten Besuch an Ihrer Seite zu sehen. Mit grossem Interesse las ich dieser Tage den Anfang Ihrer Besprechung von Brunners Buch im Kbl.878 und verstand vor allem Ihre Forderung nach weiterer besserer Klärung der Hauptbegriffe: Wort – Geist – Schrift sehr wohl. Ueber meine Stellung zu Bultmann habe ich Ihnen glaub eher unklare Auskunft gegeben, Bultmann ist für mich, sobald man ins Einzelne geht, eine sehr problematische Erscheinung, aber übers Grundsätzliche meiner Einstellung zu dieser radikalen Kritik finden Sie wohl in dem Schriftaufsatz einige Auskunft. Ich hoffe, Sie spüren trotz aller gegenteiligen Meinung etwas von dem schrittweisen Ringen und Michauseinandersetzen müssen mit dem ganzen schwierigen Problem in der Arbeit, ein letztes Wort kann es ja noch nicht sein, was da zu Tage kommt, und das Ganze ist wie ja überhaupt wohl das meiste, jedenfalls das entscheidende an „unsrer“ Theologie erwachsen aus der Not des praktischen Amtes, aus der Bedrängnis des 876 Siehe oben Brief Nr. 146. 877 Unsere Konfirmationsfeier, in: Evangelisches Gemeindeblatt Straubenzell, Nr. 39, 1914. 878 Paul Wernle: Zum Andenken Schleiermachers, in: KBRS 39, 1924, 77 f.; 81 f.

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Pfarrers, der mit ausschliesslicher Hilfe seiner Bibel mit dem Leben zurechtkommen soll. Mit herzlichen Grüssen und Wünschen für Ihr Ergehen, hochachtungsvollen Empfehlungen auch an Frau Professor Ihr Eduard Thurneysen Nr. 148. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Basel, den 14. Juli 1924 NL 290: B 346, 78 [Handschriftlich. Nicht Wernles Schrift.]879 Lieber Herr Pfarrer! Ich bin schon lange in Ihrer Schuld durch dreifache literarische Gabe und den freundlichen Begleitbrief. Aber die Zeiten, wo ich mich gleich hinsetzen und danken konnte, liegen weit zurück. Meine Frau hat selber eine ziemlich grosse Korrespondenz, und ich, wenn ich einmal zum Schreiben komme, muss immer dafür sorgen, dass meine Arbeit nicht ganz stillesteht. Was Sie mir zur Konfirmation zugeschickt haben, hat meine volle Zustimmung.880 Ihren Vortrag über die Bibel als Gotteswort881 las ich mit gröss[te]m Interesse, aber auch mit Staunen, wie sehr Sie ein Anderer geworden sind. Die schroffe Gleichsetzung von Offenbarung und Schrift hat mich geradezu erschreckt und ist sogar gegenüber Calvins Institutio eine arge Verengung. Einig bin ich mit Ihnen, dass das testimonium spiritus882 oder Gottes Selbstlegitimation allein einen Menschen überführen kann, dass Gott hier redet. Aber darin liegt für mich zugleich ein Kriterium, was in der Bibel göttlich ist, was nicht. Dieses testimonium spiritus ist ja gerade der Punkt, wo Gott und Mensch sich in einem Erlebnis berühren; da geht es ohne ein starkes „gran“883 Subjektivismus ni[c]ht ab. Dazu kommt, dass jede ehrliche geschichtliche Lektüre der Bibel bei der Erkenntnis gewaltiger Unterschiede, ja Gegensätze in der Bibel endigen muss, wie Sie selbst wohl wissen. Aber es wäre 879 880 881 882 883

Frau Wernle schrieb teilweise die Briefe für Ihren Mann. Siehe dazu Brief Nr. 147. Zu „Schrift und Offenbarung“ siehe oben Anm. 868. Siehe dazu Anm. 869. „Granum“ (lat.): Korn, Kern oder „Gran“ als Apothekergewicht (Wernles Vater war Drogist).

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endlos, die Bedenken gegen Ihre Theorie vom Canon884 zu sammeln und vorzulegen. Sie nehmen diese Frage viel zu leicht und tun da einen Sprung in die Orthodo[x]ie hinein, um den ich Sie wahrlich nicht beneide. Das soll aber unserer Liebe keinen Abbruch tun. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihren letzten Besuch und für jedes Zeichen Ihrer alten Freundschaft. Ich weiss Sie mehr zu schätzen, je mehr meine körperliche und geistige Hilflosigkeit zunimmt, und das ist ja eigentlich immer mehr der Fall. Ich bin unendlich dankbar, dass meine Frau mich pflegt und alles Schwere mit mir teilt, aber es wird dadurch oft nicht leichter, sondern schwerer, [w]enn das Andere zu sehr mitgenommen und aufgerieben wird. Das Eine weiss ich fest, dass Gott mir diese Krankheit schickt und mich durch sie sich näher bringen will. Aber von diesem Wissen zur nötigen Geduld und Ergebung ist noch ein weiter Schritt. Da muss ich noch viel, viel lernen. Und da tut mir Ihre Freundlichkeit und Teilnahme meiner Freunde und Schüler so wohl. Grüssen Sie mir Ihre Frau. Von Herzen Ihr ergebener P. Wernle Nr. 149. Brief E. Thurneysen an P. Wernle Bruggen, den 17. Dezember 1925 NL 92: III A 13, 72 [Randbemerkung:] Sie sprachen einmal den Wunsch aus, meine theolog.[ischen] Arbeiten zu sehen; so lege ich Ihnen denn eine der letzterschienenen bei über Kirche und Staat.885 Verehrter, lieber Herr Professor, Endlich auch wieder einmal von mir ein Lebenszeichen. Ich habe auf meiner Seite freilich gar nicht das Gefühl, nichts von Ihnen zu hören, weil ich Ihre Stimme immer wieder aus den Seiten Ihres grossen Buches zu mir reden lassen kann.886 Ich habe mich so gefreut, dass Ihnen der vorläufige Abschluss dieser 884 Siehe dazu Thurneysen: Schrift und Offenbarung, 41–43. 885 Eduard Thurneysen: Kirche und Staat. Vortrag gehalten am kirchlichen Bezirkstag in Safenwil, Safenwil 1924. 886 Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Bd. 1: Das reformatorische Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie), Tübingen 1923; Bd. 2: Die Aufklärungsbewegung in der Schweiz, Tübingen 1924; Bd. 3: Religiöse Gegenströmungen, Tübingen 1925.

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gewaltigen Arbeit gelungen ist trotz der schweren Leidensjahre, in die Sie für Sie hineingefallen ist. Als Sie damit begannen, die ersten Bausteine zuzurichten, war ich noch Student und in Zürich und durfte ein ganz klein wenig mithelfen bei diesen Vorbereitungen durch Lavaterexzerpte aus der Zeit der Helvetik.887 Wie viel liegt nun dazwischen! Ich möchte Ihnen ein Büchlein888 auf den Tisch legen, dessen Thema für mich auch weit zurückgeht bis in die Schul- und Studentenjahre. Ich habe es neben meiner sonstigen Arbeit in diesen letzten Monaten geschrieben und freue mich, dass ich es tun durfte; es war ein alter Wunsch, Blumhardt einmal einen kleinen, bescheidenen Denkstein auch meinerseits errichten zu können. Ich hoffe sehr, es lasse das Schriftlein auch Ihnen nicht nur widersprechende Gedanken zurück: hinter, in dem Theologischen werde das allgemeine, menschliche, das Bl.889 so am Herzen lag, doch ein wenig sichtbar. Ich habe mit Freude von der Ehrung gelesen, die Ihnen so sehr verdienterweise von der philosophischen Fakultät zugedacht worden ist.890 Die Widmung war so besonders verständnisvoll abgefasst, dass Sie sicher auch darüber erfreut sein konnten! Wie steht es wohl mit Ihrem Ergehen? Der Abschluss des III Bandes891 hat Ihnen sicher eine Entspannung gebracht, hoffentlich hat sich diese nicht ungünstig, sondern heilend ausgewirkt? Pfr. Moppert892 war schnell hier, um uns einen Vortrag zu halten; ich fragte ihn nach Ihnen, aber er wusste wenig bestimmtes. Das letzte Mal, als ich Sie in Basel besuchen konnte, war mir eine Besserung in Ihrem ganzen Zustande deutlich vor Augen. Aber ohne Schwankungen wird es ja nicht abgehen. Empfangen Sie herzliche, treue Wünsche ins Neue Jahr hinein, das ja nun vor der Türe steht. Ich rechne damit, Sie bald einmal wieder persönlich sehen zu dürfen, bei Gelegenheit eines Vortrages, den ich gegens Frühjahr hin, Febr. oder März für den Kreis der unabhängigen Kirchgenossen nach einigem Überlegen angenommen habe.893 Basel liegt so fern – die Reise ist so teuer! Uns gehts recht. Seit 1. Juni haben wir

887 888 889 890

Siehe dazu oben Brief Nr. 44. Eduard Thurneysen: Christoph Blumhardt, München 1926. Christoph Blumhardt. Die Philosophische Fakultät der Universität Basel verlieh Wernle den philosophischen Ehrendoktor. 891 Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Bd. 3: Religiöse Gegenströmungen, Tübingen 1925. 892 Oscar Moppert verfasste einen inhaltsreichen biographischen Artikel über Paul Wernle in: Biographisches Lexikon des Aargaus 1803–1957, Aarau 1958, 864–866. 893 Am 15. März 1926 hielt Thurneysen einen Vortrag vor der „Vereinigung unabhängiger Kirchgenossen“ zum Thema „Vom Wesen der Kirche“. Dieser erschien erweitert in: ZW 3 (1927), 304–321 und in: Thurneysen: Wort Gottes, 64–88.

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unser viertes Kindlein, ein Mädchen.894 Es liegt immer viel Arbeit vor. Seien Sie mit der verehrten Frau Professor herzlich gegrüsst von Ihrem Eduard Thurneysen Nr. 150. Postkarte E. Thurneysen an P. Wernle Poststempel: Neukirch, 31. Juli 1926 NL 92: III A 13, 73 [Karte, adressiert an] Herrn Prof. D. P. Wernle Hotel Bellevue Adelboden Verehrter Herr Professor, Aus dem schönen Safientale, wo wir (in -Neukirch)895 haushaltend unsere Ferien verbringen, möchte ich auch Ihnen einen herzlichen Gruss senden. Jenseits der Berglehne, an der wir hausen, liegt der Riein896 und Dutjen, wo ich einst bei Ihnen mir immer noch unvergessliche Ferientage verbringen durfte. Eben erst dieser Tage schaute ich von der Höhe hinüber und gedachte Ihrer dankbar und teilnehmend. Hoffentlich haben Sie ertragbare Leidenszeiten. Empfangen Sie und Frau Professor herzliche Grüsse von Ihrem Eduard Thurneysen

894 Nach Dorothea (1917), Matthias Eduard (1919) und Katharina (1921) war Monica das vorletzte Kind. 1931 wurde noch Sophie Christine geboren. 895 Kanton Graubünden. 896 Thurneysen meint den Piz Rien (2752 m) in der Signina-Gruppe.

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Nr. 151. Postkarte E. Thurneysen an P. Wernle Chocenˇ, Poststempel: 28. August 1929 NL 92: III A 13, 75 Lieber Herr Professor, Noch einmal erhalten Sie Grüsse aus Böhmen. Es sind viele da, die Ihnen dankbar und herzlich gedenken als frühere Schüler. ˇ ejka!, Jan Ihre Eduard Thurneysen, Stefan Pavlinec, Stokan Kadlec[?], Karl C 897 Du[…?] . Nr. 152. Brief P. Wernle an E. Thurneysen Meilen, den 25. Februar 1934 NL 290: B 346, 79 Lieber Herr Pfarrer! Es ist sehr lieb von Ihnen, dass Sie mir die Schrift zum Andenken an Ihre Frau Mutter zusandten898, obschon ich Ihnen nicht einmal kondulierte. Ich war und bin noch hier oben auf Hohenegg899 und da passierte es mir schon oft, dass man mir wichtige Sachen aus der Zeitung nicht vorlas. So ist mir diese Todesanzeige bis heute einfach entgangen. Es ist mir aber ein eigentliches Bedürfnis, Ihnen für Ihre Zusendung herzlich zu danken, und Ihnen bei dieser Gelegenheit zu sagen, wie sehr ich Ihre Frau Mutter geliebt und geschätzt habe. Sie ist mir während Ihrer Studienzeit mit so grosser Freundlichkeit und Verständniss begegnet, dass ich noch heute dafür dankbar bin. Man spürte ihr an, dass sie im Reiche Gottes ihres geliebten Blumhardts heimisch war und bei ihm eine Erhebung über alles Kleinliche und Selbstische erlebte. Ich glaube, dass ich ihr eigentlich einen Schmerz verursachte, weil ich das Bad-Boll nicht besucht habe. Sie hat es mir zwar nicht nachgetragen, aber es fehlte ihr etwas an mir. Ich behalte den

897 Namen teilweise unleserlich. 898 Adolf Preiswerk: Zum Andenken an Frau Pfarrer Emilie Thurneysen-Hindermann, 1860–1934, o.O. 1934. 899 Wernle befand sich in der Nervenheilanstalt Hohenegg in Meilen (Kanton Zürich).

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Eindruck von ihr als den von einer religiös lebendigen Frau und freue mich, dass Sie ihr Lebensbild so wahrhaftig zeichnen konnten. Mit herzlichen Grüssen, auch von meiner Frau, an Sie und Ihre Geschwister Ihr P. Wernle

IV. Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen1 Altwegg, Ernst (1870–1955) studierte in Basel, Jena und Zürich. 1894 zunächst Pfarrer im oberen Münstertal (Fuldera, Graubünden), 1897 Rebstein (St. Gallen), 1901–1904 in Sitterdorf-Zihlschlacht (Thurgau), 1904–1911 in Heiden (Appenzell), seit 1911 in Zürich-Wipkingen; gehörte zu den Religiösen Sozialisten. Ammann, Guido Emanuel (1884–1965) studierte Theologie in Basel, Marburg und Berlin. 1910 Pfarrer in Mönthal bei Brugg (Aargau), später in Matzingen (Thurgau) und 1930–1949 Thayngen (Schaffhausen). Arbenz, Carl (Karl) (1873–1932) studierte in Zürich und Heidelberg. 1900 Pfarrer in Höngg (Zürich), 1912 Zürich-Wiedikon; war von den religiösen Sozialisten Christoph Blumhardt, Hermann Kutter und Leonhard Ragaz beeinflusst. Arndt, Ernst Moritz (1769–1860) studierte von 1789–1794 in Greifswald und Jena Theologie, Geschichte, Erd- und Völkerkunde, Sprachen und Naturwissenschaften. Zunächst Hauslehrer bei Ludwig Gotthard Kosegarten, 1800 Privatdozent für Geschichte und Philosophie und 1805 außerordentlicher Professor in Greifswald; 1818 Berufung als ordentlicher Professor nach Bonn. Bachofner, Hans (1875–1945) studierte Theologie in Zürich, Basel und Halle. 1900 Vikariate in der Zürcher Landeskirche in Horgen, Birmensdorf und Hütten, 1901 Pfarrer in Zumikon (Zürich), 1904 Baar (Zug), 1907 Neumünster-Zürich. Bader, Hans (1875–1935) studierte in Lausanne, Basel, Zürich und Berlin. Zunächst theologisch freisinnig, unter dem Einfluss Kutters zunächst Religiös-Sozialer, dann durch Barths Römerbrief dialektischer Theologe. Vikar in Olten (Aargau), Pfarrer in Peist (Graubünden) und Degersheim (St. Gallen), 1911 Pfarrer in der Arbeitervorstadt Aussersihl (Zürich). Bär, Karl (1881–1953) absolvierte zunächst eine kaufmännische Ausbildung, um dann in Zürich und Marburg (v. a. bei Wilhelm Herrmann) Theologie zu studieren. 1908 Pfarrer im appenzellischen Wald, 1912 nach Höngg-Oberengstringen (Zürich), wo er sich sozial engagierte, 1918–1946 erster Zürcher Jugendpfarrer. Barth, Albert (1874–1927) studierte Theologie in Basel und Berlin, Geschichte und Germanistik in Göttingen, Dr. phil., war von 1902–1908 Lehrer am Basler Untern Gymnasium, 1908–1915 Leiter des Lehrerseminars in Schaffhausen und ab 1915 Rektor der Töchterschule in Basel; Großrat und Erziehungsrat; ein in der Schweiz geschätzter Pädagoge. Barth, Christian Gottlob (1799–1862) studierte 1817–1821 in Tübingen Theologie. 1824 Pfarrer in Möttlingen (Württemberg), legte 1838 sein Pfarramt nieder und zog nach Calw, um sich ganz der Bücherproduktion in dem von ihm 1833 gegründeten Calwer 1 Zu den in der Schweiz tätigen Pfarrern siehe die Nekrologe in: Pfarrerkalender für die reformierte Schweiz; Basel 1925–1990.

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Verlagsverein zu widmen. Die Theologische Fakultät der Universität Greifswald verlieh ihm 1838 die Würde des Ehrendoktors der Theologie. Barth, Johann Friedrich (Fritz) (1856–1912) studierte Theologie in Basel, Leipzig und Tübingen. 1879 Pfarrer in Reitnau (Aargau), 1886 Theologielehrer an der evangelischen Predigerschule Basel und 1889–1912 Professor für ältere und mittlere Kirchengeschichte sowie Neues Testament an der Universität Bern. Vertrat eine positiv-biblische Richtung und engagierte sich bei den Religiös-Sozialen. Vater von Karl Barth. Barth, Karl (1886–1968), Sohn von Fritz Barth; Bruder von Heinrich und Peter; studierte 1904–1908 Theologie in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg; war Redaktionsassistent bei Martin Rades Zeitschrift „Die Christliche Welt“. 1911–1921 Pfarrer im aargauischen Safenwil, 1921–1925 Professor für reformierte Theologie in Göttingen, 1925–1930 Münster (W.), 1930–1935 in Bonn und 1935–1962 in Basel. Mit Thurneysen eng befreundet und Begründer der Dialektischen Theologie. Barth, Peter (1888–1940), zweiter Sohn von Fritz Barth; studierte Theologie in Bern und Marburg. Vikariat in Adelboden (Bern), 1912 bernischer Pfarrer in Laupen, 1918 in Madiswil. Er zählte zum Freundeskreis der von Martin Rade herausgegebenen liberalen Zeitschrift „Die Christliche Welt“; Herausgeber der „Opera Selecta“ Calvins. Bruder von Heinrich und Karl Barth und Schwiegersohn von Martin Rade. Baudraz, John (1891–1968) war ein Waadtländer Primarlehrer, der 1915 den militärischen Dienst aus religiösen Gründen verweigerte. Benz, Gustav (1866–1937) studierte in Basel, Marburg und Berlin und wurde besonders von Wilhelm Herrmann geprägt; 1890 Pfarrer in Wagenhausen (Thurgau), 1894 Sekretär und später Präsident des Evangelischen Arbeitervereins in Basel, 1897 Pfarrer St. Matthäus in Basel, dort 1909–1937 Hauptpfarrer, 1917 Dr. theol. h.c. Marburg. Er galt als einer der bekanntesten Prediger seiner Zeit und war sozial vielfältig engagiert. Bergson, Henri (1859–1941) ist einer der bedeutendsten Vertreter der Lebensphilosophie und beeinflusste neben Emil Brunner beispielsweise auch Leonhard Ragaz. 1927 Nobelpreisträger für Literatur. Blumhardt, Christoph (1842–1919) studierte 1862–1866 Theologie in Tübingen; 1866–1869 Vikar in Spöck und Gernsbach (Baden), danach Gehilfe und Sekretär im württembergischen Bad Boll, 1880 Übernahme der Leitung und der Pfarrstelle von Bad Boll. Blumhardt war religiöser Sozialist und trat 1899 der Sozialdemokratischen Partei bei; 1901–1906 Mitglied des württembergischen Landtags. Für die Entwicklung des schweizerischen Religiösen Sozialismus war er von entscheidender Bedeutung. Blumhardt, Johann Christoph (1805–1880) studierte Theologie in Tübingen, zwischen 1829 und 1838 wirkte er als Vikar und Lehrer in Dürrmenz (Württemberg), am Missionshaus in Basel sowie im württembergischen Iptingen. 1838 übernahm er die Pfarrstelle in Möttlingen (Württemberg); 1852 kaufte Blumhardt das königliche Bad Boll am Fuße der Schwäbischen Alb, wo er fast drei Jahrzehnte lang als Seelsorger für Kranke und Bedürftige wirkte; Vater von Christoph Blumhardt. Bornhausen, Karl (1882–1940) studierte Theologie und Philosophie in Lausanne, Marburg, Berlin und Heidelberg. Promotion bei Ernst Troeltsch, 1910 Habilitation in Marburg für Systematische Theologie. Bornhausen zählte zu diesem Zeitpunkt zu den Vertretern des theologischen Liberalismus. Nach Ende des Ersten Weltkrieges erfolgte eine Wendung hin zu einer völkisch-nationalistischen und später nationalsozialistischen Haltung. 1920 wurde er Ordinarius für Religionsphilosophie und Systematische

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

Theologie in Breslau, 1934–1940 Nachfolger von Paul Tillich in Frankfurt am Main. Mitglied der NSDAP. Bossert, Eugen (1886–1962) studierte Theologie in Basel. 1911–1953 Pfarrer in Biel-Benken (Basel-Landschaft). Bousset, Wilhelm (1865–1920) studierte Theologie in Erlangen, Leipzig und Göttingen. Dort 1889 Privatdozent, 1896 außerordentlicher Professor für Neues Testament, 1916 ordentlicher Professor in Gießen. Als liberaler Theologe einer der Begründer der religionsgeschichtlichen Schule und Freund Paul Wernles. Braun, Lily (in Halberstadt geboren als Amalie von Kretschmann, 1865–1916) war Schriftstellerin, Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin. Brückner, Martin (1868–1931) aus Karlsruhe war ein Schüler William Wredes (1859–1906); war Militärpfarrer und seit 1922 Privatdozent für Neues Testament in Berlin. Brunner, Emil (1889–1966) studierte Theologie in Zürich und Berlin. 1912 in Leutwil (Aargau) Vikar, bevor Thurneysen dort Pfarrer wurde, weitere Vikariate und seit 1916–1924 Pfarrer in Obstalden (Glarus); 1921 Privatdozent und 1924–1953 Professor für Systematische und Praktische Theologie an der Universität in Zürich als Nachfolger von Leonhard Ragaz. Er zählt zu den Mitbegründern der Dialektischen Theologie. Buhofer, Fritz (1887–1952) studierte in Basel, Marburg, Heidelberg, Berlin und Zürich Theologie. 1914–1951 Pfarrer in Gontenschwil (Aargau); zählte als Schüler von Leonhard Ragaz zu den Religiösen-Sozialisten und war Mitglied der Abstinenzbewegung. Burckhardt, Abel (1871–1958) studierte in Basel. Vikariate u. a. in Davos-Dorf, 1898–1909 Pfarrer in Veltheim (Aargau), dann Neuch tel und 1912–1941 in Glarus, dort Kirchenrat, dessen Präsident und Dekan. Freund von Paul Wernle. Burckhardt-Schazmann, Carl Christoph (1862–1915) studierte Jura in Basel, Göttingen und Berlin. 1888 Habilitation in Basel. Richter und 1891–1906 Professor für römisches Recht und Zivilrecht an der Universität Basel; 1903–1904 deren Rektor, 1906–1915 Regierungsrat im Justizdepartement und maßgeblich am Kirchengesetz von 1910 (Trennung von Kirche und Staat) beteiligt, dafür Dr. theol. h.c. in Basel erhalten. Burckhardt-Lüscher, Anna (1882–1953), Ehefrau von Paul Burckhardt. Burckhardt-Pfisterer, Friedrich Rudolf (Fritz) (1874–1950) machte eine kaufmännische Lehre und schloss sich in Paris dem CVJM an. Stieg in Zürich in die Eisenwarenhandlung von Pestalozzi ein und wurde zusammen mit Rudolf Pestalozzi Associ seiner Firma, war bis 1915 Präsident des CVJM in Zürich. Burckhardt, Paul (1873–1956) studierte Geschichte und klassische Philologie in Basel und Berlin. 1896 Dr. phil. in Basel, seit 1904 Lehrer und 1927–1938 Rektor an der Töchterschule (seit 1930 Mädchengymnasium) in Basel, war Verfasser zahlreicher Werke zur Basler Geschichte der Neuzeit und der schweizerischen Reformationsgeschichte; Enkel von Alois E. Biedermann. Christ, Lukas (1881–1958) studierte Theologie in Basel und Halle; Dr. theol. 1906–1911 Pfarrer in Waldstatt (Appenzell) sowie 1911–1948 in Pratteln bei Basel. Zunächst religiös-sozialer, dann dialektischer Theologe; Freund von Eduard Thurneysen. Cohen, Hermann (1842–1918), deutsch-jüdischer Philosoph, war einer der Hauptvertreter des Marburger Neukantianismus. In Marburg lehrte er 1875–1912, bevor er an die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin wechselte.

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Debrunner, Paul-Rudolf (1889–1970) studierte Theologie in Basel, Heidelberg und Zürich. 1913–1933 Pfarrer in Sitterdorf-Zihlschlacht (Thurgau) und 1933–1955 in Winterthur-Seen (Zürich). Deißmann, Gustav Adolf (1866–1937) studierte Theologie in Tübingen, Berlin und Herborn. 1892 Habilitation in Marburg; 1895–1897 Dozent am Predigerseminar in Herborn, 1897 Professor für Neues Testament in Heidelberg, 1908 in Berlin. Dietschi, Jakob Max (1873–1951) studierte Theologie in Basel und Marburg. Nach Helferstellen von 1899 bis 1951 im aargauischen Seon als Pfarrer tätig. Freundschaftliche Beziehungen zu Paul Wernle und Eduard Thurneysen. Duhm, Bernhard (1847–1928) studierte Theologie in Göttingen. Dort seit 1873 Privatdozent und Professor für Altes Testament, 1889–1928 Ordinarius für Altes Testament an der Universität Basel; Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule. Egli, Karl (1875–1936) war seit 1897 Sekretär und Generalsekretär des CVJM in Zürich. Epprecht, Robert (1889–1976) studierte in Zürich und Berlin Theologie. Pfarrer im aargauischen Schöftland, 1918 in St. Gallen-Tablat und 1924 in Zürich-Wiedikon. Ernst, Paul (1887–1968) studierte in Basel, Berlin, Marburg und Zürich. Vikar in Seon (Aargau) bei Max Dietschi, danach ein Jahr in der Diaspora Galiziens bei dem gebürtigen Greifswalder pietistisch-positiven Pfarrer Theodor Zöckler (dem so genannten „Bodelschwingh des Ostens“) in Stanislau, 1912 im Kanton St. Gallen Pfarrer in Sennwald-Lienz und 1919–1956 in Rheineck. Eucken, Rudolf Christoph (1846–1926) wurde 1871 als Ordinarius der Philosophie und Pädagogik an die Universität Basel berufen und wechselte 1874 auf eine Professur für Philosophie an der Universität Jena, wo er bis zu seiner Emeritierung blieb. Er erhielt 1908 den Nobelpreis für Literatur. Auf seine Anregung hin wurde 1918 in Wittenberg die Luther-Gesellschaft gegründet. Farner, Oskar (1884–1958) studierte Theologie in Zürich, Basel, Marburg und Berlin. 1908 Pfarrer im Kanton Zürich in Stammheim, 1931 in Zollikon und 1937–1950 am Großmünster in Zürich und bis 1955 Kirchenrat und Kirchenratspräsident. 1930 Habilitation im Fach Kirchengeschichte an der Universität Zürich; Mitherausgeber der Werke Zwinglis im Corpus Reformatorum. Fast, Abraham (1886–1962) studierte Theologie in Basel und in Heidelberg; Kommilitone von Eduard Thurneysen. 1912 Lic. theol. mit einer unveröffentlichten Dissertation über die Freiheit des Willens bei den Täufern; veröffentlichte ferner zur Geschichte der Mennoniten; später Pastor der mennonitischen Gemeinde in Emden. Fries, Jakob Friedrich (1773–1843) war Professor für Philosophie, Mathematik und Physik in Heidelberg und Jena. Durch die von Leonhard Nelson begründete Neufriesische Schule beeinflusste Fries u. a. die Religionsphilosophie von Wilhelm Bousset und Rudolf Otto. Fröhlich, Edmund (1867–1943) studierte Theologie in Neuenburg, Basel, Greifswald und Zürich. Vikar in Cannes, Heiden (Appenzell Ausserrhoden), Sekretär und Präsident des CVJM in Zürich von 1897–1937 „Klasshelfer“ (amtlich angestellter Gehilfe eines Pfarrers) in Brugg (Aargau) und betreute zudem seit 1902 die Insassen der Heil- und Pflegeanstalt im aargauischen Königsfelden. Gauß, Karl Otto (1867–1938) studierte in Basel und Göttingen Theologie. 1888–1890 Hauslehrer in Köln, 1890–1891 Verweser in Markirch im Elsass, im Kanton Basel-

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

Landschaft 1891–1892 Vikar in Benken, wo er 1892 zum Pfarrer gewählt wurde, und 1897–1928 Pfarrer in Liestal. Verfasste zahlreiche historische Werke. Gelzer, Heinrich (1888–1963) studierte v. a. in Basel Theologie. Pfarrer in Opfertshofen (Schaffhausen) und an der deutschsprachigen Gemeinde in Vevey (Waadt); seit 1921 Dozent am Missionsseminar in Basel, wo er als Rektor bis zur Aufhebung des Instituts 1955 wirkte. 1953 Dr. theol. hc. Basel. Gerber, Max (1887–1949) studierte 1906–1907 Jura, 1907–1912 Theologie in Zürich, Berlin, Marburg und Heidelberg. 1913–1919 Pfarrer in den Graubündner Bergdörfern Feldis/Veudlen-Scheid-Trans und die zentrale Persönlichkeit der Religiös-Sozialen in Graubünden. 1920–1931 Pfarrer in Langenthal (Bern), Mitglied der Vereinigung der antimilitaristischen Pfarrer, der Sozialdemokratischen Partei und 1921–1949 Mitbegründer und Redaktor der sozialistischen Wochenzeitschrift „Der Aufbau“. Gerwig, Max (1889–1965) studierte Rechtswissenschaft in Basel, Heidelberg und Leipzig. Dr. jur., Sozialdemokrat, Mitbegründer und einer der Redaktoren der religiös-sozialen Wochenzeitung „Der Aufbau“, ferner Richter und später Professor für Zivilrecht in Basel und Kuratelspräsident. Geyer, Wilhelm (1860–1929) studierte 1881–1885 Theologie in Basel, Tübingen und Berlin. Vikar in Wängi (Thurgau), Pfarrer in Olten (Aargau), 1897 Hausen am Albis (Zürich), 1912–1919 Wallisellen (Zürich); beeinflusst von Christoph Blumhardt. Goldschmid, Theodor (1867–1945) studierte Theologie in Neuenburg, Basel, Straßburg, Göttingen, Zürich und Greifswald, geprägt durch die Hymnologen Friedrich Spitta und Julius Smend. 1892–1905 im Kanton Zürich Pfarrer in Dättlikon, 1905 Pfäffikon, wo er sich den religiös-sozialen Pfarrern anschloss, 1914–1937 Wipkingen-Zürich. 1916–1939 Kirchenrat; Erneuerer des schweizerischen Kirchengesangs und der Kirchenchöre; Initiator und Redakteur der Zeitschrift „Der evangelische Kirchenchor“. Greyerz, Karl von (1870–1949) studierte 1888–1893 Theologie in Basel, Jena, Bern, Berlin und Paris. 1894–1895 Vikar und 1895–1902 in Bürglen bei Biel (Bern), 1902–1912 Pfarrer in Winterthur (Zürich), 1912–1918 in Kandergrund (Bern) und 1918–1935 in Bern. Zählte zum Lager der Religiös-Sozialen und seit seinem Studium mit Leonhard Ragaz befreundet. Anhänger Friedrich Naumanns; Engagement für soziale Fragen und den Weltfrieden; 1925 Mitbegründer der Vereinigung der antimilitaristischen Pfarrer der Schweiz; galt als mitreißender Prediger. Grob, Rudolf (1890–1982) studierte von 1910–1913 Theologie in Basel und Marburg. 1914–1953 Direktor der Schweizerischen Anstalt für Epileptische in Zürich; Initiator eines Knabenheimes mit Werkstätten und eines Diakonenhauses. Sympathisierte mit dem Nationalsozialismus, forderte die Werte der alten Eidgenossenschaft ein, war Wortführer der schweizerischen Jungreformierten und zählt zu den Erstunterzeichnern der „Eingabe der 200“ an den schweizerischen Bundesrat vom 15. November 1940, die im Pressewesen eine verstärkte Anpassung an das nationalsozialistische Deutschland forderte. Häberlin, Paul (1878–1960) studierte Philosophie und Theologie in Göttingen, Berlin und Basel. Diss. phil., Realschullehrer in Basel, 1904 Seminardirektor in Kreuzlingen, 1908 Habilitation im Fach Philosophie in Basel; dort 1909–1914 Privatdozent, 1914–1922 Professor für Philosophie in Bern und 1922–1944 in Basel.

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Häfeli, Johann Casper (1754–1811) studierte in Zürich Theologie. Auf Empfehlung Lavaters 1784 Hofkaplan in Wörlitz, 1793–1805 Pfarrer in Bremen, 1799 Dr. theol., 1805–1811 Superintendent und Oberprediger in Bernburg (Saale). Haffter, Eugen (1895–?) wurde am 1. Dezember 1918 in Basel ordiniert. Vikar an der Schweizerischen Anstalt für Epileptische in Zürich, von 1920–1932 Pfarrer in Staufberg und 1932–1961 in Aarau. Harnack, Adolf von (1851–1930), Professor für Kirchengeschichte: 1876–1879 Leipzig, 1879–1886 Gießen, 1886–1888 Marburg und 1888–1921 in Berlin; maßgeblicher Vertreter des Kulturprotestantismus und einer der führenden deutschen Theologen im Kaiserreich. Hartmann, Benedikt (1873–1955), Sohn eines Missionars, zeitweilig in Basel aufgewachsen, gehörte zum Freundeskreis von Paul Wernle. Studium in Basel und Göttingen; seit 1896 Bündner Pfarrer in Serneus, Thusis und 1905–1911 Stadtpfarrer in Chur, 1911–1918 in Malans, 1918 Direktor der Evangelischen Lehranstalt in Schiers. Er zählte zu den Vertretern einer „modernen Theologie“ und gilt als Kenner des Pietismus in Graubünden. Hauri, Ernst (1891–1979) studierte Theologie in Basel, Marburg und Zürich. 1915–1917 Jugendsekretär des CVJM im Zürcher Glockenhof, 1917 Vikar in St. Gallen, 1918–1921 Pfarrer in Turbenthal (Zürich), 1921–1923 Innsbruck, Vikar 1923 in Lohn (Schaffhausen), 1923–1924 in Zürich-St. Peter, 1924 Pfarrer in Binningen-Bottmingen (BaselLandschaft) und 1933–1957 Basel (St. Peter). Hauri, Hans (1883–1959) war zunächst Kaufmann, u. a. Buchändler in München und Dresden; Studium der Theologie in Basel. 1912 Vikariate in den Zürcher Gemeinden Töss, Veltheim und Wülflingen, seit 1913 im aargauischen Kirchleerau, 1925 im elsässischen Vill –Cl mont, 1931–1955 in Luchsingen (Glarus). Hauri, Johann (Hans) Rudolf (1878–1939) studierte Theologie in Basel und Marburg. Seit 1902 Vikar und 1903 Pfarrer in Zürich-Wollishofen, seit 1918 Kirchenrat und 1932 dessen Vorsitzender. Dr. theol. h.c. der Universität Zürich. Hauri, Johannes (1848–1919) studierte Theologie und Naturwissenschaften in Basel. Von 1874–1876 in Graubünden Kurpfarrer in Davos-Platz, 1876–1893 Pfarrer in DavosDorf und 1893–1917 wieder Kurpfarrer in Davos-Platz; 1893–1900 Dekan der Bündner Synode. 1901 Dr. theol. h.c. der Universität Basel. Hauri verfasste theologische, naturwissenschaftliche und historische Schriften und zählt zu den wichtigen Theologen in Graubünden. Hausrath, Adolf (1837–1909) studierte Theologie in Jena, Göttingen, Berlin und Heidelberg, dort 1861 Promotion. 1862 Vikar an der Heiliggeistkirche in Heidelberg und dort Privatdozent; 1864–1867 Mitglied der Kirchenleitung in Karlsruhe; 1867 außerordentlicher und 1871 ordentlicher Professor für Kirchengeschichte und Neues Testament in Heidelberg. Heidrich, Ernst Friedrich Rudolf (1880–1914), der deutsche Kunsthistoriker wurde Ende 1910 als Extraordinarius an die Universität Basel berufen und dort 1912 zum Ordinarius befördert; am Ende des Sommersemesters 1914 erhielt er einen Ruf an die Universität Straßburg. Er fiel am 4. November 1914 bei Dixmuide in Westflandern. Heim, Karl (1874–1958) studierte Theologie in Tübingen. Nach der zweiten theologischen Prüfung von 1900–1902 Reisesekretär der „Deutschen Christlichen Studentenvereinigung“; 1905 Inspektor am Schlesischen Konvikt in Halle, 1907 Habilitation im Fach

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

Systematische Theologie. Seit 1914 wirkte Heim als ordentlicher Professor für Systematische Theologie in Münster (W.), seit 1920 in Tübingen. Heitmüller, Wilhelm (1869–1926) habilitierte sich 1902 in Göttingen, 1908 ordentlicher Professor für Neues Testament in Marburg, 1920 in Bonn und 1924 in Tübingen; einer der Hauptvertreter der Religionsgeschichtlichen Schule. Hengstenberg, Ernst Wilhelm Theodor Herrmann (1802–1869) studierte zunächst in Bonn klassische und orientalische Philologie; 1823 Promotion, 1824 Habilitation für Orientalistik; unter dem Einfluss der Deutschen Christentumsgesellschaft und der Berliner Erweckungsbewegung Wechsel in die Theologie; 1825 Lic. theol., 1826 außerordentlicher und 1828 ordentlicher Professor für Altes Testament. 1827 gründete Hengstenberg die gegen den Rationalismus gerichtete „Evangelische Kirchenzeitung“, die eine zentrale kirchenpolitische Rolle spielte. Hermann, Theodor (1872–1961) studierte seit 1891 Theologie in Basel und gleichzeitig an der dortigen evangelischen Predigerschule. 1895 Ordination, Aufenthalt in Berlin, 1896–1897 Sekretär der Inneren Mission in Frankfurt am Main, 1898–1902 theologischer Lehrer auf St. Chrischona bei Basel; 1902 Pfarrer in Chur (Graubünden), 1913 in Rorbas (Zürich), 1922–1940 Basel (St. Elisabethen). Er gehörte 1922–1955 dem Komitee von St. Chrischona an, dem er 1935–1951 vorsaß. Hermelink, Heinrich (1877–1958) studierte Theologie in Tübingen, 1902 Dr. phil., 1901–1904 Mitarbeiter der Universitätsbibliothek Tübingen und 1904–1906 am Staatsarchiv Stuttgart, 1906 Promotion und Habilitation für Kirchengeschichte in Leipzig; dort seit 1909 Pfarrer, 1913 außerordentlicher Professor in Kiel, 1915 ordentlicher Professor in Bonn und 1918 in Marburg. Wegen seiner regimekritischen Haltung wurde er 1935 zwangsemeritiert und wirkte zunächst 1935–1938 als Pfarrer in Eschenbach bei Göttingen und nach 1945 als Honorarprofessor in München und Tübingen. Herrmann, Johann Georg Wilhelm (1846–1922) studierte ab 1866 in Halle Theologie, bedeutender Schüler von August Tholuck; 1875 Lic. theol. sowie Habilitation und Privatdozent; 1879 ordentlicher Professor für Systematische Theologie in Marburg. Er zählte zur Schule Albrecht Ritschls (1822–1889) und gab gemeinsam mit Martin Rade 1907–1916 die „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ heraus. Er prägte auch zahlreiche Theologen aus der Schweiz Hess, Johann Jakob (1741–1828) studierte in Zürich Theologie; 1760 Ordination, 1760–1767 Vikar und Hauslehrer bei seinem Onkel Kaspar Heß in Neftenbach (Kanton Zürich); zehn Jahre ohne Amt widmete er sich theologischen Studien und schriftstellerischen Arbeiten. 1777 Diakon am Frauenmünster in Zürich, 1795 Pfarrer am Großmünster und damit Antistes der Zürcher Kirche. Hess, Paul Diethelm (1854–1926) studierte in Basel und Tübingen Theologie. Im Kanton Zürich 1878 Vikar in Bülach und Verweser in Rorbas, 1879 Pfarrer in Rorbas, 1885 in Fällanden, 1889–1914 in Witikon. Hoch, Fritz (1888–1973) studierte Theologie in Zürich, Basel, Marburg und Tübingen. 1911 Pfarrer in Bülach (Zürich), 1923 Pfarrer in der Riehener Diakonissenanstalt (Basel-Stadt), 1925–1962 deren Vorsteher. Högger, Paul (1875–1942) studierte in Basel, Marburg und Berlin Theologie. Im Thurgau 1899–1904 Pfarrer in Dussnang, 1904–1913 in Müllheim und von 1913–1933 an der

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Großmünstergemeinde in Zürich. Vetter von Karl Barth und mit Paul Wernle befreundet. Hofacker, Ludwig (1798–1828) studierte ab 1816 Theologie in Tübingen. Nach einem Bekehrungserlebnis 1818 Anschluss an pietistische Kreise. Seit 1820 in der württembergischen Kirche Vikar in Stetten bei Stuttgart, 1821 in Plieningen, 1823–1825 Hilfsprediger an St. Leonhard in Stuttgart und 1826–1828 Pfarrer in Rielingshausen. Hoffmann, Heinrich (1874–1951), geboren in Leipzig, Studium der Theologie und Philosophie in Tübingen, Halle, Leipzig, Berlin und Heidelberg. Schüler und Freund von Ernst Troeltsch, 1905 Privatdozent in Leipzig, 1912–1944 Professor für Kirchengeschichte in Bern. Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm (1806–1873) studierte Theologie in Tübingen. Vikar in Heumaden, 1834 Diakon in Winnenden und 1839 Missionsinspektor in Basel; dort seit 1843 Professor für Altes Testament; 1850 Professor und Stiftsephorus in Tübingen, 1852 Hof- und Domprediger in Berlin. Rasch wurde Hoffmann der einflussreichste Mann der preußischen Kirchenregierung. Er trat für eine „innere Union“ sowie für eine Verbindung synodaler und konsistorialer Formen ein. Holzer, Christian (1888–1953) studierte Theologie in Basel. Seit 1913 Pfarrer in Graubünden in Sils und Mutten im Domleschg, 1926–1936 in Locarno (Tessin), im Kanton Zürich 1937–1953 in Ellikon und Rheinau am Rhein und in der psychiatrischen Anstalt Rheinau. Holzer war überzeugter Abstinenzler, Pazifist und Sozialist. Humbert-Droz, Jules (1891–1971) studierte Theologie in Neuenburg, Paris und Berlin; Pfarrer in London. 1916–1919 Redaktor der sozialistischen „La Sentienelle“; wichtige Rolle bei der Gründung der schweizerischen kommunistischen Partei; seit 1926 im Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale. Als er 1942 aus der Parteileitung entfernt und ein Jahr später aus der Partei ausgeschlossen worden war, trat er der Sozialdemokratischen Partei bei, deren Zentralsekretär er 1946–1959 war. Jatho, Carl Wilhelm (1851–1913) studierte Theologie in Marburg und Leipzig, 1874–1876 Religionslehrer in Aachen, 1876–1884 Pfarrer der deutschen Gemeinde in Bukarest, 1885 Boppard (Rhein), 1891–1911 Köln. 1911 wurde vom Spruchkollegium der Evangelischen Kirche in Preußen ein Lehrbeanstandungsverfahren gegen Jatho eingeleitet, das zu seiner Dienstentlassung führte. Der „Fall Jatho“ löste eine heftige Debatte zur Frage aus, ob es angemessen und möglich sei, die Einheit der Lehre in der evangelischen Kirche durch rechtliche Mittel zu gewährleisten. Jülicher, Adolf (1857–1938) studierte Theologie in Berlin; 1880 Dr. phil. in Halle; 1886 in Berlin Dr. theol., dort 1887 Habilitation; lehrte seit 1888 zunächst als außerordentlicher, dann als ordentlicher Professor für Neues Testament und Kirchengeschichte an der Universität Marburg. Er war ein wichtiger Vertreter der liberalen Theologie und zählte zu den Begründern der Ritschl-Schule. Kapff, Sixt Karl von (1805–1879) studierte von 1823–1828 Theologie in Tübingen. Einflussreicher Vertreter des württembergischen Pietismus, 1833–1843 Pfarrer in Korntal, seit 1843 Dekan in Münsingen und seit 1847 in Herrenberg, seit 1850 Prälat und Mitglied der Kirchenleitung. Von 1852 bis zu seinem Tod wirkte er als Pfarrer in der Stuttgarter Stiftskirche. Keller, Adolf (1872–1963), Studium der Theologie, 1896 Ordination und Vikar und Lehrer in Kairo; Pfarrer in Burg (Schaffhausen), Pfarrer in Genf, 1909–1924 St. Peter in Zü-

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

rich. 1920 nebenamtlicher Sekretär des Schweizerischen Kirchenbundes, 1926 zudem Leitung des internationalen sozialwissenschaftlichen Instituts des Weltkirchenbundes, 1928 Übersiedelung nach Genf, wo er wie auch in Zürich an der Hochschule lehrte. Kierkegaard, Søren Aabye (1813–1855) studierte in Kopenhagen Theologie, Ästhetik und Philosophie; lebte als freier Schriftsteller und schrieb zum Teil scharfe Polemiken gegen das zeitgenössische Christentum. Knapp, Albert (1798–1864) studierte seit 1816 Theologie in Tübingen. Seit 1820 im Dienst der württembergischen Kirche, 1825 Pfarrer in Sulz (Neckar), 1831 Kirchheim (Teck) und 1836 Stuttgart. Unter dem Einfluss von Ludwig Hofacker Hinwendung zur Erweckungsbewegung. Veröffentliche zahlreiche geistliche Lieder; wichtiger Hymnologe. Knellwolf, Arnold (1865–1945) studierte Theologie in Basel. 1888–1891 Pfarrer in Untervaz-Trimmis-Haldenstein, 1891–1898 Prediger in der freichristlichen Gemeinde in Mainz, 1898–1900 Redaktor des „Landboten“ in Winterthur, 1900–1906 wiederum Pfarrer in Untervaz-Trimmis-Haldenstein, 1906–1908 in Wald (Appenzell Ausserrhoden), 1908–1909 in Lugano (Tessin), 1909–1928 in Erlach (Bern). Köhler, Walther (1870–1946) studierte Theologie in Halle und Heidelberg; 1895 Dr. phil., Lic. theol. in Tübingen, 1900 Privatdozent, 1904 außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Gießen, 1909 ordentlicher Professor in Zürich, 1929 in Heidelberg; prägte maßgeblich die Zwingli-Forschung seiner Zeit. Koerber (Körber), Albrecht Ludwig Heinrich (1878–1953) stammt aus Bern; war 1903–1912 Deutscher Pfarrer in Lyon, 1912 in Immendingen (Baden) und seit 1913 in Seengen (Aargau), bevor er 1915 nach Gotha (Thüringen) wechselte; 1920 wurde er Dramaturg in München, 1925 Auslandskorrespondent in Paris und in Genf 1939–1945. Kutter, Hermann (1863–1931) studierte Theologie in Bern und Basel; 1896 Lic. theol., 1887 Pfarrer in Vinelz (Bern), 1898–1926 am Zürcher Neumünster. Kam durch Christoph Blumhardt zum Religiösen Sozialismus, unterschied sich aber theologisch wie politisch deutlich von Leonhard Ragaz; zählt zu den bedeutendsten Vertretern des Religiösen Sozialismus. Kutter, Lydia, geb. Rohner (1868–1936), Ehefrau von Hermann Kutter. Kutter, Lydia Verena („Vreni“) (1894-?), Tochter von Hermann Kutter und Ehefrau des Kantonschullehrers Dr. phil. Ernst Theodor Pestalozzi (1889–1936); heiratete 1938 Richard Wilhelm Ludwig Grossmann. Lauterburg, Otto (1886–1975) studierte Theologie in Bern, Neuenburg. Marburg und Heidelberg. Pfarrer in Saanen (Bern), Dr. theol. h.c. Bern; Schulfreund von Karl Barth. Lavater, Johann Caspar (1741–1801) studierte Philosophie, Philologie und Theologie in Zürich. 1769 Diakon und 1775 erster Pfarrer an der Waisenhauskirche, 1778 Diakon und 1786 Pfarrer an St. Peter in Zürich. Er unterhielt zahlreiche Beziehungen zu berühmten Zeitgenossen und beschäftigte sich intensiv mit der Physiognomik. Lejeune, Robert (1891–1970) studierte in Zürich und Heidelberg Theologie. 1913–1919 Pfarrer in Graubünden, 1919–1926 in Arbon (Zürich) und 1926–1958 in ZürichNeumünster. Mitarbeiter bei der religiös-sozialen Zeitschrift „Neue Wege“ und enger Vertrauter von Leonhard Ragaz. Als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei 1955–1963 Kantonsrat in Zürich. Dr. theol. h.c. der Universität Basel. Lieb, Fritz (1892–1970) studierte Assyriologie und Theologie in Basel, Bern und Zürich, Schüler von Leonhard Ragaz und Hermann Kutter; 1923 Promotion, 1924 Habilitation in Basel, 1925–1930 Privatdozent, 1930–1933 außerordentlicher Professor für östliches

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Christentum in Bonn, 1934–1937 in Paris, 1937–1958 außerordentlicher Professor für Dogmatik und Theologiegeschichte in Basel, 1958–1962 ordentlicher Professor in Basel. Seit 1915 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Freund Karl Barths und Verfechter der Dialektischen Theologie. Liechtenhan, Eduard August (1891–1965) studierte in Basel, Göttingen und Leipzig Klassische Philologie und wurde 1917 in Basel promoviert. Wirkte als Altphilologe und Gymnasiallehrer in Basel; Bruder von Rudolf Liechtenhan. Liechtenhan, Rudolf (1875–1947) studierte Theologie in Basel, Marburg und Berlin. 1900 Lic. theol., 1900–1910 Pfarrer in Buch am Irchel (Zürich), 1910–1936 an St. Matthäus in Basel. Seit 1921 Privatdozent in Basel, 1928 lehnte die Berner Regierung Liechtenhans Ruf zum ordentlichen Professor wegen seiner pazifistischen Einstellung ab. 1935 außerordentlicher Professor für Neues Testament in Basel. Schwager von Wernle und mit diesem eng befreundet. Mitbegründer der religiös-sozialen Zeitschrift „Neue Wege“ und Mitglied der Vereinigung antimilitaristischer Pfarrer. Loew, Wilhelm (1887–1977) studierte Philosophie, Theologie und Geschichte in Freiburg, Halle und Marburg; 1914 Lic. theol. Seit 1914 rheinischer Pfarrer im hessischen Simmersbach (heute Lahn-Dill-Kreis), 1920 Remscheid, 1927 Trabach, 1936 Studiendirektor im Predigerseminar Düsseldorf, 1938 Amtsverbot, 1940–1945 Krankenhausseelsorger in Graz; 1945 Dr. med., 1940–1950 Arzt in Graz; seit 1950 Lehrbeauftragter und 1952 Honorarprofessor für Praktische Theologie in Mainz. Loofs, Friedrich (1858–1928) studierte Theologie in Leipzig, Tübingen und Göttingen, 1881 Dr. phil., 1882 Habilitation, 1882–1886 Dozent in Leipzig, 1886 Extraordinarius in Leipzig, 1887 in Halle, 1888–1926 Ordinariat für Kirchengeschichte in Halle. Mitbegründer der Zeitschrift „Die Christliche Welt“. Ludwig, Gottfried (1889–1970) studierte in Bern, Marburg, Heidelberg und Berlin Theologie. 1914–1929 Pfarrer im Kanton Bern in Dießbach bei Büren und 1929–1961 in Biel. Lüdemann, Hermann (1842–1933) studierte Theologie in Kiel, Heidelberg und Berlin; 1872 Lic. theol. in Kiel; dort Privatdozent für neutestamentliche Theologie und 1878 außerordentlicher Professor; seit 1884 ordentlicher Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Universität Bern und seit 1890 auch Professor für Systematische Theologie und Geschichte der Philosophie. Er zählt zu den bedeutenden Vertretern des theologischen Liberalismus. Lüssy, Felix (1887–1942) war Advokat und Notar (Dr. iur.) sowie 1923–1934 Mitglied des Basler Großen Rates als Vertreter der Liberalen Partei. Marbach, Otto (1879–1940), studierte 1898–1903 in Bern und Paris, Vikar und 1904–1911 Pfarrer in Interlaken-Gsteig (Bern), 1911–1915 in Basel zu St. Matthäus, 1915–1922 in Schangau (Bern), 1922–1925 in Bollingen (Bern) und schließlich 1925–1940 hauptamtlicher Inspektor des Allgemeinen Evangelisch-Protestantischen Missionsvereins. Martz-Forrer, Hans (1888–1954) studierte Medizin in Basel und München. Praktischer Arzt in Riehen bei Basel und Förderer des Krankenpflegewesens. Matthieu, Jean Daniel (1874–1921), 1900–1905 Pfarrer in Feldis/Veulden, Scheid und Trans (Graubünden), 1905–1910 Pfarrer in Delemont (Jura) und 1910–1921 Religionslehrer in Zürich an der Kantonsschule. Mitherausgeber der „Neuen Wege“ und eine zentrale Figur der religiös-sozialen Bewegung; Engagement für Militärdienstverweigerer.

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

Menken, Gottfried (1768–1831) studierte in Jena und Duisburg. Hilfsprediger am Niederrhein, 1794–1796 Pfarrer an der deutsch-reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main, 1796–1802 in Wetzlar, 1802 in Bremen. Bedeutender Vertreter der Erweckungsbewegungen in Nordwestdeutschland. Merz, Albert (1874–1965) besuchte Primar- und Bezirksschule in Reinach (Aargau) und absolvierte darauf die Ausbildung zum Lehrer im Seminar Wettingen. 1894 trat er sein Lehramt in Reinach an. Während 43 Jahren leitete Merz ab 1894 als Dirigent den Reinacher Männerchor „Liederkranz“.2 Merz, Erwin (1884–1925) studierte klassische Philologie in Basel, Bonn und Leipzig sowie Theologie in Basel und Tübingen. 1909 Ordination in Basel, Vikariate im Aargau in Murgenthal und Umiken; 1913 Lic. theol. Nach einer Reise in den Orient weitere kürzere Vikariate in Rheinfelden (Aargau) und Horgen (Zürich), 1914–1925 Pfarrer in Witikon (Zürich); wissenschaftlich tätig, u. a. Mitarbeit an der Übersetzung der Apokryphen des Alten Testaments. Meyer, Margrit (1893–1995) war eine Cousine des Theologen Fritz Lieb (1802–1970). Meyer-Lieb, Paul (1854–1938) war bis 1922 43 Jahre lang Sekundarlehrer in Basel und verfasste zahlreiche lokalhistorische Beiträge für das Basler Jahrbuch. Moppert, Oscar (1880–1972) studierte in Basel und Marburg. 1904–1908 Pfarrer in Stallikon hinter dem Albis (Zürich), 1908–1918 in Frauenfeld (Thurgau). „In dem denkwürdigen ersten Urnengang, bei dem auch Frauen das kirchliche Wahlrecht ausüben durften, wurde er am 9./10. März 1918 zum Pfarrer von St. Alban [Basel] gewählt“, wo er bis 1948 wirkte. Bei dieser Wahl übten erstmalig Frauen ihr kirchliches Stimmrecht aus. „Zwei Drittel der Wählenden gehörten dem weiblichen Geschlecht an.“3 Müller, August (1853–1912) studierte in Basel und Göttingen. Nach einem kurzen Vikariat 1880–1912 Pfarrer in Leutwil (Aargau). Müller, Johann Georg (1759–1819) studierte Theologie in Zürich und Göttingen. 1794 Professor der griechischen und hebräischen Sprache in Schaffhausen, dort 1804 Professuren für Enzyklopädie und Methodologie sowie für Ästhetik. 1798 Aufgabe des geistlichen Standes und Eintritt in die Politik. Erwarb sich besondere Verdienste bei der Neuordnung des kantonalen Schulwesens; zahlreiche kirchengeschichtliche Veröffentlichungen sowie Herausgabe der Werke Johann Gottfried Herders. Müller, Johannes (1864–1949) studierte Theologie und Philosophie in Leipzig und Erlangen. 1890 Dr. phil., Engagement in der „Judenmission“ und seit 1897 43 Jahre lang Herausgabe der „Grünen Blätter“. In Elmau bei Garmisch Leitung einer „Freistätte persönlichen Lebens“. 1917 Dr. theol h.c. Berlin. Müller, Julius Friedrich (1878–1940) war von 1910 bis zu seinem Tod Pfarrer in Birrwil (Aargau), versah von 1910–1940 die Pastoration der Taubstummen und engagierte sich auf dem Gebiet des Schulwesens. Natorp, Paul (1854–1924) studierte in Berlin, Bonn und Straßburg Musik, Geschichte und klassische Philologie. Nach unterschiedlichen Tätigkeiten 1880 Privatdozent für Philosophie in Marburg, 1885 außerordentlicher, 1893–1922 ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik in Marburg. Neben Hermann Cohen weiteres Schulhaupt des Marburger Neukantianismus.

2 Die Angaben verdanke ich Herrn Dr. Peter Steiner in Reinach. 3 Basler Jahrbuch 1919, Basel o. J., 338.

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Naumann, Friedrich (1860–1919) studierte Theologie in Leipzig und Erlangen. Oberhelfer in Johann Hinrich Wicherns Rauhem Haus in Hamburg, 1886 Pfarrer in Langenberg (Erzgebirge), 1890 Pfarrer der Inneren Mission, Wortführer im Evangelisch-sozialen Kongress, 1895 Aufgabe des Pfarramts und Hinwendung zur Politik. 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei. Nelson, Leonhard (1882–1927), nach Mathematik- und Philosophiestudium in Heidelberg, Berlin und Göttingen dort 1904 Promotion mit einer Arbeit über Jakob Friedrich Fries und 1908 Habilitation; dort ebenso Professor für Philosophie und Begründer des Neufriesianismus. Nietzsche, Friedrich (1844–1900) studierte Philologie und Theologie in Bonn und Leipzig. 1869 außerordentlicher und 1870 ordentlicher Professor für griechische Sprache und Literatur an der Universität Basel; 1879 krankheitsbedingter Rücktritt, 1889 geistige Umnachtung. Nil, Martin (1887–1949) studierte Theologie in Bern und Marburg. Fast 40 Jahre Pfarrer in Grindelwald (Bern) und von der Dialektischen Theologie beeinflusst. Nüesch, Alexander (1853–1932) studierte Theologie in Basel und Tübingen. 1879–1883 Pfarrer in den Zürcher Gemeinden Ellikon, 1883–1907 Zollikon und 1910–1927 Sekretär des Zürcher Kirchenrates. Dr. theol. h.c. Overbeck, Franz Camille (1837–1905) studierte Theologie in Leipzig, Göttingen, Berlin und Jena; 1859 Dr. phil.; 1864 Habilitation für das Fach Kirchengeschichte in Jena, dort 1864–1870 Privatdozent; 1870–1897 Professor für neutestamentliche Exegese und ältere Kirchengeschichte in Basel; enger freundschaftlicher Kontakt zu Friedrich Nietzsche. Pascal, Blaise (1623–1662), französischer Religionsphilosoph, Mathematiker und Physiker. Pestalozzi, Friedrich Otto (1846–1940) war Kaufmann, Mitinhaber der familieneigenen Eisenhandlung am Zürcher Münsterhof; 1883–1918 Zürcher Kantonsrat, Handelsrichter und 1877–1889 belgischer Konsul. Gilt als Haupt der Konservativen in Zürich, engagierte sich in einigen sozialen Hilfswerken der Evangelischen Gesellschaft (prominenter Gönner des CVJM) und bei einigen konservativen Zeitungen. Herausgeber des Zürcher Taschenbuches und des Schweizerischen Künstler-Lexikons. Pestalozzi, Paul Richard (1889–1963) studierte Theologie in Genf, Lausanne, Basel, Marburg sowie in Berlin und war Mitglied in der Zofingia. Theologisch beeinflusst von Leonhard Ragaz, Hermann Kutter und Karl Barth. Nach Ordination Sekretär des CVJM in Zürich als Nachfolger von Eduard Thurneysen, förderte dort die Pfadfinderabteilung. Nach zwei Jahren beim CVJM folgte ein kurzes Vikariat in St. Peter in Zürich, bevor er im Sommer 1915 Pfarrer in Speicher (Appenzell Ausserrhoden) und 1925–1955 in St. Gallen-Tablat wurde. Engagierte sich in der Flüchtlingsarbeit und im Blauen Kreuz. Präsident des schweizerischen kirchlichen Hilfskomitees; initiierte dessen Überführung in das Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz. Pestalozzi, Rudolf (1882–1961), Sohn von Otto Friedrich Pestalozzi, 1905 in dessen Eisenwarenhandlung am Münsterhof eingetreten; Arbeit im CVJM, dort übernahm er 1909–1916 die Redaktion des Vereinsorgans „Die Glocke“, die auch nach Kriegsbeginn 1914 eine kritische und leicht pazifistische Färbung behielt. Befreundet mit Thurneysen und Barth, die er auch unterstützte. In seinem Ferienhaus „Bergli“ oberhalb des

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

Zürichsees verbrachte Barth häufig die Semesterferien. Verheiratet mit Gerty Eidenbenz (1893–1978). Pestalozzi, Theodor (1889–1936) studierte Geschichte, Theologie und deutsche Literatur in Zürich, Berlin und Leipzig. 1917 in Zürich, 1918–1936 Lehrer in Schaffhausen und Zürich; Schwiegersohn von Hermann Kutter. Pfister, Benjamin (1883–1968) studierte in Basel und Berlin Theologie. 1908–1910 Pfarrer in Olten (Aargau), 1910–1914 in Rüderswil (Bern), 1914–1949 Pauluskirche in Bern; 1956–1968 Pfarrer im Berner Burgerspital. Von Leonhard Ragaz geprägt; Interesse für die Anliegen der Arbeiterschaft und des Blauen Kreuzes; mehrere Jahre Redaktor des „Kirchenfreundes. Blätter für evangelische Wahrheit und kirchliches Leben“. Pfisterer, Karl (1878–1948) studierte Theologie in Basel, Berlin und Marburg. Zunächst im Zürcher Kirchendienst: 1902 Vikariat in Wetzikon, 1903 Pfarrer in Zumikon, 1907 nach Windisch (Aargau) und 1924–1942 als Seelsorger des Basler Bürgerspitals. Pletscher, Ernst (1885–1979) studierte Theologie in Basel, Marburg und Berlin. Seit 1908 im Aargau tätig: Kantonshelferamt in Zofingen, 1912 Pfarrer in Glashütten-Murgenthal und 1922 in Kulm, dort auch sechs Jahre Dekan. 1921–1933 Großrat im Aargau (Evangelische Volkspartei). Preiswerk, Adolf (1861–1936) studierte Theologie in Basel, Neuch tel und Tübingen. 1885 Vikariat in St. Gallen, seit 1886 frei angestellter Hilfs- respektive Minoritätspfarrer in Basel, dort 1897–1928 Pfarrer zu St. Peter; u. a. Präsident des Zentralausschusses der Positiven Gemeindevereine, Anhänger Christoph Blumhardts, Beteiligung an verschiedenen Arbeiterorganisationen, z. B. am sozialistischen Abstinentenheim. Preiswerk, Helene, geb. Zäslein (1866–1915), Ehefrau von Pfarrer Adolf Preiswerk. Preiswerk-Zellweger, Richard (1855–1934) studierte in Basel und Tübingen Theologie. Gehilfe eines Predigers der Brüdergemeine im Eulengebirge; 1881–1926 Pfarrer in Umiken bei Brugg (Aargau). Rade, Paul Martin (1857–1940) studierte Theologie in Leipzig; 1881 Lic. theol., 1882 Pfarrer in Schönbach (Oberlausitz), 1892 Frankfurt am Main. 1899 Habilitation für Systematische Theologie in Marburg; dort 1904 außerordentlicher und 1921 ordentlicher Professor in Marburg. 1887–1931 Mitbegründer und Herausgeber der Zeitschrift „Die Christliche Welt“. Ragaz, Leonhard (1868–1945) wuchs in Graubünden auf und studierte in Basel, Jena und Berlin Theologie. Seit 1890 in Graubünden tätig: 1890–1893 Pfarrer am Heinzenberg, 1893–1895 Lehrer an Kantonsschule in Chur, dort 1895–1902 Pfarrer; als Vertreter des Freisinns wurde er 1902 ans Basler Münster berufen, bevor er 1908 Professor für Systematische Theologie und Praktische Theologie in Zürich wurde. Sein Rücktritt von der Professur erfolgte 1921, danach Bildungsarbeit. Er gilt als profiliertester Schweizer Vertreter eines religiösen Sozialismus und bildete eine explizite Reich-Gottes-Theologie aus. Von 1921–1945 war Hauptredakteur der „Neuen Wege“. Rickert, Heinrich (1863–1936) studierte Philosophie, Nationalökonomie und Physiologie in Straßburg. 1888 Dr. phil., 1891 Habilitation in Freiburg im Breisgau und dort außerordentlicher, 1896 ordentlicher Professor für Philosophie, 1915–1932 als Nachfolger Wilhelm Windelbands in Heidelberg. Riggenbach, Eduard (1861–1927) studierte Theologie an der Basler Predigerschule und 1885–1888 an der Universität Basel. 1891 Lic. theol., 1887–1902 Dozentur an der Predigerschule und 1888–1889 im Basler Missionshaus, 1892 Habilitation, 1899 außeror-

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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dentlicher, 1917 ordentlicher Professor für Neues Testament in Basel. Wissenschaftlich wirkte der ab 1876 völlig erblindete Riggenbach als kirchlich-positiver Neutestamentler, der von der Erweckungsbewegung geprägt war und sich gegen die liberale exegetische Kritik wandte. 1904 Dr. theol. h.c. Greifswald. Ritschl, Albrecht Benjamin (1822–1889) studierte Theologie in Bonn; 1843 Dr. phil. in Halle, nach dem Examen 1844–1845 Studium in Heidelberg und Tübingen, 1846 Habilitation in Bonn, 1852 außerordentlicher, 1859 ordentlicher Professor für Neues Testament in Bonn, 1864 in Göttingen Professor für Dogmatik, Kirchen- und Dogmengeschichte. Rolland, Romain (1866–1944), französischer Schriftsteller, der sich zwischen 1882 und 1914 oft in der Schweiz aufhielt. Vertrat einen entschiedenen Antifaschismus und hegte Sympathien für Teile des Kommunismus. 1915 Nobelpreis für Literatur. Rüegg, Annelise (1879–1934) arbeitete in verschiedenen Berufen in der Schweiz und im Ausland; engagierte Sozialdemokratin und Pazifistin; sie hielt mehrere Vorträge in der Schweiz und im Ausland. Ihre erfolgreichste Schrift: „Erlebnisse einer Serviertochter“ (Zürich 1914). Rüetschi, Max (1877–1958) studierte Theologie in Bern und Berlin. Pfarrer in den bernischen Gemeinden Trub (1903–1906) und 1906–1942 in Stettlen; langjähriger Mitredaktor beim „Kirchenblatt für die reformierte Schweiz“. Sandreuter, Karl (1879–1971) studierte Theologie in Basel und Marburg. 1904–1913 Pfarrer in Langenbruck, 1913–1949 in Frenkendorf-Füllinsdorf (beide Basel-Landschaft); Redaktor des Baselbieter Kirchenbotens. Schaefer, Albert (1878–1934) studierte Theologie und Philosophie in Basel, Marburg und Greifswald. Dr. phil., 1905–1934 Pfarrer in Schinznach (Aargau). Schild, Paul Alexander (1884–1966) studierte Theologie in Basel und Marburg. 1906 Pfarrer in Uerkheim (Aargau) und 1930 in Dürrenroth (Bern). Schlatter, Adolf (1852–1938) studierte Theologie, Philosophie und Arabisch in Basel und Tübingen. Nach pfarramtlichen Diensten in der Schweiz 1880 Privatdozent, 1888 außerordentlicher Professor für neutestamentliche Exegese und Dogmengeschichte in Bern, 1888 ordentlicher Professor in Greifswald, 1893 in Berlin und 1898–1922 in Tübingen. Schmidt, Paul Wilhelm (1845–1917) studierte Theologie und Philosophie in Berlin und Halle; 1865 Dr. phil., 1867 Lic. theol., 1871 Habilitation in Berlin für Neues Testament, 1876–1917 Professor für Neues Testament in Basel. Wichtiger Vertreter des theologischen Liberalismus und Mitglied des Deutschen Protestantenvereins. Schmidt, Theodor (1870–1960), Studium am Theologischen Seminar der Brüdergemeine in Gnadenfeld; 1896 bis 1904 zweiter Prediger (Brüderpfleger) in der Basler Brüdersozietät, 1904–1914 Vorsteher der Berner Brüdersozietät, 1907 Übernahme in den bernischen Kirchendienst. Von Friedrich Naumann beeinflusst, suchte er Anschluss an die religiös-soziale Bewegung; ging schließlich von Bern nach Niesky, um dort dem Diakonissenhaus Emmaus vorzustehen. Schüle, Walther (auch Schühle und Schühli) (1889–1919) studierte Theologie. 1913–1919 Pfarrer in Müllheim (Thurgau); Frühjahr 1919 psychische Erkrankung; November 1919 Pfarrer in Feldis-Scheid-Trans (Graubünden), 23. 12. 1919 Suizid. Schulthess-Rechberg, Gustav von (1852–1916) studierte in Basel, Leipzig, Zürich und Tübingen. 1878 Pfarrer in Witikon, 1883 in Küsnacht (beide Zürich); 1885 Privatdo-

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

zent und 1890 Professor für Systematische Theologie und Dogmengeschichte in Zürich, 1899–1916 Kirchenrat. Vertreter der Positiven in Zürich und Freund der „Christlichen Welt“. Schwarz, Rudolf (1879–1945) studierte in Genf, Basel und Marburg. Vikariat in Marseille, 1904 als Pfarrer in Basadingen-Schlattingen (Thurgau); übersetzte dort für Paul Wernle die Briefe Calvins; 1916–1924 Pfarrer in Münchenstein (Basel-Landschaft); zeitweilig Redaktor der Wochenschrift „Das Blaue Kreuz“; für die religiös-soziale Bewegung wie auch für das Frauenstimmrecht engagiert. Spleiss, David (1786–1854) studierte Theologie in Tübingen, 1809–1812 Hauslehrer in den Niederlanden, 1812 Professor für Mathematik und Physik am Collegium humanitatis in Schaffhausen, 1813–1841 Pfarrer in Buch (Schaffhausen); schloss sich 1817 der Erweckungsbewegung an. 1841 Pfarrer in Schaffhausen und Antistes, 1842 Dekan. Staehelin, Ernst (1889–1980) studierte Theologie in Basel, Göttingen und Berlin; nach dem Examen 1913 zudem in Marburg. Nach seiner Habilitation 1916 in Basel war er zunächst Pfarrer in Thalheim und Olten und anschließend seit 1924 außerordentlicher, von 1927–1961 ordentlicher Professor für neuere Kirchen- und Dogmengeschichte an der Universität Basel. Als Nachfolger von Paul Wernle seit 1936 Lektor des Frey-Grynaeums. Stähelin, Maria Margaretha (Margrit) (1870–1959) war eine Freundin von Paul Wernle und arbeitete mit ihm zusammen als Übersetzerin und Editorin. Sie ist die Tochter von Wernles Lehrer und Vorgänger Rudolf Stähelin und veröffentlichte zahlreiche literarische Werke. Stähelin-Mäglin, Max (1880–1968), Dr. phil., Wirtschaftsjurist, war u. a. Direktor der Schweizerischen Treuhandelsgesellschaft, 1928 Präsident des Schweizerischen Bankvereins und 1944 Präsident der Ciba (heute Novartis). Stapfer, Philipp Albert (1766–1840) war in der Helvetischen Republik Minister der Wissenschaft und Künste, maßgeblich mit der Schaffung des neuen Kantons Aargau beschäftigt. Seine zweite Lebenshälfte verbrachte er in Frankreich, wo er mit der Erweckungsbewegung in enger Verbindung stand und sich für diakonische und religiöse Einrichtungen einsetzte. Nach 1815 zählte er zu den Wortführern des französischen Protestantismus. Straub, Karl (1890–1962) studierte Theologie in Zürich und Marburg. Pfarrer in Bremgarten (Aargau) und Arbon (Thurgau); legte 1919 das Pfarramt nieder und wurde Sekretär der neu gegründeten „Stiftung zur Förderung alkoholfreier Wirtschaften und Gemeindestuben“. Beeinflusst von Leonhard Ragaz setzte er sich für soziale Belange und die Volksbildung ein. Straumann, Johann Jakob (1850–1939) studierte in Basel und Leipzig. 1874 Pfarrer in Liestal (Basel-Landschaft) und zugleich Rektor der Sekundarschule, 1875–1884 Pfarrer in Muttenz (Basel-Landschaft), 1884–1922 in Dübendorf (Zürich). Strauß, David Friedrich (1808–1874) studierte Theologie in Tübingen. Vikariat in Kleiningersheim, 1831 Dr. theol., 1832 Repetent im Tübinger Stift, 1839 Berufung auf die Dogmatik-Professur in Zürich und sofortige Pensionierung nach Protesten aus kirchlich-konservativen Kreisen („Straußenhandel“); fortan Privatgelehrter und Schriftsteller mit deutlichen Einflüssen auf den Schweizerischen theologischen Freisinn.

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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Stückelberger, Lukas (1869–1954), nach seiner Ordination mehrere Vikariate; war u. a. 1894–1899 Stadtmissionar in Außersihl (Zürich), 1899–1908 Pfarrer im Toggenburger Oberhelfenschwil, 1908–1912 Schwamendingen-Oerlikon und 1912–1938 Pfarrer in Winterthur (beide Zürich); Mitredakteur der „Neuen Wege“. Von Blumhardt beeinflusst zählte er zu den Mitbegründern der religiös-sozialen Bewegung in der Schweiz. Tholuck, Friedrich August Gottreu (1799–1877) studierte Theologie in Berlin. 1821 Habilitation, 1823 außerordentlicher Professor in Berlin, ordentlicher Professor in Halle. Wichtige kirchenpolitische Persönlichkeit und Theologe der Erweckung. Thurneysen, Dorothea Margaretha (1917–1995), Tochter von Eduard und Marguerite Thurneysen. Thurneysen, Eduard (sen.) (1856–1931) studierte in Basel und Tübingen. 1878–1884 Pfarrer in Kilchberg-Rünenberg-Zeglingen (Basel-Landschaft), 1885–1892 in Walenstadt (St. Gallen), 1892–1897 Hilfspfarrer und 1897–1924 Pfarrer am Bürgerspital Basel. Thurneysen, Elisabeth (1897–1975), Schwester von Eduard, war Missionarin in China und mit Heinrich Wyder (1894–1968) verheiratet. Thurneysen, Marguerite, geb. Meyer (1893–1995), Ehefrau von Eduard Thurneysen; Cousine des Basler Theologen Fritz Lieb. Thurneysen, Peter Wilhelm (1891–1964), Bruder von Eduard Thurneysen, studierte Theologie in Basel und Marburg, fügte aber philosophische und pädagogische Studien an. Nach dem Mittellehrerexamen zwei Jahre Lehrer am Basler Humanistischen Gymnasium; Pfarrer 1920–1925 Safien-Platz (Graubünden), 1925–1928 Walzenhausen (Appenzell Außerrhoden), 1928–1936 Davos-Platz (Graubünden) und 1936–1958 dann in Obfelden (Zürich), 1947 Dekan; eng mit dem Blauen Kreuz verbunden. Tiedje, Johannes (1879–1946) studierte Theologie, Philosophie und Nationalökonomie. Nach Erzieherstelle 1910–1915 Pfarrer in Königsberg (Preußen), Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und Freimaurer, 1922–1933 Ministerialbeamter im Reichsinnenministerium, 1933–1936 Mitarbeiter im Reichsarchiv; später Landrat in Flensburg. Entschiedener Gegner ethnischer Vermischung. Tischhauser, Emanuel (1868–1943) studierte in Basel und Greifswald. In Graubünden 1893–1907 Pfarrer in Seewis und Hilfslehrer am Gymnasium in Schiers (Graubünden), 1908–1911 Pfarrer in Pratteln-Augst (Basel-Landschaft) sowie 1911–1942 in ZürichAussersihl und eng mit Hermann Kutter, Hans Bader und Emil Brunner befreundet. Tobler, Anna Clara (1871–1944) war Fachlehrerin für Deutsch, Französisch und Englisch. Diss. phil. Zürich, Professorin an der Töchterschule in Zürich. Tobler, Johannes (1771–1829) war Jurist und zur Zeit der Helvetik zuerst Sekretär des Regierungsstatthalters und wurde 1799 zum öffentlichen Ankläger (Staatsanwalt) ernannt. Nach dem Sturz der Helvetik wurde das Amt des öffentlichen Anklägers durch dasjenige des Kantonsfürsprechers ersetzt, das Tobler von 1805 bis zu seinem Tod innehatte. Tobler, Salomon (1794–1875) studierte Theologie in Zürich. Im Kanton Zürich 1816 Pfarrvikar in Mönchaltdorf, Wülflingen und Wädenswil, 1819–1826 in Sternenberg, 1840–1864 in Embrach. Liberaler Zürcher Theologe, der auf Seiten von David Friedrich Strauß während des Züriputsches stand. Troeltsch, Ernst Peter Wilhelm (1865–1923) studierte in Augsburg, Erlangen, Berlin und Göttingen Theologie. Vikariat und Diss. theol., 1891 Habilitation, 1892 Extraordinarius in Bonn, 1894 ordentlicher Professor für Systematische Theologie, 1909 auch Kultur-

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Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

und Religionsphilosophie, 1915 Lehrstuhl für Religions-, Sozial-, Geschichtsphilosophie und christliche Religionsgeschichte. Vertrat eine sozialhistorisch fundierte Kulturwissenschaft des Christentums; lebenslange Freundschaft mit Paul Wernle. Uhland, Ludwig (1787–1862) studierte in Tübingen Jura und Sprachen. 1810 Dr. jur., 1810–1814 Sekretär im Justizministerium und Rechtsanwalt in Stuttgart, 1829–1838 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Tübingen, dann Privatgelehrter und Dichter. 1848 Abgeordneter im deutschen Nationalparlament. Vischer, Wilhelm Eberhard (1891–1929) war Jurist und Bruder von Wilhelm Eduard Vischer. Vischer, Wilhelm Eduard (1895–1988) studierte Theologie in Lausanne, Basel und Marburg. 1918 Pfarrer in Tenniken-Zunzgen (Basel-Landschaft), 1928 Dozent für Altes Testament an der Theologischen Schule in Bethel, bevor er 1933 aus politischen Gründen von seinem Amt zurücktreten musste und in die Schweiz zurückkehrte; 1934–1936 Pfarrer in Lugano (Tessin), 1936–1947 Pfarrer und Privatdozent in Basel, 1947–1965 Professor in Montpellier. Waldburger, August (1871–1947) studierte Theologie in Basel, Tübingen, Zürich und Berlin. Nach Vikariaten 1897 Pfarrer in Marthalen (Zürich), 1905 in Ragaz (St. Gallen), 1916–1936 nach heftigem Wahlkampf als dezidiert Freisinniger in der Elisabethengemeinde in Basel. Weinel, Heinrich (1874–1936) studierte Theologie in Gießen und Berlin; 1898 Dr. phil. und Lic. theol. in Gießen, 1899 Habilitation in Berlin, 1900 Privatdozent in Bonn, 1900–1904 Stiftsinspektor in Bonn, 1904 außerordentlicher, 1907 ordentlicher Professor für Neues Testament in Jena, 1925 Wechsel auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie. Weiß, Johannes (1863–1914) studierte Theologie in Marburg, Berlin und Göttingen. 1888 Habilitation für Neues Testament, 1890 außerordentlicher Professor für Neues Testament in Göttingen, 1895 ordentlicher Professor in Marburg, 1908 in Heidelberg; zählte zur Religionsgeschichtlichen Schule Wernle-Nussberger, Anna Maria (1868–1948), zweite Frau von Paul Wernle seit 1924. Wernle, Christian Carl (1856–1916), Bruder von Paul Wernle, Drogist und Chemiker. Wernle, Dorothea Margaretha, Tochter von Paul Wernle. Wernle, Hans Christian (1902–1989), Sohn von Paul Wernle. Dr. phil. und Lehrer am Humanistischen Gymnasium in Basel. Wernle, Marie Elisabeth, geb. Liechtenhan (gest. 1922), erste Ehefrau von Paul Wernle und Schwester von Rudolf Liechtenhan. Wernly, Rudolf (1846–1925) studierte in Basel, Zürich und Göttingen Theologie. Im Aargau 1870–1871 Vikar in Windisch, 1872–1876 Pfarrer in Riken (Murgenthal) und 1876–1881 in Kirchberg und 1882–1918 in Aarau. War gemeinnützig und schriftstellerisch tätig. Wieser, Gottlob (1888–1973) studierte in Basel, Marburg und Berlin. 1910 Pfarrer in Nussbaumen (Thurgau), 1914–1920 Pfarrhelfer in Binningen (Basel-Landschaft), 1920–1937 Pfarrer in Wattwil (St. Gallen), 1937–1954 Pfarrer in Riehen-Bettingen (Basel-Stadt) und seit 1937 Redaktor des Kirchenblattes für die reformierte Schweiz. Windelband, Wilhelm (1848–1915) studierte in Jena, Berlin und Göttingen Medizin, Naturwissenschaften sowie Geschichte und Philosophie. 1870 Promotion in Göttingen, 1873 Habilitation in Leipzig, 1876 ordentlicher Professor für Philosophie in Zürich,

Biogramme der in den Briefen erwähnten Personen

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1877 in Freiburg im Breisgau, 1882 in Straßburg, 1903 Heidelberg. Begründer der Badischen Schule des Neukantianismus und bedeutender Philosophiehistoriker. Wirth, Werner (1886–1961) war Pfarrer 1913–1915 in Bremgarten-Wohlen (Aargau) und Flawil (St. Gallen), Heinzenberg (Graubünden) und in Meisterschwanden-Fahrwangen (Aargau); 1919 Armeninspektor in Zürich, Buchhändler, Verleger, Redaktor; gründete 1926 die evangelische Wochenzeitschrift „Leben und Glauben“, 1932–1940 Rückkehr ins Pfarramt in Azmoos (St. Gallen). Anhänger der schweizerischen Nationalsozialisten. Er wurde Anfang 1941 verhaftet und reiste nach der Haftentlassung illegal nach Deutschland aus. Bei seiner Rückkehr nach Kriegsende wurde er verhaftet und 1947 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Wirz, Hans (1877–1918) studierte in Basel und Marburg Theologie, war zunächst Lehrer in den herrnhutischen Anstalten in Niesky, dann von 1902–1909 Pfarrer in Staufberg (Aargau) und 1909–1918 in Rorschach mit Sitz in Goldach (St. Gallen). Er stand dem Pietismus nahe und trat schriftstellerisch hervor. Die Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion sowie die Teylersche Gesellschaft für Gottesgelehrtheit ehrten ihn zweimal mit Preisen. Wirz, Jakob (1870–1944) studierte in Basel und Marburg. 1897–1911 Pfarrer in Benken (Basel-Landschaft) und 1911–1940 Hausvater am Alumneum in Basel, seit 1932 Lektor für Hebräisch an der Universität Basel; redigierte 1912–1943 den „Pfarrer-Kalender für die reformierte Schweiz“ und war 1915–1928 Redaktor des „Kirchenblattes“; 1917 Dr. theol. h.c. Basel. Zickendraht, Karl (1883–1948), 1909–1917 Pfarrer in Veltheim (Aargau), Habilitation und Privatdozent in Basel. Eine Erkrankung machte ihn indes früh berufsunfähig; engagierte sich im sozialen Bereich, arbeitete vor allem exegetisch und legte zahlreiche Publikationen vor. Zimmerli, Emil (1878–1914) war zunächst Kaufmann und seit 1902 Generalsekretär des CVJM. Nach dem Theologiestudium war er von 1912–1914 Pfarrer in Diegten-Eptingen (Basel-Landschaft); verstarb an den Folgen eines Autounfalls. Zimmerlin, Franz (1889–1939) studierte in Basel, Berlin und Heidelberg Theologie. 1911–1912 Vikar in Schaffhausen-Steig und 1913–1931 Pfarrer im Ziefen-Lupsingen-Arboldswil (Basel-Landschaft). Zimmermann, Arnold (1872–1951) studierte in Zürich, Basel, Halle und Berlin Theologie. Vikariat 1895–1897, 1897 im Kanton Zürich Pfarrer in Weiach, 1903 als Nachfolger seines Bruders Theophil in Rorbas-Freienstein und 1913–1940 in Zürich am Neumünster. Mitglied und Präsident des Kirchenrates, Redaktor des „Kirchenfreundes“ und 1937 Dr. theol. h.c. Zürich. Zollinger, Hans-Albert (1876–1959) studierte in Zürich und Berlin. Nach Vertretungen 1901 Pfarrer in Seuzach (Zürich), 1907 Diasporagemeinde im Kanton Zug, 1917–1942 Altstetten (Zürich). Zurhellen, Otto (1877–1914, gefallen) studierte Theologie in Bonn und Berlin. 1902 Vikar in Bergisch Gladbach, 1903 Promotion in Bonn, 1904 Pfarrer in Seelscheid (Bergisches Land), 1909 in Frankfurt am Main; Schwiegersohn von Otto Pfleiderer (1839–1908) und Ehemann der Harnack-Schülerin Else Zurhellen-Pfleiderer (1877–1937).

V. Abkürzungsverzeichnis1 Die Abkürzungen richten sich nach Siegfried M. Schwertner: Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin, New York 21994. Weitere bibliographische Abkürzungen sind im Folgenden verzeichnet. Bajohr: Bibliographie

Klaus Bajohr: Bibliographie der Thurneysen-Bibliothek, Berlin 1991 Bajohr: Ursprung Klaus Bajohr: Zum Ursprung der Theologie Karl Barths in der schweizerischen religiös-sozialen Bewegung. 1. Teil. Die religiös-soziale Bewegung am Beispiel Max Gerbers und Emil Brunners, Diss. phil., Berlin 1994 Barth – Rade Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, hg. von Christoph Schwöbel, Gütersloh 1981 Barth – Thurneysen 1 Karl Barth – Eduard Thurneysen. Briefwechsel, Bd. 1: 1913–1921, hg. von Eduard Thurneysen, Zürich 1973 Barth: Vorträge 1909–1914 Karl Barth: Vorträge und kleinere Arbeiten 1905–1909, hg. in Verbindung mit Herbert Helms von Hans-Anton Drewes und Hinrich Stoevesandt, Zürich 1992 Barth: Vorträge 1914–1921 Karl Barth: Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921, in Verbindung mit Friedrich-Wilhelm Marquardt (†) herausgegeben von Hans-Anton Drewes, Zürich 2012 Basilea reformata Basilea reformata 2002, hg. von den Kirchenräten der Evangelisch-reformierten Kirchen Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Basel/Liestal 2002 Basler Jahrbuch Basler Jahrbuch, hg. von Albert Geßler und August Huber, Basel o. J. Busch: Lebenslauf Eberhard Busch: Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten, München 41986 Glockenhof Zürich Verankert im Zentrum von Zürich. 100 Jahre Glockenhof Zürich, hg. von Caroline N. Klopfenstein, Hansjürg Büchli und Karl Walder im Auftrag der Stiftung zum Glockenhaus, Zürich 2011 Grimm Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1860, München 1984 HBLS Historisch-biographisches Lexikon der Schweiz, 7 Bde., Neuenburg 1921–1934 HLS Historisches Lexikon der Schweiz, Basel 2002–2014 1 Orientiert sich an Siegfried M. Schwertner: Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin/New York 21994.

Abkürzungsverzeichnis Idiotikon KBRS Mattmüller I

Mattmüller II

Nöthiger-Strahm: Protestantismus

NW Özen: Bousset

Pfarrer-Kalender Ragaz: Briefe StABS StAZH Stückelberger: Pfarrerschaft Suchet Gott Thurneysen: Wort Gottes Troeltsch KGA Troeltsch: Soziallehren Wernle: Autobiographie

Zürcher Pfarrerbuch

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Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 1 ff., Frauenfeld 1881 ff. Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 1845 ff. Markus Mattmüller: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Bd. 1: Die Entwicklung der Persönlichkeit und des Werkes bis ins Jahr 1913, Zollikon 1957 Markus Mattmüller: Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Bd. 2: Die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen, Zürich 1968 Christine Nöthiger-Strahm: Der deutsch-schweizerische Protestantismus und der Landesstreik von 1918. Die Auseinandersetzung der Kirche mit der sozialen Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bern [u. a.] 1981 Neue Wege. Blätter für religiöse Arbeit, 1906ff Alf Özen: Wilhelm Bousset und Paul Wernle. Eine Freundschaft im Spannungsfeld von Glaube und Wissenschaft, in: Frühes Christentum und Religionsgeschichtliche Schule. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerd Lüdemann, hg. von Martina Janßen u. a., Göttingen 2011, 174–191 Pfarrer-Kalender für die reformierte Schweiz, Basel 1919–1990 Ragaz in seinen Briefen, Bde. 1 und 2, hg. von Christine Ragaz u. a., Zürich 1966–1982 Staatsarchiv Basel-Stadt Staatsarchiv Zürich Hans Martin Stückelberger: Die evangelische Pfarrerschaft des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1971 Karl Barth und Eduard Thurneysen: Suchet Gott, so werdet ihr leben, Bern 1917 Eduard Thurneysen: Das Wort Gottes und die Kirche. Aufsätze und Vorträge, München 1927 Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1998 ff. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. (Gesammelte Schriften, Bd. 1), Tübingen 1912 Paul Wernle: Autobiographie, in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Erich Stange, Bd. 5, Leipzig 1929, 207–251 Zürcher Pfarrerbuch 1519–1952, hg. von Emanuel Dejung und Willy Wuhrmann, Zürich 1953

VI. Personenregister

Altwegg, Ernst 240 Ammann, Guido Emanuel 300 Andermatt, Joseph Leonz 152 Angell, Norman 242 Arbenz, Carl 240 Arndt, Ernst Moritz 10, 319 Arnold, Eberhard 73 Augustinus von Hippo 123 Bachofen, Johann Caspar 195 Bachofner, Hans 164 Bader, Hans 26, 73, 152, 159, 162, 179, 189, 215, 221, 240 Bär, Karl 240 Barth, Albert 42, 118 Barth, Christian Gottlob 316 Barth, Heinrich 185 Barth, Helene (geb. Rade) 66, 260 Barth, Johann Friedrich (Fritz) 44 f., 168 Barth, Karl 14, 16, 29, 32 f., 49, 54, 62 f., 65–69, 72–80, 94, 120, 150, 155, 166, 179, 185, 187, 192, 200–202, 204, 209, 211, 213, 215, 217, 222, 225, 239–241, 246, 248 f., 251, 260, 262, 276–279, 282–285, 288, 290, 295, 300, 305, 310, 313, 323, 325–328, 336 f., 345, 348, 355–358 Barth, Nelly (geb. Hoffmann) 166, 185 Barth, Peter 54, 61, 65 f., 80, 89, 93 f., 97, 168, 172, 222, 260, 272, 275 f., 290, 348–350 Baudraz, John 275, 279 Baumann, Emma 180 Baumgarten, Otto 32, 292 Baur, Ferdinand Christian 165 Baur, Hans 29, 284 f. Beck, Johann Tobias 19, 36 Benz, Gustav 57, 68, 70, 77, 115, 155, 158, 184, 213, 222 f., 232, 260, 271, 273, 303

Bergson, Henri 224 f. Bernoulli, Carl Albrecht 45 Bismarck, Otto von 68, 150 Blumhardt, Christoph 52–54, 60, 75, 77, 82 f., 120, 128 f., 131, 147, 155, 158, 168, 171, 248, 260, 278, 285, 319, 337, 364, 366 Blumhardt, Johann Christoph 36, 285, 316 f. Blüss, Elise 52 Böhringer, Paul 25, 46 Bolliger, Adolf 29, 34, 43–46 Bonaparte, Napoleon 149 Bornemann, Wilhelm 45 f. Bornhausen, Karl 94, 320 Bossert, Eugen 113 Bousset, Wilhelm 17, 42, 94, 101, 219 f., 257, 259, 292 Braun, Lily 143 Brückner, Martin 220 Brunner, Emil 63, 79, 159, 223–225, 227–230, 246, 310, 323, 361 Buhofer, Fritz 97 Bullinger, Heinrich 123 Bultmann, Rudolf 73, 112, 361 Burckhardt, Abel 151 Burckhardt, Jacob 40–42 Burckhardt, Paul 40, 42, 102, 159, 284 Burckhardt-Lüscher, Anna 156, 159, 181, 209 Burckhardt-Pfisterer, Friedrich Rudolf (Fritz) 115, 126, 147 f., 151, 181, 193, 210, 254, 336 Burckhardt-Schazmann, Carl Christoph 19 Calvin, Johannes 15 f., 54, 71, 89, 121, 169, 172, 188 f., 220, 317, 319, 321 f., 328, 339, 356, 362

Personenregister Carlyle, Thomas 166 Cassirer, Ernst 55 ˇ ejka, Karl 366 C Christ, Lukas 111, 299 f. Cohen, Hermann 53 f., 56, 84, 88, 90, 92, 98, 172, 224 f. Cromwell, Oliver 116–119, 121, 123, 160, 225 David, Heinrich 45 Debrunner, Paul-Rudolf 163 Dehn, Günther 73 Deißmann, Gustav Adolf 32, 55, 203 Dibelius, Martin 220 Dieterle, Samuel 75 Dietsche, Eduard 184 Dietschi, Jakob Max 62, 185, 187 f., 192, 200 f., 207, 211, 213, 218, 243, 249, 251–253, 264, 302, 305, 334 f. Dilthey, Wilhelm 121 Dorner, Isaak August 39 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 77, 79, 346, 351 f. Duhm, Bernhard 17, 41, 46, 53 f., 56, 83, 230, 247 Ebrard, Johannes Heinrich August 38 f. Eddy, Mary Baker 180 Egli, Emil 44 Egli, Karl G. 126, 134, 148, 197 f., 294 f., 320 Ehrenberg, Hans 74 Epprecht, Robert 295 Erasmus von Rotterdam 185 Ernst, Paul 113 Eucken, Rudolf Christoph 224 f. Evi (?) 100 Farner, Oskar 32, 189 f., 334 Fast, Abraham 114 Federer, Heinrich 71 Feuerbach, Ludwig 40 Ficker, Johannes 44 f. Finsler, Rudolf 159 Fischer, Walther 112 Flatt, Robert 281

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Foerster, Friedrich Wilhelm 264 Forel, Auguste 23 Fox, George 160 Friedrich Wilhelm IV. 319 Fries, Jakob Friedrich 85, 94 f. Fröhlich, Abraham Emanuel 37 Fröhlich, Edmund 38, 175 Fromm, Tobias 322 Fueter, Karl 76 f. Gauß, Karl 164 Gelzer, Heinrich 89, 118, 145 Gerber, Max 50, 55 f., 58, 68, 71, 107, 142, 146, 149–151, 222, 228, 276, 291 Gerhardt, Paul 129, 131, 182, 251, 320 Gerwig, Max 276 Geyer, Wilhelm 240 Goethe, Johann Wolfgang von 143, 150 Gogarten, Friedrich 73, 79 Goldschmid, Theodor 240 Gotthelf, Jeremias (Albert Bitzius) 340, 351 Götz, Karl Gerold 20 Graf, Ernst 302 Greulich, Herman 26 f. Greyerz, Karl von 65, 104, 135, 152, 179, 184, 209 f., 217, 219, 222, 284, 287, 297, 300, 332, 355 Grob, Rudolf 322 Häberlin, Paul 34, 48, 56, 300 Hadorn, Wilhelm 76 f. Häfeli, Johann Kaspar 155, 158 Haffter, Eugen 189, 211, 317, 331 Handmann, Rudolf 57, 85 Häring, Theodor 32, 292 Harnack, Adolf von 17, 32, 42, 55, 235 Hartmann, Benedikt 42, 100, 103, 161, 194, 209, 222, 228 Hauptmann, Gerhard 236 Hauri, Ernst 294 Hauri, Hans 133 Hausmann, Julie von 288 Hausrath, Adolf 316 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 40 Heidrich, Ernst Friedrich Rudolf 244

390

Personenregister

Heim, Karl 225 Heitmüller, Wilhelm 13, 54 f., 85, 88, 90, 99, 162, 257, 292 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 317 Hermann, Theodor 158, 161 Hermelink, Heinrich 244 f. Herrmann, Wilhelm 17, 53 f., 60, 62, 84 f., 88, 90–94, 97 f., 236, 292, 303 f. Hess, Johann Jakob 151 Hess, Paul Diethelm 151 Hoch, Fritz 150, 295, 300 Hofacker, Ludwig 316 f. Hoffmann, Heinrich 320 Hoffmann, Ludwig Friedrich Wilhelm 317 Hoffmann, Robert 185 Högger, Paul 181, 192, 239 Holl, Karl 32, 55, 292 Holzer, Christian 97, 99, 133 Humbert-Droz, Jules 326 Ibsen, Henrik

143

James, William 53 f. Jatho, Carl Wilhelm 58, 112, 115 Jesaja 149, 355 Jesus Christus 13, 21, 26, 39, 47, 58, 68, 84–86, 90, 93, 107 f., 111–113, 116, 124, 127–131, 133, 136 f., 141, 146, 149, 162, 168, 170, 173, 179, 182 f., 187 f., 203, 209 f., 214, 217, 220, 222, 226, 251 f., 257 f., 261–263, 270 f., 275, 277–280, 282–285, 289, 291 f., 295, 303, 306, 319, 326, 344 f., 349, 352, 358–360 Johannes (Evangelist) 43, 180, 187 Judas 342 f. Jülicher, Adolf 13, 32, 54 f., 85, 88 f., 291 f., 360 Juzi, Viktor 159 Kaftan, Julius 55, 112 Kant, Immanuel 84, 91 f., 95, 104, 177, 224 f., 262 Kapff, Sixt Carl 36, 316 Keller, Adolf 356 Kierkegaard, Søren 345

Knapp, Albert 316 Knellwolf, Arnold 280 Koerber, Albrecht Ludwig Heinrich 200 f., 204, 218 Köhler, Walther 32, 76 f., 134, 226 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch 72 Kutter, Hermann 26–28, 60, 63 f., 66, 69 f., 77, 79, 128 f., 131, 134, 136–141, 152–155, 157–159, 172, 179, 221, 226, 239, 242–245, 247 f., 255, 257, 261, 282, 286, 305–308, 326 Kutter, Lydia (geb. Rohner) 138 Lauterburg, Otto 217 Lavater, Johann Kaspar 151, 153 f., 156, 166, 177, 186, 195, 210, 364 Lejeune, Robert 320 Lenin, Wladimir Iljitsch 29 Lessing, Gotthold Ephraim 284 Lhotzky, Heinrich 60, 147 Lieb, Fritz 60, 66, 80, 279 Liechtenhan, Eduard August 101 Liechtenhan, Rahel Elisabeth (geb. Burckhardt) 100 Liechtenhan, Rudolf 33, 42, 55, 73, 103, 132 f., 156, 213, 221, 299 Lietzmann, Hans 289 Linder, August 53, 82 Loew, Liese (geb. Naumann) 262 Loew, Wilhelm 225, 262 Loofs, Friedrich 235 f., 292 Lüdemann, Hermann 89, 92, 98 Ludwig, Gottfried 150 Lüssy, Felix 275 Luther, Martin 58, 60, 84, 98, 116, 118, 127–129, 137, 149, 151, 168, 185 f., 220, 226, 232, 309, 314, 321, 328, 331, 355 Marbach, Otto 236 Märklin, Christian 71, 316 Markus (Evangelist) 138, 233, 306 Markwart, Otto 40 f. Martz, Hans 150 Matthieu, Jean 140 Maurer, Adolf 240 Meinhold, Peter 50 f.

Personenregister Menken, Gottfried 316 f. Merz, Albert 190 Merz, Erwin 169 Merz, Georg 80, 314 Meyer-Lieb, Paul 266 Mezger, Paul 19–21, 55, 85 Moppert, Oscar 175, 280, 290, 300, 364 Mott, John Raleigh 310 Mülinen, Helene von 24 Müller-Dalang, Robert 21 f. Müller, August 174, 192 Müller, Johann Georg 151 Müller, Johannes 162 Müller, Julius Friedrich 200 f., 218 Natorp, Paul 53, 84, 92, 172, 224, 317 f. Naumann, Friedrich 54, 56, 66, 68, 125 f., 141, 154, 157, 248, 251, 260, 262 Nelson, Leonhard 94 Nietzsche, Friedrich 49, 136, 143, 344, 346 Nigg, Walter 76 Nikodemus 358 Nil, Martin 258 Nüesch, Alexander 175 Orelli, Hans Conrad 19, 41 Otto, Rudolf 34, 94 Overbeck, Franz 45, 49, 78 f., 345, 347 Pascal, Blaise 38, 199 Paulus (Apostel) 13, 42, 85, 96, 99, 136 f., 188, 203 f., 257, 282, 292, 307 f. Pavlinec, Stefan 366 Pestalozzi, Friedrich Otto 254 Pestalozzi, Gerty (geb. Eidenbenz) 64 f., 70, 75 Pestalozzi, Johann Heinrich 207, 284 f., 304 Pestalozzi, Lydia Verena (geb. Kutter) 226 Pestalozzi, Paul Richard 150, 159, 166, 185, 210, 226, 265 Pestalozzi, Rudolf 14, 59, 62–77, 79–81, 147 f., 209, 222, 226, 247, 270 f., 275, 290, 294 f., 310 Pestalozzi, Theodor 72, 226

391

Petzold, Gertrude von 23 Pfister, Benjamin 149 Pfister, Oskar 27 Pfisterer, Karl 66 f., 154, 156, 209, 264, 270 f. Pflüger, Paul 26 Pletscher, Ernst 241 f., 246 Preiswerk, Adolf 130, 183 f., 254, 281, 299, 337 Preiswerk, Helene (geb. Zäslein) 254 f. Preiswerk, Richard 188, 215 Probst, Jakob 53, 82 Rade, Martin 32 f., 35, 54, 65 f., 88, 90, 97, 123, 188 f., 194, 200, 234, 240, 260, 262, 283, 292 Ragaz-Nadig, Clara 24, 35, 157, 244 Ragaz, Leonhard 16 f., 27–31, 33–35, 55 f., 59–61, 63–66, 68, 70, 73 f., 77, 80, 96, 103, 121, 124 f., 127–130, 132, 134, 137, 140, 142, 146–149, 152–155, 157 f., 163, 165, 167 f., 170, 172, 179, 183, 188, 204, 213, 221 f., 224 f., 232, 236, 239 f., 248, 257, 275, 279, 283, 285, 298, 305, 310 Rickert, Heinrich 225 Riggenbach, Eduard 43, 169 Ringier, Karl Ludwig 37 Ritschl, Albrecht 42, 57, 85, 92, 303 Rittelmeyer, Friedrich 114 Robertson, Frederick William 289 Rochat, Louis-Lucien 249 Rohrbach, Paul 248 Rolland, Romain 236 Rosa (?) 161 Rösch, Friedrich 249 Rothe, Richard 309 Rousseau, Jean-Jacques 258 Rüegg, Annelise 203 Rüetschi, Max 158, 194, 240 Salis, Arnold von 42 Sandreuter, Karl 300 Savonarola, Girolamo 181 Schädelin, Adolf 65 Schaefer, Albert 164, 262, 264

392

Personenregister

Schild, Paul Alexander 182, 295, 300 Schlatter, Adolf 23, 38 f., 123, 133, 289, 292 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 13, 41, 55, 57, 85 f., 90 f., 93, 95, 106, 121, 225, 230, 262, 300 Schmidlin, Johannes 195 Schmidt, Karl Ludwig 33 Schmidt, Paul Wilhelm 43, 46, 169 Schmidt, Theodor 96, 178, 222 Scholz, Heinrich 121 Schüle, Walther 148, 150, 188, 341 Schulthess-Rechberg, Gustav von 236 Schulthess, Johannes 178 Schwarz, Rudolf 30, 112, 121, 152 f., 194 f., 322 Siebeck, Paul 43, 114, 116, 246, 291 Simmel, Georg 55 Sohm, Rudolf 126 Spiero, Heinrich 150 Spieß, Paul 90 Spleiss, David 317 Staehelin, Ernst 14, 33, 47, 53–55, 57–60, 66, 69–73, 77–81, 112, 115, 134, 209, 225, 236, 290, 317, 332 Stähelin-Mäglin, Max 181 Stähelin, Margrit 229 Stähelin, Maria Margaretha 160, 166, 181 Stähelin, Rudolf 33, 43–46 Stange, Erich 348 Stapfer, Philipp Albert 166, 186, 190 Steiner, Rudolf 78 Stoecker, Adolf 36 Straub, Karl 182 f., 186 Straumann, Johann Jakob 188 Strauß, David Friedrich 38, 40, 71, 165 f., 316 Stückelberger, Lukas 140 Stünzi, Mina 49 Sturm, Julius Carl Reinhold 263 Stutz, Ulrich 38, 40 Süskind, Hermann 121 Sutermeister, Friedrich 26 Täschler, Johann Jakob Tauler, Johannes 123

17

Tholuck, Friedrich August Gottreu 38, 40, 316 f., 319 Thurneysen-Hindermann, Emilie 52, 102 f., 120, 122 f., 132, 168, 178, 193, 195, 211, 216, 229, 238, 241, 266, 274, 290, 321, 337, 353, 359, 366 Thurneysen, Dorothea Margaretha 71, 315 f., 318, 320–323, 331, 353 f., 365 Thurneysen, Eduard (sen.) 52, 82, 132, 158, 211, 229, 247, 266, 281, 290 Thurneysen, Elisabeth 63 f., 74 f., 117, 367 Thurneysen, Elisabeth (geb. Blüss) 52 Thurneysen, Katharina 365 Thurneysen, Marguerite (geb. Meyer) 66, 70, 266–269, 273, 276, 280, 288, 290 f., 293, 295, 300–302, 304, 307, 309 f., 312, 314 f., 318, 320, 323–325, 331–334, 338–340, 352, 355, 359, 363 Thurneysen, Matthias Eduard 340, 365 Thurneysen, Monica 365 Thurneysen, Peter Wilhelm 96, 100, 102 f., 122, 144, 150, 238, 242, 260, 328, 367 Thurneysen, Sophie Christine 365 Tiedje, Johannes 195 Tischhauser, Emanuel 156, 159, 179, 240, 247 Tobler, Clara 165 f. Tobler, Johannes 166 Tobler, Salomon 165 Traber, [?] 173 Treitschke, Henrich von 42, 68 Troeltsch, Ernst 17, 33, 50, 53 f., 56, 60, 84, 90–92, 94–98, 106–108, 112, 115 f., 139, 142, 144, 147 f., 190–194, 225, 235–237, 240–243, 246 f., 252 f., 257, 261 f., 268, 275, 291 f., 303, 341 Uhland, Ludwig

319

Vinet, Alexandre 38, 40 Vincenz von Lerinum 89 Vischer, Eberhard 13, 20, 25, 45, 55, 85, 132, 194, 281

Personenregister Vischer, Wilhelm Eberhard 275 Vischer, Wilhelm Eduard 275 Waldburger, August 280 Weinel, Heinrich 173, 187 Weiß, Bernhard 39 f. Weiß, Johannes 42, 292 Wernle, Anna Maria (geb. Nussberger) 359 f., 362 f., 365, 367 Wernle, Christian Carl 293 Wernle, Christian Fürchtegott 36 f., 48 f. Wernle, Hans Christian 19, 28 f., 32–35, 37, 42, 48 f., 50, 100 f., 110, 113, 115, 117, 132, 135, 144 f., 148, 150, 159 f., 167, 181, 190 f., 195, 204, 210, 216, 219, 227, 233, 258, 260, 263, 266, 294 f., 318, 338, 345, 350, 354, 356, 360 Wernle, Louise (geb. Ringier) 37, 48, 196 f., 293, 305, 329 Wernle, Marie Elisabeth (geb. Liechtenhan) 33–35, 48 f., 99 f., 102 f., 113, 115, 117, 119 f., 122, 132, 135, 144, 148, 159, 161, 167, 173, 175, 181, 187 f., 191, 195, 204, 210, 216, 219, 227, 229, 233, 235, 237, 253, 258, 260, 263, 266, 280 f., 288, 290 f., 294 f., 301 f., 304, 310, 312, 318, 322, 325, 332, 336, 338–343, 345, 348, 350, 352–354 Wernly, Rudolf 203 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 95 Widmer, Gottlieb 302

393

Wielandt, Rudolf August 56 Wieser, Fritz 275 Wieser, Gottlob 67, 118 f., 166, 235–237 299, 300, 310, 323 Wilson, Woodrow 310 Windelband, Wilhelm 54, 225 Windisch, Hans 289 Wirth, Werner 334 f. Wirz, Hans 240 f., 246 Wirz, Jakob 279, 313 Witte, Leopold 38 Wobbermin, Georg 53 Wrede, William 42, 220 Wuhrmann, Willy 240 Wullschleger, Eugen 26 f. Zastrow, Constantin von 195 Zeller, Eduard 40 Zickendraht, Karl 79, 128, 164, 185, 265, 342 Zimmerli, Emil 119, 145 f., 216 Zimmerlin, Franz 50, 94, 97, 153, 161, 214, 216, 300 Zimmermann, Georg Arnold 161, 164 Zollinger, Hans-Albert 164 Zurhellen, Otto 244 Zurlinden, Samuel 71, 73 Zwingli, Huldrych 30, 72, 121, 123, 134, 178 f., 182, 186, 188–190, 192, 210, 226, 231, 284, 309, 312, 314 f., 320 f., 328, 333 f., 336, 340

VII. Ortsregister

Aarau 36 f., 56, 107, 124, 128, 147, 173, 200, 203, 209, 216, 302, 311 Aargau (Kanton) 62, 156, 164, 166, 172–175, 181, 188, 190, 200–202, 208, 213, 218, 223, 234, 300, 302, 312, 335 Adelboden 365 Alpen 49, 101 Appenzell Ausserrhoden (Kanton) 25, 111, 321 Arboldswil 161 Arbon 182 Aussersihl 26, 72, 80 Baar 164 Bad Boll 52 f., 75, 82, 120, 260, 283, 285, 366 Baden 211, 215, 218, 222, 320, 350 Baldeggersee 202 Basadingen 194 Basadingen-Schlattingen 121 Basel 14–17, 19, 21–23, 25–27, 29, 34 f., 41–43, 46–47, 52 f., 55–58, 60, 63, 65, 67, 70, 72, 75, 81–85, 87 f., 94–98, 101 f., 104 f., 111, 113, 115, 117–119, 122, 131–133, 135, 137, 139, 150 f., 153, 155 f., 159–162, 167, 169 f., 176, 178, 180, 182, 188, 196–198, 203 f., 208, 211–213, 216, 219, 227, 230, 234, 237, 241, 243, 245, 250, 254, 256, 260, 269 f., 274, 276, 279, 281 f., 284, 287, 291, 293, 296, 300, 302, 304, 307, 309, 312, 315, 318, 320, 323–325, 328 f., 331 f., 336, 339–341, 343, 349, 351, 353 f., 356, 358, 360, 362, 364 Basel-Landschaft (Kanton) 18, 102, 155, 158, 161, 164, 175, 190, 339, 386 Basel-Stadt (Kanton) 18, 33, 45, 223 Belgien 30, 232, 236

Berlin 42, 55, 89, 97, 122, 230, 246, 262, 317 Bern 15, 24 f., 44, 65, 80, 97, 151, 176 f., 194 f., 217, 320, 340 Bern (Kanton) 18, 117, 217, 219, 258, 340 Berner Oberland 219, 254, 266 Biel-Benken 113 Bifertenstock 101 Binningen 237, 242 Birrwil 200 Birsfelden 184 Bochum 74 Böhmen 366 Bonn 244 f., 319 Bremgarten 182 Brigels (Breil) 55, 99 f., 144, 268, 318, 353 Brugg 175, 181, 188, 296, 300 Bruggen 73, 75, 341 f., 346, 352, 355, 357, 359, 361, 363 Brunnen 155, 158, 164 Bündner Alpen 49, 101 Bündnerland 188 Bündner Signinagruppe 110, 148, 365 Buus-Maisprach 164, 169, 172 Calw 316 Cambridge 153 Chur 26, 34, 155, 158, 161, 163 f., 194, 209 Davos 229 Degersheim 26 Deutschland 15, 22, 28 f., 35, 45, 49, 65 f., 74, 78, 233, 235, 256, 260, 272, 283, 317, 336, 345 Diegten 216 Dixmude 244 Dübendorf 188 Dürrenäsch 62, 72, 173, 217 f.

Ortsregister Dutjen 60 f., 100, 110, 114–116, 144, 147, 149, 268, 305, 318, 340 f., 353, 365 Dutjer Alp 110 Dutjer Horn 110 Elberfeld 77 Elmau 162 Emden 114 Engadin 67 England 63, 153, 188, 236 Eptingen 216 Erlach 280 Esslingen 36 Europa 15, 75, 230, 309 Fahrwangen 334 Fälanden 172, 175 Flims 110 Florenz 181 Frankfurt am Main 46, 244 Frankreich 30, 37, 65, 166, 235 Frauenfeld 72, 113, 175, 297, 299 f. Freiburg im Breisgau 225, 260 Freienstein 158, 161 Frenkendorf 175, 219 f., 300 Füllinsdorf 300 Galizien 113 Gans d’armes 101 Genf 15, 18, 24 f., 177, 236, 249, 259, 315, 356 Gislifluh 312 Glarner Alpen 101 Glarner Hinterland 100 Glarner Tödi 100 f. Glarus (Kanton) 100, 223 Goppenstein 219 Gotha 200 Göttingen 42, 340, 355 Gränichen 302 Graubünden (Kanton) 23, 25, 42, 55, 69, 99, 100 f., 110, 142, 148, 151, 161, 188, 227, 229 f., 267 f., 280, 291, 315, 318, 332, 365 Greifswald 10 f., 114, 319 Grindelwald 254, 256, 258

395

Grottenstein, Ruine 101 Gruben 188, 190 Guben (Niederlausitz) 195 Haldenstein 101 Halle 319 Hallwilersee 202 Heidelberg 74, 94, 225 Heiden 321 Helfenberg 100 Herzogenbuchsee 340 Heuberg 33, 88, 121, 200, 235, 267 Hirzel 165 Hohenegg 81, 366 Horgen 49 Juda 180 Jura 57, 100, 312, 326 Kalabrien 15 Kandergrund 65, 135, 219 Kandersteg 219 Kilchberg 52 Kirchheim unter Teck 36 Kistenpass (rätoromanisch: Pass Lembra) 100 f. Kistenstöckli 101 Klosters 227, 230, 268 f., 332 Köln 112 Korinth 204 Küssnacht 158 Landquart 161 Langenbruck 99, 102, 339 f. Lausanne 15, 177 Lenzburg 209, 211, 215 Leutwil 61–63, 72 f., 76, 174–177, 179, 183, 185 f., 191, 195, 197–200, 204, 206 f., 211, 214, 216 f., 221, 223, 229, 231, 234 f., 238, 242, 246, 250, 253, 259, 261, 264–266, 274, 276, 289, 291, 293, 297, 301, 309, 311, 314 f., 321, 323, 327, 330, 333, 338 Leysin 339 f., 343 f., 350 Liestal 22, 143, 164 Limburg 262

396

Ortsregister Rünenberg 52 Rupperswil 55

Linthal 100 London 153, 229 Ludwigshafen 147 Lupsingen 161 Lützelflüh 340 Luzern (Kanton) 196 Malans 161 Marburg 13, 53–55, 57, 66, 83, 85, 88 f., 94, 96–98, 188, 243, 245, 247, 260, 292, 303, 317 f., 356, 360 Meilen 81, 366 Messina 15 Mönthal 300 Möttlingen 316 Müllheim 181, 192 Münster (Westfalen) 80 Neuenburg 15, 25 Neukirch 365 Nidelbad 215 Nussbaumen 118 f. Oberrieden 64 Obstalden 223, 310 Olten 31, 69 Opfertshofen 118 Österreich-Ungarn 230 Piz Rien (Riein) 148, 365 Piz Russein 100 Pontresina 23 Prättigau 227 Ragaz 280 Regensberg 331 Reinach 190 Rhein 101, 184 Rheinfelden 317 Rheintal 340 Rhone 188 Rom 165 Romandie (Welschschweiz) Rorbas 155, 158, 161, 167 Rorschach 295

258

Saanen 217 Safenwil 72, 76 f., 80, 185, 237, 249 Safiental 110, 365 Sandgipfel 100 Sarajewo 230 Schaffhausen 118, 151, 317 Schaffhausen (Kanton) 118, 300 Schiers 42 Schinznach 164, 262 Schlüechtli 110 Schöftland 295 Schwarzwald 181 Schweiz 9, 13–18, 22 f., 27–31, 33, 37, 42, 52, 59, 65, 73 f., 76, 78, 100, 112, 116, 120, 127 f., 153, 158, 174 f., 196, 203, 217, 249, 256, 258 f., 264, 271 f., 276, 279, 296, 300, 318, 321, 330, 335, 348 Schwyz (Kanton) 158 Seengen 200 f., 204, 207, 212, 218, 243, 253, 334 Seetal 202, 207, 249, 335 Seewis 227 f. Seon 62, 207, 251, 253, 302 Serbien 230 Siloah 131 Silvaplana 315, 318 Silvretta-Gebirge 268 Solothurner Jura 100 St. Andrews 153 St. Gallen 15, 73, 76, 80, 151, 185 St. Gallen (Kanton) 26, 52, 73, 82, 295, 355 St. Jakob an der Birs 111 Stammheim 189 Stelzendorf 79 Stetteln 194 Straßburg 44 Straubenzell 73 Stuttgart 75, 241 Surselva 99, 110 Tambach 73 Tenna 110 Tenner Chrüz (Kreuz)

110

Ortsregister Thalheim 164 Thalwil 185 Thurgau (Kanton) 121, 175, 192, 194 Tödi 101 Tödigruppe 100 Togo 22 Tübingen 43, 52, 244, 254, 289 Turtmannthal 188 Twann 117 Uerkheim 295, 300 Umiken 188 Utzenstorf 340 Valendas 100, 110, 145 Valsertal 110 Vereinigte Staaten von Amerika 180, 310 Vierwaldstättersee 158, 196 Vitznau 196 f. Vorderrheintal (Graubünden) 100 Waadt (Kanton) 24, 339, 344 Waadtland 275 Waldhaus-Flims 291 Waldstatt 111, 113, 116 f. Walenstadt 52, 82 Wallis 188, 190, 219, 227

397

Wartburg 137 Wengen 266 Wien 230 Wildegg 181 Windisch 154, 156, 264 f. Winterthur 135 Württemberg 55, 317 Wytikon 151 Zeglingen 52 Ziefen 161 Zofingen 37 Zug (Kanton) 164 Zugersee 318 Zürich 15 f., 22 f., 26 f., 35–38, 44, 49, 58–60, 62–64, 77, 80, 100, 111, 114 f., 117, 120, 123, 125 f., 133 f., 136, 139, 141 f., 145 f., 150–152, 154, 156, 159 f., 163, 165 f., 171, 173, 176, 180–182, 185, 187, 193 f., 200, 203, 209 f., 221, 226, 239, 246 f., 254 f., 257, 265, 277, 293 f., 300, 302, 322, 324, 335 f., 356, 359, 364 Zürich (Kanton) 18, 81, 158, 161, 165, 172, 185, 188 f., 215, 226, 331, 366 Zürich-Außersihl 179 Zürich-Hottingen 36 Zürich-Neumünster 161

VIII. Sachregister

Aarauer Verband 31 Abendmahl 17, 57, 226 Abendmahlsstreit 356 Abhängigkeitsgefühl 91–93, 104 Absolute 91, 154, 157, 257, 312 Absolutheit des Christentums 22, 93 Abstinenzbewegung (siehe auch Blaues Kreuz) 26, 174, 249, 253, 280 Advent 120, 202 f., 205 Alkohol, Alkoholismus 217, 249, 335 Altertum 83 Altliberale 96 Anarchismus 327 Anthropologie 91–93, 104, 122 f., 130 f., 137, 149, 204 f., 220, 230–232, 285, 305 f., 308, 344 f., 349, 351 f., 359, 362 Anthroposophie 78 Antibousset 220, 257 Antimilitarismus 30, 67, 271, 275 f., 278 f., 288, 327 f. Antinomie 334 Antistes 42, 151, 317 Apokalyptik 282 Apologetik 85, 93 Apostolikumstreit 21 Apriori, religiöses 54, 91 f., 94 f., 98, 268 Arbeiter, Arbeiterschaft 31, 75, 146, 184, 189, 226, 316, 337 Arbeiterbewegung 146 Arbeiterbildung 157 Arbeiterfrage 23 Arbeiterorganisationen 63 Arbeiterquartier 53, 80 Arbeitslosenfürsorge 222 f. Archiv 148, 150, 158, 195 Archivreise 227 Armut 64 Askese 275 Ästhetenvolk 98

Ästhetik 90 f., 94 Atheismus 23, 229, 244 Atheist 244 Atom 162 Auferstehung 74 Auferstehungszeit 310 Aufklärung 49 f., 151, 182, 186, 258 Auflösungstendenzen 78 Autobiographie 33 f., 37, 50 Baptisten 126, 180 Barmherzigkeit 78 Basel – Bürgerspital 52, 82, 281 – Frey-Grynaeisches-Institut 33 f., 56, 59, 88, 121 – Kirche 18–22 – Kirchenpolitik 17 – Kultur 141 – Münster 16, 29, 73 – Predigerschule 43 – Synode 17, 25, 132 Basler Mission 22 Bauer 187, 237, 265, 316, 345 Begriffsmythologie 40 Bekehrung 36 f., 136 Bekenntnis 21, 355 Bekenntnisbindung 21 Bekenntnisfreiheit 19–21 Bekenntniskirche 18 Bergli, Ferienhaus 64, 75–77 Bergpredigt 222, 252, 260 Bergpredigtchristentum 61, 220 Besessenheit 49 Bettag 234 Bevölkerungswachstum 15, 23 Bewusstsein 30, 91–93, 98, 129, 225, 233, 241, 251, 260, 262, 280, 296, 342, 347

Sachregister Bibel 38, 74, 152, 183, 185, 232, 251, 260, 277, 310, 313, 323 f., 328, 351, 362 – Altes Testament 41, 53 – Galaterbrief 188 – Hebräerbrief 184, 289 – Korintherbriefe 289 – Neues Testament 41, 90, 96, 98, 138, 183 f., 205, 214, 257 f., 277, 289 f., 303, 330, 347 – Psalmen 56 – Römerbrief 307 – Thessalonicherbriefe 198, 204 Bibelkritik 38, 361 Bibelstudium 38 Bibelstunde 121, 125 f., 133, 180, 207 Biblizist 317 Bildung, historisch-kritische 247 Bildungsarbeit 80 Bindestrich-Christentum 74 Biographie 71, 316 Blaues Kreuz (siehe Verein) Blumhardt-Bewegung 60 Bolschewismus 73 f. Böse 48, 59, 105 f., 232, 308 Bosheit 130, 313, 349 Breo (siehe Zofinger-Verein) Bruderliebe 128, 285 f. Bundesverfassung 18 Bundesversammlung 31 Calvinjahr 14–16 Causa prima, causa secunda 230 Chauvinismus 65 Christen 30, 35, 65, 84, 104, 106, 116, 134, 140, 153, 236, 239 f., 272 f., 277, 313, 319 Christentum 21 f., 24, 27 f., 30, 35, 39, 41, 43 f., 49–51, 65 f., 71, 80, 83, 93, 113, 115, 124, 127 f., 136, 139, 151, 153, 165, 184, 198, 212, 214, 221 f., 244, 266, 351 Christentum und Sozialismus 27 Christliche Studenten-Konferenz 56, 107 f., 124 f., 127 f., 132, 147, 173, 209, 311, 346 Christus 39, 108, 128, 136, 149, 162, 263, 283, 305 f., 358 Christuskult 116

399

Christusliebe 19 Christuswunder 351 Cliquenwesen 297–299 Christlicher Verein junger Männer (CVJM) 58 f., 63, 72, 112, 115, 120–122, 125 f., 133 f., 143, 154, 193, 203, 210, 216, 226, 254, 271, 294, 310, 348 – Glockenhof 111, 115, 121, 294 Dämonen 282 Dämonengeschichten 319 Darwinismus 40 Dekan 45 f., 317 Demokratie 19, 73, 75, 204, 212, 272, 275 Demokratisierung 67 Depression 37, 52, 54, 62, 283 Dialektik 130, 226, 272, 327, 343, 345 Dialektische Theologie (siehe Theologie) Diesseits 74, 169, 330–332, 351 Disparatheit 13, 55, 85 Dogmatik 39 f., 84, 112, 123 Dogmengeschichte 33, 45 f., 50, 56, 81, 124 Dominikaner 123, 181 Doppelnatur 252 Dualismus 92, 94, 105 f., 287, 319 f., glise libre 24, 40 Egoismus 274, 279 Ehrendoktor 32, 364 Eidgenossenschaft 15, 29, 148, 330 Einsamkeit 34, 48, 66, 187, 248, 257, 266 Ekklesiologie 18, 20–22, 28, 40 Emanzipation 14, 61 Empirie 56, 95 Endzeitstimmung 22 Entfremdung 14, 28, 311 Enthusiasmus 57, 69, 183, 188, 220, 282 f. Enthusiasten 213 Entwicklungsoptimismus 127 Epileptische Anstalt 322 Erbauung 249, 289 Erdbeben, Messina 15 Erde 122, 168 f., 265, 268, 283, 306 Erkenntniskritik 90, 224 Erkenntnisproblem 98

400

Sachregister

Erkenntnistheorie 56, 92, 95 Erlebnis 48, 90 f., 95, 98, 116, 146, 152, 200, 237, 293, 362 Erlösung 66, 130, 136, 211, 220, 241, 293, 308 Erlösungsglaube 107, 127 Erlösungsseligkeit 90 Erschütterungen 78, 336 Erweckung 37, 71, 325 Erweckungsbewegung 71, 166, 319 Erweckungsfrömmigkeit 36 Erziehung 26, 55, 71, 107, 218, 247, 285, 318 Erziehungsdepartement 20, 45 Erziehungsrat 20, 33, 201 Eschatologie 36, 127–129, 183 f., 280 Esprit suisse 31 Ethik 55, 91, 111, 128, 163, 224 f., 275, 277, 341 Ethisierung 142 Eudämonismus 177 Evangelisch-sozialer Kongress 26 Evangelische Allianz 31 Evangelium 21, 30, 39, 58, 84, 86, 96, 99, 111, 113, 116, 129, 133, 146, 162, 167, 179 f., 183–185, 210, 217, 221 f., 232, 249, 251, 259, 271, 273 f., 278 f., 282–285, 306 f., 341, 344 Ewigkeit 135 f., 168 f., 243, 283, 331 f. Ewigkeitschristentum 330 Ewigkeitswelt 275 Ewigkeitsziel 331 f. Examen 23, 42, 57 f., 83, 86, 113, 118, 183, 193, 260 Feldprediger 66, 236, 270–272 Ferien 14, 49, 55, 60, 67, 75, 97, 99, 101, 114 f., 120, 144 f., 188–191, 197, 220, 226 f., 234, 258, 266, 268 f., 315, 318, 331 f., 340 f., 353, 356, 365 Fortschrittsglaube 282 Frauen – Pfarramt 23 – Stimm- und Wahlrecht 24 f., 31, 75 – Studium 23 Frauenbewegung 24

Frauenfrage 23 Freiheit 72, 106, 115, 127, 130, 136, 164 f., 171, 211, 217, 252, 277 f., 291, 295, 303, 319, 344, 360 Freikirche 31, 174 Freimaurer 195 Fremdenverkehr 164 Freskostil 154, 157 Freundschaft 28, 35, 53, 59, 63–65, 75, 77, 80, 86, 101, 149 f., 220, 245, 248, 288, 300, 363 Frey-Grynaeisches-Institut (siehe Basel) Frieden 27, 30, 103, 201, 237 f., 244, 249, 251, 255 f., 272, 283, 310 Friedensbewegung 242 Friedensstörung 311, 335 Frömmigkeit 36, 51, 61, 112, 118, 129, 134, 169, 243, 306, 314, 346, 350 Gebet 141, 160, 163, 234, 241 – Vater unser 141, 163, 173 Geburtstag 81, 88, 109, 133, 135, 181, 215, 235, 303, 338 f. Gegenkirche 68 Gegenwart 21 f., 50, 57, 61, 70 f., 78, 112, 133, 140, 146, 154, 157, 171, 213, 215, 262, 273 Gegenwärtigkeit 107 f. Gegenwartsdeutung 65, 78 Gegenwartssozialismus 72 Geistesleben 50, 84, 90 f., 94 f., 98 Geistige Landesverteidigung 31 Gemeindeammann 174, 218, 335 Gemeindearbeit 62, 164, 299, 361 Gemeindeautonomie 23, 175 Gemeindeversammlung 190, 201, 208, 280 Gemeinschaft, religiöse 18, 22, 36, 49, 306 Gemeinschaftsbewegung 21 f., 28, 126 Generalstreik 28 f., 60 f., 146 f., 152, 202, 335 Gerechtigkeit 27, 240, 302, 305 Geschichte 37, 40, 44, 54 f., 59, 70, 73, 93, 95 f., 162, 168, 171, 184, 220, 229, 292, 352

Sachregister Geschichtsschreibung 213, 215 Gesellschaft 23, 26, 128, 141, 234 Gesellschaftsordnung 146 Gesinnungsgenosse 43, 143, 152, 256, 296 Gewerkschaft 75 Gewissen 27, 59, 97, 105, 113, 128, 134, 141, 146, 155, 158, 160, 166, 171, 178, 183 f., 186, 200, 202, 207, 251, 257, 261, 270, 275, 279, 294 Glaube 19, 21, 38 f., 41 f., 50, 57, 84, 90, 101 f., 108, 115 f., 118, 127 f., 131, 149, 152, 160, 167, 194, 202, 212 f. 231, 236, 243, 245, 252, 256, 263, 277, 280, 282, 285 f., 288, 303, 307, 313, 319, 328, 333 f., 347, 351 Glaubens- und Gewissensfreiheit 18, 115 Glaubenslehre 241 Gleichnis, biblisches 303, 306 Gnade 90, 93, 136, 244, 319, 344 Goetheverehrung 49 Gott 21, 27, 56, 58 f., 61–63, 83 f., 91–93, 98, 101, 104–108, 115 f., 122, 128–131, 133, 136–138, 141, 149–152, 160, 162–165, 168–170, 172, 179, 184, 186, 189, 199, 202, 204 f., 207, 212 f., 220, 222, 230–234, 240, 243–245, 247, 251 f., 257, 262–268, 270–275, 278, 282–288, 290, 292, 297 f., 305–308, 310 f., 313 f., 318–320, 324–328, 330–332, 338 f., 344–347, 349–352, 354, 358 f., 362 f. – Erbarmen 347, 349 – Gericht 15, 56, 244, 251, 349 – Güte 93, 130, 220, 339 – Macht 56, 58, 93, 106, 130 f., 251, 262 – Name 305 – Reich 27 f., 56, 59, 61, 67, 73 f., 124, 127, 129–132, 140, 142, 147, 163, 165, 171, 179, 184, 233, 256, 275, 282 f. , 285 f., 292, 310, 330, 345, 366 – Segen 169, 177, 199, 244, 267, 305 – Verborgenheit 328 – Wille 106, 130, 212 f., 251, 271, 273, 275, 284 – Wirklichkeit 62 Gotterleben 107 f.

401

Gottesdienst 30, 141, 167, 218, 257, 280, 305, 331 Gottesglaube 106, 130 f., 245 Gotteszeit 255 Gottlosigkeit 326, 346 Gottverneinung 351 Gottvertrauen 162, 179, 230, 263, 332 Grippe, Spanische 73, 330–332 Großinquisitor 352 Gymnasium 37, 53, 82, 171 Hausandacht 35 Hauswirtschaft 144, 181, 192, Hegelianer 40, 165 Hegelkritik 40 Heilsweg 344, 347, 349 Heimarbeit 62 Heimarbeitsausstellung 27 Heimat 49, 132, 207, 235, 274, 282, 314 Helvetia 110 Helvetik 48, 148 f., 152, 166, 190, 364 Hermeneutik 39, 41 Historismus 127 Hochzeit 52, 66, 109, 166, 260, 290 f., 295, 300, 336, 359 Höhenfeuer 110 Hölle 149, 168 Homiletik 77, 79, 85 Homo religiosus 247 Idealismus 92, 98, 101, 122, 139, 143, 149, 163, 172, 177, 185 f., 204, 242, 244, 273, 308, 318 Idealist 122 f., 230 Idealität 98 Idealwelt 319 Idee 19, 40, 42, 92, 95, 123, 185, 261, 273, 275 Ideologe 142 Illusion 84, 91, 116, 169, 230 Immanenzlehre 224 Individualismus 20, 97 Industrialisierung 23 Infantilismus 48 Influenza (siehe auch Grippe) 167 Innere Mission 31, 126, 167, 226

402

Sachregister

Inspirationslehre 39 Installationssonntag 180 f. Internationaler Friedenskongress der Sozialisten in Basel 29, 60 Internationaler Kongress für soziales Christentum 27, 211 Internationaler Orden für Ethik und Kultur 23 Internationalismus 31, 256 Irrationalismus 253 Irrationalität 96 Jenseits 74, 330 f., 351 Jesuiten 199 Jesusart 251 Jesusglaube 42 Journalistik 234 Judenchristentum 90, 99 Judentum 15, 150, 183 Jugendarbeit 218, 225, 264, 324 Jugendpflege 203 Kaiserreich, Deutsches 21, 29, 49 Kanon 363 Kantdoktrin 172 Kantianer (siehe auch Neukantianer) 54, 84, 90, 124 Kanton 17 f., 23, 25, 62, 73, 175, 204, 234, 331 Kantonalkirche 22 f. Kantonsrat 226, 254, 335 Kanzel 15, 75, 80, 119 f., 213, 225, 247, 271, 357 Kapitalismus 27 Karfreitag 73, 210 Katastrophe 15, 71, 218, 252, 283 Katastrophentheorie 154, 157 Katechese (siehe auch Religionsunterricht) 85 Kausalitätsbegriff 92 Kind 33 f., 62, 64, 71, 82, 102, 119, 163, 187, 207, 220, 249, 264, 278, 284, 288, 304 f., 316, 318, 320, 323, 335, 341, 345 f., 365 Kinderlehre 60, 62, 82, 154, 156, 179, 187 Kindheit 34, 37, 48 f., 82

Kirche 13, 17–24, 27 f., 30, 36, 40, 44, 50, 56, 63, 69, 72, 74–77, 112, 116, 127 f., 132, 136, 146, 153 f., 157 f., 165, 167 f., 171, 174, 179 f., 191 f., 198–203, 205, 207 f., 212, 217, 221, 251, 253 f., 257, 262 f., 290–292, 296 f., 299, 302, 305, 310, 313, 322, 337, 355, 363 f. Kirche, römisch-katholische 15 Kirchenblattgesellschaft 194, 265 Kirchendienst 13, 171 Kirchenfürst 116 Kirchengemeinde 16, 23, 25 f., 30 f., 59, 62 f., 70, 77, 90, 114 f., 136, 158, 161, 164, 166, 172, 175, 180, 183, 192, 200–207, 217 f., 237, 252, 254 f., 260, 262, 277 f., 280 f., 287, 289, 293, 299, 324, 331, 335 f., 347, 357 Kirchengemeindeversammlung 208, 280 Kirchengeschichte 13, 33, 44–48, 51, 53, 76 f., 81, 83, 100, 226, 244 f., 324, 353 Kirchengesetz 24 Kirchenkonferenz, schweizerische reformierte 22 Kirchenlied 58 Kirchenpflege 73, 174 f., 181, 201, 217 f. Kirchenpolitik 16, 169, 215, 317 Kirchenrat 25, 57, 175, 200 f., 218, 281, 302, 305 Kirchenstreit 218 Kirchenverfassung 18, 21, 24 f., 175, 280 Kirchenvisitation 137 Kirchenwesen 138, 151 Kirchlichkeit 170 Klassenkampf 26, 143 Kleinglaube 212 Kommentar, biblischer 74, 289, 292 Kommunismus 72 Kompromissfrömmigkeit 134 Konferenz 22, 73, 298 Konferenz, religiös-soziale 24, 26 f., 68, 177 f., 211, 218, 221, 296 Konfession 15, 141, 355 Konfessionalismus 319 Konfessionslose 15 Konfirmand 38, 126, 218 f., 225, 312, 347

Sachregister Konfirmandenunterricht 37, 53, 82, 186, 192, 207, 262 f., 360 Konfirmation 38, 53, 205, 210, 361 f., Konkordat 13 Konkordatsprüfung 23, 42, 183 Konkordatsprüfungsbehörde 13, 58, 82, 118 Konservatorium 266 Konventikel 49 Krankenbesuche 206 Krankheit 47 f., 190, 293, 330–332, 338 f., 345, 354 f., 359, 361, 363 Kremation 303, 305 Krieg (siehe auch Weltkrieg) 143, 233, 242, 249, 251, 261, 272 Kriegsausbruch 27 f., 30, 65, 211, 242 Kriegsbegeisterung 272 Kriegsdienst (siehe auch Militärdienst) 278 Kriegsende 31, 64 Kriegsfrage 327 Kriegsidee 262 Kriegszeit 67, 267, 276, 279, 283 f., 294, 317 f. Krise 31, 41, 49 f., 68, 111, 140, 194, 335 Kritik, historische 35, 42, 292, 295, 356, 361 Kultbedürfnis 191 Kultur 141, 168, 236, 308, 318 – religiöse 55 Kulturbewusstsein 142 Kulturduselei 154, 157 Kulturgemeinschaft 65, 236 Kulturmacht 56 Kultusfreiheit 18 Kunst 98 Kuratel 43, 45–47 Laie 22, 26 f., 124, 140, 207, 217, 285 Laienversammlung 260 Landeskirche 13, 24 f., 40, 207, 316 Landesstreik 31, 72 Landhaus Bergli 64, 75–77 Leben Jesu 39, 84, 251 Lehrbekenntnis 21

403

Lehrer, akademischer 86, 112, 135, 191, 215, 336 Lehrfreiheit 20 Leichenpredigt 320 Lessingkränzchen 56 Liberalismus, theologischer (siehe auch Freisinn) 17 f., 57, 96, 168 f. Liebe 39, 44, 102, 115 f., 122, 124, 129 f., 135, 181, 184, 191, 204 f., 212, 220, 241, 246, 256, 263, 273, 283–286, 288, 290, 292, 299, 305, 310, 313 f., 316, 319, 332, 334, 345, 350, 352, 358, 363 Liebesforderung 221, 226 Liebesgesinnung 128 Literatur 53, 83, 150, 236 Liturgie 305 Lizentiat 42, 57, 63, 169, 262 Logik, philosophische 91, 224, 317 f. Lötschbergbahn 219 Lutheraner 319, 356 Luthertum 131 Machiavellismus 186 Mammon 71, 335 Mammonismus 27, 128 Materialismus 242 Materie 106 Matur 53, 83, 345 Mennoniten 114 Mensch (siehe Anthropologie) Menschengeist 95 Menschenklasse 139 Menschenleben 137, 287, 308 Menschenliebe 137 Menschheit 232, 326 f., 331 Menschlichkeit 104, 344 f., 358 Metaphysik 92 f., 98, 224 Methodismus 347 Methodisten 126 Militär 66 f., 258, 271, 275, 278 f. Militärantipathie 67 Militärdienst (siehe auch Kriegsdienst) 271, 274, 278, 326 Militärdienstverweigerung 30, 275 f., 279, 326 Militarisierung 236

404

Sachregister

Militarismus 30, 66, 317 Militärjustiz 67 Militärreligion 232 Militärsteuer 274, 276 Mission 22, 71, 167, 174 Missionar 207, 249 f. Missionschor 180 Missionssonntag 249 Modernisierungskrise 340 Modernisierungsprozess 23 Moral 40, 98, 125, 127, 136, 163, 285, 346 Moralpredigt 158, 219 Mystik 60, 123, 141, 162, 349 Mystiker 167 Mythologie 91 f., 105 f. Mythos 232 Nation 253 Nationalgefühl 31 Nationalismus 30, 66 Nationalrat 26, 72 Nationalsozialismus 60 Natur 92, 123, 129–131, 136, 142, 287, 307 f., 320, 351 f., 358 Naturalismus 38 Naturgesetz 325 f. Naturkatastrophe 15 Naturliebe 49 Naturpark 271 Naturwelt 107 Naturwirklichkeit 106 Negation 182, 343, 345, 347, 349, 352 Nervenheilanstalt 81, 366 Neukantianer 53, 84, 88, 91, 98 Neukantianismus 53 f., 172, 225, 318 Neuprotestantismus 246 Neutralität 17, 30, 65, 236 Nobelpreis 236, 242 Normative 90, 92 Offenbarung 21, 84, 90, 162, 230, 352, 356, 360, 362 Offizier 271, 275 Opfer 107, 271 f., 316 Opfermut 244 Optimismus 42, 131, 185, 307 f.

Ordination 42, 58 Ordo salutis 347 Orientpolitiker 248 Orthodoxie 21, 39, 41, 56, 97, 123, 134, 199, 292, 302, 363 Ostern 210, 360 Pädagogik 34 Paradoxie 131, 359 Parkinson-Krankheit 15, 322, 358 Parteibildung 301 Parteien – Evangelische Volkspartei 31, 79 – freisinnige 178, 208 – kommunistische 335 – sozialdemokratische 178 Parteienchaos 124 Parteischablonen 280 Parteiwesen, kirchliches 16 f., 56, 133, 212, 280, 302 Passionszeit 210, 342 f. Pastoralkonferenz, aargauische 296, 300 Patriotismus 66, 270, 272 f. Pazifismus 30, 242, 256, 271, 276 Pedantismus 37 Personenkult 191 Pessimismus 130 f., 185, 287 Pfadfinder 210 Pfarramt 23–25, 61–64, 66, 76 f., 83, 154, 157, 176–178, 180, 191–193, 281, 324, 334 Pfarrer 13, 16, 19 f., 22 f., 25–30, 34–38, 42, 46, 52 f., 55–59, 63–68, 72–76, 78–80, 82, 96, 103 f., 111–113, 115 f., 118, 121, 129 f., 133, 140, 142 f., 149, 151, 153–159, 161, 164–166, 171, 173–176, 178–183, 185, 188–190, 192 f., 195, 200–204, 207–209, 211, 216–218, 222 f., 226, 233, 237, 239–241, 244, 246, 249, 252, 254, 258, 260, 262–265, 270 f., 273, 278, 281, 284–286, 289 f., 292, 295, 297, 299–303, 305, 309, 316 f., 322, 334–337, 340, 345, 356, 360, 362, 366 – Industriepfarrer 179 – Jugendpfarrer 72, 324 – Landpfarrer 42, 118, 149, 250, 317, 324

Sachregister – Spitalpfarrer 281 – Stadtpfarrer 232, 317 Pfarrerstreit 334 Pfarrfrau 192, 293 f., 305, 324 Pfarrhaus 26, 34, 52, 62–64, 82, 118, 175 Pfarrkalender 101 Pfarrkapitel 19 Pfarrkonferenz 23, 70 Pfarrwahl 17, 25, 173, 176, 181, 280 Pfingstbewegung 22 f., 31 Pfingsten 278 Pflegekinder 304 f. Pflicht 37, 59, 140 f., 169, 179, 183, 193, 213, 221, 238, 261 f., 272, 274 f., 278, 280, 282 f., 293, 326, 350, 354 Phantasterei 183, 243 Pharisäismus 261 Philistertum 140 Philosoph 40, 169, 185, 225 Philosophie 53, 74, 83, 91, 94, 101, 123, 224, 317–319 Physik 83 Pietismus 49, 51, 59, 127, 134, 282, 284, 316 f., 344, 346 f. Pietist 134, 162, 319, 347 Pluralismus 13, 21, 85 Pneumatologie 90 Poimenik 51 f. Polemik 26, 70, 78, 92, 136, 164, 325 f., 349 f., 358 Politik 27, 126, 186, 251 Politiker 121, 149, 208, 242, 310 Praktische Theologie 51, 57, 85, 157, 358 Prediger 15, 123, 155, 181, 183, 207, 317, 358 Predigergesellschaft 89, 297, 300, 315, 322 Predigerversammlung 22, 143, 194, 209, 296 Predigt 52, 55, 60–62, 64, 69, 75, 77 f., 85, 118, 133 f., 136–138, 154, 156 f., 159–163, 166, 170, 172f., 180 f., 183, 186 f., 189, 192, 194, 201, 203, 209–211, 216, 218, 220–223, 226 f., 231–235, 243–245, 247, 250, 252 f., 255, 260, 262 f., 270, 272, 275, 277 f., 297, 300, 303,

405

311–314, 323, 325–327, 331–333, 335, 337, 342–344, 349, 357–360 – Antrittspredigt 73 – Mobilisationspredigt 64, 232 – Probepredigt 133, 174, 182 f. – Traupredigt 209 Predigtsammlung 189, 360 Primarschule 53, 82 Professur für reformierte Theologie 76, 355 Propädeutikum 53, 83, 88 Prophet 137 f., 149, 179, 183, 286 Protestantismus 31, 50–52, 78, 96, 113, 127 f., 150, 162, 166, 190, 194, 241, 315 Psychoanalyse 113 Psychologie 34, 56, 95 Publizistik 70 Quäker 257 Quäkergeist 257 Quäkermoral 285 Quellenkritik 35, 42, 90 Quietismus 184 Rationalisierung 303 Rationalismus 95, 317 Rationalist 98, 183 Reaktionär 139 Realität 56, 59, 105, 243, 274 f., 307, 325 Rechtfertigung 51, 78, 240 Rechtfertigungslehre 57, 348 Redaktion 103, 160, 294 f. Reformation 42, 58, 71 f., 89, 123, 127 f., 131, 149, 194, 321 Reformationsgeschichte 44, 324 Reformationsjubiläum 22, 71 f. Reformatoren 127, 168, 286, 314, 319 f., 322, 348 f. Reformer 36, 38, 56, 116, 200 Reformtheologie 38 Regierungsrat 19, 26, 43, 45, 47, 335 Register 13, 111, 114, 116 Reich Gottes (siehe Gott) Reich-Gottes-Erwartung 127, 129–131, 163, 282 Reichgottesleute 151 f., 168

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Sachregister

Rektor 13, 19 f., 281, 291 Relativismus 142 Religion 22, 28, 36 f., 39, 42, 54, 84, 86, 90–99, 98, 104, 125–127, 141, 153, 163, 172, 224, 229 f., 241, 243, 247 Religion, völkische 60 Religionsgeschichtliche Schule 53 Religionslehrer 207 Religionsphilosophie 54, 89, 91, 94, 241 Religionspsychologie 53 Religionsunterricht 19, 75, 341, 352 Religiöser Sozialismus (Religiöse Sozialisten) 14, 16 f., 25–28, 33, 55, 60, 65, 67–69, 73 f., 79, 96, 103, 120, 127–129, 134, 140, 147, 152, 156 f., 159, 162, 172, 177, 179, 184, 188, 211, 217, 228, 237, 239 f., 246 f., 279, 296, 298, 300–302, 312, 322 Religiosität 19, 92 Revolution 29, 136 f., 313 Rezension 79, 123, 133, 203, 224, 246, 325–328 Römerbrief (K. Barth) 74, 76–78, 336 Römisch-katholische Kirche 15, 18, 20, 226 Sabbatgebot 262 Sakrament 165, 167, 257 Schematismus 347 Schicksal 62, 158, 325 Schnapsbrennerei 335 Scholastik 112, 230 Schöpfung 104–107 Schreibmaschine 101, 104, 121, 145, 156, 267 Schriftauslegung 292 Schriftprinzip 40 Schriftverständnis 356, 362 Schuld 70, 128 f., 211 Schwärmer 140, 149 Schwarmgeist 142 Schweiz – Bevölkerung 15 – Wesen 30 f. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund 31

Schweizerischer Evangelischer Pressedienst 31 Schweizerischer Protestantischer Volksbund 31 Schweizerischer Verband für Frauenstimmrecht 24 Schweizerischer Verband für Innere Mission und Liebestätigkeit 31 Schweizerisches Arbeitersekretariat 26 Seelsorge 51 f., 78, 271, 278, 285 Sehnsucht 28, 134, 136, 141, 152, 184, 191, 204, 252, 257, 274, 306 f., 325, 349 Sehnsuchtsmensch 104 Sehnsuchtspredigt 202 Sekte 69, 167, 180, 192, 207, 212, 323, 344 Sektierer, Sektierei 228, 285–287, 296 f. Selbstbewusstsein 106, 179, 209, 229, 331 Selbstdisziplin 172 Selbsterhaltungstrieb 308 Selbstsucht 27, 184, 205, 219, 233, 251 Selbstüberwindung 274 Seligkeit 284, 292 Sittlichkeit 91, 98, 252, 272 f. Skifahren 67 Sola fide 348 Soldat 47, 220, 245, 258, 270–272, 275 Sonntagsschule 159, 180, 187 Sozialdemokratie 18, 20, 26–28, 68, 72, 74, 81, 128, 132, 143, 146, 167, 178, 203, 223, 280, 307, 337 Soziale Frage 23, 26, 222 Soziale Käuferliga 26, 97 Sozialismus 27–29, 58, 72, 74, 80, 127 f., 136, 143, 168, 203, 223, 256, 277, 337 Sozialist 134, 149, 301 Spiritualismus 123, 307 Staat 17–19, 30, 56, 68, 80, 251, 272, 276, 296, 363 Stimmrecht (siehe auch Frauen) 25, 208 Student (siehe auch Theologiestudent) 14, 35, 42–44, 47, 49, 54, 58, 76, 83, 87, 94, 96, 99, 109, 112, 119, 124 f., 127, 132, 135, 138, 160, 162, 168, 182, 186, 200, 203, 206, 214, 235, 240, 247, 256, 268, 277 f., 290, 309, 313, 315, 350, 353, 360, 364

Sachregister Studentenverbindung (siehe auch Zofingia) 53 Subjektivismus 362 Subjektivität 84 Substanz 105, 199 Subventionen 18, 76 Sünde 27, 42, 131, 136, 169, 183, 242, 244, 282, 300, 307 f., 319, 327 Sündenlehre 42 Sündenpessimismus 127–129 Sündenvergebung 90 Sündlosigkeit 36 Supranaturalismus 90 Symbol 63, 225, 228 Symbolik 46 Synodalwahl 132 Synode 17, 25, 75, 132, 152, 201, 205, 215, 242, 281, 298, 302 Synoptiker 43, 214, 289 Tagebuch 36, 54, 56, 58, 60, 62, 88–91, 93, 98 f. Tambacher Konferenz 73 Taufe 16, 173, 257 Täufer 286 Testimonium spiritus 356, 362 Teufel 138, 151, 153, 185, 268, 283 f., 351 Theologe 16 f., 19 f., 27–29, 31 f., 37 f., 40 f., 49 f., 52, 54, 61, 66, 71, 75, 81, 83 f., 86, 89, 95, 107, 109, 114, 132, 145, 147, 160, 165–167, 182, 191, 237, 239 f., 285, 300, 313, 316, 319, 321, 336, 348 Theologenschule 239 Theologie 23, 28, 33, 36–39, 41, 44 f., 49–53, 55, 57, 67, 69 f., 74, 76–79, 83–85, 88, 94, 96, 123, 150, 168, 171, 190, 203, 262, 279, 286, 340, 357, 361 – dialektische 52, 59, 64, 74, 80, 300 – liberale 41, 43, 49, 57, 77, 88, 96, 165, 168 f. – moderne 17, 21, 33 – praktische 45 f., 51, 57, 65, 85, 157, 358 – reformierte 76, 231 f., 355 – systematische 13, 19 f., 29, 34, 53, 55, 83, 85, 89, 157 – Vermittlungstheologie 16, 41, 313

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Theologiegeschichte 85 Theologiestudenten 55, 97, 209, 360 Theologiestudium 23, 48, 53, 78, 83, 86 Theologische Richtungen – Freisinn 16–18, 25, 29, 38, 40, 44, 199, 207 f., 236, 240, 280, 284, 302 – Positive 16 f., 19–21, 25 f., 38–41, 43 f., 55, 116 f., 127 f., 130 f., 161, 168 f., 198, 208, 280, 294 f. Tod 33 f., 36, 42, 50, 52, 67, 80, 119, 134, 169, 182, 184, 244 f., 254, 282, 320, 325, 344 f., 349, 353 Tod Jesu 182 Todesangst 34 Todesopfer 15, 73 Todesweisheit 345, 348 Totalität 92 Tradition 52, 82, 115, 141, 171, 234 Tragikomödie 170 Transzendentalphilosophie 185, 224 Traum 66, 284 Trinitätslehre 191 Unfreiheit 112, 127 Unfriedensgeist 262 Ungerechtigkeit 141 Unglaube 22, 38, 115, 308 Universalismus 212, 313 Universität Basel 19 f., 41, 43, 45, 57, 83–85, 244, 291 – Philosophische Fakultät 364 – Religionswissenschaftliche Fakultät 19 f. – Theologische Fakultät 19 f., 23, 34, 36, 44–47, 53, 81, 89, 95 – Universitätsbibliothek 14 Universität Berlin 42, 55 Universität Bern 77 Universität Göttingen 42 Universität Marburg 32, 83 f., 88 f., 360 – Theologische Fakultät 32, 53, 66 Universität Straßburg 244 Universität Zürich 76, 121, 157 – Theologische Fakultät 23, 59 f. Unmenschlichkeit 344 Unmittelbare 307, 325

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Sachregister

Unmittelbarkeit 60 Unmittelbarkeitstendenz 308 Unsicherheit 48, 57, 83, 85, 141 Unsinn 105, 135, 153, 220 Unterricht (siehe auch Konfirmandenunterricht und Religionsunterricht) 62, 82, 189, 203, 206, 210, 249, 264, 302 f., 309, 341, 352, 360 Unvollkommenheit 85 f., 129, 137, 183 Urchristentum 90, 282, 292, 319 Utopie 261 Vaterland 66, 77, 110, 233, 244, 252, 261, 271 f., 276, 278, 280 Vaterlandsliebe 31 Vereine – Bibelgesellschaft 71 – Blaues Kreuz 26, 62, 174, 180, 187, 192, 196 f., 202, 207, 235, 249, 280, 294 – Erziehungsverein 301 – Evangelisch sozialer 26 – Evangelisch-kirchlicher 26 – Evangelischer Arbeiterverein 68, 213, 301 – Frauenverein 17, 97 – Grütliverein 26 – Jünglingsverein 180 – Krankenverein 17 – Missionsverein 180 – Pastoralverein 209, 246, 303 – Sozialistische Kirchgenossen 26, 132 – Verein zur Beförderung christlich-theologischer Wissenschaft und christlichen Lebens 19 f. – Vereinigung unabhängiger Kirchgenossen 276, 364 – Zofingerverein (siehe Zofingia) Verfolgungszeit 265 Vergebung 90, 128, 347 Verkirchlichung 68 Verkündigung 52, 62, 66, 71, 86, 131, 160, 183, 310, 347 Verlage – Christian Kaiser 80, 314 – J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 43, 114, 116, 246

Verlobung 66, 265, 267 Vernunft 41, 70, 91 f., 98, 123, 261 f., 268 Vernünftigkeit 92 Verpolitisierung 68 Versicherung 31 Versöhnungslehre 182 Verstand 37, 39, 219 Verstandesbegriffe 224 Vertrauen 55, 57, 106, 116 f., 125, 132, 162 f., 169, 200, 204, 233, 237 f., 271, 338 Vervollkommnungsfähigkeit 129 Vikar 56, 63, 66, 115, 223, 340 Vikariat 57, 340, 356 Vikarin 23 Volk 30, 65, 68, 202, 217, 244, 252, 256, 261, 263, 270, 272 f., 280, 286 f., 302, 305 f., 310 Volk, deutsches 244, 305 f. Volksabstimmung 18 Volkshaus 146 Volkshauspredigt 221 f., 248 Volkshaussaal 222 Volkskirche 19–21 Volksleben 251, 278 Volkssittlichkeit 272 f. Vorlesung 38, 41, 45, 50, 53, 55 f., 59 f., 83, 85, 98, 124, 214, 266, 277, 358 Vorsehungsglaube 169, 181 Vortrag 16, 20, 38, 56, 67, 71, 73–75, 80 f., 95 f., 106 f., 115, 120 f., 123–127, 133, 139, 154, 156, 159, 203, 208–211, 217, 222, 241, 246, 253–257, 260 f., 276, 283–285, 288, 294, 301, 303 f., 309 f., 315, 317, 321–323, 326 f., 346, 350–352, 356, 360, 362, 364 Waffen 70, 79, 233, 271 f., 276, 278 f., 326 Waffendienst 30 Wahlrecht (siehe auch Frauen, Stimm- und Wahlrecht) 23–25 Wahrheit 91, 169, 183, 187, 221, 243, 267, 300, 304, 320, 343, 349, 356 Wahrheitsproblem 98 Wanderausstellung 22 Weihnachten 50, 55, 74, 97, 122, 124, 202, 205, 292, 303, 323, 333

409

Sachregister Welt 13, 27, 56, 68, 71, 76 f., 105–107, 126, 131, 137, 142, 149, 179, 184, 188, 205, 232, 242–244, 251 f., 256, 262 f., 271 f., 274 f., 277, 279, 282–287, 292, 303, 305, 307, 310, 312, 315, 319, 323, 326, 328, 330 f., 338, 344, 351 f. Weltanschauung 21, 38, 40, 317 Weltbeurteilung 282 Weltbild 42 Weltbolschewismus 74 Weltereignis 230, 330 Weltfriedensorientierung 250 Weltgeschehen 106, 231, 252, 254 Weltgeschichte 73 Weltkrieg, Erster 15, 28–30, 35, 49, 59, 61, 63–66, 72 f. , 211, 230, 232–236, 240, 242, 244 f., 249, 251 f., 265, 267 f., 271–273, 276, 279, 283 f., 294, 306, 309 f., 317 f. Weltlauf 169, 231, 262, 283 Weltleben 282 Weltleute 208, 222 Weltlichkeit 251, 346 Weltoffenheit 319 Weltschlechtigkeit 283 Weltüberwindung 35, 216 Weltverständnis 106 Weltwerk 105 Werkgerechtigkeit 346 Wert 65, 83 f., 122, 129, 142, 154, 157, 214, 274, 307 Werturteilstheologie 67, 279 Wille 39, 136 f., 163, 193, 213, 244, 272, 308 Willensfreiheit 185 Wirklichkeit 40, 59, 62, 66, 92, 95, 99, 105 f., 122 f., 137, 142, 160, 204, 224, 245, 257, 268, 272, 306, 319, 324 Wirtschaftsordnung 27 Wissen 39, 41, 61, 185, 202, 363 Wissenschaft 42 f., 95, 98, 166, 319 Wollen 76, 172, 177, 189, 213, 277, 334, 345, 347 Wunder 39, 220, 282–284, 292, 319, 332 Wunderbare 101, 169 Wunderglauben 183 Wunderwelt 283

Wunschtheologe

50

Zeitschriften – Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 240 – Christlicher Volksfreund 209, 232 – Der freie Schweizer Arbeiter 217 – Der Kirchenfreund 19 – Die Christliche Welt 27 f., 58, 96, 115, 172, 194 f., 200, 232, 248 f., 262, 350 – Die Eiche 78 – Die Glocke 59, 63, 111, 115, 160, 170, 193, 198, 210, 216, 221 f., 234 f., 261 f., 270, 272, 275, 279, 294 f., 330, 332 – Die Hilfe 54, 248 – Evangelische Kirchen-Zeitung 317 – Gemeindeblatt Straubenzell 73, 361 – Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 235, 240 – Journal de Gen ve 236 – Kirchenblatt für die reformierte Schweiz 30, 65, 69, 103, 155, 157, 162, 193–195, 202 f., 215, 221 f., 224, 232 f., 236, 242, 248, 279, 303, 310, 313, 325, 328, 342, 361 – Neue Wege 26, 28, 56, 68, 70, 79, 103 f., 140, 153, 155, 164 f., 172, 195, 209, 239, 245, 248, 276, 298, 312, 320 – Pastoralblätter für Homiletik, Katechetik und Seelsorge 342, 348 – Schweizerisches Protestantenblatt 236 – Theologische Rundschau 220 – Zentralblatt des Schweizerischen Zofingervereins 203 – Zwischen den Zeiten 80, 314 Zeitströmung 256 Zeitungen 72, 116, 164, 200, 208, 212 f., 216, 234, 236, 279, 293, 309, 366 – Aargauer Tagblatt 201 – Aargauisches Monatsblatt 261, 265 – Basler Nachrichten 25, 81, 184, 208 f., 215, 222 f., 236, 259, 317 – Basler Sonntagsblatt 295 – National-Zeitung 81, 284 – Neue Aargauer Zeitung 302

410

Sachregister

Zigarrenfabrik 64 Zofinger 119, 139, 143, 151, 286 Zofingia / Zofingerverein 53, 63, 86, 119, 125, 134, 137, 143, 151 – Breo 53, 137, 283 Zukunft 137, 150, 208, 212, 236, 269, 282, 292, 339, 354

– berufliche 57, 61, 163, 172 Zukunftsarbeit 193 Zukunftsverheißung 210 Zungenredner 138 Zürich, Fraumünster 226

Eduard Thurneysen 1903 als Basler Gymnasiast (hinterste Reihe, dritter von links). © Universitätsbibliothek Basel: NL 290, A 3, 1/2

Eduard Thurneysen als Basler Gymnasiast Weihnachten 1905 vor dem Wappen der Studenten­verbindung Zofingia (hintere Reihe, zweiter von links). © Universitätsbibliothek Basel: NL 290, A 3, 1/2

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Marie Wernle-Liechtenhan, die erste Frau von Paul Wernle. © Universitätsbibliothek Basel: Portr BS Liechtenhan M 1873, 1

Paul Wernle 1908 im Alter von 36 Jahren. © Universitätsbibliothek Basel: Portr BS Wernle P 1872, 3

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