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German Pages 325 [326] Year 2023
Paul Tillich in Dresden
Tillich Research
Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret und Werner Schüßler
Volume 27
Paul Tillich in Dresden Intellektuellen-Diskurse in der Weimarer Republik Herausgegeben von Christian Danz und Werner Schüßler
Gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung.
ISBN 978-3-11-126177-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-126433-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-126524-7 ISSN 2192-1938 Library of Congress Control Number: 2023936392 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
IX
Christian Danz/Werner Schüßler Paul Tillich in Dresden Einleitung 1
Teil I: Streit über die Weimarer Republik Alexander Gallus Weimarer Intellectual History Zur Vermessung geistiger Lagen auf schwankendem Grund
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Christian E. Roques „Politische Romantik“ in der Weimarer Republik Zur Rezeption eines Ideologems der deutschen Zwischenkriegszeit Klaus Fitschen Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Weimarer Republik
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Clemens Vollnhals Zwischen den Stühlen Der Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik 69
Teil II: Dresdner Intellektuellenmilieus Alf Christophersen „Im Schicksal unserer Zeit“ Die Dresdner „Logosclique“ als „Gemeinschaft von Persönlichkeiten“ Alexander H. Schwan Paul Tillichs Theologie des Ausdruckstanzes
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85
VI
Inhalt
Joseph Imorde Religion und Kunst in der Moderne
121
Teil III: Dresdner philosophische Diskurse Daniel Weidner „Die Gemeinsamkeit in der geschichtsphilosophischen Grundrichtung schließt Spannungen und Gegensätze nicht aus“ Der Denkstil des Kairos-Kreises 141 Gerrit Mauritz Sinntheorie und Klassenkampf im Kairos-Kreis Paul Tillichs und Eduard Heimanns Beiträge über Die gegenwärtige Lage und den 159 religiösen Sozialismus Werner Schüßler „Schöpferische Zeitkritik“ Zu Paul Tillichs Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart von 1926
181
Teil IV: Kairos, Religion und Kultur – Theologische Zeitdeutung Christian Schwarke Paul Tillich und die Technik
197
Martin Fritz Rausch des Unbedingten Tillichs Theorie „dämonisch“ verzerrter Religion
211
Roderich Barth Quellen des Selbst Die Seele zwischen Antipsychologismus und Tiefenpsychologie
229
Teil V: Theologische Diskurse in der Weimarer Republik Folkart Wittekind Tillichs Dresdner Dogmatik im theologiegeschichtlichen Kontext
247
Inhalt
Christian Danz Theologische Intellektuellen-Diskurse in der Weimarer Republik Protestantismus und moderne Gesellschaft bei Friedrich Gogarten und Paul Tillich 277 Ilona Nord Symbole, Religion und der christliche Mythos Religionspädagogische Erwägungen zum Symbolbeitrag Paul Tillichs aus der 293 Dresdner Zeit Autorenverzeichnis Personenregister Sachregister
309 311
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VII
Vorwort Von 1925 bis 1929 lehrte Paul Tillich an der Allgemeinen Abteilung der Sächsischen Technischen Hochschule Dresden. Es war seine erste ordentliche Professur, die zur Aufgabe hatte, im Rahmen der Ausbildung der Volksschullehrer und -lehrerinnen das Wahlfach „Religion“ zu vertreten. Es waren dramatische Jahre der Weimarer Republik, um deren Deutung in dieser Zeit hart gekämpft wurde. Tillichs Positionierung in dieser Gemengelage sowie die Weiterentwicklung seiner Theologie in der Elbmetropole thematisierte der Internationale Kongress der Deutschen PaulTillich-Gesellschaft e.V. Paul Tillich in Dresden. Intellektuellen-Diskurse in der Weimarer Republik, dessen Beiträge hier präsentiert werden. Der Kongress fand vom 6. bis 9. Juli 2022 im Tillich-Bau der Technischen Universität Dresden in Kooperation mit Christian Schwarke (Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dresden) sowie dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung statt. Zu danken haben wir der Fritz Thyssen Stiftung in Köln, dass sie die Durchführung des Kongresses sowie die Drucklegung des Tagungsbandes finanziell unterstützt hat. Unser Dank gilt ebenso den Referenten für ihre Mitwirkung an dem Kongress und die Bereitstellung ihrer Beiträge für die Publikation. Immanuel Carrara (Wien) hat dankenswerter Weise die Druckvorlage des Bandes sowie die Register erstellt. Dem Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston, und hier besonders dessen Lektor Dr. Albrecht Döhnert, danken wir für die gewohnt gute Zusammenarbeit. Wien und Trier Februar 2023
https://doi.org/10.1515/9783111264332-001
Christian Danz Werner Schüßler
Christian Danz/Werner Schüßler
Paul Tillich in Dresden Einleitung Am Dienstag war eine lange Fakultätssitzung. Ich lernte Tillich kennen. Junger Mensch, der mit Wärme u. bedeutend spricht. Er setzt sich für Stepun ein. In dieser Sache war ich bei Uhlig. Der Minister hat sich geradezu auf St. verpflichtet, der einen angesehenen Namen hat u. für den sich ein Gutachten Husserls sehr ins Zeug legt. Am Samstag war Kroner bei mir gewesen. Wir verabredeten: ich würde für die soziologische Professur St’s eintreten, mit dem Zusatz: ‚unter besonderer Berücksichtigung der russischen Verhältnisse‘. So ist es dann auch gekommen, u. es scheint sicher, daß St. das Extraordinariat erhält.¹
Paul Tillich, den der Romanist Victor Klemperer im November 1925 persönlich in einer Fakultätssitzung kennenlernte, in der es – wie Klemperer am 5. November in seinem Tagebuch notiert – um die Berufung des russischen Soziologen Fedor Stepun ging,² lehrte seit dem Sommersemester 1925 an der Sächsischen Technischen Hochschule in Dresden. Mit Wirkung vom 1. Mai dieses Jahres war er persönlicher Ordinarius auf einer neu eingerichteten planmäßigen außerordentlichen Professur für Religionswissenschaften an der Allgemeinen Abteilung der Technischen Hochschule.³ Zugleich unterrichtete Tillich in diesem Sommersemester noch an der Theologischen Fakultät in Marburg, wo er seit dem Wintersemester zuvor eine außerordentliche Professur innehatte, so dass er zwischen Marburg und Dresden pendelte. Seine Berufung nach Dresden muss man sich wohl so ähnlich vorstellen wie die von Fedor Stepun, von der Klemperer in seinem Tagebuch berichtete. Der an der Technischen Hochschule lehrende Philosoph Richard Kroner⁴ setzte sich bei dem sächsischen Kultusminister Robert Ulich, der Tillich bereits seit 1918 kannte, 1 V. Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum, Bd. 2: Tagebücher 1925–1932, Berlin 1996, 161. Der Band entstand im Rahmen des vom FWF (Austria) geförderten Internationale Joint Project „Edition of Paul Tillich’s Correspondence (1887–1933)“ (I 4857-G). 2 Zu Fedor Stepun und Paul Tillich vgl. A. Christophersen, Paul Tillich im Dialog mit dem Kultur- und Religionsphilosophen Fedor Stepun. Eine Korrespondenz im Zeichen von Bolschewismus und Nationalsoizialismus, in: JHMTh/ZNThG 18 (2011) 102–172. 3 Vgl. E. Sturm, Historische Einleitung, in: P. Tillich, Dresdner Vorlesungen (1925–1927), hg. v. E. Sturm, Berlin/Boston 2017, XXII. Paul Tillichs Werke werden in diesem Band nach folgenden Siglen zitiert: Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg. v. I. Henel [u. a.], bisher 21 Bde., Stuttgart, dann Berlin 1971 ff. = EW; Gesammelte Werke, hg. v. R. Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959–1975 = GW; Main Works/Hauptwerke, hg. v. C. H. Ratschow, 6 Bde., Berlin/New York 1987–1998 = MW; Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1955–1966 = ST. 4 Zu Paul Tillich und Richard Kroner vgl. A. Christophersen/F.W. Graf (Hg.), Selbstbehauptung des Geistes. Richard Kroner und Paul Tillich – die Korrespondenz, in: JHMTh/ZNThG 18 (2011) 281–339. https://doi.org/10.1515/9783111264332-002
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für eine Berufung an die Technische Hochschule ein.⁵ Kroner, Stepun, Klemperer und der Germanist Christian Janentzki gehörten denn auch zum engeren Freundesund Bekanntenkreis Tillichs in Dresden, für den, wie Klemperer in seinem Tagebuch berichtet, der Name „Logosclique“ erfunden wurde.⁶ 1927 traten sie gemeinsam in dem von Richard Kroner herausgegebenen Band 16 der Zeitschrift Logos in Erscheinung. Tillich steuerte zwei Beiträge für den Band bei: Die Überwindung des Persönlichkeitsideals und Logos und Mythos der Technik. ⁷ Für Tillich, der bis dato noch keine ordentliche Professur innehatte, eröffnete sich im Sommersemester 1925 der Weg in eine gesicherte akademische Karriere. Neben Dresden hatte er noch ein weiteres Eisen im Feuer. Am 29. Mai 1925, also wenige Tage nachdem er in Dresden zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, setze ihn der Gesamtsenat der Universität Gießen für die Wiederbesetzung der Professur für Systematische Theologie von Emil Walter Mayer in Gießen primo et unico loco.⁸ Das verschaffte Tillich eine gute Verhandlungsposition in Dresden, die er auch nutzte. Er entschied sich nicht nur für Dresden, sondern erhielt am 31. August 1925 vom Sächsischen Kultusministerium auch die Mitteilung, dass er zum ordentlichen Professor für Religionswissenschaften in der Allgemeinen Abteilung der Technischen Hochschule in Dresden ernannt sei.⁹ Nach unsicheren Jahren als Privatdozent in Berlin und als außerordentlicher Professor in Marburg, was aber nur einem besoldeten heutigen außerplanmäßigen Professor entsprechen würde, hatte Tillich in Dresden erstmals eine ordentliche Professur und damit eine finanziell sichere Position erlangt. Die erst neu geschaffene Allgemeine Abteilung der Technischen Hochschule sowie die dortigen Kollegen boten ihm ein Wirkungsfeld, welches seinen kulturtheologischen Interessen entgegen kam.¹⁰ Zudem war die Elbmetropole im Unterschied zu Marburg oder Gießen eine blühende Großstadt. Doch für einen Theologen waren mit dem Wechsel an eine kulturwis-
5 Vgl. W. Pauck/M. Pauck, Paul Tillich. Leben und Werk, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1978, 109; R. Marschall, Mit gläubigem Realismus in einer Kulturstadt. Paul Tillich in Dresden, in: I. Nord/ Y. Spiegel (Hg.), Spurensuche. Lebens- und Denkwege Paul Tillichs, Münster 2001, 123–139, bes. 123 f. 6 Vgl. Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum, Bd. 2, 446. Vgl. hierzu den Beitrag von Alf Christophersen in diesem Band. 7 Vgl. P. Tillich, Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. Ein Vortrag, in: Logos 16 (1927) 68–85; wiederabgedruckt in: MW III, 132–146; ders., Logos und Mythos der Technik, in: Logos 16 (1927) 356– 365; wiederabgedruckt in: GW IX, 297–306. 8 Vgl. Sturm, Historische Einleitung, EW XX, XXIIf. 9 Vgl. A. a.O., EW XX, XXXV. Vgl. auch den Brief P. Tillichs an H. Frick vom 26. Juli 1925, in: Sturm, Historische Einleitung, EW XX, XXXIV. 10 Vgl. M. Lienert/U. Hendlmeier, Wissenschaft in Dresden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis 1945, in: G. Landgraf (Hg.), Geschichte der Technischen Universität Dresden in Dokumenten und Bildern, Bd. 2, Dresden 1994.
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senschaftliche Abteilung auch Gefahren verbunden. Sie bestanden darin, dass er sich mit seiner neuen Professur gleichsam ins akademische Abseits für eine weitere theologische Karriere gestellt hatte. Tillich beugte dem vor, indem er sich vom Sächsischen Kultusministerium die Möglichkeit erhandelte, zugleich als ordentlicher Honorarprofessor für Religionsphilosophie und Kulturphilosophie an der Leipziger Theologischen Fakultät zu lehren. Auf diese Weise stand er mit einem Bein in einer theologischen und mit dem anderen in einer kulturwissenschaftlichen Fakultät. Im Juni 1927 hielt er in Leipzig seine Antrittsvorlesung mit dem Titel Die Idee der Offenbarung. ¹¹ Bis zum Wintersemester 1928/1929 lehrte Tillich in Dresden. Während dieser Zeit unternahm er zahlreiche Versuche, an eine theologische Fakultät in Bonn, Berlin und Marburg berufen zu werden, jedoch ohne Erfolg. Zum Sommersemester 1929 wechselte er auf eine Professur für Philosophie und Soziologie einschließlich Sozialpädagogik an der Universität Frankfurt am Main, seiner letzten Station in Deutschland, bevor er 1933 in die USA emigrieren musste.¹² Vier Jahre lehrte der Kulturtheologe und religiöse Sozialist Paul Tillich in Dresden. Es waren politisch und ökonomisch dramatische Jahre der jungen Weimarer Republik.¹³ Ältere Deutungen der Krisenjahre der ersten deutschen Republik und ihrer Aushöhlung durch linke und rechte Kritiker wurden in den letzten Jahren verflüssigt.¹⁴ Tillichs Stellungnahmen zur gesellschaftlichen und politischen Lage in den 1920er Jahren sind ein hervorragendes Beispiel für Weimarer IntellektuellenDiskurse. Auch seine Positionierung im umkämpften linksintellektuellen Diskursfeld in jenen Jahren ist ambivalent. Ihre Rekonstruktion setzt nicht nur eine genaue Einordnung in die komplexen Diskurse voraus, sie muss sich auch von Generalisierungen und moralischen Beurteilungen freihalten, die spätere Entwicklungen in Anspruch nehmen, welche den Zeitgenossen verborgen waren.¹⁵ In Tillichs Schriften verbindet sich Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft mit einem Plädoyer für einen religiös-sozialistischen Staat. Neu gegenüber den Berliner Nachkriegsjahren ist in Dresden, dass das mit dem Kairos verbundene Revolutionspathos zurücktritt. Der Geist, so schreibt Tillich 1926, mache eine „Atempause“ (GW X, 94). Er besinne sich auf seine Aufgaben und halte Rückschau nach dem ersten Viertel des
11 Vgl. P. Tillich, Die Idee der Offenbarung, GW VIII, 31–39. 12 Vgl. G. Schreiber/H. Schulz (Hg.), Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt, Berlin/Boston 2015; C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Paul Tillich im Exil, Berlin/Boston 2017. 13 Vgl. hierzu die Beiträge von Klaus Fitschen und Clemens Vollnhals in diesem Band. 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Alexander Gallus in diesem Band. 15 Vgl. R. Bavaj, Von den „Gesellschaftsproblemen der Gegenwart“ zur „sozialistischen Entscheidung“: Paul Tillichs politisches Denken in der Weimarer Republik, in: Kirchliche Zeitgeschichte 20 (2007) 97–127. Vgl. auch den Beitrag von Christian E. Roques in diesem Band.
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20. Jahrhunderts. „Denn das Jahr 1926, es ist im Geistigen ein Jahr der Beruhigung, der Müdigkeit, der Resignation und – des Atemholens, der verborgenen Schöpfung.“ (GW X, 99) Obwohl Tillich in Dresden an einer kulturwissenschaftlichen Abteilung lehrte, stand in jenen Jahren der weitere Ausbau seiner Theologie im Fokus. 1926 erschien sein Buch Die religiöse Lage der Gegenwart. ¹⁶ Es widmet sich einer religiösen Deutung der gesellschaftlichen und kulturellen Lage in den 1920er Jahren und war ein Erfolg für seinen Autor. Tillich sieht die Gesellschaft seiner Zeit durch den Geist der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Im Hintergrund seiner Gesellschaftsdiagnose stehen – die Metaphernwahl lässt es bereits erkennen – die Untersuchungen Max Webers zur Entstehung des okzidentalen Rationalismus der modernen Gesellschaft aus dem Geist des puritanischen Protestantismus. Charakterisiert sei die bürgerliche Gesellschaft dadurch, so Tillich, dass sie in sich ruhe, ein Geist in sich ruhender Endlichkeit sei, der sich von den religiösen Wurzeln, aus denen er lebt, abgeschnitten habe. Für Tillich, das ist der Grundgedanke seiner Kulturtheologie, liegt der gesamten Kultur ein religiöser Gehalt zugrunde. Religion ist die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion. Löst sich die Kultur von der Religion ab, wie es in der Entwicklungsgeschichte der modernen bürgerlichen Gesellschaft geschehen ist, dann wird sie gehaltlos und leer. Der Geist der bürgerlichen Gesellschaft – Tillich denkt hier vor allem an den modernen Kapitalismus – überziehe die gesellschaftliche Wirklichkeit mit dem bleiernen Schleier einer kalten Rationalität.¹⁷ Ebenfalls im Jahre 1926 publizierte Tillich seine kleine Studie Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte ¹⁸ sowie den ersten der beiden Bände des Kairos-Kreises mit dem Titel Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung. ¹⁹ Ähnlich wie in Die religiöse Lage der Gegenwart geht es in diesen Schriften um eine Zeitdeutung vom Ewigen her. Eine solche Deutung muss, wie es in der von Tillich verfassten Einführung des Kairos-Bandes heißt, „in eine tiefere Schicht dringen, als es die ist, in der jene Gegensätze leben“.²⁰ Ein Ausweg aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft und den stahlharten Gehäusen ihrer in sich ruhenden Endlichkeit ist lediglich von dieser Schicht zu erwarten. Doch er kann nicht hergestellt oder
16 Vgl. hierzu den Beitrag von Werner Schüßler in diesem Band. 17 Vgl. hierzu den Beitrag von Gerrit Mauritz in diesem Band. 18 Vgl. P. Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, Tübingen 1926; wiederabgedruckt in: GW VI, 42–71. Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Fritz in diesem Band. 19 Vgl. P. Tillich (Hg.), Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung, Darmstadt 1926. Vgl. hierzu den Beitrag von Daniel Weidner in diesem Band. 20 P. Tillich, Einführung des Herausgebers, in: ders. (Hg.), Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung, Darmstadt 1926, IX–XI, hier: XI.
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herbeigeführt werden. Das Unbedingte kann sich nur offenbaren. Allerdings ist der Durchbruch des Unbedingten nicht an die Religion im engeren Sinne, also die Kirchen, gebunden. Da das Unbedingte der Kultur bereits zugrunde liegt und Religion keine besondere Form der Kultur darstellt, ist Religion in allen Bereichen der Kultur möglich.²¹ Tillich verbindet die religiöse Neugestaltung der Gesellschaft aus dem theonomen Geist des Unbedingten mit dem religiösen Sozialismus, einer proletarischen Avantgarde, welche die bürgerliche Gesellschaft überwinden soll. Tillich lehrte in Dresden an einer Technischen Hochschule. Das schlägt sich auch in seinen Texten nieder. In vielen Aufsätzen und Vorträgen macht er sich auf die Suche nach der religiösen Dimension der Technik.²² Anlässlich der Einhundertjahrfeier der Technischen Hochschule im Jahre 1928 fand in Dresden die Ausstellung ‚Die technische Stadt‘ statt. Tillich hielt den Eröffnungsvortrag, der unter dem gleichen Titel in den Dresdner Neuesten Nachrichten abgedruckt wurde.²³ Die moderne Großstadt, die Ballung ungeheurer Menschenmassen auf engstem Raum, sei, wie er hier ausführt, ein Symbol der modernen Zeit. In ihr wird gleichsam die technische und industrielle Revolution der Moderne anschaubar, die Aneignung und Umschaffung der Erde durch den Menschen. Doch: Wir wohnen nicht um zu wohnen, sondern wir wohnen um zu leben. Wenn aber das Leben, unser ganzes Leben, im Dienste des Wohnens, im Dienste der technischen Stadt steht: wozu dann dieses Leben? Die technische Stadt gibt keine Antwort auf diese Frage, aber sie stellt diese Frage. Und wenn die Ausstellung ‚Die technische Stadt‘ und mit ihr die Jahrhundertfeier der Technischen Hochschule viele vor diese Frage stellen würde, so wäre sie wirklich Symbol geworden, in dem wir uns selbst angeschaut hätten in der Macht und in der Fragwürdigkeit unseres Seins. (MW II, 125)
Bereits im Jahr zuvor hatte Tillich einen Vortrag zur offiziellen Feier der Technischen Hochschule anlässlich des 99. Jahrestags ihrer Gründung übernommen. Er sprach über Logos und Mythos der Technik. Victor Klemperer, der den Vortrag gehört hatte, notierte am 21. Juni in seinem Tagebuch: Auch Tillich, der eigentliche Festredner, las ab, trocken, unpathetisch, eiskalt logisch, gar nicht theologisch, gedrängt gedankenreich, ‚Logos u. Mythos in der Technik‘. Vieles haftete mir, alles muß ich lesen u. werde vieles daraus verwerten können. Was er über die technische Schönheit sagte, was über das griechische Erbe, die contemplative Geisteswissenschaft über die handelnde Technik zu stellen, was über die neutrale Technik, die aber doch, durch Möglichkeiten
21 Vgl. hierzu den Beitrag von Ilona Nord in diesem Band. 22 Vgl. hierzu den Beitrag von Christian Schwarke in diesem Band. 23 P. Tillich, Die technische Stadt als Symbol, in: Dresdner Neueste Nachrichten, Nr. 115 (1928) 5 = MW II, 121–125.
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verführt, im Dienste einer verderbten Wirtschaft stünde, was über das relative Eigenleben der Maschine, u.s.w. Nur der Mythos kam nicht heraus.²⁴
Freilich hat sich Tillich in Dresden nicht nur mit Technik beschäftigt, sondern auch mit bildender Kunst, Architektur, Psychoanalyse und anderem.²⁵ Viele dieser Themen traktierte er bereits in den früheren Jahren. Neu in sein Blickfeld trat in Dresden jedoch der Ausdruckstanz.²⁶ Zu ihm gewann er Zugang durch Mary Wigman, aber auch durch Gret Palucca und Gertrud Steinweg. Für Tillich verkörperte der Ausdruckstanz geradezu seine Formel von der religiösen Substanz der Kultur und der kulturellen Form der Religion. „Der Tanz weckte in mir die unbeantwortbare Frage, wie die verlorengegangene Einheit von Kult und Tanz auf dem steinigen und wenig aufnahmebereiten Boden des Protestantismus wiedergewonnen werden könnte.“ (GW XIII, 134) Im Ausdruckstanz erschließt sich eine Schicht der Wirklichkeit, die ihn zum Symbol für eine göttliche Dimension werden lässt. Gerade das Zusammenspiel der individuellen Tänzerinnen und Tänzer lässt eine Einheit aufscheinen, die unterhalb der Gegensätze der zersplitterten und fragmentierten Kultur liegt. Noch dreißig Jahre später erinnerte sich Tillich 1957 in New York an seine Zeit in der Elbmetropole: Das Wort Tanz weckt in mir Erinnerungen an die zwanziger Jahre in Dresden. In jenen Jahren wurde Dresden mit Recht die ‚Stadt des Tanzes‘ genannt. Ich war damals Professor für Religionswissenschaften an der dortigen Technischen Hochschule und fand Kontakt zur Wigmanschule. Mary Wigman wurde – wie auch heute noch – als die bedeutendste unter den Schöpfern des modernen Ausdruckstanzes angesehen. (Ebd.)
Für die Entwicklung und Ausgestaltung von Paul Tillichs Theologie und Religionsphilosophie während der Weimarer Republik sind seine Dresdner Jahre grundlegend. In diesen Jahren zeichnet sich ein Wandel in seinem Denken ab. Die Anthropologie und Existenzphilosophie tritt in den Fokus seines Denkens. Sichtbar wird das auch an der Einführung neuer Leitbegriffe, die er in dieser Zeit geprägt hat: gläubiger Realismus, Gestalt der Gnade.²⁷ Es sind Jahre, in denen er Neues ausprobiert und wieder verwirft. Deutlich wird das an seiner Dogmatikvorlesung, die er in Marburg begonnen und im Wintersemester 1925/26 in Dresden unter dem Titel ‚Hauptprobleme des Christentums‘ weiterführte. 1926 wollte er diese Vorlesung zu einem Buch umarbeiten und im Otto Reichl-Verlag in Darmstadt unter dem Titel
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Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum, Bd. 2, 345. Vgl. hierzu die Beiträge von Joseph Imorde und Roderich Barth in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Alexander H. Schwan in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Christian Danz in diesem Band.
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Die Wissenschaft vom religiösen Symbol (Dogmatik) publizieren.²⁸ Bereits ein Jahr später änderte er den Titel der Vorlesung in Das System der religiösen Erkenntnis (1927/28). In seinem Nachlass haben sich zwei Ausarbeitungen dieses Projekts erhalten.²⁹ Jedoch schon ein Jahr später ändert er den Titel des Buchprojekts erneut in Die Gestalt der religiösen Erkenntnis (Dogmatik) (1928). Tillich ist auf der Suche nach prägnanten Begriffen. Das signalisiert, dass sein Denken vor dem Hintergrund der zeitgenössischen theologischen Debatten über Theologie als autonome Wissenschaft im Fluss ist.³⁰ Aber ändert sich in den Dresdner Jahren auch sein theologischer Ansatz? Und worin bestehen diese Transformationen vor dem Hintergrund der dramatischen politischen und ökonomischen Entwicklung Deutschlands in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre? Dem gehen die Beiträge des Bandes Paul Tillich in Dresden nach. Sie ordnen sein Denken in die Intellektuellen-Diskurse der Weimarer Republik ein, rekonstruieren es in diesem Horizont und präsentieren auf diese Weise ein facettenreiches Bild seiner Dresdner Wirksamkeit.
28 Vgl. hierzu E. Sturm, Editorischer Bericht zu: Paul Tillich, Das System der religiösen Erkenntnis, EW XI, 76–78. 29 Vgl. P. Tillich, Das System der religiösen Erkenntnis, EW XI, 79–116 (1. Version). 116–174 (2. Version). 30 Vgl. hierzu den Beitrag von Folkart Wittekind in diesem Band.
Teil I: Streit über die Weimarer Republik
Alexander Gallus
Weimarer Intellectual History Zur Vermessung geistiger Lagen auf schwankendem Grund
1 Schwierige Lokalisierung Gab es überhaupt Intellektuelle in der Weimarer Republik?¹ Eine solche Frage mag provozierend, womöglich sogar absurd wirken, da ja gerade Weimar häufig als Hoch- und Glanzphase der Intellektuellen gilt. Schließlich hatten sie einen wesentlichen Anteil daran, was das Gepräge der Goldenen Zwanziger Jahre ausmachte und später als „Weimar Culture“ in einen eigenen Begriff gegossen wurde. Wer sich diese Epochensignaturen vergegenwärtigt, dürfte mit Blick auf spätere Perioden eher in Resignation verfallen und bei Reminiszenzen an die Weimarer Geschichte in Nostalgie schwelgen. Mit Blick auf die bundesdeutsche Ideen- und Intellektuellengeschichte kam ein solch sehnsuchtsvoller retrospektiver Modus wiederholt zur Anwendung. Die Demokratie-Nachfolgerin ab 1949 genoss frühzeitig einen biedermeierlichen Ruf, während die Weimarer Vorgängerin stets als spannungsgeladen galt. Von der unerbittlichen Konsequenz jener Jahre ist in der Bonner Republik, wie es scheinen mochte, nur noch der abwägende Kompromiss geblieben. Die bundesdeutsche Geistesgeschichte habe an Eigenwilligkeit und Eigenständigkeit verloren, im Kalten Krieg zumal angesichts eines „Zwangs zur Parteinahme“.² Politisch phantasievolle Ideenwelten gerieten schnell ins Abseits. Die vielfach beschworene „skeptische Generation“ (später hieß sie 45er-Generation) eignete sich einen dezidiert nüchtern-pragmatischen Habitus an, der nach Affirmation statt Utopien verlangte. „fleißig und tüchtig, wenn auch nicht ausgesprochen ideenreich“ – so sei die Bundesrepublik, hielt der Schriftsteller Kasimir Edschmid über sie einigermaßen enttäuscht und früheren Zeiten nachtrauernd zu Beginn der 1960er Jahre in seinem Notizbuch fest.³
1 Diese Ausführungen haben in etwas kürzerer Form auch Eingang in meinen Band Intellektuelle in ihrer Zeit. Geistesarbeiter und Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert (Hamburg 2022) gefunden. 2 A. Schildt, Der Zwang zur Parteinahme. Die Intellektuellen im Frontstaat des Kalten Krieges, in: A. Gallus/S. Liebold/F. Schale (Hg.), Vermessungen einer Intellectual History der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2020, 36–52. 3 K. Edschmid, Aus meinem Notizbuch, in: W. Weyrauch (Hg.), Ich lebe in der Bundesrepublik. Fünfzehn Deutsche über Deutschland, München 1961, 50–59, hier: 58 f. https://doi.org/10.1515/9783111264332-003
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Alexander Gallus
Vor dieser Kontrastfolie ist die Frage „Gab es überhaupt Intellektuelle in der Weimarer Republik?“ umso irritierender. Um ein anderes Licht auf diese Frage zu werfen, mögen die Sichtweisen auf die Figur des Intellektuellen helfen, wie sie mit Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas die zwei wohl berühmtesten deutschen Soziologen nach 1945 je unterschiedlich entworfen haben. Beide, selbst herausragende Intellektuelle ihrer Zeit, haben sich wiederholt zum Typus des Intellektuellen geäußert. Habermas klagte in den letzten Jahren vor allem über den Statusverlust von Intellektuellen im Internetzeitalter.⁴ Dahrendorf erinnerte in seiner letzten Monographie unter dem Titel Versuchungen der Unfreiheit vor allem mahnend an die Verführbarkeit von Intellektuellen durch totalitäre Ideologien und politische Strömungen, die ein irdisches Heilsversprechen in Aussicht stellten.⁵ Es sind allerdings nicht diese jüngeren Positionen, sondern zwei ältere Texte der beiden Denker, die eine Fährte legen könnten, um die aufgeworfene Frage abschlägig zu beantworten. Dahrendorfs großes Werk Gesellschaft und Demokratie in Deutschland aus dem Jahr 1965 enthält ein Kapitel über „Deutsche Intellektuelle, Politik und Status“.⁶ Darin erörtert er verschiedene Haltungen des Intellektuellen, wobei er als „die eigentlich ‚klassische‘, nämlich typische Haltung“ für Intellektuelle die „kritische Haltung“ ausmacht.⁷ Er knüpft damit an Überlegungen von Mario Rainer Lepsius an, der Intellektuelle etwa zu derselben Zeit über ihr Tun definierte, nämlich „Kritik als Beruf“ zu üben.⁸ Außerdem rekurriert Dahrendorf auf Karl Mannheims These vom „freischwebenden“ geistigen Akteur, der sich von etwaigen „Rollenzumutungen“ emanzipieren konnte. Dahrendorf konstatiert, dass ein so charakterisierter Intellektueller wohl ein Linksintellektueller sei. Präziser schwebt ihm „links der Mitte“ als Standortkoordinaten und politische Orientierung vor. Denn, so Dahrendorf: „Der kritische Intellektuelle steht am Rande seiner Gesellschaft, aber er bleibt in ihr. Angelpunkt seiner Kritik ist seine Zugehörigkeit, in der auch die Hoffnung beschlossen liegt, durch die Kritik etwas auszurichten.“ Dahrendorf sieht den Intellektuellentypus in der „Nachfolge des Hofnarren“, der zwar ein „Ärgernis“ sei, das sich aber „noch in den Grenzen des Erträglichen“ halte.⁹ „Wenn es den Intellektuellen gelingt, diese ihre kritische – närrische – Aufgabe
4 J. Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 51 (2006) Heft 5, 551–557. 5 R. Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006. 6 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, 308–324. 7 A. a.O., 318. 8 M.R. Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen [1964], in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, 270–285. 9 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie, 318 f.
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wahrzunehmen“, so beschließt er sein Intellektuellen-Kapitel, „ist dies auch Symptom für den Fortschritt der deutschen Gesellschaft auf dem Weg zur Verfassung der Freiheit.“¹⁰ Dies schrieb er im Jahr 1965 und unterstrich damit, dass sich Deutschland aus seiner Sicht mehr als dreißig Jahre nach dem Ende der Weimarer Republik erst noch auf dem Weg befand, den kritischen Intellektuellen in der politischen Kultur des Landes fest zu verankern. Fast genau zwanzig Jahre später machte sich Jürgen Habermas 1986 ebenfalls eine skeptische Sichtweise zu eigen. In seinem Vortrag Geist und Macht – ein deutsches Thema erinnert er für die Weimarer Periode an manch überschießende Kritik der Intellektuellen an Staat und Gesellschaft, die bisweilen so scharf ausfiel, dass sie das demokratische System eher schwächte als stärkte.¹¹ Die „Unpolitischen“ und noch mehr die Rechtsintellektuellen zielten bewusst auf eine Unterminierung der Republik, aber auch manche linke Kritik konnte ungeachtet ihrer andersgearteten Intention einen antirepublikanischen Effekt erzeugen. Gerade die rechtsstehenden Intellektuellen, die sich als „konservative Revolutionäre“ verstanden, lehnten im Übrigen die Bezeichnung als Intellektuelle für sich ab. Habermas hebt überhaupt hervor, dass der Terminus vielen zu Weimars Zeiten als „westlich“ und „undeutsch“ galt. Stattdessen war die Rede von „geistigen Menschen“, von „Geistigen“, „Geistesadel“ oder „geistigen Arbeitern“ gängig.¹² So schizophren das anmutet, waren es die Intellektuellen selbst, die einander „Intellektuelle“ schimpften. Nicht nur die Rechtsintellektuellen befanden sich nach 1918 in einer Art Frontstellung zu Staat und Gesellschaft, auch die Linksintellektuellen waren überwiegend unzufrieden mit der realen Republik. Das kam in einer Bemerkung Carl von Ossietzkys zum Ausdruck, der noch als Chefredakteur von Leopold Schwarzschilds liberalem Tage-Buch im September 1924 schrieb, die regelmäßig angestimmte Klage über die Republik ohne Republikaner sei in seinem Falle und dem seiner geistigen Mitstreiter falsch. „Es liegt leider umgekehrt“, so lautete Ossietzkys pointiertes Urteil: „die Republikaner sind ohne Republik.“¹³ Mit dieser These ist ein interessanter Perspektivwechsel, eine Betrachtungsumkehr verbunden, die den politisch-gesellschaftlichen Kontext zu einem wesentlichen Antriebsmoment intellektuellen Wirkens werden lässt. Wer von den Intellektuellen selbst ausgeht, gewichtet möglicherweise deren verbale Angriffe und die Autonomie ihrer
10 A. a.O., 324. 11 J. Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI, Frankfurt a. M. 1987, 27–54. 12 So a. a.O., 32; vgl. dazu D. Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978. 13 C. v. Ossietzky, Deutsche Linke, in: Das Tage-Buch vom 20. September 1924, 1322 f., hier: 1323.
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Ideenwelten zu stark und berücksichtigt nicht, wie schwer sich damals Staat, Gesellschaft und Parteien mit den Intellektuellen taten. Vor diesem auch von Habermas skizzierten zweifach schwierigen Hintergrund einer internen wie externen Intellektuellenskepsis konnte sich eine auf Liberalisierung und Demokratisierung zielende „politische Kultur des Widerspruchs“,¹⁴ wie er sie in den von ihm favorisierten deliberativen Demokratien schon damals für unabdingbar hielt, zwischen 1918 und 1933 nur ungenügend ausbilden. Im Ergebnis spricht er von „einer in Weimar leider fehlgeschlagenen Institutionalisierung der Rolle des Intellektuellen“.¹⁵ In der Bundesrepublik sollte sich dies zum Besseren wandeln, auch wenn Habermas ihr ebenfalls „keinen geradlinigen Verlauf“ auf dem Weg zur Institutionalisierung des Intellektuellen attestiert. Sie glückte aber letztlich und etablierte in einem langwierigen Prozess eine Intellektuellenschicht, die nicht nur öffentliches Gehör und gesellschaftliche Anerkennung findet, sondern sich auch „selbst als solche“ zu akzeptieren lernen sollte.¹⁶ Lediglich einige Vertreter einer intellektuellen Rechten wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky würden sich in einem anhaltenden Antiintellektualismus und einer hartnäckigen „Intellektuellenbeschimpfung“ üben, durch die „man sich ins Milieu der Weimarer Zeit zurückversetzt“ fühle.¹⁷ Bündelt man die Würdigungen von Dahrendorf und Habermas, so gab es während der Weimarer Republik in nur sehr unvollendeter Weise Intellektuelle in prekärer Position. Häufig wollten sie sich nicht so bezeichnen, kämpften mit der eigenen Rolle und erfuhren kaum gesellschaftlich-politische Akzeptanz, stattdessen regelmäßig Missgunst und Feindschaft. Umgekehrt taten sie sich mit der Staatsund Gesellschaftsordnung schwer, in der sie lebten. Auf der Seite der politischen Rechten und des konservativen Bürgertums dominierten jene Kräfte, die die Demokratie an sich missbilligten und ein monarchisches oder anderweitiges autoritäres Regime herbeisehnten. Auf der linken Seite gab es zwar eine ganze Reihe bekennender Republikaner und Demokraten, die auf dieser ideellen Grundlage aber eher Gesellschaftsutopien verwirklichen wollten, statt einen gewissen Pragmatismus zu üben und mittels segmentärer Kritik oder Vorstellungen zu klugen Kompromissen auf eine Verbesserung der konkret existierenden Republik hinzuwirken. So gesehen erscheinen die Zweifel berechtigt, ob wir es während der Weimarer Republik überhaupt über eine technisch-funktionalistische Begriffsbestimmung hinaus mit Intellektuellen zu tun haben. Zumindest mangelte es an solchen Intel14 15 16 17
Habermas, Heine und die Rolle des Intellektuellen, 29. A. a.O., 35. A. a.O., 46 f. A. a.O., 48.
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lektuellen, wie sie Dahrendorf und Habermas in normativer Hinsicht charakterisiert haben – und wie sie später auch Michael Walzer in typisierender Absicht herausarbeiten sollte: nämlich Intellektuelle als Zeitkritiker, die sich mit ihrer Gesellschaft verbunden fühlen, deren Zustände sie engagiert beobachten und mit kritischer Sympathie kommentieren.¹⁸ Umgekehrt sollten diese „internal critics“, die sich vom Leitbild radikaler Außenseiter zu verabschieden hatten, grundsätzliche gesellschaftlich-politische Anerkennung für die von ihnen ausgeübte Rolle finden. Vergleicht man diese allgemeinen Betrachtungen mit den lange von der Weimar-Historiographie gezeichneten Bildern, so scheint sich die radikal antagonistische, zerstörerische Rolle der Intellektuellen untereinander und gegenüber der Republik zu bestätigen. Binäre Schemata zur Vermessung der Weimarer Ideenlandschaft und Intellektuellenszenerie erweisen sich bis heute als überaus hartnäckig, so sehr seit vielen Jahren auch die Rede von „Austauschdiskursen“ und entsprechenden „Gemengelagen“ zugenommen hat, durch die „die gängigen Darstellungskriterien der politischen Kultur der Weimarer Republik in Links- und Rechtsintellektuelle, Republikaner und Antirepublikaner, Verfechter und Kritiker der Moderne“ als simplifizierende Zuordnungen in Frage gestellt wurden.¹⁹ Häufig münden Resultate dieses wichtigen neuen Zugangswegs in der Konstatierung mehrdeutiger Situationen und kontingenter Krisenlagen,²⁰ die sich so oder so entwickeln konnten. So unbefriedigend dieser Hang zu Offenheits- und Ambivalenz-Diagnosen erscheint, ist dadurch doch eine wichtige Fährte gelegt, deren zentrale Herausforderung nun aber darin besteht, Koordinaten einer Neuvermessung und Kartographierung auf schwankendem Grund zu bestimmen. Ich will an zwei Beispielen verdeutlichen, wie das aussehen könnte: erstens am Fall der Formungsprozesse und Impulse eines liberal-demokratischen Denkens, wie es erst jüngst Jens Hacke genauer als zuvor rekonstruiert und in seiner Komplexität problematisiert hat; zweitens anhand einer alternativen Sicht auf die Weltbühne, die allzu häufig in das Schema eines republikzerstörenden Blattes hier, eines radikaldemokratischen
18 M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn, Frankfurt a. M. 1993; ders., Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997. 19 Programmatisch M. Gangl/G. Raulet, Einleitung, in: dies. (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a. M. 22007, 9–53, hier: 27. 20 Einen zentralen Impuls zu einer „Krisen“-Betrachtung mit offenem Ausgang anstelle eines Niedergangsparadigmas gaben M. Föllmer/R. Graf (Hg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005; vgl. auch N. Rossol/B. Ziemann, Einleitung, in: dies. (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, 9–31, insbes. 16 f.
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Blattes dort gepresst wurde, statt den Tendenzen einer demokratischen Demokratiekritik innerhalb dieser führenden Zeitschrift einer heimatlosen Linken nachzuspüren. Diese Betrachtungen zur Weimarer Intellectual History sollen dazu anregen, solche Ideenformationen in einer für diese Periode besonders typischen Schwebelage genauer zu erkunden und im zeithistorischen Kontext zu situieren.
2 Liberal-demokratische Metamorphosen und Avantgarden Mittlerweile haben sich Historiographie ebenso wie politisch-kulturelle Stimmungsbilder vom lange vorherrschenden „Weimar-Komplex“ befreit, der letztlich auf eine zum Ritual verfestigte Abgrenzung der bundesdeutschen Demokratie von ihrer Vorgängerin hinauslief.²¹ Nunmehr wird Weimar vielfältiger gewürdigt, nicht nur als Scheitern-Geschichte mit „1933“ als Kulminationspunkt, sondern auch als Teil einer komparativen und Zäsuren übergreifenden Demokratiegeschichte. Aus der Sicht einer Intellectual History fordert dies dazu heraus, Schichten des damaligen liberalen und demokratischen Denkens freizulegen, wie das Jens Hacke in seiner großen Studie Existenzkrise der Demokratie getan hat.²² Verglichen mit Ideenwelten und Denkstilen, die zur Radikalität neigten, ist einem gemäßigten demokratischen Denken erstaunlicherweise überhaupt erst in jüngerer Zeit eine größere Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Hierzu gehören Anstrengungen, die den Begriff des „Vernunftrepublikanismus“ mit neuem Leben erfüllen wollen, aber auch jene, die den Prozess der Demokratisierung während der Zwischenkriegszeit als einen – im internationalen Vergleich – ebenso „normalen“ wie „fragilen“ Vorgang herausstellen.²³ Dies bedeutet zugleich einen Abschied von deutschen Sonderweg-Vorstellungen ebenso wie von fixen Demokratiemodellen, die sich damals erst in einem fluiden und widersprüchlichen Prozess herauszubilden begannen, noch keine Erfolge zu verzeichnen hatten und systemische Sta-
21 S. Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009. 22 J. Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018. In diesen Passagen stützen sich die Ausführungen zum Teil in direkter Form auf meine Rezension des Buches für hsozkult vom 22. Mai 2019. 23 C. Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; A. Wirsching/J. Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008; T. B. Müller/A. Tooze (Hg.), Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2015.
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bilität vermissen ließen, aber für spätere Zeiten gelegentlich sogar eine Avantgardefunktion erfüllten.²⁴ Diesen Formungs- und Wandlungsprozess besser verstehen zu können, dazu leistet Jens Hacke einen zentralen Beitrag, auch indem er das spannungsreiche Wechselverhältnis zwischen liberalem und demokratischem Denken einzufangen sucht. Das liberal-demokratische Konsens-Kompositum, wie es ab der Zeit des Kalten Krieges nach 1945 selbstverständlich wurde, gab es zu Weimars Zeiten noch keineswegs. Der Liberalismus befand sich am Ende des Ersten Weltkriegs in einer paradoxen Situation: Zum einen hatte er einen Tiefpunkt erreicht und galt als kaum wiederbelebungsfähig, zum anderen wurde in Deutschland wie andernorts erstmals das begründet, was sich – mindestens im Rückblick – als „liberale Demokratie“ bezeichnen lässt. Tiefpunkt und Triumph waren miteinander verquickt. Die Dauerhaftigkeit des Triumphs hing wesentlich davon ab, wie überzeugend es gelingen sollte, die Verbindung aus Demokratie und Liberalismus zu begründen. An Versuchen dazu, an Lern- und Anpassungsleistungen hat es nicht gemangelt. Dieser Vorgang war mit vielen Reibungsverlusten verbunden. Ungeachtet aller Krisenanfälligkeit und Abgründigkeit war die Zwischenkriegszeit gleichwohl, wie Hacke betont, die „konstitutive Epoche einer pluralistischen, demokratischen und nicht zuletzt liberalen Welt, wie wir sie heute kennen“.²⁵ Dabei verfolgt er einen rar gewordenen Ansatz, der Politik- und Geschichtswissenschaft wieder einander näher zu bringen sucht. Es ist eine Ideengeschichte als hoch dynamische „Reflexions- und Erfahrungsgeschichte“.²⁶ Nicht das abstraktuniversalisierbare Ansinnen systematischer Theoretiker ist von vorrangigem Interesse, sondern der Liberalismus als „Modus eines konstellationsabhängigen Denkens“²⁷, so wie es sich eine kontextsensible Intellectual History auf die Fahnen geschrieben hat. Konturen des keineswegs einheitlichen liberalen Denkens, das sich nicht zu einem Syndrom fixer Ideologeme bündeln lässt, werden dann in vier Etappen erkennbar. Die erste Etappe ist den „Ausgangslagen“ nach dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Hier kommen Leitfiguren wie Hugo Preuß, Leopold von Wiese und Max Weber, aber auch Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke zu Wort, die
24 Weimarer Prägungen politischer Vordenker und Akteure im Exil (und nach der Remigration) betonen auf unterschiedliche Weise: A. Doering-Manteuffel, Weimar als Modell. Der Ort der Zwischenkriegszeit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36, 21 (2012) Heft 6, 23–36; U. Greenberg, Weimarer Erfahrungen. Deutsche Emigranten in Amerika und die transatlantische Nachkriegsordnung, Göttingen 2021. 25 Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 16. 26 A. a.O., 20 f. 27 A. a.O., 29.
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zunächst eine „Rhetorik der Illusionslosigkeit“ probten.²⁸ Die große Emphase der Demokratiegestaltung schien noch blockiert angesichts von Massenskepsis und liberalem Elitedenken, die zusammen bisweilen eine Annäherung an kulturpessimistische und konservativ-revolutionäre Denkrichtungen beförderten. Thomas Mann mag als prominentestes Beispiel dienen.²⁹ Anders als der berühmte Schriftsteller, der nach dem Rathenaumord im Jahr 1922 ein offensives Bekenntnis zur Weimarer Neuordnung in seiner legendären Rede Von deutscher Republik ablegte,³⁰ begann sich der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch schon während des Ersten Weltkriegs in einem längeren Lernprozess demokratischen Leitgedanken zu öffnen.³¹ Für die krisenhafte Frühphase zwischen Novemberrevolution und einer Attentatsserie der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ sind Troeltschs Spectator- und Berliner Briefe eine erstrangige zeitdiagnostische Quelle, um in seinem Fall Formungen des liberal-demokratischen Denkens nachzuvollziehen. Was Troeltsch dokumentiert, ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte, sondern gibt – zumal nach den Morden an Erzberger und Rathenau – einer Verzweiflung darüber Ausdruck, dass bislang die Herausbildung und Festigung einer starken gemäßigten Mitte nicht gelungen sei. Er richtete seine Kritik insbesondere an die eigene Klasse, das Bürgertum, das er in der Pflicht sah, nicht nur die parlamentarisch-demokratische Staats- und Institutionenordnung zu stützen, sondern auch an der Schaffung einer auf liberalen Werthaltungen beruhenden öffentlichen Meinung mitzuwirken. Andernfalls fürchtete er einen fatalen Erfolg sozialistischer und noch mehr rechtsnationalistischer Verheißungsangebote.³² Auf einer zweiten Etappe steht diese bereits von Troeltsch adressierte Herausforderung von weit rechts, durch den Faschismus, als Versuchung und Gefahr zugleich, im Mittelpunkt. Als ein Widersacher dieser völkischen Herrschaftsideologie und gemäßigt liberaler Protagonist kommt hier Moritz Julius Bonn ins Spiel,
28 A. a.O., 73. 29 An anderer Stelle spricht Jens Hacke in Thomas Manns Falle treffend von einem „Liberalismus der Ambivalenz“. So J. Hacke, Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten. Weimar und die Gegenwart, Hamburg 2021, 137–152. 30 Gleichwohl ist es eine bis heute bestehende Streitfrage, ob der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen damit wirklich eine „republikanische Wende“ vollzog. Vgl. S. Rehm, Art.: Von deutscher Republik (1922), in: A. Blödorn/F. Marx (Hg.), Thomas Mann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015, 162–164; T. Lörke, Thomas Manns republikanische Wende?, in: Thomas Mann Jahrbuch 29 (2016) 71–86. 31 Vgl. R. E. Norton, The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War, Tübingen 2021. 32 Vgl. die ausgezeichnete Edition: E. Troeltsch, Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), hg. v. G. Hübinger in Zusammenarbeit mit N. Wehrs (Kritische Gesamtausgabe, Bd. 14), Berlin/Boston 2015.
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der als Wissenschaftler und Intellektueller im Modus eines undogmatischen Pragmatikers und „ironische[n] Skeptiker[s]“ wirkte.³³ Er teilte die unter Liberalen so verbreitete Reserve gegenüber einer „Massendemokratie“, die er aber durch „institutionelle Vermittlung und Repräsentation“ sowie die „Verbindung zu liberalen Ideen“ zum Erfolg führen zu können glaubte.³⁴ So sollte für Bonn ein Gegengift zum Faschismus entstehen, dessen Mischung aus Willkür und Gewalt er als abschreckend empfand. Der sensible Zeitdiagnostiker bildete überhaupt besonders frühzeitig einen genauen Spürsinn für die Bedrohung durch neue Diktaturformen aus. Damit war er nicht allein. Auch der Redakteur der Frankfurter Zeitung Fritz Schotthöfer entwickelte bereits in den Jahren 1923/24 eine „Frühform der Totalitarismustheorie“ und trat energisch für den Erhalt und die Stärkung einer liberalen Demokratie ein.³⁵ Trotz solch früher Gegenüberstellungen von Demokratie und Antidemokratie war das Verständnis möglicher liberal-demokratischer oder liberal-sozialdemokratischer Synthesen alles andere als festgefügt. Das frühe Scheitern der Weimarer Koalition war Ausdruck einer brüchigen Konstellation. Auch an einzelnen intellektuellen Akteuren lässt sich der entsprechende Spannungsreichtum ablesen. Blicken wir beispielsweise auf Hermann Heller. Die Zuordnung dieses Sozialdemokraten zu den Liberalen, wie von Hacke vorgeschlagen, dürfte nicht jeder teilen, ebenso wenig wie vermutlich der eine oder andere Hellers nationale Wendungen gegen Ende der Republik vorrangig mit einer entsprechend aufgeladenen zeittypischen Sprechweise erklären möchte. Hier kommt es u. a. darauf an, welchen „Heller“ man wo liest. Hacke würdigt insbesondere Hellers Beiträge in der Neuen Rundschau, die mit einigem Recht als „das repräsentative Organ eines intellektuellen Liberalismus“ gilt.³⁶ Eine andere Interpretation hätte möglicherweise die Lektüre von Hellers für nationale Integration und Homogenität plädierenden Texten in den von Paul Tillich mitherausgegebenen Neuen Blättern für den Sozialismus hervorgebracht. Tillich selbst gehört insbesondere angesichts seines im Januar 1933 publizierten Werkes Die sozialistische Entscheidung für Hacke zu den Vertretern eines bürgerlichen Antiliberalismus. Schließlich verfolgte der protestantische Religionsphilosoph und spät berufene Sozialdemokrat darin ein „von endzeitlichen Erwartungen getriebenes Aktionsprogramm, das Revolutionshoffnung, Einheitsstiftung und gesamtgesellschaftlichen Erweckungsglauben verknüpfte“. An der Jahreswende 1932/33 fügte sich diese Haltung in ein intellektuelles Klima „radikaler
33 34 35 36
Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 161. A. a.O., 163. A. a.O., 142. A. a.O., 180.
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Infragestellung“ ein.³⁷ So klar auch Tillich und weitere Autoren der Neuen Blätter für den Sozialismus gegen Weimars parlamentarische Ordnung aufbegehrten, mag es überspitzt und kategorial zu eindeutig erscheinen, das verquirlte Ideenkonglomerat aus national- und sozialrevolutionären, jugendbewegten und antifaschistischen Ingredienzen dieser nur schwer zu verortenden Sozialdemokraten unter dem Begriff „Junge Rechte“ zu rubrizieren.³⁸ Ungeachtet dieser kontroversen Zuordnung bezeugt ein genauer Blick auf die Reaktions- und Umbauleistungen des liberalen Denkens während der Zwischenkriegszeit doch, in wie analytisch-genauer und kritisch-kämpferischer Weise eine Reihe liberaler und nicht nur linker Akteure dem Faschismus bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 und den ersten Jahren danach begegneten. Das wird auf einer nächsten Etappe, die unmittelbar an die Auseinandersetzung mit dem Faschismus anschließt, besonders deutlich. Auf ihr kommen gedankliche Anstrengungen zur proaktiven Verteidigung der parlamentarischen Demokratie zur Sprache, die sich ideengenealogisch keineswegs allein auf die dann regelmäßig angeführten Überlegungen Karl Loewensteins zur„militant democracy“ reduzieren lassen. Frühzeitig hat sich ein breiter liberal-demokratischer Diskurs kämpferischer Natur herausgebildet, ohne den sich wohl der spätere Drang zu konstitutionell „eingehegten“, streitbaren Demokratien nach 1945 nicht vollständig erklären ließe.³⁹ Zu den in Vergessenheit geratenen Vorkämpfern einer wehrhaften Demokratie gehörte der Prager Journalist und Philosoph Felix Weltsch (der 1936 das Buch Das Wagnis der Mitte veröffentlichte) ebenso wie der litauisch-deutsche Publizist Wladimir Astrow (der 1939 einen Großessay über die Grenzen der Freiheit in der Demokratie schrieb). Überzeugend ist es auch, den oft ob seiner Reinen Rechtslehre als Total-Positivist abgestempelten Hans Kelsen als couragierten demokratischen Intellektuellen in seiner Zeit wiederzuentdecken. Schließlich habe Kelsen „dem heutigen Verständnis einer pluralistischen Parteiendemokratie mit
37 A. a.O., 112. Vgl. auch R. Bavaj, Von den „Gesellschaftsproblemen der Gegenwart“ zur „sozialistischen Entscheidung“. Paul Tillichs politisches Denken in der Weimarer Republik, in: Kirchliche Zeitgeschichte 20 (2007) 97–127. 38 So S. Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918–1945, Bonn 2006; schon ders., Der Antifaschismus der sozialdemokratischen Jungen Rechten. Faschismusanalysen und antifaschistische Strategien im Kreis um die „Neuen Blätter für den Sozialismus“, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000) 990–1011; A. Schildt, National gestimmt, jugendbewegt und antifaschistisch – die Neuen Blätter für den Sozialismus, in: M. Grunewald (Hg.), in Zusammenarbeit mit H. M. Bock, Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Frankfurt a. M. [u. a.] 2002, 363–390; auch E. Kolb, Mit äußerstem Einsatz. Die „Neuen Blätter für den Sozialismus“ und der Widerstand, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. April 2007. 39 Vgl. M. Conway, Western Europe’s Democratic Age. 1945–1968, Princeton 2020.
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parlamentarischem Repräsentativsystem am nächsten“ gestanden.⁴⁰ An diesem Fall wie an weiteren Beispielen zeigt sich besonders eindrücklich, wie sehr sich eine Erfahrungs- und Reflexionsgeschichte, eine Intellectual History im besten Sinne, vor dem Hintergrund konkreter Zeitläufe von einer bisweilen steril wirkenden Theoriegeschichte unterscheidet. Die letzte Etappe der Begehung liberaler Wege in der Zwischenkriegszeit handelt von den Herausforderungen eines einzuhegenden Kapitalismus. Erneut kommt Moritz Julius Bonn, ein „Keynes-Sympathisant der ersten Stunde“, zu Wort.⁴¹ Ebenso ins Blickfeld geraten weit zurückreichende Debatten eines Ordoliberalismus, der andernorts gelegentlich erst wie aus dem Nichts in der frühen Bundesrepublik als quasi-revolutionäre Konstruktion der sozialen Marktwirtschaft auftaucht. Auch hier liegen die Wurzeln tiefer und erfordern eine Kenntnis der Zwischenkriegszeit, als liberale Ökonomen und liberale Demokraten in ihren gesellschaftlichen Leitbildern meist noch weit auseinanderlagen und sich über so etwas wie einen „deutschen Keynesianismus“ (mit und ohne Keynes) einander anzunähern begannen.⁴² „Das Drama Weimars“, so lautet ein Fazit von Hackes erfahrungsgesättigter Ideengeschichte, „bescherte Liberalen die Einsicht, dass die wirtschaftliche Ordnung nicht ohne Berücksichtigung demokratischer Politik und die liberale Demokratie nicht ohne Rahmensetzung für den Kapitalismus gedacht werden können.“⁴³ Nicht zuletzt auch durch die Wiederentdeckung von Moritz Julius Bonn und weiteren in Vergessenheit geratenen Intellektuellen gelingt es ihm, auf noch unsicherem ideenpolitischen Terrain liberale Positionen und Denkweisen mit Innovationspotential freizulegen, die gewissermaßen ihrer Zeit voraus waren. Am Ende steht ein nüchternes, abwägendes Urteil, das weder eine Ehrenrettung der liberalen Denker zwischen den Kriegen leistet noch diese zu Sündenböcken stempelt. Hacke legt stattdessen das vielfach verknotete Geflecht eines Liberalismus frei, den er nicht als Entität verstanden wissen will. Ganz intellectual historian, hält er nicht viel davon, Idealkonstruktionen in Papierform von geradezu zeitloser Schönheit aufzuspüren. Auch die Ideen- und Theoriearbeit der liberalen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit lässt sich nur in ihren spezifischen Ausprägungen, in konkreten Konstellationen und Kontexten verstehen. Freilich findet Hacke auch Grundüberlegungen, die erst später, in der langen Sicht Wirkung entfalteten und die Genese jenes Konsensliberalismus zu erklären helfen, der als gedankliches Konstrukt nicht 40 Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 222. 41 A. a.O., 291. 42 Dazu auch A. Gallus, Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik, Hamburg 2021, 135–161. 43 Hacke, Existenzkrise der Demokratie, 394.
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allein mit dem voll entfalteten Ost-West-Konflikt zu erklären ist. Dies mag, nebenbei bemerkt, ex post einen weiteren Ansatz bieten, um einen Autor wie Hermann Heller in das liberale Spektrum einzufügen. Schließlich kennzeichnete es den späteren Konsensliberalismus ganz besonders, auch in konservative und sozialdemokratische Milieus einzudringen und dort einen Grundton vorzugeben.
3 Demokratische Demokratiekritik in der Weltbühne Welchen Grundton aber setzte die Weltbühne? Einen linksliberalen? Einen linksradikalen? Einen demokratischen oder gar einen extremistischen? Eine Einigung über solch polarisierende Fragen scheint bis heute nicht leicht zu erzielen zu sein. Schwärmerisch-nostalgische Elogen, die von einer regelrechten Weltbühnen-Sehnsucht künden, kämpfen gegen solche Stimmen an, die in dem Blatt einen Totengräber der Republik ausmachen. Es handelt sich bei der Weltbühne demnach in jedem Fall um eine Zeitschrift des Entweder-oder. Tertium non datur!⁴⁴ Diese binäre rezeptionsgeschichtliche Konstellation lässt sich zudem gut mit den Koordinaten verbinden, die regelmäßig zur Vermessung des politisch-literarischen Feldes während der Weimarer Republik angeführt werden. Dieses Feld sei hochgradig segmentiert und polarisiert gewesen. Die zersplitterten Milieus und politischen Teilkulturen hätten in der „kampfbetonten Propaganda gegensätzlicher Meinungen durch Richtungszeitschriften“ Ausdruck gefunden. Die Intellektuellen befanden sich demnach in einem „Überbietungswettlauf um die radikalste Zeitdiagnose“, wie der Historiker Morten Reitmayer konstatiert. Er sieht auch die Weltbühne als Bestandteil einer für die Weimarer Jahre typischen Freund-FeindPositionierung im Kampf um Werte und Weltanschauungen. Jedwede „kompromissorientierte Tagespolitik“ musste ihr, schreibt Reitmayer, wie ein „Sündenfall“ vorkommen.⁴⁵ Ganz gleich wie man das Entweder-oder im Kampf der Richtungszeitschriften je nach normativ-politischem Standpunkt bewertet, muss dieser Lesart zufolge als Grundtatsache festgehalten werden, dass die Weltbühne eine typische Repräsentantin der Richtungszeitschriften Weimarer Provenienz war. Das heißt, sie zielte
44 Vgl. diverse Belege bei A. Gallus, Heimat „Weltbühne“. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012. 45 M. Reitmayer, Das politisch-literarische Feld um 1950 und 1930 – ein Vergleich, in: A. Gallus/ A. Schildt (Hg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, 70–91, hier: 72 f. u. 75.
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nicht auf einen lagerübergreifenden, pluralistisch-demokratischen Ideenaustausch, wie ihn – vor allem nach 1945 – integrierende und zur fairen Diskussion anregende Forumszeitschriften ermöglichen sollten. Wenn es zu Weimars Zeiten Ausnahmen, ja avantgardistische Vorboten der Forumszeitschrift gab, dann werden meist die Neue Rundschau und das Tage-Buch ins Feld geführt. Die Weltbühne hingegen steht für richtungspolitische Eindeutigkeit und Unbedingtheit. Ein Dazwischen gab es nicht. – Aber stimmt das eigentlich? Sucht man eine Bestätigung für den Charakter als Richtungszeitschrift in einer etwaigen parteipolitischen Anbindung, so trifft dies in jedem Fall nicht auf die Weltbühne zu. Es gab zwar immer wieder Autoren – auch aus der ersten Reihe –, die sich sicht- und hörbar in Parteien engagierten, aber das war nicht maßgebend für das Gepräge der Zeitschrift. Zu nennen sind beispielsweise Robert Breuer und Heinrich Ströbel, wobei Ströbel – der „Unabhängige“ – Breuer – den Mehrheitssozialdemokraten – in der Redaktion kurz nach der Novemberrevolution ersetzen sollte. Breuer war über Jahre hinweg Leitartikler der Weltbühne (und ihrer Vorgängerin Schaubühne) gewesen; als Vertrauter Friedrich Eberts avancierte er 1919 zum stellvertretenden Pressechef der Reichskanzlei. Das passte in der Tat nicht zum hauptsächlichen Kurs, den die Zeitschrift nach den Umbrüchen am Ende des Ersten Weltkriegs steuerte. Sie stellte sich überwiegend auf die Seite linker Liberaler wie unabhängiger Sozialdemokraten. Radikalen Räteideen und „Spartakus“-Positionen begegnete sie dagegen skeptisch. Gleichwohl erschien ihr der Übergang vom Kaiserreich zur neuen demokratischen Ordnung als ein halbherziger. Zu viel autoritärer Ballast wurde ihres Erachtens über die Epochenschwelle von 1918/19 gehievt. Ungeachtet dieser Dispositionen achtete die Weltbühne penibel darauf, sich nicht in den Dienst einer Partei zu stellen oder stellen zu lassen. Das galt selbst noch, als ab Mitte/Ende der 1920er Jahre vermehrt Forderungen nach der Bildung einer roten Einheitsbewegung aus Sozialdemokraten und Kommunisten in ihren Spalten zu lesen waren. Sie verstand sich weiterhin als jener Ort, an dem sich Vertreter einer „heimatlosen Linken“ versammeln konnten. Carl von Ossietzky schrieb Anfang 1929 einmal: „Aber die Torheiten der Kommunisten machen die Politik der offiziellen Sozialdemokratie nicht schmackhafter, sondern verstärken nur das Gefühl der Heimatlosigkeit, das die Besten der deutschen Linken so oft befällt.“⁴⁶ Die Weltbühne präsentierte sich als so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition im Zeitschriftenformat. War mit dieser Selbstverortung im politischen System Weimars aber eine strikte Antihaltung gegenüber Parlament, Regierungssystem und den darin wirkenden Politikern verbunden? Anton Erkelenz, linksliberaler Politiker der Deut-
46 C. v. Ossietzky, Alexanderschlacht, in: Die Weltbühne vom 15. Januar 1929, 81–84, hier: 82.
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schen Demokratischen Partei und Mitherausgeber von Friedrich Naumanns Zeitschrift Die Hilfe, urteilte einmal scharf: „Was für Männer in Deutschland auch immer zu irgendeiner Zeit herrschen mögen, in kürzester Zeit werden sie insgesamt, ohne Unterschied der Partei, von der‚Weltbühne‘ so madig gemacht, dass kein Hund ein Stück Brot von ihnen nimmt.“⁴⁷ Als punktueller Beleg gegen diese scharfe These ließe sich zunächst das respektvolle Porträt nennen, das Erich Dombrowski 1924 von Erkelenz selbst in der Weltbühne zeichnete.⁴⁸ Unter dem Pseudonym „Johannes Fischart“ veröffentlichte Dombrowski dort im Übrigen unzählige Politikerporträts, für die eine gediegene Mischung aus Lob und Kritik kennzeichnend war. Das traf auf Hermann Müller von der SPD ebenso zu wie auf Wilhelm Marx vom Zentrum oder Hugo Preuß von der DDP. Die von Dombrowski skizzierten Charakterbilder gaben so etwas wie demokratischer Demokratiekritik Ausdruck.⁴⁹ Als Paradebeispiel hingegen, an dem sich die radikal-unbedingte Grundhaltung der Weltbühne festmachen lasse, hält häufig das vernichtende Bild her, das die Zeitschrift von Friedrich Ebert gezeichnet habe. In der Tat lassen sich viele Belege für die geringe Gegenliebe finden, auf die der erste Reichspräsident in der Zeitschrift stieß. Er galt ihr als zu reformerisch, als träge und antiintellektuell, zudem als Saboteur gegenüber einer auf Sozialismus und wahrhaftige Demokratie drängenden Arbeiterbewegung. In Kurt Tucholsky fand Ebert seinen womöglich schärfsten publizistischen Widersacher von links. Seine Polemiken und Spottgedichte waren berühmt-berüchtigt. Er nannte Ebert darin unumwunden einen Arbeiterverräter und – in Kollaboration mit Noske – sogar einen Arbeitermörder, den er„schuldig“ sprach.⁵⁰ Diese Invektiven sollten Ebert heftige Treffer verpassen. Hier stimmte wohl das vom Schreibtisch aus geübte Gewaltcrescendo, wie Erich Kästner es Tucholsky später voller Bewunderung zuschreiben sollte: „Er teilte an der kleinen Schreibmaschine Florettstiche aus, Säbelhiebe, Faustschläge.“⁵¹
47 A. Erkelenz, zitiert nach: R. Augstein, Die Republik unterm Beil, in: R. Becker (Hg.), Literatur im Spiegel, Reinbek bei Hamburg 1969, 24–31, hier: 29. 48 J. Fischart [E. Dombrowski], Neue Politikerköpfe XVIII: Anton Erkelenz, in: Die Weltbühne vom 11. September 1924, 376–378. 49 Zahlreiche dieser Porträts erschienen auch versammelt in Buchform: J. Fischart [E. Dombrowski], Das alte und das neue System. Die politischen Köpfe Deutschlands, Berlin 1919; ders., Das alte und das neue System. Neue Folge: Die Männer der Übergangszeit, Berlin 1920; ders., Köpfe der Gegenwart. Dritte Folge: Das alte und das neue System, Berlin 1920; ders., Neue Köpfe. Vierte Folge: Das alte und das neue System, Berlin 1925. 50 I. Wrobel [K. Tucholsky], Abreißkalender, in: Die Weltbühne vom 15. Dezember 1925, 891–895, bes. 893; ders., Die Ebert-Legende, in: Die Weltbühne vom 12. Januar 1926, 52–55, insbes. 52. 51 E. Kästner, Kurt Tucholsky, Carl v. Ossietzky, „Weltbühne“. Eine Reminiszenz von Erich Kästner, in: Die Weltbühne vom 4. Juni 1946, 21–23, hier: 22.
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Will man – je nach Sichtweise – nach Belegen entweder für destruktive Radikalität oder radikal-revolutionären Heldenmut suchen, so mag man sie in diesen Abrechnungen mit Ebert finden. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn die Weltbühne ließ die Kritik nicht unwidersprochen als alleinseligmachende Wahrheit stehen, sondern bot das Forum für eine Debatte im Austausch der unterschiedlichen Argumente. An der „Ebert-Debatte“, wie ich sie einmal nennen möchte und wie sie über einen längeren Zeitraum während der Jahre 1925/26 in der Weltbühne ausgetragen wurde, beteiligten sich neben Tucholsky unter anderem Robert Breuer und Hellmut von Gerlach. Für Breuer war Ebert der richtige Politiker zur richtigen Zeit, der erkannt hatte, dass die Voraussetzungen für eine revolutionäre Umwälzung, wie sie Tucholsky sich wünschte, nicht gegeben waren. „Das große Verdienst Eberts und seiner Leute ist: dieses Nichtvorhandensein tatsächlicher, die Herrschaft des vierten Standes garantierender Verhältnisse erkannt und so ein Experiment vermieden zu haben, das nur mit einem bittern Versagen enden konnte.“⁵² Tucholsky antwortete auf diese Replik, die er als „Ebert-Legende“ abtat. Eine „bodenlose Charakterlosigkeit“, sein „Mangel an Mut“ und sein „Verrat der Genossen“, so setzte er nach, hätten Ebert gekennzeichnet. Deshalb solle man nicht beim „Andenken von Männern“ wie ihm, die es „nicht wert“ seien, verharren. Es heiße, von vorne anzufangen, diesmal „wahrhaft revolutionär“.⁵³ Auch diese Attacke auf Ebert blieb in der Weltbühne nicht ohne Gegenrede. Hellmut von Gerlach hielt sie für umso notwendiger, als Tucholsky doch „als Staatsanwalt gegen Ebert“ aufgetreten sei. Gleichsam als Strafverteidiger forderte von Gerlach ein „gerechteres Urteil“ oder wenigstens „mildernde Umstände“ für Ebert. Er stellte einen mangelnden Pazifismus bei Ebert in Rechnung, ebenso dessen übertriebene Bolschewismusfurcht, die ihn bisweilen Gefahren von rechts habe unterschätzen lassen. Gerlach rückte dies allerdings in den zeitlichen Kontext, zeichnete das Bild einer Periode voll immenser Bewältigungslasten und politischer Unausgegorenheiten. „In einer Zeit, wo man auf der Rechten feige, in der Mitte ratlos und passiv und auf der Linken vielfach verstiegen war, behielt er [sc. Ebert] Nerven, Energie und gesunden Menschenverstand.“ Darin erkannte Gerlach das „überragende Verdienst“ Eberts – bei allen Versäumnissen. Im Übrigen hielt er die von Tucholsky und anderen beharrlich vorgetragene Behauptung, es habe sich keine „Durchdringung des Verwaltungsapparats mit republikanischen Männern“
52 R. Breuer, Die Revolution des Vierten Standes, in: Die Weltbühne vom 29. Dezember 1925, 967–971, hier: 970. 53 Wrobel, Ebert-Legende, 53. 55.
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vollzogen, für übertrieben. Es gebe zwar „noch viele Reaktionäre in der Verwaltung“, aber keine „reaktionäre Verwaltung“ mehr.⁵⁴ Was war in dieser Debatte anderes zu erkennen als ein demokratischer Diskurs in Abwägung der Überzeugungskraft widerstreitender Argumente? Noch im November der Revolution hatte Dombrowski im Übrigen ein gut balanciertes Porträt von Ebert gezeichnet. Der sei zwar ein unscheinbarer und bedächtiger Politiker, dem aber Respekt gebühre, weil er unaufgeregt – „mit Würde und strenger Sachlichkeit“ – agiere und stets eine „demokratische Linie“ einhalte, während er sozialistische Experimente und die „Diktatur des Proletariats“ strikt ablehne. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses tanze er mit seiner Regierung „auf einem Vulkan“.⁵⁵ Dieses Brodeln, diese Unruhe kam auch im intellektuellen Diskurs der Weltbühne zum Ausdruck. Sie ließ dabei selbst in der Causa Ebert mehr pluralistischen Streit zu, als oftmals behauptet wird. Gewiss dominierte in der Weltbühne ein wertorientiertes Demokratieverständnis, während sie sich weniger für die verfassungs- und rechtsstaatlichen Komponenten von Demokratie interessierte. Ihren Autoren ein Unverständnis gegenüber Fragen der Staatsform zu unterstellen, wäre gleichwohl nicht adäquat und eine Überzeichnung. Bis ins Jahr 1924 hinein erörterte der junge Jurist Peter Alfons Steiniger an prominenter Stelle in der Weltbühne beispielsweise Möglichkeiten zur Verbesserung eines funktionstüchtigen Parteiensystems. Er nahm dabei Anleihen beim englischen Vorbild und wollte das dort herrschende Zweiparteiensystem abgewandelt auf Deutschland übertragen wissen. Er hielt ein aus drei Blöcken – einem prorepublikanischen, einem kommunistisch-sowjetischen und einem konservativmonarchistischen Block – bestehendes System für sinnvoll. Gelegentlich vereinfachte er es sogar und reduzierte es auf zwei Pole, den republikanischen hier und den radikalen dort.⁵⁶ Bis Mitte der zwanziger Jahre rechnete sich Steiniger, der ab der Hindenburg-Wahl 1925 einen Linksschwenk vollziehen und nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR zu einem treuen Parteiintellektuellen der SED avancieren sollte, eindeutig zu den Vertretern der ersten Seite.⁵⁷ Um ein weiteres Beispiel zu geben: Kurt Hiller, der große unbequeme Geistesaristokrat und führende Meinungsautor neben Tucholsky und Ossietzky im Blatt,
54 H. v. Gerlach, Mildernde Umstände für Ebert, in: Die Weltbühne vom 26. Januar 1926, 122–125, 123 f. Es folgte eine nochmalige Reaktion von K. Tucholsky, Was brauchen wir?, in: Die Weltbühne vom 16. Februar 1926, 239–242. Darauf erwiderte O. Flake, Deutsche Linke?, in: Die Weltbühne vom 16. März 1926, 399–401. 55 J. Fischart [E. Dombrowski], Politiker und Publizisten XXXIX: Friedrich Ebert, in: Die Weltbühne vom 28. November 1918, 505–509. 56 So A. Steiniger, Der Republikanische Block, in: Die Weltbühne vom 22. Mai 1924, 681–683. 57 Vgl. zu Steinigers Metamorphosen: Gallus, Intellektuelle in ihrer Zeit, 146–161, 219–224.
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äußerte sich wenigstens einmal zugunsten des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, sofern es – so wörtlich – „Verfassungsschutz“ und einen „formalen Republikanismus“ gewährleistete.⁵⁸ Insgesamt beurteilte die Weltbühne das Reichsbanner ambivalent. Sie ließ – wie häufig in grundsätzlichen Streitfragen – aber die unterschiedlichen Positionen zu Wort kommen: Auf einen Beitrag Tucholskys, der voller Polemik deutliche Zweifel am republikanischen Gedanken innerhalb des Reichsbanners äußerte, folgte eine Verteidigungsrede von Hermann Schützinger, einen selbst im Reichsbanner führend mitwirkenden Sozialdemokraten.⁵⁹ Wie schon im Falle der Ebert-Debatte brachte die Zeitschrift auch diesmal ein erhebliches Maß an Meinungspluralismus, an demokratischer Diskussionslust und argumentativer Dynamik zur Geltung. Schließlich will ich kurz noch einen letzten Aspekt nennen, anhand dessen sich die Fähigkeit der Weltbühne zu demokratischer Demokratiekritik statt des ihr oft zugeschriebenen, kaum stillbaren „Hungers nach Ganzheit“ ablesen lässt. So sinnierte selbst ein so auf Konsequenz geeichter Geistesarbeiter wie Hiller hin und wieder über die Vereinbarkeit von utopischen Zielen mit realistisch-empirischen Rahmenbedingungen. Das ließ sich etwa an strategischen Überlegungen im Vorfeld der Reichspräsidentenwahlen 1925 ablesen, als Hiller mit Joseph Wirth einen Kompromisskandidaten ins Spiel brachte, „der nicht nur den ungeteilten Beifall der Weimarer Koalition, sondern auch gewisse Sympathien bei den Kommunisten hätte“, unbedingt aber gewährleiste, einen „schwarzweißroten“ Präsidenten zu verhindern.⁶⁰ Es kam mit der Wahl Hindenburgs bekanntlich anders, und die Kommunisten waren daran nicht ganz unschuldig, weil sie Ernst Thälmann auch noch im zweiten Wahlgang antreten ließen. Als bei der Reichspräsidentenwahl 1932 zum Leidwesen der Weltbühne erneut die „eilfertige Nominierung Thälmanns“ erfolgte, statt sich mit den Sozialdemokraten auf einen für beide Linksparteien akzeptablen Kandidaten zu einigen, steigerte dies Carl von Ossietzkys Missmut. So nämlich, meinte er, trügen sowohl Kommunisten als auch Sozialdemokraten dazu bei, den „Sieg des Faschismus“ zu erleichtern.⁶¹
58 K. Hiller, Reichsbanner und Reichswehr, in: Die Weltbühne vom 22. Dezember 1925, 944 f., hier: 944. 59 I. Wrobel [K. Tucholsky], Der Sieg des republikanischen Gedankens, in: Die Weltbühne vom 14. September 1926, 412–415; H. Schützinger, Reichsbanner und republikanischer Gedanke, in: Die Weltbühne vom 28. September 1926, 494 f. 60 K. Hiller, Der Reichspräsident, in: Die Weltbühne vom 3. März 1925, 299–304, hier: 302. 61 C. v. Ossietzky, Das Hindenburg-Syndikat, in: Die Weltbühne vom 2. Februar 1932, 151–153, hier: 153.
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4 Abschließende Bemerkungen Blicken wir zurück auf die Eingangsüberlegungen von Dahrendorf und Habermas zu den Ausformungen des Intellektuellenbegriffs und den darauf gestützten Ableitungen zur Weimarer Republik, so mag man diese im Lichte der Betrachtungen zu den Metamorphosen des liberalen politischen Denkens in der Zwischenkriegszeit und zu Zeugnissen einer demokratischen Demokratiekritik in der Weltbühne für allzu skeptisch, wenn nicht pessimistisch halten. In jedem Fall ist das Maß an normativer Eindeutigkeit, die beider Intellektuellen-Lokalisierung verlangt, zu anspruchsvoll, um deren Weimarer Schwebelagen gerecht zu werden. Vergleichbares gilt für die lange Zeit von einer negativen Teleologie geprägten und zu binären Deutungsmustern neigenden Demokratie- und Intellektuellenhistoriographie zur Weimarer Republik. Es wäre ebenso ein Fehler, die Perspektive des zwangsläufigen Scheiterns durch eine Sichtweise zu ersetzen, die zur Überhöhung der Demokratiechancen neigt. Im Falle der Weltbühne setzte das zweigeteilte Entweder-oder-Urteil bereits zu Weimars Zeiten ein und verstärkte sich rezeptionsgeschichtlich noch. Die Frage „Wo bleibt das Dazwischen?“ wurde in ihrem Fall erst gar nicht gestellt. Wie zu demonstrieren war, ließ es sich aber in den Spalten der Zeitschrift in verschiedenen Ausprägungen und Konstellationen finden. Es kam in abwägenden Politikerporträts zum Ausdruck, vor allem aber auch in der sogenannten Ebert-Debatte. Sie ist ein Beleg dafür, wie wichtig die Weltbühne den Modus eines diskursiven Für und Wider nahm und die Überzeugungskraft des besseren Arguments gelten lassen wollte. Hieran zeigte sich, dass sie nicht so eindeutig, wie vielfach angenommen, dem Typus der weltanschaulich klar fixierten Richtungszeitschrift entsprach, sondern als Forumszeitschrift ein publizistischer Ort für demokratische Demokratiekritik war. Eine undogmatische, auf Kompromisse zielende Haltung ließ sich auch an strategischen Überlegungen des Blattes bei den Reichspräsidentenwahlen 1925 und 1932 ablesen. Die Diskussionen rund um den Wehrverband des Reichsbanners und Fragen des Republikschutzes in der Weltbühne signalisierten darüber hinaus, dass zumindest ansatzweise bereits eine Sensibilität für das dem Demokratiebegriff innewohnende Spannungsverhältnis von Volkssouveränität und Verfassungsstaat bestand. Der Wunsch nach Formwahrung und Wehrhaftigkeit, nach einer institutionell abgesicherten und zu schützenden republikanischen Staatsordnung moderierte ein wenig das sonst innerhalb der Weltbühne dominierende Verlangen nach einer umfassenden gesellschaftlich-politischen Revolution, die erst eine wahrhaftige Demokratie schaffen sollte. Der genaue Blick auf das liberale Denken der Zwischenkriegszeit und insbesondere auf die Melangen, die es mal zaghaft, mal zugreifend in Verbindung mit
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demokratischen Denkmodellen bildete, verdeutlicht ebenfalls, wie sehr die Weimarer Republik und die Zwischenkriegszeit überhaupt dazu geeignet sind, für Schichtungen und Schwebezustände politischer Ordnungsmodelle zu sensibilisieren. Die Rekonstruktion des Prozesshaften, eines noch nicht in Bronze gegossenen politischen Denkens gehört zu den wesentlichen Aufgaben einer Weimarer Intellectual History, die Ideengeschichte in ihrer Konstellationsgebundenheit und anhand erfahrungsgeschichtlicher Koordinaten erst in höchst dynamischer und kontroverser Weise nachvollziehen lässt. Eine Herausforderung bleibt dabei, das Fluide und Ambivalente zur Geltung zu bringen, ohne die alten teleologischen Paradigmen, die ein hohes Maß an interpretatorischer Bestimmtheit gewährleisteten, durch ein gleichsam fröhliches Paradigma einer gänzlich offenen und frei gestaltbaren Geschichte als beliebig formbare historische Modelliermasse zu ersetzen. Es wird wichtig sein, anhand von diversen Leitperspektiven auch das Tentative, die Übergänge und Umbauten des politischen Denkens begrifflich fassbar werden zu lassen, etwa indem man – so die hier gewählten Beispiele – liberal-demokratische Konglomerate genauer unter die Lupe nimmt oder – statt nur „Demokratie“ versus „Antidemokratie“ gelten zu lassen – gezielt nach einer demokratischen Demokratiekritik fragt. Im Laboratorium der Weimarer Intellectual History bleibt Experimentierfreude gefragt. „Ausgeforscht“ ist sie ebenso wenig wie die Geschichte der Weimarer Republik insgesamt.⁶² Sie weiter zu ergründen, erfordert bisweilen den Mut, mit Geistesarbeitern auf dem Schwebebalken zu balancieren.
62 So explizit U. Büttner, Ausgeforscht? Die Weimarer Republik als Gegenstand historischer Forschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 18–20 (2018) 19–26.
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„Politische Romantik“ in der Weimarer Republik Zur Rezeption eines Ideologems der deutschen Zwischenkriegszeit Ob es in der Weimarer Republik Phänomene „politischer Romantik“ gegeben hat und ob man bestimmte Akteure dieser Zeit als „politische Romantiker“ bezeichnen kann, darf oder muss – diese Fragen werden im Folgenden keine Antwort finden. Es wird nicht einmal unternommen, eine Definition der „politischen Romantik“ zu geben. Was hier aber erörtert werden soll, ist die Tatsache, dass in der Weimarer Republik viel über politische Romantik gesprochen wurde. Wir wollen sogar soweit gehen, die Behauptung aufzustellen, dass die „politische Romantik“ zu den grundlegenden Ideologemen der Weimarer Gemengelage gehört hat. Das heißt, dass sie zu jenen diskursiven Bausteinen zählt, die zwischen 1918 und 1933 breiten Anklang fanden und die politischen Debatten der Zeit strukturierten. Die „politische Romantik“ war also – so die hier vertretene These – einer der Kettfäden im diskursiven Gewebe der deutschen Zwischenkriegszeit.¹ In methodologischer Perspektive wird daher im Folgenden mehr die Rezeption der „politischen Romantik“ als die „politische Romantik“ an sich im Fokus stehen.² Konkret bedeutet dies, dass jene Diskurse der Weimarer Zeit von Interesse sind, die sich explizit auf die „politische Romantik“ oder (allgemeiner) auf die „Romantik“ im politischen Kontext berufen. Es soll daher der strategische Umgang mit dem Paradigma der „politischen Romantik“ untersucht werden, deren Einsatz als Argument in den politischen Diskursen der Zeit – ohne zu bewerten, ob diese Benutzung legitim ist oder nicht. Untersucht man nun mit solch einer deskriptiven und nicht normativen Perspektive die Debatten der Weimarer Republik, zwingt sich die Feststellung auf, dass sich die „politische Romantik“ in der Zwischenkriegszeit einer unbestreitbaren Beliebtheit erfreut. Dieses verstärkte Interesse kann unter anderem an der Figur Adam Müllers festgemacht werden, dem philosophierenden und an der Wende des Jahrhunderts weitgehend vergessenen Literaten aus der ersten Hälfte des 19. Jahr1 Was hier oft nur etwas holzschnittartig dargestellt werden kann, ist ausführlicher argumentiert in: C.E. Roques, (Re)construire la communauté : la réception du romantisme politique sous la République de Weimar, Paris 2015. 2 Zu den methodologischen Überlegungen zum Rezeptionsbegriff in ideengeschichtlicher, archäologischer Perspektive, vgl. a. a.O., 10–18. https://doi.org/10.1515/9783111264332-004
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hunderts,³ für den aber in der Zwischenkriegszeit der Konsens besteht, er sei der „reinste politische Romantiker“ gewesen. Die erste Aktualisierung erfuhr Adam Müller 1908 im einflussreichen und vielgelesenen Buch von Friedrich Meinecke Weltbürgertum und Nationalstaat. ⁴ In diesen „Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates“ wird Müller zum ersten Mal wieder einem breiteren (bildungsbürgerlichen) Publikum als einer der geistigen Väter des deutschen Nationalstaates vorgestellt. Er sei zwar eindeutig weniger genial als Fichte oder Hegel gewesen, aber nicht weniger wichtig, denn mit ihm „ist es einem Geiste von viel geringerer Kraft, aber von größerer Empfänglichkeit beschieden gewesen, tiefer in die Erkenntnis des Nationalstaates einzudringen“.⁵ Sein originäres Potential hätte Müller wohl erlaubt „einer der größten politischen Denker“ zu werden,⁶ aber selbst ohne dies bleibt er in Meineckes Augen wichtig: „Er kann noch heute ungemein anregen“.⁷ Friedrich Meineckes Buch ist insofern wichtig, als er darin den Begriff der „politischen Romantik“ einführt,⁸ vor allem aber, weil es durch die verschiedenen Neuauflagen – fünf zwischen 1917 und 1928 – in der Weimarer Zeit konstant präsent ist.⁹ Es bildet sozusagen den basso continuo der Diskussion zur „politischen Romantik“. Und es löst vor allem nach dem ersten Weltkrieg eine echte „Adam-MüllerRenaissance“ aus:¹⁰ Dessen Werke werden wieder aufgelegt,¹¹ seine Biografie wird erkundet,¹² und sein Werk wird in mehr als 15 Dissertationen zwischen 1918 und 1937 erforscht.¹³
3 Eine Ausnahme bildet z.T. die Nationalökonomie. Wilhelm Roscher widmet Müller einige Seiten seiner Geschichte der Nationalökonomik in Deutschland von 1874. Die „romantische Schule der Nationalökonomik“ definiert er eben als jene „welche sich um Adam Müller gruppiren läßt“ (W. Roscher, Geschichte der National-Ökonomik in Deutschland, München 1874, 751). 4 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat: Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, München 1908. 5 A. a.O., 128. 6 A. a.O., 132. 7 A. a.O., 133. 8 A. a.O., 59. 9 1917: 4. Auflage; 1919: 5. Auflage; 1922: 6. Auflage; 1928: 7. Auflage. 10 Was Louis Sauzin bereits 1937 festhielt: „Sobald der Friede wiederkam, erlebte Müllers Werk eine wahrhaftige Auferstehung.“ (L. Sauzin, Adam Heinrich Müller (1779–1829), sa vie et son œuvre, Paris 1937, 46). 11 Zuerst durch Arthur Salz im Drei Masken Verlag (A.H. Müller, Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland, München 1920; ders., Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur, München 1920) und dann durch den Othmar-Spann-Schüler Jakob Baxa bei Gustav Fischer (A.H. Müller, Die Elemente der Staatskunst, 2 Bde., Jena 1922). 12 Vgl. J. Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration, Jena 1930.
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Eine Analyse der Texte zur „politischen Romantik“, die in der Weimarer Republik geschrieben werden,¹⁴ offenbart drei Kristallisationsmomente der Diskussion zum Thema, die insgesamt drei Momenten der politischen Entwicklung der Weimarer Republik entsprechen: 1. Die erste Phase des Kriegsendes, der Revolution und der Republikgründung – mit der damit einhergehenden Verunsicherung und Verwirrung – findet sich in den Debatten zur politischen Romantik wieder. Dies soll im Folgenden an drei unterschiedlichen Reaktionen illustriert werden: einerseits an Hans Freyers Suche nach Orientierung und Selbstversicherung durch die Rückbesinnung auf die politische Romantik als „deutsche Tradition“; andererseits an Sigmund Rubinsteins Projekt einer grundlegenden Erneuerung der politischen Kultur durch die Berufung auf die romantische Wurzel des deutschen Denkens und zuletzt an der radikalen Kritik der bürgerlich-romantischen Moderne, wie sie der junge Carl Schmitt theorisiert. 2. Stabilisiert sich das bewegte Leben der Weimarer Republik in den Jahren 1923–1928 ein wenig, so findet sich diese Entwicklung in den Debatten zur politischen Romantik wieder. Es scheint erlaubt, für diese mittlere Phase cum grano salis von einer „Verwissenschaftlichung“ der Debatte zu sprechen, wenn man darunter nicht eine Depolitisierung der Rezeption versteht, sondern die Tatsache, dass der akademische Ton in den Vordergrund tritt. So legt Karl Mannheim 1925 seine Habilitationsschrift zum Zusammenhang zwischen „politischer Romantik“ und Konservatismus vor. Andererseits vereinnahmt der Kreis um Othmar Spann in Wien die „politische Romantik“ immer stärker für dessen „Universalismus“, begleitet diese Vereinnahmung aber auch mit einer intensiven Editionsarbeit der romantischen Quellentexte. 3. Mit dem Übergang zu den 1930er Jahren stürzt die Republik erneut in die Krise und damit bestimmt auch ein verstärktes Krisenbewusstsein die Debatten um die „politische Romantik“, was hier an zwei Beispielen veranschaulicht werden soll: Einerseits behauptet nun der anfangs noch sehr neoromantische Hans Freyer die Notwendigkeit, von der romantischen Tradition für eine Zeit Abstand zu nehmen; andererseits unternimmt es der Kreis um Paul Tillich, angesichts der drohenden Katastrophe die Möglichkeiten einer Versöhnung zwischen Sozialismus und „politischer Romantik“ auszuloten, bevor die national-sozialistische Machtergreifung und Gleichschaltung solche Versöhnungsversuche radikal beendet.
13 Vgl. Roques, (Re)construire la communauté, 33–37. 14 Für die (oft auch sehr politische) Rezeption der romantischen Literatur sei auf das Buch von Ralf Klausnitzer verwiesen, das einen guten kursorischen Überblick der Weimarer Zeit bietet: R. Klausnitzer, Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich, Paderborn 1999.
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1 Kampf um Orientierung Der junge Hans Freyer, der nach dem Krieg an die Abfassung seiner Habilitation geht, ist – was die Romantikrezeption betrifft – kein unbeschriebenes Blatt. Freyer studierte seit 1907 in Leipzig, wo er mit der Freideutschen Jugend in Kontakt kam¹⁵ und bald Mitglied im „Sera-Kreis“ um den Verleger Eugen Diederichs wurde.¹⁶ Freyers frühe intellektuelle Prägung steht somit am Übergang zwischen neoromantischer Sera-Sozialisierung, freier Studentenschaft und Lamprechtscher Kulturgeschichte.¹⁷ Und er bleibt in diesem Umfeld keine zweitrangige Persönlichkeit, sondern profiliert sich bald als einer der denkenden Köpfe des Sera-Kreises: So wird sein 1918 publizierter (und von Diederichs verlegter) Essay Antäus von vielen als programmatischer Text des Kreises verstanden.¹⁸ Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Freyer einberufen und kann somit erst vier Jahre darauf seine bereits vor dem Krieg auf Anstoß von Georg Simmel begonnene Habilitation über Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts fertig stellen.¹⁹ Erklärtes Ziel dieser Arbeit, die 1921 veröffentlicht wird, ist eine kritische Untersuchung der modernen (deutschen) Gesellschaftsentwicklung und die „Überwindung des Ottocentogeistes“, dessen zeitgenössische Ausformung die „Manchesterphilosophie“ der englischen Liberalen sei.²⁰ In dieser Perspektive präsentiert Freyer Idealismus und Romantik als Reaktionen auf den radikalen Rationalismus der Aufklärung, der zu einer Entmenschlichung der Wirtschaft geführt hatte, in der das Individuum auf die Rolle einer abstrakten Einheit reduziert worden sei, getragen von Trieben und Intelligenz und ausgestattet mit der Fähigkeit, Eigentum anzuhäufen. Gegen eine solche Reifikation habe sich die Romantik mit Erfolg gesperrt: Den romantischen Denkern – allen 15 Vgl. H.-U. Wipf, Studentische Politik und Kulturreform. Geschichte der Freistudenten-Bewegung 1896–1918, Schwalbach a. Taunus 2004. 16 Vgl. S. Bias-Engels, Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft, 1896–1920, Köln 1988; S. Breuer, Hans Freyer, in: B. Stambolis (Hg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, 261–272. 17 E. Üner, Soziologie als geistige Bewegung. Hans Freyers System der Soziologie und die Leipziger Schule, Weinheim 1992, 23. 18 Vgl. M.G. Werner, Jugendbewegung als Reform der studentisch-akademischen Jugendkultur. Selbsterziehung – Selbstbildung – die neue Geselligkeit. Die Jenaer Freistudentenschaft und der Serakreis, in: U. Herrmann (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit …“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim/München 2006, 171–203. 19 Vgl. H. Freyer, Die Bewertung der Wirtschaft im philosophischen Denken des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1921. 20 A. a.O., 8.
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voran Adam Müller, „persönlich der einwandfreiste, schriftstellerisch der phantasievollste und sachlich der romantischste unter den romantischen Nationalökonomen“ – sei es gelungen,²¹ in Abgrenzung zum aufklärerischen Rationalismus die Idee der Totalität in der Wirtschaft zu theorisieren: „Ihre Begriffe eröffnen nicht nur einen Zugang zu den Tatsachen der Wirtschaft, sie drängen sogar, was das Humanitätsideal nicht tat, auf eine eigentümliche Idee des volkswirtschaftlichen Ganzen, sie bringen eine neue Nationalökonomie und eine neue Bewertung der wirtschaftlichen Kultur mit sich.“²² Für Freyer setzt sich die romantische Wirtschaftstheorie daher aus drei Hauptelementen zusammen: erstens das Unterfangen, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die die „innere Lebendigkeit“ der Wirtschaftswirklichkeit zu erfassen wüsste und die mechanistische Begrifflichkeit der Aufklärung überwinden könnte; zweitens die Weiterentwicklung der vom Idealismus übernommenen Idee der „Ganzheit“ zur organischen Totalität – ein holistisches Denken, das die Romantiker sowohl auf die Wirtschaft wie auch auf den Staat angewendet hätten; drittens die Einbeziehung der geschichtlichen Dimension des gesellschaftlichen Werdens. Die Bedeutung, die der Tradition zugeschrieben wird, verstärkt die gemeinschaftliche Tendenz der romantischen Theorie, da hiermit nicht nur die Zeitgenossen erfasst werden, sondern auch die „Raumgenossen“ (d. h. die unendliche Kette jener, die vor und nach uns in einem gegebenen Raum gelebt haben).²³ Das Interessante an Freyers Interpretation der „politischen Romantik“ (im Kontext der unmittelbaren Nachkriegszeit) ist der zeitgenössische Horizont: Freyer will die romantische Philosophie und Wissenschaft nicht nur als historische Beschreibung der Wirtschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts lesen, sondern als „freies Gebäude aus ethischen Werten“.²⁴ Und wie jede Ethik strukturiere sich die „politische Romantik“ um das, was sein soll: Sie ist somit, in Freyers Augen, offen in Richtung Zukunft. „So forderte auch die Romantik eine Rückkehr, die zugleich Fortschritt sei, und die Idee der wahren Volkswirtschaft lag ihr nicht unwiederbringlich in der Vergangenheit, sondern als Ziel in der Zukunft“.²⁵ Diese Zukunftsorientierung der Romantik begründet für Freyer ihre anhaltende Aktualität: Sie kann auch im Kontext der 1920er Jahre fruchtbar sein, denn sie bleibt das Gegenmodell zur mechanistischen, manchesterhaften und perversen „Zivilisation“:
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A. a.O., 40. A. a.O., 38. Vgl. a. a.O., 41–46. A. a.O., 50. A. a.O., 51.
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[D]ies macht nun den Unsinn und die Perversität unserer Pseudokultur aus, daß sie die Dinge der Zivilisation, die ihrem Wesen nach wertloses Mittel sind, zum Inhalte des Lebens, das aber, was den metaphysischen Sinn der Kultur bildet, als sogenannte ‚Bildung‘ zum Mittel oder zum Zeitvertreib erniedrigt hat. Jene Kultur im metaphysischen Sinne (das ist der tief romantische Zug dieses ganzen Gedankenganges) ist nicht Unnatur und ein künstliches Gebilde, sondern Rückkehr zum eigentlichen Wesen des Menschentums, Entfaltung seiner schöpferischen Kräfte. Unnatur ist die Zivilisation. Der moderne Erwerbs- und Bildungsmensch ist ein pervertiertes Wesen, weil er seinen wesenhaften Trieb, zu schaffen, in das Unding einer Arbeit verkehrt hat, die Zwang, Beschwerde und nur durch ihren Nutzen gerechtfertigt ist.²⁶
Freyer hofft also 1921 mit einer Rückbesinnung auf die romantische Tradition der „Kultur“, Deutschland vor der Krise der westlichen „Zivilisation“ retten zu können. Eine vergleichbare Hoffnung der Überwindung durch Wiederentdeckung der politischen Ideen der Romantik trägt auch das Buch Romantischer Sozialismus des Österreichers Sigmund Rubinstein.²⁷ Der 1921 veröffentlichte „Versuch“ entstand unter dem Eindruck der deutschen Revolution, die Rubinstein begrüßt, denn Deutschland sei „im Schatten der leersten deutschen Jahrzehnte“ den Weg in die Katastrophe des Weltkrieges gegangen.²⁸ Nun seien neue Möglichkeiten offen: „Die Revolution hat ein besonderes Kapitel deutscher Historie eingeleitet“.²⁹ Der wichtigste Beitrag der Revolution bestehe in der Aufwertung der Arbeit und somit der Stellung der Arbeiter in der Gesellschaft, die nun tatsächlich „als gleichzuachtende Mitglieder der Gemeinde“ gehandelt würden.³⁰ Insbesondere das Stinnes-LegienAbkommen von 1918 habe dies offenbart und kündige daher das Aufkommen einer neuen, organischen Form von Sozialismus an: „Arbeiter und Arbeitgeber sollten zu Arbeitsgenossenschaften zusammenwachsen, in der Zelle der Volkswirtschaft, im Betriebe sowohl, wie in der öffentlichen Verwaltung der Gesamtwirtschaft. Es war Sozialismus“³¹. Diese neue Form von Sozialismus baue aber auf einer Idee auf, „die im weiten Schriftgelehrtentum des marxistischen, wissenschaftlichen Sozialismus nicht mit dem leisesten Anklang vorgedacht sei: die Räteidee“.³² Diese habe sich „als eine jener originellen, mächtig fruchtbaren Lebensformen [erwiesen], die der neuere Mensch auf der Wanderung nach einer gerechten Ordnung der Gesellschaft ge-
26 A. a.O., 151. 27 S. Rubinstein, Romantischer Sozialismus. Ein Versuch über die Idee der deutschen Revolution, München 1921. 28 A. a.O., 11. 29 A. a.O., 10. 30 A. a.O., 37. 31 A. a.O., 41. 32 Ebd.
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funden hat“,³³ und zeichne sich unter anderem dadurch aus, dass sie erlaube, die Ergänzung der politischen Demokratie durch die wirtschaftliche Demokratie zu theorisieren. In Rubinsteins Sicht muss jedoch eindeutig zwischen der russischen Idee der Sowjets und der deutschen Idee der Räte unterschieden werden. In der von Rubinstein in Anspruch genommenen deutschen Auffassung seien die Räte nicht das Werkzeug der Diktatur (des Proletariats), sondern im Gegenteil die Träger einer grundlegenden Erneuerung der Demokratie: Die Demokratie hatte man auch für Deutschland erstrebt, aber nicht eine Neuauflage bürgerlicher Demokratie. Diese hatte bisher noch nirgends eine sozialistische Arbeiterschaft in sich gehabt, die zur politisch stärksten Klasse im Staate geworden war. Deutschland – das erste Beispiel – war auf diese Stufe hinaufgesprungen. Es stand jenseits des Grabens. Die Demokratie mußte hier also die bürgerliche Haut abstreifen und sozialistische Gestaltungen herausbilden.³⁴
Der „politische Grundwert der Räteidee“ liege,³⁵ so Rubinstein, in der Tatsache, dass sie eine Form von „unmittelbarer politischer Betätigung“ in sich trage und predige,³⁶ die aber nicht mit dem französischen Syndikalismus verwechselt werden dürfe, sondern in ihrer ganzen Tiefe erfasst werden müsse: [A]uch aus der deutschen Formung des Rätegedankens leuchtet die Wurzelidee, die ‚unmittelbare Aktion‘ unverkennbar hervor. Nur wird diese nicht vorübergehend zur Eroberung der politischen Macht angewendet, sondern als dauernde Form der staatlichen und wirtschaftlichen Neugestaltung nach entschiedenem Kampfe, also in einer Gesellschaft, in der das bisher sogenannte Proletariat in alle Zukunft einen entscheidenden Anteil an der Staatsmacht besitzen wird. Die action directe nicht aufs Zerstörerische, Hemmende gewendet, sondern aufs Schaffen ist nichts anderes als das Grundwesen der Demokratie. Alle urwüchsige Demokratie ruht auf der unmittelbaren politischen Betätigung der Bürger, in der politischen Leitung, in der Rechtsprechung, im Heerwesen. Die repräsentative Demokratie ist nur ein Verlegenheitsmittel.³⁷
Die Kraft der Räteidee liegt also darin, dass sie zu den ursprünglichen Formen der direkten Demokratie zurückführt. Sie öffne somit das soziale Bewusstsein für eine neue politische Realität. Genauer noch, und für uns von besonderem Interesse, die
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A. a.O., 42. A. a.O., 47. A. a.O., 66. A. a.O., 70. A. a.O., 70.
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Rätebewegung schlage eine Brücke zu alternativen politischen Theorien, die bereits vor dem Liberalismus existierten, aber seither ein Schattendasein fristeten: In allen diesen Jahrzehnten hatte aber neben dem politisch-wirtschaftlichen Ideenbündel liberaler Herkunft ein anderer Gedankenkomplex gelebt, die romantische Staats- und Wirtschaftslehre. Das geistige Ereignis der deutschen Revolution ist die Durchblutung des Sozialismus mit der romantischen Politik.³⁸
Die politisch-moralische Alternative zum Liberalismus (und dem von ihm beeinflussten Marxismus), die Rubinstein 1921 theorisiert, ist also explizit weniger eine Neuerfindung als eine Wiederentdeckung der romantischen Tradition. Diese umfasst unter Rubinsteins Feder sowohl Adam Müller als auch Fichte, Schelling, Baader, Haller sowie spätere „sozialistische“ Autoren wie Karl Rodbertus und Karlo Marlo. Die Romantik habe sich bei ihrem ursprünglichen Erscheinen nicht durchsetzen können, weil sie unzeitgemäß gewesen sei.³⁹ Aber mit der Krise des Absolutismus nach dem Weltkrieg sei ihre Zeit gekommen: Nun kommt wieder die Zeit der Romantik. Nach dem Niederbruch des Herrschaftsstaates, der mit den entliehenen romantischen Denk- und Formelementen nichts Ehrliches anzufangen wußte, weil sie seiner Natur, die Gewalt, nicht Freiheit ist, widersprachen, ist es an dem romantischen Geist, seine Ideen in Reinheit zu verwirklichen. Diese zeigen sich dem neuen Sehnen des Volkes verwandt.⁴⁰
Den Inhalt dieses neuen, organischen Sehnens, das in der Rätebewegung zum Ausdruck gekommen sei, formuliert Rubinstein in folgenden Worten: Politische Romantik ist Ablehnung des autoritären Staates, Feindschaft dem zentralisierten, über den Untertanen herrschenden Staatsapparat. Ihre Welt ist Freiheit durch Selbstverwaltung, Einheit nicht durch Zwang, sondern durch den alle Volksgruppen durchdringenden Gemeinschaftsgeist. Wirtschaftliche Romantik ist Kampf gegen den Erwerbsgeist, der die Gemeinschaft in Privatexistenzen auflöst. Ihr Ziel ist die Erzeugung und Verteilung der Güter durch genossenschaftliches Zusammenwirken im Beruf und im nationalen Gemeinleben.⁴¹
Rubinsteins „romantischer Sozialismus“ entspricht somit einem doppelten Projekt: dem politischen Projekt einer organischen und selbstverwalteten Demokratie der
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A. a.O., 91. A. a.O., 106. A. a.O., 369. A. a.O., 371.
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Gemeinschaft und dem wirtschaftlichen Projekt eines sozialen und gerechten Korporatismus auf genossenschaftlicher Logik.⁴² Rubinsteins Buch bleibt im Weimarer Kontext nicht unbemerkt: So veröffentlicht Ricarda Huch in der Vossischen Zeitung eine enthusiastische Rezension, in der sie sich freut, dass in dem Buch „eine goldene Ader nachgewiesen wird, die aus labyrinthischen Schächten in reiche Zukunft führen kann“.⁴³ Und doch bleibt das Buch ohne großen Einfluss. Wahrscheinlich, zum Teil, weil zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Höhepunkt der Rätebewegung bereits überschritten war. Eberhard Kolb spricht in diesem Zusammenhang von einem raschen „Versanden“ der Rätebewegung im Frühling 1920. In dieser Perspektive müsse das Betriebsrätegesetz von Januar 1920 sowie die Anerkennung der Räte durch den Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung (der die Einrichtung eines Reichswirtschaftsrates vorsah), weniger als Triumph denn als „Beerdigung erster Klasse“ gelesen werden.⁴⁴ Ein viel anhaltenderes, wenn auch umstritteneres Echo wird ein anderes Buch dieser Jahre finden, das Rubinsteins und Freyers positiver Einstellung zur „politischen Romantik“ radikal widerspricht: Carl Schmitts Essay Politische Romantik,⁴⁵ 1918 ein erstes Mal in Buchform veröffentlicht und dann 1925 mit einem neuen, programmatischen Vorwort noch einmal aufgelegt.⁴⁶ Auf den wesentlichen Punkt gebracht läuft Schmitts Argumentation auf die Behauptung hinaus, das „Romantische“ und das „Politische“ seien wesentlich inkompatibel. Somit sei die Idee einer „politischen Romantik“ von vornherein als contradictio in adjecto offenbart. Das Herzstück des Buches ist daher das Kapitel über den „Begriff“ der Romantik. Schmitt vertritt darin die Idee, dass die Romantik nicht mit der Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung gleichgesetzt werden dürfe, sondern eine selbstständige Weltanschauung darstelle, deren Prinzip durch einen spezifischen Begriff erfasst werden könne:
42 Vgl. C.E. Roques, Le court moment de l’utopie. Le projet d’une république romantique des conseils de Sigmund Rubinstein, in: G. Raulet/A. Dupeyrix (Hg.), Allemagne 1917–1923. Le difficile passage de l’Empire à la république, Paris 2018, 61–77. 43 R. Huch, Romantischer Sozialismus, in: Vossische Zeitung, Berlin, 17.04.1921, Nr. 178, Beilage: Literarische Umschau, wieder abgedruckt in: M. Baum, Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950, 251. 44 E. Kolb, Rätewirklichkeit und Räte-Ideologie in der deutschen Revolution von 1918/19, in: H. Grebing (Hg.), Die deutsche Revolution 1918–19. Eine Analyse, Berlin 2008, 42. 45 C. Schmitt, Politische Romantik, München 1925. 46 Zur Textgenetik vgl. R. Mehring, Überwindung des Ästhetizismus? Carl Schmitts selbstinquisitorische Romantikkritik, in: Athenäum. Jahrbuch der Friedrich Schlegel-Gesellschaft 16 (2006) 125– 147.
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Die romantische Haltung wird am klarsten durch einen eigenartigen Begriff bezeichnet, den der occasio. Man kann ihn mit Vorstellungen wie Anlaß, Gelegenheit, vielleicht auch Zufall umschreiben. Aber seine eigentliche Bedeutung erhält er durch einen Gegensatz: er verneint den Begriff der causa, das heißt, den Zwang einer berechenbaren Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm. Es ist ein auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt – sei es die mechanische Berechenbarkeit des Ursächlichen, sei es ein zweckhafter oder ein normativer Zusammenhang –, ist mit der Vorstellung des bloß Occasionellen unvereinbar.⁴⁷
Die metaphysische Haltung des Occasionalismus bestehe darin, alle Gesetzlichkeit zu verneinen und somit alle Erscheinungen der Welt direkt auf den Willen einer letzten Instanz zurückzuführen. Im Unterschied zum „klassischen“ Occasionalismus eines Malebranche oder Geulincx vollführe die Romantik aber eine grundlegende Verschiebung, indem sie das Zentrum der alten Metaphysik – Gott – abschaffe und es durch das romantische Individuum ersetze. Daher definiert Schmitt die Romantik als einen „subjektivierten Occasionalismus“.⁴⁸ Diese Verabsolutierung des Subjektes bringe jedoch das Verheerende des romantischen Occasionalismus zum Vorschein: Im alten System hatte Gott durch seine Einheit „Gesetz und Ordnung“ wieder hergestellt. Im romantischen Denken findet diese Stabilisierung nicht mehr statt, und der aktiv Mitwirkende wird zum passiven Schauspieler, der keine anderen Gefühle ausdrücken kann als Zustimmung oder Ablehnung. Das Endergebnis ist somit ein gottähnliches Subjekt, das ironisch-spielerisch Distanz zur Welt hält und dem die Wirklichkeit nur zur Anregung seiner sentimentalen Produktivität dient.⁴⁹ Wichtig ist hier vor allem die praktische Konsequenz, die in Schmitts Augen aus dieser Weltanschauung folgt: die Unfähigkeit zu „normativer Bewertung“, da diese zwangsläufig eine Beschränkung der Omnipotenz des Subjektes mit sich bringt: „Die Wurzel der romantischen Erhabenheit ist die Unfähigkeit, sich zu entscheiden, das ‚höhere Dritte‘, von dem sie [sc. die politischen Romantiker] immer sprechen, nicht ein höheres, sondern ein anderes Drittes, d. h. immer der Ausweg vor dem Entweder-Oder.“⁵⁰ Um seine lautstarke Auseinandersetzung mit der „politischen Romantik“ führen zu können, vollzieht Schmitt eine radikale Beschränkung: Als Autoren der „politischen Romantik“ lässt er in seinem Text nur Adam Müller und den alten Friedrich Schlegel gelten.
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Schmitt, Politische Romantik, 18. A. a.O., 18. Vgl. a. a.O., 103–109. A. a.O., 120.
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In diesem Vorgehen kommt aber auch die eigentliche Intention Schmitts zum Ausdruck.⁵¹ Sein explizites Ziel ist es, die Romantik von ihrer traditionellen Verbindung mit den „Theoretikern der Gegenrevolution“ zu lösen.⁵² So weist er am Anfang des dritten Teils des Buches – dem eigentlichen Kapitel zur „politischen Romantik“ – auf den „Unterschied der romantischen von der gegenrevolutionären und legitimistischen Staatsauffassung“ hin und führt aus, dass „Burke, Maistre und Bonald […] aktive Politiker mit eigener Verantwortung [waren] […], immer von dem Gefühl durchdrungen, nicht über den politischen Kampf erhaben, sondern verpflichtet zu sein, für das, was sie als Recht betrachteten, sich zu entscheiden.“⁵³ Diese Trennung zwischen „romantischer“ und „gegenrevolutionärer“ Tradition ermöglicht es Schmitt, die politische Tradition des Konservativismus eines Bonald und de Maistre für seine Zwecke zu retten und gleichzeitig die „politische Romantik“ eindeutig auf die Seite des Feindes zu verweisen. Nicht von ungefähr wird dieses Argument prominent im Vorwort für die zweite Auflage von 1925 wieder aufgenommen: Die Kritik gewinnt erst dann eine bedeutendere Tiefe, wenn die Romantik geschichtlich einer großen historischen Konstruktion der letzten Jahrhunderte eingefügt wird. Insbesondere gegenrevolutionäre Schriftsteller haben das in oft sehr interessanter Weise versucht. Sie sahen in der Romantik die Konsequenz jener Auflösung, die mit der Reformation beginnt, im 18. Jahrhundert zur Französischen Revolution führt und sich im 19. Jahrhundert in Romantik und Anarchie vollendet. So entsteht das ‚Monstrum mit den drei Köpfen‘: Reformation, Revolution und Romantik.⁵⁴
Schmitt verortet die „Romantik“ also in der spezifisch modernen, individualistischen Genealogie, die an der Wiege des modernen Liberalismus steht. Hier offenbart sich eindeutig der politische Horizont der Argumentation: Schmitts Kritik der „politischen Romantik“ bildet das erste Moment der Kritik des bürgerlichen Liberalismus, die er während der gesamten Weimarer Republik weiter ausarbeiten wird. Der Nexus zwischen Individualismus, Protestantismus, Liberalismus und Romantik wird in der Politischen Romantik auch mehrmals wiederholt, sei es durch
51 Die in der Schmitt-Literatur seit Karl Löwith (K. Löwith, Der okkasionelle Dezisionismus von C. Schmitt, in: ders., Heidegger – Denker in dürftiger Zeit. Zur Stellung der Philosophie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984, 32–71) verbreitete These der Romantikkritik als Selbstkritik oder sogar „Selbstinquisition“ Schmitts (Reinhard Mehring) scheint mir angesichts des zeitlichen Rahmens der Veröffentlichung (1918–1925), der Persönlichkeit Schmitts und der Stoßrichtung seiner Argumentation nicht überzeugend. 52 Schmitt, Politische Romantik, 119. 53 Ebd. 54 A. a.O., 10.
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den Hinweis auf das „private Priestertum“ als „Wurzel der Romantik und der romantischen Phänomene“⁵⁵ oder durch die Beschreibung der Romantik als „psychologisch und historisch ein Produkt bürgerlicher Sekurität“.⁵⁶ Das romantische Subjekt könne sich erst in einer bürgerlich befriedeten und geregelten Welt wirklich entfalten. Schmitts Kritik der Romantik sticht durch ihre Radikalität und sogar Brutalität hervor.⁵⁷ Schmitts stilistisches Talent macht aus seinem Buch einen unumgehbaren Klassiker der Diskussion zur politischen Romantik, und doch ist er mit seiner antiromantischen Einstellung im Weimarer Kontext sehr isoliert: Antiromantische Argumente sind im deutschsprachigen Raum der Zwischenkriegszeit eine Randerscheinung.⁵⁸ Schmitts Exzentrizität erklärt sich zum Teil durch die Quellen, aus denen er seine Inspiration schöpft: die französische Antiromantik der reaktionären Autoren der Action française. ⁵⁹ Es scheint erlaubt, Friedrich Meineckes Rezension von Schmitt Buch in der Historischen Zeischrift als paradigmatisch für die deutsche Rezeption aufzufassen: Nachdem er im ersten Teil dem rhetorischen und stilistischen Talent des Autors sowie seiner Intelligenz seine Anerkennung gezollt hat, bestreitet er in einem zweiten Teil alle inhaltlichen Argumente Schmitts und kritisiert sowohl die Beschränkung der Definition auf Müller und Schlegel wie auch die radikalen Angriffe auf diese beiden Denker.⁶⁰
2 Romantik als deutsche Tradition: akademische Debatten Die Stellung und Bedeutung der romantischen Tradition für die deutsche Kultur und Identität wird auch in der zweiten Phase der Romantik-Rezeption diskutiert, 55 A. a.O., 21. 56 A. a.O., 106. 57 Die Radikalität der persönlichen Angriffe auf Adam Müller wurden von den Rezensenten auch kritisiert. So schreibt Meinecke zur „erbarmungslosen“ Sezierung Müllers im dritten Teil: „Das geht nun viel zu weit“ (F. Meinecke, Politische Romantik. Von Dr. Carl Schmitt-Dorotic, in: Historische Zeitschrift 121 (1920) 294. 58 Wie Schmitt selbst bemerkt, ist Antiromantik in Deutschland, wenn sie existiert, eher eine linke Tradition (Schmitt, Politische Romantik, 25 u. 158). Im Weimarer Kontext ist sie selten, findet sich aber auch bei anderen Autoren der „katholischen Klassik“ in den frühen Weimarer Jahren, so bei Hermann Hefele, vgl. H. Hefele, Der Katholizismus in Deutschland, Darmstadt 1919, 101. 59 Zu dem Thema: C.E. Roques, Argumente von außen. Die französischen Wurzeln der Schmitt’schen Romantikkritik, in: O. Agard/B. Besslich, Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich 1890–1933, Frankfurt a. M. 2016, 223–242. 60 Vgl. Meinecke, Politische Romantik. Von Dr. Carl Schmitt-Dorotic, 295 f.
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in jenen etwas ruhigeren Mitteljahren der Weimarer Republik, in denen sich die Diskussion auf akademischere Debatten verlagert. Die „Adelung“ der politisch-romantischen Ideen als Grundstein einer „richtigen“, „wahren“, „deutschen“ Tradition steht im Mittelpunkt des philosophisch-politischen Programms, das der Kreis um den Wiener „Soziologen“ Othmar Spann ab 1920 entfaltet. In Spanns Denken ist die Romantik die wichtigste Tradition des von ihm verfochtenen „Universalismus“.⁶¹ Und doch werden die Romantiker in seinem Denken schon bald zu einer Quelle unter anderen, weshalb wir hier nicht weiter auf Spanns „Universalismus“ eingehen werden. Dennoch muss festgehalten werden, dass der Spann-Kreis ab Mitte der 1920er Jahre zu dem tonangebenden Interpreten der Romantiker wird, denn jene Akademiker, die als Spannschüler mit der Detailarbeit an den Quellen beauftragt werden, leisten einen beachtlichen Beitrag zur Erforschung der romantischen Quellentexte durch die Erstellung von (quasi‐) wissenschaftlichen Editionen und Arbeiten zu den wichtigsten Denkern der Romantik. Zu ihrem Herzstück wird ab 1922 die Schriftenreihe Die Herdflamme des Gustav Fischer Verlages, Jena, die die romantischen Quellentexte zugänglich macht, begleitet von „Ergänzungsbänden“, die Kommentare und Monographien zum Thema bieten. Auch wenn Spanns Vereinnahmung der Romantiker sowie sein Status als „Soziologe“ immer umstritten bleibt,⁶² trägt die anhaltende und aktive Verlagsarbeit seines Kreises zu einer besseren Verfügbarkeit und Verbreitung der romantischen Quellenexte bei. Als interessanter und von anhaltenderem Einfluss erweisen sich Karl Mannheims Analysen zum Zusammenhang zwischen Romantik und Konservatismus. Mannheims Habilitationsschrift wurde zwar nach ihrem Abschluss 1925 nicht publiziert, aber ein langer, daraus entspringender Artikel über Das konservative Denken konnte 1927 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik erscheinen.⁶³ Mannheims Interesse am Konservatismus erwächst aus seiner Auseinandersetzung mit dem Historismus, sieht er doch einen grundlegenden Zusammenhang zwischen Konservatismus und historischem Denken:
61 Zu Spanns „Universalismus“ und seinen politischen Netzwerken vgl. M. Schneller, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservativismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1970; K.-J. Siegfried, Universalismus und Faschismus. Das Gesellschaftsbild Othmar Spanns: Zur politischen Funktion seiner Gesellschaftslehre und Ständestaatskonzeption, Wien 1974; J. Wasserman, Black Vienna: the Radical Right in the Red City, 1918–1938, Ithaca 2014. 62 Vgl. K. Dunkmann, Der Kampf um Othmar Spann, Leipzig 1928. 63 K. Mannheim, Das konservative Denken, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 57 (1927) 68–174 u. 470–495; wieder abgedruckt in: K. Mannheim, Das konservative Denken, in: Wissenssoziologie: Auswahl aus dem Werk, Berlin 1964, 408–508.
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Anfangen muß man hierbei beim konservativen Denken, weil das moderne Sehen der Geschichte in den Hauptpunkten die Schöpfung gerade dieser Strömung war, und weil die wesentliche Leistung dieses Denkstils u. E. gerade darin zu suchen ist, daß hier durch eine Transformation des religiösen Bewußtseins und anderer durch den modernen Rationalismus verdrängten Denkweisen ein Organon zur Erfassung der irrationalen Elemente in der Geschichte geschaffen worden ist.⁶⁴
Der Konservatismus interessiert Mannheim also insofern, als er methodologische und politische Elemente verbindet, die sich gegen die rationalisierenden und abstrahierenden Tendenzen der aufklärerisch-progressiven Denkweisen ausspielen lassen. Des Weiteren stellt Mannheim eine Verbindung zwischen Konservativismus, Historismus und Lebensphilosophie her: eine Konstellation, deren politisch-philosophische Aktualität im Kontext von 1927 kaum unterschätzt werden kann. Am Ausgang seiner Überlegungen zum konservativen Denken unterscheidet Mannheim zwischen einer generellen Morphologie des Konservativismus und den verschiedenen Denkstandorten, in die sich diese Denkweise zerlegen lässt. Aber unter diesen konstitutiven Elementen des Konservatismus misst er dem „romantisch-ständischen Denkstandort“ eine besondere Bedeutung zu, da ihm eine Gründungsfunktion zukomme: Der „romantisch-ständische Denkstandort“ entspricht dem eigentlichen Moment der Entstehung des „modernen“ Konservativismus in Deutschland.⁶⁵ Nicht von ungefähr geht Mannheim in der Habilitationsschrift von 1925 sowie im Aufsatz von 1927 nur auf diesen Standort ausführlicher ein.⁶⁶ Und er weist auch eindeutig auf die zeitgenössische Relevanz dieses Denkstandortes hin, wenn er erklärt, dass aus der Verbindung von Adel und Romantik „jener eigentümliche Charakter zustande [kommt], der das ‚deutsche‘ Denken bis auf den heutigen Tag im Grunde kennzeichnet“.⁶⁷ Mannheim versteht seine „Konservatismus“-Studie also explizit auch als Beitrag zur Gegenwartsanalyse. Das Kennzeichnende am „modernen“ konservativen Denken – und was ihn vom „Traditionalismus“ unterscheidet – ist, so Mannheim, seine reflexive Natur: Das originäre konservative Erleben wird da reflexiv, seiner Eigenart bewußt, wo in dem Lebensraume, in welchem es vorhanden ist, bereits andersgeartete Lebenshaltungen und Denkweisen auftreten, von denen es sich in ideologischer Abwehr abheben muß. Schon auf dieser ersten Stufe der konservativen Ideologiebildung […] ist das konservative Erleben und Denken reflexiv, und seine Schicksalslinie wird im darauffolgenden Verlauf immer mehr durch eine Steigerung dieser Reflexivität, bestimmt.⁶⁸
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Mannheim, Das konservative Denken, 411. A. a.O., 408. K. Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1984. Mannheim, Das konservative Denken, 451 f. A. a.O., 445.
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Somit liest Mannheim die Entstehung des Konservativismus als Antwort, als Reaktion auf eine bereits reflexiv gewordene Weltanschauung der „progressiven Elemente“. Und gerade im Zusammenhang mit dieser fortschreitenden Reflexivität fällt der Romantik eine Schlüsselrolle zu: Der„moderne“ politische Konservativismus als „einheitliche Strömung in der modernen Denkgeschichte“ entsteht erst dort, wo „Intellektuelle“ wie Adam Müller das altständische Denken eines Justus Möser romantisieren, das heißt potenzieren, indem sie die diffusen Elemente zu einer geschlossenen Methodenlehre verdichten und somit „politischen Zwecken dienstbar“ machen.⁶⁹ Anders formuliert: Es ist die „Romantisierung“ des altständischen Denkstandortes, das den modernen Konservatismus hervorbringt: Gerade diese entwicklungsgeschichtlich relativ ältere Schicht des Erlebens und Denkens, die durch die bürgerliche, absolutistische und bureaukratische Rationalisierung von mehreren Seiten bereits angegriffen wurde und Gefahr lief, allmählich abzusterben, fand im Zusammentreffen und durch das Bündnis mit dem romantischen Weltwollen eine Verlebendigung und wurde auf eine moderne Begründungsebene erhoben.⁷⁰
Mannheim betont wiederholt, dass es sich hier nicht um ein zufälliges, erfreuliches Ergebnis handelt, sondern dass die „Verlebendigung“ und das „Erheben auf eine höhere Begründungsebene“ eben den spezifischen Inhalt des romantischen Beitrages ausmachen. Der „moderne Konservatismus“ wäre also ohne den Beitrag der deutschen Romantik nicht zu denken – oder genauer gesagt, der Konservatismus wäre ohne den Beitrag der romantischen Intellektuellen nicht zu denken. Denn die Überlegungen zum Konservatismus münden bei Mannheim in eine Theorie der „sozial freischwebenden Intelligenz“: Getragen wird diese romantische Strömung, als sie zu einer ‚Bewegung‘ zusammengerinnt, hauptsächlich von sozial freischwebenden Intellektuellen, soziologisch also von dieser Schicht, die auch an der Aufklärung engagiert war […], nur daß das Romantischwerden zugleich eine soziale und metaphysische Entfremdung und Vereinsamung mit sich bringt. Erst hier wird es ganz klar sichtbar, wie sehr ‚Intelligenz‘ ein ganz besonderes soziologisches Phänomen ist, dessen ‚realsoziologische‘ Zurechenbarkeit gerade wegen der äußerst labilen äußeren Lage und wirtschaftlichen Heimatlosigkeit der Träger so kompliziert ist.⁷¹
Es werden hier Ausführungen über die „deutsche Intelligenz“ vorweggenommen, die 1929 in Ideologie und Utopie eine tragende Rolle spielen werden.⁷² Doch im Konservatismus-Essay steht der spezifische Unterschied zwischen den Aufklärern 69 70 71 72
A. a.O., 460. A. a.O., 481. A. a.O., 354. K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1930.
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und den Romantikern im Mittelpunkt: Während erstere ihre „ideologische Rückendeckung“⁷³ weiterhin im Bürgertum finden, sehen sich die Romantiker zu Entfremdung und Einsamkeit verurteilt. Ihre „labile äußere Lage“,⁷⁴ d. h. vor allem ihr chronischer wirtschaftlicher Notstand, wirkt sich in zweifacher Richtung aus. Negativ gesehen trägt die konstante ökonomische Unsicherheit die Gefahr in sich, den Kampf um Werte der Suche nach Einkommen unterzuordnen und sich also für jene Kämpfe zu verdingen, die wirtschaftliche Sicherheit bringen. Positiv gesehen ist damit aber auch die Fähigkeit verbunden, sich in andere Denkstandorte einzufühlen und diese intellektuell zu durchdringen: Diese freischwebenden Intellektuellen sind die typischen Rechtfertigungsdenker, ‚Ideologen‘, die jedes politische Wollen, in dessen Dienst sie sich stellen, zu unter- und hintergründen verstehen. Aus ihrer eigenen Lage ergibt sich keine Gebundenheit, sie haben aber eine äußerst feine Empfindlichkeit für die in dem betreffenden Lebensraum vorhandenen Kollektivwollungen und die Fähigkeit, sie aufzuspüren und sich in sie einzufühlen.⁷⁵
Die traditionelle Rezeption von Mannheims Aufsatz artikuliert sich um das von ihm, ein paar Zeilen weiter oben ins Feld geführte Konzept der „moralischen Unsicherheit“.⁷⁶ Und in diesem – negativen – Zusammenhang lässt sich dann auch der Satz über die Romantiker als „Rechtfertigungsdenker“ begreifen, so dass Mannheims Analyse an die Carl Schmitts anzuschließen scheint. Andererseits führt die ausschließliche Konzentration auf den ersten Teil dieses Zitates am grundlegenden Teil von Mannheims wissenssoziologischer Analyse vorbei. Die Romantiker verfügen über keine soziale Verankerung und sind somit offen für sozial fremde „Wollungen“. Doch tatsächlich bringt der Drang, sich einzufühlen, auch eine positive Entwicklung mit sich: Die Romantiker verfügen über ein intellektuelles Feingefühl, das es ihnen möglich macht, sich in andere „Kollektivwollungen“ hineinzuversetzen und diese vollständig zu verinnerlichen. Diese Verinnerlichung ist aber nicht sentimentaler, sondern intellektueller Natur. Das „Romantisieren“ eines sozialen Standortes fällt mit seiner reflexiven Fundierung zusammen. Es ist somit ein wesentliches Instrument zur Durchleuchtung der ideologischen Positionen. Und genau diese Leistung haben die Romantiker für den modernen Konservatismus erbracht. Bei allen Subtilitäten von Mannheims Argumentation erscheinen die Romantiker in seiner Abhandlung als legitime Theoretiker der konservativen Tradition in Deutschland und werden somit auf die gleiche Ebene gehoben wie jene Theoretiker der Gegenrevolution, die Schmitt eben von ihnen getrennt wissen wollte. Mannheim 73 74 75 76
Mannheim, Das konservative Denken, 454. A. a.O., 455. A. a.O., 457. A. a.O., 455.
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knüpft somit an eine eher linke Tradition der Assimilierung von Romantik und Konservatismus an. Aber er „adelt“ die Romantiker, insofern als er dieses Zusammengehen nicht mehr einfach in die reaktionäre Ecke stellt, sondern sie als moderne Theoretiker liest.⁷⁷
3 Denken in der Krise Mit dem Hereinbrechen der Weltwirtschaftskrise und der sich in diesem Kontext radikalisierenden politischen Krise und unter dem Druck der sich verstärkenden Polarisierung und dem Aufkommen der national-sozialistischen Bewegung verändert sich der historisch-politische Kontext der Weimarer Republik erneut, was auch zu Veränderungen in der Diskussion um die Romantik führt. Ein erstes Beispiel für die Verschiebung der Koordinaten der Diskussion, das hier kurz erwähnt werden soll, ist wieder Hans Freyer. Wie gesehen, bildet der Dialog mit den Ideen der Romantik einen Pol in Freyers Denken, der sich durch das ganze Frühwerk verfolgen lässt, von den Frühtexten bis in die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft von 1930.⁷⁸ Im Zuge der Krise der 1930er Jahre verschiebt sich jedoch Freyers Perspektive. Dies kommt eindeutig in einem Vortrag von 1932 über Die Romantiker im Rahmen einer Vortragsreihe zu den Gründern der Soziologie zum Ausdruck.⁷⁹ Freyer geht in seinen Überlegungen nun von der Unterscheidung zwischen der „literaturgeschichtlichen“ und der „geistesgeschichtlichen“ Romantik aus, um sich im Endeffekt auf letztere zu konzentrieren.⁸⁰ Des Weiteren sollte man, so Freyer, zwischen der Romantik als „Strukturprinzip“ der Epoche – also als geistige Einheit aller theoretischen Produktionen und Denker der Zeit – und der „politischen Romantik“ im engeren Sinne – als der Ort, an dem versucht wird, die romantische Theorie konkret politisch zu verwirklichen – unterscheiden.⁸¹ Interessanterweise wird letztere jetzt explizit mit Verweis auf Carl Schmitt definiert und deren Inhalt somit durch eine doppelte Grenzziehung bestimmt:⁸² einerseits durch die Abgrenzung gegenüber den
77 Vgl. D. Kettler/V. Meja/N. Stehr, Karl Mannheim et le ‚conservatisme‘, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 83 (1987) 245–256. 78 H. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig 1930. 79 H. Freyer, Die Romantiker, in: F.K. Mann (Hg.), Gründer der Soziologie. Eine Vortragsreihe, Jena 1932, 79–95. 80 Freyer, Die Romantiker, 79. 81 A. a.O., 80. 82 A. a.O., 81 f.
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„romantischen“ Theoretikern wie Hegel, Fichte oder Schelling und andererseits gegenüber den „konservativen“ Staatsmännern (wie Burke).⁸³ Im Großen und Ganzen wird die „politische Romantik“ nun, wie bei Schmitt, auf Adam Müller und Friedrich Schlegel reduziert, und Freyer kann daher Schmitts vernichtendes Urteil übernehmen. Aber Freyers Kritik geht sogar noch darüber hinaus. Sie wendet sich gegen die „Romantik“ als Strukturprinzip: Ihr Organizismus, der als Antwort auf den abstrakten Rationalismus der Aufklärung gedacht war, erscheint ihm im Kontext der modernen industriellen Gesellschaft nicht mehr angebracht: „[Das] bedingungslose Festhalten am ständischen Gesellschaftsbegriff [verschließt] der romantischen Soziologie das Verständnis für die industrielle Gesellschaft moderner Gestalt.“⁸⁴ Das organische Denken der Romantiker, an deren Gemeinschaftsideal Freyer immer noch glaubt, ist im historischen Kontext der frühen 1930er Jahre nicht zeitgemäß. Die industrielle Gesellschaft ist, selbst für den Konservativen Freyer, durch den Klassenkampf gekennzeichnet: Die Klassengesellschaft des industriellen Zeitalters ist kein organisches Ganzes mit körperhaftem Aufbau. Gesellschaftsklassen sind nicht die Glieder, die mit einer sinnvollen Funktion dem Ganzen geruhsam eingeordnet sind. Sondern das Gesetz ihrer Beziehung ist der Kampf, und das Ganze, zu dem sie zusammenspielen, ist die wechselnde Machtlage der industriellen Gesellschaft.⁸⁵
Somit kann die zeitgenössische Krise nicht mit der romantischen Begrifflichkeit überwunden werden. Das bedeutet aber nicht, dass das romantische Ideal endgültig entwertet ist. Die Vorlesung von 1932 richtet sich zwar gegen „das Gespenst der romantischen Ohnmacht“,⁸⁶ aber Freyer beruft sich auch auf das Vorbild der romantischen Ethik, der romantischen Philosophie im „weiteren“ Sinne. So hält Freyer in den abschließenden Bemerkungen zum romantischen Organizismus doch fest, dass in der Theoretisierung des „Volkes“ durch die Spätromantik Anschlussstellen für eine Romantik jenseits der Organismusidee gefunden werden können: „[D]ie spätere Romantik [hat hier] ihre großen Leistungen vollbracht, besonders wo sie mit den Begriffen Volk, Volkstum, Volksgeist geisteswissenschaftlich zu arbeiten gelernt hat. Viel mehr als die Staaten werden jetzt die Völker zu den großen geistigen Organismen.“⁸⁷ Diese Verschiebung des Hauptaugenmerks vom „Staat“ auf das
83 A. a.O., 83. 90. 84 A. a.O., 85. 85 A. a.O., 94. 86 J.Z. Muller, The Other God That Failed: Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987, 189. 87 Freyer, Die Romantiker, 86.
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„Volk“ sei „der Punkt, wo die romantische Organismusvorstellung gesprengt“ und die Romantik wieder zukunftsträchtig wird.⁸⁸ Freyers Zuhörern und Lesern konnte 1932 kaum entgehen, dass er mit diesen Worten an seine eigenen Ideen zum Volksbegriff anknüpfte:⁸⁹ Wenn das „Volk“ das Subjekt des Überwindungsprozesses der kapitalistischen Gesellschaft wird, würde es möglich, dass die Soziologie, die ihm entspricht, nicht mehr jene der modernen Dialektik ist, sondern eine Soziologie der Einheit, der harmonischen Ganzheit. Und somit könnte die romantische Soziologie, die Freyer für die Analyse der Gegenwart verwirft, in seinem politischen Projekt nach der Revolution (von rechts) wieder an Aktualität gewinnen.⁹⁰ Die romantische Gesellschaftslehre erscheint bei Freyer somit als der Erwartungshorizont der neuen Soziologie des zukünftigen „Volkes“. Genau diese Idee der kommenden Aktualität der Romantik wiederholt Freyer dann im kurz darauf entstandenen Essay zum „politischen Begriff des Volkes“: die Zukunftsträchtigkeit der Romantik gründet auf der Tatsache, dass sie allein über ein wirkliches Verständnis des „Volksbegriffs“ verfügt, das nur darauf wartet, aktualisiert zu werden. Interessanterweise bietet Freyer in seinen Ausführungen zum Volk und zur Gemeinschaft Anknüpfungspunkte für bestimmte Einheitsbestrebungen aus dem sozialistischen Lager, die eben gerade über den Rekurs auf das Paradigma der politischen Romantik verlaufen werden. Beispielhaft dafür waren in den letzten Jahren der Republik die Kreise um Paul Tillich und die Neuen Blättern für den Sozialismus. Wenn hier vor allem auf Paul Tillichs Sozialistische Entscheidung und seine Auseinandersetzung mit der „politischen Romantik“ eingegangen werden soll, ist dies nur möglich, wenn zwei Bemerkungen vorgeschaltet werden. Einerseits sollte man vor Augen behalten, dass Tillich die Idee einer Synthese mit Einbeziehung der „romantischen Kräfte“ schon vor dem Anfang der 1930er Jahre angesprochen hatte. So beschrieb er bereits 1923 in seinen Grundlinien des religiösen Sozialismus den vom religiösen Sozialismus angestrebten Zustand der „Theonomie“ als einen „Widerspruch ebenso sehr gegen romantische Reaktion wie gegen die naturale dämonische Autonomie der Wirtschaft“.⁹¹ Grob formuliert war die Theonomie die Aufhebung dieser Frontstellung, aber eben in einer Weise, die beide Elemente (das romantische und das bürgerliche Prinzip) mit einband.
88 Ebd. 89 Vgl. H. Freyer, Gemeinschaft und Volk, in: F. Krueger (Hg.), Philosophie der Gemeinschaft. 7 Vorträge, Berlin 1929. 90 Vgl. H. Freyer, Revolution von rechts, Jena 1931. 91 P. Tillich, Grundlinien des religiösen Sozialismus, in: GW II, 107 f.
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Zweitens sollte man auch bedenken, dass die Idee eines Brückenschlages oder zumindest eines Gesprächsangebots an die Kräfte aus dem „romantischen“, d. h. konservativen Lager nicht allein Tillichs Unterfangen war: Getragen wird dieses Projekt allgemeiner von einem Teil der sozialdemokratischen Jugend, der sich um Hermann Heller als „Hofgeismarer Kreis“ organisiert hatte und für den Stefan Vogt den Begriff der „Jungen Rechte“ mobilisiert hat.⁹² Diese Gruppe zählt gleichzeitig zu den Trägern der Neuen Blätter für den Sozialismus. ⁹³ Ab 1931 gab es in den Blättern sogar eine Abteilung Neuer Nationalismus, die von Fritz Borinski geleitet wurde.⁹⁴ Borinski war bis dahin einer der Anführer des Leuchtenburgkreises, einer eher informellen Vereinigung von Jugendlichen aus der Deutschen Freischar, für die unter anderen Hans Freyer als Mentor fungierte. In seinen Erinnerungen an den Leuchtenburgkreis schreibt Borinski explizit, dass „man […] nach Querverbindungen zu verwandten Kreisen der jungen Rechte und der sozialrevolutionären Nationalisten (K.O. Patel, Otto Strasser, Friedrich Hielscher) [suchte]“.⁹⁵ Und so kam es im Laufe der Jahre 1931/32 auch zu mehreren Treffen zwischen den Jungen Rechten um Tillich und Gruppen aus dem konservativen Spektrum: mit der Widerstand-Kreis von Ernst Niekisch, mit der Tat-Gruppe, mit der „Schwarze Front“ von Otto Strasser und sogar mit bestimmten Personen aus dem linken Flügel der NSDAP.⁹⁶ Die Frage der möglichen Allianzen mit „sozialistischen“ Gruppierungen aus dem rechten Spektrum bildet 1932 und 1933 ein Dauerthema der Blätter: In jedem der sechs Hefte, die 1933 erscheinen, findet sich ein Artikel zu dieser Frage.⁹⁷
92 S. Vogt, Nationaler Sozialismus und soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918–1945, Bonn 2006. 93 Zu den Blättern vgl. S. Vogt, Nationaler Sozialismus; M. Martiny, Die Entstehung und politische Bedeutung der ‚Neuen Blätter für den Sozialismus‘ und ihres Freundeskreises, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 23/1 (1977) 373–419; F. Borinksi, Die ‚Neuen Blätter für den Sozialismus‘, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (1981) 65–97; A. Schildt, National gestimmt, jugendbewegt und antifaschistisch – die ‚Neuen Blätter für den Sozialismus‘, in: M. Grunewald/H.M. Bock (Hg.), Le milieu intellectuel de gauche en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890–1960), Berne 2002, 363–390. 94 Vogt, Nationaler Sozialismus, 150. 95 F. Borinski, Der Leuchtenburgkreis I, in: W. Kindt (Hg.), Die deutsche Jugendbewegung 1920–1930. Die Bündische Zeit, Düsseldorf 1974, 1046. 96 Vogt, Nationaler Sozialismus, 184. Es kam sogar zu einer gemeinsamen Tagung mit Tagungsband: Mit oder gegen Marx zur deutschen Nation: Diskussion zwischen Adolf Reichwein, Wilhelm Rössle, Otto Strasser und dem Leuchtenburgkreis, Leipzig 1932. Im „Schlusswort“ zum Band schreibt Fritz Borinski: „Es gibt im Grunde nur eine echte revolutionäre Front – ‚junge revolutionäre Linke‘ und ‚junge revolutionäre Rechte‘ sind nur ihre Flügel. – Nur wenn die ‚beiden Wirklichkeiten‘ zueinander stoßen, nur wenn sie vereint schlagen, können sie siegen und ‚eine Welt gewinnen‘“ (31). 97 Vgl. Roques, (Re)construire la communauté, 284 f.
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Die theoretische Krönung dieses Unterfangens bildete Paul Tillichs Sozialistische Entscheidung von 1933. Wie dieser Text einzuordnen ist, war lange Zeit umstritten. Für Marion und Wilhelm Pauck war der Text eine Kriegserklärung an den Nationalsozialismus.⁹⁸ Und in der gleichen Logik wurde der Text in der französischen Übersetzung in den Band der Werke aufgenommen, der Tillichs Schriften gegen die Nazis sammelt.⁹⁹ In der„Einführung“ zum Band schreibt Jean Richard: „Zu behaupten, dass Tillich in der Sozialistischen Entscheidung dem Nazismus gegenüber ambivalent wäre oder dass er am Übergang von Sozialismus zum Nazismus verweile, ist ganz einfach absurd“.¹⁰⁰ Auf der anderen Seite hat Friedrich Wilhelm Graf 2004 darauf hingewiesen, dass man diesen hermetischen Text auch etwas anders lesen könne, „als ein vielschichtig widersprüchliches Zeugnis neuer Orientierungssuche eines politisch zutiefst verunsicherten bürgerlichen Intellektuellen“.¹⁰¹ Und Kurt Nowak hatte bereits Anfang der 1980er Jahr geglaubt, feststellen zu können, dass die Einstellung des Berliner Tillichkreises zum Faschismus „ambivalent“ war, und führte aus: „Tillichs Bejahung von ‚Ursprungsmächten‘ barg zudem die Gefahr in sich, den faschistischen Irrationalismen von Blut und Boden eine gewisse Anerkennung zu zollen“.¹⁰² Es ist wohl zu begrüßen, wenn kritische Stimmen die „hagiographischen Kulturen“ in der Tillich-Literatur hinterfragen,¹⁰³ aber gleichzeitig scheint es der Komplexität des historischen Kontextes sowie Tillichs Denken nicht gerecht zu werden, wenn vorschnell auf Orientierungslosigkeit (Graf ) oder Verkennung der Gefahr (Nowak) geschlossen wird. Auch ohne apologetische Intention verlangt eine differenzierte Analyse der Weimarer Gemengelage, sie nicht retrospektiv von der kommenden Katastrophe aus zu lesen, sondern zu versuchen, Tillichs Intention, im Krisenkontext der frühen 1930er Jahre neue Wege aus der Krise zu erkunden, ernst zu nehmen. Ausgangspunkt von Tillichs Argumentation ist die Unterscheidung zwischen den beiden Wurzeln, „denen alles politische Denken entspringt“, nämlich einerseits „das ursprungsmytische Bewusstsein“, „die Wurzel alles konservativen und romantischen Denkens in der Politik“ (GW II, 227), und andererseits „die Brechung des
98 W. Pauck/M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Stuttgart 1976, 135. 99 J. Richard, Introduction, in: P. Tillich, Écrits contre les nazis, 1932–1935, Paris 1994. 100 A. a.O., XXXVII. 101 F.W. Graf, ‚Old Harmony‘? Über einige Kontinuitätselemente in ‚Paulus‘ Tillichs Theologie der Allversöhnung, in: H. Lehmann/O.G. Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Göttingen 2004, 394. 102 K. Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Weimar 1981, 278. 103 Graf, ‚Old Harmony‘?, 379.
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Ursprungsmythos durch die unbedingte Forderung“, „die Wurzel des liberalen, demokratischen, und sozialistischen Denkens in der Politik“ (GW II, 228). Die moderne Form des ursprungsmytischen Bewusstseins ist es, was Tillich „politische Romantik“ (GW II, 246) nennt. Nach einigen Ausführungen zu ihrer intellektuellen Begründung unterscheidet Tillich schließlich zwei Formen der politischen Romantik: die konservative Form, die „auf dem Versuch [beruht], die geistigen und gesellschaftlichen Reste der Ursprungsbindung gegen das autonome System zu verteidigen, wenn möglich auch Rückbildungen zu bewirken“, und die revolutionäre Form, die „versucht in zerstörendem Angriff gegen das rationale System den Boden für neue Ursprungsbindungen zu erobern“ (GW II, 247). Tillich stellt diese zweite Form als die „dynamische“ dar, was stark positive Implikationen hat: Dynamik würde dann eine neue Kategorie sowohl gegenüber dem Organischen wie gegenüber dem Mechanischen sein, eine Kategorie, die der gesellschaftlichen Lage der revolutionären politischen Romantik angemessen wäre. In der Idee des Dynamischen könnte sich gleichzeitig der Wille ausdrücken, die Berechenbarkeit und den Zwang des rationalen Systems zu durchstoßen, seine Elemente einzuschmelzen und flüssig zu machen, und der Wille, sich nicht den alten, durch die Ideologie des Organismusbegriffs verklärten Gestaltungen zu unterwerfen. Ursprung im Sinne der dynamischen Idee würde das Entspringen, Ursprung im Sinne der organischen Idee das Ursprüngliche bedeuten. Die revolutionäre Romantik will neu entspringen lassen, die konservative das Ursprüngliche wiederfinden. (GW II, 249)
Durch die Umschreibung dieser Differenzen zwischen konservativer politischer Romantik und revolutionärer politischer Romantik sticht für Tillich im Gegenzug die „Strukturverwandtschaft zwischen revolutionärer Romantik und revolutionärem Sozialismus“ (ebd.) hervor. Aus dieser Verwandtschaft entspringt aber die Legitimität der Romantik: „[Das Recht der politischen Romantik] liegt an einer anderen Stelle, als sie selbst es suchte; es liegt genau an dem Punkt, an dem auch der Sozialismus gegen die bürgerliche Gesellschaft ankämpft. Es liegt in dem Protest des Menschen gegen die entmenschlichenden Folgen des durchgeführten rationalen Systems“ (GW II, 264). Dieser Satz schließt den ersten Teil des Buches, in dem sich Tillich mit dem Wesen der politischen Romantik auseinandersetzt – und es scheint doch schwierig, daraus eine unilaterale Verdammung der Romantik herauszulesen. Diese Ausführungen über den Berührungspunkt zwischen Romantik und Sozialismus vertieft Tillich noch einmal am Anfang des dritten Teils seines Buches in einem einleitenden Kapitel über Die Ursprungskräfte der proletarischen Bewegung: „Was im Proletarier reagiert, ist das gleiche, was die politische Romantik zum ausschließlichen Prinzip von Mensch und Gesellschaft macht, der Ursprung. Hier ist der Punkt, wo beide gemeinsam gegen das bürgerliche Prinzip stehen.“ (GW II, 207) Der Idee eines wesentlichen Widerspruchs zwischen Romantik und Proletariat
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verwirft Tillich explizit: „Proletariat und Unsprungsbindung stehen also nicht im Gegensatz“ (GW II, 309). Es geht somit an Tillichs Absicht vorbei, wenn man sein Buch als eine Kampfschrift gegen die „politischen Romantik“ liest. Wie es der Titel zum Ausdruck bringt, befasst sich das Buch in seinem Herzen mit der sozialistischen Entscheidung. Und diese zeichnet sich durch ihre synthetische Dimension aus: Eine Wendung [der Tragik des Proletariats] ist nur möglich, wenn es zum Bewußtsein seiner Lage geführt wird und sich in klarer Entscheidung für die Kräfte des Ursprungs, aber gegen das bürgerliche Prinzip einsetzt. Das ist im Grunde die ‚sozialistische Entscheidung‘, die vom deutschen Sozialismus verlangt wird. (GW II, 283)
Damit kann Tillich dann eine Definition des Sozialismus ausarbeiten, die die drei Prinzipien miteinander in Verbindung setzt: „Es sind drei Elemente, in deren Zusammenwirken der Sozialismus gründet: die Kraft des Ursprungs, das Zerbrechen der Harmonie, die Richtung auf das Geforderte.“ (GW II, 309) Es scheint erlaubt, in diesem Satz ein Schlüsselmoment von Tillichs Argumentation zu sehen: Er lässt ersehen, dass Paul Tillich einen Sozialismus entwirft, der die Wahrheitsmomente des romantischen Prinzips erkennt und in sich aufnimmt. Aber gleichzeitig kommt hier auch ganz eindeutig das Hierarchieverhältnis zum Ausdruck, das zwischen den beiden Prinzipien existiert: Tillichs Sozialismus verinnerlicht zwar die Romantik, geht aber eindeutig darüber hinaus. Im unmittelbaren Krisenkontext der frühen 1930er Jahre läuft diese Analyse darauf hinaus, dass dringend „die Verbindung des revolutionären Proletariats mit den revolutionären Gruppen der politischen Romantik“ (GW II, 334) angestrebt werden müsse. Was dies im politischen Spektrum der Zeit bedeute, formuliert Tillich auf eindeutige Weise: Das Neue und Wichtige der gegenwärtigen Lage [ist], daß die ursprungsnahen Gruppen weithin in Opposition gegen die bürgerliche Gesellschaft geraten sind. Es ist die Funktion des Nationalsozialismus, daß er diese Revolutionierung mit Mitteln durchgeführt hat, die dem ursprungsnahen Sein jener Gruppen entsprach. […] Damit ist eine neue Situation für den Sozialismus geschaffen. Es ist nicht nur demagogisch zu verstehen, daß die revolutionäre Bewegung der mittleren Schichten sich sozialistisch nennt. Sie hat wirkliche ‚Erwartung‘. (Ebd.)
Tillichs Dialogangebot an die Gruppen der politischen Romantik wendet sich somit explizit auch an Elemente aus dem linken Flügel der NSDAP. Doch auch hier sind die Linien klar gezogen: Es ist kein Dialog unter gleichwertigen, sondern der Versuch, bestimmte Elemente unter den Kräften der politi-
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schen Romantik sozusagen über sich selbst hinauszuheben. Daher stellt Tillich im Schlusswort seiner Schrift die Möglichkeiten eindeutig als ein Entweder-oder dar: Die revolutionäre Form der politischen Romantik aber hat nur die Möglichkeit, in die konservative überzugehen […], oder sozialistisch zu werden, die spezifisch romantischen Elemente abzustreifen und ihre ursprungsmythischen Kräfte in die prophetische Bewegung der Gegenwart, den Sozialismus, einzuordnen. […] Siegt aber die politische Romantik und mit ihr der kriegerische Nationalismus, so ist der Selbstvernichtungskampf der europäischen Völker unvermeidlich. Die Rettung der europäischen Gesellschaft vor der Rückkehr in die Barbarei ist in die Hand des Sozialismus gegeben. [Der Sozialismus] ist durch die gegenwärtige Lage angewiesen auf die ursprungsnahen Kräfte. Ohne sie kann der Sozialismus nicht siegen. Von dieser Verbindung hängt darum die Zukunft des Sozialismus und damit das Schicksal Deutschlands und der europäischen Menschheit ab. (GW II, 364 f.)
Durch die nationalsozialistische Machtübernahme und Gleichschaltung erfüllt sich die von Tillich befürchtete Option: Die revolutionäre politische Romantik wird von der konservativen politischen Reaktion „aufgesogen“ und sein Gesprächsangebot verliert jegliche Aktualität. Und von dem Moment an scheinen die Linien wieder klar gezogen: Die von Alexander Schiffrin 1932 angeprangerte politische „Verwirrung“ scheint sich nicht erfüllt zu haben.¹⁰⁴ Tillich geht ins Exil, und wichtige Mitglieder des Kreises um die Neuen Blätter für den Sozialismus treten dem Widerstand bei. Die intellektuelle Flexibilität ging nicht einher mit einer moralischen Nachgiebigkeit.
4 Fazit Wenn man sich die verschiedenen Debatten zur politischen Romantik in der Weimarer Republik insgesamt vor Augen hält, sind fünf allgemeine Feststellungen möglich: Erstens gibt es so etwas wie eine quer durchs politische Spektrum geteilte „Sensibilität“ für die Romantik als Argument. Diese gehört sozusagen zum Grundstock der politischen Kultur der Weimarer Republik. Dies sieht man auch daran, dass antiromantische Einstellungen eine Randerscheinung in diesem Zeitraum sind. Schmitt ist zwar ein lautes, aber isoliertes Beispiel. Zweitens drückt diese Sensibilität eine kritische Einstellung zur aufklärerischliberalen Tradition aus. Aus dieser Perspektive erscheint der Erste Weltkrieg nicht wie ein Bruch in der deutschen Geschichte, sondern als Konsequenz der „materialistischen“ und „rationalistischen“ liberalen Ideologie, mit der es zu brechen gilt. 104 Vgl. A. Schiffrin, Nationaler Linkssozialismus?, in: Deutsche Republik 7 (1932) 266–270.
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Daher drückt der Rückgriff auf die Romantik, drittens, immer auch das Suchen einer („deutschen“, „organischen“, „gemeinschaftlichen“) Alternative zum aufklärerischen Liberalismus aus. Zu diesem Punkt muss für die Weimarer Republik auch die starke Kongruenz zwischen dem Paradigma der „politischen Romantik“ und dem der „Gemeinschaft“ festgehalten werden. Der Verweis auf die „politische Romantik“ wird in den meisten Fällen antiindividualistisch in Stellung gebracht. Viertens ist die politisch interdiskursive Qualität des romantischen Paradigmas besonders offensichtlich: Es kann sowohl von rechts wie von links benutzt werden und bildet sofort eine gemeine Diskussionsbasis, eine gemeinsame Begrifflichkeit für Menschen aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern – was Tillichs Beispiel besonders eindringlich verdeutlicht. Und zuletzt wird das romantische Paradigma oft auch im Zusammenhang mit der Forderung nach Modernisierung in Anschlag gebracht. Sowohl Tillich wie auch Freyer sehen in der Romantik intellektuelle Ansätze einer Lösung, die nur unter Vorbehalt einer Modernisierung durchführbar wäre.
Klaus Fitschen
Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Weimarer Republik 1 Wie schreibt man eine Religionsgeschichte der Weimarer Republik? Das Panorama der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Zeit der Weimarer Republik ist – grob und etwas banal gesagt – unübersichtlich, und das ist so, weil es an einer Religionsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert schlichtweg fehlt. Auch eine damit verwandte historische Religionssoziologie kann man sich nur wünschen – es gibt sie aber auch nicht oder nur in Form von Einzelbeobachtungen. Die religiöse Lage aus der Sicht damaliger Theologen oder Kirchenvertreter zu beschreiben, ist aus kirchengeschichtlicher Sicht natürlich eine Möglichkeit, aber auch nur eine beschränkte, da solche zeitgenössischen Beschreibungen kaum anhand weiterer externer Quellen verifizierbar sind. In dem 2017 erschienenen Buch des Leipziger Religionswissenschaftlers Horst Junginger – Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne – wird die Zeit der Weimarer Republik immerhin mehrmals erwähnt, vor allem im Blick auf die Weimarer Reichsverfassung und die in ihr verankerte religiöse Pluralität,¹ inhaltlich gefüllt wird dies aber kaum. Das grundlegende Defizit nicht nur in Jungingers Buch ist offensichtlich: So gut auch die Geschichte der großen christlichen Konfessionen und inzwischen auch die mancher Freikirchen erforscht sein mag, so beschränkt ist die Kenntnis der vielen kleinen Gruppen und der häufig amorphen Strömungen und Bewegungen, die sich um einzelne Personen und Schriften oder religiöse und weltanschauliche Inhalte sammelten und von denen viele schon auf das 19. Jahrhundert zurückgingen. Ein methodisches Grundproblem besteht darin, dass solche Gruppen und Strömungen keinen behördenähnlichen Apparat hatten und somit auch kein geordnetes Archiv, was die Erforschung ihrer Geschichte fast unmöglich macht. Immer wieder stößt man auf ein religionswissenschaftliches Dunkelfeld, sowohl in historischer wie im Übrigen auch in gegenwartsbezogener Hinsicht. Im Ernstfall prallen Eigengeschichtsschreibung und kritische Außendarstellung aufeinander, wie es dem Religionswissenschaftler Helmut Zander erging, der mit seinen Arbeiten zur Anthroposophie und zu Rudolf Steiner den Zorn mancher Anhängerinnen und Anhänger dieser Bewegung erregt hat. Blickt man 1 Vgl. H. Junginger, Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne, Darmstadt 2017, 170 f. https://doi.org/10.1515/9783111264332-005
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sich weiter um, fallen immerhin auch noch andere fachhistorische Arbeiten zu einzelnen Bewegungen auf, zum Beispiel zur proletarischen Freidenkerbewegung und zu völkisch-religiösen Bewegungen wie der Germanischen Glaubensgemeinschaft oder den Ludendorffianern.² Der frisch berufene Professor für Religionswissenschaft Paul Tillich hätte einiges zu erforschen gehabt, wenn er sich denn auf einen empirischen oder besser gesagt religionsphänomenologischen, religionsvergleichenden und religionsgeschichtlichen Weg begeben hätte, so wie das in der Leipziger Religionswissenschaft seit Nathan Söderbloms Wirken an der Universität üblich war.³ Allerdings war das derart ausgerichtete Interesse der Religionswissenschaft auf das große Ganze ausgerichtet, auf Die Religionen der Erde, wie es dann bei Söderblom hieß,⁴ und dabei spielten die Religionen Asiens eine große Rolle. In diesen Jahren begann sich das Fach Religionswissenschaft auch erst zu konstituieren, wozu eine spannungsreiche Beziehung zur Theologie beitrug, in die es generell noch eingeordnet war.
2 Kirchen und Religionsgemeinschaften im Rahmen der Weimarer Reichsverfassung Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. […] Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.
Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung bildete den rechtlichen Rahmen für die Kirchen und Religionsgemeinschaften, die die Verfassung durchaus traditionell Religionsgesellschaften nannte. Die Gleichstellung der Weltanschauungsgemeinschaften war ein Anliegen der politischen Linken gewesen, ohne dass rechtlich geklärt wurde, was eine Weltanschauung eigentlich sei. Der Heidelberger Staats-
2 Vgl. J.-Chr. Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981; D. Junker, Gott in uns. Die Germanische Glaubens-Gemeinschaft. Ein Beitrag zur Geschichte völkischer Religiosität in der Weimarer Republik, Hamburg 2002; F. Schnoor, Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates, Frankfurt a. M. 2001. 3 Vgl. K. Fitschen, Christliches Bekenntnis und Religionsgeschichte. Nathan Söderblom in Leipzig, in: Kirchengeschichte und Religionswissenschaft. Methoden und Fallstudien, hg. v. dems./W. Kinzig/ A. Kohnle/V. Leppin, Leipzig 2018, 105–115. 4 N. Söderblom, Die Religionen der Erde, Tübingen 1906.
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rechtslehrer Gerhard Anschütz, maßgeblicher Kommentator der Verfassung, definierte das so: „Es kann sich also nur um solche Weltanschauungen handeln, die auf anderen als religiösen bzw. religionsbezogenen Grundlagen ruhen: irreligiöse oder doch religionsfreie Weltanschauungen (Atheismus, Materialismus, Monismus).“⁵ Diese Gleichstellung der Weltanschauungsgemeinschaften hatte vor allem Auswirkungen auf das Schulwesen, da nun die Gründung von Volksschulen mit weltanschaulicher und nicht mehr nur konfessioneller Bindung möglich war, wofür der Elternwille entscheidend sein sollte. Freilich war der Begriff „Weltanschauung“ dann doch nicht so klar definiert, wie es bei Anschütz zu lesen ist, denn er ließ sich auch religiös identifizieren, also z. B. im Sinne einer „christlichen“ oder „katholischen“ Weltanschauung, wofür beispielhaft der Name Romano Guardini steht. Was zur „Religion“ gehört und was „Weltanschauung“ ist, lässt sich nur schwer abgrenzen. Ist die Anthroposophie schon Religion oder ist es erst die Christengemeinschaft? Wie sind die Freidenker einzuordnen, die ja einen Religionsersatz samt Jugendweihe und Feuerbestattung propagierten? Ist Religionskritik womöglich auch eine Art Religionsersatz? Religion mochte etwas Neurotisches sein, eine Illusion, ja geradezu ein wahnhafter Versuch, die Welt zu bewältigen, aber die Kritik daran hatte auch wieder religiöse Züge. Die Weimarer Reichsverfassung erweiterte jedenfalls den rechtlichen Rahmen für das, was sich Religion oder Weltanschauung nennen ließ, indem sie ihn für Vereinigungen und Organisationen öffnete, die bis dahin eher marginalisiert waren, vor allem für die Freikirchen. Verbunden damit war, über Artikel 137 hinausgehend, insgesamt eine Erweiterung der Religions-, Bekenntnis- und Kultusfreiheit, die in Artikel 135 der Verfassung garantiert wurde.⁶ Damit erfolgte eine Positionierung des religiösen und weltanschaulichen Feldes in einem Raum, der nicht mehr allein von Institutionen – also Kirchen –, sondern auch von Personen und Gruppen geprägt sein konnte. Manche davon waren geschlossene Gesellschaften, andere wiederum waren eher Strömungen und Bewegungen, die keine feste Mitgliedschaft kannten oder nur einen Mitgliederkern hatten, um den sich Sympathisanten und auch Sympathisantinnen anlagerten. Der Religions- und Weltanschauungspluralismus hatte in der Zeit der Weimarer Republik also eine breite rechtliche Grundlage, wenn auch die Akzeptanz dieses Pluralismus nicht überall gegeben war, vor allem nicht in den evangelischen Landeskirchen. Die rechtliche Öffnung führte zu einer religiösen und weltanschaulichen Blüte, die dann durch die beiden deutschen Diktaturen radikal beschnitten
5 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, unveränd. reprograf. Nachdr. der 4. Bearb., 14. Aufl., Berlin 1933, 650. 6 Vgl. a. a.O., 619.
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wurde und auch in der alten Bundesrepublik nicht wieder zu Kräften kam – Ausnahmen wie die Anthroposophie gab es durchaus. Die Weimarer Reichsverfassung brachte auch das Judentum endlich in eine gleichberechtigte Position. Die jüdischen Gemeinden wurden Körperschaften des Öffentlichen Rechts, und es gab offiziell keine beruflichen Beschränkungen für Juden mehr. Der Antisemitismus war zugleich unübersehbar.
3 Ein kleines Panorama der Kirchen und Religionsgemeinschaften 3.1 Der landeskirchliche Protestantismus und die römisch-katholische Kirche Das von der Weimarer Reichsverfassung in Artikel 137 abgesteckte Feld der „Kirchen- und Religionsgesellschaften“ deckte nur einen Teil dessen ab, was sich mit Religion in Verbindung bringen lässt. Anderes war eben durch eine weite Auffassung der Bekenntnisfreiheit abgedeckt. Schaut man sich in einem ersten Schritt die zahlenmäßig größten Kirchen an, so werden hier Veränderungen sichtbar, die mit der religiösen und weltanschaulichen Gesamtlage zu tun haben. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Entwicklung der Kirchenaustritte, die in sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg verzehnfachten: Rund 2,7 Millionen Protestanten traten in der Zeit der Weimarer Republik aus der Kirche aus. Auf katholischer Seite – der katholische Bevölkerungsanteil lag ungefähr bei einem Drittel – waren es rund 440.000, von denen aber ein Drittel evangelisch wurde, während auf evangelischer Seite Austritte kaum zu Übertritten führten. Die Kirchenaustritte waren, anders als die ihn propagierenden Gruppen es selbst sahen, nicht nur eine Folge entsprechender Agitation, sondern Ausdruck eines Säkularisierungsschubes, wie er in Westdeutschland erst in den späten 1960er Jahren wieder zu beobachten war. „Tief im Wald nur ich und du, der Herrgott drückt ein Auge zu, denn er schenkt uns ja zum Glücklichsein Wochenend und Sonnenschein“ – so sangen die Comedian Harmonists 1930, und schon ein Jahr zuvor war der Schlager Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln geh’n herausgekommen: Mobilität und Freizeitverhalten konkurrierten mit dem Gottesdienstbesuch, der in protestantischen Gegenden schon über viele Jahrzehnte zurückgegangen war. Nicht zuletzt aber hatten die politischen, noch ganz ergebnisoffenen Umbrüche nach dem Ende des Ersten Weltkriegs unmittelbare Folgen für die evangelischen Landeskirchen, für die diese Zeit eine nachhaltige Traumatisierung bedeutete. Das
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Ende der Monarchien mochte zu verkraften gewesen sein, aber die mit der Novemberrevolution einsetzende antikirchliche und antichristliche Welle, die in linken Kreisen großen Rückhalt hatte, zeigte, dass die evangelische Kirche in einer ungesicherten Position war. Die Angst vor einer Trennung von Staat und Kirche und vor revolutionären Übergriffen war groß, zumal eine Trennung die Kirche um ihre damalige Hauptfinanzierungsquelle gebracht hätte, die Staatsleistungen nämlich. In dieser Zeit versuchten sich einzelne protestantische Protagonisten und Gruppierungen daran, aus den politischen Umbrüchen das Beste zu machen. In Berlin wurde der Bund sozialistischer Kirchenfreunde durch den später als Kritiker der Kriegsverherrlichung bekannt gewordenen Günther Dehn gegründet. Eine ähnliche Gründung war der Bund Neue Kirche, den der sächsische Pfarrer Erhard Starke 1919 ins Leben rief und der sich dann mit dem Bund sozialistischer Kirchenfreunde zum Bund religiöser Sozialisten vereinigte. Der Brückenschlag zwischen Religion und Sozialismus, den die Religiösen Sozialisten verkörpern wollten, war ambitioniert, aber weitgehend bedeutungslos, auch wenn man sich im eigenen Spiegel gerne größer sah. Die Strömung war disparat, und auch Paul Tillich war innerhalb der Bewegung letztlich ein Separatist. Andere Strömungen hätten um den Jahreswechsel 1918/19 womöglich eine größere Chance gehabt, die kirchliche und religiöse Lage neu zu bestimmen, der Vereins- und Verbandsprotestantismus nämlich, der sich in dieser Zeit noch durch Laienvereinigungen verstärkte. Der Volkskirchliche Laienbund für Sachsen hatte im Februar 1919 über 15.000 Mitglieder, im Mai 1919 waren es über 70.000, bald darauf 85.000. Im August 1919 waren es 150.000.⁷ Hieran wird deutlich, wie breit die Basis des Protestantismus in der Gesellschaft immer noch war und wie hoch die Mobilisierungsbereitschaft. Diese Vereine, Verbände, Vereinigungen und Gruppierungen schlossen sich Anfang 1919 zusammen, doch wurden ihre Initiativen von den aus dem Kaiserreich überkommenen Kirchenleitungen vereitelt. Dies wurde auf dem Kirchentag in Dresden im September 1919 deutlich, der letztlich eine Funktionärsversammlung war, auf der die reformwilligen Kräfte nur eine Nebenrolle spielten. Für die deutschen Katholiken war die Novemberrevolution ein genauso irritierendes Ereignis wie für die Protestanten. Dennoch traten sie mit einem gewissen Startvorteil in die neue Zeit ein: Immerhin hatte sich der politische Katholizismus schon im 19. Jahrhundert vehement für eine Befreiung von staatlicher Bevormundung eingesetzt. Den Kulturkampf in Preußen und Südwestdeutschland hatte die katholische Kirche als Siegerin überstanden, wenn auch um den Preis einer star-
7 Vgl. Der Pilger aus Sachsen. Ein Blatt für die Freunde unserer Landeskirche Nr. 9/1919, 56; Nr. 20/ 1919, 137; Nr. 21/1919, 142; Nr. 33/1919, 241.
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ken Selbstdisziplinierung und einer Übernahme des römischen Antimodernismus. Mit dem Zusammenbruch des landesherrlichen Kirchenregiments erwuchsen neue Hoffnungen, der Protestantismus habe nun seinen einzigen Halt, nämlich den staatlichen Schutz, verloren, und der Katholizismus werde sich nun als die lebensfähigere Konfession erweisen. Der Katholizismus schien in einem freien Spiel der Kräfte die bessere Ausgangsposition zu haben. Allerdings zeigte sich bald, dass solche durchaus noch romantischen Anschauungen illusionär waren. Eine Versöhnung des Katholizismus mit der Moderne stand aus, und das katholische Milieu konnte seine Grenzen nur schwer überwinden. Nun wäre es zu wenig, die religiöse Lage nur über den Strang der kirchlichen Organisation zu beschreiben. Begriffe wie Protestantismus oder Katholizismus deuten ja schon darauf hin, dass es vielfältige Strömungen unter der Oberfläche der „Amtskirche“ gab. Dazu trugen freilich auch Organisationsformen bei, die in, mit und unter dieser Amtskirche existierten, also das zu dieser Zeit vielfältige Vereinsund Verbändewesen, das auf katholisches Seite als „katholisches Milieu“ eine Sozialisationsagentur darstellte. Hier zeigten sich die gar nicht einmal so fernen Fernwirkungen des Kulturkampfs, die die Säkularisierung auf katholischer Seite abbremsten. In den immer noch großen Konfessionen war Religion durchaus zuhause, aber gerade der landeskirchliche Protestantismus hatte hier eine offene Flanke: Religion wurde in Vereine und Verbände ausgelagert, vor allem in die der Inneren Mission. Überdies bot die Gemeinschaftsbewegung, also die landeskirchlichen Gemeinschaften, eine intensivierte, wenn auch stark inklusivistische Religiosität an, und das galt natürlich auch für alle Erben erweckter und pietistischer Strömungen. Der landeskirchliche Protestantismus schwankte zwischen Krisenrhetorik, narzisstischer Kränkung durch den Versailler Vertrag, gesellschaftsdiakonischem Engagement durch die Innere Mission, Inferioritätsgefühl angesichts eines selbstbewussten Katholizismus und Hoffnung auf neue Chancen. Das „Jahrhundert der Kirche“, von dem Otto Dibelius 1926 schrieb, barg, so Dibelius, ungeheure Möglichkeiten, ungeheure Aufgaben, aber auch ungeheure Schwierigkeiten.⁸ Über den Parteien wollte man stehen, die kirchlichen Eliten standen aber auf der nationalkonservativen Rechten, während das Kirchenvolk vorwiegend SPD wählte. Religion wurde traditionell vor allem mit Lebensführung identifiziert, also mit dem, was man Sittlichkeit nannte, und damit schloss man sich kirchlicherseits aus den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen aus, die durch den Nationalsozialismus abgebrochen wurden und 40 Jahre später wieder einsetzten. Das typisch protes-
8 O. Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, Berlin 1926, 197.
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tantische Surrogat von Religion – die Moral also – verengte den Blick von Kirche und Innerer Mission, was der Nationalsozialismus 1933 gerne aufnahm.
3.2 Die Freikirchen Die Freikirchen profitierten kaum von den Kirchenaustritten aus den Landeskirchen, sie hatten nun aber eine gesichertere Rechtsstellung und wurden nicht mehr den Sekten zugerechnet, was freilich auf der Verwaltungsebene nicht immer Berücksichtigung fand, wenn es nämlich um die Verleihung des Körperschaftsstatus an Freikirchen ging. In der Mitte der 1920er Jahre kam es darüber zu einer aufschlussreichen Auseinandersetzung zwischen Otto Dibelius und dem methodistischen Superintendenten Bernhard Keip: Während Dibelius in den Freikirchen keine Kirchen mit Anspruch auf rechtliche Gleichstellung erkennen konnte, trat Keip dafür ein, die Freikirchen gleichzustellen, damit ihre Gemeindeglieder keine „Staatsbürger zweiter Klasse“ sein müssten. In Preußen mussten diese ihre rechtliche Gleichstellung erst vor dem Verwaltungsgericht einklagen, was auch zum Erfolg führte.⁹ Der landeskirchliche Protestantismus war damit wieder einmal an einer empfindlichen Stelle getroffen, nämlich an seinem Alleinvertretungsanspruch für die evangelische Sache. Überlegungen, mit den Freikirchen zusammenzuarbeiten, verliefen im Sande. Einzigartig war darum die Situation in Württemberg, wo die Landeskirche mit den dort starken Methodisten 1928 einen Vertrag schloss. Nicht alle Freikirchen aber waren an solchen Anerkennungen interessiert: In den 1920er Jahren wurden die „ernsten Bibelforscher“, die sich seit 1931 „Zeugen Jehovas“ nannten, in Deutschland bekannter, nicht zuletzt, weil das von ihnen für 1925 angekündigte Weltende ausblieb: Die Mitglieder wurden nun zu intensiver Propaganda verpflichtet.
3.3 Die Propheten Der Krieg und der ihm folgende Zusammenbruch hatten auch noch einmal die Zahl derer vermehrt, die als Propheten und Sonderlinge auftraten. Namen wie Ludwig Haeusser oder Gusto Gräser waren in dieser Zeit bekannt: Gescheiterte, von sich selbst Ergriffene, Lebensreformer, Entwurzelte, Neureligiöse – nicht, dass es sie nicht schon im Kaiserreich gegeben hätte, aber im Angesicht der unsicheren poli-
9 K.H. Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert) (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen II/6), Leipzig 2004, 148 f.
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tischen und wirtschaftlichen Verhältnisse fanden sie nun eine große Anhängerinnen- und Anhängerschaft.¹⁰ Der erfolgreichste Prediger dieser Art war Rudolf Steiner, dessen Weggefährte Friedrich Rittelmeyer mit seiner Christengemeinschaft eine religiöse Erneuerung propagierte, die vor allem unzufriedene Protestantinnen und Protestanten anzog. Zur Attraktivität der Bewegung trug auch die Rezeption fernöstlicher Versatzstücke bei, die in dieser Zeit ohnehin populär war – Herrmann Hesses Siddharta erschien 1922. Hätte Paul Tillich Feldforschung betrieben, wäre er in Sachsen auf Bewegungen gestoßen, die sich in dieser Zeit nach einer Gründungsphase im Kaiserreich weiter entfalteten: Die Lorenzianer, die Horpeniten und die „Christliche Gemeinschaft Hirt und Herde“ – Gruppierungen mit einigen Tausend Mitgliedern.¹¹ Das Beispiel Sachsen zeigt, wie sich in den 1920er Jahren die Suche nach religiösen Alternativen zum landeskirchlichen Protestantismus intensivierte. Die Lorenzianer beriefen sich auf die Visionen ihres Namensgebers Emil Hermann Lorenz, die einen dualistischen Kampf zwischen Gott und Teufel beinhalteten. Die „Christliche Gemeinschaft Hirt und Herde“ wurde von dem Fabrikweber August Hermann Hain gegründet, der ebenfalls Offenbarungsvisionen hatte. Die Horpeniten, der „Bund der Kämpfer für Glaube und Wahrheit“, verstanden sich als Kirchenreformbewegung und befanden sich durch ihre Zeitschrift Horpena auch immer wieder in Auseinandersetzung mit dem landeskirchlichen Protestantismus. Solche und andere „Sekten“ waren schon in der Zeit der Weimarer Republik Gegenstand apologetischer und durchaus auch religionskundlicher Arbeit, für die vor allem die „Apologetische Centrale“ der Inneren Mission steht, die 1921 in Berlin gegründet wurde. Diese Einrichtung sollte das Anliegen der Inneren Mission betreiben und so die Volksmission durch „Apologetik“ befördern.¹² Auch das Kirchliche Jahrbuch, also das halboffizielle Organ des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes als dem Dachverband der evangelischen Landeskirchen, enthielt gelegentlich Berichte über die religiöse Lage.
3.4 Politische Religion Eine große, auf der Grenze von Religion und Weltanschauung stehende Konkurrenz zum Christentum waren die völkischen Gruppierungen, die auch schon auf die 10 Vgl. U. Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, Berlin 1983. 11 Vgl. zu diesen und anderen Bewegungen: H. Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2000. 12 Vgl. M. Pöhlmann, Kampf der Geister. Die Publizistik der „Apologetischen Centrale“ (1921–1937) (Konfession und Gesellschaft 16), Stuttgart 1998, 16–21.
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Zeit des Kaiserreiches zurückgingen, also etwa auf die Deutschreligiöse Gemeinschaft, die seit 1913 Germanische Glaubensgemeinschaft hieß. Was am konservativen Rand des Protestantismus angesiedelt war, die Verehrung von Volk, Nation und Deutschtum, konnte auch ohne christliche Interpretation existieren. Zwar wollten diese Bewegungen teilweise auch ein „deutsches Christentum“ oder eine „deutsche Kirche“, doch hatte dies mit christlichen Traditionen fast nichts gemein. Hinzu kamen mystische und esoterische Anschauungen, wie sie etwa von Mathilde Ludendorff, der Frau Erich Ludendorffs, propagiert wurden. Alles „Jüdische“, vor allem das Alte Testament, sollte gestrichen und an scheinbar germanische Traditionen angeknüpft werden. Hier fanden sich auch Vertreter der Jugend- und Lebensreformbewegung wieder, die oft autoritäre Strukturen propagierten. Querverbindungen zur Kirche und zu Pfarrern gab es allerdings immer wieder, und hier liegen die Wurzeln der späteren „Deutschen Christen“. Seit den späten 1920er Jahren intensivierte sich in der evangelischen Kirche das völkische Denken, und mit dem Publizisten Wilhelm Stapel ist ein einflussreicher Propagandist dieses Denkens im Raum der evangelischen Kirche benannt. Stapel machte aus der Frage nach der religiösen Lage eine Frage nach der ideologischen. 1932 veröffentlichte er sein sehr erfolgreiches Buch Der christliche Staatsmann: Im Staat waltet der „Volksnomos“, und dieser Nomos, also eine Art Sittengesetz, wird von einer Führergestalt, eben dem „christlichen Staatsmann“ zum Ausdruck gebracht: „Die Kraft der Ordnung, die Kraft des Kampfes und die Kraft der Autorität machen den wahren Staatsmann.“ Er sollte mit Väterlichkeit das Volk beherrschen. Das deutsche Volk aber sollte endlich seine gebundenen Kräfte entfalten: „Euer Stolz muß von Gott belohnt werden mit dem Führer, der Euch zu Herren macht über die weiten Länder, die Eurer Herrschaft bestimmt sind.“¹³ 1932 war dieser Führer und Staatsmann für Stapel noch der Reichskanzler Heinrich Brüning, von dem er eine „große Wendung zum Nationalen, Konservativen und Religiösen“ erwartete.¹⁴ Radikalere Kräfte allerdings positionierten sich gleich gänzlich kirchenfeindlich, waren doch die Kirchen so gesehen jüdisch verdorben. Alfred Rosenberg veröffentlichte 1930 das Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts, um das dann bald heftige Kontroversen tobten. Jakob Wilhelm Hauer, ein ehemaliger Pietist württemberger Prägung, wandte sich von der Kirche ab, da das Christentum nicht „artgemäß“ sei. Die völkische Bewegung ist in ihrem Mitgliederbestand nur schwer zu ermessen; geschätzt werden Zahlen zwischen einer und sieben Millionen Anhängerinnen und Anhängern. Explizit religiös war vor allem die Germanische
13 W. Stapel, Der christliche Staatsmann. Eine Theologie des Nationalismus, Hamburg 1932, 156. 273. 14 A. a.O., 5.
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Glaubens-Gemeinschaft, die aber nur einige Hundert Mitglieder hatte, die aber ihren Einfluss in größeren Kreisen geltend machen wollten.¹⁵ Eine andere Konkurrenz zum Protestantismus, die aber auf der politischen Linken angesiedelt war, waren die proletarischen Freidenkerverbände. Sie hatten 1929 eine Anhängerschaft von fast 600.000 Menschen, hinzu kam ein dezidiert kommunistischer Zweig mit ca. 150.000 Mitgliedern.
4 Paul Tillich als Deuter der religiösen Lage Wie verhält sich dazu Paul Tillichs Analyse der religiösen Lage? Als sich Tillich schon vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Thema Apologetik befasste, erwuchs daraus eine Denkschrift, die er 1913 dem Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin vorlegte. Der Text sollte ausdrücklich eine „Kirchliche Apologetik“ sein, also nicht das, was in den 1920er Jahren die „Apologetische Centrale“ war, nämlich eine Arbeitsstelle der Inneren Mission und somit des Verbandsprotestantismus und nicht des landeskirchlich organisierten – auch wenn Tillich sich später in seinem Rückblick Auf der Grenze als entscheidenden Stichwortgeber der Apologetischen Zentrale ansah (vgl. GW XII, 45). Das Beziehungsfeld waren in der Denkschrift „Kirchliche Apologetik“ von 1913 noch nicht wie nach dem Krieg andere Konfessionen oder Religionen, sondern die Gegner des Christentums, die ernstzunehmen seien: „Voraussetzung für eine organisierte kirchliche Apologetik ist die Anerkennung, daß der ernste Gegner der christlichen Lehre nicht sowohl als Ungläubiger, der zu bekehren ist, sondern zuerst einmal als Irrender, der nicht ohne Wahrheitsbesitz ist, behandelt werden muss“ (GW XIII, 35). Was nun Karl Liebknecht und der Monist und Leipziger Chemieprofessor Wilhelm Ostwald dazu gesagt hätten, als sie im Oktober 1913 gemeinsame religions- und kirchenkritische Veranstaltungen in Berlin abhielten,¹⁶ ist nicht zu ermitteln. Allerdings waren sie im Sinne Tillichs wohl auch keine „ernsten Gegner“ des Christentums. Liebknecht rief zu dieser Zeit zum „politischen Kirchenboykott“ auf: Der Kampf gegen die Kirche sollte nicht als Religions- oder Weltanschauungskampf geführt werden wie bei den Freireligiösen und Freidenkern, sondern rein politisch durch den Aufruf zum Kirchenaustritt.¹⁷ In diesem Jahr 1913 führte das „Komitee Konfessionslos“ in Berlin Zählungen von Gottesdienstbesuchern durch, 15 Vgl. Junker, Gott in uns, 59 f. 16 Vgl. dazu den Bericht im Vorwärts, abgedruckt in: K. Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VI, Berlin 1964, 397 f. 17 Vgl. K. Liebknecht, Politischer Kirchenboykott, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, Bd.VI, Berlin 1964, 400.
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bei denen herauskam, dass von 1,8 Millionen Protestanten nur etwas über 11.000 einen Gottesdienst besuchten.¹⁸ Der in Berlin im „Komitee Konfessionslos“ sehr aktive Otto Lehmann-Rußbüldt wiederum veröffentlichte im Jahre 1913 – also im Jubiläumsjahr der Völkerschlacht – eine Schrift mit dem Titel Der geistige Befreiungskrieg durch Kirchenaustritt. Tillichs Zielgruppe waren aber die Gebildeten, also eher die Monisten und die Theosophen, die er neben anderen in der Schrift Kirchliche Apologetik auch als Zielgruppen benennt (GW XIII, 49), und nicht die Arbeiterbewegung, und er sah die Zeitlage als „Ringen um einen neuen geistigen Gehalt“ an, in der die Religion die „Führerrolle“ der modernen Geisteskultur einnehmen sollte (GW XIII, 37 f. 43). Der andere und viel größere Gegner, die Arbeiterbewegung mit ihren „sogenannten entchristlichten Massen“, kam laut Tillichs Selbstzeugnis Auf der Grenze erst nach dem Krieg in sein Blickfeld, und eben dies führte ihn in den Religiösen Sozialismus (GW XII, 39). In der Zeit der Weimarer Republik war die Aufgabe der Apologetik für Tillich eine andere, auch wenn die Grundvoraussetzung ähnlich war. Dazu lohnt sich ein Blick in Die Religiöse Lage der Gegenwart aus dem Jahre 1926. Tillichs These: „Denn es gibt nichts, was nicht auch Ausdruck der religiösen Lage wäre“ (GW X, 9), ist aus historischer Sicht durchaus nachvollziehbar, obwohl es natürlich der Spitzensatz eines engagierten Zeitgenossen ist, worüber Tillich selbst Rechenschaft ablegt. Dabei betätigt er sich einerseits als Theologe – „In der Religion handelt es sich um eine Verbindung des Menschen mit dem Ewigen“ –, andererseits als Religionswissenschaftler, wenn er von „religiösen Dingen“ reden will und damit „von Kirchen, Sekten, Theologen und allerlei nebenhergehenden religiösen Bewegungen“ (GW X, 12). Seine Methode ist nicht die Auswertung von Literatur, „sondern eigenes Fragen und lebendige, verantwortliche Teilhabe an der Gegenwart und ihren Problemen“ (GW X, 9), etwas, was er auch im Blick auf Rudolf Otto hervorhebt (vgl. GW XII, 180). Tillichs Hinweis, womöglich zuerst den dritten Teil seiner Abhandlung zur religiösen Lage zu lesen (GW X, 9), ist ganz im Sinne des Historikers, denn dieser Teil, überschrieben mit Die religiöse Lage der Gegenwart im Gebiet der Religion, ist das, was man materialiter eigentlich erwarten würde, während der erste Teil die religiöse Lage auf wissenschaftlich-künstlerischem und der zweite Teil in Politik und Ethos thematisiert. In diesem dritten Teil kommen die großen Kirchen zur Sprache, unter die auch das Judentum subsummiert wird, aber auch die bereits erwähnten kleineren Gruppierungen, die Tillich als Mystik und Enderwartung außerhalb der Kirchen klassifiziert. Daraus wird keine Religions- oder Konfessionskunde in einem konkreten Sinne, es lassen sich aber einige zeitbezogene aufschlussreiche Bemerkun-
18 Kirchliches Jahrbuch 41 (1914) 108.
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gen finden: „Auf der einen Seite stehen die innerkirchlichen Bewegungen, auf der anderen Seite zeigen sich eine Reihe außerkirchlich religiöser Bewegungen, die das Gesicht der Gegenwart zweifellos mehr bestimmen als jene“ (GW X, 65). Anthroposophie und Christengemeinschaft werden etwas näher betrachtet, Christliche Wissenschaft und andere nur ansatzweise (vgl. GW X, 70 f.) und das gilt auch für die Neuapostolischen, die Zeugen Jehovas und andere Gruppierungen, die auf eine starke Endzeiterwartung setzten (vgl. GW X, 73). Paul Tillich erweist sich somit als engagierter Beobachter der religiösen Lage, wenn auch als jemand, dessen Anschauung wenig durch echte Empirie geprägt ist. Aber wer hätte damals schon religionskundliche Studien mit dem Adressbuch in der Hand betrieben, das in seiner Ausgabe von 1926/27 für Dresden verzeichnet: Freireligiöse, Christan Science, Katholisch-Apostolische, Neuapostolische, Evangelische Gemeinschaft und Methodisten, Adventisten und Baptisten.¹⁹ Und es geht ja gar nicht um religionskundliche Studien, wie Tillich am Ende seiner Abhandlung noch einmal betont: Eins ist aber bei all diesen Betrachtungen zu bedenken: sie sind sinnvoll nur für den, der irgendwie selbst in dieser Bewegung steht […]. Es ist von ihm gefordert, in unbedingter, handelnder Verantwortung über die religiöse Lage der Gegenwart zu denken und zu reden. (GW X, 93)
19 Adressbuch für Dresden und Vororte 1926/1927, Dresden o. J., Teil II, 45.
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Zwischen den Stühlen Der Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik In Deutschland entstanden die ersten Gruppierungen erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Sturz des Kaiserreiches in der Revolution von 1918/19 in Berlin, Rheinland und Baden, später dann auch in der Pfalz, Thüringen und Württemberg.¹ Besonders im süddeutschen Raum verstanden sich die religiös-sozialistischen Gruppierungen auch in einer starken sozialreformerischen Traditionslinie mit Christoph Blumhardt, der als württembergischer Pfarrer bereits 1899 ein Bekenntnis zum Sozialismus abgelegt und anschließend als SPD-Landtagsabgeordneter (1900–1906) gewirkt hatte. Hier gab es auch engere Beziehungen zu den schweizer religiösen Sozialisten um Leonhard Ragaz und Hermann Kutter. Eine weitere Traditionslinie war für viele religiöse Sozialisten die Verwurzelung im christlichen Pazifismus und der Ablehnung der nationalprotestantischen Kriegstheologie im Ersten Weltkrieg.²
1 Organisation, Selbstverständnis und Sozialstruktur 1924 erfolgte dann die Gründung der „Arbeitsgemeinschaft religiöser Sozialisten“ auf einer Konferenz in Meersburg, aus der zwei Jahre später der „Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands“ (BRSD) hervorging. Er wählte sich als symbolisches Erkennungszeichen die rote Fahne mit einem schwarzen Kreuz. Als Vorsitzende amtierten bis zu seinem Austritt 1931 Pfarrer Erwin Eckert aus Mannheim,³ 1 Vgl. S. Heimann, Der Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD): Selbstverständnis, organisatorische Entwicklung und praktische Politik, in: ders./F. Walter, Religiöse Sozialisten und Freidenker in der Weimarer Republik, Bonn 1993, 13–262, hier: 18–21; U. Peter, Der „Bund der religiösen Sozialisten“ in Berlin von 1919 bis 1933, Frankfurt a. M. 1995, 41–67. 2 Vgl. K. Lipp, Religiöser Sozialismus und Pazifismus. Der Friedenskampf des Bundes der Religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik, Pfaffenweiler 1995; allg. C. Vollnhals, „Mit Gott für Kaiser und Reich“: Kulturhegemonie und Kriegstheologie im Protestantismus 1870–1918, in: A. Holzem (Hg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in den Kriegserfahrungen des Westens, Paderborn 2009, 656–678. 3 Zur Biografie vgl. F.-M. Balzer, Klassengegensätze in der Kirche. Erwin Eckert und der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands, Köln 1973, 277–281. https://doi.org/10.1515/9783111264332-006
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der Leiter des mitgliederstarken badischen Landesverbandes, danach bis zur erzwungenen Auflösung im Frühjahr 1933 Pfarrer Bernhard Göring, der Landesvorsitzende des Berliner Verbandes.⁴ Als Nebenorganisation, deren Mitglieder allerdings nicht immer deckungsgleich mit dem BRSD waren, fungierte die ebenfalls 1926 gegründete und von dem Berliner Pfarrer Paul Piechowski geleitete „Bruderschaft sozialistischer Theologen“, die auf ihrem Höhepunkt rund 160 bis 180 – meist evangelische – Pfarrer und Theologieprofessoren umfasste.⁵ Als Verbandsorgan gab es seit 1924 das Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes (SDAV – Schriftleiter Erwin Eckert),⁶ ab Januar 1931 erschien das Blatt unter dem Titel Der Religiöse Sozialist. Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes (DRS – Schriftleiter Gotthilf Schenkel). Als Theorieorgan fungierte die 1929 gegründete Zeitschrift für Religion und Sozialismus (ZRS). Sie wurde im Auftrag des Bundes von Georg Wünsch herausgegeben, der 1931 auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Sozialethik an die Universität Marburg berufen werden sollte. In ihrer theologischen Verankerung wie in ihren konkreten politischen Schlussfolgerungen wiesen die religiösen Sozialisten einen beachtlichen Pluralismus auf. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass sich der BRSD nie auf ein fest verabschiedetes politisches Programm einigen konnte. Bestimmend war die gemeinsame Überzeugung, dass das christliche Evangelium, insbesondere resultierend aus der Bergpredigt, eine gegenwartsbezogene Auslegung und Positionierung zugunsten der sozialistischen Arbeiterbewegung erfordere. Des Weiteren verband die religiösen Sozialisten das Verständnis des Evangeliums als einer Friedensbotschaft, als einer eindeutigen Aufforderung zum Pazifismus. Beides sollte gewissermaßen als Missionsauftrag innerhalb der Kirchen verankert und zugleich als christliche Botschaft in die Arbeiterbewegung hineingetragen werden. Als gemeinsame Grundüberzeugung formulierte deshalb der Punkt 1 der „Richtlinien“, die der BRSD 1928 verabschiedete: „Die religiösen Sozialisten kämpfen in bewusster Verantwortung vor Gott und den Menschen in und mit dem revolutionären Proletariat um die sozialistische Neuordnung; sie haben erkannt, dass die Religion beim Aufbau der sozialistischen Gemeinschaft eine entscheidende Rolle spielt.“⁷
4 Zur Biografie vgl. Peter, Bund, 406–409. 5 Vgl. Heimann, Bund, 200–206. Zur Biografie Piechowkis vgl. Peter, Bund, 425–428; Balzer, Klassengegensätze, 286 f. 6 Vorläuferzeitschriften waren Christliches Volk. Halbmonatsblatt des Badischen Volkskirchenbundes (1919); Christliches Volksblatt (1920–1924); Ihr seid Brüder. Religiös-sozialistische Blätter aus dem Rheinland (1921–1922); Der Religiöse Sozialist. Monatsschrift des Bundes religiöser Sozialisten Deutschlands und der Vereinigung der Freunde für Religion und Völkerfrieden (1922–1924). 7 SDAV, Nr. 33/1928. Zit. nach Peter, Bund, 316.
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Weitgehend unbestimmt blieb hingegen, wie diese neue sozialistische Gesellschaft – jenseits von materieller Armut, kapitalistischer Ausbeutung und politischer Unterdrückung – als Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung konkret beschaffen sein sollte. Allerdings versammelten sich im BRSD keine Philosophen und Theoretiker anderer Disziplinen – wie etwa im akademischen Tillich-Kreis, der eine genauere Antwort jedoch ebenso wenig zu geben wusste –, sondern vor allem Personen, die sich selbst als Praktiker an der Gemeindebasis verstanden und primär soziale und politische Gerechtigkeit einforderten. Über den einzuschlagenden Weg gingen die Vorstellungen jedoch weit auseinander. So forderte Erwin Eckert in verschiedenen programmatischen Entwürfen ein klares Bekenntnis zum Marxismus und zum Klassenkampf, während beispielsweise Emil Fuchs, der thüringische Landesvorsitzende, dem klar widersprach: Er war der festen Überzeugung, „dass alle Gewalt nur zerstört – so wenig der Weltfrieden durch den Krieg geschaffen wird, so wenig der Sozialismus durch den Klassenkampf“.⁸ Diese Position eines ethisch begründeten Sozialismus, die im BRSD eindeutig dominierte, bedeutete per se keine Absage an den Marxismus als Methode zur Gesellschaftsanalyse, wohl aber an die politischen Positionen eines doktrinären Kommunismus, wie ihn die KPD nach ihrer inneren Gleichschaltung mit der Moskauer Komintern praktizierte. Die Schriften Paul Tillichs wurden von führenden Vertretern des Bundes gewiss rezipiert, dennoch blieb das Verhältnis zum kleinen Berliner Tillich-Kreis ambivalent bis distanziert. Emil Fuchs berichtet in seinen Memoiren: „Mit diesen Freunden standen wir nur in persönlichen Verbindungen. Als Kreis hielten sie sich abseits unserer populären Bewegung, die von ihnen zum Teil nicht verstanden wurde und die zum Teil auch sie nicht verstand.“ Er persönlich sei jedoch in seiner Entwicklung durch diesen Kreis „sehr entscheidend beeinflusst“ worden.⁹ Für viele religiöse Sozialisten, die sich selbst als Pragmatiker an der Gemeindebasis verstanden, waren die in den Blättern für religiösen Sozialismus geführten Debatten schlicht zu theoretisch und von der konkreten Praxis zu weit abgehoben. Wie viele Mitglieder dem 1926 gegründeten Bund der religiösen Sozialisten angehörten, lässt sich nur schwer bestimmen, da er trotz aller Bemühungen um eine festere Organisationsform doch bis zum Schluss eher lose Strukturen aufwies. In einigen Landesverbänden gab es Ortsgruppen mit Mitgliederbüchern und festen Beiträgen, in anderen – besonders in Süddeutschland – stellten die Leserkreise des Sonntagsblatts des arbeitenden Volkes (SDAV) die eigentliche Organisationsform dar. Auf dem Magdeburger SPD-Parteitag 1929 sprach Wilhelm Sollmann vom BRSD von 20.000 bis 30.000 organisierten religiösen Sozialisten. Diese Angabe erscheint
8 Zit. nach Heimann, Bund, 22. 9 E. Fuchs, Mein Leben, Bd. 2, Leipzig 1959, 159. Vgl. auch Heimann, Bund, 223–225.
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durchaus realistisch, wenn man die Auflage des „Sonntagblatts“ heranzieht. Sie betrug 1928 rund 5.000 und 1931 rund 17.000 Exemplare. Da die Zahl der Leser sicherlich größer war als die Zahl der Abonnenten, dürften 1931 wohl rund 30.000 Personen die Basis des BRSD gebildet haben.¹⁰ Der Bund war zwar eine reichsweite Organisation, aber mit eindeutigen regionalen Schwerpunkten. Am stärksten war er in Süddeutschland verankert, vor allem in Baden mit 40 Ortsgruppen, daneben in der Pfalz und in Württemberg.¹¹ In Mitteldeutschland bildete Thüringen einen weiteren Schwerpunkt.¹² Ein weiterer sehr aktiver Landesverband entstand 1929 in Lippe, der mehr Ortsgruppen zählte als das große Preußen einschließlich Berlin.¹³ Generell konnte der Bund vor allem in protestantisch geprägten Industriedörfern, Klein- und Mittelstädten gewisse Erfolge erzielen, während er in Großstädten mit starken Wahlerfolgen von SPD oder KPD, deren Funktionärsapparate massiv freidenkerisch geprägt waren, nur schwer Fuß fassen konnte.¹⁴ Der organisatorische Ausbau des BRSD spiegelte sich auch in den steigenden Wählerzahlen für religiös-sozialistische Listen bei Kirchenwahlen wider. 1926/27 stimmten in Baden, Thüringen, Pfalz und Anhalt rund 67.000 Wähler für die religiösen Sozialisten. Anfang der 1930er Jahre erzielten sie bei Synodalwahlen in Baden, Thüringen, Württemberg und Berlin/Preußen rund 121.000 Stimmen.¹⁵ Diese ansteigenden Zahlen zeigen den relativen Erfolg der religiös-sozialistischen Bewegung, aber auch ihre eindeutige Minderheitenposition im deutschen Protestantismus. Aufschlussreich für die Sozialstruktur der Aktivisten sind die Angaben zu den großen Tagungen der religiösen Sozialisten. So nahmen am 3. Kongress im August 1926 in Meersburg, der den Zusammenschluss der unterschiedlichen Gruppierungen im „Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands“ beschloss, über 100 Personen teil. Unter ihnen 14 Pfarrer, 8 Akademiker, 11 Lehrer sowie einige Sozial-, Gemeindeund Staatsbeamte. „Die Mehrheit waren“, wie es im Kongressbericht hieß, „Arbeiter. Zum Sozialismus bekannten sich alle; fast alle waren Mitglieder der SPD.“¹⁶ Unter 10 Angaben nach Heimann, Bund, 242. 11 Vgl. Verzeichnis der Ortsgruppen mit Gründungsjahr bei Balzer, Klassengegensätze, 290 f. 12 Vgl. R. Creutzberg, „In der Kirche – Gegen die Kirche – Für die Kirche“. Die religiös-sozialistische Bewegung in Thüringen 1918–1926, Diss. theol. Halle/Saale 1989. 13 Vgl. U. Peter, Christuskreuz und rote Fahne. Der Bund der religiösen Sozialisten in Westfalen und Lippe während der Weimarer Republik, Bielefeld 2002. 14 Zu Berlin vgl. die instruktive Studie von Peter, Bund. 15 1926/27: Baden 28.000, Thüringen 20.000, Pfalz 12.300, Anhalt 6.700 Stimmen. 1931/33: Baden 30.400, Thüringen 32.400, Württemberg 50.000, Berlin/Preußen 9.000 Stimmen. Angaben nach Heimann, Bund, 243, Anm. 691. 16 Zit. nach Balzer, Klassengegensätze, 40.
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den Teilnehmern am 4. Kongress 1928 in Mannheim zählte man 96 Arbeiter und Angestellte, 28 Pfarrer, 16 Lehrer, 8 Studenten, 7 freiberuflich Tätige (Ärzte, Journalisten), 6 Beamte und 6 sozialdemokratische Abgeordnete. Von den insgesamt 167 Teilnehmern gehörten 136 (79,5 %) zugleich der SPD an; die übrigen waren parteilos.¹⁷ Die gleichzeitige Mitgliedschaft in einer bürgerlichen Partei hätte auch den auf diesem Kongress verabschiedeten „Richtlinien“ widersprochen. Auffällig ist allerdings auch, dass kein Teilnehmer der KPD angehörte, obwohl der Bund seine grundsätzliche Offenheit und Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der kommunistischen Arbeiterbewegung immer wieder betonte. An dem letzten Bundeskongress, der 1930 in Stuttgart stattfand, fällt vor allem der gestiegene Anteil von nunmehr 52 Pfarrern auf. Des Weiteren gab der Bund in seinem Bericht als Teilnehmer an: 74 Arbeiter und Arbeiterinnen, 35 Angestellte, 21 Lehrer, 17 Studenten, 12 Beamte und 6 Angehörige freier Berufe.¹⁸ Wie auch in anderen sozialistischen Arbeiterorganisationen der Weimarer Zeit waren Frauen an führender Stelle im Bundesvorstand oder in den Landesverbänden nicht vertreten. Allerdings zählte man am Stuttgarter Bundeskongress immerhin 58 Frauen unter den 215 Teilnehmern. Auch bei den Wahllisten zu den Kirchenwahlen lag ihr Anteil zwischen zehn und zwanzig Prozent. Als Berufsbezeichnung findet sich hier häufig „Hausfrau“ oder „Ehefrau von“, die berufstätigen Frauen waren meist Lehrerinnen.¹⁹
2 Politische Kampagnen Auch wenn sich der BRSD vornehmlich als kirchenpolitische Bewegung verstand, so engagierte man sich – dem sozialistischen und pazifistischen Grundverständnis folgend – auch in den großen innenpolitischen Debatten der Zeit. So befürworteten die religiösen Sozialisten 1926 nachdrücklich den Volksentscheid zur entschädigungslosen Fürstenenteignung, der auf eine Initiative der KPD zurückging, dann aber auch von der SPD-Führung unterstützt wurde. Diese Forderung war angesichts von zwei Millionen Arbeitslosen, dem bedrückenden Schicksal der Kriegsgeschädigten und dem Los der Kleinrentner durchaus populär. Bei den alten Eliten in Politik, Wirtschaft und natürlich auch im Nationalprotestantismus stieß der Volksentscheid auf erbitterten Widerstand. Der Bund argumentierte hingegen:
17 Angaben nach a. a.O., 41. Zur Mitgliederstruktur vgl. auch Heimann, Bund, 243–247. 18 Ebd. 19 Vgl. a. a.O., 247.
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Wenn die Kirchenfürsten behaupten, dass die Enteignung der Fürsten Raub und Diebstahl sei, glaubt ihnen nicht, sie haben schon oft in entscheidenden Fragen versagt. […] Christus der Herr, der nichts hatte, wo er sein Haupt hinlegte, steht nicht auf der Seite der Reichen und Mächtigen, er verteidigt die Schlösser der Fürsten nicht, Christus der Herr, den des Volkes jammerte in seiner Not, steht nicht auf der Seite der Besitzenden und Satten, der Vornehmen und Eingebildeten. […] Wer nicht fromm schwätzt, sondern handelt, der muss aus innerer Wahrhaftigkeit seine Stimme für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten abgeben.²⁰
Bekanntlich scheiterte der Volksentscheid im Juni 1926 an der hohen Hürde der notwendigen absoluten Stimmenmehrheit. Immerhin hatten 14,5 Millionen Wähler für den Volksentscheid gestimmt und damit 4 Millionen mehr, als SPD und KPD zusammen bei der letzten Reichstagswahl an Stimmen gewonnen hatten. Wegen ihres offenen Eintretens wurden mehrere Pfarrer in verschiedenen Landeskirchen disziplinarisch gemaßregelt. Besonders scharf eskalierte der Konflikt in Baden, da die Kirchenleitung jede Betätigung für den Volksentscheid untersagt hatte und Pfarrer Eckert nun mit der Entlassung aus dem Kirchendienst drohte. Letztendlich blieb es bei einer scharfen Missbilligung, so dass Eckert gegen Jahresende sein neues Amt als Stadtpfarrer an der Mannheimer Trinitatiskirche antreten konnte.²¹ Im Mittelpunkt einer weiteren Kampagne stand der Panzerkreuzer A, dessen Bau die SPD bei der Reichstagswahl im Mai 1928 noch entschieden mit der Parole „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ abgelehnt hatte. Nach langwierigen Verhandlungen erfolgte dann die Bildung der Großen Koalition (SPD, DDP, DVP, BVP und Zentrum) unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller, die im August die erste Rate des mit insgesamt 80 Millionen RM veranschlagten Baus bewilligte. Dieses Zugeständnis an die Koalitionspartner, speziell an die Deutsche Volkspartei, rief in weiten Teilen der SPD heftige Empörung hervor und erst recht bei den religiösen Sozialisten, die auf ihrem 4. Kongress Anfang August noch eine einstimmige Resolution gegen die Kreuzerbau verabschiedet hatten. Es sei nicht nur „ein Gebot christlicher Friedensbereitschaft“, sondern auch eine „selbstverständ-
20 Zur Agitation des BRSD vgl. Balzer, Klassengegensätze, 109–146. Hier: Aufruf Christentum und Volksentscheid, veröffentlicht im Vorwärts vom 14.6.1926, abgedruckt ebd., 126, Anm. 94. Vgl. auch T. Kluck, Protestantismus und Protest in der Weimarer Republik. Die Auseinandersetzungen um Fürstenenteignung und Aufwertung im Spiegel des deutschen Protestantismus, Frankfurt a. M. 1996. 21 Vgl. Balzer, Klassengegensätze, 129–139. Ausführlicher ders./K.U. Schnell, Der Fall Erwin Eckert. Zum Verhältnis von Protestantismus und Faschismus am Ende der Weimarer Republik, Köln 1987; ders. (Hg.), Protestantismus und Antifaschismus vor 1933. Der Fall des Pfarrers Erwin Eckert in Quellen und Dokumenten, Bonn 2011.
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liche Forderung sozialistischer Versöhnungspolitik in allen Ländern, Kriegsaufrüstung zu verhindern“.²² Dieser radikale Pazifismus legte nun die Neuauflage eines von „allen entschiedenen Sozialisten und Kommunisten“ getragenen Volksentscheids nahe, wofür Eckert als geschäftsführender Bundesvorsitzender und Schriftleiter des „Sonntagsblatts“ nachdrücklich warb.²³ Mehr als befremdlich musste für überzeugte Pazifisten allerdings sein, dass Eckert in der nächsten Ausgabe die Aufrüstung der Sowjetunion zur „Verteidigung der proletarischen Ordnung“ begrüßte. Der Protest der religiösen Sozialisten erlahmte, als sich der SPD-Parteiausschuss am 12. September 1928 einstimmig gegen den Bau des Panzerkreuzers aussprach und zugleich das von der KPD betriebene Volksbegehren ablehnte. Der BRSD zog sich nun von dieser Kampagne zurück und stellte damit nochmals seine Loyalität gegenüber der SPD unter Beweis. Für überzeugte Pazifisten waren alle Kompromisse in Fragen der Aufrüstung und des Militärs nur schwer erträglich, zumal die SPD ein Jahr später auf ihrem Magdeburger Parteitag mehrheitlich für den Koalitionsfrieden und damit auch für den Bau des Panzerkreuzers votierte. Bei der Landtagswahl in Baden 1929 und zur Reichstagswahl 1930 rief man allerdings nicht zur Wahl der SPD, sondern zur Wahl von „sozialistischen Listen“ auf oder beließ es bei allgemeinen Parolen „Wählt rot“ oder „Wählt links“.²⁴ Das entsprach dem Selbstverständnis des BRSD, der als intrafraktionelle Klammer zwischen der sozialdemokratischen und der kommunistischen Arbeiterbewegung wirken wollte und spiegelte wohl auch eine gewisse Enttäuschung über die Regierungspolitik der SPD wider, der die meisten religiösen Sozialisten nahe standen. Die Spannungen verschärften sich 1930, als auf den Bruch der sozialdemokratisch geführten Großen Koalition das Präsidialkabinett Heinrich Brüning folgte, welches keine eigene parlamentarische Mehrheit im Reichstag mehr besaß und somit primär auf die Unterstützung durch den Reichspräsidenten Hindenburg angewiesen war. Die politische Debatte innerhalb des BRSD entsprach der Auseinandersetzung zwischen dem dominierenden SPD-Flügel, der die Tolerierungspolitik Brünings durch die SPD-Parteiführung unterstützte, und dem linken Flügel, der auf entschiedene Opposition drängte. Eckert teilte als Bundesvorsitzender zu diesem Zeitpunkt bereits die Faschismusanalyse der KPD, die keinen Unterschied zwischen einer bürgerlichen Regierung und einer nationalsozialistischen Machtergreifung mehr kannte und die staatstragenden Sozialdemokraten als „Sozialfa-
22 Entschließung gegen die Panzerkreuzer, in: SDAV, Nr. 33/1928, 175. Zit. nach Balzer, Klassengegensätze, 148. Zur gesamten Kampagne vgl. a. a.O., 147–157. 23 E. Eckert, Panzerkreuzer-Protest-Volksentscheid, in: SDAV, Nr. 38/1928, 216. Zit. nach a. a.O., 150. 24 Vgl. Heimann, Bund, 63.
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schisten“ brandmarkte.²⁵ Am 11. April 1931 äußerte Eckert beispielsweise auf einer Vorstandssitzung: „Es kann sein, dass wir in der kommenden deutschen Revolution die einzige für die Kommunisten koalitionsfähige geschlossene Gruppe sein werden, uns also dieselbe Aufgabe zufällt, die die linken Sozialrevolutionäre bei der russischen Revolution zu lösen versuchten […]. Darauf ist die Arbeit des Bundes hinzuorientieren.“²⁶ Diese völlig realitätsferne Einschätzung fand im Bundesvorstand keine Unterstützung, vielmehr wuchs die Kritik am Führungsstil Eckerts und seiner politischen Positionen. Auf einer Vorstandssitzung im September 1931 versuchte Eckert nochmals erfolglos, den BRSD auf einen Oppositionskurs gegen die SPD festzulegen. Am 2. Oktober 1931 schloss die SPD Eckert und andere Parteimitglieder (u. a. Max Seydewitz) wegen Zellenbildung und Vertrauensbruch aus. Einen Tag später verkündete Eckert seinen Eintritt in die KPD, nachdem er bereits zuvor die Bedingungen mit der KPD-Spitze verhandelt hatte. Seine Entscheidung begründete Eckert am 4. Oktober auf einer Großkundgebung in Stuttgart, der Auftritte in weiteren Städten folgten.²⁷ Mitte Oktober trat er dann eine mehrwöchige Reise durch die Sowjetunion an. Die badische Kirchenleitung hatte ihn bereits am 9. Oktober suspendiert und ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das mit seiner Amtsenthebung enden sollte. Ende November trat Eckert auch aus dem BRSD aus, dessen Vorstand ihm bereits die Geschäftsführung und die Schriftleitung des Religiösen Sozialisten entzogen hatte.²⁸ Als neuer Geschäftsführer fungierte nun Bernhard Döring aus Berlin, während Gotthilf Schenkel, der Vorsitzende des württembergischen Landesverbandes, die Schriftleitung der Wochenzeitung übernahm. Der KPD-Beitritt Eckerts war gewiss spektakulär, blieb aber folgenlos. Von den führenden Vertretern des BRSD schloss sich niemand diesem Schritt an, auch in den Landesverbänden gab es – mit Ausnahme der Mannheimer Ortsgruppe, der Wirkungsstätte Eckerts – nahezu keine Resonanz. Der Bund war klar sozialdemokratisch orientiert, während sich die KPD eindeutig von den religiösen Sozialisten abgrenzte und in ihnen keinen Bündnispartner sah.²⁹
25 Vgl. insbes. L. Luks, Die Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921–1935, Stuttgart 1985. 26 Zit. nach Peter, Bund, 98. 27 Vgl. z. B. die Rede Eckerts in Karlsruhe am 9.10.1931, in: F.-M. Balzer (Hg.), Ärgernis und Zeichen. Erwin Eckert – Sozialistischer Revolutionär aus christlichem Glauben, Bonn 1993, 175–179. 28 Zu diesem Konflikt vgl. Breipohl, Religiöser Sozialismus, 44–54. Ausführlicher ist die Schilderung bei Balzer, Klassengegensätze, 236–275, und ders., Der Fall Eckert, 118–186, die jedoch von einer dogmatischen SED/DKP-Sicht geprägt ist. 29 Vgl. Heimann, Bund, 55–62; M. Rudolff, Weltanschauungsorganisationen innerhalb der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1991, 94–112.
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3 Frühe Warnungen vor dem Nationalsozialismus In den letzten Jahren der Weimarer Republik stand vor allem der Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus im Mittelpunkt der politischen und publizistischen Aktivitäten. Als Pazifisten hatten die religiösen Sozialisten von Anfang an die nationalistischen und antisemitischen Traditionsbestände in Kirche und Theologie kritisch thematisiert.³⁰ In ihrer Presse wurden kirchliche Fahnenweihen des Stahlhelms und der SA ebenso minutiös registriert wie skandalöse Auftritte von Deutschen Christen, die eine Synthese von Christentum und Nationalsozialismus anstrebten, oder von Pfarrern, die sich schon vor 1933 parteipolitisch für die NSDAP engagierten. Bereits auf dem 5. Bundeskongress des BRSD Anfang August 1930 hatte Aurel von Jüchen in seinem Hauptreferat Der Faschismus – eine Gefahr für das Christentum ausgeführt: Aus dieser Gier nach Macht heraus muss der Faschismus zum Imperialismus werden, wie das an dem Beispiel Italiens mit seinem außenpolitischen Expansionstrieb, mit seinem Rüstungswillen, seinem Drängen nach Kolonien, der ständigen Provozierung seiner Nachbarvölker deutlich wird. Es muss so zu Kriegen und außenpolitischen Konflikten kommen, weil der faschistische Staat, der sich selber will, den Anspruch des Nachbarvolkes gar nicht gelten lassen kann.³¹
Zwar besaßen die religiösen Sozialisten keine stringente Faschismusanalyse, doch verband sie bei allen Unterschieden im Einzelnen die gemeinsame Überzeugung, dass der christliche Glaube mit einem politischen Bekenntnis zum Nationalsozialismus unvereinbar sei. So verabschiedete beispielsweise der Thüringer BRSD nach dem großen Wahlerfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930 eine Resolution, in der es hieß: Die Kirche ist in Gefahr, sich selbst zu verlieren. Sich noch einmal so völlig selbst zu verlieren wie 1914, als sie sich hemmungslos der Weltkriegspropaganda auslieferte und sich dazu hergab, dem Völkermorden die ’höhere Weihe’ zu erteilen; sich heute dadurch selbst zu verlieren, dass sie hemmungslos der Propaganda der Nationalsozialisten verfällt, so dass ihr jedes Gefühl dafür verloren geht, dass der Geist Jesu Christi und der Nationalsozialismus sich gegenüberstehen, wie Feuer und Wasser. […] Wir fordern von unserer Kirche und von allen Christen, dass sie in klarer Verkündigung christlicher Wahrheit die Unvereinbarkeit der nationalsozialisti-
30 Zu den Warnungen vor Hitler vgl. Lipp, Religiöser Sozialismus und Pazifismus, 186–201; Heimann, Bund, 82–89; Y.-G. Baig, Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik, Diss. theol. Bochum 1996, 195–225. 31 Abgedruckt in: ZRS, 2 (1930) 299–311, hier: 302.
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schen und nationalistischen Gedanken mit den Forderungen des Christentum klarstellen und christliches Pflichtgefühl gegenüber nationalistischer Verantwortungslosigkeit wecken.³²
Diese Warnungen verhallten bekanntlich ungehört. Vielmehr wurde die Machtübernahme Hitlers im Frühjahr 1933 von den meisten evangelischen Kirchenführern und Theologen geradezu begeistert als der Aufbruch in eine neue bessere Zukunft begrüßt.³³ Im Taumel dieser nationalprotestantischen Euphorie erzielten auch die Deutschen Christen bei den staatlich erzwungenen, aber freien Kirchenwahlen im Juli 1933 einen überwältigenden Wahlerfolg und stellten nunmehr in allen Landeskirchen – bis auf Bayern, Württemberg und Hannover – die Kirchenleitungen.³⁴ Zu dieser Zeit hatte der BRSD seine Tätigkeit bereits eingestellt. Das Verbandsorgan war schon im März 1933 verboten und ihr Schriftleiter Gotthilf Schenkel in Schutzhaft genommen worden. Im Zuge der Terrorwelle gegen Sozialdemokraten und Kommunisten wurden auch etliche Landesverbände des BRSD verboten, während andere sich selbst auflösten.³⁵ Die letzte Nummer des Wochenblatts Der Religiöse Sozialist erschien am 11. März 1933 und war dem Gedächtnis an Karl Marx gewidmet. Sie enthielt sich einer konkreten politischen Stellungnahme, deutete aber die Notwendigkeit des Widerstands gegen Hitler an: Wir sind gefragt, ob wir die Stimme Gottes und den Ruf dessen, der am Kreuze starb, hören und von ihm den Mut gewinnen, der über Menschenkraft ist, das Werk geistiger Erneuerung aus Jesu Ruf und Botschaft allem Geiste der Gewalt und Unbrüderlichkeit entgegenzustellen. ‚Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr.‘³⁶
32 Resolution auf der Jahresversammlung des Thüringer BRSD am 1./2. November 1930 in Eisenberg. Zit. nach U. Peter, Möhrenbach – Schwerin – Workuta – Berlin. Aurel von Jüchen (1902–1991). Ein Pfarrerleben im Jahrhundert der Diktaturen, Schwerin 2006, 100 f. 33 Vgl. C. Vollnhals, Nationalprotestantische Traditionen und das euphorische Aufbruchserlebnis der Kirchen im Jahr 1933, in: M. Gailus/C. Vollnhals (Hg.), Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und „Judenforscher“ Gerhard Kittel, Göttingen 2020, 43–62. 34 Zu den Deutschen Christen vgl. allg. D.L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill 1996; R. Lächele, Ein Volk, ein Reich, ein Glaube. Die „Deutschen Christen“ in Württemberg 1925–1960, Stuttgart 1994; O. Arnhold, „Entjudung“ – Kirche im Abgrund. Teil 1: Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939, Berlin 2010; M. Gailus/ C. Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“, Göttingen 2016. 35 Vgl. Peter, Bund, 365 f. 36 Der Religiöse Sozialist, Nr. 11/1933. Zit. nach Breipohl, Religiöser Sozialismus, 58. Die Zeitschrift wurde im März 1933 verboten.
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Einen ganz anderen Tonfall schlug hingegen Georg Wünsch im Frühjahr 1933 an. Er schrieb in der Zeitschrift für Religion und Sozialismus, die bald ebenfalls verboten werden sollte: Wir verkündeten […] den aus christlichen Gründen notwendigen Sozialismus, den Sozialismus als Gottes Gebot für diese Stunde […]. Als wir diese erkannten und in Angriff nahmen, gab es noch keinen Nationalsozialismus. Der Boden unserer Wirksamkeit konnte nur der organisierte Sozialismus sein. Da aber kämpften wir schon für einen Sozialismus des Glaubens, des Willens der irrationalen Mächte der Tiefe, wie Volkstum und Vaterland, Schicksal und geschichtliche Gewordenheit, für einen Sozialismus der Ehrfurcht vor der Schöpfung Gottes.
Entsprechend positiv würdigte Wünsch die Schaffung einer „scharf zentralisierten Macht“ durch die Nationalsozialisten, die die Voraussetzung für die Synthese von Volk und Sozialismus sei.³⁷ Diese frühe Anbiederung an den Nationalsozialismus fand ihre Fortsetzung in der 1936 publizierten Schrift Evangelische Ethik des Politischen. ³⁸ Hier stellten ganz im Sinne der Volksnomostheologie nunmehr„Volk“ und „Rasse“ die zentralen Kategorien dar. Hinzu kam die unverhohlene Apologie des militaristischen Machtstaates in Anlehnung an das von Carl Schmitt übernommene absolute Freund-Feind-Denken.³⁹ Diese Anbiederung blieb jedoch eine völlige Ausnahme. Emil Fuchs verlor – wie die Professoren Günther Dehn, Friedrich Siegmund-Schultze und Paul Tillich, die sich als religiöse Sozialisten verstanden, aber dem Bund eher fern standen – 1933 seine Professur an der Pädagogischen Akademie in Kiel und wurde 1935 wegen Beleidigung der Staatsgewalt zu einer kurzfristigen Haftstrafe verurteilt. In Berlin engagierte er sich in Zusammenarbeit mit den Quäkern für verfolgte Juden und hielt Kontakt zum sozialistischen Widerstand, während des Zweiten Weltkrieges übersiedelte er in ein kleines Dorf in Vorarlberg.⁴⁰ Enge Kontakte zum Widerstand hielten in Berlin auch zahlreiche andere Mitglieder des BRSD, die sich ebenso bei der Hilfe für verfolgte Juden engagierten. Unter ihnen Bernhard Göring, Arthur Rackwitz, Harald Poelchau oder Ernst von Harnack, um nur einige Namen zu
37 G. Wünsch, Die christliche Aufgabe im Zeitenwandel, in: ZRS, 5 (1933) 160–166, hier: 162 f. Die Zeitschrift wurde im Juli 1933 verboten. 38 Tübingen 1936. 39 Vgl. auch A. Lippmann, Marburger Theologie im Nationalsozialismus, München 2003, 339–341, sowie ausführlicher zur Theologie Wünschs Breipohl, Religiöser Sozialismus, 144–166. 40 Vgl. Fuchs, Mein Leben, Bd. 2, 223–271. Sein Sohn Klaus arbeitete als emigrierter Atomphysiker am Manhattan-Projekt mit und wurde später als Spion der Sowjetunion enttarnt. Auch Fuchs unterlag bei der Publikation seiner Biografie den Beschränkungen der SED- oder der Selbstzensur. So fehlt jeder Hinweis auf Aurel von Jüchen und dessen Verdienste beim Aufbau des BRSD in Thüringen, den ein Sowjetisches Militärtribunal 1950 zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt hatte.
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nennen.⁴¹ Der langjährige Bundesvorsitzende Erwin Eckert wurde Anfang März 1933 ohne Gerichtsurteil verhaftet und kam erst im Oktober 1933 wieder frei. 1936 wurde er wegen seiner aktiven Betätigung im kommunistischen Widerstand zu drei Jahren und acht Monaten Zuchthaus verurteilt.⁴² Die aktive Mitarbeit im Widerstand gegen die NS-Diktatur war für viele religiöse Sozialisten eine klare Gewissensentscheidung, um für ihre politischen und ethischen Überzeugungen einzustehen. In ihrer großen Mehrheit dürften sich die Mitglieder des BRSD jedoch eher in einen kleineren Kreis gleichgesinnter Vertrauter zurückgezogen haben. Diese Strategie verfolgten auch die meisten SPD-Mitglieder und Gewerkschaftsfunktionäre, da sie Mitte der 1930er Jahre – im Unterschied zur KPD – einen offenen Massenwiderstand für illusorisch hielten und es angesichts der massiven Begeisterung der deutschen Bevölkerung für das NS-Regime für sinnvoller betrachteten, diese Zeit bis zum unvermeidlichen Zusammenbruch zu „überwintern“. Eine andere Möglichkeit war die antifaschistische Tätigkeit aus dem Exil, wie sie beispielsweise Paul Tillich leistete. Er war 1936 in New York Mitbegründer der Organisation „Selfhelp of Emigres from Central Europe“ und übernahm 1944 den Vorsitz des „Council for a Democratic Germany“, die in den USA ein breites Bündnis deutscher Emigranten vereinten.⁴³
4 Politisches Wirken nach 1945 Nach 1945 erfolgte die Wiedergründung des BRSD, der jedoch im Zuge der bald aufkommenden politischen Polarisierung im Kalten Krieg nicht mehr als Brückenbauer zwischen dem sozialdemokratischen und dem kommunistischen Lager fungieren konnte und zunehmend in der Bedeutungslosigkeit versank. Dennoch ist ein kurzer Blick auf den weiteren politischen Lebensweg einiger Protagonisten interessant. Georg Wünsch wurde wegen geistiger Förderung des Nationalsozialismus im September 1945 von der amerikanischen Militärregierung in Marburg entlassen. Im Februar 1948 erfolgte seine Rehabilitierung im deutschen Spruchkammerverfahren, wogegen allerdings die Militärregierung Einspruch erhob, so dass Wünsch erst 1950 seine Vorlesungstätigkeit wieder aufnehmen konnte.⁴⁴
41 Vgl. Peter, Bund, 368–379. 42 Vgl. Balzer, Klassengegensätze, 279. 43 Vgl. P. Liebner, Paul Tillich und der Council for a Democratic Germany (1933 bis 1945), Frankfurt a. M. 2001. 44 Vgl. Lippmann, Marburger Theologie, 427–435. Die lange Dauer des Verfahrens ist primär auf Rudolf Bultmann zurückzuführen, der die Rückkehr Wünschs verhindern wollte.
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Emil Fuchs betätigte sich zunächst in Frankfurt aktiv für die SPD, bis er einen Ruf an die Universität Leipzig annahm und 1949 – auch aus Enttäuschung über den politischen Kurs der SPD unter Karl Schumacher – in die DDR übersiedelte.⁴⁵ Große Hoffnungen auf den sozialistischen Aufbau in der DDR setzten auch Arthur Rackwitz, Hans-Joachim Mund und Aurel von Jüchen, die alle im BRSD der Weimarer Republik führende Positionen eingenommen hatten. Rackwitz trat 1946 in die SED ein und arbeitete zusammen mit Mund in der „Kommission für Kirchenfragen“ beim ZK der SED mit, bis er 1952 desillusioniert aus der SED austrat.⁴⁶ Mund übersiedelte 1949 nach Ostberlin und wirkte dort als Referent für Kirchen- und Religionsfragen in der Kulturabteilung des ZK der SED auch an der Berufung von Fuchs nach Leipzig mit. 1950 wurde er von dieser Position verdrängt und arbeitete seitdem als Gefängnispfarrer in Bautzen, bis er 1959 in den Westen floh.⁴⁷ Aurel Jüchen wurde 1950 aus der SED ausgeschlossen und im selben Jahr von einem Sowjetischen Militärgericht (SMT) zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Lager Workuta 1956 übersiedelte er nach Westberlin und vertrat aufgrund seiner eigenen Erfahrungen (und in Übereinstimmung mit der Position der Westberliner SPD) einen strammen Antikommunismus.⁴⁸ Erwin Eckert hingegen blieb ein treu ergebener KPD-Funktionär, die er bis zum Parteiverbot 1956 auch als Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg vertrat.⁴⁹ Die hier nur kurz skizzierten Lebensläufe wichtiger Protagonisten zeigen, weshalb eine Reorganisation des BRSD nach 1945 im geteilten Deutschland keine Erfolgschancen mehr hatte. Erst im Zuge der Studentenbewegung und ihrer Suche nach progressiven Traditionslinien in der deutschen Geschichte und intellektuellen Vordenkern gerieten dann auch die religiösen Sozialisten der Weimarer Republik wieder in das Blickfeld, was sich ab Anfang der 1970er Jahre auch in entsprechenden Publikationen niederschlug.⁵⁰
45 Vgl. Fuchs, Mein Leben, Bd. 2, 1959, 272–312. 46 Zur Biografie vgl. Peter, Bund, 430–435; Balzer, Klassengegensätze, 287. Zur Mitarbeit von Rackwitz und Mund in der Kommission für Kirchenfragen vgl. M.G. Goerner, Die Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK-Apparat der SED, in: C. Vollnhals (Hg.), Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz, Berlin 21997, 59–78, hier: 63 f. 47 Zur Biografie vgl. Peter, Bund, 421–424. 48 Zur Biografie vgl. U. Peter, Möhrenbach – Schwerin – Workuta – Berlin. Aurel von Jüchen (1902– 1991). Ein Pfarrerleben im Jahrhundert der Diktaturen, Schwerin 2006. 49 Vgl. F.-M. Balzer (Hg.), Erwin Eckert – Antifaschismus. Frieden. Demokratie. Reden und Texte (1945–1959), 2 Bde., Essen 2021. 50 Neben den bereits zitierten Arbeiten von Breipohl, Religiöser Sozialismus (1971), und Balzer, Klassengegensätze (1973) sind in diesem Kontext auch die Studien von W. Deresch, Predigt und Agitation der religiösen Sozialisten, Hamburg 1971, und von A.Vollmer, Die Neuwerkbewegung 1919–
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5 Fazit Im historischen Rückblick ist nicht das Scheitern der religiösen Sozialisten – weder an ihren organisatorischen Mängeln noch an ihrem mangelnden theoretischen Überbau – bemerkenswert, sondern dass es den Bund der religiösen Sozialisten als organisierte Fraktion einer sehr kleinen Minderheit innerhalb einer massiv nationalprotestantisch geprägten Kirche überhaupt gab. Der Versuch eines Brückenschlags zwischen Kirche und Arbeiterbewegung, die ihrerseits – und nicht nur im Funktionsapparat – massiv atheistisch geprägt war und die evangelische Kirche im Kaiserreich weithin nur als wenig verbrämte Interessenvertreterin der herrschenden Klasse und als einer Partei des Siegfriedens im Ersten Weltkrieg erlebt hatte, war dieser Versuch in der extremen politischen Polarisierung der Weimarer Republik zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Die religiösen Sozialisten saßen somit zwischen den Stühlen: Sie wurden weder von der Kirche noch von der Arbeiterbewegung, die in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel gespalten war, als willkommene Brückenbauer gesehen.
1935. Ein Beitrag zur Geschichte der Jugendbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Arbeiterbildung, Augsburg 1973, zu nennen.
Teil II: Dresdner Intellektuellenmilieus
Alf Christophersen
„Im Schicksal unserer Zeit“ Die Dresdner „Logosclique“ als „Gemeinschaft von Persönlichkeiten“ Paul Tillich ging 1925 von Marburg, das er eher als einen Ort der Verbannung wahrgenommen hatte, nach Dresden. Dort konnte er an seinen bewegten Berliner Lebensstil anknüpfen. Er stürzte sich in die Sphären von Architektur, Tanz, Design, expressionistischer Dichtung und Malerei. Eine der tonangebenden Figuren des neuen gesellschaftlichen Umfeldes war die Kunstsammlerin und Mäzenatin Ida Bienert. Sie führte einen Salon, in dem Walter Gropius, Oskar Kokoschka, Otto Dix und viele andere verkehrten. Bienerts Sohn Friedrich war von 1924 bis 1930 mit der Tanzpädagogin und Ausdruckstänzerin Gret Palluca verheiratet. In ihren autobiographischen Rückblicken urteilt Hannah Tillich mit scharfer Kritik: Sie, die Bilder von Klee, Kandinsky und vielen anderen modernen Künstlern von internationalem Ruf besaß, wurde eine überzeugte Nationalsozialistin. Ihre Schwiegertochter, eine Tänzerin, wurde sogar eine gefeierte Diva der Nazi-Ära. Sie tanzte barfuß in silberner Robe, wie es auch ihre berühmte Lehrerin Mary Wigman in der Hitlerzeit tun sollte.¹
Gerade auch im Haus von Alice und Richard Kroner gingen Hannah und Paul Tillich ein und aus. Die große Villa des Philosophen in der Bautzner Straße 94 mit direktem Elbzugang wurde zu einem der Zentren des geselligen Lebens. Die junge Journalistin der Dresdner Neuesten Nachrichten Leonie Dotzler – vor allem als Tanzkritikerin machte sie sich einen Namen – verfolgte das Kulturleben intensiv. Tillich habe den Tanz geliebt und „[s]o verlor er mit allen Damen – ob jung oder alt – am Abend viele Male sein ‚Herz in Heidelberg‘“.² Tillichs Religiösen Sozialismus, den er Leonie Dotzler zur Lektüre empfahl, habe sie „nur bedingt“ verstanden. Mit Richard Kroner spielte die junge Journalistin Tennis, mit Tillich schwamm sie im Freibad
1 H. Tillich, Ich allein bin. Mein Leben, Gütersloh 1993, 125. 2 L. Dotzler-Möllering, Der unheilige Paulus [Fassung 2] (Manuskript), IV (UB Marburg, NL Tillich, 004 A). Die von Dotzler-Möllering unter der Überschrift „Der unheilige Paulus“ aufgeschriebenen Erinnerungen wurden nach mehreren Überarbeitungen und Kürzungen gedruckt unter „Paul Tillichs Begegnungen mit dem Tanz“ (EW V, 170 f.).Vgl. auch W. Pauck/M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. I: Leben, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1978, 114–116; sowie Tillichs „Beitrag zu einem Prospekt der Tanzgruppe Gertrud Steinweg“ von 1926, in: GW XIII, 134–137. https://doi.org/10.1515/9783111264332-007
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„Antons“ in der Elbe.³ Auch dieser legendäre Ort hat den Weltkrieg nicht überstanden. Noch im Dezember 1970 ließ Leonie Dotzler-Möllering, wie sie später mit Doppelnamen hieß, in einem Brief an Kroner alte Erinnerungen wiederaufleben, „an all die ungewöhnlichen Menschen“, die sie bei ihm und seiner Frau Alice kennenlernte. Sie nennt Holldack, Janentzky, Stepun und insbesondere Tillich, den Kroner ihr„damals so warm ans Herz gelegt“ habe, obgleich sie ihn seinerzeit „nicht besonders mochte“. Das sollte sich aber 25 Jahre später „gänzlich ändern“,⁴ als sie Tillich, der zu Gastvorlesungen nach Hamburg kam, wiederbegegnete. In einem Brief, den Dotzler-Möllering ihm dorthin am 29. Juni 1948 schrieb, erinnerte sich die Freundin wehmütig an die „bezaubernde Atmosphäre“, die in seinem und Kroners Kreis existierte. Ob er „Dresden nach der Schreckensnacht wiedergesehen“ habe, fragt sie. „Wenn nicht“, könne er „sich keinen Begriff von dieser restlosen Zerstörung machen. […] Vom Reichsplatz bis zur Elbe steht kein Haus mehr.“⁵ Beide waren sie „alt geworden“, resümierte Dotzler-Möllering gegenüber Renate Albrecht, die Material für die Gesammelten Werke benötigte, „beide in der letzten Phase unseres Lebens. Wenn er las, war er der alte Paulus[,] der auch jetzt die Menschen fesselte. Die Jugend strömte ihm zu.“⁶ Ein Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart wird in rezeptionslenkenden Erinnerungssequenzen, deren Aussagegehalt naturgemäß variiert und auch von pietätvollen Auslassungen bestimmt ist, aufgerufen. Bei einem Abschiedsfest, das vor dem Wechsel Tillichs nach Frankfurt stattfand, fragte Tillich Leonie Dotzler-Möllering, die ihr Gegenüber, gerade auch mit Blick auf seine theologische Gestalt, niemals wirklich greifen konnte: „‚Na, doch Theologe und Philosoph?‘“ Und er erhielt von ihr die „diplomatisch[e]“ Antwort: „‚Beides, lieber unheiliger Paulus, Beides.‘ Diesen Spitznamen hatte ich ihm gegeben.“⁷ Aber das gemeinschaftsbetonte gesellige Leben war nur das eine soziale Feld, in das Tillich rasch Eingang fand. Das andere, eng verknüpft und doch geprägt von ganz eigener Gesetzlichkeit, war die Technische Hochschule, an der Tillich als ordentlicher Professor für Religionswissenschaften und Sozialphilosophie lehrte.⁸ Um
3 L. Dotzler-Möllering, Der unheilige Paulus [Fassung 2] (Manuskript), V (UB Marburg, NL Tillich, 004 A) – mit Zusatz am Ende: „Ich habe ein kleines Photo von Tillich in der Badehose – das dürfte aber zu unseriös sein.“ 4 L. Dotzler-Möllering an R. Kroner, Lübeck, 19. Dezember 1970 (Nachlass von Richard, Alice und Gerda Kroner in der Seligsohn Kroner Family Collection, 1850–1990: Leo Baeck Institute, New York). 5 L. Dotzler-Möllering an P. Tillich, Lübeck, 29. Juni 1948 (UB Marburg, NL Tillich, 008 C). 6 L. Dotzler-Möllering, Der unheilige Paulus [Fassung 1] (Manuskript), IIIf. (UB Marburg, NL Tillich, 004 A). 7 A. a.O., III. 8 Vgl. zur Kulturwissenschaftlichen Abteilung und ihren Professoren als Übersicht das PersonalVerzeichnis der Sächs. Technischen Hochschule für das Sommersemester 1926, Dresden 1926, 34–36.
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Richard Kroner hatte sich dort die sogenannte „Logosclique“ gebildet. Sie war so etwas wie das Zentrum der Kulturwissenschaftlichen Abteilung, wichtige strategische Entscheidungen wurden in ihr besprochen und getroffen. Neben dem Volkskundler Adolf Spamer und seinen Kollegen aus der Literaturwissenschaft, Victor Klemperer und Christian Janentzky, rechneten sich der russische Soziologe und Schriftsteller Fedor Stepun sowie Paul Tillich diesem Kreis zu. Am 1. Juli 1928 hielt Klemperer in seinem Tagebuch fest, dass bei Kroner – er stand kurz vor dem Wechsel an die Universität Kiel – „eine Art Geheimsitzung der ‚Logos-Clique‘“ stattgefunden habe: „Das Wort ist eben aufgetaucht, ich weiß nicht, wer es geschaffen hat. […] Wir berieten mit [Robert] Ulich, wie man die Lehrerbildung vernünftiger gestalten könne (weniger Jura, Hygiene, Nationalökonomie, leeres Gerede über Paedagogik – mehr wahrhaftes u. stofflich concentriertes Studium), wie der Doctor der Kulturwissenschaften, wie unsere Philosophische Fakultät hier auszubauen sei. Viel schöne Worte u. immer dieselben, kein Vorwärts.“⁹ Die von Klemperer genannte Bezeichnung bezieht sich auf die Zeitschrift Logos, die in Freiburg im Breisgau aus dem Kreis um den Neukantianer Heinrich Rickert heraus entstanden war. Nikolai von Buvnov, Sergius Hessen, Stepun, Richard Kroner und Georg Mehlis verwirklichten den Plan einer Internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Sie erschien ab 1910 im Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).¹⁰ 1927 wurde das erste Heft des 26. Bandes des Logos dann zum Forum für eine gemeinsame Standortbestimmung der Dresdner geisteswissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft. In unmittelbarer Konkurrenz zur Leipziger Universität kämpften Zu Tillich in Dresden vgl. auch die Historische Einleitung zu den „Dresdner Vorlesungen 1925–1927“ von E. Sturm in EW XX, XXI–LXIX. 9 V. Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1925–1932, hg. v. W. Nowojski unter Mitarbeit von C. Löser, Berlin 1996, 446. Zum 5. November 1925 hielt Klemperer fest, a. a.O., 161: „lange Fakultätssitzung“. „Ich lerne Tillich kennen. Junger Mensch, der mit Wärme u. bedeutend spricht. Er setzt sich für Stepun ein.“ – Robert Ulich (1890–1977) war Ministerialrat im Sächsischen Ministerium für Volksbildung und ab 1928 Honorarprofessor für praktische Pädagogik. 10 Zur Zeitschrift Logos und ihrer Entstehung vgl. Paul Tillich im Dialog mit dem Kultur- und Religionsphilosophen Fedor Stepun. Eine Korrespondenz im Zeichen von Bolschewismus und Nationalsozialismus, mit einer Einleitung hg. v. A. Christophersen, in: JHMTh/ZNThG 18 (2011) 102–172, bes. 104 f.; Selbstbehauptung des Geistes. Richard Kroner und Paul Tillich – die Korrespondenz, mit einer Einleitung hg. v. A. Christophersen/F.W. Graf, in: JHMTh/ZNThG 18 (2011) 281–339, bes. 284, 294 f., 297; R. Kramme, „Kulturphilosophie“ und „Internationalität“ des Logos im Spiegel seiner Selbstbeschreibungen, in: G. Hübinger/R. v. Bruch/F.W. Graf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, 122–134; ders., Philosophische Kultur als Programm. Die Konstituierungsphase des LOGOS, in: ders./K. Sauerland (Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“: 1850–1950, Opladen 1995, 119–149.
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ihre Vertreter, wenn auch eher auf verlorenem Posten, um Selbstbehauptung. Einen Eindruck zur Stimmungslage vermittelt eine Bemerkung in Klemperers Tagebuch vom 17. Juni 1925, in dem er von einer Sitzung im Ministerium berichtet: „Die Leipziger süffisant, höhnisch, frech: wozu wir Universität spielen, wir seien nicht in der Lage, etwas anderes als Volkshochschule, Stadtbelustigung, Oberfläche zu sein.“¹¹ Die Mitglieder der „Logosclique“ versuchten konsequent gegenzuhalten und skizzierten so nun auch 1927 im Logos einige Grundzüge ihres jeweiligen fachlichen Profils. Während Janentzky etwa Gedanken zu Goethe und das Tragische vorstellte, Kroner einen Kulturleben und Seelenleben betitelten Aufsatz präsentierte und Stepun Überlegungen zum Thema Die deutsche Romantik und das Geschichtsbild der Slawophilen lieferte, steuerte Tillich zum ersten Heft Die Überwindung des Persönlichkeitsideals bei und ließ im dritten mit Logos und Mythos der Technik – ein Vortrag, den er zum 99. Gründungstag der TH gehalten hatte – noch einen weiteren folgen. Vertreten waren aus Dresden auch der rechtswissenschaftliche Kollege Felix Holldack (Recht und Rechtswirklichkeit) und Victor Klemperer (Gibt es eine spanische Renaissance?). Jenseits der Veröffentlichungsoffensive im Logos nahmen vor allem Kroner, Tillich und Stepun in immer neuen Anläufen kritisch aufeinander Bezug. Für Tillich bot sich eine besondere Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Kroner, als dieser 1928 seine Abhandlung Die Selbstverwirklichung des Geistes. Prolegomena zur Kulturphilosophie publizierte und damit beabsichtigte, seine beiden legendären Bände Von Kant bis Hegel, die 1921 und 1923 bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienen waren, konzeptionell weiterzuführen. Ohne auf die in der Regel behäbigeren Veröffentlichungsprozesse in einschlägigen Rezensionsorganen Rücksicht nehmen zu müssen, griff Tillich auf die Dresdner Neuesten Nachrichten zurück, die ohnehin immer auch einen erwartungsvollen Blick auf die Entwicklungen an der Technischen Hochschule richteten. Am 24. Juli 1928 erschien dort, ein halbes Jahr später vor größerem Publikum auch in der Literarischen Umschau der Vossischen Zeitung, eine Rezension der Selbstverwirklichung. ¹² Kroner wolle, kommentiert Tillich, „den Idealismus nicht nur als historisches Phänomen“ verstanden wissen.Vielmehr gehe es ihm gerade auch darum, dessen „aktuelle Relevanz“ zu behaupten. Er bringe „die idealistische Haltung als eigene zum Ausdruck“, und sein Buch könne als „Schlüssel für die Philosophie der größten Epoche unseres Geisteslebens“ gesehen werden.
11 Klemperer, Leben sammeln, 66. 12 P. Tillich, Die Selbstverwirklichung des Geistes. Das neue Buch von Richard Kroner, in: Dresdner Neueste Nachrichten Nr. 171, 4. Juli 1928, 2; ders., Richard Kroner: Die Selbstverwirklichung des Geistes. Prolegomena zur Kulturphilosophie, in: Vossische Zeitung, Nr. 46, 1929, Literarische Umschau, Nr. 5; auch in: GW XII, 251–254; hier zitiert nach der Fassung in den Dresdner Neuesten Nachrichten. Vgl. dazu auch Selbstbehauptung des Geistes, hg. v. A. Christophersen/F.W. Graf, bes. 288 f.
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Bemerkenswert sei es, dass Kroner versuche, „den ganzen Umkreis des Kulturbewußstseins in einem geschlossenen System methodisch aus einem Prinzip abzuleiten“. Doch am Erfolg dieses Unterfangens meldete Tillich deutliche Zweifel an. Kroner überschätze die Möglichkeiten eines Einheitsprinzips auf Kosten der Differenz. Es gelinge ihm nicht, „Wirtschaft und Technik, Naturwissenschaft und Kunst, Politik und Religion, Historie und Philosophie“ tatsächlich kritisch zu vermitteln. Tillich bezweifelt grundsätzlich, ob als „wesentlichste[r] Ort der Versöhnung und damit als das Zentrum der Kultur überhaupt […] die Religion angesehen“ werden könne. Kroner denke nicht konsequent genug dialektisch, sondern vollziehe ein religiöses Ausweichmanöver. „Und es fragt sich, ob darin nicht ein Sprengstoff liegt, der das ganze System in Frage stellt. Wenn es keinen Ort der Versöhnung gibt: Wie kann die Versöhnung zum Prinzip gemacht werden?“ Die Religion müsse vielmehr im konsequenten Gegensatz zur Kultur als unabhängig behauptet werden. Sie sei „kein Glied des Kultursystems“, sondern „seine Erschütterung und Umwendung in all seinen Gebieten“. Kroner war in Tillichs Augen viel zu sehr am Ausgleich orientiert. Das Fremde, Unheimliche, Sprunghafte, Unlöslich-Widerspruchsvolle in den Dingen erscheint geglätteter, vertraulicher, sinnhafter, als es berechtigt ist. Das Zerbrechen und Durcheinanderfallen der geistigen Gebiete und Grenzbestimmungen, das wir zur Zeit so stark erleben, wird zwar empfunden, aber nicht stark genug zur Geltung gebracht.
Tillich schätzt jedoch den Kronerschen Entwurf nicht zuletzt deshalb, weil er die dringende Frage nach dem Zusammenhang von Gegenwartsdeutung und Idealismus unabweisbar aufruft und somit auch der „Dresdner kulturphilosophischen Arbeitsgemeinschaft“ einen substanzreichen Ausdruck verschafft, der durchaus in öffentliche Resonanzräume ausstrahlt und Geltungsansprüche deutlich werden lässt. Dieses Anliegen Tillichs unterstrich auch Fedor Stepun, als er die Selbstverwirklichung des Geistes 1931 in der Zeitschrift für Theologie und Kirche ausführlich würdigte.¹³ Mit Von Kant bis Hegel habe sich Kroner aus historischer Perspektive darum bemüht, „die Geschichte des deutschen Idealismus, – und damit schließlich die gesamte Geschichte der Philosophie, – dem Hegelschen Systeme zu Füßen“ zu legen. Jetzt ginge es ihm darum, „die Hegelsche Systemidee für Gegenwart und
13 F. Stepun, Zu Kroners ‚Selbstverwirklichung des Geistes‘, in: ZThK NF 12 (1931) 443–454. Vgl. dazu auch Selbstbehauptung des Geistes, hg. v. A. Christophersen/F.W. Graf, 289 f. – Grundlegend zu Stepun ist die Arbeit von C. Hufen, Fedor Stepun. Ein politischer Intellektueller aus Rußland in Europa. Die Jahre 1884–1945, Berlin 2001.
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Zukunft, d. h. für die Geschichte zu retten“.¹⁴ Eine eklatante Schwäche des Buches erkennt Stepun aber darin, dass sich in ihm kaum ein tatsächlicher Gegenwartsbezug ausdrücke. Lediglich in der Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie sei dies der Fall. Kroner nehme, so Stepuns Vorwurf, vielfach „den freischwebenden Standpunkt eines dialektischen Konstruktivisten“ ein,¹⁵ der den Problemen der Wirklichkeit ausweiche. Gelungen sei es ihm jedoch, über Hegel hinauszugehen, um „in überzeugender Weise die logische Unhaltbarkeit des Hegelschen Panlogismus“ zu demonstrieren. Somit habe er „als Hegelianer der Philosophie die Rolle des Kulturhegemons genommen“, mit der Konsequenz, dass „jede Möglichkeit der‚finalistischen‘ Interpretation des Hegelschen Systems, wie auch der Unterjochung der Religion unter die Philosophie unmöglich gemacht worden“ sei.¹⁶ Zwar würdigt Stepun durchaus den Umstand, dass Kroner darauf verzichtet, einen „philosophischen Gott“ zu konstruieren, und stattdessen „den wahren christlichen Gott“ behauptet.¹⁷ Er mache es sich damit aber zu leicht und unterschätze die Radikalität des Gottesbegriffes. Kroner erfasse „nur das Antlitz Gottes“ und weise „dem Geiste aber (dem Selbstbewußstsein) de[n] göttliche[n] Standort in der Welt“ zu. Das Resultat sei, dass weder Gott noch Geist wahrhaft als Gott gelebt und begriffen werden könnten. „Der Gott der Kronerschen Konstruktion ist kein Gott: nur ein Gewand, das der absolute Geist anzieht, wenn er zur Kirche geht. Und der absolute Geist der Kronerschen Konzeption ist ebenfalls kein Gott: nur eine Art metaphysischer Ehrenwache beim leergewordenen Throne Gottes.“¹⁸ Seine eigene religiöse Identität, die Stepun stets integriert sehen möchte, kann er mit Korners Überlegungen nicht verbinden. Wenn Gott nur als metaphysischer Begriff erscheine, könne zu ihm nicht gebetet werden, er spreche den Menschen nicht an.¹⁹ Kroner sei nicht entschieden genug. „Das 20. Jahrh. verlangt entweder eine sehr viel radikalere Ablehnung Gottes, als wie sie das 19. Jahrh. kannte, oder eine unbedingte Hinwendung zu seiner Unbedingtheit.“²⁰ Ein Lavieren zwischen diesen Polen kann Stepun nicht akzeptieren, und so habe Kroner, aus religiöser Perspektive betrachtet, einen „wahrscheinlich doch verspäteten Versuch philosophischer Vermittlung zwischen humanistischer Kulturgläubigkeit des 19. Jhs. und der heute neu auf-
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Stepun, Kroners ‚Selbstverwirklichung des Geistes‘, 443. A. a.O., 445. A. a.O., 447. A. a.O., 449. A. a.O., 450. Vgl. a. a.O., 451 f. A. a.O., 454.
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kommenden Sehnsucht des Christentums, in die Gestaltung des Lebens einzugreifen“,²¹ unternommen. Richard Kroner ließ Stepuns Anwürfe nicht unbeantwortet und gab sich irritiert. Die Reflexionen seines ehemaligen Dresdner Kollegen hielt er für unterkomplex.²² Dies zeige sich gerade auch an der Zuordnung von Philosophie und Religion. Stepuns Aussage, zu seinem Gott könne nicht gebetet werden, empfindet Kroner als Zumutung: Der Imperativ, den Stepun daraus herleitet, der Mensch solle so philosophieren, daß er sich auch als philosophierender die Ganzheit des nichtphilosophierenden Christen bewahrt, fordert Unerfüllbares. Er gründet sich auf die nur dem naiven Denken gültige Voraussetzung, daß der philosophierende Christ schon als Christ ein ganzer Mensch sei.²³
Nicht nur Richard Kroner, sondern auch Paul Tillich gegenüber hatte Fedor Stepun deutliche Vorbehalte, die vor allem die politisch-theologische Konzeption betrafen. Stepun stand nicht nur der Humanismusskepsis reserviert gegenüber.²⁴ Provoziert fühlte er sich insbesondere durch Tillichs freien Umgang mit der Tradition und sein liberal-theologisches Jesus-Bild. Tillich, schreibt Stepun an Heinrich Rickert im November 1929, „gehört zu den ganz modernen Menschen, die das Fragezeichen mit dem Kreuze verwechselt haben“²⁵. Schwerer wog jedoch das Unverständnis einem religiös-sozialistischen Gestaltungsanspruch gegenüber. Stepun war grundsätzlich davon überzeugt, dass Tillich irre, wenn er den Protestantismus lediglich auf eine politische Richtung festlege. Es dürfe vielmehr, propagiert Stepun entgegengesetzt, theologisch und kirchlich nicht Partei ergriffen werden, sondern aus überlegener Distanz seien stets aufs Neue die Gesellschaft zu kritisieren und ihre Entwicklungen
21 Ebd. 22 Vgl. dazu bereits eine Tagebuchnotiz von Klemperer, 29. Oktober 1925 (Leben sammeln, 161). Kroner habe ihm einen Brief geschrieben und mitgeteilt, „seinen Freund Stepun zum sociologischen Katheder vorschlagen“ zu wollen. „Was ihm an Wissenschaftlichkeit fehle, ersetze er durch Genialität!“ Vgl. dazu Klemperers Bemerkung vom 31. Juli 1926: „Wir haben jetzt zuviele Genies u. Pathetiker in der Fakultät: Kroner, Stepun, Tillich, Janentzky“ (a. a.O., 283). Zu Stepun vgl. a. a.O., 176, die Charakteristik vom 16. Februar 1926 anlässlich einer Lesung des Kollegen aus seinem in Fortsetzung erschienenen Briefroman Nikolaj Pereslegin im Hause Kroners. Mit besonderer Konsequenz verfolgte Stepun, oftmals mit autobiographischem Unterton, gerade auch die Themen Liebe, Heimat, Religiosität und Revolution. Klemperer berichtet: „Stepun, jetzt wirklich Professor der Soziologie bei uns, wie ‚ein fetter russischer Christus‘, sagt Eva [Klemperer], halb Balzak, halb Liszt, sehr alt aussehend, dabei Anfang Vierzig, liest mit breitestem Baltisch, langsam, schauspielerisch aber gut.“ 23 R. Kroner, Religion und Philosophie. Eine Erwiderung, in: ZThK NF 13 (1932) 51–61, hier: 57. 24 Zum folgenden vgl. ausführlich auch Tillich im Dialog mit Stepun, hg. v. A. Christophersen, bes. 110–114. 25 F. Stepun an H. Rickert, 7. November 1929, in: Hufen, Stepun, 278.
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zu prüfen, zumal wenn es um überindividuelle soziale Fragestellungen gehe. Wenn sich der Protestantismus, wie Tillich es unternehme, einseitig engagiere, blende er einen großen Teil der Gesellschaft aus, brüskiere diesen sogar derart, dass er sein Heil in Volk und Nation suche, um ein Gegengewicht gegen die Klassenfixierung von Sozialismus und Kommunismus zu bilden. Diesen Zusammenhang brachte Stepun ausführlich in einem Vortrag mit dem Titel Christentum und Klassenkampf zum Ausdruck, den er am 9. November 1929 in Leipzig vor der „Sächsischen Evangelisch-Sozialen Vereinigung“ gehalten hatte und der 1931 aktualisiert gedruckt wurde.²⁶ Formuliere der Religiöse Sozialismus ein „unbedingtes Ja zum Klassenkampf“, werde die „Dämonie der bolschewistischkommunistischen Politik“, die „der kapitalistischen Wirtschaftsdämonie“ analog sei,²⁷ unterschlagen. Genau dies lasse sich auch bei Paul Tillich, auf dessen Religiöse Verwirklichung Stepun konkret Bezug nimmt,²⁸ feststellen. Es trete eine Einstellung zu Tage, die tief im Protestantismus verwurzelt sei, der„zwischen nationalistischem und sozialistischem Christentum, zwischen einem arischen und einem proletarischen Christus hin und her“ schwanke. Die „Professorentheologie“ habe die „Realität des Kirchenerlebnisses und der Kirchengemeinschaft“ ausgeblendet – darin liege die eigentliche Ursache des „spezifisch protestantischen Verhängnis[ses]“.²⁹ Symbolische Realität und mystische Kraft der Kirche gingen so verloren. Den Status von „Kirchenersatz“ und „Pseudokirchen“ erhielten stattdessen „Nation und Klasse“.³⁰ Um den Argumentationsgang zuzuspitzen, kennzeichnet Stepun den Religiösen Sozialismus als „Sozialistenchristentum“ und führt Paul Tillich als Inbegriff dieser Parteinahme an. Wenn dieser die Idee verfechte, dass Christentum und Sozialismus zu einer noch nicht existierenden neuen Einheit werden müssten, nivelliere er fahrlässig „den absoluten Abstand“ zwischen beiden Größen und relativiere das Christentum: „Ein nicht absolut verstandenes Christentum ist aber überhaupt kein Christentum, sondern nur eine christlich beeinflußte Metaphysik und Geschichtsphilosophie.“³¹ An dieser Stelle nimmt Stepun Bezug auf Ausführungen Tillichs im neunten Kapitel der Religiösen Verwirklichung: „Klassenkampf und religiöser Sozialismus“. Entscheidend ist für ihn der Satz: Religiöser Sozialismus „kann nur eine Wirklichkeit meinen, in die Religion und Wirklichkeit so ein-
26 F. Stepun, Christentum und Klassenkampf. Zum Problem des religiösen Sozialismus, in: Sächsische Evangelisch-Soziale Blätter 22 (1931) Nr. 17, 1–9. 27 A. a.O., 4. 28 P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930. 29 Stepun, Christentum und Klassenkampf, 4. 30 A. a.O., 5. 31 A. a.O., 7.
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gehen, daß eine neue konkrete Gestalt entsteht“.³² Stepun zieht Linien zur Christologie und sieht die Gefahr einer Aufspaltung von Jesus und Christus: Jesus diene dann nur noch als Vorbild für eine Person, die in einer besonderen Epoche zur exemplarischen Verbindung mit Gott vorgedrungen sei. Von Christus bleibe lediglich der Symbolcharakter, der auf einen Standpunkt verweise, der das Historische in radikale Fraglichkeit überführe.³³ Das Christentum sei damit erledigt, weil Jesus Christus nicht mehr als Gottmensch betrachtet werde. Eindeutig fällt das Urteil aus: „Von der Begegnung zwischen klassenkämpferischem Vollsozialismus, wie ihn der religiöse Sozialismus vertritt, und einem inhaltberaubten Pseudochristentum ist nichts zu erwarten.“³⁴ Die Klage Stepuns über eine mangelnde mystische Tiefe der protestantischen Kirchenlandschaft und Theologie durchzieht seine Publikationen. Repräsentativ ist ein entsprechender Kommentar von 1932: Die Art, wie beispielsweise heute einige religiössozialistische Pfarrer zu Marx und Proletariat und nationalsozialistische zu Blut und Rasse stehen, wie Christus einerseits zu einem proletarischen Menschheitsführer, andererseits zu einem arischen Volksführer umgedeutet wird, wie an Stelle der einen Kirche Christi verschiedene Jesusgemeinschaften wachsen, hat etwas gerade zu Erschütterndes und weiter kaum zu Ertragendes an sich.³⁵
Während sich die an Tillich gerichteten kritischen Rückfragen Fedor Stepuns substantiell eher auf die politischen Implikationen religiös-sozialistischer Theoriebildung bezogen und sachlich vielfach indifferent ausfielen, hatte der IdealismusDiskurs zwischen Tillich und Kroner eine völlig andere Substanz. Dies zeigt sich auch in den Arbeiten der Kroner-Schülerin Käte Nadler, die im Sommersemester 1930 in Kiel promoviert wurde, und zwar mit einer Arbeit zum Thema Der dialektische Widerspruch in Hegels Philosophie und das Paradoxon des Christentums. ³⁶ Kroner, Tillich und Janentzky dankt sie im Vorwort; „entscheidende[] Anregungen“
32 Tillich, Religiöse Verwirklichung, 191. Vgl. dagegen a. a.O., 299, die zugehörige Anmerkung 3, in der Tillich betont: „Über den Bindestrich in religiös-sozialistisch haben in unserem Kreise vielfache Abhandlungen stattgefunden. Sie haben zu keiner Änderung geführt, offenbar, weil die Fragwürdigkeit der Situation in der Fragwürdigkeit des Begriffes zu angemessenem Ausdruck kam. Alle Versuche, den Sozialismus als religiöses oder christliches Gesetz an und für sich aufzufassen, haben wir als gesetzlich und sektiererhaft vom ersten Tage unserer Arbeit an nachdrücklichst abgelehnt.“ 33 Vgl. Stepun, Christentum und Klassenkampf, 8. 34 Ebd. 35 F. Stepun, Zwischen Protestantismus und östlichem Christentum, in: Das Gottesjahr 1933. Dreizehnter Jahrgang, hg. v. W. Stählin, Kassel 1932, 73–83, hier: 74 f. Vgl. dazu auch K. Pinggéra, Fedor Stepun und der Protestantismus, in: H. Kuße (Hg.), Kultur als Dialog und Meinung. Beiträge zu Fedor A. Stepun (1884–1965) und Semen L. Frank (1877–1950), München 2008, 77–95, hier: 80–82. 36 Käte Nadler (1907–1996) war die Tochter des Gröbener Males Hans Nadler (1879–1958). Ihr Bruder Hans (1910–2005) war ein gerade auch für Dresden bedeutender Denkmalpfleger.
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habe sie von ihren „verehrten Lehrern“ empfangen.³⁷ Intensiv befasst sich Nadler in ihrer Dissertation mit dem Paradox-Begriff und zeichnet ihn in die philosophischen und theologischen Debatten ein. 1931 rezensierte sie im Logos Tillichs Religiöse Verwirklichung. Diese Besprechung ist deshalb besonders relevant, da Nadler nicht nur Parallelen zu Kroners Selbstverwirklichung hervorhebt, sondern vor allem die tiefe Verwurzelung ihres Dresdner Lehrers im Idealismus herausstellt und Tillich eng mit Hegel in Verbindung bringt. Diese Nähe zeige sich schon „in Haltung und Problemstellung“, wenn er „die Notwendigkeit der Grenzsituation jedes Erkenntnisvollzuges“³⁸ heraushebe. Stelle Tillich in seinem Buch nunmehr die „Identität von Philosophie und Theologie“ in „programmatisch[er]“ Absicht heraus, erkennt Nadler darin „den wichtigsten Schritt über T.s bisherige Position hinaus“³⁹. Erkennbar sei, dass sich Tillich in diesem „Einheitswille[n]“ von der Dialektischen Theologie löse, um sich „an eine wahrhaft existentiell-dialektische Philosophie“ anzunähern, wie sie aus der existentiellen Perspektive von Martin Heidegger und aus der dialektischen von Richard Kroner vertreten werde.⁴⁰ In Tillichs Konzept eines „gläubigen Realismus“ erkennt Nadler den weiterführenden Verbindungspunkt in Form „einer neuen synthetischen Lösung“. Der Kairos-Begriff erhalte hier eine zentrale Funktion und „seine konkrete philosophische Anwendung“.⁴¹ Nadler unterstreicht: „Vom Kairosgedanken her beleuchtet T. den ‚Staat als Erwartung und Forderung‘, den ‚Klassenkampf und religiösen Sozialismus‘. Diese Partien gehören zu den wichtigsten und originalsten, man möchte sagen, weil und trotzdem sie in besonderem Maße situationsgebunden sind.“⁴² Nadler weist darauf hin, dass der Kairos stets dialektisch verstanden werden müsse, so dass eine Dynamik erhalten bleibe, die sich nicht mit gegenwärtiger Erfüllung zufrieden gebe, sondern auch die Zukunftsdimension berücksichtige, im Sinne „produktive[r] Aktualität, Vollendung der Zeit“⁴³. Würden Grenze und Kairos dialektisch gefasst, träten die Formulierungen „menschliche Grenzsituation“ und „Gestalt der Gnade“ hervor. Den Abschnitt „Das Religiöse als kritisches Prinzip“
37 K. Nadler, Der dialektische Widerspruch in Hegels Philosophie und das Paradoxon des Christentums, Leipzig 1931, V. 38 K. Nadler, Rez. von: P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, in: Logos XIX (1930) 407–409, hier: 407. 39 A. a.O., 407 f., mit bes. Verweis auf Tillich, Religiöse Verwirklichung, 278 f., Anm. 22. 40 A. a.O., 408. Die Heidegger-Bezüge fänden sich, deutet Nadler, insbesondere im Kapitel „Eschatologie und Geschichte“, Vortrag von 1927, in: Tillich, Religiöse Verwirklichung, 128–141, 290–295; vgl. die Erwähnung Heideggers 291, Anm. 7, mit Bezug auf 132. Zu Kroner vgl. ebd., Christologie und Geschichtsdeutung (1929) sowie Protestantische Gestaltung (1929), in: a. a.O., 43–64, 276–279; 110–127, 287–290. 41 Nadler, Rez. von: Tillich, Religiöse Verwirklichung, 408. 42 Ebd. 43 A. a.O., 409.
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akzentuiert Nadler besonders und beurteilt ihn als den „zerstörerischste[n] aber auch eindrucksvollste[n]“⁴⁴. Tillichs Gedanken von der bedrohten Existenz, die in der Grenzsituation „vor dem Nichtsein“⁴⁵ steht, hat es ihr besonders angetan. Integriert sei er, wie aus dem Kapitel „Protestantische Gestaltung“ hervorgeht, in die Gnadengestalt als „Einheit von Protest und Gestalt“.⁴⁶ Tillichs Überlegungen zur „Protestantischen Gestaltung“ stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem Einstiegsbeitrag zum zweiten Band des KairosKreises von 1929: Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip. Im Vorwort – „Dresden, im Juni 1929“ – kündigt er ihn als „grundsätzlichen Lösungsversuch […] eines protestantischen Begriffs von ‚Gestalt der Gnade‘ als Einheit von Kritik und Gestaltung“⁴⁷ an. Tillichs Aufsatz von 1929 führt zwei Beiträge aus dem ersten Kairos-Band von 1926 weiter: Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart sowie Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis. Diese beiden Arbeiten hatten Programmcharakter und sollten am Beginn einer „Jahrbuch“-Reihe stehen, von der dann allerdings nur zwei Bände aus Dresden heraus realisiert wurden. In ihnen drückt sich eine kritische Abgrenzung von der Dialektischen Theologie aus, die in der betreffenden Zeit ein gleichermaßen sachliches wie strategisches Ziel Tillichs war. Den dialektischen Theologen warf Tillich 1926 vor, die dämonischen Kräfte zu ignorieren und bei einem „abstrakten Nein“ zu verharren. Mit ihrer ausschließlichen Fixierung auf dieses „Nein“ rauben sie „dem konkret-prophetischen Kampf manche wertvolle Kraft“ und halten ungewollt einen „Schild vor die Dämonen der Zeit“.⁴⁸ Der Kairos jedoch stellt den aller schützenden Selbsttäuschungen beraubten Menschen vor die unentrinnbare Entscheidung. Die mit letztem Ernst vollzogene Proklamation einer Zeit als Kairos bindet jeden Einzelnen unausweichlich in die Verantwortung ein, dieser Entscheidungssituation gerecht zu werden, verlangt ein konkret wagendes Ja und Nein. 1929 greift Tillich dieses Schlüsselmotiv der Untrennbarkeit von Bejahung und Negation erneut auf und charakterisiert die Eigenart prophetischer Kritik, in Abgrenzung von einer
44 Ebd. 45 Tillich, Religiöse Verwirklichung, 32. 46 Nadler, Rez. von: Tillich, Religiöse Verwirklichung, mit Zitat aus Tillich, Religiöse Verwirklichung, 46. 47 P. Tillich, Vorwort, in: ders. (Hg.), Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Zweites Buch des Kairos-Kreises, Darmstadt 1929, IX–XI, hier: X. Vgl. zum Zusammenhang zwischen den Gestaltungstexten ders., Religiöse Verwirklichung, 276, Anm. 1. 48 P. Tillich, Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart, in: ders., Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, Darmstadt 1926, 1–21, hier: 7; vgl. ders., Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, in: ders. (Hg.), Protestantismus als Kritik und Gestaltung, 3–37, hier: 7. Zum Zusammenhang vgl. ausführlich A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik (BHTh 143), Tübingen 2008, bes. 107–114.
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mittels Maßstab urteilenden rationalen, als Verbindung eines unbedingten Neins „mit einem unbedingten Ja“.⁴⁹ Der Begriff „prophetisch“ wird als Abstrahierung „von der einmaligen Erscheinung der israelitischen Prophetie“ gekennzeichnet und meine „die aus dem ‚Jenseits des Lebens‘ kommende Verkündigung der Krisis des Lebens“.⁵⁰ Die prophetische Kritik „stellt die Existenzfrage im letzten, unbedingten Sinne“.⁵¹ Sie unterscheide sich darin von der rationalen Kritik, die nicht dazu fähig sei, „das Sein als solches“ in Frage zu stellen, „sondern immer nur auf Annäherung des widerstrebenden an das wahre Sein dringen kann“. Die prophetische Kritik stelle die Begrenztheit der rationalen, autonomen heraus und verweise auf die Gnade, die allein eine „jenseits der kritischen Situation“ stehende Erfüllung bringen könne.⁵² Die Gnade wiederum kritisiere die prophetische Kritik und bestreite „[i]hr letztes Recht, das Sein aufzuheben“.⁵³ Tillich lässt seinen Gedankengang in eine knappe Zusammenfassung münden: „In der rationalen Kritik wird die prophetische konkret. In der prophetischen erhält die rationale ihre Tiefe und ihre Grenze, ihre Tiefe durch die Unbedingtheit des Anspruchs, ihre Grenze durch die Gnade.“⁵⁴ Der Protestantismus wird schließlich in seiner Kritik als prophetisch gekennzeichnet, wobei die Rechtfertigung als der eigentlich kritische Begriff gilt. Protestantische Kritik sei im Vollsinn prophetisch, da durch sie die rationale Kritik zu ihrer Tiefe und Grenze getrieben werde. Die Kritik überwiege im Protestantismus die Gestaltung. Allerdings werde dieses Dominanzverhältnis dadurch ausgeglichen, dass die „Gestalt der Gnade […] Voraussetzung der prophetischen Kritik“ sei.⁵⁵ Tillich erklärt die Gnade zum „Prius der Kritik“.⁵⁶ Jedoch müsse jede Form, in der sie sich ausdrücke, wiederum der Kritik unterliegen. Mit Bezug auf die Sündhaftigkeit des Menschen sei es die Leistung protestantischen Denkens, den Empfang der Sündenvergebung zum Ausdruck des Heiligen zu machen. So verstanden, sei der Mensch „heilig in der Unheiligkeit“. Letztlich handele es sich um eine „Paradoxie“ und gerade nicht um eine Gestalt. „Die Gnade ist ein Urteil, keine anschauliche Wirklichkeit.“ Tillich identifiziert aber „eine andere Gestalt von unabsehbarer geschichtlicher Wirksamkeit: Die heroische, der Grenzsituation des Menschen bewußte, sich ständig der prophetischen und sittlich-rationalen Kritik unterstel-
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Tillich, Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 3. A. a.O., 3, Anm. 1. A. a.O., 8. Ebd. Ebd. Ebd. A. a.O., 13. A. a.O., 26.
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lende Persönlichkeit.“⁵⁷ Werde diese nicht durch die Gnade bestimmt, drohe sie, von der„rationale[n] Gestalt der sittlichen Persönlichkeit“ okkupiert zu werden. Die prophetische Kritik werde von der rationalen verdrängt. Das Urteil ist eindeutig: „Dann ergibt sich leicht eine Verbindung mit dem humanistischen Persönlichkeitsideal, und die Profanisierung ist vollendet. Es fehlt die Gegenkraft einer heiligen Gestalt anschaulicher, wenn auch nicht gegenständlicher Art.“⁵⁸ Auf der Strecke bleibe auch „das Heroische“, da es „seine Wurzel“ eingebüßt habe. Nur konsequent sei daraufhin „ein allseitiger Zusammenbruch der Persönlichkeit in Wirklichkeit und Ideal“.⁵⁹ In einer Anmerkung zu dieser Stelle verweist Tillich auf seinen 1927 im Logos erschienenen Vortrag Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. In ihm sei er dem beschriebenen Kollapsphänomen näher nachgegangen. Aber auch in seinen Überlegungen zum ‚kritischen und gestaltenden Prinzip‘ gibt Tillich relevante Hinweise und unterstreicht, „daß die Gestaltung des persönlichen Lebens, sei es im Sinne der sittlichen Persönlichkeit, sei es im Sinne frommen Erlebens, das eigentliche protestantische Gestaltprinzip ist“.⁶⁰ Aus dem Umstand, dass „[d]ie Gestalt der Gnade aus dem Geist des Protestantismus […] keine gegenständlich fixierbare Gestalt“ habe, folge zum einen, dass sie „quer durch die Profanität hindurch“ gehe. Diese erhalte dadurch „den Charakter des transzendenten Bedeutens“.⁶¹ Von „einer besonderen Sphäre des Heiligen“ könne nicht gesprochen werden.⁶² Zum anderen ergebe sich aber auch ein differentes Geschichtsverständnis; denn „[e]ine Gestalt der Gnade, die gegenständlich fixiert ist, enthebt die Formen, in denen sie erscheint, die rationalen Gestalten, die sie in sich aufnimmt, dem Wechsel“.⁶³ Aus katholischer Perspektive werde „die ideale Sphäre“ entsprechend „statisch“ verstanden. Das Neue hat somit, wenn „das Wesenhafte […] außergeschichtlich und überzeitlich“ ist, folgert Tillich, keine Chance. „Für die protestantische Entgegenständlichung der Gnade“ jedoch „ist die Wesens-Sphäre dynamisch; in ihr wird das Neue gesetzt“.⁶⁴ Die Gnade zeige ihre Gestalt gerade darin, dass sie lebendig sei und um sie gerungen werde. Der transzendente Charakter bleibe dabei bestehen, „[a]ber die rationale Gestalt, in der die
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A. a.O., 28. Ebd. Ebd. A. a.O., 30. A. a.O., 32. A. a.O., 33. A. a.O., 34 f. A. a.O., 35.
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Gestalt der Gnade erscheint, wechselt“.⁶⁵ Im Kairos-Konzept werde genau diesem Umstand Rechnung getragen. Erneut kommt Tillich auf den Persönlichkeitsbegriff zu sprechen. Wenn sich die Gnade in beschriebener Form ausdrücke, Wirklichkeit werde, sei „damit gleichzeitig der protestantische Personalismus überwunden“,⁶⁶ seelisch und gesellschaftlich. „Die Gnade als anschauliche Wirklichkeit ist nicht denkbar in der aktuellen Entscheidungssphäre des Persönlichkeitszentrums. Sie kann wirklich sein nur in dem schon Entschiedenen, in dem Sein, dem seelischen und sozialen, das die Persönlichkeit trägt und bestimmte Entscheidungen ermöglicht.“⁶⁷ Entscheidend sei für die Gestalt der Gnade die eschatologische Perspektive, als Vorgriff auf das bereits Entschiedene. In seinem „Persönlichkeitszentrum“ vernehme der Mensch „die radikale, alle Sicherungen seelischer und sozialer Art wegschlagende prophetische Kritik“. Jede Entscheidung, die die Person treffe, sei von dieser Verhältnisbestimmung abhängig. Religiöser Sozialismus und „eine religiöse Tiefenpsychologie“ müssten deshalb ineinandergreifen.⁶⁸ An das Ende seines Programmaufsatzes im zweiten, von ihm herausgegebenen Buch des Kairos-Kreises Protestantismus als Kritik und Gestaltung setzt Tillich erwartungsgemäß den Kairos: Wegbereitung, d. h. vor allem Nichtbehinderung einer Gestalt der Gnade, die geeint ist mit der radikalen prophetischen und der konkreten rationalen Kritik, Wegbereitung aus dem Geist des ‚Kairos‘ und damit aus dem Prinzip des Protestantismus: das ist die Aufgabe, die vor uns steht und die in gleicher Weise gestellt ist der autonomen Kultur wie den christlichen Kirchen.⁶⁹
Wie von Tillich selbst festgehalten, greifen sein Dresdner Jahrbuch-Beitrag zum Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip und der zwei Jahre zuvor in Kroners Logos publizierte zur Überwindung des Persönlichkeitsideals ineinander. Sie sind das Produkt einer in sich schlüssigen Gesamtargumentation. 1930 nimmt Tillich seinen Persönlichkeitsbeitrag, der auf einen Pfingsten 1926 auf der östlich von Chemnitz gelegenen Augustusburg gehaltenen Vortrag zurückgeht, auch in die Religiöse Verwirklichung auf.⁷⁰ Zusätzlich wurde der Aufsatz bereits im März 1927 in der Sächsischen Schulzeitung und in der Hamburger Lehrerzeitung veröffentlicht. „Mir liegt sehr viel daran“, schrieb Tillich am 10. Dezember 1926 an Oskar Siebeck, 65 Ebd. 66 A. a.O., 36. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 A. a.O., 37. 70 In: Tillich, Religiöse Verwirklichung, 168–189, 295–209; Erstdruck in: Logos XVI (1927) 68–85; hier zitiert nach: MW III, 131–150.
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den er um eine Abdruckgenehmigung aus dem bei ihm verlegten Logos bat, „daß die Lehrer, für deren Nachwuchs ich ja hier zu sorgen habe, mich kennen lernen. Das ist für die ganze, äußerst wichtige Sache der Lehrerbildung von größter […] Bedeutung.“⁷¹ In seinem Aufsatz vertritt Tillich die Kernthese, dass Persönlichkeit und das diese letztlich deformierende Persönlichkeitsideal kritisch voneinander abzuheben sind. Verantwortlich für die konstatierte Fehlentwicklung im Verständnis der Persönlichkeit sei der Humanismus. Unter Persönlichkeit versteht Tillich die „Verwirklichung dessen, was in der Person und nur in ihr möglich ist: Daß das Seiende seiner selbst mächtig werde“ (MW III, 132). Dies sei ein Ausdruck von Freiheit. Die Begriffe von Welt und Persönlichkeit seien aufeinander bezogen. „Der die Welt setzende Akt ist die Tat, in der das Seiende sich von seiner Unmittelbarkeit losreißt, in der es sich auf sich selbst stellt, und alles Seiende sich gegenüberstellt.“ (MW III, 133) Die Persönlichkeit sei der existentielle Ort des sich seiner selbst mächtigen Seins. Die vom Ideal zu unterscheidende Persönlichkeitsidee finde so ihre Form. Ihre „unbedingte Anerkennung […] ist ein Ausdruck für die Überwindung dämonischer Persönlichkeitszerstörung und mit der christlichen Verkündigung unlöslich verbunden“ (MW III, 134). Im Entwurf einer Persönlichkeit könne unter dem Druck der „unmittelbare[n] Mächtigkeit des Seins […] der Akt der Freiheit geschwächt“ werden, mit dem spannungsreichen Ergebnis von „Bewegtheit, Ungeformtheit, Unabgeschlossenheit“ (MW III, 134 f.). Möglich sei aber auch ein „Akt des Sich-Bemächtigens“, der so massiv ausfalle, „daß die unmittelbare Mächtigkeit des Seins verloren geht“. Die daraus resultierende „Konzentration“ und „Unoffenheit“ (MW III, 135) sei Ausdruck des zu überwindenden Persönlichkeitsideals. In drei gegenwartsbezogenen Schritten geht Tillich dem Phänomen auf den Grund: „Persönlichkeit und Dingwelt“ (1.), „Persönlichkeit und Gemeinschaft“ (2.) sowie „Persönlichkeit und Seele“ (3.). Breit erfasst werden Bereiche wie Verlust des Sakralen, Rationalisierung, Verdinglichung, Sachlichkeit und Herrschaft in Technik und Ökonomie, Erscheinungsformen von Gemeinschaft und Sozialstrukturen, Seele, Leib und Psychoanalyse. Zum Hauptgegner erklärt Tillich schließlich ein elitäres, humanistisches „Ideal der allseitig geformten Persönlichkeit“, das sich als blind für die Situation „konkrete[r] Wirklichkeit“ erweise (MW III, 142). Das damit verbundene Glücksversprechen realisiere sich nur für einige wenige. „Der humanistischen Formung einzelner entspricht die menschenunwürdige Deformierung der meisten.“ 71 P. Tillich an O. Siebeck, Dresden, 10. Dezember 1926, in: „Beweise einer unsichtbaren Beziehung“. Die Korrespondenz zwischen Paul Tillich und dem Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), mit einer Einleitung hg. v. A. Christophersen/F.W. Graf, in: International Yearbook for Tillich Research, Berlin/New York 4 (2011) 237–407, hier: 299. Vgl. auch die zustimmende Antwort Siebecks vom 14. Dezember 1926, in: a. a.O., 300.
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(Ebd.) Die Seele des Menschen werde ihrer Kraft beraubt; „das Ideal der geschlossenen Persönlichkeit ist eine Täuschung“ (MW III, 145). Tillich lässt seine Reflexionen auf eine theologische Pointe zulaufen. „Das Persönlichkeitsideal ist ein heroischer Versuch“, kommentiert er, „die Klarheit Gottes in der Welt der Zweideutigkeit zu verwirklichen, darum zerbricht es. Das Seiner-selbst-mächtig-Werden ist nur Wirklichkeit als Bemächtigtsein von der göttlichen Tiefe.“ (Ebd.) Gegen das Gesetz der Persönlichkeit sei die Gnade zu profilieren. Nur mit ihrer Hilfe könne es gelingen, die Ansprüche einer „religiöse[n] Persönlichkeit“ zurückzuweisen, in der sich dasjenige Sein ausdrücke, „das seiner selbst in bezug auf das unbedingte Sein mächtig ist“ (MW III, 146). Dieses Missverständnis müsse abgewehrt werde; „denn es ist das Wesen des unbedingten Seins, daß wir ihm gegenüber nie und in keiner Form unserer mächtig sind. Wohl aber ist das Unbedingte unser mächtig, ob wir es wollen oder nicht, zur Zerstörung oder zur Begnadigung.“ (Ebd.) In einem ersten Entwurf zu seinem Überwindungsaufsatz unterstrich Tillich, dass Individuum und Gemeinschaft von der Bewegung der Geschichte bestimmt seien. Konkrete Entscheidungen würden „aus der Fülle unserer Zeit geboren“. Sie erhöben „nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit im abstrakten oder platonischen Sinn […], sondern nur auf Geltung, nämlich im Schicksal unserer Zeit“ (EW XI, 7). Der einzelne Mensch, reflektiert Tillich in einem zweiten Entwurf, lebe nie für sich allein. „Es gibt nur Gemeinschaft von Persönlichkeiten.“ (EW XI, 10) Die geisteswissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft an der Technischen Hochschule Dresden war eine in ihrer Zeit einzigartige Konstellation. In einigen wenigen Jahren verdichteten sich Kommunikations- und Gesellschaftsformen in produktiver Form. In der ihm eigenen Sensibilität für situative Zusammenhänge brachte Fedor Stepun das Wesen dieser besonderen Phase auf den Punkt, als er 1929 an seinen Freund, den Philosophen und Logos-Autor Jonas Cohn schrieb: „Sie werden wohl gehört haben, dass nach Kroner auch Tillich geht. Dieses tut mir sehr leid. Er ist mir ein sehr lieber Kollege gewesen und auch ein sehr naher Mensch geworden. Es wird stiller in Dresden werden.“⁷²
72 F. Stepun an J. Cohn, Dresden, 7. März 1929 (Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen e.V., Jonas Cohn Archiv). Zum Brief Stepuns an Cohn vgl. auch kontextualisierend Hufen, Stepun, 268 f. Dem Steinheim-Institut danke ich vielmals für freundliche Unterstützung. Ein herzlicher Dank für Archiv- und Literaturrecherchen gilt auch meinem Wuppertaler Mitarbeiter Lucas Dietrich.
Alexander H. Schwan
Paul Tillichs Theologie des Ausdruckstanzes 1 Dance Chronicle „On the pages that follow, you, good reader, have the privilege of a rare personal contact with fifteen notables of uncommon talent and intelligence, each outstanding in his respective profession“.¹ Mit diesen Worten eröffnet das US-amerikanische Dance Magazine in seiner Ausgabe vom Juni 1957 den Abdruck von fünfzehn Texten zum Thema The Dance: What It Means To Me. Zusammengestellt sind in diesem, „Symposium“ genannten Beitrag der seit 1927 bestehenden renommierten Tanzfachzeitschrift,² die sich selbst als „the world’s largest dance publication“ begreift,³ 15 Positionen von Persönlichkeiten aus den Bereichen Theater, Kunst, Literatur, Musik, Photographie, Mode, Film und Comedy sowie Religion als einzigem nichtkünstlerischen Bereich. Die meisten Namen dieser überwiegend männlichen und fast ausnahmslos weißen Prominenten der späten 1950er Jahre – ihre Liste ziert das Cover der Dance Magazine-Ausgabe und ersetzt die dort üblicherweise zu erwartenden Tanzphotographien – sind im heutigen internationalen Kontext nahezu vergessen. Bekannteste Ausnahmen neben dem Schauspieler Burt Lancaster („Dancing is fun“⁴) dürfte der Theologe Paul Tillich sein, der hier, mit einem katholischen und einem jüdischen Vertreter an seiner Seite, vorgestellt wird als „the author of many major books on theology and philosophy, and one of the most respected of all Protestant leaders“.⁵ Tillichs Antwort auf diese Frage, die 1972 posthum in Renate Albrechts deutscher Übersetzung (GW XIII, 134) erscheint, stellt den wohl markantesten und am häufigsten zitierten Text dar, in dem Tillich sich zum Verhältnis von Tanz und Religion äußert. Bemerkenswert ist dabei nicht nur der eigenwillige Publikationskontext des Dance Magazine-Symposiums, sondern auch die Tatsache, dass es sich bei den dort versammelten Texten um Auftragsarbeiten einer écriture automatique handelt. Denn in der Vorbereitung des Symposions wurden alle fünfzehn Beitragenden gebeten, ihre Gedanken und Gefühle zum Tanz möglichst spontan zu Papier
1 L. Joel et al., Symposium: ,The Dance. What It Means To Me‘, in: Dance Magazine 31:6 (1957) 16– 26, 16. 2 Ebd. 3 Dance Magazine 31:6 (1957) 1. 4 A. a.O., 26. 5 A. a.O., 20. https://doi.org/10.1515/9783111264332-008
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zu bringen: „Whatever your reaction – positive or negative, thoughtful or fanciful – write it down and send it to us. And please don’t hesitate to be entirely frank.“⁶ Tillichs Beitrag zu The Dance: What It Means To Me aus dem Jahr 1957 steht im zeitlichen und inhaltlichen Kontext seiner Lehrtätigkeit als University Professor an der Harvard Divinity School und der School of Arts and Sciences ab 1955. Insbesondere die Undergraduate-Kurse zum Verhältnis von „Religion and Culture“, Humanities 127a and 127b,⁷ veranschaulichen den gedanklichen Hintergrund für die Ausführungen im Dance Magazine. Tillichs lokaler Hauptbezugspunkt aber ist die Stadt Dresden zur Zeit der Weimarer Republik, insbesondere während seiner Zeit als Professor für Religionswissenschaften an der Technischen Hochschule Dresden in den Jahren 1925–1929. Tillich beginnt seine mehr oder minder spontane Antwort auf die Schreibübung denn auch mit: „The word ,dance‘ evokes in me the memory of the middle twenties in Dresden. At that time, Dresden was rightly called the ,capital of the dance.‘ I happened to be professor at the Technical Academy, teaching philosophy of religion, and I was connected with the school of Mary Wigman, who was then and still is acknowledged as one of the foremost creators of modern expressive dance.“⁸ Wie weit Tillichs Verbindung mit Mary Wigman (1886–1973) reicht, lässt sich am besten aus dem kurzen Hinweis erschließen, den Hannah Tillich in der deutschen Fassung ihrer Autobiographie gibt: „Mary Wigman selbst gab uns in unserer Diele Gymnastikunterricht, wobei Paulus sich weigerte, sich vornüber zu beugen. Er behauptete, es schade seinem Kopf.“⁹ Bei dem Gymnastikunterricht der Tillichs dürfte es sich um tänzerische Gymnastik im Kontext des Ausdruckstanzes handeln, jener Innovationsbewegung im Modernen Tanz, die sich vom Klassischen Ballett abwendet und an die Stelle normierter Schrittfolgen und Posen eine individuelle Bewegungsgestaltung und die Übertragung metaphysischer Inhalte in Tanz setzt. Paul Tillichs Kontakt zum künstlerischen Ausdruckstanz und zu dessen Applikation in der tänzerischen Gymnastik wird ergänzt von seiner regen Aktivität als Tanz-
6 A. a.O., 16. 7 G. Calí, As He Framed Questions. Paul Tillich in Harvard, in: I. Nord/Y. Spiegel (Hg.), Spurensuche. Lebens- und Denkwege Paul Tillichs, Tillich-Studien 5, Münster [u. a.] 2001, 199–211. 8 Dance Magazine 31:6 (1957) 20. Zur Wigman-Schule in der Bautzener Straße in Dresden vgl. außerdem H. Müller, Mary Wigman in Dresden, in: Gesellschaft für Tanzforschung (Hg.), Ausdruckstanz in Deutschland – eine Inventur. Mary-Wigman-Tage 1993, Jahrbuch Tanzforschung 5, Wilhelmshaven 1994, 18–21. 9 H. Tillich, Ich allein bin. Mein Leben, Gütersloh 1993, 126. Der englische Originaltext von Hannah Tillichs Autobiographie lässt dagegen offen, ob Mary Wigman selbst oder eine ihrer SchülerInnen den Tillichs Gymnastikunterricht gab: „Another group we were involved with was that of Mary Wigman and her students. We had lessons in gymnastics in our vestibule. Paulus refused to bend down, proclaiming it would hurt his head.“ (H. Tillich, From Time to Time, New York 1973, 132).
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partner in Gesellschaftstänzen. Vor allem auf Tanzabenden im Hause des Philosophen Richard Kroner (1884–1974) trifft er auf SchülerInnen der damals in Dresden ansässigen Ausdruckstanzschulen von Mary Wigman, Gret Palucca (1902–1993) und Gertrud Steinweg (1899–1976). Er lernt dort auch die Tanzkritikerin der Dresdner Neuesten Nachrichten, Leonie Dotzler, später Dotzler-Möllering (1899–1984) kennen, „in den 1920er und 1930er Jahren die mit Abstand bedeutendste Tanzkritikerin in Deutschland“.¹⁰ Sie schreibt über die Tanzabende im Hause Kroner: Tillich tanzte dort oft wie ein Wilder ohne Unterlaß mit den verschiedensten Damen und machte ihnen kühne Komplimente. Niemand konnte sich seiner Vergnügtheit und seiner strahlenden Laune entziehen. Er riß alle mit. Beliebteste Partnerin war die Tänzerin Gret Palucca, mit der er die verrücktesten Tanzschritte und Figuren erfand und ausführte.¹¹
Im Folgenden werde ich ausgehend von Tillichs spätem Statement im Dance Magazine und unter weiterer Berücksichtigung früherer Äußerungen Tillichs seine theologische Sicht auf den Ausdruckstanz in den Blick nehmen. Erkenntnisinteresse ist dabei weniger die Wiederholung der Tatsache, dass Tillich im Kontakt mit dem Ausdruckstanz war und darüber reflektiert hat, als vielmehr die Frage, wie haltbar diese Deutungen aus tanzwissenschaftlicher Sicht sind. Denn vor allem im Blick auf erläuternde und interpretierende Texte zum Verhältnis von Tillich und Tanz ist eine fast vollständige Ausblendung der tanzwissenschaftlichen Forschung zum Ausdruckstanz und zu Mary Wigman im Speziellen bemerkenswert.¹² Gerade Mary Wigman verhandelt nur wenige Jahre nach der Begegnung mit Tillich die Relation von Individuum und Gemeinschaft, die auch Tillich im Verhältnis von Tanz und Religion beschäftigt, in einer eindeutig nationalsozialistischen Perspektive. Wigmans pagan-christlich konnotierte Tanzreligiosität, die durchaus in die Nähe zur 10 F.-M. Peter, Das Leben der Tanzkritikerin Leonie Dotzler, Deutsches Tanzarchiv Köln, www. deutsches-tanzarchiv.de/archiv/nachlaesse-sammlungen/d/leonie-dotzler-moellering [10. 02. 2023]. 11 Paul-Tillich-Archiv, Universitätsbibliothek Marburg, Bestand 004 A, „Der unheilige Paulus“, Bl. III. Das Manuskript steht im Kontext von Leonie Dotzler-Möllerings Beitrag „Tillichs Begegnung mit dem Ausdruckstanz“ (GW XIII, 559–562). Vgl. auch R. Marschall, Mit gläubigem Realismus in einer Kulturstadt. Paul Tillich in Dresden, in: I. Nord/Y. Spiegel (Hg.), Spurensuche. Lebens- und Denkwege Paul Tillichs, Tillich-Studien 5, Münster [u. a.] 2001, 121–139, bes. 126. 12 Vgl. zu Mary Wigman vor allem die kritische englischsprachige Literatur: S. Manning, Ecstasy and the Demon. The Dances of Mary Wigman, New Edition, Minneapolis/London 2006; M. Kant, Death and the Maiden. Mary Wigman in the Weimar Republic, in: A. Kolb (Hg.), Dance and Politics, Oxford 2010, 119–143. Zum Ausdruckstanz allgemein: G. Oberzaucher-Schüller (Hg.), Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven 1992; H. Müller/P. Stöckemann (Hg.), „…jeder Mensch ist ein Tänzer.“ Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, Gießen 1993.
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Ideologie der Deutschen Christen tritt, ist gleichsam ein Gegenkommentar zu Tillich, der berücksichtigt werden muss, wenn seine am Beispiel Wigmans ausgeführte Sicht auf Tanz und Religion kontextualisiert werden soll.
2 Urstand und Erlösung Jenseits des Ausdruckstanzes der 1920er Jahre hat künstlerischer Tanz, insbesondere der US-amerikanische Modern Dance oder, in den letzten Jahren seines Lebens, der Postmodern Dance keine Spuren in Tillichs Texten hinterlassen.¹³ So fehlt ein Bezug zur tanzgeschichtlichen Entwicklung von vier Jahrzehnten, und die wenigen Stellen von Tillichs Œuvre, die sich mit Tanz beschäftigen – neben dem Text im Dance Magazine sind dies nur ein kurzer Beitrag zu einem Prospekt der Tanzgruppe Gertrud Steinweg (GW XIII, 134–137) sowie einige Sätze in Die religiöse Deutung der Gegenwart (GW X, 36) –, beschränken sich im Wesentlichen auf Tillichs Begegnungen mit dem Ausdruckstanz in Dresden. Allein sein Beitrag im Dance Magazine weitet den Blick über den Ausdruckstanz („modern expressive dance“¹⁴) hinaus und thematisiert sehr knapp und in problematischer Bedienung primitivistischer Stereotype „primitive Stammestänze“ (GW XIII, 134): The emphasis on the expressive dance does not exclude a full and happy affirmation of the primitive social dances. They are a combination of vitality and form, the criticism of which as being evil in themselves is rooted in the same depreciation of the body with its expressive and creative powers which has cut the primordial tie between religion and dance.¹⁵
Eine solche Idealisierung des angeblich ursprünglichen und unverfälschten Tanzens in aus westlicher Sicht unzivilisierten Kulturen ist typisch für die historische Tanzentwicklung, über die Tillich schreibt. Viele der VorläuferInnen und HauptvertreterInnen der Tanzmoderne, allen voran Isadora Duncan (1877–1927) und Ted Shawn (1891–1972) in den USA und Rudolf von Laban (1879–1958) in Europa, teilen diese Perspektive auf Tanz in nicht-westlichen Kulturen. Zu markieren ist aber, dass Tillich diese Verbindung aus westlichem Kulturchauvinismus und Primitivismus noch 1957 uneingeschränkt vertritt und so einem Denkmodell anhängt, das historisch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verortet ist. Die Idealisierung
13 Kritisch aufgezeigt wird dies in B. Reymond, La Diversite des arts ou L’Heritage de Schleiermacher, in: ders./A. Gounelle (Hg.), En chemin avec Paul Tillich, Tillich-Studien 12, Münster 2004, 177– 185, bes. 184. 14 Dance Magazine 31:6 (1957) 20. 15 Ebd.
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des Tanzes in nicht-westlichen Kulturen geht dabei einher mit einer kulturpessimistischen Sicht auf die eigene Gegenwart, die innerhalb der Tanzmoderne paradoxerweise Züge anti-moderner Positionierung annehmen kann.¹⁶ Die westliche und moderne Zivilisation wird so zum einen als angeblich fortschrittlicher gewertet und von vermeintlich primitiven Tanzkulturen abgegrenzt. Zum anderen aber wird eben dieser eigenen Gegenwart ein Verfallsstadium diagnostiziert: Tanz in moderner Gesellschaft befindet sich, kulturpessimistisch gewertet, im Niedergang. Noch indem Tillich sich gegen die Abwertung der Körperlichkeit „primitiv[er] Stammestänze“ verwahrt und ihre Verurteilung als „böse“ (GW XIII, 134) kritisiert, teilt er die kulturpessimistische Sichtweise, die die Idealisierung kultureller Otherness mit Kritik an der Körperfeindlichkeit in der eigenen Kultur verbindet. Charakteristisch für die Tanzmoderne ist auch die von Tillich ebenfalls in Aussicht genommene Aufhebung des kulturgeschichtlichen Verfalls, der zur Abwertung des Tanzes geführt hat. So behauptet und fordert Isadora Duncan bereits 1903: „[T]he dance was once the most noble of all arts – and it shall be again. From the great depth to which it has fallen it shall be raised.“¹⁷ Bei Tillich und mit spezifischer Sicht auf das Verhältnis von Tanz und Religion wird daraus „the unanswered question of how the lost unity could be regained between cult and dance on the hard and unreceptive soil of Protestantism.“¹⁸ So macht er gegen Ende seines Dance Magazine-Beitrags eine protestantisch vermittelte Körperfeindlichkeit als Hauptschuldige für die Zerstörung der angenommenen Ursprünglichkeit in der Tanz-Religion-Beziehung aus. Denn dass Tanz und Religion im westlichen Christentum getrennte und feindliche Positionen sind, verdankt sich, so Tillich, der „depreciation of the body with its expressive and creative powers which has cut the primordial tie between religion and dance.“¹⁹ Gerade mit diesem letzten Satz seines Dance Magazine-Artikels reiht sich Tillich nahtlos ein in die von vielen ProtagonistInnen der Tanzmoderne vertretene Annahme einer primordialen Einheit oder zumindest engen Verknüpfung von Tanz und Religion. Solches Phantasma einer ursprünglichen und im Laufe der Zivilisationsgeschichte verloren gegangen Symbiose von Tanz und Religion wird konstruiert vor dem Hintergrund eines zweiten, ungleich problematischeren Phantasmas, der universalistischen Annahme einer die gesamte Menschheitsgeschichte einen-
16 Vgl. A.H. Schwan, Singularitä ten und Devianzen. Systematisch-ä sthetische Ü berlegungen zur Nicht- Ritualitä t von Tanz, in: H. Walsdorf/K. Stocker (Hg.), Ritual Tanz Bü hne, Prospektiven 3, Leipzig 2019, 67–85, bes. 74 f. 17 I. Duncan, Der Tanz der Zukunft/The Dance of the Future. Eine Vorlesung. Aus dem Engl. ü bers. und hg. v. K. Federn, Leipzig 1903, 15. 18 Dance Magazine 31:6 (1957) 20. 19 Ebd.
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den frühen Form von Religion. Nur mit diesem Ausschließen religiöser Diversität und dem Verneinen multipler Verknüpfungen von Spiritualität und Körperlichkeit ist überhaupt die These einer primordialen Nähe von Tanz und Religion möglich. Tillichs so pointierte These einer ursprünglichen Einheit von Kult und Tanz wiederholt auch an diesem Punkt Ideen aus den ersten Jahrzehnten der Tanzmoderne. Prominent wird diese Sicht etwa von dem US-amerikanischen Tänzer und Choreographen Ted Shawn (1891–1972) vertreten, der vor seiner Tanzkarriere methodistische Theologie studiert und sich in diversen Tanzarbeiten mit religiösen Themen auseinandersetzt. Bei Ted Shawn wie auch bei seiner Tanz- und Ehepartnerin Ruth St. Denis (1879–1968) sind Aussagen über die Primordialität und Universalität der Tanz-Religion-Bindung Legion.²⁰ Sie können als HauptvertreterInnen der kunstreligiösen Sicht auf Tanz begriffen werden, jener für die Tanzmoderne charakteristischen Bestrebung, die vormalige christliche Abwertung von Tanz in eine religiöse Aufladung von Körperbewegung, ja in das Konstrukt von Tanz als Religion umzukehren. Im Vergleich zu anderen Künsten wie Malerei und Musik relativ spät, gibt sich die Kunstform Tanz einen religiösen Nimbus und stellt sich, bevorzugt im deutschsprachigen Raum, in die Tradition romantischer Kunstreligion. Diese Tanzreligiosität wird in unterschiedlicher Weise von diversen VertreterInnen der Tanzmoderne vertreten, wobei sich deren religiöse Sozialisierung oder gelebte Religiosität in jeweils spezifischen Ausformungen der Tanzreligiosität widerspiegeln.²¹ Jüdische ProtagonistInnen der Tanzmoderne wie Gertrud Kraus (1901– 1977) und Baruch Agadati (1895–1976) implementieren so spezifische jüdisch-religiöse Themen in ihren Choreographien,²² während bei ChoreographInnen aus christlichem Kontext die Tanzreligiosität spezifische christlich-konfessionelle Züge annimmt. Andere Religionen erreichen die europäische und amerikanische Tanzmoderne über die Perspektive der Exotisierung und Appropriation, etwa wenn Mary Wigman in Drehmonotonie (1926) sufistische Bewegungsspiritualität imitiert und in einen Kunsttanzkontext transferiert. In jedem Fall aber müssen religiöse Prägung und Aufladung als integrale Bestandteile der Tanzmoderne begriffen werden; ohne eine Berücksichtigung dieser religiösen Dimension ist kein adäquates Verständnis der Tanzmoderne möglich.
20 Vgl. A.H. Schwan, Ethos Formula. Liturgy and Rhetorics in the Work of Ted Shawn, in: Performance Philosophy 3:1 (2017) 23–39, bes. 29. 21 Vgl. hierzu im Folgenden A.H. Schwan, Theologies of Modern Dance, in: מחול עכשיו/Dance Today 36 (2019) 75–78. 22 Vgl. A.H. Schwan, Queering Jewish Dance. Baruch Agadati, in: Dance Research Journal, Special Issue Speculations on the Queerness of Dance Modernism 54:2 (2022) 54–69.
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Paul Tillich reflektiert also nicht nur modernen Tanz theologisch, sondern knüpft an eine jahrzehntelange Tanztheologietradition in der Tanzmoderne selbst an. Bis in die Architektur seines Arguments hinein wiederholt er bekannte Annahmen einer angeblichen vormaligen Nähe von Tanz und Religion und einer möglichen religiösen Dimension von Tanz, wie sie als Selbsttheologisierung von TänzerInnen und ChoreographInnen bereits vor ihm formuliert wurden. Einigendes Band zumindest der christlich geprägten Tanzmoderne ist dabei die Trias von Urstand, Fall und Erlösung, die als heilsgeschichtliche Denkstruktur aus dem christlichen Kontext entlehnt und auf das Verhältnis von Tanz und Religion appliziert wird. Auf den Urstand, die primordiale Symbiose von Tanz und Religion, folgt in kulturpessimistischer Sicht die Analyse eines angeblichen Verfalls der gegenwärtigen Gesellschaft, die sich in der Abwertung von Tanz und Körperlichkeit äußert. Die Zukunft aber gehört der Erlösung, einem Wiederbringen der„lost unity“ von Tanz und Kult,²³ die von den ProtagonistInnen der religiös aufgeladenen Tanzmoderne mit dem eigenen künstlerischen Schaffen gleichgesetzt wird. Diese soteriologische Selbstaufwertung kann im Einzelfall Züge einer messianischen Hybris annehmen, etwa wenn der Choreograph Ted Shawn nach der Aussage seiner früheren Schülerin und späteren Choreographiekollegin Doris Humphrey (1895– 1958) im Jahr 1928 von sich behauptet: „I am the Jesus Christ of the dance.“²⁴
3 Gertrud Steinweg Im Dance Magazine-Beitrag nähert sich Tillich den Begegnungen mit dem Ausdruckstanz während seiner Dresdner Zeit in einer Sprache, die sich eng an das ästhetische Selbstverständnis dieses Bereichs der Tanzmoderne anlehnt. Hierbei spricht Tillich nicht nur von Ausdruck und Körper, sondern von der Organisation des Raumes und der Verkörperung von Rhythmen. Die deutsche Übersetzung Renate Albrechts gibt dies wieder als ein Nachdenken über die Frage, wie „der Rhythmus in sichtbare Bewegung umgesetzt“ (GW XIII, 134) wird. Dagegen heißt es 1957 im englischen Original in tanzphilosophisch genauer Terminologie: The expressive power of the moving body, the organization of space by dancers (individuals and groups), the rhythms embodied in visible movements, the accompanying sounds expressing the idea and the passion behind the dance: all this became philosophically and religiously significant for me. It was a new encounter with reality in its deeper levels.²⁵
23 Dance Magazine 31:6 (1957) 20. 24 D. Humphrey, An Artist First. An Autobiography, hg. von S.J. Cohen, Middletown 1972, 63. 25 Dance Magazine 31:6 (1957) 20.
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Tillich schließt mit diesen Formulierungen an frühere Texte zur Tanzmoderne an, allen voran an seinen vermutlich zwischen 1926 und 1928 erschienenen Beitrag Die gemeinschaftsstiftende Kraft des Tanzes. Beitrag zum Prospekt der Tanzgruppe Gertrud Steinweg (GW XIII, 134–137).²⁶ Interessanterweise geht dieser frühe Text nicht auf das Verhältnis von Tanz und Religion ein und entwirft auch keine Theologie des Ausdruckstanzes. Stattdessen interessiert sich Tillich für die Relation der einzelnen TänzerInnen zur Gruppe und deutet diese mit hohem metaphorischem Aufwand aus: Die Eigenbewegung jedes einzelnen in einer übergreifenden, fast mystischen Einheit, die Vieltö nigkeit auf einheitlichem Grundton, die gleiche Entfernung von exzentrischer Individualität und bloßer Gruppenmechanik, das ist der Kern des Neuen, das die Steinweg-Gruppe anstrebt und zum Teil verwirklicht. (GW XIII, 136)
Doch wer war Gertrud Steinweg? In der Tillich-Forschung bisher kaum beachtet wurde dabei die Tatsache, dass mit ihr und Mary Wigman zwar zwei Vertreterinnen des Ausdruckstanzes benannt werden, die sich allerdings in ihrer künstlerischen Bedeutung stark voneinander unterscheiden. Steinweg und Wigman in einem Atemzug zu nennen, wie dies in Darstellungen zu Tillichs Dresdner Zeit häufig geschieht,²⁷ suggeriert eine künstlerische Gleichrangigkeit zwischen beiden Choreographinnen, die von der Tanzgeschichte in keinem Fall gedeckt wird. Denn während Mary Wigman zu den einflussreichsten Figuren der deutschen Tanzwelt gehört, ist die zweite Tänzerin und Choreographin, Gertrud Steinweg, nahezu unbekannt. Entsprechend scharf fällt denn auch das tanzkritische Urteil Leonie Dotzler-Möllerings aus, die Steinwegs Arbeit als „sektiererisch, zu intellektuell, zu gedankenbeschwert, nicht tänzerisch genug“ (GW XIII, 561) charakterisiert. Am 17. Juli 1899 in Halle an der Saale geboren, wird Gertrud Steinweg nach dem Abitur zunächst als Turnlehrerin ausgebildet, um dann von 1923–1926 an der Wigman-Schule in Dresden künstlerischen Tanz und Regie zu studieren.²⁸ In den folgenden beiden Jahren nimmt sie Unterricht in Klassischem Ballett bei Olga Preobrajenska in Paris und bei Nikolai Legat in London und ist dann von 1927–1931 am Stadttheater Aachen als „Bewegungsregisseurin“ bzw. „Tanzleiterin und Solo26 Zum genauen Titel und zur Datierung des Textes vgl. GW XIII, 585. 27 Z. B. W. Schüßler, „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, Tillich-Studien 1, Münster 1999, 25. Schüßler erwähnt in diesem Zusammenhang, dass Tillich gemeinsam mit Heinrich Goesch (1880–1930), nicht nur Aufführungen, sondern auch Proben der Tanzgruppe Gertrud Steinwegs besucht (ebd.). Im Interview mit Renate Albrecht erinnert sich Gertrud Steinweg, „daß sich Tillich vor allem für ihre Gruppentänze ,Meßgesänge‘ interessiert habe, die nach gregorianischer Musik getanzt wurden.“ (GW V, 178) 28 Zur Biographie Gertrud Steinwegs vgl. Deutsches Tanzarchiv Köln Bio 164 [Stand: 26.10. 2022].
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tänzerin“ beschäftigt.²⁹ Während des Nationalsozialismus folgen Engagements am Nationaltheater Mannheim, den Städtischen Bühnen Breslau sowie den Stadttheatern Dortmund, Posen und Wuppertal-Barmen. Nach ihrer Flucht von Breslau nach Halle/Saale gründet sie dort „ein eigenes Tanzensemble und eine Ballettschule mit Ausbildungsklassen fü r Bü hnentanz“;³⁰ es folgen Engagements an der Städtischen Oper Leipzig und an der Komischen Oper Berlin. Gertrud Steinweg stirbt am 5. August 1976 im Alter von 77 Jahren in Bad Honnef. Für die Mitte der 1920er Jahre ist in Dresden die pädagogische Arbeit Gertrud Steinwegs nachweisbar. Ihre Tanzgruppe bietet in Dresden-Neustadt, in der Stolpener Str. 411 „Laienkurse fü r tä nzerische und hygienische Gymnastik fü r Erwachsene und Kinder“ mit einem Kursprogramm,³¹ das die Prinzipien des Ausdruckstanzes in nuce zusammenfasst. So sollen die „Improvisationsstunden in Gruppen- und Einzelunterricht […] auch dem Laien die Möglichkeit geben aus Freude an der Bewegung heraus Gestalt und Ausdruck zu finden.“³² Die tänzerische Gymnastik dagegen dient der „Entwicklung des jedem Menschen eigenen Gefühls für Rhythmus, Raum und Zusammenklang der Bewegung“;³³ Lernziel ist es hier, „sich seines Körpers als Ausdrucksmittel zu bedienen und aus der Bewegung zu gestalten.“³⁴
4 Absoluter Tanz Besonders charakteristisch in Steinwegs programmatischem Text ist nicht nur die Verortung des Ausdruckstanzes in der Körperkulturbewegung und die dem Einbezug des Laientanzes vorausgehende Annahme einer gleichzeitig individuellen, aber universal verbreiteten Bewegungsbegabung. Es ist vielmehr die im Text Steinwegs wiederholt anklingende Verknüpfung von Gestalt- und Ausdrucksphilosophie, die dem Ausdruckstanz zugrunde liegt. Entgegen dem Missverständnis, dass im Tanz eigene Gefühle ausgedrückt würden, begreift der Ausdruckstanz den Ausdruck vielmehr als einen überindividuellen und zeitungebundenen Aspekt von Realität, dem über Bewegung Gestalt gegeben wird: Im Ausdruckstanz wird gleichsam Ausdruck ausgedrückt. Mary Wigman formuliert diesen grundlegenden
29 Ebd. 30 Ebd. 31 Tanzgruppe Steinweg, Laienkurse für tänzerische und hygienische Gymnastik für Erwachsene und Kinder, Dresden 1925. 32 A. a.O., 3. 33 A. a.O., 1. 34 Ebd.
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Gedanken mit einem gegenüber Gertrud Steinweg ungleich gesteigerten expressionistischen Pathos wie folgt: Was wir tanzen? Nicht ,Gefühle‘ tanzen wir! Sie sind schon viel zu fest umrissen, zu deutlich. Den Wandel und Wechsel seelischer Zustände tanzen wir, wie sie als rhythmisch bewegtes Auf und Ab im Menschen lebendig sind. Die Inhalte des Tanzes und des Tanzkunstwerks sind die gleichen wie die der übrigen gestaltenden und darstellenden Künste: Es geht hier wie dort um den Menschen und sein Schicksal. Nicht um das Schicksal des Menschen von heute, von gestern, oder von morgen! Sondern das Schicksal des Menschen in seiner unvergänglichen und in dauerndem Wechsel begriffenen Erscheinung. In all seinen vielfältig schillernden Äußerungen, von der grellsten Realistik bis zur sublimiertesten Abstraktion, in seinen Wandlungen, Verkettungen, Kämpfen, Nöten, Erfüllungen wird dieses Menschentum im Tanz Gestalt und zur Darstellung gebracht.³⁵
Diese Philosophie des Ausdruckstanzes ähnelt in verblüffender Weise Tillichs Verständnis expressionistischer Kunst, zu der er in Abweichung kunstgeschichtlicher Klassifizierung auch Strömungen wie „Futurismus, Kubismus und Konstruktivismus“ zählt.³⁶ Ähnlich, wie für Wigman im Tanz, und spezifisch im Ausdruckstanz, das „Menschentum“ Gestalt wird,³⁷ so zeigt sich für Tillich im Expressionismus „der Durchbruch durch die in sich ruhende Form des Daseins. Nicht eine jenseitige Welt wird dargestellt, wie in der Kunst der Alten, sondern ein inneres Hinausgehen der Dinge über sich selbst ins Jenseitige.“ (GW X, 34) In beiden Ansätzen, bei Tillich und bei Wigman, ist Ausdruckskunst daher keine forcierte Darstellung metaphysischer Inhalte; vielmehr gibt sich umgekehrt diese Metaphysik in der Kunst eine Gestalt und bringt sich im Durchbruch durch die Form oder im Absoluten des Tanzes selbst zur Darstellung. Der Begriff absoluter Tanz ist historisch vor allem mit der künstlerischen Position Mary Wigmans verbunden. Auch wenn angenommen werden kann, dass Wigman diesen Begriff in der Auseinandersetzung mit Paul Tillichs Rede vom Unbedingten geschärft hat,³⁸ ist er dennoch älter. Bereits 1924, bevor Tillich in die Tanzstadt Dresden wechselt, veröffentlicht der Tanzkritiker Artur Michel in der Vossischen Zeitung eine Eloge auf Mary Wigman mit dem Titel Der absolute Tanz. ³⁹
35 M. Wigman, Tanz, in: dies., Das Mary Wigman-Werk, hg. v. R. Bach, Dresden 1933, 19–20, bes. 19. 36 H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Theologische Bibliothek Töpelmann 46, Berlin/New York 1989, 189. 37 M. Wigman, Tanz, 19. 38 Vgl. A.H. Schwan, Expression, Ekstase, Spiritualität. Paul Tillichs Theologie der Kunst und Mary Wigmans Absoluter Tanz, in: D.E. Fischer/T. Hecht (Hg.), Tanz, Bewegung & Spiritualität, Jahrbuch Tanzforschung 19, Leipzig 2009, 214–226, bes. 221. 39 A. Michel, Der absolute Tanz, Vossische Zeitung, Berlin Nr. 60, 5. 2.1924, in: F.-M. Peter (Hg.), Die Tanzkritiken von Artur Michel in der Vossischen Zeitung von 1922 bis 1934 nebst einer Bibliographie
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Und von Wigman unabhängig verwenden ihre ZeitgenossInnen den Begriff, um Bühnentanz ohne Bezug zu Text und Narration, mitunter selbst unter Loslösung von Musik zu bezeichnen.⁴⁰ Diese Terminologie eines absoluten Tanzes mag an das Bewegungsverständnis des späteren postmodernen Tanzes erinnern, „wonach Bewegungen um der Bewegung willen gezeigt werden“,⁴¹ doch ist Ausdruckstanz als absoluter Tanz nie frei von Inhalt, sondern im Gegenteil immer von einem Bezug zu großen und größten Themen gekennzeichnet. So formuliert Artur Michel in seinem Text Der absolute Tanz: Von den urtümlichen Formen orgiastischer Kulte bis zu den sublimen Formen heroischer Gottnähe, von den ungebrochenen Gefühlsstürmen des primitiven bis zu den gebrochensten Regungen des modernen Menschen hat dem neuen Tänzer alles Menschliche vertraut werden können. Dies alles zunächst nicht im inhaltlich-stofflichen Sinne verstanden, sondern als Symbol tänzerischer Spannungen.⁴²
Und weiter charakterisiert Michel die doppelte Absolutheit des neuen Tanzes, seine Unabhängigkeit von Narrativität und Musik, als Rückkehr zur primordialen Einheit von Tanz und Religion: So ist der neue Tanz absoluter Tanz in einem doppelten Sinne. Er entsprießt nicht dem (intellektuell bestimmten) Willen zu irgendwelcher programmatischen Vergegenständlichung […]. Der neue Tanz ist aber auch absoluter Tanz in dem Sinne, daß er sich der Musik über-, nicht unterordnet, wie er von ihr in seiner Entstehung unabhängig ist. Die Musik ist ihm Hilfe und Stütze, nicht umgekehrt, er [sc. der Tanz] Erläuterung oder Ergänzung der Musik. Auch hiermit kehrt der Tanz zu seinen religiösen Ursprüngen zurück.⁴³
Der nach Artur Michel besondere Bezug auf metaphysische Inhalte im Ausdruckstanz bzw. im neuen oder absoluten Tanz passt wiederum zu Tillichs Verständnis des Expressionismus. Geht es für Tillich bei der ästhetischen Anschauung darum, „den Gehalt der Dinge durch die Formen hindurch zu erfassen.“ (GW I, 248), so könnte Gleiches auch für den Ausdruckstanz gelten. Gerade dessen geometrische Formensprache, die Betonung eckiger Bewegungen und das Spiel mit der Imagination von in den Raum gezeichneten und geschriebener Figuren, ließe sich daher
seiner Theaterkritiken, mit einer biographischen Skizze über Artur Michel von Marion Kant, Studien und Dokumente zur Tanzwissenschaft 7, Frankfurt a. M. 2015, 111–115, bes. 111. 40 B. Ochaim, Der absolute Tanz. Tänzerinnen der Weimarer Republik in Berlin, in: dies./J. Wallner (Hg.), Der absolute TANZ. Tänzerinnen der Weimarer Republik, Berlin 2021, 35–45, bes. 36. 41 Y. Hardt, Politische Körper. Ausdruckstanz, Choreographien des Protests und die Arbeiterkulturbewegung in der Weimarer Republik, Münster, 2004, 2. 42 Michel, Der absolute Tanz, 112. 43 A. a.O., 115.
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einordnen in Tillichs Sicht auf den Expressionismus, bei dem „sich der Durchbruch durch die in sich ruhende Form des Daseins“ (GW X, 34) zeigt. Allerdings schließt Tillichs eigenwillige und aus kunstgeschichtlicher Sicht nicht haltbare Ausdehnung des Expressionismus den Ausdruckstanz wie auch darstellende expressionistische Kunst nicht ein.⁴⁴ Seine Ausführungen zu Religion und Kunst, etwa die während der Dresdner Zeit 1925/1926 gehaltene Vorlesung zu diesem Thema, erwähnen den Begriff Tanz nicht, sondern konzentrieren sich vornehmlich auf bildende Kunst (vgl. EW XX, 1–36). Gleichwohl können Tillichs Thesen zum Ausdruck in der Kunst und insbesondere im Expressionismus auf den Tanz als Ausdruckskunst angewandt werden, gerade im Lichte des späten Dance Magazine-Textes, in dem Tillich beide, Ausdruckstanz und bildende expressionistische Kunst, zusammendenkt: „In unity with the great German expressionist painters, whose works and whom one frequently encountered in Dresden at that time, it [dance] inspired my understanding of religion as the spiritual substance of culture and of culture as the expressive form of religion.“⁴⁵
5 Deutsche Tanzkunst Gertrud Steinweg hat sich als Vertreterin des Ausdruckstanzes nicht öffentlich gegen den Nationalsozialismus positioniert, sondern auch in der Zeit von 1933–1945 im deutschen Stadttheatersystem gearbeitet. Und anders als die deutschen und österreichischen jüdischen TänzerInnen, die den Nationalsozialismus nur durch Flucht überlebten, musste sie nicht emigrieren, sondern verblieb im deutschen Kontext. Damit hatte sie keinen Anteil an der internationalen Verbreitung der deutschen und österreichischen Tanzmoderne – anders als ihre KollegInnen, die über die Emigration den Ausdruckstanz und die damit verbundenen Ideen nach Nord- und Südamerika, Neuseeland, Australien und das damalige Mandatsgebiet Palästina brachten. Gertrud Steinweg und, trotz ihres internationalen Renommees auch Mary Wigman, zählen nicht zu diesen TanzemigrantInnen und verpassen damit die der Tanzmoderne bis in die Bewegungssprache hinein inhärente Auseinandersetzung mit Aspekten von Migration, Diaspora, Flucht und Überleben. An deren Stelle treten, vor allem bei Wigman, ein Festhalten an Normen des Identi-
44 Zur kunsthistorischen Kritik an Tillichs Expressionismusverständnis vgl. Th.F. Mathews, Tillich on Religious Content in Modern Art, in: Art Journal 27 (1967) 16–19, bes. 17; W. Schüßler/E. Sturm, Paul Tillich: Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 66 f.; A.M. Opel, „Stil“ ist nicht gleich „Stil“: Das Unbehagen der Kunstwissenschaft mit Paul Tillichs ‚Theologie der Kunst‘, in: International Yearbook for Tillich Research 9 (2014), 193–208. 45 Dance Magazine 31:6 (1957) 20.
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tären und Völkischen und eine Idealisierung von Natürlichkeit, die in der gesuchten Betonung von Schwerkraft, Bodennähe und Erdverbundenheit Züge einer paganreligiösen Aufladung annehmen kann. 1935, wenige Jahre nach der gemeinsamen Zeit in Dresden – Tillich ist zu diesem Zeitpunkt bereits in den USA – veröffentlicht Mary Wigman mit Deutsche Tanzkunst ihre stärkste und deutlichste Unterstützung des Nationalsozialismus.⁴⁶ Wigmans abgründiges Plädoyer für einen deutschen Tanz fußt dabei auf einer pagan-christlichen Tanz- und Theaterreligiosität. In ideologischer Nähe zu den Deutschen Christen und in einer mit dieser vergleichbaren Elimination aller jüdischen Gedanken im Reden von Gott schreibt Wigman: Überall dort, wo Religion, Kult, Weltanschauung das Leben eines Volkes, einer Rasse, eines Stammes einheitlich bestimmten, blühte das Theater als Stätte des festlichen Ausdrucks gemeinsamer Erhebung. […] Das Theater war Kultstätte und das Theatergeschehen Symbolgeschehen, von allen erlebt, von allen geglaubt und von allen verstanden. Das Theater galt sowohl dem Menschen als auch dem Gott. Der Gott sprach im Symbol zum Menschen, und der Mensch ward Symbolträger, Mittler zwischen der durch den Gott repräsentierten Idee und der dieser Idee verbundenen Gemeinde.⁴⁷
Im Folgenden beschreibt Wigman, wie die Sehnsucht nach der Wiederbringung dieser kultischen Dimension von Theater und Tanz gerade im Zeitkontext des Nationalsozialismus an Relevanz gewinnt: Wir haben für diese Legende gewordene und doch so selbstverständlich scheinende Verankerung des Theaters im Gesamtleben eines Volkes wohl wieder ein Empfinden, ja, sie ist die überall lebendige Sehnsucht unserer Zeit.⁴⁸
Verbunden wird dies anschließend von Wigman mit der Subsumierung des Individuums unter die „Volksgemeinschaft“ und die Befolgung eines Führerprinzips: Der oft geschändete Begriff der Gemeinschaft ist kein Wahn. Wir täuschen uns nicht, wenn wir unserer Zeit gemeinschaftsbildende Kräfte zusprechen. Sie sind da und überall auffindbar. Der Gemeinschaft im produktiven Sinne liegt stets eine von allen Beteiligten anerkannte Idee zugrunde. Die Gemeinschaft setzt Führerschaft und Anerkennung der Führerschaft voraus. […] Ehe nicht das Theatergeschehen im wahrhaftigsten Sinne wieder Gemeinschaftsgeschehen geworden ist, ehe nicht an Stelle des Publikums wieder die Volksgemeinschaft tritt, die sich
46 Vgl. hierzu im Folgenden A.H. Schwan, Chorform der Erlösung. Theologische Gemeinschaftskonzepte in der Tanzmoderne, in: J. Bodenburg/S. Spreckelmeier (Hg.), Liturgische Chö re – Politische Kollektive, Dortmund 2023, im Erscheinen. 47 M. Wigman, Deutsche Tanzkunst, Dresden 1935, 67 f. 48 A. a.O., 68.
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mitverantwortlich weiß für das, was das Theater aussagt, eher kann sich das Theater auch nicht aus dem Zustande der Isoliertheit erlösen, unter dem es heute leidet.⁴⁹
6 Nein über die Zeit Tillich hat seine Theologie des Ausdruckstanzes nicht näher entfaltet. Sie kulminiert daher lediglich im Verweis auf seinen Kontakt mit dem Ausdruckstanz, „eine neue Begegnung mit der Wirklichkeit in ihren tieferen Schichten“, die sein „Verständnis von Religion tief beeinflußte – Religion als die geistige Substanz der Kultur und Kultur als die Ausdrucksform der Religion.“ (GW XIII, 136) So ist Tillichs Ausdruckstanztheologie Teil seiner Theologie der Kultur und insbesondere seiner Verhältnisbestimmung von Religion und Kunst.⁵⁰ Seine Dresdner Vorlesung zu diesem Thema im Wintersemester 1925/26 ist dabei in ihrem Kunstverständnis auch von der Begegnung mit dem Ausdruckstanz beeinflusst. Nach Tillich schafft Kunst – und Tanz wäre hineinzulesen – „Formen, in denen der Bedeutungsgehalt der Dinge als solcher zum Ausdruck kommen soll; sie stößt dabei auf die unbedingte Bedeutungstiefe und ist in dem Maße Kultur, als sie es tut.“ (EW XX, 21) Auch Tillichs bemerkenswerte Auffassung, dass Kunst „als Kunst ohne Beziehung zur Religion religiös sein“ (ebd.) kann, ja sein muss, wäre auf den Ausdruckstanz zu übertragen. Im notwendigen Fehlen eines vordergründigen Bezuges zur Religion kommt Kunst bzw. Tanz eine kritische Funktion zu, die verlorengeht, wenn Kunst sich selbst zur Religion erhebt. So deutet Tillich 1926 die Gefahr an, die darin liegt, Ausdruckstanz zu forciert als „kultischen Tanz“ zu inszenieren und „Kultus in engerem Sinne zu schaffen“ (GW X, 36). Dass genau dies zehn Jahre später im nationalsozialistischen Deutschland geschieht, mit Mary Wigman als Choreographin für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936, wird von Tillich nicht mehr reflektiert und bleibt daher im Dance Magazine-Beitrag ausgespart. Dabei ist genau dies der Punkt, an dem eine theologische Kritik Wigmans notwendig ist, sollen ihre Subsumierung des Individuums unter die Gemeinschaft und ihr anti-
49 A. a.O., 64 f. 50 Vgl. hierzu in Auswahl: M. Palmer, Paul Tillich’s Philosophy of Art, TBT 41, Berlin/New York 1983, 1–36; M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, HUTh 38, Tübingen 2000, 13–101; R. Re Manning, Theology at the End of Culture. Paul Tillich’s Theology of Culture and Art, Studies in Philosophical Theology 27, Leuven [u. a.] 2005, 107–152; C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte, Probleme, Perspektiven, Tillich Research 1, Berlin [u. a.] 2011; W. Schü ßler, „Das Ewige im Jetzt“. Zum Verhä ltnis von Kunst und Religion im Denken Paul Tillichs, in: International Yearbook for Tillich Research 9 (2014) 165–192.
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theonomes Streben, Religion und Tanz durch eigenes Tun zu verbinden, nicht durch Schweigen legitimiert werden. Alle drei Aspekte, die latente Bewunderung für Mary Wigmans Kollektivismus, die von Tillich geahnte, in ihrer späteren Realisierung aber nicht mehr analysierte Gefahr und das Potential ihrer theologischen Kritik, fallen zusammen, wenn er zu Wigman schreibt: Ihre Gruppentänze deuten auf eine Überwindung des Individualismus, die Figuren erstreben eine innere Erfüllung und Organisation des Raumes, die Ausdruckshandlungen suchen metaphysische Tiefen zu offenbaren. Das alles ist in den Anfängen, und es würde sofort aufs schwerste gefährdet werden, wenn es von sich aus versuchen würde, Kultus in engerem Sinne zu schaffen. – Und dieser Satz gilt für die ganze Sphäre der bildenden Kunst. Sie kann vorhandenen metaphysischen Gehalt zum Ausdruck bringen, aber sie kann nicht selbst welchen schaffen. Es ist die Unzulänglichkeit aller falschen Romantik im Künstlerischen, Wissenschaftlichen und Sozialen, daß sie von der Form her den unbedingten Gehalt herbeizwingen, d. h. aber die Ewigkeit durch eine Bewegung in der Zeit fassen und fixieren will. […] Ewigkeit ist zuerst Nein über die Zeit, Erschütterung der Gegenwart, und nur, soweit sie das ist, können endliche Formen auf das Ewige hinweisen. (GW X, 36 f.)
Angesichts des differenztheologisch argumentierenden Verweises auf das „Nein über die Zeit“ kann Tanz bei Wigman nicht als direkte Umsetzung von Tillich Theologie verstanden werden. Naiv mutet daher folgender Versuch an, Wigmans Gruppenchoreographien als Vorwegnahme des Neuen Seins deuten zu wollen: Im feingliedrigen Gesamtkunstwerk der Tänzerinnen und Tänzer der Wigman-Schule zeichnen sich die kleinen Einzelzüge in der Antizipation des Neuen Seins durch kreative Differenz aus […]. Bestimmend ist der individuelle Selbstausdruck, den jeder und jede durch seine ekstatische Kreativität, Leidenschaft, Gestaltungsfähigkeit und Sensibilität in eine organischfließend getanzte, vielstellig gestaltete leibliche Gemeinschaft einbringt.⁵¹
Diese Interpretation ist tanzwissenschaftlich fragwürdig, insofern sie Ideale von Singularität und Differenz, die erst seit dem Postmodern Dance ästhetisch relevant sind,⁵² in die choreographische und pädagogische Arbeit Wigmans hineinspiegeln. Auch geht es Wigman bereits in den 1920er Jahren nicht um Selbstausdruck und ist die Charakterisierung ihrer Gruppenchoreographien als Gesamtkunstwerk tanz-
51 T. Rösler, Paul Tillichs vieldimensionale Anthropologie. Von der Cartesianischen Vernunft zur lebendigen Person, Neukirchen-Vluyn 2013, 306. Rösler ignoriert jede tanzwissenschaftliche Literatur zu Mary Wigman und stützt sich in ihrer Darstellung stattdessen auf Wigman-Interpretationen des französischen Philosophen und verurteilten Holocaust-Leugners Roger Garaudy, die sie im Wortlaut zitiert (a. a.O., 302 f.). 52 A.H. Schwan, Schrift im Raum. Korrelationen von Tanzen und Schreiben bei Trisha Brown, Jan Fabre and William Forsythe, TanzScripte 47, Bielefeld 2022, 59 f.
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wissenschaftlich ebenso unhaltbar wie die terminologische Verwechslung von Leib und Körper. Angesichts von Wigmans ideologischer Annäherung an den Nationalsozialismus schon in Deutsche Tanzkunst (1935), ihrem alles andere als subversivem choreographischem Wirken im NS-Staat und ihrem offenen Antisemitismus,⁵³ erscheint es aber vor allem verfehlt, ihre Ästhetik theologisch zu überhöhen. Tanz bei Wigman ist gerade keine Vorwegnahme des Neuen Seins, und der Versuch, ihrer choreographischen und pädagogischen Arbeit eine heilsgeschichtliche Dimension zuzuschreiben, muss – auch und gerade angesichts der Ausdruckstanztheologie Tillichs – zurückgewiesen werden.
7 Anna Halprin Weit mehr als im Feld der Theologie, wo in den 1950er Jahren die Debatte um Körper und Ausdrucksbewegung kaum geführt wurde, beeinflusst Tillichs Kunsttheologie die US-amerikanische Tanzwelt. Bereits im Oktober 1956, ein halbes Jahr vor dem Dance Magazine-Artikel, nimmt Anna Halprin (1920–2021), eine der wichtigsten Tanzpersönlichkeiten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, auf Tillich Bezug.⁵⁴ Gebeten, ihr Verständnis von Tanz und Religion in einem öffentlichen Vortrag in der First Congregational Church of Berkeley darzulegen, geht sie zu Beginn ihres Vortrags am 31. Oktober 1955 ausführlich auf Tillich ein und zitiert wörtlich aus seiner Schrift Existentialist Aspects of Modern Art: „Religion means being ultimately concerned, asking the question of ,to be or not to be‘ with respect to the meaning of one’s existence, and having symbols in which this question is answered. This is the largest and most basic concept of religion.“⁵⁵ Auf der Basis des Tillich’schen Religionsverständnisses folgt dann Halprins Relationierung von Tanz und Religion, die wiederum – auch sie steht hier in der Tradition der frühen Tanzmoderne – mit einem Rekurs auf die angeblich primordiale Union von Tanz
53 Vgl. hierzu etwa in deutscher Sprache M. Kant, Annährung und Kollaboration. Tanz und Weltanschauung im Dritten Reich, in: Tanzjournal 3 (2003) 13–23; sowie in englischer Sprache S. Manning, Modern Dance in the Third Reich, Redux, in: N. George-Graves (Hg.), The Oxford Handbook of Dance and Theatre, New York 2015, 395–411. 54 A. Halprin, Dance & Religion, Anna Halprin Papers 2–4 Performances, Halprin-MPD, Museum of Performance and Design, Performing Arts Library. Vgl. zu Halprin vor allem J. Ross, Anna Halprin. Experience as Dance, Berkeley 2007; N.D. Bennahum/W. Perron/B. Robertson, Radical Bodies. Anna Halprin, Simone Forti, and Yvonne Rainer in California and New York, 1955–1972, Santa Barbara/ Oakland 2017. 55 Halprin, Dance & Religion, 1f. Siehe P. Tillich, Existentialist Aspects of Modern Art, in: C. Michalson (Hg.), Christianity and the Existentialists, New York 1956, 128–147, bes. 132.
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und Religion beginnt: „Early man did not preach his religion – he danced it. To early man, dance was a powerful form of magic.“⁵⁶ Dieser Rekurs passt zu den choreographischen Arbeiten Halprins dieser Zeit, allen voran ihre vielfach photographierte Tanzarbeit The Prophetess (1947) zur Geschichte der biblischen Prophetin Deborah (Ri 4 f.): „The dance is based on the story of Deborah, who in Biblical times, fought for the Israelites in Palestine and triumphed. The dance is presented as a ritual in three moods. Inner Conviction… Proclamation… Victory.“⁵⁷ Halprin steht in der Wahl dieses Sujets als Grundlage für eine Tanzarbeit nicht allein, sondern partizipiert an einem choreographischen Trend unter jüdischen Tänzerinnen in den USA und Israel, die sich auf der Bühne – direkt oder indirekt vom mitteleuropäischen Ausdruckstanz beeinflusst – mit weiblichen biblischen Figuren auseinandersetzen. Halprins Tanzsolo zur Geschichte der Prophetin Deborah mit ihrer Betonung jüdischer Resilienz und der Befreiung aus der Gewaltherrschaft Jabins kann dabei – gerade im Jahr der Premiere 1947 – auch als choreographische Antwort auf den Holocaust verstanden werden. Halprin selbst sieht diese Arbeit darüber hinaus als Auseinandersetzung mit ihrer eigenen jüdischen Identität: „It was my first attempt to create a dance of who I am as a subject, my personal life story as a Jewish dancer.“⁵⁸ Tillich reagiert nicht direkt auf Halprins Referenz zu seinem Denken, und fraglich ist, ob er vom Vortrag in der First Congregational Church of Berkeley, einem der größten Kirchengebäude in unmittelbarer Nähe des University of California Campus erfahren hat. Aber allein die Tatsache, dass eine Choreographin an der Westküste der USA auf Tillich rekurriert – und zwar nicht auf seine wenigen frühen Ausführungen zum Ausdruckstanz, sondern auf seinen Religionsbegriff und sein Kunstverständnis –, zeigt das Interesse der US-amerikanischen Tanzwelt an Tillich und gibt einen Hinweis auf die Motivation des Dance Magazine, gerade Tillich als protestantischen Vertreter am Symposium The Dance: What It Means To Me zu beteiligen. Die knappen, aber inhaltsreichen Ausführungen, die Tillich im Rahmen dieses Symposiums gibt, stehen daher nicht für sich allein, sondern müssen auf der Basis der philosophischen und theologischen Texte Tillichs verstanden werden, die
56 Halprin, Dance & Religion, 2. 57 Halprin-Lathrop Dance Company, „Program for the Halprin-Lathrop Dance Company, 1953“, Anna Halprin Digital Archive, https://annahalprindigitalarchive.omeka.net/items/show/1693 [01.02. 2023]. 58 A. Halprin, Performances, https://www.annahalprin.org/performances [01. 2. 2023]. Vgl. auch Halprins Selbstaussage: „I don’t do anything that’s un-Jewish. I’m Jewish. I’m very Jewish.“, in: N.D. Bennahum, Anna Halprin’s Radical Body. Ethics, Empowerment, and the Environment. Ninotchka Bennahum in Conversation with Anna Halprin, in: N. Jackson/R. Pappas/T. Shapiro-Phim (Hg.), The Oxford Handbook of Jewishness and Dance, New York 2022, 430–465, bes. 455.
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wiederum eine Tänzerin und Choreographin wie Anna Halprin dazu bewogen hat, ihre Verhältnisbestimmung von Tanz und Religion auf Tillich zu stützen.
8 Coda Tillich selbst nimmt vier Jahre vor seinem Tod noch einmal den Kontakt zu Mary Wigman auf. Er sendet ihr einen Gruß zu ihrem 75. Geburtstag am 13. November 1961. Der in Tillichs Nachlass in der Harvard Divinity School Library befindliche Brief ist seine vermutlich letzte schriftliche Äußerung zum Tanz. Bemerkenswert ist hierbei auch das Schweigen Wigmans, denn in ihrem Nachlass in der Akademie der Künste Berlin findet sich kein Hinweis auf Tillichs Namen, und es muss offenbleiben, ob und wie Wigman auf Tillichs Geburtstagsgruß reagiert hat. Dass die gemeinsame Zeit in Dresden und Tillichs Denken auf der Seite Wigmans keinen schriftlichen Nachhall gefunden haben, passt zu dem Kontaktabbruch, der sich aus Tillichs Brief schließen lässt. Denn offenbar hat Tillich aufgrund seiner Emigration und der getrennten Lebenswege den engen Kontakt zu Mary Wigman verloren oder bewusst reduziert. Er freut sich zwar, sie Mitte der 1950er Jahre wiederzusehen, lässt dann aber wieder mehrere Jahre verstreichen, bevor er ihr schreibt: Liebe Mary Wigman, Als Gleichaltriger, der in diesem Jahr am 20. August seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, moechte ich Ihnen meine herzlichen Glückwünsche senden. Es war mir eine wirklich grosse Freude, Sie vor wenigen Jahren mit Hilfe von Cora wiederzusehen und zwar in der vollen Frische Ihrer offenbar unbesiegbaren Vitalitaet. Sie haben der Menschheit vieles gegeben, wovon ich manches auch fuer meine theologische und philosophische Arbeit fruchtbar machen konnte. Haben Sie Dank dafuer. Und ich hoffe, dass ich Sie doch noch einmal auf einem meiner Besuche in Deutschland wiedersehen werde. In Erinnerung an lang vergangene Zeiten Ihr Paul Tillich.⁵⁹
In seinem kurzen Geburtstagsbrief mischt sich eine spürbare Distanz zu Wigman mit einer erneut vorgetragenen Bewunderung für ihre künstlerische Arbeit. Obwohl mit Wigmans Deutsche Tanzkunst (1935) eine in Buchform publizierte Unterstützung des Nationalsozialismus vorlag und ihr choreographisches Mitwirken bei den Eröffnungsfeierlichkeiten der Olympischen Spiele in Berlin 1936 öffentlich bekannt war, würdigt Tillich Wigmans Arbeit mit eigentümlichem Pathos. Und dennoch läßt sich sich aus seinem Brief eine Distanzierung herauslesen, wenn er schreibt, wie er nur „manches“ aus Wigmans Schaffen für seine „theologische und
59 P. Tillich, Brief an Mary Wigman, 08.11.1961, in: Paul Tillich Papers, bMS 649/204 (43), Harvard Divinity School Library, Harvard University.
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philosophische Arbeit fruchtbar machen konnte“.⁶⁰ Statt einer vollständigen Bejahung ihrer künstlerischen Arbeit und einer passiven Hingabe an ihren Einfluss ist es Tillich, der aus Wigmans Beitrag zur Tanzmoderne diejenigen Aspekte auswählt, die er dann in seinem eigenen Denken verarbeitet. Seine Theologie des Ausdruckstanzes operiert mit dem genitivus objectivus: Nicht der Tanz und nicht der Körper treiben Theologie; es ist Tillich, der den Ausdruckstanz mit seiner Theologie reflektiert.
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Religion und Kunst in der Moderne Vielleicht ist es gestattet, zu Beginn einiger Überlegungen zum Wechselverhältnis von Religion und Kunst an Max Imdahl zu erinnern, der es damals an der Universität Bochum wie kein anderer verstand, Hörsäle mit seinem Charisma zu füllen. Wenn er vor mehreren hundert ZuhörerInnen über Mark Rothko sprach, oder Barnett Newmans „Who is Afraid of Red, Yellow and Blue“ erläuterte, schwang sich die Rede zu metaphysischen Höhenflügen auf, denen zu folgen den Anfängern durchaus schwer fiel. Was sich trotz oder gerade wegen der sich einstellenden Verständnislosigkeit in aller Deutlichkeit vermittelte, war das Getriebene der hermeneutischen Suchbewegung. Die Sprache Imdahls kam an den äußersten Punkten der Analysen an Ausdrucksgrenzen. Das nahm das Publikum nicht etwa als Versagen wahr, sondern akzeptierte die Intensität des Scheiterns als selbstreflexiven Erkenntnisprozess. Mit der sich da manifestierenden Sprachlosigkeit, mit dem Eingeständnis also, das Letzte, Wesentliche, Essenzielle unmöglich ausdrücken zu können, wurde eben auf dieses Letzte, Wesentliche, Essenzielle hingedeutet und der unzugängliche Rest des Bildes eigentlich zur Ausstellung gebracht. Für dieses Wesentliche, das sich des begrifflichen Ausdrucks entzog, war nach Imdahls Terminologie ein „Sehendes Sehen“ zuständig, ein Sehen, mit dem die Tiefe der Kunst hinter der schlichten Gegenstandsbezeichnung ausgemessen werden sollte. Ohne Zweifel hat Gottfried Boehms Bildwissenschaft eben dieses religiöse Forschen an der Kunst aufgegriffen und weiterentwickelt. Für Boehm ist das künstlerische Bild (nehmen wir als Beispiel eine Landschaft von Paul Cézanne) die Fügung einer unbegrifflichen und deshalb unbegreifbaren Ordnung, die jede identifizierende, das heißt semantisierende Wahrnehmung unter- oder eben überbieten muss. Boehm nutzt, wie Imdahl, Sprechweisen der „negativen“ oder – um es barocker zu formulieren – der „symbolischen Theologie“ und wendet diese auf Gegenstände moderner Kunst an. „Die begrifflichen Mittel und das konkrete Werk lassen sich für ihn nicht wirklich zur Deckung bringen.“¹ Das irreduzible Faszinosum des Bildes speist sich eben aus einem unbenennbaren Rest, der eine „spezifisch ikonische Anschauungsweise fordert“,² also nur von einem sehenden
1 G. Boehm, Die Arbeit des Blickes. Hinweise zu Max Imdahls theoretischen Schriften, in: M. Imdahl, Gesammelte Schriften, Bd. 3: Reflexion – Theorie – Methode. Frankfurt 1996, 7–41, hier: 8. 2 M. Imdahl, Ikonik. Bilder und ihre Anschauung, in: G. Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 1994, 300–324, hier: 300. https://doi.org/10.1515/9783111264332-009
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Sehen aufgesucht werden kann. Das impliziert, dass dieses arcanum einem wiedererkennenden, versprachlichendem Sehen unzugänglich bleiben muss. Was das Bild dieser Fähigkeit zum Über-Sehen „enthüllt“, so Boehm, „wird niemals gesagt werden können. Gleichwohl mangelt es an nichts, denn es zeigt sich, was es ist“.³ Der hier dargelegte Zugang zum Bild verdankt sich mit seiner auf theologische und philosophische Vorstellungen rekurrierenden Unschärfe in der Bezeichnung des sich da auf rätselhafte Weise Zeigenden vor allem einer eingehenden Auseinandersetzung mit Bildern und Theorien der Moderne, spezieller einer Auseinandersetzung mit abstrakter und dann auch gegenstandsloser Kunst, deren schreibende Praktiker, zu nennen wären vielleicht Wassily Kandinsky oder viel später Joseph Beuys, das Bild in seiner Produziertheit selbst als Medium oder Transmitter einer „eingeformten Energie“ verstehen konnten. So zeichnete sich das Kunstwerk für Kandinsky durch „ein selbständiges Leben“ aus. Für ihn war es ein geistig atmendes Subjekt, „ein Wesen“, das sich wie jedes andere Wesen durch „weiterschaffende, aktive Kräfte“ auszeichnete.⁴ Der sich damit Ausdruck gebende Wunsch, Bilder als lebende Entitäten zu verstehen oder als handelnde Wesen zu funktionalisieren, ihnen also „Lebendigkeit“ zuschreiben, oder sie als Speicher von Energie betrachten zu wollen, war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts weder neu noch originell.⁵ Neuere Forschungen haben zeigen können, wie stark sich rhetorische, theologische und ästhetische Diskurse zum lebenden oder handelnden Bild durch die Geschichte in den unterschiedlichen ideo-logischen Konfigurationen ausdifferenzieren konnten.⁶ Die gegenüber den Bildwissenschaften eines Horst Bredekamp oder Gottfried Boehm erhobenen Vorwürfe der „animistischen Bilderverehrung“,⁷ der „Antiaufklärung“⁸ oder gar des „Mystic Turn“⁹ mögen an dem
3 G. Boehm, Das Zeigen der Bilder, in: G. Boehm/S. Egenhofer/C. Spies (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2010, 19–54, hier: 29. Kritisch dazu: L. Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt 2013, 103. 4 W. Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst (1911), Bern 41952, 109. Dazu R. Zimmermann, Das Kunstwerk als Wirk-Organismus. Zur Bildtheorie der Abstraktion, in: U. Pfisterer/A. Zimmermann (Hg.), Animationen / Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte IV), Berlin 2005, 247–263, hier: 258. 5 Dazu etwa F. Fehrenbach, Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: U. Pfisterer/A. Zimmermann (Hg.), Animationen / Transgressionen, 1–40. 6 S. Bussels, The Animated Image. Roman Theory on Naturalism, Vividness and Divine Power (= Studien aus dem Warburg-Haus 11), Berlin/Leiden 2012; C. van Eck/J. van Gastel/E. van Kessel (Hg.), The Secret Lives of Artworks. Exploring the Boundaries between Art and Life, Leiden 2014. 7 D. Hornuff, Bildwissenschaft im Widerstreit. Belting, Boehm, Bredekamp, Burda, München 2012. 8 M. Büchsel, Das Ende der Bildermythologien. Kritische Stimmen zur deutschen Bildwissenschaft, in: Kunstchronik 67 (2004) 335–342. 9 H. Rauterberg, Sieh nur, ich lebe!, in: Die Zeit 50 (2010) 53.
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Punkt treffen, wo es den Positionen um eine Seins- oder Wesenbestimmung des Bildes zu tun ist, sie aber keine Auskunft über das Woher der wirkenden oder handelnden Kraft geben; sie zielen aber ins Leere, wo es darum gehen muss, „andere“ Geschichten der Bildproduktion, Bildverwendung und Bildrezeption ernst zu nehmen und kulturhistorisch einzuordnen. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht an Hans Sedlmayrs Rede vom Verlust der Mitte zu erinnern,¹⁰ die sich historisch betrachtet als Fehldiagnose herausgestellt hat. Das deshalb, weil ein großer Teil der Künstler um und nach 1900, die meisten Künstler auch der Weimarer Republik, teils mit starker Insistenz versuchten, die „Angewiesenheit des Menschen auf das wahre Absolute“ zum Ausdruck und in Form zu bringen.¹¹ Was sie dazu antrieb, war – um es mit Wilhelm Hausenstein zu sagen – die Suche nach einem neuen Weltgefühl, die Suche nach einer neuen Religion.¹² Es ging im Expressionismus vor allem um die „Veranschaulichung religiöser Welterkenntnis“.¹³ Das wahrhaft große Künstlergefühl wurde da mit einem religiösen Gefühl identifiziert.¹⁴
10 H. Sedlmayr,Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1948, 172 f.: „So gesehen wäre die Störung, die wir als ‚Verlust der Mitte‘ gekennzeichnet haben, eben in der wesensunmöglichen Trennung des Göttlichen und Menschlichen im Menschen zu suchen, in dem Auseinanderreißen von Gott und Mensch und im Verlust des Mittlers zwischen Mensch und Gott, dem Gottmenschen. Die verlorene Mitte des Menschen ist eben Gott: der innerste Kern der Krankheit ist das gestörte Gottesverhältnis (I. F. Görres).“ 11 H. Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955, 118 mit Verweis auf Alfred Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, Münster 1948, 54–56: „Keines dieser Idole vermag die Angewiesenheit des Menschen auf das wahre Absolute zu befriedigen. Deshalb stürzt ein Idol das andere. Alle Versuche, einer bedingten, endlichen Erscheinung einen unbedingten Wert zuzusprechen, müssen künstlich bleiben.“ Zu den Idolen schreibt Sedlmayr, a. a.O., 119: „Die höchsten mit dem gesamten Wert und der Würde des Absoluten umkleideten irdischen Wesenheiten sind für die moderne Kunst: Einmal: Sie selbst; dieser Kult der Kunst ist der Aesthetizismus. Zweitens: Die Geometrie und die auf ihr beruhende oder ihr verwandte Wissenschaft, der Szientismus. Drittens: Das Produkt dieser Wissenschaft, die Technik als ‚höchste Realität‘, der Technizismus. Viertens: Im Gegenschlag gegen die drei ersten Idole, das Absurde und das Chaos, der Surrealismus. Andere Idole, wie der autonome Staat, haben die Kunst im 20. Jahrhundert zwar gleichfalls in ihren Dienst genommen, ohne sie aber tiefer zu faszinieren und zu inspirieren.“ 12 W. Hausenstein, Vom Geist des Barock, München 1920, 122: „Welt entbehrt der Religion. Sie vor allem wird gesucht.“ 13 E. Michel, Der Weg zum Mythos. Zur Wiedergeburt der Kunst aus dem Geiste der Religion. Jena 1919, 84. 14 W. Hausenstein, Das ekstatische Formerlebnis, in: W. Hausenstein, Vom Künstler und seiner Seele. Vier Vorträge gehalten in der Akademie für Jedermann in Mannheim, Heidelberg 1914, 69–94, hier: 92: „Wir sind zu rationell. Wir sind zu wissenschaftlich. Wir sind zu intellektuell. Wir haben zu wenig Auge für das Mysteriöse des Lebens, das auch nach den besten und wahrsten wissenschaftlichen Erklärungen der Welt noch als das Wichtigste übrig bleibt. In unserem Leben ist zu
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Was einst durch jenseitsverwaltende Instanzen den Objekten an Wirkmacht zugewiesen worden war, konnte nun zu einer im und aus dem Bild heraus wirkenden Kraft oder Energie säkularisiert werden. Wassily Kandinsky erschütterte zum Beispiel die Zersetzung und Entmaterialisierung der Welt.¹⁵ Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und weich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn ein Stein vor mir in der Luft geschmolzen und unsichtbar geworden wäre. Die Wissenschaft schien mir vernichtet: ihre wichtigste Basis war nur ein Wahn, ein Fehler der Gelehrten.¹⁶
Die Materie, auf der gestern noch alles ruhte und durch die das ganze Weltall gestützt worden war, fand Kandinsky nun zur Disposition gestellt. An den Platz des vermeintlich Festen trat das Relative, „die Theorie der Elektronen, d. h. der bewegten Elektrizität, die die Materie vollständig ersetzen soll“.¹⁷ Als Ironie wurde empfunden, dass gerade die Naturwissenschaften dazu beigetragen hatten, die Menschen „gläubiger für die verborgenen Dinge im Himmel und auf Erden“ zu machen. In der Kultur der Weimarer Republik fühlte man sich „von geheimnisvollen, mächtigen, geradezu abenteuerlich anmutenden Kräften
wenig von jenem göttlichen Wahnsinn des Don Quijote – oder des van Gogh. Die Dinge sind uns zu klar, zu verständlich. Wir wissen so viel. Aber wir täuschen uns schwer, wenn wir meinen, dass das Wissen der Inbegriff des Lebens sei. Es gibt geistige Erregungen, die uns höher heben als alles Wissen. Das sind die Erregungen des künstlerischen Gefühls – des Gefühls für das Mysteriöse aller Welt. Jedes wahrhaft grosse Künstlergefühl ist ein irgendwie religiöses Gefühl: es sieht in der Natur mehr als die Natur – es will in ihr mehr sehen. Es fordert von der Welt ganz starke Erregungen. Dieser Wille zur Erregung – er ist das Geheimnis aller grossen Kunst. Es kommt dem Künstler nicht so sehr darauf an, die Natur richtig zu sehen, als darauf, sie erregend zu finden, Erschütterungen an ihr zu erleben oder, wenn Sie so wollen, die Natur selber durch künstlerische Form zu erschüttern.“ 15 Die Wirkung dieses Vorgangs auf die Kunst auch bei W. Hellpach, Nervosität und Kultur (= Kulturprobleme der Gegenwart, Bd. V), Berlin 1902, 155: „Während die Forschung in allen Ecken und Fugen zu krachen anfing, das atomistische Zeitalter in den Staub sank und dunkle Schatten sich sogar übers Gesetz von der Erhaltung der Energie breiteten, weckte die Kunst durch ihre Schöpfungen das entschlummerte Fühlen für Lebensleid und Lebensfreude. […] Wie rasch ward der Vorwurf lächerlich, die neue Kunst suche das Hässliche und Rohe! Zartheit eignete ihr, die keine Vergangenheit gekannt, neue Schönheit entdeckte sie, wo wir vorher blind und gleichgiltig vorbeigelaufen waren.“ 16 W. Kandinsky, Die Gesammelten Schriften Bd. I, hg. v. H.K. Roethel/J. Hahl-Koch, Bern 1980, 33.Vgl. auch S. Ringbom, The Sounding Cosmos. A Study in the Spiritualism of Kandinsky and the Genesis of Abstract Painting (= Acta Academiae Aboensis, Ser. A. Humaniora, Vol. 38, No. 2), Abo 1970, 33. 17 W. Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 40. Vgl. Ch. Asendorf, Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert (= Werkbund-Archiv 13), Gießen 1984, 119–120.
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umgeben.“¹⁸ Georg Simmel vermutete hinter oder über jedem menschlichen Individuum eine weitere Sphäre, mochte „man sie sich substantiell oder als eine Art von Strahlung denken“, eine Sphäre, „deren Erstreckung sich jeder Hypothese“ entziehe und die genauso zu jeder Person gehöre wie das Sichtbare und Tastbare des Leibes.¹⁹ Alles deutete auf eine hinter den Dingen liegende Wirklichkeit,²⁰ auf eine der Sprache nicht zugänglichen Welt, auf ein Jenseits im Diesseits. Das Zerfallen der Materie war da Hinweis auf die ätherische Gestalt des Universums,²¹ war Hinweis auf Astralkörper und Astralleiber,²² auf die Geist- und Weltseele und dergleichen mehr.²³ Okkultisten und Spiritisten, das heißt die Vertreter eines nichthegemonia-
18 R Huch, Seelentelegraphie, in: Literarische Umschau des Berliner Lokal-Anzeigers, Nr. 200, 19. April 1908, 1. [Besprechung des Buches von H. Freimark, Moderne Geisterbeschwörer und Wahrheitssucher (= Grosstadt-Dokumente Bd. 36), Berlin/Leipzig 21907]. Hier zit. nach Ringbom, The Sounding Cosmos, 36. 19 G. Simmel, Fragmente und Aufsätze. Aus dem Nachlaß und Veröffentlichung der letzten Jahre, hg. v. Gertrud Kantorowicz, München 1923, 174–175. Vgl. Asendorf, Batterien der Lebenskraft, 120. 20 Einen Hinweis auf die Verbreitung solcher Annahmen bei G. Sommer, Leib und Seele in ihrem Verhältnis zueinander (= Aus Natur und Geisteswelt 702. Bändchen) Leipzig und Berlin 1920, 116: „Grot, Stumpf und Wilh. Ostwald nehmen für die Seele eine besondere Energieform in Anspruch, die in den Energiehaushalt des Universums gleichberechtigt mit anderen Energieformen eintreten und machen aus der physikalischen einen psychologischen Begriff, ein Verfahren, das nicht bloß illegitim ist, sondern zu dem Materialismus, den Ostwald damit zu überwinden meint, wieder zurückführt.“ Vgl. A. Besant/C.W. Leadbeater, Der Äther im Weltenraume (= Geisteswissenschaftliche Vorträge 2), Leipzig 1909, 6 f. 21 L.D. Henderson, Die moderne Kunst und das Unsichtbare. Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkultismus und der Wissenschaften, in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915. Mit Beiträgen von Bernd Apke [u. a.] (Schirn Kunsthalle Frankfurt, 3. Juni bis 20. August 1995.), Ostfildern 1995, 13–31, hier: 16 f. 22 R. Steiner, Sonne, Mond und Sterne. Berlin 26. März 1908, in: R. Steiner, Die Erkenntnis der Seele und des Geistes. Fünfzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 10. Oktober 1907 und dem 14. Mai 1908 in Berlin und München (= Rudolf Steiner, Gesamtausgabe, Vorträge, Öffentliche Vorträge), Dornach 1965, 253–263, hier: 261: „Der Mensch ist eine vielgliedrige Wesenheit. Wenn er schläft, ruhen im Bette nur sein physischer und sein Ätherleib. Der Astralleib mit dem Ich trennen sich von den niedern Gliedern und heben sich heraus in die geistige Welt. In ihr empfängt er Kräfte, erhabener als sie der Mensch während des Tages von Sonne und Mond erhält.“ 23 Vgl. zum Beispiel den Verweis auf Martin Buber, Johannes Müller und Rudolf Steiner bei H. Bahr, Expressionismus. München 1920, 40 f.: „Kaum irgendein anderer deutscher Schriftsteller hat mich in den letzten Jahren so stark angezogen und auch festzuhalten vermocht wie Martin Buber. Was ich von ihm gelesen, erschien mir als gute Botschaft, als ein Zeichen dafür, daß die Menschheit vielleicht wieder einmal daran ist, sich umzuwenden. Er, Johannes Müller und Rudolf Steiner, diese drei vor allen, sagen uns das an. Die Menschheit hat ja die Gewohnheit, immer wenn sie eine Zeitlang ganz zum Sichtbaren hin, ganz im sinnlich Wahrnehmbaren stand – so ganz darin, daß ihr alles Unsichtbare entschwand – sich plötzlich wieder umzukehren, nun wieder zum Unsichtbaren hin, so
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len „Hinterweltlertums“,²⁴ machten sich die Erkenntnisse der Naturwissenschaften – Röntgenstrahlen,²⁵ elektromagnetische Wellen, drahtlose Telegraphie,²⁶ Radioaktivität – zu eigen und behaupteten zum Beispiel, dass „jetzt die Wissenschaft über das Grenzland des Äthers hinaus in die Astralwelt“ reiche und hineinführe.²⁷ Für den Maler Franz Marc hatten alle okkultistischen Phänomene, in der Form, in der sie sich zeigten, ein äußerliches Analogon, das man die materialistische Form immaterieller Ideen nennen könnte. Das mediumistische Durchdringen einer Materie können wir durch die X-Strahlen gewissermaßen experimentell ausführen, das Schweben, d. h. das Aufheben des spezifischen Gewichtes durch magnetische Experimente belegen. Ist nicht unser Telegraphenapparat eine Mechanisierung der berühmten Klopftöne? Oder die drahtlose Telegraphie ein Exempel der Telepathie? Die Grammophonplatte scheint experimentell zu beweisen, dass die Verstorbenen noch zu uns reden können.
Ganz ähnlich verhielt es sich mit den Beziehungen zwischen der äußeren Gestalt der malerischen Werke und den innerlichen Ideen – erst durch ein künstlerisches Ins-Verhältnis-Setzen konnten materielle Formen für die Sehenden abstrakte Bedeutung erlangen.²⁸ Kandinsky sprach von „Vibrationen“.²⁹ In einem alles durchströmenden Beben lag für den Künstler die Wirkung seiner Kunst beschlossen. Seine Seele wurde zu gewissen Zeiten „ununterbrochen im Vibrieren gehalten“.³⁰ Mit dem Begriff versuchte Kandinsky auf eine ätherische Wellentheorie hinzudeuten, bezeichnete
sehr, daß sie zuletzt das Sichtbare gar nicht mehr sehen will. Das sind dann die horchenden, ins Schweigen hineinhorchenden Zeiten, denen die Nacht zu reden beginnt.“ 24 G. Zeller, Okkultismus und deutsche Wissenschaft seit Kant und Goethe, Leipzig 1922, 11. 25 Vgl. dazu C. du Prel, Die Magie als Naturwissenschaft. Erster Teil: Die magische Physik, Jena 1899, 35–45 [Die Röntgenstrahlen und das Hellsehen]. 26 Vgl. a. a.O., 20–34 [Das Telegraphieren ohne Draht und die Telepathie]. 27 L.D. Henderson, Die moderne Kunst und das Unsichtbare, 13 mit Verweis auf A. Besant und C.W. Leadbeater, Gedankenformen, Freiburg 1908, 1. 28 F. Marc, Zur Kritik der Vergangenheit, in: F. Marc, Schriften, hg. v. K. Lankheit, Köln 1978, 117–120, hier: 119. 29 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 23: „Der Zuschauer heutzutage ist aber selten zu solchen Vibrationen fähig.“ Auch a. a.O., 46: „Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die noch komplizierter, ich möchte sagen ‚übersinnlicher‘ ist als die Seelenerschütterung von einer Glocke, einer klingenden Saite, einem gefallenen Brette usw. Hier öffnen sich große Möglichkeiten für die Zukunftsliteratur.“ 30 G. Kleine, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares, Franfurt 1990, 307 mit Verweis auf Kandinsky, Gesammelte Schriften, I, 27–50 [Rückblicke], hier: 30: „Zu derselben Zeit [Studentenzeit] wurde meine Seele auch durch andere, rein menschliche Erschütterungen ununterbrochen im Vibrieren gehalten, so daß ich keine ruhige Stunde hatte.“
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damit wohl Impulse aus einem nichtmateriellen Raum, wies auf Wirkungen flüssiger Elektrizität.³¹ Künstlerische Aufgabe war es, die selbst empfundenen Erregungen, also die kosmischen Vibrationen,³² in irgendeiner Weise auf den Betrachter zu übertragen.³³ Dabei kamen die Formen nicht durch wissenschaftliches Experimentieren zustande, sondern waren Ergebnis einer inneren Begabung. Mit dem Gefühlserlebnis, das „von unsichtbaren Mächten“ empfangen wurde, versuchte der Künstler „in der Seele des Beschauers“ ein gleiches Erlebnis auszulösen.³⁴ Konzepte wie diese hatten zur Folge, dass die rein formale Beschäftigung mit den Werken der Kunst gerade mit Blick auf die empfindsamen Geheimnisse des Schöpferischen immer häufiger als zu materialistisch beargwöhnt und im gleichen Schwung auch die Stilgeschichte als „philologisch“³⁵ und zu „naturwissenschaft-
31 Vgl. den Verweis auf die kosmischen Gefühle bei K. Edschmid, Über den dichterischen Expressionismus [Herbst 1917], in: ders., Frühe Manifeste. Epochen des Expressionismus (= Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Klasse der Literatur, Mainz Band 9. Erster Band der Dokumentar-Veröffentlichungen) Hamburg 1957, 26–43, hier: 35: „Er [der Mensch] ist verstrickt in den Kosmos, aber mit kosmischen Empfinden.“ Und 36: „[So] kommt es, daß diese Kunst, da sie kosmisch ist, andere Höhe und Tiefe nehmen kann als irgendeine impressionistische oder naturalistische, wenn ihre Träger stark sind. Mit dem Fortfall des psychologischen Apparates fällt der ganze Décadencerummel, die letzten Fragen können erhascht, große Probleme des Lebens direkt attackiert werden. In ganz neuer Weise erschließt sich aufbrandendem Gefühl die Welt.“ 32 Kleine, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, 307: „Von nun an [nach der Lektüre von Steiners Theosophie] steht in seiner – auf eigener seelischer Erfahrung begründeten – Ontologie der Begriff der kosmischen Vibration an zentraler Stelle.“ 33 Vgl. das Affizierungskonzept bei M. Nordau, Jean Carriès, in: ders., Von Kunst und Künstlern. Beiträge zur Kunstgeschichte, Leipzig o. J. [um 1905], 272–282, hier: 279: „Ihn [Carriès] befriedigt nur der Stoff, der die Weichheit des Fleisches und Nervenplasmas hat. Den Ton allein kann er so halten, daß er seine leisesten Vibrationen festhält. Darum ist an seinen gebrannten Tonarbeiten etwas, was mich an die Phonographen-Zylinder erinnert. Es ist Seelenmelodie in unmerkbaren Linien in sie eingeschrieben und in unsere Stimmung eingestellt beginnen sie wieder zu tönen und die Stimmung ihres Schöpfers zu wiederholen.“ Hausenstein, Vom Geist des Barock, 114: „Barocke Magdalenen drängen sich in das Allzunahe von Wachsphantomen. Ihre Psychologie erscheint photographiert – aber von einem Objektiv, das mehr als die äußeren Phänomene nimmt: die spiritistischen Phänomene und also unter dem Anschein des Mehr-als-Naturalistischen das Potenziert-Naturalistische, das Naturalistischste.“ 34 E. Zierer, Kunst- und Weltgesetze. Neue Wege ihrer Erforschung, Stockholm 1924, 45. 35 H. Pudor, Laokoon. Kunsttheoretische Essays, Leipzig 1902, 141–148 [Philologisches Kunststudium?], hier: 143: „Der Doktrinarismus, der das formale Prinzip vergöttert, hat auch die Kunsthistorik entgeistigt und zu einer Buchstabenwissenschaft gemacht. Die Ausnahme, welche Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance darstellt, bestätigt die Regel. Die trockenen Pedanten aber haben auf diesem Gebiete wie Refrigeratoren gewirkt; man fühlt sich in die Glacialperiode versetzt, wenn man ihren Explanationen folgt. […] Warum will man bei den Kunstwerken nur die formale Seite studieren? Ist etwa die Kunst nicht angebetet worden zu allen Zeiten deshalb, weil sie alles, was göttlich
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lich“³⁶ verabschiedet wurde. Der Kunsthistoriker Max Dvořák konnte dazu raten, die Aufmerksamkeit nicht allein dem „Klassischen“ zuzuwenden, sondern das Interesse mehr auf die transzendental geistigen Strömungen der Gegenreformation, des Barock und der Romantik auszuweiten.³⁷ Erst anhand der Erforschung von subjektiven Offenbarungsgesten, so glaubte Dvořák, sei wahre Erkenntnis vor der Kunst überhaupt möglich. Für ihn war allein in Anbetracht des Absoluten das Besondere des jeweiligen Werkes zu deuten. Das hieß, dass sich seine Begriffsbildung wie auch die Auswahl und Sinndeutung von Kunst immer auf etwas Außenstehendes und Übergeordnetes bezog,³⁸ also auf Qualitäten jenseits der wahrnehmbaren Wirklichkeit. Dvořák fragte nicht nach harmonischer Schönheit, sondern nach dem grundsätzlichen Verhältnis zwischen den vergänglichen, irdisch materiellen und den unvergänglichen, geistig überirdischen Gütern der Menschheit.³⁹ im Menschen ist, zur Darstellung bringt? Nicht der Leib aber, sondern die Seele, die fühlt, ist das Göttliche im Menschen. Fast muss der Kunsthistoriker heute fürchten, unwissenschaftlich zu werden, wenn er von Begeisterung erfasst wird, Phantasie zeigt und Empfindungswärme beibringt und die Kunstwerke solchergestalt betrachtet.“ 36 W. Böckelmann, Die Grundbegriffe der Kunstbetrachtung bei Wölfflin und Dvořák. InauguralDissertation genehmigt von der philosophisch-historischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig, Dresden 1938, 13: „Wölfflin und Dvorak glauben, wenn sie sich dem Banne jenes Schemas fügen, diejenige Erkenntnishaltung zum Kunstwerk zu gewinnen, die allein sichere und bestimmte Erkenntnisse verbürgen kann. Was geschieht? Die Forscher bilden einen Untersuchungsgegenstand in der Weise heraus, daß sie das Kunstwerk so weit von sich abrücken, bis vom Standort des reinen, selbstlosen Beobachters aus ein Gebilde rein sachlicher Art gedacht und abgelöst untersucht werden kann. Das lebendige Menschtum zieht sich aus dem Erkenntnisgefüge zurück und verharrt jenseits. Dieser Schritt bedeutet aber in Wahrheit, daß unseren Forschern das Kunstwerk gar nicht mehr gegeben ist und somit auch nicht zur Untersuchung bereit steht. Denn alles, was in jenem Objektivierungsprozeß aus der Kunstbetrachtung abgeschieden wurde, die Fülle seelischer Regungen und qualitativer Tönungen, ist beileibe nicht eine untergeordnete, ‚bloß subjektive Zutat‘ zu einem ‚eigentlichen objektiven Kerngehalt‘ im Kunstwerk, sondern notwendiger Bestand jedes gegebenen künstlerischen Sachverhalts. Das Kunstwerk ist überhaupt nur da als ein mir persönlich Gegebenes, als ein mit einem besonderen Gefühlsleben Durchdrungenes. Was für alles wirklich Gegebene gilt, das gilt auch für das Kunstwerk: ‚Daß es mich beansprucht, das gerade macht seinen ‚Sinn‘ aus.‘“ 37 D. Frey, Max Dvořáks Stellung in der Kunstgeschichte, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte I (XV) (1921/1922) 1–21, hier: 3. 38 Ebd. 39 M. Dvořák, Über Greco und den Manierismus.Vortrag, gehalten im österreichischen Museum am 28. Oktober 1920, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte I (XV) (1921/1922), 22–42, hier: 28. Das scheint ein allgemeines Phänomen zu sein, vgl. H. Bahr, Religion, in: ders., Inventur [1912], Berlin 4o. J., 61–74, hier: 63: „Noch die letzte Generation war selbst gegen die Tatsache der Religion gleichgültig. Doch befreite sie sich schon vom Aberglauben der vorigen, zum Handeln mit der Vernunft auszukommen. Ihr wurde kalt. So fing Religion an wenigstens wieder ein Gegenstand der Betrachtung zu werden. […] Eucken in Deutschland, Bergson in Frankreich erschienen und weckten das Gefühl für die
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Die persönlichen Entäußerungen großer Geister forderten das hermeneutische Einsehen eines aufs Transzendente ausgerichteten Subjekts,⁴⁰ sie forderten eine Geisteswissenschaft, die für sich selbst genommen Ausdruck des neuen „antimaterialistischen Weltalters“ war,⁴¹ eine „Absage an den Imperialismus der Naturwissenschaften“,⁴² „eine neue Wendung zum Religiösen und Metaphysischen“.⁴³ Noch vor den Kriegs- und Revolutionsjahren strebte die deutschsprachige Kunstwissenschaft hinaus in ein Reich des Geistigen und Universalen, um sich von den lähmenden Fesseln der Realität zu befreien und die zu einengenden Grenzen und willkürlichen Schranken der politischen Wirklichkeit zu sprengen.⁴⁴ Als das Gemeinsame der historisch voneinander geschiedenen Ausdrucksweisen detektierte man das geistig Expressive, „die Wiedergabe der inneren Emotion“,⁴⁵ also die Ablehnung der bloßen Naturnachahmung zugunsten einer „Objektivation übergeordneter transzendenter Kräfte“.⁴⁶ Das Wesentliche war die „Verschiebung Geheimnisse wieder auf, für das unbekannte Hinterland im Menschen und im Leben, das unserer Vernunft nicht erreichbar und doch von uns als Heimat unserer Handlungen empfunden wird.“ 40 Frey, Max Dvořáks Stellung in der Kunstgeschichte, 16. 41 Dvořák, Über Greco und den Manierismus, 42. Vgl. rückblickend dazu A. Goldschmidt, Kunstgeschichte, in: Aus fünfzig Jahren deutscher Wissenschaft. Die Entwicklung ihrer Fachgebiete in Einzeldarstellungen, hg. v. G. Abb, Berlin [u. a.] 1930, 192–197, hier: 196: „Dvorak ist aber auch zugleich derjenige gewesen, der, nachdem die formale Analyse einen außerordentlich starken Einfluß auf die ganze Generation ausgeübt hatte, gegen Ende des Weltkrieges wieder umschlug zur geistesgeschichtlichen Betrachtung, nicht er allein, sondern eine Anzahl jüngerer Gelehrter mit ihm zugleich, und so mündete die Kunstgeschichte wieder in die Gesamtgeschichte, nur mit dem Unterschied, daß es sich jetzt weniger um die Tatsachen der Weltgeschichte handelte, als um die Geistesrichtungen, wie sie sich in der Literatur, in Religiösität und Sitte äußerten.“ 42 Frey, Max Dvořáks Stellung in der Kunstgeschichte, 2. 43 W. Passarge, Die Philosophie der Kunstgeschichte in der Gegenwart (= Philosophische Forschungsberichte 1), Berlin 1930, 97. 44 Vgl. den rückblickenden Kommentar von H. Sedlmayr, Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte (= Rowohlts Deutsche Enzyklopädie), Hamburg 1958, 82: „Dvořáks Bild des Manierismus war wesentlich bedingt durch ein Wunschbild und eine Hoffnung. Für ihn war die Ablösung des ‚naturalistischen Idealismus‘ der Hochrenaissance durch den ‚anaturalistischen Spiritualismus‘ des Manierismus, wie er ihn sah, die historische Verheißung (gleichsam der ‚Typus‘) dafür, daß auch in seiner eigenen Zeit der positivistische Naturalismus der Impressionisten überwunden werden würde durch die Kunst des Expressionismus, in der er den neuen Spiritualismus begrüßte.“ Zur Wandlung von Dvořáks Auffassungen vor dem Ersten Weltkrieg H. H. Aurenhammer, Max Dvořák, Tintoretto und die Moderne: Kunstgeschichte „Vom Standpunkt unserer Kunstentwicklung“ betrachtet, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 49 (1996) 9–39, hier: 24–26. 45 Dvořák, Über Greco und den Manierismus, 42. 46 Frey, Max Dvořáks Stellung in der Kunstgeschichte, 19. Vgl. dazu F. Märker, Lebensgefühl und Weltgefühl. Einführung in die Gegenwart und ihre Kunst, München 1920, 57: „Während früher, vor allem in der Gotik, das Geistige aus dem Irdischen emporstieg, also auf dem Sinnlichen ruhte, während früher das Geistige dadurch gestaltet wurde, daß die Materie verfeinert, verflüchtigt
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des Schwerpunktes von außen nach innen, vom klaren Verstand auf den geheimen Instinkt“.⁴⁷ Es ging um die geistige Spur des Individuums am Werke, um das Rätselhafte und Geheimnisvolle und damit auch um eine methodisch ausgerichtete Respiritualisierung der Kunstwissenschaft. Man wollte den „unlösbaren Rest“⁴⁸ am Gegenstand dingfest machen. Kunst war nicht mehr bloßer Wissensstoff,⁴⁹ sondern Anhalt für eine beschreibbare Transzendenzerfahrung. Die Betrachtung eines großen Kunstwerkes sollte zum Glauben hinlenken.⁵⁰ An die Stelle rationaler Bewurde, soll nun das Seelische, gelöst von allem Stofflichen, gegeben werden. Während in der Gotik, bei aller Tendenz zur Vernichtung des Körperlichen, in den großen Kunstwerken ein sinnlich erfaßbarer Körper gebildet wurde, soll nun alle erkennbare Materie vernichtet werden. Abstrakte Farben, Linien und Worte sollen Wirkung üben. Diese völlige Herrschaft des Geistes, dieser Mangel an Sinn für das Sinnliche ist es, was der Kunst unserer Zeit den Namen Expressionismus gibt. Sie ist das letzte, kaum noch lebensfähige Ende einer jahrtausendelangen Entwicklung von der antiken Befriedigung des Sichtbaren zu Bewußtsein der Bedeutung hinter dem Sichtbaren.“ 47 Allgemein zur Änderung der Weltsicht P. Ligeti, Der Weg aus dem Chaos. Eine Deutung des Weltgeschehens aus dem Rhythmus der Kunstentwicklung, München 1931, 270 f.: „Es ist deutlich zu sehen, die Menschen halten nicht mehr dort, wo sie um die Jahrhundertwende hielten. Damals, in den Tagen von Häckels ‚Welträtseln‘, war Naturforschung Trumpf. Erkenntnis, gewonnen auf Grund sinnlicher Erfahrung mit Hilfe des klaren Verstandes. – Heute: hört man hier und dort von eigentlich geistigen, mehr oder minder geheimnisvollen, immer aber intuitiven und nicht verstandesmäßigen Erkenntnisarten. Von Telepathie und Hellseherei, von Chiromantie und Graphologie, von Astrologie; und der Gegenstand all dieses neuen oder zu neuem Leben erweckten Wissens: ist der Mensch; nicht mehr die Außenwelt; des Menschen Charakter, Seele, Schicksal (Wahrsager). Und nicht die Natur ist es, die den Menschen formt – so glaube es die malerisch-naturalistische Zeit –, sondern der Mensch und seine Geisteskraft ist es, die zu wirken vermag; auf andere Menschen: Gedankenübertragung, Hypnose, Suggestion. Aber auch auf die Natur selbst: Parapsychologie, Telekinesie – Okkultismus. Das Wesentliche an allen diesen Erscheinungen ist die Verschiebung des Schwerpunktes von außen nach innen, vom klaren Verstand auf den geheimnisvollen Instinkt. Nur zu natürlich, wenn gleichzeitig mit dieser Schwerpunktverschiebung das Religiöse überall auflebt. Man sieht sein Erstarken in allen seinen Formen.“ 48 H. Tietze, Geisteswissenschaftliche Kunstgeschichte, in: Die Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. J. Jahn [u. a.], Leipzig 1924, 183–198, hier: 194. Der gleiche Satz in ders., Verlebendigung der Kunstgeschichte [1925], in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 33 (1980) 7–12, hier: 11. Dort wird die Annahme zurückgewiesen, dass an Stelle der materialistischen die spiritualistische Gefahr treten könne. 49 Tietze, Verlebendigung der Kunstgeschichte, 8. 50 O. Lyon, Das Pathos der Resonanz. Eine Philosophie der modernen Kunst und des modernen Lebens, Leipzig 1900, 25: „Und so führt uns auch die Betrachtung eines großen Kunstwerkes stets zum Glauben hin; wir ahnen aus ihm, daß es etwas Höheres, Größeres giebt, das wir mit unsern Sinnen nicht wahrnehmen, mit unserm Verstande nicht begreifen, mit unserm Fühlen niemals ganz umspannen, mit unserm Willen nicht erreichen und selbst mit der mächtigsten Phantasie nicht erschöpfen können. Dieses Unendliche, Unermeßliche, Ewige, mit einem Worte die Gottheit, können wir nur mit dem Glauben, dem höchsten Organ unseres Geisteslebens, ergreifen, d. h. in ehrfürchtiger Demut ahnen.“
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grifflichkeit traten in der Kunstwissenschaft Erleben, Fühlen und mystische Einswerdung.⁵¹ Eine farbige Reproduktion der Golgathaszene des Isenheimer Altars hing fünfzig Jahre lang über Karl Barths Schreibtisch.⁵² Erst der dringliche Wunsch jener Tage⁵³ nach verborgener Innerlichkeit oder Wesenhaftigkeit,⁵⁴ nach dem Geistigen oder den Geistern, nach Gott oder der Weltseele hob die Ausdruckskunst in die Sphäre des gewissermaßen anthropologisch Konstanten. Man dachte sich einen Expressionismus per se, der sich in allen möglichen Epochen immer gleich oder immer ähnlich energetisch hatte äußern können und der sich auch in Zukunft immer wieder in ähnlicher Weise äußern müsse, sich dabei zyklisch abwechselnd⁵⁵ mit Perioden spröder Klassizität.⁵⁶ Weil
51 Vgl. dazu W. Emmerich, Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich (= Volksleben 20. Band), Tübingen 1968, 120–128 [Irrationalismus], bes. 126 f. 52 K. Barth, Briefe 1961–1968, hg. v. J. Fangmeier u. H. Stoevesandt (= Gesamtausgabe V 4), Zürich 1975, 304 f. [Basel den 30.9.1968. An Frau N. N. in Württemberg.], hier: 304: „Sehr geehrte Frau N. N.! Ihr Brieflein vom 18. September hat mich so – im besten Sinn des Wortes – erheitert, daß ich Ihnen, was sonst nicht mehr oft vorkommt, in einigen Worten selbst darauf antworten möchte. 1. Mozarts Kirchenmusik ist eine Sparte seines Werkes, über die sich sonst auch seine guten, ja besten Freunde mit einer gewissen befremdeten Zirückhaltung zu äußern pflegen. Und nun bekennt mir da eine mir bis jetzt unbekannte (jüngere? ältere? Ich selbst gehe im 83. Lebensjahr) schwäbische Dame, daß sie ausgerechnet von Mozarts Kirchenmusik aufs Höchste angetan sei. Recht haben Sie! 2. Sie schreiben mir andeutend, aber deutlich von Ihrem Glauben bzw. Unglauben, Ihrer Glaubenserkenntnis und deren Grenzen, von der Sie bewegenden Problematik vieler, auch meiner ‚dogmatischen Thesen‘ und dann umgekehrt doch wieder gerade durch Mozarts Kirchenmusik begrenzt, ja aufgehoben finden. Eben in dieser Umgebung entstand und bewegte sich mein bißchen Glaubenserkennen seit Jahrzehnten und Jahrzehnten (Markus 9,24). Sie können meine ‚dogmatischen Thesen‘ in ihrer Stärke und Schwäche rekapituliert finden in den Texten etwa der Mozartischen Messen. Wozu ich allerdings hinzufügen möchte, daß zur optischen Nachhilfe seit 50 Jahren das Grünewaldsche Passionsbild vor mir hängt.“ Ansonsten fanden sich noch in der Studierstube in Basel ein Porträt Mozarts und ein Bildnis Calvins. K. Barth, Gespräche 1964–1968, hg. v. E. Busch (= Gesamtausgabe IV 2) Zürich 1997, 189–190 [Interview von G. Puchinger (15.4.1965)]: „Ich sah Sie eben herumschauen. Ja, erkennen Sie den – tatsächlich, es ist Mozart. Und da hinter Ihnen hängt Calvin. Das ist schon vielen Besuchern aufgefallen. Mir Gegenüber die Kreuzigung Grünewalds. Und wer ist das. Das ist mein Vater, Fritz Barth, der Theologieprofessor in Bern war.“ 53 W. Baetke, Die religiöse Bewegung der Gegenwart in Jahrhundertbeleuchtung, in: Der Türmer 13 (1911) Heft 4, 489–494, hier: 490. 54 M. Kronenberg, Neu-Idealismus, in: Die Zukunft 19 (1897) 463–466, hier: 466: „In dem Zeitalter Bismarcks ist die deutsche Nation gründlich genug realistisch hart geschmiedet worden; jetzt empfindet man um so stärker das Bedürfniß, unter Wahrung der Ergebnisse dieser realistischen Schulung zu den alten Traditionen des Idealismus, die, wie man ohne chauvinistischen Beigeschmack mit Fichte sagen darf, der Eigenart der Deutschen wie der keines anderen Volkes entsprechen, mit vermehrter Energie zurückzukehren.“ 55 M. Susmann, Expressionismus, in: Die Masken. Blätter des Düsseldorfer Schauspielhauses 14 (1918/1919) 93–96. Hier nach P. Raabe (Hg.), Expressionismus. Der Kampf um eine literarische Be-
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alle Welt dem „Wesen“ der Dinge zu Leibe rückte, weil alle Welt wundersüchtig war, baute auch die Kunstgeschichte an einer „Brücke zum Metaphysischen“.⁵⁷ Den Anhängern der Ausdruckskunst ging es um „eine positive Gotik“, um „ein positives neues Barock“,⁵⁸ weil man nicht nur formal, sondern vor allem psychologisch eine Verwandtschaft mit dem Schaffen der eigenen Zeit empfand.⁵⁹ Bezeichnend für die zeittypische Hinwendung zur Irrationalität ist es, dass auch berühmte Fachvertreter den Attraktionen moderner Hinterwelten erlagen. So Aby Warburg, der vor und nach dem Ersten Weltkrieg an der gleichsam seismischen Aufzeichnung des kulturellen Fortschwingens einstmals entbundener Energien arbeitete, das heißt an einer durch die Zeiten fortwirkenden Kraft von okkulter Herkunft, die sich in seinen Texten metaphorisch in Begriffen wie Schwingungen, Strahlen oder Wellen niederschlug. Stil entstand bei Warburg durch die Bändigung gefährlicher Engramm-Kräfte oder mnemischer Wellen. Jedes Fortleben aber und Fortwirken einer Individualität über die Grenzschwelle ihres persönlichen Lebens hinaus, war „Magie, ein religiöser Prozeß und als solcher jeder rationalen Einwirkung entzogen.“⁶⁰ Warburg registrierte die Kräfte und Interferenzen der mnemischen Wellen in den künstlerischen Hervorbringungen verschiedener Zeiten und verschiedener Länder, um mit der Arbeit an dem „Nachbeben“ dieser geschichtswirkenden Energien den aufklärenden Kontakt mit der gefahrvollen Urkraft der Menschheit nicht zu verlieren. Im Sinne des wissenschaftlichen Okkultismus jener Jahre war Warburg selbst ein Sensitiver, selbst ein Medium, und das nicht nur, weil er sich darum bemühte, das unsichtbar Wirkende in der Kunst begreifbar zu ma-
wegung, München 1965, 153–157, hier: 153: [E]s ist […] längst klar geworden, daß alle die untereinander sehr verschiedenen Arten von Kunst, die unter diesem Begriff zusammengefaßt werden, ein Gemeinsames besitzen, das keineswegs erst eine Erfindung der heutigen Zeit ist. Aus der Kunst längst vergangener Tage zieht es sich als eine in bestimmtem Rhythmus sich erhebende und wieder verebbende Welle bis in die Kunst unserer Zeit herüber.“ Vgl. P. Ueding, Einführung in das Verständnis der Malerei (= Die Bücherei der Volkshochschule Band 7–8), Bielefeld/ Leipzig 1921, II, 76–78 [Der Expressionismus], hier: 77: „Alle idealistisch gerichteten Zeitalter stehen grundsätzlich auf diesem selben Boden, insofern es immer dem Idealismus bei der Wiedergabe der Natur gar nicht auf eben diese Natur, sondern auf die Verkörperung und Sichtbarmachung der Idee ankommt.“ 56 W. Hausenstein, Über Expressionismus in der Malerei (= Tribüne der Kunst und Zeit II), Berlin 2 1919, 30–32. 57 A.a.O, 51. 58 A. a.O., 53. Anderer Meinung ist E. Utitz, Die Überwindung des Expressionismus. Charakterologische Studien zur Kultur der Gegenwart, Stuttgart 1927, 5: „Der Impressionismus kehrte auch nicht zu seinen Ahnen, Goya,Velasquez oder Hals, zurück, und ebenso wenig der Expressionismus zu den Gefilden der Gotik, Romanik oder zu dem Wunderlande Indien.“ 59 H. Kehrer, Die Kunst des Greco, München 31914, 10. 60 Vgl. B. Roeck, Aby Warburgs Seminarübungen über Jacob Burckhardt im Sommersemester 1927, in: Idea 10 (1991) 65–89, hier: 71.
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chen, sondern auch deshalb, weil er die Gefahren jener durch ihn hindurchwirkenden Kraft mit akribischer Arbeit zu bewältigen suchte. Dem Dämonischen, Magischen, Hintersinnlichen wurde dort mit bildwissenschaftlichen „Auseinandersetzungsenergie“ entgegengetreten. Zwar stellte Warburg „sein Leben in den Dienst apollinischer Erhellung der dunklen Mächte“,⁶¹ doch war die Beschäftigung mit Aberglauben, Sternenkunde und Okkultismus dermaßen intensiv, dass er, nach eigener Aussage, „diesem Unsinn“⁶² gänzlich verfiel, und das bis nahe an die Vernichtung des eigenen Geistes.⁶³ Es scheint mehr als naheliegend, dass sich Paul Tillichs Ansichten zum Verhältnis von Kunst und Religion der skizzierten modernen Suche nach dem Unsagbaren verdankten.⁶⁴ Die Jenseits- beziehungsweise Gottessehnsucht expressionistischer Kunst, die ihn in Berlin beeindruckt hatte, zu nennen wären Namen wie Franz Marc, Emil Nolde oder Edward Munch, nahm Tillich mit nach Amerika und konnte sie dort unter anderem ins Zentrum eines Vortrages stellen, den er am 17. Februar 1959 an prominenter Stelle hielt, nämlich im Museum for Modern Art in New York – das Thema lautete: „Kunst und letzte Realität“. In dem Referat ging es um die Verhältnisbestimmung des Einzelnen zum unaussprechlich Anderen. Vorausgesetzt wurde, dass der Mensch stets auf der Suche nach dieser letzten Realität sei.⁶⁵ Zwar dürfe man sich den Begriff „ultimate reality“ nicht mit dem Gottes austauschbar denken, aber da die Idee Gottes diese „letzte Realität“ enthalte, müsse alles, was „ultimate reality“ ausdrücke, gleichzeitig auch Gott ausdrücken. Im Original: „If the idea of God includes ultimate reality, everything that expresses ulti-
61 A. Neumeyer, Lichter und Schatten. Eine Jugend in Deutschland, München 1967, 219. 62 C.G. Heise, Persönliche Erinnerungen an Aby Warburg, Hamburg 1959, 53 f.: „Sein krankhafter Zustand bezeichnete genau den zentralen Punkt der Konflikte, an deren bisher nie völlig geglückter Überwindung er sich in Leben und Wissenschaft wundgerieben hatte. Seltsam aufschlußreich trat das auch daran hervor, daß allerhand kleine Gegenstände auf seinem Schreibtisch und in seinem Zimmer für ihn fetischhaften Charakter annahmen, daß er, der Erforscher des symbolischen Gehaltes der bildlichen Darstellungen, zwischen Bild und Sinnbild nicht mehr zu unterscheiden vermochte und in die furchtbarsten Erregungszustände geriet, wenn auf seinem Tisch bestimmte Kleinigkeiten willkürlich verschoben wurden, also, astrologisch gesprochen, ihre Konstellation änderten und nun, bösen Zaubers voll, ihre zerstörerischen Kräfte gegen ihn und seine Nächsten ungehindert auszusenden vermochten. Dabei fand er zur Erklärung seines wunderlichen Treibens mit den kleinen Fetischen selbst das erklärende Wort: nicht ungestraft habe er sich mit Sternenkunde, Magie und Aberglauben beschäftigt, nun sei er selber diesem Unsinn verfallen.“ 63 C.G. Heise, Rede, in: Aby Warburg * 13. Juni 1866 † 26. Oktober 1929. Gedenkfeier anlässlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages am Montag, dem 13. Juni 1966 im Hörsaal A der Universität (= Hamburger Universitätsreden 34), Hamburg 1966, 37–46, hier: 45. 64 E. von Sydow, Die deutsche expressionistische Kultur und Malerei (= Furche-Kunstgaben: Zweite Veröffentlichung), Berlin 1920, 28. 65 P. Tillich, Ultimate Reality, in: Cross Currents 10 (1960) No. 1, 1–14, hier: 1.
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mate reality expresses God whether it intends to do so or not.“⁶⁶ Doch wie ließ sich der entscheidende Begriff „Ausdruck“ fassen, wie wollte Tillich ihn verstanden wissen? „Expression“ war für Tillich dadurch ausgezeichnet, die eigentlich rätselhafte „letzte Realität“ sowohl verbergen wie auch entbergen zu können und das in unterschiedlichen Dichtegraden. Ein Apfel Cézannes hatte da mehr „presence of ultimate reality“ als der im Garten Gethesmane betende Christus des Düsseldorfer Malers Heinrich Hofmann – damals und auch noch heute zu sehen in der Riverside Church in New York.⁶⁷ Das hatte damit zu tun, dass Tillich sich bemühte, drei Weisen des Ausdrucks und Erlebens „letzter Realität“ voneinander zu unterscheiden, namentlich Philosophie, Kunst und Religion. Während Philosophie und Kunst nur in der Lage seien, die „ultimate reality“ indirekt wiederzugeben, „because it is their immediate intention to express the encountered reality in cognitive concepts or aesthetic images“, böte die Religion den einzigen direkten Zugang. „In it [in religion] ultimate reality becomes manifest through extatic expression of a concrete revelatory character and is expressed in symbols and myths.“ Die spirituell-ekstatischen Bewegungen, die früher die sakramentale Grundlegung der Kirche in Frage gestellt hatten, sah Tillich nun die realistischen und idealistischen Fundamente der modernen Industriegesellschaft erschüttern. Das war deshalb von kunsthistorischer Relevanz, weil die „ultimate reality“ besonders mit expressiven Epochen verbunden wurde, für Tillich mit der Katakombenmalerei, der byzantinischen Kunst, mit der Romanik, der Gotik wie auch mit dem Barock und schließlich mit den Entwicklungen moderner Kunst seit Cézanne. Tillich zeigte in diesem Zusammenhang nicht nur die kleinen Gelben Pferde von Franz Marc, sondern unter anderem auch die Hügel von San Remy von Vincent van Gogh. Das im MoMA mit Lichtbildern Vorgetragene klang doch sehr nach Gedanken, die den Diskursen der Weimarer Republik entstammten und die Wilhelm Hausenstein schon viel früher ähnlich hatte formulieren können. Hausenstein glaubte das künstlerische Schaffen seiner Zeit von einem mystischen Fluten und einer empfindsamen Gottessuche durchtränkt und war überzeugt,⁶⁸ dass der wahre Gegenstand der Kunst „das Hintersinnliche“ sei, „das Metaphysische, das durch die
66 A. a.O., 2. 67 A. a.O., 5: „Then a Cezanne-‚Still Life.‘ About this I must say something which goes back to my earliest encounter with the visual arts immediately after I came out of the ugliness of the First World War and was introduced to modern art by a friend, Dr. Eckhard v. Sydow, who wrote the first book on German expressionism. At that time I came to the conclusion that an apple of Cezanne has more presence of ultimate reality than a picture of Jesus by Hoffman [sic] (which can now be found in the Riverside Church of this city).“ 68 Vgl. Hausenstein, Vom Geist des Barock, 122: „Welt entbehrt der Religion. Sie vor allem wird gesucht.“
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Dinge wie durch ein Transparent“ hindurchleuchte, eben „das Ungegenständliche“, die „metaphysische Substanz“, oder auch „ein dem tagwachen Verstande unzugängliches Weltelement“.⁶⁹ In der Suche nach dem Unsagbaren – also der „ultimate reality“ – war der Expressionismus auch für Hausenstein mit vergangenen Kunstepochen vergleichbar.⁷⁰ Was den Barock, die Romantik und den Expressionismus zusammenband, war eben „die Ehrfurcht vor dem Irrationalen“,⁷¹ der eigentlich religiöse Impetus, das Visionäre, das aufs Verborgene zielende Fragen, das starke Empfinden, das gnadenhaft göttliche Gefühl, die Ekstase und die sich daran anschließende und daraus ergebende, immer wieder beschriebene Ausdrucksnotwendigkeit.⁷² Hier ließe sich in Anlehnung an Bruno Latour erneut die Frage stellen, ob denn eine sich als säkular und aufgeklärt verstehende und auch historisierende Moderne überhaupt jemals modern gewesen sei?⁷³ Antworten darauf haben in den letzten Jahren kunsthistorische Ansätze gegeben, denen es darum ging, lang verdrängte oder unterschlagene Bestände irrationaler Vorstellungswelten in ihrer visuellen Vielfalt und Heterogenität ans Licht zu stellen. Zur Rückgewinnung vernachlässigter Diskursfelder der Moderne ebneten sowohl anthropologische Aspekte des Bildverstehens den Weg wie auch größere Ausstellungen,⁷⁴ die versuchten, den Einfluss tradierter oder auch neu entstehender Jenseitsvorstellungen auf die Kunst zu präsentieren. Zu nennen wären etwa der wichtige Katalog Okkultismus und Avantgarde (1995),⁷⁵ Im Reich der Phantome (1997),⁷⁶ The Message (2007),⁷⁷ Ge-
69 W. Deubel, Das neue Weltbild, in: Feuer 2 (1921–22) 121–131, hier: 121. 70 Ebd., 122. 71 G. Dehio, Geschichte der deutschen Kunst. Des Textes dritter Bd., Berlin/Leipzig 1926, 177. 72 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 79: „Und die Farbe, die selbst ein Material zu einem Kontrapunkt bietet, die selbst unendliche Möglichkeiten in sich birgt, wird in Vereinigung mit der Zeichnung zum großen malerischen Kontrapunkt führen, auf welchem auch die Malerei zur Komposition gelangen wird und sich als wirklich reine Kunst in den Dienst des Göttlichen stellt. Und immer derselbe unfehlbare Führer bringt sie auf diese schwindelnde Höhe: das Prinzip der inneren Notwendigkeit!“ 73 B. Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Berlin 1995; I. Albers/A. Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich 2012. 74 A. Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998; H. Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. 75 Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900–1915. Mit Beiträgen von Bernd Apke [u. a.] (Schirn Kunsthalle Frankfurt, 3. Juni bis 20. August 1995), Ostfildern 1995. 76 Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren. Konzept und Realisation Andreas Fischer und Veit Loers (Museum am Abteiberg Mönchengladbach, 12. Oktober 1997 bis 4. Januar 1998; Kunsthalle Krems, 21. Februar bis 1. Juni 1998; Fotomuseum Winterthur, 13. Juni bis 16. August 1998), Ostfildern-Ruit 1997.
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spenster, Magie und Zauber. Konstruktionen des Irrationalen in der Kunst von Füssli bis heute (2011),⁷⁸ L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750–1950“ (2011),⁷⁹ Zeitgespenster. Erscheinungen des Übernatürlichen in der zeitgenössischen Kunst (2012/13)⁸⁰ oder auch neuere Publikationen zur schwedischen Malerin Hilmar af Klint (2020)⁸¹. Einen Grund für die verschiedenen Anläufe, das aufklärende oder auch säkularisierende Denken über Bilder zu revidieren, wird man in der voranschreitenden Kommodifizierung magischen oder animistischen Bildverstehens ausmachen dürfen, das heißt in der unterhaltungsindustriellen Wiederverzauberung einer ehemals als entzaubert erachteten Bilderwelt durch weitreichende mediale Angebote zu Themen wie Animismus, Spiritismus, Okkultismus, zum Dämonischen oder auch zum Übermenschlichen.⁸² Das hat kulturhistorische Implikationen, denn natürlich generiert das konjunkturelle Hoch „irrationaler“ Bilder in den neuen Medien Film, Fernsehen, Internet eben da Prosperität, wo es um die Bebilderung des Übersinnlichen und Unheimlichen oder auch die visuelle Darbietung des Monströsen oder Übermenschlichen geht. Die heutige Populärkultur zeichnet sich durch die Gewöhnung an das Außergewöhnliche aus und ist tiefgreifend durch Bilder des Wunderbaren geprägt. Der Verkörperung des außerordentlichen Ereignisses kam in der Geschichte immer beglaubigende Wirkung zu, denn im Bild des Wunders – man denke etwa an den fliegenden Heiligen Giuseppe da Copertino – wurde (und wird) ein magisches oder auch religiöses Denken in Form nachhaltiger Vergegenwärtigung fixiert.⁸³ Das „wunderliche“ Ereignis, das ehedem einmalig, „akosmisch und illegal“ hat sein können,⁸⁴ erwirkt in seiner Verdinglichung und 77 The Message. Kunst und Okkultismus, hg. v. Claudia Dichter, Hans Günter Golinski, Michael Krajewski und Susanne Zander (Museum Bochum, 16. Februar bis 13. April 2008), Köln 2007. 78 Gespenster, Magie und Zauber. Konstruktionen des Irrationalen in der Kunst von Füssli bis heute. Konzeption und Redaktion Melitta Kliege (Neues Museum. Staatliches Museum für Kunst und Design Nürnberg, 18. November 2011 bis 26. Februar 2012), Nürnberg 2011. 79 L’Europe des esprits ou la fascination de l’occulte, 1750 –1950, hg. v. S. Fauchereau (Musée d’Art moderne et contemporain, Straßburg, 8. Oktober 2011 bis 12 Februar 2012; Zentrum Paul Klee Bern, 31. März bis 15. Juli 2012), Straßburg 2011. 80 Zeitgespenster. Erscheinungen des Übernatürlichen in der zeitgenössischen Kunst, hg. v. F. Emslander, (Museum Morsbroich Leverkusen, 27. Oktober 2012 bis 6. Januar 2013), Köln 2012. 81 J. Voss, H. af Klint, „Die Menschheit in Erstaunen versetzen“. Biographie, Frankfurt 2020. 82 J. Imorde/J. Scheller (Hg.), Superhelden / Superheros, in: kritische b Berichte 1 (2011). 83 J. Imorde, Tränen aus Gips. Zur politischen Dimension eines Marianischen Bildwunders in Syrakus, in: C.T. Geppert/T. Kössler (Hg.), Wunder. Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert, Frankfurt 2011, 126–145. 84 V. Offen, Der Beweis eines Wunders (aus katholischer Sicht), in: Wunder. Katalog zur Ausstellung der Deichtorhallen Hamburg und der Simens Stiftung. Kuratiert von der Praxis für Ausstellungen und Theorie, hg. v. D. Tyradellis/B. Hentschel/R. Luckow, Köln 2011, 21–29, hier: 28.
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Einholbarkeit die Institutionalisierung gläubigen Nachvollzugs. Diese sich mit und durch den Gegenstand entfaltenden Legalisierungsbemühungen haben sich im Christentum besonders auch in ästhetischen Phänomenen realisieren können. In ihrer immersiven Wirkung bringen Bilder irrationaler Fähigkeiten, Kräfte oder Energien das Unzulängliche des Menschen für Momente mit einem Überschuss an Imagination zum Verschwinden. Doch scheinen die bildlichen Zurichtungen menschlicher Außerordentlichkeit in ihrer ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Potenz auch dazu geschaffen, Regelsysteme des Normalen und Durchschnittlichen zu bedienen und dergestalt mitzukonstituieren. Hier entbirgt sich möglicherweise eine der wichtigsten Funktionen der Bilder. In ihnen macht sich das menschliche Bedürfnis bemerkbar, sich am Magischen und Wunderbaren auszurichten, um das Andere in seiner Unmöglichkeit doch als Eigenes in die Anschauung zu zwingen und dergestalt in Kraft zu setzen, sei es auf gesellschaftlicher Ebene oder in privater Sphäre. Bilder vereinnahmen das gänzlich Unerreichbare und stets Unverstandene, das Unaussprechliche wie auch Unsagbare und frieden es in eine betrachtete Über-Ordnung ein. Mittel dazu sind die diskursiven Zuweisungen von Lebendigkeit, wirkender Kraft oder auch ausstrahlender Energie. Mit diesen Attribuierungen lassen sich Produzenten, Bilder und Betrachter in immer wieder neuer Weise auf den unterschiedlichsten Feldern von Zu- und Anmutungen miteinander ins Verhältnis setzen. Paul Tillichs Rede von der„ultimate reality“ wird man hier ebenso verorten dürfen wie Max Imdahls „Sehendes Sehen“.
Teil III: Dresdner philosophische Diskurse
Daniel Weidner
„Die Gemeinsamkeit in der geschichtsphilosophischen Grundrichtung schließt Spannungen und Gegensätze nicht aus“ Der Denkstil des Kairos-Kreises Im Rückblick schreibt Paul Tillich in seinen Autobiographical Reflections, er habe in der Zwischenkriegszeit kaum Bücher geschrieben, sondern vor allem Reden gehalten und Essays verfasst, weil das damals notwendig gewesen sei: Reden und Essays können wie Bohrer sein, mit denen man in unberührtes Gestein eindringt. Sie versuchen zunächst, Breschen zu schlagen, manchmal erfolgreich, manchmal vergebens. Bei meinen Versuchen, alle kulturellen Gebiete auf den religiösen Mittelpunkt zu beziehen, mußte ich diese Methode anwenden. Dadurch ergaben sich immer neue Entdeckungen – neu jedenfalls für mich – und, wie man das an der Reaktion erkennen konnte, waren sie auch für andere nicht ganz selbstverständlich. (GW XII, 70)
Allerdings habe diese Methode auch ihre Nachteile gehabt: Wie Tillich einräumt, finde sich auch in seinen systematischen Texten „ein gewisser Mangel an Konsistenz und Genauigkeit in der Terminologie“, und „verschiedene, manchmal einander entgegengesetzte Gedankengänge zeigen ihren Einfluß, und Begriffe und Argumente sind vorausgesetzt, die in anderen Werken behandelt worden sind“ (GW XII, 71). Stärken und Schwächen von Tillichs Texten sind damit prägnant benannt, sein Schreiben treffend charakterisiert: Ein Großteil der Texte Tillichs aus der Zwischenkriegszeit fallen unter das, was wir im allgemeinen als Essay verstehen, sie sind also relativ kurze Texte, die in einem Stück gelesen werden, keine klare Disposition haben, sich keinem Fachdiskurs zuordnen und dementsprechend auch auf Fachterminologie verzichten. Viele dieser Texte sind als Reden entstanden und erst später veröffentlicht worden, nicht wenige von Tillichs Büchern bestehen eigentlich aus einer Sammlung von Essays und Reden. Nicht alle diese Texte sind freilich subjektiv und reflexiv gefärbt, wie das ältere Poetiken des Essays oft verlangten – Poetiken, die eher aus der traditionellen Literaturwissenschaft stammen und den Essay aus der Perspektive der schönen Literatur betrachten.¹ Tillich redet oft nicht
1 Aus der sehr umfangreichen Forschung vgl. C. Schärf, Geschichte des Essays. Von Montaigne bis https://doi.org/10.1515/9783111264332-010
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von sich, sondern von der Welt, aber gerade darin zeigt sich wiederum ein anderer Charakter dieser Texte: ihre manifesthaften Züge, weil auch ihre Beschreibungen etwas Normatives, Appellatives und dadurch natürlich indirekt auch Subjektives haben. Vor allem zeichnen sich Tillichs Versuche, „Breschen zu schlagen“ und „verschiedene, einander entgegengesetzte Gedankengänge“ zu verfolgen, durch ein anderes Moment aus, das für die neuere, diskursanalytisch orientierte Theorie des Essays zentral ist: durch ihren interdiskursiven Charakter, also durch die Tatsache, dass sie Elemente aus Diskursen mischt, die ihre je eigene Kohärenz gerade durch wechselseitige Abgrenzung erreichen.² Wie zu zeigen sein wird, lässt sich Tillichs gesamtes Projekt einer Theologie der Kultur, also der Versuch „alle kulturellen Gebiete auf den religiösen Mittelpunkt zu beziehen“, durchaus mit Gewinn als ein interdiskursives Unternehmen verstehen. Reden, Essays und Manifeste sind deshalb interdiskursiv, weil schon ihre diffuse Adressierung nahelegt, sich nicht auf einen Fachdiskurs zu beschränken. Sie zeichnen sich darüber hinaus durch drei eng miteinander verbundene und eigentlich kaum abzugrenzende Momente aus: Als ‚Versuche‘ haben Sie einen Projektcharakter, als ‚Reden‘ sind sie hochgradig situativ und dialogisch, als ‚Manifeste‘ sind sie eher performative Äußerungen als Aussagen. Solche Texte beziehen sich daher auch weniger auf ein im Entstehen begriffenes Werk als auf wechselnde Situationen, sie sind Teil eines mehr oder weniger einheitlichen Strebens, das sich aber eher in einer Reihe von immer neuen Versuchen als in einem kohärenten begrifflichen Hintergrund manifestiert. Und als situative Versuche beziehen sie sich immer auch auf das Publikum, sie sind gewissermaßen nicht nur Versuche über etwas, sondern auch Versuche mit jemandem: Versuche, sich zu verständigen, Versuche, einen Kontext zu finden und eine Gemeinschaft zu stiften, die dann gemeinsam denken und die Wirklichkeit verändern soll. Tillichs Reden, Essays und Manifeste stellen die Forschung vor nicht unwesentliche hermeneutische Probleme. Wie auch in anderen Fällen versteht sich die Forschung zu Tillich vor allem als Tillich-Forschung, was bedeutet, dass sie einzelne Äußerungen und Beiträge primär und fast reflexhaft auf den Werkkontext zurückbezieht, oft anhand von übergreifenden systematischen Fragen. Das zeigt sich schon in der Ausgabe der Gesammelten Werke, in der die verschiedenen Texte Tillichs nach den jeweiligen Themen geordnet zusammengefasst werden und „Reden und Versuche“ dadurch gewissermaßen als Bestandteile von systematischen Werken erscheinen – ein Verfahren, das zu bestimmten Verzerrungen führt und Adorno, Göttingen 1999; L. Rohner, Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung, Neuwied/Berlin 1966. 2 Vgl. W. Braungart/K. Kauffmann (Hg.), Essayismus um 1900, Heidelberg 2006, insbes. den Beitrag von R. Parr.
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zugleich den Mangel an Konsistenz hervortreten lässt, den Tillich selbst einräumte. Dabei fällt nicht nur die Zuordnung zu einzelnen Themen oder Werkteilen schwer, weil bei interdiskursiven Texten oft kaum zu sagen ist, wozu sie eigentlich Beiträge sein wollen: zur religiösen Gegenwartsdeutung, zur Geschichtsphilosophie, zu den Streitschriften. Auch eine strenger chronologische Anordnung der Texte gemäß der Werkbiographie des Autors wäre insofern unbefriedigend, als sie gerade den sozialen Charakter dieser Texte nicht berücksichtigt, der bei einem Autor wie Tillich nicht nur kontextuell, sondern geradezu konstitutiv ist – als geborener Verbinder und Versteher schreibt Tillich nicht nur für ein Publikum, sondern geradezu mit dem Publikum zusammen. Um diesen Aspekt ernst zu nehmen, untersucht der folgende Beitrag eines von Tillichs intellektuellen Projekten als Projekt im oben erwähnten Sinn: in seinen situativen, sozialen, interdiskursiven und rhetorisch-performativen Zügen. Dieses Projekt sind die 1926 und 1929 erschienenen Schriften des Kairos-Kreises, als deren Herausgeber Tillich fungiert. Sammelpublikationen und Zeitschriften, die in der Weimarer Republik generell florieren, erlauben es auf besondere Weise, das experimentelle, essayistische und auch dialogische Denken der Zeit zu verstehen.³ Als analytisches Hilfsmittel bzw. als theoretischen Ansatz greife ich das von Ludwik Fleck entwickelte Konzept eines „Denkstils“ auf, das in der Wissensgeschichte eine starke und in der Intellektualgeschichte immerhin eine gewisse Resonanz gefunden hat.⁴ Fleck zufolge wird modernes Wissen nicht von Einzelnen, sondern von Gruppen produziert: Wissen entsteht in Denkkollektiven, die sich weniger durch gemeinsame theoretische Ansichten auszeichnen als durch einen gemeinsamen Stil, in dem Dinge gemacht und ausgedrückt werden. Dabei wird der Stilbegriff sowohl praxeologisch auf eine angelernte und routinisierte Form des Handelns bezogen – in dieser Hinsicht spricht Fleck etwa vom „Experimentalstil“ der Mikrobiologie – als auch auf einen beschreibbaren sprachlichen, diskursiven und argumentativen Stil – in diesem Sinne unterscheidet Fleck etwa die dogmatisch stabile Lehrbuchwissenschaft von der explorativeren und fluideren Zeitschriftenwissenschaft.⁵ Gerade letztere ist als Stilphänomen für den hier anvisierten Zusammenhang interessant, da gerade im essayistischen Schreiben – also dem, was der Fleck’schen Zeitschrif-
3 Das spezifisch dialogische Moment des Denkens lässt sich dabei auch auf Michail Bachtins Theorie diskursiver Hybridisierung beziehen, vgl. dazu ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. v. R. Grübel/S. Reese, Berlin 1979. 4 Vgl. dazu L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980; L. Danneberg/I. Höppner/R. Klausnitzer (Hg.), Stil, Schule, Disziplin. Analyse und Erprobung von Konzepten wissenschaftsgeschichtlicher Rekonstruktion (I), Frankfurt a. M. 2005. 5 Vgl. Fleck, Entstehung und Entwicklung, bes. 155–160.
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tenwissenschaft entspricht – der Stil konstitutiv ist: Er leistet das, was im dogmatischen Text die Begrifflichkeit leistet. Schließlich ist das Konzept des Stils auch deshalb interessant, weil die Kulturanalysen, die die Kairos-Sammlungen oft enthalten, nicht selten selbst stilanalytisch vorgehen, so etwa, wenn Tillich seine Kategorie des Dämonischen aus Analysen des künstlerischen Expressionismus gewinnt. Die folgenden Ausführungen gehen in fünf Schritten vor: Nach einer Skizzierung des sozialen Zusammenhanges des Kairos-Kreises wird in notgedrunger kursorischer Lektüre der Beiträge des ersten der Bände dieses Kreises dessen Denkstil in einigen Zügen umrissen und Tillichs Kairos-Texte im Rahmen dieses Stils kontextualisiert. Ein kurzer Blick in den zweiten Band des Kreises zeigt einen deutlich weniger experimentellen Denkstil und damit auch das Versiegen der dialogischen Dynamik, die abschließend noch einmal auf ihre besondere Erkenntnisleistung befragt wird.
1 Der Kreis als sozialer Zusammenhang Die Schriften des Kairos-Kreises richten sich zugleich an die Öffentlichkeit und an den Kreis selbst. Schon die vorhergehende Publikation, die Blätter für Religiösen Sozialismus, positionierten sich in der ersten Nummer ganz ähnlich: „Diese Blätter sind sozusagen gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wollen in einem ganz strengen Sinn, ohne den leisesten Propagandaton die Auseinandersetzung im eigenen Kreis fördern, den Geist stärken und klären“.⁶ Es handelt sich hier also gewissermaßen um paradoxe Publikationen, um Texte, die für eine nicht-öffentliche Öffentlichkeit bestimmt werden – und das öffentlich erklären. Wissenssoziologisch kann man solche Strategien wohl auf eine Krise der Öffentlichkeit zurückführen, die das frühe 20. Jahrhundert und insbesondere die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg charakterisiert. Einerseits verlagern sich informelle Verbünde und Vereine immer stärker in die Öffentlichkeit, andererseits entstehen innerhalb dieser Öffentlichkeit gerade im Maße ihres schnellen, massenmedial angetriebenen Wachstums massive Bedürfnisse zum einen nach neuen Vermittlungsformen, nach Weltanschauungen und Orientierungen, zum anderen nach neuen, exklusiveren Öffentlichkeiten. Als Antwort auf das erste Bedürfnis entsteht eine reiche Weltanschauungspublizistik, zu der auch Kulturzeitschriften und 6 C. Mennike, Unser Weg, in: Blätter für den religiösen Sozialismus 1 (1920) 1–4, hier: 4. Vgl. dazu B. Picht, Religiöse Sozialisten in der Weimarer Republik: „Der religiöse Sozialist“ und die „Blätter für religiösen Sozialismus“, in: Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern [u. a.] 2008, 383–407.
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Sammelpublikationen wie die hier zu untersuchenden Kairos-Schriften gehören.⁷ Das zweite Bedürfnis führt dazu, dass Kreise und Gruppen wichtig werden, die teils als lose intellektuelle Netzwerke, teils als miteinander konkurrierende Gruppen verstanden werden können.⁸ Der George-Kreis, fraglos der bekannteste dieser Verbindungen, zeichnet sich dabei sowohl durch eine höchst differenzierte Medienpolitik aus als auch durch ein markantes Positionsbewusstsein, zu dem nicht zuletzt auch eine breite Imagepflege in Berichten, Bekenntnissen und Erinnerungen zählt.⁹ In der Nachkriegszeit wird die Attraktivität solcher Kreise noch dadurch gesteigert, dass die traditionellen Mechanismen akademischer Karrieren durch Schülerschaft innerhalb mehr oder weniger definierter Disziplinen immer weniger funktionieren, teils aufgrund der ökonomischen Krise der Universitäten, teils aufgrund der Entstehung neuer, nicht disziplinär zurechenbarer Wissensfelder wie der Psychoanalyse oder der frühen Soziologie. Die Schriften des Kairos-Kreises, die 1926 und 1929 bei Otto Reichl erscheinen, müssen in diesem Kontext betrachtet werden, in dem sie sich schon programmatisch situieren: Die Rede vom Kairos, so Tillich einleitend zum ersten Band Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung, solle „Symbol“ sein für eine Richtung des Denkens, das auf „eine Deutung der Geschichte und dieses unseres geschichtlichen Augenblicks vom Übergeschichtlichen, vom Ewigen her“ ziele und getragen werde von der „Überzeugung, daß Sachlichkeit im Erkennen nur möglich ist durch Bewußtsein des Erkennenden darum, daß und wie er in der Geschichte steht, und darum, daß und wie die Dinge und ihr Wesen in der Geschichte stehen“.¹⁰ Auf diesen Entwurf einer philosophischen Haltung folgen zunächst Abgrenzungen – gegen kritische Philosophie und Phänomenologie, gegen Typenlehre und Relativismus –, aber auch ein Bekenntnis für Offenheit: „Die Gemeinsamkeit in der geschichtsbewußten Grundhaltung schließt Spannungen und Gegensätze unter den Mitarbeitern nicht aus.“¹¹ Denn eine spezifische „konfessionelle und parteipolitische Bindung würde unfähig machen, dieser Geisteslage der Lage unserer Zeit vor dem Ewigen, allseitig Ausdruck zu verleihen“.¹² Offenheit und Pluralität sind also 7 Vgl. H. Thomé, Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: H. Böhme/J. Schönert (Hg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Berlin/New York 2002, 338–380. 8 Vgl. R. Faber/C. Holste (Hg.), Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000; sowie F.-M. Kuhlemann/M. Schäfer (Hg.), Kreise, Bünde, Intellektuellennetzwerke: Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890–1960, Bielefeld 2017. 9 Vgl. dazu U. Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009. 10 P. Tillich, Vorwort, in: ders. (Hg.), Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung, Darmstadt 1926, IX–XI, hier: IX. 11 A. a.O., X. 12 A. a.O., X–XI.
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innerhalb gewisser Grenzen möglich und positiv konnotiert. Beiträge aller Art werden daher eingeladen und ein weiterer Band angekündigt. Auffällig an diesem Auftritt ist, dass die ‚Institution‘, aus der dieser Band hervorgeht, gar nicht genannt wird. Erst der vier Jahre später erscheinende Band Protestantismus und Gestaltung wird sich im Untertitel als Zweiter Band der Schriften des Kairos-Kreises präsentieren, es scheint somit, dass die Idee des Kreises dem Band nicht vorgängig ist, sondern auf ihn zurückprojiziert wird bzw. in der Publikation erst entsteht. Tatsächlich ist der Kairos-Kreis dann auch alles andere als eine Institution; es handelt sich vielmehr um einen losen Diskussionszirkel, der sich eine Weile in Berliner Restaurants trifft und dann schnell zerstreut, als seine Mitglieder die Stadt verlassen. Wie Matthias Casper und Alf Christophersen detailliert gezeigt haben, ist diese Gruppe zunächst davon begeistert, gemeinsam denken zu können und einen neuen Anfang nach der Krise des Weltkriegs zu finden.¹³ Als „Spannungsspezialisten“ versuchen sie,¹⁴ Widersprüchliches zusammenzudenken, verwickeln sich dabei allerdings schnell in verschiedene Streitigkeiten, Eifersüchteleien, Missverständnisse. Sozialpsychologisch lässt sich fast immer ein Nebeneinander von Tendenzen der Exklusivität und von zentrifugalen Kräften beobachten. Charakteristisch ist dabei hier, wie in vielen ähnlichen Fällen, dass der innen als wenig kohärent erlebte und eher von zentrifugalen Kräften geprägte Zusammenhang von außen als homogene Gruppe betrachtet und auch benannt wird: Oft ist dabei vom „Tillich-Kreis“ die Rede, auch wenn dieser hier keinesfalls die zentrale Figur eines charismatischen Meisters einnahm. In der Logik der Metapher existiert der Kreis im Gegenüber und im Austausch seiner Mitglieder untereinander; er ist eine Institution der Kopräsenz, die sich ihrer Einheit immer wieder in Interaktion versichert. Gerade deshalb ist es nicht ganz einfach, diesen Zusammenhang jenseits der unmittelbaren Begegnung zu erhalten, also in dem Moment, wo die Mitglieder Berlin verlassen oder in dem man eine gemeinsame Publikation plant. In der regen Korrespondenz zu diesem Thema wird einerseits versichert, es solle natürlich jeder Redefreiheit haben, andererseits immer auch das Gemeinsame betont. Der „Zweck des Ganzen“, so schreibt Eduard Heimann an Alexander Rüstow, sei „in erster Reihe die Darstellung einer gemeinsamen Grundhaltung vor Leuten, die davon noch nichts wissen“; es sei daher viel möglich, aber eine Polemik müsse immer „auf einer gemeinsamen Basis“ stattfinden und so etwas wie eine „Abschlachtung Tillichs“ würde er nicht aufnehmen 13 Vgl. M. Casper, Der Berliner Kairos Kreis, die religiösen Sozialisten und ihr möglicher Einfluss auf unsere Wirtschaftsordnung – eine Skizze, in: G. Bachmann [u. a.] (Hg.), Festschrift für Christine Windbichler zum 70. Geburtstag am 8. Dezember 2020, Berlin 2020, 1291–1321; A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. 14 Christophersen, Kairos, 100.
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wollen.¹⁵ Nach langen Verhandlungen entsteht schließlich ein Band, der sowohl verschiedene Positionen als auch radikale Polemik enthält, allerdings ein Problem deutlich macht, das man aus fast jeder Sammelpublikation kennt: Das, was in der lebendigen Diskussion als zusammenhängend und dialogisch erscheint, ist in der gedruckten Form weniger widersprüchlich als schlicht disparat.
2 Der Diskursstil der Beiträge des Kairos-Bandes von 1926 Der Band Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung, 1926 bei Otto Reichl erschienen, enthält neun Beiträge und eine Bücherschau. Fünf der Beiträge stammen von Autoren, die Casper zum Kreis rechnet: Vertreten sind Tillich mit zwei Beiträgen, Wilhelm Löw, Eduard Heimann und Carl Mennicke; fünf Autoren sind eher außerhalb des Kreises zu verorten: Theodor Siegfried, Walter Riezler, Heinz Frick, Nicolai Berdjajew und Christian Hermann. Auffällig ist, dass weder Adolf Löwe noch Alexander Rüstow vertreten sind, wohl wegen vorhergegangener Auseinandersetzungen. Der Band beginnt mit den beiden Texten von Tillich: einem manifesthaften Text zum Kairos und einer philosophischen Diskussion über Kairos und Logos. Schon diese Zweiheit unterstreicht den Führungsanspruch von Tillich – wie später zu zeigen sein wird, passt dazu auch der Argumentationsstil der Texte. Es folgen zwei philosophische Texte von Wilhelm Löw über Idealität und Realität, die nicht als Gegensätze verstanden werden, sondern sich gegenseitig erhellen sollen, und von Theodor Siegried über Phänomenologie und Geschichte, der von einer Überwindung des historistischen Relativismus handelt, wie er sich etwa bei Gundolf, Barth, Worringer und Bertram vollziehe. Der Text diskutiert breit die Theorie des Verstehens und der Einfühlung, erörtert das Verhältnis der Husserl’schen Phänomenologie zur Transzendentalphilosophie und entwickelt eine Theorie der historischen Gestalt. Weder Löw noch Siegfried sind Fachphilosophen; beide bemühen sich in einem charakteristischen, durchaus stilprägenden Sinn darum, Gegensätze zu versöhnen, aufzuheben, zu überwinden. An fünfter Stelle folgt ein Text von Walter Riezler über Baukunst am Scheideweg: Heute gehe die Renaissance als humane Epoche des Bauens zu Ende, es breche eine Zeit des Chaos aus, echte Form könne nur dann wiederkehren, wenn die Persönlichkeit wieder Vorrang gewinne: „Die Stunde ist gewaltig. Wann sich die neue Form erfüllen wird, weiß niemand.Vielleicht sind wir dem Ziele näher als wir
15 Eduard Heimann an Alexander Rüstow am 22.7.1924, zitiert nach Christophersen, Kairos, 105.
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glauben. Vielleicht ist uns überhaupt keine Erfüllung mehr beschieden.“¹⁶ Darauf folgt ein Vortrag – es ist die Antrittsvorlesung – von Eduard Heimann über Sozialismus und Sozialpolitik, nämlich über die bekannte Antinomie zwischen der sozialistischen Theorie der Verelendung und dem gewerkschaftlichen Streben nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dieser Gegensatz besteht nach Heimann freilich nur so lange, wie man an der strikt materialistischen Basis der Theorie festhalte, er könne daher von einem religiösen Sozialismus überwunden werden. Im folgenden Beitrag Das sozialpädagogische Problem behandelt Carl Mennicke, eine der Schlüsselfiguren des Kreises, das die Zeitgenossen sehr beschäftigende Problem der Bildung in ebenfalls typischer Argumentationsweise. Einerseits gebe es keinen Zweifel „daß die Fülle und Kraft einer gesellschaftlichen Bildungsatmosphäre abhängig ist von dem Ernst und der Tiefe der religiösen Entscheidung“,¹⁷ andererseits spielen bei der Bildungsfrage auch die gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle, die dann breit entwickelt werden. Ein weiterer Beitrag von Heinrich Frick, Der Katholisch-Protestantische Zwiespalt als religionsgeschichtliches Urphänomen, will den Konfessionsunterschied als Wesensunterscheidung betrachten, die man auch im Buddhismus und Hinduismus finden könne. Der letzte Einzeltext – mit 80 Seiten der längste im gesamten Band – stammt von Nikolai Berdjajew, einem Autor, den man fast in jeder zeitgenössischen Kulturzeitschrift vertreten sieht. Unter dem Titel Die russische religiöse Idee entwickelt Berdjajew hier eine weit ausgespannte Kulturkritik: Der Westen könne nicht mehr vom eigenen Licht leben und wende sich daher nach Russland, denn dieses verkörpere heute die großen Antinomien, etwa zwischen ontologischem Realismus und kommunistischem Nihilismus, deren Entscheidung unmittelbar bevorstünde: „Es ist uns nicht gegeben, Zeiten und Fristen zu bestimmen. Nur der Vater weiß, wann der Sohn kommen wird. Die apokalyptische Periode kann Jahrtausende dauern. Aber sie bedeutete das Entstehen einer geistigen Atmosphäre der christlichen Vollendung und einer letzten Erfüllung.“¹⁸ Den Band beschließt eine von Christian Hermann verfasste Bücherschau, die weniger einen „Überblick über die philosophische Literatur der letzten zwei oder drei Jahre“ geben will, sondern versucht, „an einigen Werken der Philosophie und der Geisteswissenschaften unserer Zeit ihr inneres Sehnen abzulauschen“.¹⁹ Der Beitrag beginnt mit einer Auseinandersetzung mit Ernst Troeltschs Der Historismus und seine Probleme, diskutiert dann eine Theorie der Dialektik von Jonas Cohn, 16 W. Riezler, Die Baukunst am Scheideweg. Ein Versuch, in: Tillich (Hg.), Kairos, 233–288, hier: 287. 17 K. Mennicke, Das sozialpädagogische Problem in der gegenwärtigen Gesellschaft, in: Tillich (Hg.), Kairos, 311–344, hier: 316. 18 N. Berdjajew, Die russische religiöse Idee, in: Tillich (Hg.), Kairos, 385–466, hier: 465 f. 19 C. Herrmann, Bücherschau, in: Tillich (Hg.), Kairos, 467–483, hier: 467.
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einen Vergleich von Kant und Husserl von Walter Ehrlich und verschiedene Schriften von Paul Tillich, die diesen Gegensatz überwinden wollen. Im Anschluss werden verschiedene spekulative Bücher aus Metaphysik, Weltanschauungstheorie, religiöser Geschichtsmetaphysik – hier auch Berdjajew – und Religionstheorie diskutiert und als Ausdruck der „weltschöpferischen Kraft des Geistes“ gelesen,²⁰ durch welche sie ihrerseits die Gegensätze, vor allem zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, überwinden wollen. Die Bücherschau macht besonders deutlich, wie man sich im Verhältnis zu anderen zeitgenössischen Strömungen positioniert. In dieser Hinsicht ist übrigens auch die Verlagswerbung auf den letzten Seiten des Bandes aufschlussreich, die zeigt, welche Texte aus der Perspektive des Verlags dem Kairos-Band ähnlich sind: Er erscheint in der Reihe Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung. Philosophie und Religion. Geisteswissenschaften, in der zahlreiche Bücher von Leopold Ziegler, Graf Hermann Keyserling, Otto Flake, Gerhard von Mutius und Alexander von Gleichen erscheinen, aber auch Übersetzungen von Dante und Berdjajew, ein philosophisches Buch über die Sechs großen Themen der Metaphysik von Heinz Heimsoeth oder Anthologien zu Umkehr und Erneuerung, Spannung und Rhythmus oder Gesetz und Freiheit. An diesem notgedrungen kursorischen Überblick lassen sich einige Gemeinsamkeiten ablesen – und auch einige Divergenzen. Den Großteil der Texte charakterisiert eine Rhetorik der Überwindung der Gegensätze: Zunächst werden Positionen konstruiert und dann auch typologisch einander entgegengesetzt: Das können Idealität und Realität, Geschichte und Wahrheit, Phänomenologie und Neukantianismus, aber auch Sozialismus und Sozialpolitik sein. Dann wird nach einem Standpunkt gesucht, von dem aus sich dieser Gegensatz überwinden lässt. Nicht selten wird dieser Standpunkt als etwas Zukünftiges, Ausstehendes evoziert, wie das vor allem in den zitierten abschließenden, stark appellativen Gesten der Texte deutlich wird, die sich durch eine Rhetorik der Aktualität und Dringlichkeit auszeichnen, die für die Frühphase der Weimarer Republik höchst charakteristisch ist. Die für diese Texte charakteristischen Typologien haben verschiedene Formen und Funktionen: Bei Heimann etwa entsteht der Gegensatz von Sozialismus und Sozialpolitik im Rahmen eines im wesentlichen politikwissenschaftlichen Arguments, bei Berdjajew werden Osten und Westen zu einem Mittel der Kulturkritik, im Fall von Hermanns Bücherschau wird gleich eine Vielzahl von Typologien aufgefahren, um ein unübersichtliches Feld zu ordnen. Insgesamt handelt es sich weniger um feste begriffliche Unterscheidungen als um versuchshafte Orientierungen: Sie werden bewusst von Laien aufgestellt und richten sich an Laien; mit
20 A. a.O., 483.
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ihrer Hilfe wird versucht, noch über „Realität und Idealität“ gemeinverständlich zu reden, sie beziehen sich – zumindest in der erwähnten Schlussgeste – appellativ auf ihre Hörer. Insofern sind sie ‚dialogisch‘ sowohl in dem Sinne, dass sie sich im Austausch mit ihrem Leser befinden als auch in ihrer Beziehung zu anderen Texten, und schließlich im erweiterten Sinn, dass sie verschiedene Stimmen und Diskurse miteinander verbinden, in sich mehrstimmig sind – und gerade darin typisch für eine interdiskursive Essayistik. Denkstilistisch gibt es daher eine Reihe von Überlappungen, aber auch ein hohes Maß an Disparität und Dynamik; der gemeinsame Denkstil führt hier nicht disziplinär zur Herstellung eines Gegenstandes, wie das in der mit Fleck beschriebenen Mikrobiologie der Fall ist; er hat eher die manifesthafte Funktion, etwas noch Ausstehendes zu evozieren.
3 Die zentrale Figur des Kairos Aus dieser Perspektive und Funktion lassen sich nun auch Tillichs Texte verstehen, und zwar besser und adäquater, als wenn man sie einfach als philosophische Entwürfe betrachtet. Das gilt vor allem für den ersten Text des Bandes, Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart, der ganz im Stil des programmatischen Manifestes geschrieben ist: Er markiert den gemeinsamen Problemhorizont der Texte – grob gesagt: das Problem des Historismus – und entwirft einen bestimmten Sprechgestus, den Tillich explizit als ‚prophetisch‘ charakterisiert: „Eine Zeit als Kairos betrachten heißt […], sie im Geiste der Prophetie zu betrachten.“²¹ Dabei wird der Kairos wie auch die Prophetie als „Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit“ figuriert; zugleich wird „die Überwindung des Geistes der bürgerlichen Gesellschaft“ zum „Archimedischen Punkt“ der Deutung der Zeitlage erklärt.²² Beide Bewegungen erlauben die Verbindung von Kulturkritik und dezisionistischer Geste, eine Verbindung, die sich im Schlagwort des Kairos verdichtet und damit auch die erwähnte manifesthafte Logik in Vollzug setzt: Vom Kairos zu sprechen, heißt den Kairos aufrufen, heißt zugleich einen Raum zu eröffnen, in dem vom Kairos und im Namen des Kairos gesprochen wird: genau den Raum, in dem die Beiträge des Bandes sprechen sollen.
21 P. Tillich, Kairos. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart, in: ders. (Hg.), Kairos, 1–22, hier: 8; zum Kairos-Text im Kontext von Tillichs Äußerungen der Zeit vgl. Christophersen, Kairos, 107–115; zur Konjunktur der Prophetie in der Weimarer Republik vgl. auch D. Weidner, Mächtige Worte zur Politik der Prophetie in der Weimarer Republik, in: D. Weidner/S. Willer (Hg.), Prophetie und Prognostik, Leiden 2013, 37–57. 22 Tillich, Kairos, 5.
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Allerdings erschöpft sich Tillichs Kairos-Text nicht in dieser performativen Geste und ist nicht ungebrochen. Das ist schon deshalb nicht der Fall, weil es sich um eine Wiederholung handelt. Tillich hatte bereits ein anderes Mal den Kairos ausgerufen, als er 1922, mitten in der Krise der Republik einen Kairos-Text in Die Tat veröffentlichte und auch hier den Geist der Prophetie und der Krise anrief.²³ Prophetie lässt sich nun nicht so einfach wiederholen, der zweite Kairos-Text von 1926 muss also auch eine Enttäuschung verarbeiten, wohl auch Kritik aus dem Kreis, u. a. von Rüstow, der den ersten Kairos-Text als sehr enttäuschend bezeichnet hatte.²⁴ Im neuen Kairos-Text fragt Tillich nun daher selbstkritisch, ob das damalige Ausrufen der Stunde der Entscheidung nicht verfrüht gewesen sei: „War nicht doch alles Romantik, Rausch, Utopie?“²⁵ Müsse nicht die Krise überhaupt komplexer gedacht werden als durch bloße Beschwörung des Einbruchs eines Anderen, müsse das Element der (destruktiven) Kritik nicht ergänzt werden durch das des (konstruktiven) Sakraments? Hinter solchen Formulierungen steht nicht nur eine sich verschärfende Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie Barthscher Prägung, sondern auch eine Reaktion auf eine veränderte politische Wirklichkeit und eine Revision der eigenen Position: Man habe sich die Überwindung eben zu leicht vorgestellt: „Der Geist der bürgerlichen Gesellschaft ist viel zu stark, als daß er durch Romantik, Sehnsucht und Revolution überwunden werden könnte. Seine dämonische Kraft ist viel zu groß.“²⁶ Der Kairos, der 1926 ausgerufen wird, muss also komplexer gedacht werden – und hat in der Rede vom „Dämonischen“ bereits ein argumentatives Gegenstück, das an Tillichs rhetorisch wohl prägnanteste Äußerung dieser Zeit, den Text über Das Dämonische, anknüpft. Dass der Kairos mehr ist als nur eine rhetorische Geste, zeigt aber auch Tillichs anderer Text, der Aufsatz über Kairos und Logos, im Untertitel Eine Untersuchung zur Metaphysik des Erkennens. Hier werden, weit ausholend, eine ganze Batterie von Begriffen durchgespielt, um einerseits Logos, Methode und Zeitlosigkeit, andererseits Kairos, Mystik und Gegenwärtigkeit einander gegenüberzustellen. Im Gegensatz zum stark appellativen, existenziellen, mitunter fast persönlichen Ton des ersten Textes scheint Tillich hier demonstrieren zu wollen, dass die Rede vom Kairos sich auch in die Tradition philosophischer Begriffe einfügt bzw. sich mit diesen verbinden lässt. Letztlich geht es Tillich auch hier darum, einen „dynami-
23 Zum Vergleich der Texte vgl. auch D. Weidner, Prophetic Criticism and the Rhetoric of Temporality: Paul Tillich’s „Kairos“ Texts and Weimar Intellectual Politics, in: Political Theology 21 (2020) 71–88. 24 Vgl. dazu Christophersen, Kairos, 104–105. 25 Tillich, Kairos, 20. 26 Ebd.
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sche[n] Wahrheitsgedanke[n]“ zu entwickeln,²⁷ der Kairos und Logos positiv aufeinander bezieht und damit auch das eigene Unternehmen in einen allgemeineren Kontext stellt; der Weg geht hier allerdings durch die erwähnten philosophischen Erörterungen hindurch. Beide Texte, ließe sich sagen, stehen für zwei Seiten von Tillichs Denken und Schreiben: den Willen und die Fähigkeit zum Schlagwort – Kairos, Prophetie, Dämonie – und die Neigung zu formalen Antithesen.
4 Der Protestantismus-Band von 1929 1929 erscheint, ebenfalls bei Otto Reichl, der Band Protestantismus als Kritik und Gestaltung, nun mit dem Untertitel Zweites Buch des Kairos-Kreises. Er umfasst elf Beiträge. Außer Tillich gehört keiner der Autoren zu den Kreis-Mitgliedern im engeren Sinn, allerdings sind mit Theodor Siegfried und Heinrich Frick zwei Beiträger aus dem ersten Band erneut vertreten. Durch Titel und Zusammensetzung spiegelt dieser Band nicht nur die Auflösung des Kreises als einer realen Institution wider – die Mitglieder hatten inzwischen längst Berlin verlassen, auch die Korrespondenzen zwischen ihnen waren gegenüber 1926 deutlich ausgedünnt –, er situiert sich auch anders: weniger in der allgemeinen Zeitdiagnostik als in der innerkirchlichen, genauer innerprotestantischen Debatte. Zwar heißt es in Tillichs Einleitung, dieses Buch sei nicht aus „Zufall“ dem Protestantismus gewidmet und verstehe diesen weniger als Konfession denn als „Haltung“, nämlich die „Haltung, in der die unbedingte Kritik ihren Ausdruck findet, die vom Ewigen her über jede Gestaltung in der Zeit ergeht“.²⁸ Erneut wird dabei auch betont, dass man keine „Uniformität der Auffassungen“ erwarte, wohl aber „eine Einheit in der Grundhaltung“, nämlich durch „ein Ringen um das Gestaltungsproblem aus dem Geist des Protestantismus“.²⁹ Mit dieser letzten Bestimmung stellt sich die Einleitung aber doch bestimmt in den Kontext der langen Debatte, was denn eigentlich diesen Geist des Protestantismus ausmache; aufschlussreich ist dabei, dass Tillich in seiner Inhaltsübersicht die Beiträge über Katholizismus, Ostkirche und Judentum – immerhin ein Drittel des Bandes – nur im Vorübergehen, als Versuche der „Lösung des Problems im außerprotestantischen Christentum“ erwähnt,³⁰ also dezidiert als Seitenstücke behandelt.
27 P. Tillich, Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik des Erkennens, in: ders. (Hg.), Kairos, 23–76, hier: 74. Zu diesem Text vgl. auch Christophersen, Kairos, 116–120. 28 P. Tillich, Vorwort, in: ders. (Hg.), Protestantismus als Kritik und Gestaltung, Darmstadt 1929, IX– XI, hier: IX. 29 A. a.O., X. 30 Ebd.
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In seinem eigenen einleitenden Beitrag Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip arbeitet Tillich sein altes Schema von Kairos und Sakrament zu dem von Kritik und Gestaltung um. Kritik ist mit der Prophetie assoziiert, die als Grund auch rationaler Kritik figuriert wird: „[D]ie prophetische Kritik wird konkret in der rationalen Kritik. Und die rationale Kritik bekommt durch die prophetische den Charakter der Unausweichlichkeit, Unbedingtheit“.³¹ Aber diese Kritik werde eben auch durch die Gnade und auch durch das Ideal wieder begrenzt. Explizit wird das auch auf die alte Kairos-Idee zurückbezogen: Die Gestalt der Gnade als lebendige Gestalt und damit die Geschichte als Ort der Wesensverwirklichung, das liegt im protestantischen Prinzip beschlossen und muss aus ihm herausgeholt werden. Die Idee des ‚Kairos‘ als erfüllte Zeit oder Verwirklichung der Gestalt der Gnade in einem neuen Wesen ist der Versuch, diese Seite des protestantischen Ethos deutlich zu machen.³²
Die Position ist an sich ähnlich – vielleicht etwas weniger paradox und radikal –, sie bewegt sich nun aber in den bekannten Bahnen der Bestimmung des Protestantismus. Dezidiert protestantisch und entlang geradezu typisch kirchlicher Fragen argumentieren dann auch die folgenden Texte: Ernst Lohmeyer über Kritische und gestaltende Prinzipien im Neuen Testament, Theodor Siegfried über Das Gewissen bei Luther und Kant – ein klassisch kulturprotestantisches Thema –, Heinrich Frick über die verschiedenen Spielarten des Protestantismus (Die gestaltenden Kräfte des weltlichen Protestantismus und die protestantische Einheit); Alfred Dedo Müller über Die Möglichkeiten einer Protestantischen Kirche und Adolf Allwohn über Abbau und Aufbau des Kultus, der „in unserer Zeit“ „völliger Entleerung verfallen“ sei.³³ Man sieht hier immer wieder Spuren des alten Argumentationsstils, nun aber eingefasst in typische innerkirchliche Diskussionen. Aus dieser Reihe fallen nur die letzten vier Texte: Eugen Rosenstock entwickelt in Protestantismus und Seelenführung eine scharfe Kritik des Protestantismus, auf die abschließend noch mal zurückzukommen sein wird. Drei Texte sind anderen Religionen gewidmet: ein anonymer und nur als „ein katholischer Geistlicher“ bezeichneter Autor erörtert in Kritik und Gestaltung oder das Geistprinzip im Katholizismus, dass auch der Ka-
31 P. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Element, in: ders. (Hg.) Protestantismus als Kritik, 3–37, hier: 7 f. 32 A. a.O., 35. 33 A. Allwohn, Der Protestantismus als Abbau und Aufbau des Kultus, in: Tillich (Hg.), Protestantismus, 177–218, hier: 212.
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tholizismus seine eigenen Kairos-Momente kennt.³⁴ Simon Frank betont in Gestalt und Freiheit in der Griechischen Orthodoxie, dass die Ostkirchen keine verbindlichen Dogmen kennen, sondern als religiöse Organismen begriffen werden müssen; ihre religiösen Gehalte „werden sozusagen konkret ästhetisch am ganzen Lebensstil der orthodoxen Kirche offenbar“.³⁵ Max Wiener entwickelt in Tradition und Kritik im Judentum, dass für das Judentum sowohl Tradition wie auch deren immanente Kritik von zentraler Bedeutung seien und dass man deren Zusammenspiel nur vor dem Hintergrund der historischen Schicksale der Juden verstehen könne. Das Bekenntnis zur nicht nur konfessionellen, sondern auch volkhaften Existenz der Juden, also zum Zionismus, dürfte den meisten Lesern dabei eher schwer verständlich gewesen sein und betont nochmals den Außenseitercharakter der letzten drei Texte. Aus dem Projekt eines Kairos-Kreises scheint hier nun endgültig eine Sammlung geworden zu sein, was auch zur Folge hat, dass ein Denkstil nur noch schwer auszumachen ist oder vielleicht auch: dass der Denkstil so allgemein geworden ist, dass er nun auf alles und jedes zu übertragen ist. Was vorher Kreis und Stil bewirkten, nämlich einen Kontext bereitzustellen, der zur Kohärenz und Bedeutsamkeit der Beiträge beiträgt, leistet nun eher das Milieu: die immer schon gegebene Verbindung von Kirche und Theologie. Auch diese Texte haben essayistische Züge, aber sie stehen weniger im riskanten Kairos eines bestimmten Moments als in den immer schon bestehenden Routinen innerkonfessioneller Selbstverständigung.
5 Essayismus als Wissensform und Schreibstrategie Kommen wir noch einmal auf die Anfangsfragestellung nach der spezifischen Erkenntnisleistung des essayistischen und dialogischen Stils zurück. Welche Rolle spielt dieser Stil tatsächlich in den Kairos-Texten? Was leistet er, welche Art von Wissen kommuniziert und produziert er, was ist also seine epistemologische Funktion? Adorno schreibt in Der Essay als Form einmal, der Essay verfahre sozusagen „methodisch unmethodisch“, weil er zwar begrifflich argumentiere, seine Begriffe aber nie ganz zu eigen mache: „Wie der Essay die Begriffe sich zueignet, wäre am ehesten vergleichbar dem Verhalten von einem, der in fremdem Land
34 Vgl. N.N., Kritik und Gestaltung oder das Geistprinzip im Katholizismus, in: Tillich (Hg.), Protestantismus, 263–308, hier: 263. 35 S. Frank, Gestalt und Freiheit in der Griechischen Orthodoxie, in: Tillich (Hg.), Protestantismus, 309–346, hier: 338.
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gezwungen ist, dessen Sprache zu sprechen, anstatt schulgerecht aus Elementen sie zusammenzustümpern.“³⁶ Essayistisches Schreiben ist dialogisch nicht nur in dem Sinne, dass es mit dem Leser schreibt, sondern dass es, indem es mit den jeweiligen Sprachen und ihren Begrifflichkeiten spielt, verschiedene Sprachen vermischt und verfremdet, ohne ‚schulgerecht‘ über ein Wörterbuch zu verfügen. Um das epistemologische Profil dieses Verfahrens zu erkennen, muss man einen Schritt zurücktreten, muss die Bücher des Kairos-Kreises mit anderen zeitgenössischen Publikationen vergleichen, die um ähnliche Probleme kreisen. Nicht unähnlich ist etwa die von Martin Buber, Viktor von Weizsäcker und Joseph Wittig herausgegebene Zeitschrift Die Kreatur, sie erscheint vierteljährlich von 1926 bis 1929, also parallel zu den Kairos-Büchern. Sie stellt programmatisch den Austausch und den Dialog ins Zentrum, weil ihre Herausgeber zu drei verschiedenen Konfessionen gehören, aber auch, weil Religion in der Gegenwart nicht mehr in Konfessionen aufgehe.³⁷ Die Essays, die in der Zeitschrift erscheinen, ähneln dann denen aus den Kairos-Büchern inhaltlich darin, dass sie nicht Religiöses unter einem religiösen Gesichtspunkt betrachten; sie ähneln ihnen jedoch auch stilistisch, bedienen sich in ganz ähnlicher Weise der antithetischen Typologien. Die Sprache des Religiösen, die im 19. Jahrhundert im Zeichen der Autonomie der Religion oft selbstreferentiell innerhalb der Konfession zirkuliert, wird mit anderen Sprachen vermischt: denen der Kunst, Politik, Erziehung. Gerade diese Hybridisierung verschiedener Diskurse wäre also das produktive, und sie ist so lange produktiv, wie sie hybrid oder metaphorisch bleibt und sich nicht entweder terminologisiert wird oder so abnutzt, dass sie vollständig geläufig wird. Die Geste der Übertragung ist dabei besonders im Fall Tillichs noch komplexer, weil sie auf eine andere Rhetorik, einen anderen Denkstil reagiert. Diskursgeschichtlich ist die Konjunktur des Religiösen auch und gerade in der Form hybrider Religionsdiskurse natürlich essentiell durch die Dialektische Theologie Barthscher Form geprägt, durch eine Rhetorik der Distinktion und Diastase, die zunächst das eigentlich Religiöse von den Formen und Idiomen der Kultur ablöst. Auch das ist wesentlich ein rhetorisches Manöver – man könnte es die Tambacher Geste nennen – nach der Art, wie Barth dort die Frage des Christseins von allen Fragen der Gesellschaft unterscheidet. Und dieser Stil wird tatsächlich stilprägend, wird ein Denkstil der Theologie, den man an anderen Orten, zwischen den Zeiten, unter-
36 T.W. Adorno, Der Essay als Form, in: ders., Noten zur Literatur I, Berlin 2003, 9–33, hier: 21. 37 Vgl. dazu D. Weidner, „Going together without coming together“: „Die Kreatur“ and Why We Should Read German Jewish Journals Differently, in: Naharaim 10 (2016) 103–126. Zum Zusammenhang von Denkstil, Denkkollektiv und Zeitschrift vgl. den Beitrag von G. Frank, Die Kreatur und Walter Benjamins Periodika-Netzwerk der 20er Jahre. Neue Zugänge der Zeitschriftenforschung, in: Naharaim 13 (2019) 29–71.
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suchen könnte: ein Stil, der erlaubt, Theologie anders zu betreiben, der aber zugleich auch wieder disziplinär verortet ist – und darin dem Fleckschen Denkstil viel näher ist.³⁸ Tillichs Denken und Schreiben richtet sich, das haben wir schon gesehen, mit und gegen diese Geste. Seine Texte der 1920er Jahre richten sich gegen das abstrakte ‚Nein‘, teils mit logischen Argumenten, teils mit eigenen Stilfiguren und Bildern für den eigenen Standpunkt. So heißt es etwa in Kairos und Logos, der absolute Standpunkt sei ein „Wächterstandpunkt“, der das Denken daran hindere, dass irgendeine Erkenntnis den Anspruch auf Unbedingtheit erhebe,³⁹ er sei eigentlich gar kein fester Standpunkt, sondern „nur ein ständig mit dem Gegner wechselnder Kampf gegen irgendeinen Standpunkt, der sich unbedingt setzen will. Aber der Wächter ist zugleich der, der auf das Heiligtum hinweist, das er bewacht. Sein Dasein selbst ist dieser Hinweis“⁴⁰. Der Wächter vor dem Gesetz – das ist ein zugleich komplexes und prägnantes Bild für das Ja und das Nein, das gerade darum deren Spannungen zum Ausdruck bringt, weil es sich nicht so leicht in eine eigentliche Bedeutung auflösen lässt. Ob das Bild auch Assoziationen zu Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ aufweist, bleibt eine offene Frage. An der Frage der diskursiven Hybridität lassen sich jedoch gleichermaßen die Texte der Kairos-Bände, und vielleicht auch die Texte Tillichs generell, unterscheiden. Denn einerseits gibt es Texte, die bewusst Idiome vermischen und oft auf verdichtete Formeln hinauslaufen wie den Kairos oder die Dämonie, von denen dann nicht mehr so leicht zu sagen ist, ob sie einem religiösen, einem zeitdiagnostischen oder einem geschichtsphilosophischen Diskurs zuzuordnen sind. Nicht wenige Texte gehen hingegen anders vor, indem sie eher die erwähnten Antithetiken entfalten, sei es in idiosynkratischen Denksystemen oder entlang existierender Schulprobleme wie dem Verhältnis Philosophie und Geschichte. Diesen Unterschied verkörpern die beiden Tillich-Texte im ersten Band geradezu idealtypisch: Kairos funktioniert als Manifest essentiell performativ und löst seine Antinomien nicht auf, Kairos und Logos spielt eine Fülle von Oppositionen durch und kommt kaum zu einer prägnanten Geste – mit der nicht unwichtigen Ausnahme des zitierten „Wächterstandpunktes“. Dass der Gegensatz zwischen essayistischem Bohren in der Wirklichkeit und begriffsdialektischem Überfliegen derselben für Tillichs Denken insgesamt charakteristisch zu sein scheint, wurde bereits einleitend vermutet.
38 Zu Barths ‚Stil‘ aus einer, freilich, mehr rhetorischen als wissenssoziologischen Perspektive vgl. S.H. Webb, Re-Figuring Theology: The Rhetoric of Karl Barth, New York 1991. 39 Vgl. Tillich, Kairos und Logos, 72. 40 Ebd.
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Und das gilt keineswegs nur für die Texte Tillichs. Im Gegenteil sieht man die Spannung dieser zwei Elemente meines Erachtens sehr viel deutlicher im Kontext der Zeitschrift, das heißt, wenn man sich von den einzelnen Beiträgen löst und auf den gemeinsamen Stil der Gruppe schaut. Wie schon angedeutet, greifen viele der Autoren die von Tillich benutzen Gegensätze auf und verarbeiten sie zu Typologien, zu idiosynkratischen Systemen und Privatmetaphysiken, in denen der jeweilige Standpunkt aufwändig und doch immer etwas unscharf erläutert wird. Aber das gilt auch wieder nicht für alle, denn Tillich ist keineswegs der einzige, dem es gelingt, produktiv essayistisch zu schreiben. Gerade im zweiten Band, in dem viel von der kreativen Energie verlorengegangen zu sein scheint, gibt es eine Ausnahme: den Text von Eugen Rosenstock über Protestantismus und Seelenführung. Rosenstock formuliert den Titel als Problem: „Eine Seelenführung gibt es im Protestantismus nicht.“⁴¹ Und weil der Protestantismus eine eigentliche Seelenführung nicht kenne, müsse vor allem der protestantische Pfarrer die ganze Last des auf sich geworfenen Gläubigen tragen: Er sei ganz allein, müsse die gläubige Seele vorleben, stärke sein Herz an der Literatur und Landwirtschaft, erhalte aber selbst keine Unterstützung. Überhaupt sei Seelenführung heute etwas anderes als in der Vergangenheit, der Priester der modernen Gesellschaft sei der Arzt, der die Autorität zur „Lossprechung von Schuld und Verantwortung“ habe, ihr Prediger der Journalist, denn „die Zeitung ersetzt dem modernen Menschen die Bibel-Lektüre.“⁴² Für den modernen Menschen könne Seelenführung auch nicht mehr einfach Lebensführung sein, sie müsse eher einer Alternative zum immer bewusster und immer effizienter geführten Leben der Moderne werden, wofür Rosenstock unverzüglich eine prägnante Metapher findet: Seelsorge werde heute „zu einer Ausweiche, einer Umfahrschiene für unsere allzu geradlinig und allzu zweckhaft vorwärtsfahrenden Lebenswagen“.⁴³ Man kann die Rede von der ‚Ausweiche‘ für ein etwas missglücktes Bild halten; sie versucht aber immerhin, die Situation der christlichen Seelsorge in der Moderne neu und originell zu sehen – und gerade darin, in ihrem Überraschungs- und Verfremdungseffekt, steht sie für ein spezifisch essayistisches Wissen. Die Besonderheit dieses essayistischen Wissens versteht man erst dann, wenn man den einzelnen Text zusammen mit seiner Umgebung in den Blick nimmt. Man muss den kollektiven Charakter dieses Denkens ernst nehmen, das sich immer in Diskussion mit anderen Mitgliedern des ‚Kreises‘, der ‚Gruppe‘ oder der Denkgemeinschaft versteht, die insgesamt Religion neu denken und neu zur Sprache 41 E. Rosenstock, Protestantismus und Seelenführung, in: Tillich (Hg.), Protestantismus, 219–260, hier: 224. 42 A. a.O., 247. 43 A. a.O., 256.
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bringen will und dazu gerne bereit ist, gegebene Diskursgrenzen zu überschreiten, verschiedene Themen zu vermischen und neue Kombinationen oder neue Metaphern zu erproben. Dass es sich bei solchen Kombinationen weder um systematische Konstruktionen noch schlicht um individuelle Idiosynkrasien handelt, erkennt man erst, wenn man die Texte im Zusammenhang ihrer benachbarten Texte liest; denn dann wird deutlich, dass es hier zwar ein gemeinsames Unternehmen gibt – grob gesagt, eine religiös grundierte Kulturkritik, eine Verbindung sozialkritischer und religiöser Argumente –, das aber durchaus verschiedene Ausprägungen kennt.
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Sinntheorie und Klassenkampf im Kairos-Kreis Paul Tillichs und Eduard Heimanns Beiträge über Die gegenwärtige Lage und den religiösen Sozialismus Paul Tillichs Anfangszeit in Dresden war von einer beachtlichen Publikationstätigkeit geprägt. Statt sich erst einmal am neuen Wirkungsort einzufinden, erschienen kurz nach seiner Berufung in die Elbmetropole im darauffolgenden Jahr 1926 mit dem Sammelband Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung und dem Buch Die religiöse Lage der Gegenwart gleich zwei Werke, die sich dezidiert mit seiner Idee eines religiösen Sozialismus auseinandersetzen. Der religiöse Sozialismus ist ein Thema, das Tillich bereits seit seiner Zeit als Berliner Privatdozent beschäftigt. Tillich brachte die Idee eines religiös begründeten Sozialismus vor allem im Zusammenhang mit einem Kreis aus jungen in Berlin lebenden Theologen und Ökonomen, der in der Forschung oft nur Kairos-Kreis genannt wird, voran. Sowohl der Kairos-Sammelband als auch Die religiöse Lage der Gegenwart sind Früchte, die aus der Arbeit in diesem Netzwerk entstanden waren und bereits vor Dresden geplant waren, dort aber erst zu Papier gebracht werden konnten. Ähnlich wie Tillich hatten die meisten Mitglieder des Kairos-Kreises, der 1920 gegründet wurde, Berlin inzwischen verlassen und waren über die gesamte Republik verstreut. Trotzdem bestand weiterhin ein loser Austausch zwischen den Mitgliedern fort und Tillich wirkte auch aus Dresden auf das Programm des Kreises. Besonders der Sozialökonom Eduard Heimann, der inzwischen einen Ruf nach Hamburg erhalten hatte, rezipierte im Rahmen seiner sozialökonomischen Forschung Tillichs Religionsphilosophie und seine religiös-sozialistischen Texte. Dabei nahm er sinntheoretische Begründungsfiguren Tillichs auf und formulierte sie zu einer religiös-sozialistischen Theorie des Klassenkampfes um. Heimann und Tillich wurden zu dieser Zeit die Zugpferde des Kairos-Projekts, was nicht zuletzt auch daran lag, dass die beiden mit den anderen Mitgliedern in bestimmten Fragen zur Ausrichtung des Kreises über Kreuz lagen. Ausdruck der intellektuellen Verbundenheit des Ökonomen Heimann und des Theologen Tillich finden sich besonders in ihren Beiträgen auf der Tagung Die gegenwärtige Lage und der religiöse Sozialismus, die sie im Oktober 1925 in Berlin im Rahmen der Akademischen Arbeitswoche der Blätter für religiösen Sozialismus präsentierten.
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1 Tillichs ökonomischer Verbündeter und die Neuausrichtung des Kairos-Kreises Der in der Tillich-Forschung oft nur in Fußnoten erwähnte Eduard Heimann lebte bis zu seiner Berufung nach Hamburg auf einen Lehrstuhl für theoretische und praktische Sozialökonomie größtenteils in Berlin und hatte ein durchaus bewegtes Leben, das sich auch außerhalb akademischer Kreise abspielte. Er wuchs in einer liberal-jüdischen, wohlhabenden Kaufmannsfamilie auf. Der sozialistische Geist der Jahrhundertwende war Heimann bereits in die Wiege gelegt: Sein Vater, Hugo Heimann, war zunächst ab 1900 sozialdemokratischer Stadtverordneter in Berlin. Während der Zeit der Weimarer Republik stieg er bis zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses im Reichstag auf.¹ Im Studium genoss Eduard Heimann eine breite sozialwissenschaftliche und ökonomische Bildung, die weit über sozialistische und marxistische Theoriebildung hinausreichte. So hörte er in Heidelberg die beiden Weberbrüder, Alfred und Max; in Wien studierte er bei Vertretern der neoklassischen Schule und später zurück in Berlin wurde Franz Oppenheimer sein Lehrer.² 1912 hat Heimann bei Alfred Weber promoviert. Heimann wurde wegen Krankheit 1913 vom Kriegsdienst befreit.³ Während des Ersten Weltkriegs strebte er zunächst eine Karriere außerhalb des akademischen Betriebs an; unter anderem bei der teilstaatlichen Zentral-Einkaufsgesellschaft, die während des Kriegs den Lebensmittelaußenhandel zentralisierte.⁴ 1919 wurde Heimann Generalsekretär der Sozialisierungskommission für Bergbau im Reichswirtschaftsministerium. Aufgabe der Kommission war es, ein Vergesellschaftungsprogramm für die deutsche Bergbauindustrie zu entwickeln. Die Pläne der Kommission wurden nie in die Tat umgesetzt.⁵ Allerdings mündeten die theoretischen Überlegungen seiner Arbeit in eine Habilitation in Nationalökonomie im Jahr 1922.⁶ Anschließend wirkte er bis
1 A. Pfeiffer, Religiöse Sozialisten, Freiburg i.Br. 1976, 366. 2 Vgl. H. Rieter, Art.: Heimann, Eduard, in: H. Hagemann/C.-D. Krohn (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, München 1999, 242. 3 Vgl. U. Heyder, Der sozialwissenschaftliche Systemversuch Eduard Heimanns, Frankfurt a. M. 1977, Klappentext. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. H.-D. Ortlieb, Eduard Heimann. Sozialökonom, Sozialist, Christ – Ein Nachruf, in: E. Heimann, Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Sozialismus, hg. v. H.-D. Ortlieb, Berlin 1975, 5 f. 6 Vgl. E. Heimann, Mehrwert und Gemeinschaft. Kritische und positive Beiträge zur Theorie des Sozialismus, Berlin 1922.
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zu seiner bereits erwähnten Berufung nach Hamburg im Jahr 1925 als Privatdozent in Freiburg.⁷ Zur Zeit der Berufung Tillichs nach Dresden und Heimanns nach Hamburg zeigten sich im Kairos-Kreis immer größer werdende Differenzen. Tillich versuchte den Kairos-Kreis daraufhin neu aufzustellen und ihm ein neues Programm zu geben. Unter den Mitgliedern schien sich die Erkenntnis eingeschlichen zu haben, dass der Sozialismus doch weiter entfernt war, als zur Gründung des Kreises erhofft. Infolgedessen wurden sowohl die Mitglieder als auch die Idee des religiösen Sozialismus selbst durch die geistige Lage der Weimarer Republik „entromantisiert“ (GW X, 46). Der Theologe Alf Christophersen beschreibt, dass es in dieser Zeit immer wieder zu „harten positionellen Auseinandersetzungen, Eifersüchteleien, Kränkungen, Animositäten, wechselseitigen Überbietungsszenarien, Trennungen und Versöhnungen“ kam.⁸ So auch im Jahr 1925: Tillich, der als Kopf des Kreises gilt, plante einen Kairos-Sammelband, in dem das neue Programm des Kairos-Kreises deutlich werden sollte. In den Vorbereitungen des Bandes zeigten sich aber vor allem zwischen Tillich und den Ökonomen des Kreises „Spannungen“, die in Briefen zwischen den Mitgliedern überliefert sind. Ausdruck dieser Zerstrittenheit ist die Korrespondenz zwischen den Ökonomen Eduard Heimann und Alexander Rüstow von 1924. Heimann war damals der einzige Ökonom innerhalb des Kreises, der die Ansichten Tillichs vollumfänglich teilte. Im Namen Tillichs schrieb Heimann an seine ökonomischen Kollegen Rüstow und Adolf Löwe und bat um einen Beitrag für den besagten Sammelband. Dabei fügt er hinzu, dass die „erste gemeinschaftliche Kundgebung vor der feindlichen Aussenwelt, nicht der Ort“ sei, „innere Controversen zu erledigen; aber der Zweck des Ganzen […] in erster Reihe die Darstellungen einer gemeinsamen Haltung vor Leuten“ sei.⁹ Heimanns Bitte stieß bei seinen Kollegen nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Rüstow übte Kritik an Tillichs Vorstoß und störte sich besonders an dem Begriff „Kairos“, den Tillich zur Basis der Neuausrichtung des Kreises machen wollte. Für Rüstow war der Begriff „zu metaphysisch und zu wenig historisch-morphologisch“.¹⁰ Er bestand in seiner Forschung stattdessen auf „reine Empirie“ und stellte sich gegen
7 Zur Biografie Heimanns über das Erwähnte hinaus vgl. auch H. Rieter, Eduard Heimann – Sozialökonom und Sozialist, in: R. Nicolaysen (Hg.), Das Hauptgebäude der Universität Hamburg als Gedächtnisort, Hamburg 2011, 229–236. 8 A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 100. 9 Eduard Heimann an Alexander Rüstow, 22. Juli 1924 (BA Koblenz, N 1169, Nr. 15,53). Zit. nach A. Christophersen, Kairos, 105. 10 Alexander Rüstow, Briefentwurf [wohl an Eduard Heimann, 1924] (BA Koblenz, N 1169, Nr. 15, 50). Zit. nach A. Christophersen, Kairos, 106.
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an Transzendenz gebundene Grundlagen, die er in Tillichs Neuausrichtung zu stark betont sah.¹¹ Auch Löwe äußerte bereits früh in einem Briefwechsel mit Rüstow von 1922 (also zur Zeit von Tillichs erstem Kairos-Aufsatz) Zweifel,¹² wenn er schreibt: „Möglicherweise ist der konkrete Inhalt der Botschaft ein Irrtum, sicher ist die gegenwärtige Stunde nicht der ‚Kairos‘.“¹³ Rüstow und Löwe standen mit ihrer Haltung zu Tillich nicht alleine da. Auch die nicht-ökonomischen Mitglieder des Kreises, wie beispielsweise der Sozialpädagoge Carl Mennicke und der Politikwissenschaftler Arnold Wolfers, standen Tillichs Konzeptionen kritisch gegenüber, wie Mennicke in seiner Autobiographie berichtet.¹⁴ Und auch später, im Jahr 1925 scheint Löwe, der Tillich zwar durchgehend freundschaftlich verbunden war, immer noch nicht vollkommen überzeugt vom Kairosbegriff gewesen zu sein. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung von 1926 verrät, dass Heimann der einzige Ökonom war, der einen Beitrag zu der gemeinsamen Positionsbestimmung beisteuerte.¹⁵ Heimann und Tillich standen sich sowohl akademisch als auch persönlich nahe. Paul Tillich nannte Eduard Heimann in Briefen oft Peter, was sowohl auf ihre Beziehung zueinander anspielt, aber auch auf ihre (selbst gegebene) Stellung unter den anderen „Aposteln“ des Kairos-Kreises verweist.¹⁶ Trotz der räumlichen Trennung zwischen Hamburg und Dresden und den unterschiedlichen Fachrichtungen der beiden waren sie eng miteinander verbunden. So widmete Tillich beispielsweise sein über theologische Kreise hinaus wohl be-
11 In der Sozialökonomie waren um die Jahrhundertwende zwei Denkrichtungen prägend. Zum einen die naturwissenschaftliche, die sich mit mathematischer Gesetzesbildung und Rationalverhalten befasste, und zum anderen die geisteswissenschaftliche Prägung, die sich hermeneutischen und historischen Methoden bediente. Rüstow war Anhänger der ersten Denkschule und konnte daher Tillichs Programm, das beispielsweise an Max Webers Verständnis der Sozialökonomie anknüpfte, nur sehr eingeschränkt zustimmen. Für Weber war die Aufgabe der Sozialwissenschaft und der Sozialökonomie, die „Kulturbedeutung konkreter historischer Zusammenhänge“ zu verstehen (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1986, 214). Zur Verbindung von Max Webers und Tillichs religiös-sozialistischen Schriften vgl. D. Weidner, Prophetic Criticism and the Rhetoric of Temporality. Paul Tillich’s Kairos Texts and Weimar Intellectual Politics, in: Political Theology 21/1–2 (2020) 71–88. 12 Vgl. P. Tillich, Kairos I (= GW VI, 9–28). 13 Adolf Löwe an Alexander Rüstow, 9. Juli 1922. (BA Koblenz, N 1169, Nr. 208,20). Zit. nach A. Christophersen, Kairos, 104. 14 Vgl. C. Mennicke, Zeitgeschehen im Spiegel persönlichen Schicksals. Ein Lebensbericht, Weinheim 1995, 141. 15 Zum Streit der Ökonomen des Kairos-Kreises vgl. A. Christophersen, Kairos, 100–104. 16 Vgl. G. Besier, No longer a „German Patriot“? Eduard Heimann an der New School for Social Research, in: M. Schmeitzner (Hg.), Totalitarismuskritik von Links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, 162. Zu seinem 70. Geburtstag gratuliert Tillich Heimann mit „Lieber Peter!“. Vgl. hierzu: GW XII, 310.
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kanntestes Werk Die sozialistische Entscheidung Heimann (vgl. MW III, 287). Sowohl im Vorwort als auch im letzten Kapitel dieses Buches würdigt Tillich Heimanns und auch Löwes ökonomische Arbeiten, die ihm bei dem Verfassen Erstellung des Buches hilfreich waren (vgl. MW III, 404). Die intellektuelle Nähe zwischen Tillich und Heimann zeigte sich auch auf der Akademischen Arbeitswoche der Blätter für religiösen Sozialismus vom 18.–25. Oktober 1925 in Berlin. Hauptthema der Arbeitswoche war „Die gegenwärtige Lage und der religiöse Sozialismus“¹⁷. Mennicke schreibt im Nachgang der Arbeitswoche in den Blättern für religiösen Sozialismus, dass die Tagung sowohl in Bezug auf die Besucherzahlen als auch das Presseecho die eigenen Erwartungen übertroffen habe. Tillich und Heimann eröffneten die Arbeitswoche mit jeweils drei Vorträgen an den ersten beiden Tagen und gaben ihr damit sowohl den philosophischen als auch ökonomischen Rahmen.¹⁸ Im Gegensatz zum Kairos-Sammelband leisteten auf der Berliner Arbeitswoche auch Löwe (am Donnerstag) und Rüstow (am Samstag)¹⁹ jeweils drei Beiträge, die Mennicke in den Blättern nachbesprochen hat²⁰ bzw. dort abgedruckt wurden.²¹ Die Beiträge von Tillich und Heimann wurden im Jahr 1926 veröffentlicht. Tillichs drei zusammenhängende Vorträge sind unter dem Titel Die religiöse Lage der Gegenwart erschienen (vgl. GW X, 9–93). Heimanns erster Vortrag wurde in der Januarausgabe der Blätter für religiösen Sozialismus ²² publiziert und die beiden anderen wurden später gemeinsam als Sonderdruck unter dem Titel Die sittliche Idee des Klassenkampfes und die Entartung des Kapitalismus ²³ gedruckt. In der Forschung zu Heimann wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Heimann Tillichs Kulturtheologie in eine „empirisch-gehaltvolle Theorie sozialistischer ökonomischer und politischer Praxis“ überführte.²⁴ Heimann selbst ergänzt
17 C. Mennicke, Mitteilungen, in: Blätter für religiösen Sozialismus 7/8 (1925) 72. 18 Vgl. C. Mennicke, Unsere Akademische Arbeitswoche, in: Blätter für religiösen Sozialismus 1/2 (1926) 1–4. 19 Im Vorhinein angekündigt waren die Vorträge Rüstows allerdings für den Mittwoch der Arbeitswoche. Vgl. C. Mennicke, Mitteilungen, 72. 20 Vgl. C. Mennicke, Unsere Akademische Arbeitswoche, in: Blätter für religiösen Sozialismus 3/4 (1926) 31–35. 21 Vgl. A. Rüstow, Die gesellschaftliche Lage der Gegenwart in Deutschland, in: Blätter für religiösen Sozialismus 5/6 (1926) 51–72. Allerdings bemerkt Mennicke in einer Fußnote, dass Rüstows Ansichten teilweise nicht die der übrigen Kairos-Mitglieder widerspiegeln. 22 E. Heimann, Zur Kritik des Kapitalismus und der Nationalökonomie, in: Blätter für religiösen Sozialismus 1/2 (1926) 5–23. 23 E. Heimann, Die sittliche Idee des Klassenkampfes und die Entartung des Kapitalismus, Berlin 1926. 24 K.-M. Kodalle, Politische Solidarität und ökonomisches Interesse. Der Begriff des Sozialismus nach Eduard Heimann, in: Beilage der Wochenzeitung Das Parlament: Aus Politik und Zeitge-
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seine Arbeiten am Ende gerne um den Hinweis, dass er auf Tillichs religionsphilosophischen und religiös-sozialistischen Arbeiten aufbaut – so auch in der gedruckten Form der Vorträge, die er auf der Berliner Arbeitswoche hielt. Dort verweist Heimann im Nachwort unter anderem auf Tillichs Die religiöse Lage der Gegenwart, die seine „Gesamthaltung, aus der die Vorträge und Schriften stammen“,²⁵ verdeutlichen. Eine Analyse einer solchen Vermittlung zwischen Tillich und Heimanns Theorien wurde bisher allerdings noch nicht ausführlich durchgeführt – weder auf Seiten der Tillich-Forschung noch in der einschlägigen Literatur zu Eduard Heimann.²⁶ Im Folgenden möchte ich daher das Verhältnis von Tillichs religionsphilosophischem Denken und Heimanns sozialökonomischer Theorie näher am Beispiel der Beiträge beleuchten, die im Rahmen der Berliner Arbeitswoche im Oktober 1925 entstanden sind. Vor allem Tillichs religiöse Deutung des Wirtschaftssystems und des Klassenkampfes in der Weimarer Republik sind für die Frage des Beitrags erhellend. Denn hieran lässt sich in besonderer Weise zeigen, wie Heimann an Tillichs religionsphilosophischen Grundlagen anschließt und seine Theorie des Klassenkampfes daran entwickelt. Dabei wird ein besonderer Fokus darauf gelegt, wie Heimann Tillichs Sinntheorie aufnimmt. Deutlich wird bei dem Vergleich auch, wie sich Heimann gegen geläufige Sozialismustheorien seiner Zeit stellt und eine im Tillich‘schen Sinne religiöse Grundlegung aller Kulturformen als Voraussetzung eines gemeinschaftsstiftenden, sinnerfüllten Klassenkampfes annimmt.
schichte B 26/75 vom 28. Juni 1975, 4. Vergleichbare Aussagen findet man auch bei S. Katterle, Eduard Heimanns Beitrag zur Neuorientierung der Wirtschaftsordnung, in: ders./A. Rich (Hg.), Religiöser Sozialismus und Wirtschaftsordnung, Gütersloh 1980, 31; Ortlieb, Eduard Heimann, 5 f.; Rieter, Eduard Heimann, 236; Besier, No longer a „German Patriot“?, 162. 25 Heimann, Die sittliche Idee des Klassenkampfes, 92; vgl. auch E. Heimann, Religion und Sozialismus, in: ders., Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Sozialismus, hg. v. H.-D. Ortlieb, Berlin 1975, 29. 26 Renate Breipohl widmet Heimann in ihrer Dissertation einen kurzen Exkurs, in dem sie die Verwandtschaft des Denkens zwischen Tillich und Heimann kursorisch darstellt: Vgl. hierzu dies., Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewußtsein zur Zeit der Weimarer Republik, Zürich 1971, 225–231.
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2 Die religiöse Lage der Gegenwart 2.1 Die Gegenwart am Abgrund der Sinnlosigkeit Tillichs Schriften nach dem Ersten Weltkrieg sind durch seine eigenen Erfahrungen im Krieg und die Zeitdiagnose getragen, dass die Geisteslage seiner Zeit vom Versinken „im Abgrund der Sinnlosigkeit“ (GW X, 12) bedroht sei. Diese Feststellung macht Tillich unter anderem in Die religiöse Lage der Gegenwart und so ist die Frage nach der religiösen Lage für Tillich immer auch eine Frage nach dem „unbedingten Sinn“ (ebd.) in der Gegenwart. Doch bleibt der Zusammenhang zwischen Religion und Sinn in der Einleitung der Religiösen Lage im Vagen und bedarf einiger Erläuterung, die im späteren Teil die theoretische Verknüpfung zwischen Tillichs und Heimanns Beiträgen auf der Berliner Arbeitswoche der Blätter für religiösen Sozialismus deutlich machen werden. Als Grundlage seiner Gesellschaftsdeutung in Die religiöse Lage der Gegenwart dient Tillichs sinntheoretisch unterlegte Kulturtheologie, wie sie in seiner 1923 geschriebenen Religionsphilosophie systematisch ausgearbeitet wurde. Dort hält Tillich fest: „Religion ist Richtung des Geistes auf den unbedingten Sinn, Kultur ist Richtung des Geistes auf die bedingten Formen.“ (MW IV, 141) Tillich nimmt an, dass Religion nicht als eine Sphäre der Kultur neben anderen Kultursphären existiert, sondern „Kultur an und für sich religiöse Qualität“ besitzt.²⁷ Das Verhältnis von Kultur und Religion erklärt er mit Hilfe der Begriffe Form und Gehalt. Als Form beschreibt Tillich das, was sich als Wirklichkeit vom Bewusstsein erfassen lässt. In der Kultur drückt sich also das Bewusstsein der Gesellschaft aus. Der Gehalt hingegen ist als „die geistige Substanzialität, die der Form erst ihre Bedeutung gibt“,²⁸ zu verstehen. Das heißt, dass der Gehalt die Voraussetzung der Form ist. Gleichzeitig gesteht Tillich den Kulturformen eine von dem religiösen Gehalt unabhängige Autonomie zu. Zu seiner Zeit sieht er in der bürgerlichen Gesellschaft eine wachsende Bedeutung von wissenschaftlichem Fortschritt, Industrialisierung und Rationalisierung, die sich in der Autonomisierung der Kultur widerspiegeln. Dabei verliert das gesellschaftliche Bewusstsein seine Ausrichtung auf das, worauf es Tillich eigentlich ankommt: Das Unbedingte als Grundlage jeder Kultur. Eine auf solche Art autonome Kultur ist sich ihrer eigenen sinngebenden Grundlegung, die eben im Unbedingten liegt, nicht mehr bewusst. So kommt es zur
27 P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), in: ders., Ausgewählte Texte, hg. v. C. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin 2008, 38. 28 A. a.O., 32.
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„Profanisierung“ und zum Verlust der Sinnhaftigkeit in der Gesellschaft (vgl. MV IV, 142). Das Bewusstsein für den transzendierenden Verweischarakter des Religiösen und die Ausrichtung auf das Unbedingte geht durch den Prozess der Profanisierung verloren. Die religiöse Qualität der Kultur selbst geht dabei allerdings nicht verloren – sie ist ja ihre Voraussetzung, aber sie findet keine Ausdrucksformen mehr in der Kultur. Diese Qualität gilt es neu zu entdecken und der Gesellschaft zu einem Bewusstsein zu verhelfen, diese Durchbruchmomente des Unbedingten zu erkennen.²⁹ Die einheitsstiftende Grundlegung im Unbedingten, die alle Kulturformen durch ihre religiöse Qualität besitzen, müssten nach Tillich im Bewusstsein der Gesellschaft mitreflektiert werden,³⁰ um als eine gelingende, sinnhafte Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Erst in der Ausrichtung auf das Unbedingte kann der unbedingte Sinn in der Kultur durchscheinen. Das Unbedingte dient also jeder Kulturform als schöpferischer Sinngrund. Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die unbedingte Sinnhaftigkeit bzw. der „Sinngrund selbst kein Sinn ist, sondern allein der Ermöglichungsgrund allen Sinns.“³¹ Der Sinngrund ist also als Dimension des Unbedingten in Tillichs Fassung der Kulturtheologie unhintergehbare und unableitbare Setzung. Tillich geht davon aus, dass sich das Unbedingte in der Kultur als Formdurchbrechung bemerkbar macht, bzw. sinntheoretisch formuliert, dass in jedem Einzelsinn der unbedingte Sinngrund zur Darstellung kommen kann. Er beschreibt diesen Vorgang mit der in seinem Werk immer wiederkehrenden Formel als „Durchbruch des Unbedingten“ (MW IV, 118). In gewisser Weise gibt es ein Streben des Unbedingten nach diesem Durchbruch. Erst dadurch wird jeder Bereich der Kultur als sinnvoll oder sinnlos deutbar. Wenn Tillich also nach dem Sinn bzw. der Sinnlosigkeit der Gegenwart fragt, gibt es „nichts, das nicht Ausdruck der religiösen Lage wäre“ (GW X, 9). Insofern ist das Religiöse bei Tillich Chiffre für die Tiefendimension der Kultur, die auf den unbedingten Sinngrund verweist. Das Erkennen der religiösen Qualität besteht in Tillichs Theologie der Kultur nun darin, dass ein unbedingter Sinn vorausgesetzt wird sowie in der Forderung, diesen in jedem Einzelsinn zur Erfüllung zu bringen. Und so sind die Durchbruchsmomente des Unbedingten, die Tillich als Kairos-Momente bezeichnet, in der Kultur auch immer Momente der Ausrichtung auf Sinn-
29 Vgl. G. Neugebauer, Paul Tillich als Diagnostiker und Kritiker der Gesellschaft, in: C. Danz/ W. Schüßler (Hg.), Paul Tillich in der Diskussion. Werkgeschichte – Kontexte – Anknüpfungspunkte, Berlin/New York 2022, 70. 30 Vgl. Tillich, Theologie der Kultur, 33. 31 C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin/New York 2011, 114.
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erfüllung, die letzten Endes durch einen unableitbaren, unbedingten Sinngrund ermöglicht werden. Nach diesen sinnerfüllten oder sinnlosen Bewusstseins- bzw. Geisteslagen, die sich in den Kulturformen zeigen, sucht Tillich in Die religiöse Lage der Gegenwart.
2.2 Die in sich ruhende Endlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und der prophetische Geist Ideal für die Gesellschaft wäre es nach Ansicht Tillichs also, wenn die kulturellen Formen als Medium des unbedingten Gehalts fungieren und dadurch das Unbedingte zum Durchbruch kommt bzw. als Grundlegungsstruktur der Gesellschaft zur Darstellung gebracht wird. Doch kommt es in der Geschichte immer wieder zu Entfremdungsphänomenen zwischen dem religiösen Gehalt und den autonomen Kulturformen bzw. wie oben bereits erklärt zur Profanisierung. Tillich verdeutlicht diesen Befund an verschiedenen Kultursphären. In Bezug auf die wirtschaftliche Lage macht Tillich in seiner Gegenwartsanalyse besonders ein Phänomen dafür verantwortlich, dass die Bestrebungen des sozialistischen Kampfes im Gewirr der Weimarer Republik zu verhallen scheinen: den „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ (GW X, 17). Dieser Geist sei das vorherrschende Bewusstsein der Zeit, der sich in allen Lebensbereichen der Gesellschaft vorgekämpft habe. Dies war nach Tillich nicht immer der Fall. Erst durch die Autonomisierungsbestrebungen der einzelnen Kulturformen und der damit einhergehenden Profanisierung in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft und in gewisser Weise den Religionsgemeinschaften selbst wird der religiöse Gehalt als einheitsstiftende Grundlage der Kultur nicht mehr mitreflektiert. Dadurch verliere die Gesellschaft ihren Sinn für Gemeinschaft (vgl. GW X, 41). In den oben in aller Kürze beschriebenen Grundannahmen sieht Tillich die Möglichkeit, die Probleme der Zeit zu deuten: Die Rationalisierungstendenzen berauben der Kultur ihre religiöse Tiefendimension und Verweisfunktion auf das Unbedingte. Statt auf eine überzeitliche Idee – also das Ewige oder Unbedingte – ist die Gesellschaft auf sich selbst gerichtet. Sie hat ihr historisches Bewusstsein um ihre eigene Stellung in der Zeit verloren. Tillich verdichtet diese Feststellung auf das Bild der„in sich ruhenden Endlichkeit […] der bürgerlichen Gesellschaft“ (GW X, 41). Statt von einem gesellschaftsüberspannenden Ethos seien die Menschen durch die systemischen Zwänge des Kapitalismus nur durch ihr eigenes Fortkommen getrieben. Angewendet auf die Gesellschaft folgt daraus für ihn, dass dieser Zustand durch Atomisierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse unvermeidlich zu Interessenskonflikten innerhalb der Gesellschaft führe (vgl. GW X, 43). „Es entstehen Klassen und ihre Kämpfe“ (GW X, 16), konstatiert Tillich. Dieser Klassenkampf
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drückt sich vor allem in den Autonomiebestrebungen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus, welcher der „vollkommenste Ausdruck der in sich ruhenden, immer unruhigen, aber nie über sich hinauskommenden Endlichkeit“ (GW X, 41) ist. Tillich hält fest, dass der unruhige Klassenkampf der Proletarier es zwar schaffe, die in sich ruhende Endlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft und damit des Kapitalismus durch beispielsweise Gewerkschaftsarbeit aufzurütteln, nicht aber existentiell zu erschüttern. Denn auch der Klassenkampf des Proletariats sei von den Wirtschafts- und Interessenslogiken der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Wenn der Geist der bürgerlichen Gesellschaft in der Weimarer Republik nachhaltig bekämpft werden solle, müsse dem proletarischen Klassenkampf ein neuer Geist eingehaucht werden, der die in sich ruhende Endlichkeit der autonomen Kulturform des Kapitalismus zerbrechen lasse (vgl. GW X, 92 f.). Diesen Geist und die daraus entstehende Kraft, die dies zu bewerkstelligen schafft, sieht Tillich exemplarisch bei den alttestamentlichen Propheten verwirklicht. Das Erbe dieser Kraft wirke im religiös-liberalen Judentum des 19. Jahrhunderts noch nach, bevor auch dort der Geist der bürgerlichen Gesellschaft Einzug fand und der religiöse Gehalt im oben beschriebenen Sinne verdrängt wurde.³² Besonders in den Arbeiten jüdischer Sozialtheoretiker wie etwa Ferdinand Lassalle, Victor Adler und allen voran Karl Marx finden sich Vertreter, die dem „Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft stärksten und – wie im kommunistischen Manifest – wahrhaft prophetischen Ausdruck gaben.“ (GW X, 79) Doch wodurch zeichnet sich diese prophetische Geisteshaltung aus? Tillich geht es darum, dass die Gegenwart aus einem bestimmten Bewusstsein bzw. einer Geisteshaltung gedeutet wird, die nicht von einem subjektiven Standpunkt „kritisch wertend“ oder „philosophisch konstruierend“ ist, also in der in sich ruhenden Endlichkeit verharrt und den Blick für die eigene Stellung in der Zeit verliert. Vielmehr müsste die Gegenwart von einer Richtung gedeutet werden, die den eigenen Standpunkt nicht absolut setzt, sondern über ihn hinaus geht, ihn immer wieder selbst negiert und neu findet (GW VI, 129 f.). Diese prophetische Gegenwartsdeutung setzt sich ideologiekritisch reflektierend mit der bürgerlichen Geisteslage der Gegenwart auseinander und deutet sie in gewisser Weise aktivistisch. Eine solche Geisteshaltung habe dementsprechend noch ein Gespür für das „Ewige in der Zeit“ (GW X, 12). Und in dieser Geisteshaltung, dem Fragen nach dem Ewigen in der Zeit, sieht Tillich – wie bereits beschrieben – den in der Kultur realisierten religiösen Gehalt in der Lage der Gegenwart. Letztendlich meint Tillich mit dem 32 Das entspricht in etwa der Diagnose, die Adolf Löwe bereits 1919 in seinem Aufsatz Zur Soziologie der modernen Juden (in: Der Spiegel. Beiträge zur sittlichen und künstlerischen Kultur 2/14–15 [1920] 8–10). konstatiert hat. Vgl. hierzu auch C.-D. Krohn, Der philosophische Ökonom. Zur intellektuellen Biographie Adolph Lowes, Marburg 1996, 21 f.
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prophetischen Geist das, was er später im zweiten Kairos-Sammelband von 1929 dann als das Protestantische Prinzip bezeichnen wird.³³ Sowohl der prophetische Geist als auch das Protestantische Prinzip zeichnen sich durch eine kritische und gestaltende Kraft aus. Tillich findet auch vereinzelt Bewegungen in der Gesellschaft, die noch in dem gerade beschriebenen Sinne religiös – also auf Sinnerfüllung in der Gesellschaft – ausgerichtet sind. Sie agieren aus einer Spannungshaltung zwischen Gegenwart und Ewigkeit in Richtung auf das Unbedingte. Nach Tillich ist diese Haltung freilich auch bei den religiösen Sozialisten des Kairos-Kreises selbst verwirklicht (GW X, 45). Auch wenn die anderen sozialistischen Strömungen zwar aus der marxistischen Theorie und damit aus einem prophetischen Geist schöpfen, handeln sie aber im Gegensatz zum Kairos-Kreis in den Mechanismen des bürgerlichen Geistes. Die Bestrebungen der Sozialisten in der Weimarer Republik sind also, wenn man Tillichs Sinntheorie folgt, sinnlos, da sie zwar in kohärenten Sinnzusammenhängen der bürgerlichen Gesellschaft denken, nicht aber in Richtung auf den unbedingten Sinn(‐grund) ausgerichtet sind, sich ihrer einheitsstiftenden Grundlage nicht (mehr) bewusst sind. Auch sie verharren letztendlich in der eigenen in sich ruhenden Endlichkeit. Wenn das Proletariat mit Hilfe der Gewerkschaften für bessere Arbeits- und Lohnbedingungen kämpft, befreit es sich nicht aus der in sich ruhenden Endlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Es kommt lediglich zur Umschichtung von Macht, die immer wieder neue Klassenkämpfe entstehen lässt – eine klassenlose Gesellschaft könne so aber nicht errungen werden. Die Bestrebungen geben dem Proletariat zwar das Gefühl von sinnerfülltem Handeln in der Gesellschaft, doch handelt es sich bei dieser Art von Sinnerfüllung eben um einen Sinn, der nicht auf den Sinngrund ausgerichtet ist und letzten Endes wieder in der Sinnlosigkeit versinkt. Oder anders gesagt: Die kapitalistische Wirtschaft ist so angelegt, dass dieser Interessenskonflikt einerseits zur Spaltung der Gesellschaft und andererseits zur Bildung von neuen Interessensparteien bzw. Klassen führt, die versuchen, ihre Interessen gegeneinander durchzusetzen. Die Geisteslage der bürgerlichen Gesellschaft verstärkt diesen Prozess durch ihre Mechanismen, die auf Profanisierung und Stärkung einer Individualisierung hinauslaufen. Der Ausgleich von Interessen, der vermeintliche Gewinn von Privilegien für das Proletariat, die Neuverteilung von Macht, ja der Klassenkampf selbst, der auf materielle Besserstellung der Arbeiterschicht hinarbeitet, überwindet das System des Kapitalismus nicht. Der Klassenkampf führt nur dazu, dass die in sich ruhende Endlichkeit immer unruhig bleibt. Durch die Logik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und den bürgerlichen
33 Vgl. Tillich, Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip (1929), in: ders., Ausgewählte Texte, 200–221.
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Geist sind die Ziele des proletarischen Klassenkampfes „endlich und zeitlich gemacht“ worden (GW X, 44). Es scheint nur so, als ob der Kapitalismus auf diesem Weg überwunden werden könne. Letztendlich stabilisiert ein Klassenkampf, der mit materiellen Ansprüchen geführt wird, die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Dabei übersieht Tillich die Ambivalenz des Kapitalismus nicht. Er schafft Reichtum und führt dazu, dass überhaupt die Produktionsmittel für die wachsende Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden können. Gleichzeitig führt der Kapitalismus aber auch zu prekären Verhältnissen in der Produktion. Der Kapitalismus agiert in Pseudosinnzusammenhängen, die die Richtung auf den unbedingten Sinn verstellen. Die Ambivalenz des Kapitalismus wird aber von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeblendet und als die einzig richtige und vernünftige Art des Wirtschaftens verabsolutiert, wirkt dadurch zerstörerisch und treibt auf den Abgrund der Sinnlosigkeit hinzu. Der materialistische Klassenkampf führt zwar vermeintlich an den Sozialismus heran, zerfällt dann aber unter den Mechanismen des Kapitalismus in neue Klassenkämpfe. Das erklärt auch Heimann in seinen Ausführungen auf der Arbeitswoche der Blätter für religiösen Sozialismus im Oktober 1925.³⁴ Wie könne aber nun dem Proletariat ein neuer Geist eingehaucht werden? Wie gelingt es, die in sich ruhende Endlichkeit, in der auch die Arbeiterbewegung verharrt, zu durchbrechen und Gegenwart und Zukunft nicht als sich ausschließende Interessen wahrzunehmen? Der proletarische Klassenkampf und eine sozialistische Bildungsarbeit müssten aus der gleichen Haltung, so Tillich und Heimann, aufklären: dem prophetischen Geist, mit dem ein Streben und Gestaltungswille, der auf das Ewige hin ausgerichtet ist, einhergeht. So könne das Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft überwunden werden. In diesem Bewusstsein gelinge es der sozialistischen Bewegung, die in sich ruhende Endlichkeit zu durchbrechen, das Bewusstsein bzw. die Geisteslage auf das Religiöse und damit auf den unbedingten Sinn zu richten. Tillich nennt eine solche Haltung „gläubigen Realismus“ (GW X, 32). Diesem geht es um ein unbedingtes Ernstnehmen der konkreten Lage unserer Zeit und der Zeit vor der Ewigkeit überhaupt, also ein Nein zu jeder Romantik und Utopie, aber der Hoffnung auf eine Gesellschafts- und Wirtschaftslage, in der der Geist des Kapitalismus – das stärkste Symbol der in sich ruhenden Endlichkeit – überwunden ist. (GW X, 46)
Tillich bricht durch die neue realistische Ausrichtung mit der radikalen Forderung bestimmter sozialistischer Strömungen nach einer revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Utopische und mystische Ideen eines Sozialismus, wie sie beispielsweise Martin Buber vorschwebten, grenzt Tillich vom neuen Programm der 34 Vgl. Heimann, Die sittliche Idee, 26 f.
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religiösen Sozialisten des Kairos-Kreises ab (vgl. GW X, 51). Der gläubige Realismus als Neuausrichtung ist in gewisser Weise daher auch Chiffre für die eigene ‚Entromantisierung‘ (vgl. GW X, 46) und eine Korrektur des Kairos-Kreises, sich stärker an der konkreten Lage als an idealistischen Utopien zu orientieren. Tillich hält fest, dass der bürgerliche Geist nur durch stetige Forderung, Kritik und Reform bekämpft werden kann. Gleichzeitig sieht er nach wie vor die prophetischen Potentiale der unterschiedlichen Gesellschaftsbereiche, die es im wahrsten Sinn des Wortes zu kultivieren gilt. Im Proletariat erblickt Tillich eine Trägergruppe, die für den prophetischen Geist zugänglich ist, gerade weil sie am meisten unter dem Kapitalismus leidet. Doch fehlt es an einer Sozial- und Bildungspolitik, die den prophetischen Geist im Sinne des gläubigen Realismus stärkt. Durch diese Art der Politik könne nach Tillich der verschüttete religiöse Gehalt der Arbeiterbewegung neu belebt werden (vgl. GW X, 61).
3 Der sittliche Klassenkampf und die Entartung des Kapitalismus 3.1 Klassenkampf aus dem schöpferischen Sinn des Lebens Aus der Haltung des gläubigen Realismus beansprucht auch Heimann auf der Arbeitswoche zu sprechen, wenn er die Form des Klassenkampfes kritisiert und ein normativ gefordertes Sozialprogramm beschreibt, für das Tillich in Die religiöse Lage der Gegenwart die religionsphilosophische Theorie geliefert hat. Auf den eben in aller Kürze referierten Grundhaltungen, die den Gehalt der religiös-sozialistischen Bewegung ausmachen, baut Eduard Heimann seine konkreten Anforderungen an den Klassenkampf und die Wirtschaftsordnung auf. Ähnlich wie Tillich macht Heimann den Geist der bürgerlichen Gesellschaft für die Missstände des Klassenkampfes verantwortlich, wenn er schreibt: Nie hat der bürgerliche Geist der Fremdheit gegenüber allem gemeinschaftlichen Leben einen größeren Triumph gefeiert, als indem er seinen eigentlichen Gegner in seine Denkweise hineinzog. Der Gemeinschaftsgedanke, von dem der Klassenkampf als der Protest gegen Ausstoßung aus der Gemeinschaft getragen sein muß, ist liberaler Zersetzung anheimgefallen.³⁵
35 A. a.O., 13.
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Heimanns Kritik am damaligen Klassenkampf und den damit verbundenen Forderungen zielt vor allem darauf ab, dass er lediglich auf materieller Ebene geführt wird. Statt der ideellen Vorstellung einer gerechten, sinnerfüllten Gemeinschaft stehe das „soziale Ziel“ von materieller Gleichheit der Gesellschaft im Fokus des Klassenkampfes.³⁶ Doch eine gerechte Gesellschaft wäre nach Heimann vielmehr eine solche, die die Würde des Menschen anerkenne und eine Solidargemeinschaft hervorbringe, in der die Probleme materieller Ungleichheit nebensächlich werden. Er konstatiert, dass dieser Anspruch allerdings „den Menschen aus dem Gedächtnis entfallen“ sei.³⁷ Und der materielle Klassenkampf bringt noch ein Problem mit sich: Durch den Wunsch nach materieller Gleichheit werden lediglich sehr viele verschiedene individuelle Privatinteressen verfolgt, die nach Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung funktionieren. Das sozialistische Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, die auf Gemeinschaft aufgebaut ist und gar nicht so sehr auf materieller Gleichheit, wird ausgeblendet. Letzten Endes ist ein so gearteter Klassenkampf nichts anderes als der am Markt ausgerichtete Wettbewerb, bei dem Unternehmen das eigene Interesse nach Gewinn und Marktmacht gegen die Interessen der Konkurrenz durchzusetzen versuchen. Diese Atomisierungs- bzw. Profanisierungsprozesse, die die Gemeinschaft zerstören, beschreibt, wie oben gezeigt, auch Tillich. In dem oben angeführten Zitat von Heimann findet Tillichs Kulturtheologie in der Idee des Klassenkampfes, der auf sinnerfülltes Zusammenleben in Gemeinschaft ausgerichtet ist, seine Anwendung auf dem Gebiet der praktisch-ethischen Kultursphäre.³⁸ Für Heimann unterscheidet sich in der bürgerlichen Geisteslage die Klassenfront der Arbeiter ideell nicht von einem Unternehmerkartell.³⁹ Spätestens wenn die Interessen eines Klassenbündnis erreicht werden, würde das vermeintliche Gemeinschaftsinteresse und damit die Klasse selbst zerfallen und in neue Interessensbündnisse übergehen. Denn auch die Interessensbündnisse sind von der Geisteslage der bürgerlichen Gesellschaft ergriffen und unterliegen dem von Tillich beschriebenen Prozess der Profanisierung. Gemeinschaft drückt sich für Heimann eben nicht durch ein materielles Interesse aus, sondern in dem menschlichen Zu-
36 Ebd. 37 Ebd. 38 Tillich unterscheidet in der Kultur unterschiedliche Sphären. Dabei unterscheidet er zwischen Wissenschaft und Ästhetik als theoretischen Sphären der Kultur und Recht und Ethik als praktischen. Diese Unterteilung spiegelt sich auch im Aufbau in Die religiösen Lage der Gegenwart wider. Auch Tillichs System der Wissenschaften (MW I, 113–263) folgt dieser Einteilung. Heimann bearbeitet die praktisch-ethische Sphäre als Kulturform des menschlichen Zusammenlebens, die sich in der Gemeinschaft ausdrückt. 39 Vgl. Heimann, Die sittliche Idee, 20.
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sammenleben aus dem „schöpferischen Sinn“,⁴⁰ der durch die Gemeinschaft als Kulturform symbolisiert ist und als „Sinn des Ganzen“ erkannt werden kann.⁴¹ Erst in diesem sinnerfüllten Gemeinschaftsgeist des Zusammenlebens ist das Individuum in der Gemeinschaft aufgehoben; partizipiert am sinngebenden Unbedingten. Ein so verstandener Klassenkampf ist dann auch Kampf gegen die Atomisierungsprozesse der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Art der Gemeinschaft beschränkt sich dann auch nicht auf das Proletariat, sondern umfasst die gesamte Gesellschaft der Weimarer Republik als Gemeinschaft. Für Heimann ist das Proletariat daher auch nicht essenziell als Trägergruppe dieses sinnerfüllenden Klassenkampfes zu verstehen. Wie bereits angeklungen ist das Interesse innerhalb des proletarischen Klassenkampfes nur eine Sammlung von Einzelinteressen, die im Klassenkampf lediglich befriedigt, nicht aber überwunden werden. Der Sozialphilosoph KlausMichael Kodalle bringt Heimanns Kritik prägnant auf den Punkt: „Die Konstitution einer Subjektivität, die zu befreiender, solidarischer Praxis fähig sein soll, setzt die Selbst-Überwindung des eigenen, privat-egozentrischen Interesses voraus.“⁴² Solange dieses Problem nicht gelöst werden kann, ist die Gesellschaft zwar immer unruhig und es kommt zur Umwälzung, die allerdings keine fundamentale Bewusstseinsänderung hervorbringen kann. Existentiell erschüttert wird die kapitalistische Logik nicht, solange das Proletariat nicht einen Klassenkampf führt, der dem Programm der religiösen Sozialisten des Kairos-Kreises folgt. Für den Sozialismus scheint die Situation daher verfahren. Heimann fragt rhetorisch: [W]ie aber soll Gemeingeist in einer Welt erzeugt und gestärkt werden, die jeden schwachen Ansatz dazu im Marktkampf und Konkurrenzkampf erstickt, jeden Versuch zur Abweichung von den Vorschriften des privaten Interesses mit der Strafe des wirtschaftlichen Untergangs bedroht?⁴³
Die marxistische Hoffnung, dass das Privatinteresse des Proletariats im Kampf gegen die kapitalistische Welt in ihrem Gipfel die „Geistesrichtung der Epoche zu vollenden“ vermag, ist nach Heimann viel mehr „Wunderglaube“ als Theorie.⁴⁴ Trotzdem ist es Heimann wichtig festzuhalten, dass die Problembeschreibung von Marx ihre Gültigkeit behält: Der kapitalistische Interessenskampf samt seinem Bestandteil, dem Klassenkampf, kann nicht „durch ein bißchen Moral besänftigt
40 41 42 43 44
A. a.O., 10. A. a.O., 42. Kodalle, Politische Solidarität und ökonomisches Interesse, 11. Heimann, Die sittliche Idee, 27. A. a.O., 28.
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und in ein freundliches Zusammenleben verwandelt werden.“⁴⁵ Es braucht mehr: Dem Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft muss ein anderes Bewusstsein entgegengesetzt werden. Heimann erläutert seine theoretischen Grundlagen und Voraussetzungen selten ausführlich, sondern verweist lieber ohne viel Erklärung auf die Schriften Paul Tillichs – so auch in Die sittliche Idee des Klassenkampfes. Seitenhiebe gegen den Marxismus in dem oben genannten Zitat sind allerdings mehr als bloße Seitenhiebe, sondern zielen letzten Endes auf fundamentale Kritik an bestimmten Sozialismustheorien ab, die mit der angenommenen Kausalität von Sein und Sollen im Klassenkampf verbunden ist. In späteren Schriften macht Heimann seinen eigenen Standpunkt im Gegensatz zu anderen Sozialismustheorien deutlich, aus dem die Frage, wie die Stärkung des Gemeingeistes erzeugt werden kann, beantwortet wird. Sowohl auf der Arbeitswoche der Blätter für religiösen Sozialismus 1925 als auch in späteren Schriften bezieht Heimann immer wieder Stellung gegen die „Wissenschafts- und Entwicklungsgläubigkeit der orthodoxen Marxisten“ wie auch gegen den „Voluntarismus eines ethischen Sozialismus“,⁴⁶ die eine „natürliche Kausalität“ annehmen, „die auf naturgesetzlichem Wege aus dem Sein des Klassenkampfes das sozialistische Sein hervorgehen lasse[n].“⁴⁷ Wie allerdings bereits gezeigt, fällt nach Meinung Heimanns die Geisteslage der Proletarier – also ihr Sein – im Kapitalismus der Weimarer Republik eben nicht mit dem Sein des Sozialismus zusammen. Das Privatinteresse der Proletarier läuft eben nicht auf den Sozialismus hinaus. Und Heimann fügt als weiteres Argument hinzu, dass auch aus dem Sein (gemeint ist hier die Gesellschaft der Weimarer Republik) nicht kausal ein Sollen (die klassenlose Gemeinschaft im Sozialismus) folgt,⁴⁸ denn wer „erkenntnismäßig Marxist“ ist, kann „willensmäßig aber zugleich Anti-Marxist sein.“⁴⁹ Mit dem gleichen Kausalitätsargument, mit dem die Sozialisten den Sozialismus als unumgängliche Notwendigkeit aus dem „Sein“ in der Weimarer Republik herleiten, leiten andere Kräfte die Notwendigkeit des Bolschewismus oder Faschismus her. Die Unterscheidung zwischen Sozialismus und Faschismus bzw. Bolschewismus sieht Heimann
45 Ebd. 46 Vgl. Ortlieb, Eduard Heimann, 8. 47 E. Heimann, Die Begründung des Sozialismus, in: Sozialismus aus dem Glauben.Verhandlung der sozialistischen Tagung in Heppenheim a.B., Zürich/Leipzig 1929, 65. 48 Vgl. E. Heimann, Sozialismus und Sozialpolitik, in: P. Tillich (Hg.), Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswerdung, 292 f. Hier zeigt Heimann am Beispiel der marxistischen Verelendungstheorie, dass aus dem elendigen Sein der Proletarier eben nicht notwendiger Weise der Klassenkampf für den Sozialismus folgt. 49 Heimann, Die Begründung des Sozialismus, 65.
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daher also nicht in ihrer Notwendigkeit, sondern in ihrer Art, wie sie nach „sinnhaftem und sinnwidrigem Leben“ streben.⁵⁰ Eine überzeugende Theorie des Klassenkampfes muss sich nach Heimann also daran messen lassen, „wie Sinn gewonnen wird“.⁵¹ Heimann sieht in dieser Frage zwei verschiedene Strömungen innerhalb der sozialistischen Debatte: zum einen eine idealistische und zum anderen eine realistische, die freilich ein Verweis auf Tillichs gläubigen Realismus darstellt. Nach Heimann ist in der idealistischen Lehre „der Sinn, den der Geist in sich vorfindet, zugleich auch in den Dingen, weil die Dinge im Geiste und nur im Geiste sind.“⁵² Was sinnhaft und sinnwidrig ist, sind nach dieser Art der Sinntheorie also Setzungen des Geistes. Diese Art der Sinngewinnung – um bei den Metaphern Tillichs zu bleiben – bezieht ihren Sinn aus der in sich ruhenden Endlichkeit. Dagegen hält Heimann als Anhänger eines gläubigen Realismus entgegen, dass Sinn dem Sein „nicht von außen, durch einen willkürlichen Akt des Denkens hinzugefügt“ wird, sondern ihm immer schon innewohnt. „Sinn macht das lebendige Sein allererst aus“.⁵³ Sinnhaft und sinnwidrig sind für Heimann also keine Setzungen des Geistes, sondern Sinn ist das Lebendige in den Dingen. Heimann nimmt ähnlich wie Tillich für „jedes Stück Leben“ einen „ihm zugehörigen, unaussagbaren und unerklärlichen Sinn“ an.⁵⁴ Oder mit anderen Worten: Das Bewusstsein kann den Sinn zwar erfassen, der Sinn ist aber immer schon etwas dem Bewusstsein bzw. Geist Vorgängiges bzw. seine Grundlage. Der Geist kann diesen Sinn lediglich entdecken, „wenn er sich tief in die Dinge versenkt; und er kann ihn auch verfehlen.“⁵⁵ Sinnerfüllung und Sinnwidrigkeit entstehen also aus der Ausrichtung auf den lebendigen Sinn, der jedes Sein bereits ausmacht. Der Sinn und somit auch die Sinnhaftigkeit bestimmten Handelns lässt sich also immer nur konkret in der realen Situation festmachen, er kann nicht in einer idealen abstrakten Weise festgelegt werden, wie in der Logik des Kapitalismus oder auch in bestimmten marxistischen Strömungen behauptet wird. Die Gefahr einer Festlegung auf einen angenommenen Sinn kann jederzeit in die Sinnwidrigkeit führen, wie beispielsweise in der Geisteslage der bürgerlichen Gesellschaft.⁵⁶ Heimann beruft sich bei seiner Kritik am Kapitalismus und dem Klassenkampf, wie er in den 1920er Jahren geführt wird, auf die gleichen sinntheoretischen
50 A. a.O., 66. 51 Ebd. 52 A. a.O., 67. 53 A. a.O., 65. 54 E. Heimann, Religion und Sozialismus (1927), in: ders., Sozialismus im Wandel der modernen Gesellschaft. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Sozialismus, hg. v. H.-D. Ortlieb, Berlin 1975, 22. 55 Heimann, Die Begründung des Sozialismus, 67. 56 Vgl. Heimann, Religion und Sozialismus, 22.
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Denkfiguren wie Tillich. Es gibt einen dem Sozialismus und dem Klassenkampf, ja der ganzen Kultur zugrundeliegenden lebendigen Sinn oder Sinnzusammenhang, den es durch eine prophetische Haltung zu erkennen gilt. Heimann macht diesen Klassenkampf an dem Kampf um eine sinnerfüllende Gemeinschaft fest, die den „unaussagbaren Sinn“ „jeden Stück [einzelnen] Lebens“ durch gemeinsame Symbole oder eben Kulturformen in einen Sinnzusammenhang stellt,⁵⁷ der seinen Sinn aus dem Unbedingten schöpft. Diese Sinnkonstruktion ist kongruent zu Tillichs Kulturtheologie, die jeder Kulturform eine religiöse bzw. sinnerfüllende Qualität zu Grunde legt, die allerdings durch den Geist der bürgerlichen Gesellschaft verdeckt wurde. Klassenkampf muss in diesem Verständnis also immer als Kampf um sinnerfülltes Sein in der Kultur verstanden werden. Daher ist es vor diesem Hintergrund auch verständlich, wenn Heimann als Ziel des Klassenkampfes die „Erneuerung des menschlichen Zusammenlebens aus dem schöpferischen Sinn des Lebens und in Verantwortung vor ihm“ beschreibt.⁵⁸ Forderung und Ziel des Klassenkampfes muss also sein, dass aus Gesellschaft „sinnerfüllte Gesellschaft“⁵⁹ durch eine einheitsstiftende Gemeinschaft als „sozialethisches Ideal des Religiösen Sozialismus“ wird (GW II, 171). Heimanns und Tillichs Problemdiagnose für die Lage des Proletariats decken sich: Die Ziele des Klassenkampfes wurden – mit Tillich gesprochen – „endlich und zeitlich gemacht“ oder – mit Heimann gesprochen – sind „liberaler Zersetzung anheimgefallen“. Der Klassenkampf, und das ist die fundamentale Kritik der beiden, wird also nicht mehr aus dem schöpferischen Sinn des Lebens bzw. in Richtung auf den unbedingten Sinn geführt.
3.2 Gemeinschaft als Symbol für den Sinn des Ganzen Aus dem gerade Ausgeführten ergeben sich für Heimann Aufgaben für die Sozialökonomie, die das Proletariat anders in den Blick zu nehmen hat. Nach Heimann müsse ein Klassenkampf, der die Privatinteressen im kapitalistischen Wirtschaftssystem tatsächlich zu überwinden weiß, auf der Idee der Gemeinschaft fußen, die aus der von Tillich beschriebenen prophetischen Kraft mit einem Sinn für das „Ewige in der Zeit“ gestaltet wird. Eine rein ökonomische, materielle Betrachtung des Proletariats greift nach Heimann zu kurz und lässt die „Frage nach den irrationalen Trieben und Leidenschaften und ihrem Aufeinanderprall in das Wesen
57 Ebd. 58 Heimann, Die sittliche Idee, 10. 59 Der Begriff fällt bei Tillich als Ziel des religiösen Sozialismus allerdings zum ersten Mal 1930 (vgl. GW II, 143), ist aber schon in den hier besprochenen Schriften angelegt.
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menschlicher Entscheidung“ außen vor.⁶⁰ Der Mensch mit seinen nicht-materiellen Bedürfnissen muss als grundlegender Faktor in den Wirtschaftswissenschaften ernst genommen werden. Hintergrund der Kritik ist, dass der Mensch in den Zusammenhängen der Wirtschaft lediglich als logisch agierender Agent – als homo oeconomicus – vorkommt, dessen Aufgabe darin besteht, Macht über Waren und Personen anzuhäufen.⁶¹ Eine ähnliche Kritik äußert auch Tillich, wenn er schreibt, dass die autonome Wirtschaft mit ihren rationalen Erkenntnismethoden, die sich auch in den (Natur‐)Wissenschaften widerspiegeln, zu einem gemeinschafts- und eroslosen Verhältnis der Menschen zu den Dingen führe (vgl. GW X, 41). Diese Logik wirke sich auch auf die wirtschaftlichen Sozialverhältnisse aus: Das unendliche Bedürfnis nach Macht und Kapital, das durch die Logik der freien Wirtschaft hervorgerufen wird, führt dazu, dass das Interesse von jedem Einzelnen darin besteht, sich gegen die Interessen des Anderen durchzusetzen. Der Mensch verfehlt in diesem eroslosen Verhältnis zu den Dingen und seinen Mitmenschen unvermeidlich ein sinnerfülltes Dasein in Gemeinschaft. Heimann tritt an dieser Stelle für eine anthropologische Wende innerhalb der Ökonomie ein. Es geht ihm – wenn man Tillichs Definition des gläubigen Realismus aufnehmen will – um „ein unbedingtes Ernstnehmen der konkreten Lage“ der Proletarier (GW X, 46). Sie dürfen nicht zu Ware im kapitalistischen Wirtschaftssystem verkommen. Als vorderstes Ziel des Klassenkampfes sieht Heimann die Rettung und die Bewahrung der Würde des Proletariers, die unter den Produktionsbedingungen des Kapitalismus in einem sinnwidrigen Leben enden.⁶² Heimann macht an verschiedenen Bereichen in den Produktionsbedingungen deutlich, dass das Proletariat entmenschlicht wird. Er kritisiert, dass der Proletarier im Kapitalismus mit dem Verkauf seiner Arbeitskraft zu einer Ware wird, die nach Belieben der Marktlage gekauft und verkauft wird. Nicht die eigentliche würdevolle Leistung wird bezahlt, sondern allein die Kaufkraft der Käufer entscheidet über die Entlohnung der Arbeit. Der Proletarier verliert in diesem System seine Würde und hat nur noch einen Wert. Das Lebensschicksal des Proletariats ist maßgeblich an die Marktvorgänge geknüpft. Die ständige Angst vor Massenentlassungen hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Proletarier, die kaum soziale Absicherung besitzen.⁶³ Und als entscheidendsten Punkt benennt Heimann das Verhältnis des Arbeiters zu den anderen Personen im Betrieb. Der grenzenlose Wille nach Macht, Selbsterhöhung und Gewinn führt zu der Erniedrigung des Proletariats. Auch wenn
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Heimann, Die sittliche Idee, 29. Vgl. a. a.O., 37 f. Vgl. a. a.O., 29–40. Vgl. a. a.O., 31.
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Hierarchien innerhalb eines Betriebes notwendig sind und kein Unglück bedeuten müssen, dürfen sie nicht zu Machtansprüchen über andere führen. Auch außerhalb des Betriebs ist der Proletarier von Entmenschlichung bedroht und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen; so etwa im Bereich der Bildung. Die prekäre finanzielle Situation schlägt sich auch auf die Bildungsmöglichkeiten nieder. Besonders verheerend ist das Fehlen von geistiger Bildung für Heimann, da sie unmittelbar in das Leben des Menschen und seine Beziehung zu den anderen Menschen eingreift. Die einzelne Erscheinung als ein Symbol für den Sinn des Ganzen zu begreifen, ohne also ihren bloßen Symbolcharakter aus dem Auge zu verlieren, das heißt Bildung. Und in der gemeinsamen Verehrung von Symbolen, die allen verständlich sind, wird Gemeinschaft gewonnen, wird der Sinn des gemeinschaftlichen Lebens erkannt […]. Wo sie fehlen, ist die Gemeinschaft zerbrochen.⁶⁴
Wenn geistige Bildung fehlt, fehlt auch eine „überwölbende Kraft, unter deren Herrschaft jene Unterschiede zum Range einer bloßen lebendigen Spannung innerhalb des gemeinschaftlichen Lebens zurücksinken würde.“⁶⁵ An dieser Stelle knüpft Heimann an das an, was Tillich in der Gesellschaft durch den Geist der bürgerlichen Gesellschaft verdrängt sieht: einen einenden Bezug auf das Unbedingte, der sich in der religiösen Qualität der Kultur ausdrückt. Die Gemeinschaft ist für Heimann eben ein Symbol bzw. eine Kulturform, in der die religiöse Qualität und ihr Verweischarakter auf das Unbedingte bzw. der „Sinn des Ganzen“ erlebbar wird. Es fehlt aber an Möglichkeiten zu Bildung, die es erlaubt, den (religiösen) einenden Gehalt überhaupt als gemeinschaftsstiftend erkennen zu können. Dabei zeichnet Heimann für die geistige Lage des Proletariats ein ähnliches Bild wie Tillich in Bezug auf die religiöse Lage der Gesellschaft: Der lebendige Gehalt, die Fülle und Kraft sind aus ihr [der Gesellschaft] ausgeflossen, als sie sich auf Vernunft und Moral des vermeintlich freien einzelnen zu gründen suchte statt auf Liebe und schaffenden Glauben.⁶⁶
Heimanns Argumentation ist für einen Ökonomen durchaus erstaunlich: Er beschreibt, dass die Bewahrung der Würde in der Produktion und die geistige Bildung der Proletarier Voraussetzungen sinnerfüllter Gesellschaft als Gemeinschaft sind. Diese Feststellung folgt aus Heimanns Ziel des Klassenkampfes und des religiösen Sozialismus überhaupt: ein „menschliche[s] Zusammenleben aus dem schöpferi-
64 A. a.O., 42. 65 Ebd. 66 A. a.O., 43.
Sinntheorie und Klassenkampf im Kairos-Kreis
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schen Sinn des Lebens“.⁶⁷ Grundlage dafür ist, dass die einzelnen Proletarier zunächst in die Lage versetzt werden müssen, ihr Leben überhaupt als sinnerfülltes Leben wahrnehmen und gestalten zu können, um dann den schöpferischen Sinn des Lebens als einheitsstiftende Grundlage zu erkennen. Heimann formuliert diese Gemeinschaftskonstitution pointiert in Anlehnung an Tillichs sinntheoretische Kulturtheologie, wenn er schreibt: „Jedem Einzelleben ist sein Platz und Sinn in der großen Bewegung des Sinnzusammenhangs zugeteilt, und keines braucht sich zu sorgen, daß es vergessen sei, solange es selbst seinen Ursprung nicht vergißt.“⁶⁸ Für die Konstitution einer auf Sinn ausgerichteten Gemeinschaft bedarf es nach Heimann eben nicht des Voluntarismus eines ethischen Sozialismus oder materiellen Marxismus, sondern eines Bewusstseins für den schöpferischen Sinn, welcher „jedem Leben zu wesenhafter Erfüllung dien[t]“.⁶⁹ Dieses Bewusstsein bedarf es zu kultivieren. Heimanns Vorstellung vom Klassenkampf ist also stark von der Vorstellung geprägt, dass ein sinnerfülltes Leben nur aus einer Kultur der Gemeinschaft erwachsen und nur in diesem Bewusstsein als sinnhaft erkannt werden kann. Und aus diesem Gemeingeist, der auch den Klassenkampf prägen soll, kann wirkliche Gemeinschaft und Gemeinwohl erwachsen und auf den Sozialismus hingearbeitet werden. Aus diesem Programm abgeleitet besteht die Aufgabe des Klassenkampfes darin, als universal verstandene Anstrengung in Richtung einer Gemeinschaft aus sinnerfülltem Leben, Wirtschaft und Sozialpolitik so zu gestalten, dass sich im kapitalistischen Wirtschaftssystem alle Menschen als Teil der Gemeinschaft verstehen und durch sozialistische Bildung ein Bewusstsein entwickeln, das über die jeweiligen Individualinteressen hinausweist und den gemeinschaftsstiftende Gehalt bzw. die religiösen Potentiale in der Gesellschaft neu zu beleben und kultivieren weiß – „immer um den ewigen Ursprung und Sinnes willen“.⁷⁰ Die hier ausgebreitete Verbindung zwischen Tillichs Religionsphilosophie und Heimanns Theorie des Klassenkampfes als Explikation einer Kulturtheologie am Beispiel der sinnerfüllten Gemeinschaft zeigt nur einen Ausschnitt aus dem Gesamtwerk der beiden religiösen Sozialisten aus den Jahren 1925/26. Es bedarf daher weiterer Untersuchungen, die zum einen deutlich machen, ob und wie Heimann in anderen Aspekten seiner sozialökonomischen Forschung an Tillich anschließt und zum anderen, ob auch Heimann impulsgebende Forschungsbeiträge für Tillich geleistet hat. Einen ersten Hinweis darauf gibt Tillich – wie bereits in der Einleitung erwähnt – selbst, wenn er Heimanns Arbeit in Die sozialistische Entscheidung
67 68 69 70
A. a.O., 10. Heimann, Religion und Sozialismus, 26. Heimann, Die Begründung des Sozialismus, 68. Heimann, Religion und Sozialismus, 24.
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hervorhebt (vgl. MW III, 404).⁷¹ Beides ist an dieser Stelle allerdings nicht zu leisten und muss an anderer Stelle weiterverfolgt werden. Doch sieht man bereits an diesem Beispiel, dass Tillichs sinntheoretische Gegenwartsdiagnose und Kulturtheologie zu seiner Zeit an andere Wissenschaftsbereiche (auch jenseits der Theologie) anschlussfähig zu sein scheint und Rezeption findet. Gerade für die Konstellationsforschung, die sich mit Tillichs Umfeld beschäftigt, gibt die Verflechtung von Tillich und Heimann Anlass dazu, zu untersuchen, ob Tillich sich nicht auch über den Kairos-Kreis hinaus Denkräume mit anderen Zeitgenossen teilte und in andere Wissenschaftsbereiche hineinwirkte. Anknüpfungspunkte an beispielweise Technik, Architektur oder Tanz versucht Tillich selbst in seiner Dresdner Zeit immer wieder herzustellen.⁷² Heimanns Theorie des Klassenkampfes ist in jedem Fall Ausdruck dafür, dass Tillichs Denken an anderer Stelle produktiv aufgenommen wurde und in die Sozialökonomie und politische Theorie des Sozialismus hineinwirkte.
71 Einen weiteren Anlass für eine Untersuchung zum Verhältnis von Tillich und Heimann geben Tillichs Glückwünsche zu Heimanns 70. Geburtstag. Dort hebt Tillich als verbindende Begriffe der langjährigen Freundschaft zu Heimann „Kairos, Theonomie und das Dämonische“ heraus (vgl. GW XII, 310). 72 Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in diesem Sammelband.
Werner Schüßler
„Schöpferische Zeitkritik“ Zu Paul Tillichs Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart von 1926 In Tillichs Dresdner Zeit fällt als erste Veröffentlichung ein Werk, das eine Analyse sämtlicher Kulturschöpfungen darbietet unter dem Gesichtspunkt des in ihnen realisierten religiösen Gehaltes: Die religiöse Lage der Gegenwart. Die Schrift erschien 1926 als Band 60 der Sammlung Wege zum Wissen im Ullstein Verlag in Berlin. Wie sehr dieses Werk aus der großen Zahl der Krisenliteratur und der zeitdiagnostischen Analysen dieser Jahre heraussticht, wird schon daran ersichtlich, dass es bereits 1929 in einer italienischen¹ und 1932 in einer amerikanischen Übersetzung² herauskam. Letztere war es wohl auch, die Tillich 1933 den Weg in die USA ebnen sollte, war doch der Übersetzer H. Richard Niebuhr der Bruder des bekannten Theologen Reinhold Niebuhr, der am Union Theological Seminary in New York lehrte und Tillich dort nach seiner Emigration eine Anstellung vermittelte. Nun könnte man viel über den Titel spekulieren, spricht Tillich doch von der religiösen Lage der Gegenwart und etwa nicht wie Jaspers von der geistigen Situation der Zeit.³ Der Philosoph Hans Lipps hat die Begriffe „Lage“ und „Situation“ wie folgt zu unterscheiden versucht: Lagen sind klar, bzw. können einem klar gemacht, in ihren Momenten geklärt und begründet werden. Situation hat aber keinen solchen ‚Stand‘, auf den hin sie betrachtet und beurteilt werden könnte. Und obgleich Einzelheiten daran aus Umständen, Zufällen usw. zu erklären sein mögen, die Situation als ganze bleibt – als im Kern nichts Sachliches – wesenhaft unergründlich.⁴
Doch scheint diese Spezifizierung in Bezug auf Tillichs Schrift schon allein daran zu scheitern, dass „Lage“ spätestens seit der Jahrhundertwende um 1900 ein bekannter Topos theologischer Gegenwartsdiagnosen war.⁵ Zudem ist Tillich – nicht anders als
1 Vgl. P. Tillich, Lo spirito borghese et il Kairos. Trad. di A. Banfi, Roma 1929. 2 Vgl. P. Tillich, The Religious Situation. Transl. by H. R. Niebuhr, New York 1932. 3 Vgl. K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931. 4 H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (= Philosophische Abhandlungen, Bd. VII), Frankfurt a. M. 1938, 24. 5 Vgl. G. Neugebauer, Paul Tillich als Diagnostiker und Kritiker der Gesellschaft, in: C. Danz/ W. Schüßler (Hg.), Paul Tillich in der Diskussion. Werkgeschichte – Kontexte – Anknüpfungspunkte. Festschrift für Erdmann Sturm zum 85. Geburtstag (= Tillich Research, ed. by C. Danz/M. Dumas/ V. Ehret/W. Schüßler, Vol. 23), Berlin/Boston 2022, 61–80, bes. 62. https://doi.org/10.1515/9783111264332-012
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Jaspers – der Überzeugung, dass es bei der Darstellung der religiösen Lage bzw. der geistigen Situation nicht so sehr um eine „objektive Beobachtung“, sondern vielmehr um eine „existentielle Beteiligung“ (ST III, 421) geht, wäre doch Ersteres letztlich eine „Scheinobjektivität“. Allerdings darf es hierbei natürlich auch nicht um eine rein „zufällige Subjektivität“ gehen, sondern es muss eine „schöpferische Zeitkritik“ sein, die immer nur, wie Tillich ausdrücklich betont, von einem eigenen Standpunkt aus möglich ist (GW X, 9). Bei ihm ist dies der Standpunkt seiner schon früh entwickelten „Theologie der Kultur“.⁶ Von daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn er in dieser Schrift ganz auf Literaturangaben verzichtet, was er in der Einleitung so begründet: „Nicht Literatur, sondern eigenes Fragen und lebendige, verantwortliche Teilnahme an der Gegenwart und ihren Problemen ist entscheidend für eine Betrachtung wie die vorliegende.“ (GW X, 9) Trotz aller Standpunkt- und auch Situationsgebundenheit zeitdiagnostischer Analysen wird sich zeigen, dass Tillichs Zeitkritik geradezu einen prophetischen Charakter besitzt, hat sie doch selbst für unsere gegenwärtige Krisensituation Bedeutung.
1 Dresden als Inspirationsquelle In seiner Autobiographie Auf der Grenze schreibt Tillich, dass der Begriff des „gläubigen Realismus“ der zentrale Gedanke seiner Schrift über die religiöse Lage der Gegenwart von 1926 sei. Und aus diesem Grunde habe er diese auch „einer befreundeten Malerin gewidmet“ (GW XII, 21). Auf der vierten Seite der Originalausgabe von 1926 ist denn auch die folgende Widmung zu lesen: „Der Malerin E. W. Kallen“.⁷ Über die Berliner Künstlerin Elisabeth W. Kallen (1900–1958?) ist allerdings nicht sehr viel bekannt.⁸ Sie gehörte wohl der Künstlervereinigung „Novembergruppe“ an, die von 1918 bis 1933 bestand, stellte u. a. 1918 in der Galerie „Der Sturm“ aus und war auch auf der Großen Berliner Kunstausstellung von 1920 sowie von 1921 präsent.⁹ Ihr Stil bewegt sich zwischen neuer Sachlichkeit und magischem Realismus, wobei sie aber auch mit anderen Einflüssen der im frühen 20. Jahrhundert vorherrschenden Kunstströmungen, wie beispielsweise dem Kubismus
6 Vgl. GW IX, 13–31. 7 P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart (= Wege zum Wissen, Bd. 60), Berlin 1926, 4. 8 So taucht ihr Name in der großen Künstlerdatenbank des Städelmuseums nicht auf: https://sammlung. staedelmuseum.de/de/person?gclid=EAIaIQobChMI78yv3sS8-QIVD49oCR1UWg-mEAAYASAAEgJRDvD_ BwE [11.8. 2022]. 9 Vgl. https://lehr-kunstauktionen.de/catalogue/183-kallen-elisabeth-w/ [11.8. 2022].
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oder dem Futurismus, experimentierte.¹⁰ Es ist zu vermuten, dass Tillich Elisabeth W. Kallen noch von seiner Berliner Zeit her kannte. In seinem frühen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 sieht Tillich die Aufgabe der Kulturtheologie darin, ,,die konkreten religiösen Erlebnisse, die in allen großen Kulturerscheinungen eingebettet liegen“ (GW IX, 19), herauszustellen und zur Darstellung zu bringen, d. h. ,,eine allgemeine religiöse Analyse sämtlicher Kulturschöpfungen“ (GW IX, 20) zu geben. Dieser Forderung der Kulturtheologie, der er schon in einem gewissen Rahmen innerhalb dieses frühen Vortrages von 1919 nachgeht, widmet er 1926 ein ganzes Buch. Der sonst sehr abstrakt wirkende Denker Tillich wird hier sehr konkret und treibt Zeitanalyse. Es ist kein Zufall, dass diese Analyse der Kultur in die Dresdner Zeit fällt, denn das Dresden der 1920er Jahre war reich an geistigen Schöpfungen. Hier war in der Galerie eine gesonderte Abteilung für Expressionismus eingerichtet,¹¹ wobei besonders Kokoschka und die Brücke-Maler eine bedeutende Rolle spielten.¹² So ist es auch nicht verwunderlich, dass Tillich im Wintersemester 1925/ 26, seinem ersten Semester in Dresden, neben einer Vorlesung über Hauptprobleme des Christentums ¹³ eine Übung über Religion und Kunst angeboten hat.¹⁴ Neben der Malerei war es vor allem der Tanz, der sich Tillich in Dresden erschloss. Die Stadt beherbergte damals eine Reihe berühmter Tanzschulen, führend war die von Mary Wigman;¹⁵ dazu später mehr.
2 Der Geist der bürgerlichen Gesellschaft In der Schrift von 1926 ist immer wieder vom „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ die Rede, der Tillich zufolge das 19. Jahrhundert entscheidend beherrscht hat. Damit ist aber, wie er in der Einleitung betont, „nicht der Geist einzelner Menschen, auch nicht einer Klasse oder einer Partei“ gemeint.Vielmehr versteht er diesen Begriff als „Symbol für eine letzte, grundlegende Welt- und Lebenshaltung“, wobei die Bedeutung dieses Symbols jedoch weit über die „reale bürgerliche Gesellschaft“ hinausgeht, wenn es auch in dieser „vorzüglich anschaubar“ ist (GW X, 10).
10 Vgl. https://www.altertuemliches.at/termine/auktion/44201 [11. 8. 2022]. 11 Vgl. EW V, 177. 12 Interview mit Renate Albrecht, Deutsches Paul-Tillich-Archiv, Universitätsbibliothek Marburg. 13 Vgl. EW XIV; dazu E. Sturm, Historische Einleitung, in: EW XX, XXI–LXX, XLIf. 14 Die in dieser Übung gehaltene einführende Vorlesung liegt inzwischen publiziert vor: EW XX, 1– 36. 15 Vgl. dazu L. Dotzler-Möllering, Tillichs Begegnung mit dem Ausdruckstanz, in: GW XIII, 559–562; E. Sturm, Historische Einleitung, LXI.
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Wesentlich charakterisiert ist dieser „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ nach Tillich durch die in sich ruhende Endlichkeit, die auf der mathematischen Naturwissenschaft, der Technik und der Wirtschaft gründet. Die Wissenschaft dient der Technik und diese der Wirtschaft. Alles andere wurde Tillich zufolge diesem Dreifachen dienstbar gemacht (GW X, 15).¹⁶ In diesem Sinne ist die Geisteslage der bürgerlichen Gesellschaft eine Zeit „des auf sich selbst gerichteten Daseins, der in sich selbst ruhenden und dem Ewigen gegenüber sich absperrenden Lebensformen“ (GW X, 19): Von einem Hinausgehen über sich, von einer Heiligung des Daseins ist in alledem nichts zu spüren. Die Formen des Lebensprozesses sind völlig selbständig gegenüber der Lebenstiefe geworden. Sie ruhen in sich und schaffen eine in sich ruhende Gegenwart. Und alle Seiten des Lebens, die dem Geist der rationalen Wissenschaft, Technik und Wirtschaft unterworfen sind, zeugen von der in sich bleibenden, sich selbst und ihre Endlichkeit bejahenden Zeit. (GW X, 18)
In dem Aufsatz Das Christentum und die Moderne von 1928, also zwei Jahre später, charakterisiert Tillich diese Geisteslage sehr treffend, wenn es dort heißt: Der eigentliche Charakter der bürgerlichen Gesellschaft ist nach der sozialen Seite hin bestimmt durch wirtschaftlichen Liberalismus und politische Demokratie. Er ist nach der geistigen Seite hin bestimmt durch empirisch-rationale Weltbetrachtung und technisch-rationale Weltgestaltung; er ist nach der religiösen Seite hin bestimmt durch Immanenz-Bewußtsein und Autonomie. (GW XIII, 114)¹⁷
Diese Zeit hatte keine Symbole mehr, „in denen die Zeit über sich selbst hinauswies“ (GW X, 19).
3 Gläubiger Realismus In der Mitte der 1920er Jahre sieht Tillich diesen Zustand „zerbrochen“: ,,Die Zeit hat Erschütterungen erfahren, die sie nicht überwinden, deren Wirkungen sie nicht abstoßen oder entheiligen konnte.“ (GW X, 19) Diese Erschütterungen und „Umgestaltungen“, diese „Hinwendung des europäischen Geistes zu einer neuen Erfassung des Geistes und des Ewigen“ (GW X, 30), sieht Tillich in allen Bereichen der Kultur. ,,Impulse zur Wendung“ werden sichtbar (GW X, 38). Eine „Abwendung von dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ (GW X, 33), der in einer „Abwendung vom Ewigen und Geistigen“ (GW X, 30) bestand, wird deutlich. Ein „Durchbruch durch
16 Vgl. GW VI, 36 f. 39. 17 Vgl. GW VI, 37.
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die in sich ruhende Form des Daseins“, ,,ein inneres Hinausgehen der Dinge über sich selbst ins Jenseitige“ (GW X, 34), die „Zerbrechung“ der „in sich ruhenden Endlichkeit“ (GW X, 35) zeigt sich an. Die „metaphysischen Tiefen“ werden offenbar (GW X, 36), „die transzendente Sphäre rückt in das Geschehen hinein. Die Gestalten werden symbolisch und durchscheinend.“ (GW X, 38) Tillich spricht von dem „Mythischwerden“ der in der bürgerlichen Periode „rein rational und herrschaftlich gedeuteten Funktionen“ (GW X, 36). „So regt sich an vielen Stellen die Opposition des priesterlichen Geistes gegen den Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ (GW VI, 39), schreibt Tillich in dem Aufsatz Kairos von 1926. Gegenüber der autonomen Geisteshaltung fordert Tillich einen „gläubigen Realismus“, ,,ein unbedingtes Ernstnehmen der konkreten Lage unserer Zeit und der Zeit vor der Ewigkeit überhaupt“ (GW X, 46). „Das Ganze […] soll sich erfüllen lassen von einem aus dem Ewigen stammenden und ins Ewige reichenden Gehalt.“ (GW X, 47) Ziel ist eine Geisteslage, die „in all ihren Formen und Symbolen dem Ewigen zugewandt“ ist (GW X, 75). Tillich nennt eine solche Geisteslage „theonom“. In einer solchen Geisteslage gibt es grundsätzlich „keine in sich ruhende Endlichkeit, auch nicht in Wissenschaft und Wirtschaft, auch nicht in Recht und Politik“, denn die Offenbarung ist von nichts Bedingtem ausgeschlossen (ebd.).
4 Theonomie als Ziel Wenn Tillich sein Buch über die religiöse Lage der Gegenwart mit folgenden Worten beginnt: ,,Ein Buch über die religiöse Lage der Gegenwart muß von allem Gegenwärtigen etwas sagen. Denn es gibt nichts, das nicht auch Ausdruck der religiösen Lage wäre“ (GW X, 9), so liegt diesem Gedanken ein anderer zugrunde, nämlich dass Religion das zentrale Anliegen des Menschen ist (GW X, 58). Das aber bedeutet, dass das „Menschlich-Religiöse“ eben nur eine „Teilerscheinung“ ist, die vom „Letzten“ zeugen kann, die vielleicht besonders berufen ist, davon zu zeugen. Aber sie ist nicht die einzige Erscheinung, die davon zeugt, und in manchen Zelten nicht einmal die wichtigste, die ausdrucks- und symbolkräftigste. Denn jede geistige Erscheinung einer Zeit drückt den Ewigkeitsgehalt dieser Zeit aus, und gerade das ist eins der wichtigsten Merkmale einer Zeitlage: welche der verschiedenen Seiten des Geistes am ausdruckskräftigsten für ihren eigentlichen Gehalt ist. (GW X, 13)
Was Tillich vorfindet, ist eben nicht „Theonomie“ – ganz im Gegenteil: Auf der einen Seite steht die bürgerliche Gesellschaft, ,,das System der in sich ruhenden endlichen Formen“, auf der anderen Seite steht die Religion, ,,die Bindung des Unbedingten an bestimmte Formen der Vergangenheit“ (GW X, 65). Das heißt, Profanität und Reli-
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gion stehen sich gegenüber. Das Ziel aber ist die Theonomie. Wie aber kann diese erreicht werden? Die beiden Möglichkeiten von Seiten der Kirche, Opposition oder völlige Selbstaufgabe, sind Tillich zufolge gerade zum „Verhängnis für das religiöse Leben geworden“ (GW X, 65). Eine Überwindung dieser Alternative ist darum nur möglich, wenn gleichzeitig zwei Wege beschritten werden: ,,der eine von der Kultur, der andere von der Kirche her“. In der Kultur muss das „System der in sich ruhenden endlichen Formen“ durchbrochen und der „Weg zum Unbedingten“ gesucht werden. In der Religion muss „die Bindung des Unbedingten an bestimmte Formen der Vergangenheit aufgegeben werden, ohne daß seine Unbedingtheit aller Zeiten und allem Dasein gegenüber“ verloren geht (ebd.). Tillich glaubt, Anzeichen dafür zu sehen, dass beide Wege beschritten worden sind und sich in wachsendem Maße gefunden haben. ,,Sie laufen mehr und mehr trotz der nie ganz überwindlichen Spannung in einen Weg zusammen.“ (Ebd.) Er glaubt, dass sich in diesem Sinne „ein neuer kairos, eine neue Zeitenfülle“ anbahnt: ,,Wir alle stehen in diesem Werden“, schreibt er schon 1924, ,,die einen näher der Kirche, die anderen näher der Gesellschaft“ (GW IX, 46). Dem Versuch dieses Nachweises widmet Tillich das Hauptaugenmerk seines Werkes. In einem ersten Schritt betrachtet er den „Weg der Kultur zur Religion“ (GW X, 21–64), in einem zweiten den „Weg von der Religion zur Kultur“ (GW X, 64– 93).
5 Von der Kultur zur Religion Nicht nur der Standpunkt ist Tillich zufolge in einer persönlichen Entscheidung begründet, sondern auch die Stoffauswahl. Diese ist aber in der vorliegenden Schrift so breit gefächert, dass es unmöglich ist, auf alle Facetten einzugehen. So ist eine Beschränkung auf einige wenige Hauptaspekte unumgänglich. In Bezug auf den Weg der Kultur zur Religion beschäftigt sich ein erster Teil der Schrift mit der religiösen Lage der Gegenwart auf wissenschaftlich-künstlerischem Gebiet (GW X, 21–40). Im Bereich der Wissenschaft wird Tillich zufolge am Gestaltbegriff, wie er besonders in der Biologie, der Psychologie und der Soziologie immer mehr an Bedeutung gewinnt, der schöpferische Charakter der Wirklichkeit anschaubar, und damit wird ihm zufolge auch der Weg frei zum schöpferischen Grund (GW X, 22 f.). Ähnlich verweist auch die Einsicht in die Selbständigkeit und Unableitbarkeit des Geistigen auf eine tiefere Dimension der Wirklichkeit (GW X, 24). In der Philosophie sieht Tillich in der Abwendung vom Formalismus Kants hin zur Wesenheit der Dinge, wie sie in der Phänomenologie begegnet, eine Wende
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gegenüber der „bürgerlich-herrschaftlichen Haltung zur Wirklichkeit, die die Dinge zerschlägt und wieder zusammensetzt“ (GW X, 29 f.). Ist die Wissenschaft wichtig für das Werden einer Geisteslage, so ist die Kunst Tillich zufolge wichtig für ihre Erkenntnis (GW X, 33). So sieht Tillich sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Dichtung Tendenzen, die in Richtung eines „gläubigen Realismus“ gehen. In Bezug auf die bildende Kunst nennt er hier u. a. Cézanne, van Gogh und Munch, den Expressionismus, besonders die Brücke-Maler, den Futurismus, Kubismus und Konstruktivismus. Allen diesen Richtungen sei gemeinsam, dass sich in ihren Werken „der Durchbruch durch die in sich ruhende Form des Daseins“ zeige (GW X, 34). In der Dichtung glaubt Tillich u. a. in Strindberg, Gerhard Hauptmann und E. T. A. Hoffmann, Hugo von Hofmannsthal und Rilke Wegbereiter eines „gläubigen Realismus“ erkennen zu können (GW X, 38). Ein zweiter Teil der Schrift beschäftigt sich mit der religiösen Lage der Gegenwart in Politik und Ethos (GW X, 40–64). Hier sind nach Tillich besonders der Religiöse Sozialismus (GW X, 45) und die Jugendbewegung (GW X, 53) zu nennen, die dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft die Stirn bieten. Bevor wir uns dem Weg der Religion zur Kultur zuwenden, sei an dieser Stelle noch ein kurzer Exkurs zur religiösen Bedeutung des Ausdruckstanzes eingefügt. In seiner Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart geht Tillich nur recht kurz auf diesen ein (GW X, 36).
6 Exkurs zum Ausdruckstanz Neben der Malerei war es vor allem der Tanz, der sich Tillich in Dresden erschloss. Persönliche Kontakte pflegte er zu einer Tanzschule, die sich aus der WigmanSchule herausgelöst hatte, zur Steinweg-Schule. Mit Heinrich Goesch, einem befreundeten Professor von der Kunstgewerbeakademie in Dresden, hat Tillich des Öfteren bei Proben der Steinweg-Schule zugeschaut. Aus dieser persönlichen Begegnung heraus ist Tillichs Beitrag zu einem Prospekt der Tanzgruppe Gertrud Steinweg ¹⁸ von 1926 entstanden, wo es heißt: Für unsere geistige und gesellschaftliche Lage ist trotz aller Gegenbewegungen noch immer charakteristisch der Zerfall aller lebendigen Gestalten und Gemeinschaften in einzelne Atome, die Zusammenballung der qualitätslos gewordenen einzelnen zur Masse und die Erhebung weniger starker Persönlichkeiten, von denen die Masse der übrigen zum Gegenstand ihrer Herrschaftlichkeit gemacht wird. Die Wirtschaft bietet das großartigste und furchtbarste Bild dieser Sachlage. Das gleiche aber drücken Wissenschaft und Technik in ihrem Verhältnis zur
18 Vgl. GW XIII, 134–137.
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Natur aus: Herrschaftlichkeit durch Zerstörung der Lebenszusammenhänge, durch Atomisierung und konstruierende Zusammensetzung. Es ist klar, daß die tänzerische Darstellung dieser Situation, wenn sie mit großen Mitteln geleistet wird, überaus eindrucksvoll als dämonisches Bild unserer Lage sein muß. Ebenso klar aber ist, daß etwas Befreiendes und Beglückendes von einer Gruppe von Menschen ausgehen muß, in der die ursprüngliche Lebenseinheit ohne den Gegensatz von Herrschaftlichkeit und Masse sich durchsetzt. (GW XIII, 136)
Noch in einem Aufsatz aus dem Jahre 1957 mit dem Titel Was mir der Tanz bedeutet schreibt Tillich: Das Wort Tanz weckt in mir Erinnerungen an die zwanziger Jahre in Dresden. […] Ich war damals Professor für Religionswissenschaften an der dortigen Technischen Hochschule und fand Kontakt zur Wigman-Schule. […] Die Ausdruckskraft des sich bewegenden menschlichen Körpers, die Raumgestaltung durch die Tänzer – gleichviel ob Einzeltänzer oder Gruppen –, der Rhythmus in sichtbare Bewegung umgesetzt, die begleitende Musik als Ausdruck der Idee des jeweiligen Tanzes und die stets spürbare Leidenschaft im Hintergrund – all das gewann für mich philosophisch und religiös größte Bedeutung. Es war eine neue Begegnung mit der Wirklichkeit in ihren tieferen Schichten. In Übereinstimmung mit den großen Werken der expressionistischen Malerei, deren Schöpfern ich in jener Zeit in Dresden begegnete, war es der Tanz, der mein Verständnis von Religion tief beeinflußte – Religion als die geistige Substanz der Kultur und Kultur als die Ausdrucksform der Religion. (GW XIII, 134)
7 Von der Religion zur Kultur Mit dem Weg von der Religion zur Kultur beschäftigt sich der dritte Teil der Schrift unter der Überschrift Die religiöse Lage der Gegenwart im Gebiet der Religion (GW X, 64–93). Hier betrachtet Tillich in einem ersten Abschnitt die außerkirchlich religiösen Bewegungen, „die das Gesicht der Gegenwart zweifellos mehr bestimmen“ als die innerkirchlichen Bewegungen (GW X, 65), wobei er zwischen mystischen und endgerichteten Bewegungen unterscheidet. In der Theosophie und Anthroposophie sieht Tillich aber nur eine „Mystik zweiter Ordnung“ am Werk, die den Geist der in sich ruhenden Endlichkeit nicht wirklich überwinden kann, da in diesem Fall „eine Steigerung des menschlichen Bewußtseins mit religiöser Haltung“ verwechselt werde (GW X, 71). Unter der Überschrift Bewegungen der Enderwartung außerhalb der Kirchen fasst Tillich so heterogene Positionen wie Spenglers europäischen Pessimismus, den sozialistischen Utopie-Gedanken und endgerichtete religiöse Sekten wie diejenige der Adventisten zusammen (GW X, 71–73). Inwieweit diese einen „gläubigen Realismus“ vorbereiten, wird dem kritischen Leser aber nicht ganz deutlich. Um die religiöse Lage in den Kirchen geht es schließlich in einem letzten Abschnitt, in dem sich Tillich mit dem Katholizismus, relativ kurz mit dem Judentum
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und schließlich recht ausführlich mit dem Protestantismus beschäftigt. Der Katholizismus sucht Tillich zufolge das Problem der in sich ruhenden Endlichkeit durch eine „Anwendung des mittelalterlichen Ideals auf die gegenwärtige Lage“ zu lösen (GW X, 76). Indem hier aber das Ewige an die Kirche und die Tradition gebunden wird, verfällt der Katholizismus nach Tillich in gewisser Weise selbst dem Geist der in sich ruhenden Endlichkeit, da er auf diese Weise seine „Lebendigkeit, Unmittelbarkeit und Offenheit“ verliert (GW X, 77). Den wichtigsten Beitrag des Judentums hinsichtlich einer Überwindung des Geistes der bürgerlichen Gesellschaft diagnostiziert Tillich im Denken Bubers (GW X, 80). Mit Blick auf den Protestantismus sieht Tillich die entscheidende Gefahr darin, „daß er Protest war und nicht in ausreichender Weise zur Verwirklichung kam“ (GW X, 80).¹⁹ Von daher unterliegt er der Schwierigkeit, dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft konkret entgegenzutreten (GW X, 83). Gegenwärtig sind nach Tillich weder der liberale Protestantismus noch die Orthodoxie, noch der Pietismus in der Lage, den Geist der in sich ruhenden Endlichkeit zu durchbrechen (GW X, 88–91). Auch die Lutherrenaissance eines Karl Holl und die Dialektische Theologie kommen Tillich zufolge nicht über den orthodox-liberalen Gegensatz hinaus (GW X, 92). Eine gewisse Wendung sieht er dagegen im Werk Rudolf Ottos (GW X, 86), wodurch „mystisch-intuitive Elemente“ in die protestantische Theologie eindringen, kann es doch eine Lösung dieses Problems nur geben, wenn der priesterliche Geist mit dem prophetischen vereint wird (GW X, 93).
8 Tillichs kritische Selbstkorrektur In den 1920er Jahren war Tillich davon überzeugt, dass das Ende des Ersten Weltkriegs und besonders auch die Niederlage Deutschlands „einen Einbruch des Ewigen in das Zeitliche“ (GW XIII, 412) bedeutete, dass also ein theonomes Zeitalter anbrechen würde, das die Kluft zwischen der Religion und der Kultur überwindet. Das wird auch aus einem der letzten Sätze aus Tillichs Schrift deutlich, wenn es hier heißt: „Unsere Betrachtungen […] haben uns auf allen Gebieten von der Naturwissenschaft bis zum Kultus und Dogma die Abwendung vom Geist der in sich ruhenden Endlichkeit, vom Geist der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt.“ (GW X, 93) Im Nachhinein kann man natürlich sagen, dass Tillich seinerzeit die „Zeichen der Zeit“ falsch deutete.²⁰ Aber eine solche Antwort wäre zu einfach, da ein Kairos 19 Vgl. dazu P. Tillich, Religiöse Verwirklichung, Berlin 1929. 20 Der Begriff „Zeichen der Zeit“ taucht bei Tillich erst sehr spät auf: vgl. GW VI, 139 (1958); GW XIII, 412 (1962) u. ST III, 420 (1963). Dieser Begriff wurde ja im Umfeld des Vaticanum II bedeutsam (vgl. Gaudium et Spes 4 u. 11); dazu A. Wollbold, Art.: „Zeichen der Zeit“, in: LThK3, Bd. 10, 1403.
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für Tillich „nicht wie ein objektives Faktum“ (GW XII, 312) festzustellen ist, gehört doch zu ihm immer notwendig auch ein Kairosbewusstsein²¹ oder ein „Kairosglaube“ (GW II, 119);²² beides ist ihm zufolge nicht zu trennen.²³ Das heißt, es geht hier nicht so sehr um „objektive Beobachtung“, sondern um „existentielle Beteiligung“ (ST III, 421): Weil die Zeit für etwas reif ist, bricht das Bewußtsein ihrer Reife in den sensitivsten Geistern durch. Und weil das Bewußtsein durchgebrochen ist, wird das, was potentiell da war, aktuell und geschichtswirksam. Nur wo diese beiden Faktoren zusammentreffen, kann man von einem Kairos reden. (GW XII, 312)
In diesem Sinne ist die Botschaft vom Kairos nach Tillich immer und nie im Irrtum: Immer – „denn sie sieht das in unmittelbarer Nähe, was ideal betrachtet nie Wirklichkeit wird und real betrachtet sich in langen Zeiträumen erfüllt“. Nie – „denn wo sie als Botschaft vom Unbedingten her verkündigt wird, da ist der Kairos schon da; es ist nicht möglich, daß er verkündigt wird, ohne diejenigen ergriffen zu haben, die ihn verkündigen“ (GW VI, 28). Eine seiner ersten Vorlesungen, die Tillich nach seiner Emigration am Union Theological Seminary in New York im Frühjahr 1934 gehalten hat, ist der Religionsphilosophie gewidmet.²⁴ Hier bringt er im Rahmen der Einleitung Beispiele für die religiöse Lage der Gegenwart aus den Bereichen der Politik, der Wissenschaft, der Kunst und der Ethik,²⁵ was an seine Schrift von 1926 erinnert.²⁶ Allerdings ist hier weder vom „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“ noch von „gläubigem Realismus“, noch von „Theonomie“ die Rede. Es geht Tillich in diesem Zusammenhang lediglich um eine Problemanzeige, die die „Fragen der Religionsphilosophie“ (EW XVII, 4) evoziert. Jahrzehnte später hat sich Tillich in dieser Frage aber auch „offiziell“ selbst korrigiert, wenn es in einem Vortrag vor dem „Japan Committee for Intellectual Interchange“ in Tokio im Sommer 1960 mit dem Titel Die Grundlagen des religiösen Sozialismus heißt: Es war unser kühner Glaube, daß das Ende des ersten Weltkriegs und besonders die Niederlage Deutschlands einen Einbruch des Ewigen in das Zeitliche bedeutete […]. Die Frage, ob wir mit
21 Vgl. GW VI, 26. 35. 154; EW X, 349; EW XIV, 321. 22 Vgl. GW II, 128. 23 Vgl. GW XII, 312; dazu W. Schüßler, Kairos. Dimensionen eines zentralen Begriffs im philosophisch-theologischen Werk Paul Tillichs, in: Trierer Theologische Zeitschrift 123/2 (2014) 110–122. 24 Vgl. EW XVII, 1–55. 25 Vgl. EW XVII, 4–13. 26 Vgl. dazu auch E. Sturm, Historische Einleitung, in: EW XVII, XV–LIX. XXIII.
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dieser Auffassung recht oder unrecht hatten, kann nicht unmittelbar beantwortet werden. Man könnte sagen, daß wir im Unrecht waren, weil wir die Zeichen der Zeit falsch deuteten. (GW XIII, 412)
Trotzdem gab Tillich „die Sehnsucht nach einer neuen Theonomie“ (GW XIII, 418) zeit seines Lebens nicht auf.
9 Heilige Leere statt Kairos Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs tritt der Kairos-Begriff als geschichtsphilosophische Kategorie bei Tillich in den Hintergrund, um dem Begriff der „heiligen Leere“ Platz zu machen. So heißt es in einem Beitrag zum Thema Religion und Kultur von 1946: Die Geschichte ging einen anderen Weg, und die Frage nach Religion und Kultur kann nicht einfach mit den Begriffen Autonomie, Heteronomie, Theonomie beantwortet werden. Ein neues Element ist in das Bild hineingekommen – die Erfahrung des Endes. Etwas davon erschien schon nach dem ersten Weltkrieg, aber wir fühlten es noch nicht in seiner schrecklichen Tiefe und ungeahnten Absolutheit. Wir sahen mehr auf den Anfang des Neuen als auf das Ende des Alten. […] Wir sahen nicht die Möglichkeit von Endkatastrophen […]. Deshalb hatte unsere theonome Deutung der Geschichte einen leichten Anflug von Romantik, wenn sie auch jeden Utopismus zu vermeiden suchte. […] Herrschte nach dem ersten Weltkrieg die Stimmung eines neuen Anfangs vor, so nach dem zweiten Weltkrieg die Stimmung des Endes. Heute ist eine ‚Theologie der Kultur‘ vor allem eine Theologie des Endes der Kultur, nicht in allgemeinen Ausdrücken, sondern in einer konkreten Analyse der inneren Leere fast all unserer kulturellen Ausdrucksformen. Wenig ist in unserer heutigen Kultur übriggeblieben, das nicht einem sensiblen Geist der Gegenwart ein Vakuum fühlbar machte – das Fehlen von Letztgültigkeit und substantieller Macht in Sprache und Erziehung, in Politik und Philosophie, in der Entwicklung der Persönlichkeit und im Leben der Gemeinschaft. (GW IX, 87)
Aber Tillich ist davon überzeugt, dass auch aus einem solchen „Vakuum“ heraus Schöpfung möglich ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „heiligen Leere“, „die die Qualität des Wartens, eines Noch-nicht, eines Von-oben-her-Gebrochen-seins in all unsere kulturelle schöpferische Tätigkeit hineinbringt.“ Und dann resümiert er: „Dies ist der Weg – vielleicht der einzige Weg –, auf dem unsere Zeit eine theonome Einheit zwischen Religion und Kultur erreichen kann.“ (GW IX, 88)²⁷
27 Vgl. GW IX, 93; P. Tillich, Kunst und Gesellschaft. Aus dem Englischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort über die Bedeutung der Kunst für das Denken Paul Tillichs von W. Schüßler (= Tillich-Studien. Abteilung Beihefte, hg. v. W. Schüßler/E. Sturm, Bd. 1), Münster 2004, 47;
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10 Die Standpunkt- und Situationsgebundenheit zeitdiagnostischer Analysen In den 1920er und 1930er Jahren waren Krisenanalysen en vogue.²⁸ Allein daran wird schon deren Standpunktgebundenheit ersichtlich, auf die Tillich ja auch selbst hinweist. Jeder Versuch einer objektiven Darstellung wäre ihm zufolge auch nichts weiter als Selbsttäuschung oder Langeweile oder beides zugleich. Diese Standpunktgebundenheit soll zum Abschluss noch einmal kurz an zwei anderen zeitdiagnostischen Analysen dieser Jahre verdeutlicht werden, die die Lösung – ähnlich wie Tillich – auch in einem Bezug zur Transzendenz sehen: Es handelt sich hierbei um die diesbezügliche Position des katholischen Philosophen Peter Wust und des Existenzphilosophen Karl Jaspers. Wust war in den 1920er Jahren tief davon überzeugt, dass die Krise, die sich in der epochalen Katastrophe des Ersten Weltkriegs dokumentiert, ihren letzten Grund in einer „Krise des abendländischen Menschentums“ hat, wie auch der Titel seines umfangreichsten Krisenaufsatzes von 1927 zum Ausdruck bringt.²⁹ Und diese sei letztlich begründet in „dem positivistischen und historistischen Humanitätstypus“ seiner Zeit, für den Philosophie und Religion keine Rolle mehr spielten und der Relativismus das letzte Wort habe.³⁰ Als Ausweg aus dieser Lage sieht Wust nur die Rückkehr zum mittelalterlichen Ideal religiösen Lebens,³¹ die Tillich demgegenüber in seiner Schrift vehement kritisiert (GW X, 75). Nur zehn Jahre später ist in Wusts Hauptwerk Ungewißheit und Wagnis von dieser Krisenanalyse der 1920er Jahre so gut wie nichts mehr zu finden. Der Blick hat sich inzwischen geweitet, sieht er doch vgl. dazu H. Jahr,Vom Kairos zur heiligen Leere. Tillichs eschatologische Deutung der Gegenwart, in: New Creation or Eternal Now / Neue Schöpfung oder ewiges Jetzt. Is There an Eschatology in Paul Tillich’s Works? / Hat Paul Tillich eine Eschatologie? Contributions Made to the III. International Paul Tillich Symposium Held in Frankfurt a. M. 1990, ed. by / hg. v. G. Hummel, Berlin/New York 1991, 3–25, bes. 22 f.; A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 273–275. 28 Vgl. dazu G. Wenz, Eschatologie als Zeitdiagnostik. Paul Tillichs Studie zur religiösen Lage der Gegenwart von 1926 im Kontext ausgewählter Krisenliteratur der Weimarer Ära, in: ders., Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven (= Tillich-Studien, hg. v. W. Schüßler/ E. Sturm, Bd. 2), Münster 2000, 45–103. 29 Vgl. P. Wust, Die Krise des abendländischen Menschentums, in: ders., Gesammelte Werke, hg. v. W. Vernekohl, Bd. 6, Münster 1966, 254–312. 30 A. a.O., 256. 31 Vgl. a. a.O., 266; dazu W. Schüßler, Die Zeit neu denken – Peter Wust und das Wagnis christlicher Existenz in unsicheren Zeiten, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte. Im Auftrag der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte hg. v. M. Oberweis, 72. Jg., Münster 2020, 235– 255.
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nun den Menschen als Menschen in einer permanenten Dauerkrise – und das betrifft ihm zufolge alle Bereiche des menschlichen Lebens, objektiv wie subjektiv, was aber nicht heißt, dass sich Wust von seiner katholischen Substanz verabschiedet hätte. Diese Änderung des Blickwinkels ist bei ihm der Adaption existenzphilosophischer Gedanken geschuldet, die nun den Hintergrund seines Denkens bilden.³² Fünf Jahre nach Erscheinen von Tillichs Schrift hat auch der bekannte Existenzphilosoph Karl Jaspers sein bereits 1930 verfasstes epochales Werk Die geistige Situation der Zeit als Jubiläumsband 1000 der bekannten Sammlung Göschen herausgebracht.³³ Auch diese Schrift wurde schon 1932 ins Englische übersetzt³⁴ und ist nicht nur zu einem Bestseller, sondern auch zu einem „Longseller“ avanciert, der auch heute immer noch gelesen wird. Jaspers thematisiert in diesem Werk ähnliche Aspekte wie Tillich: die Technik und den Apparat als Bedingungen des Menschendaseins, die Herrschaft der Masse, den Staat, die Erziehung, die Bildung, die Kunst, die Wissenschaft und die Philosophie sowie das Menschenbild.³⁵ Für Jaspers liegt die „Lösung“ aber nicht in einer Theonomie, wie bei Tillich, sondern in dem von ihm entwickelten „philosophischen Glauben“, der im Gegensatz steht zu jeder Form religiösen Glaubens und dem es entscheidend darum geht, „den Menschen an sich selbst zu erinnern“,³⁶ d. h. an seine Freiheit zu appellieren, die notwendig auf Transzendenz bezogen ist. Die Standpunktgebundenheit zeitdiagnostischer Analysen, wie sie anhand der Positionen von Wust und Jaspers deutlich wird, wirft die berechtigte Frage auf, inwieweit diese überhaupt einen Einfluss auf den Geschichtsverlauf nehmen können. Jaspers betont zwar zu Recht, dass der Mensch als ein Wesen der Freiheit ein Sein-Können ist, was bedeutet, dass er immer selbst entscheiden muss, was er ist und sein wird.³⁷ Aber diese Selbstentscheidung scheint nur bedingt durch solche zeitdiagnostischen Analysen beeinflussbar, sondern mehr durch vitale Interessen und ideologische Einflüsse geleitet zu sein, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat. Zudem weist die Zeitkritik von Jaspers extrem elitäre Züge auf, die allein schon aus diesem Grunde kaum geeignet erscheint, auf breitere Bevölkerungsschichten Einfluss ausüben zu können.
32 Vgl. W. Schüßler, Die Zeit neu denken – Peter Wust und das Wagnis christlicher Existenz in unsicheren Zeiten, 255. 33 Vgl. K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931. 34 Vgl. K. Jaspers, Man in Modern Age. Transl. by E. and C. Paul, London 1933. 35 Vgl. dazu auch G. Wenz, Eschatologie als Zeitdiagnostik, 80. 36 K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 8. Abdruck der 5. Aufl. von 1932, Berlin/New York 1979, 194. 37 Vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 75–84.
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Zeitdiagnostische Analysen unterliegen aber nicht nur einer Standpunkt-, sondern immer auch einer Situationsgebundenheit. Eine überzeitliche Geltung, wie sie Jaspers noch 1946 für seine Schrift von 1931 reklamiert hat,³⁸ hat Tillich demgegenüber für seine Analyse, wie wir gesehen haben, nicht in Anspruch genommen. Dabei haben seine Analysen geradezu etwas Prophetisches an sich, wenn man auf unsere gegenwärtigen Krisen blickt. Von daher ist Tillichs Zeitkritik im wahrsten Sinne des Wortes „schöpferisch“, sind seine Analysen aus den 1920er Jahre doch sehr wohl auf unsere jetzige Situation anwendbar. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur noch einmal an das Zitat aus Tillichs Beitrag zu einem Prospekt der Tanzgruppe Gertrud Steinweg (GW XIII, 136)³⁹ sowie an sein Wort über die „heilige Leere“.⁴⁰
38 Vgl. K. Jaspers, Geleitwort zur Ausgabe 1946, in: ders., Die geistige Situation der Zeit, 194: „Zur Erhellung des Zeitalters werden in diesem Buch Tatsachen benutzt, die jenen vergangenen Jahren [1930] angehören. Es ist auf manchen Seiten auch in der Stimmung an seine Jahre gebunden. Im Ganzen der philosophischen Haltung und der Weltperspektive aber scheint mir das Buch heute wie damals gültig trotz der Ereignisse, die zwischen seinem ersten Erscheinen und dem gegenwärtigen Neudruck liegen.“ 39 Vgl. GW XIII, 136. 40 Vgl. GW IX, 87 f. 93.
Teil IV: Kairos, Religion und Kultur – Theologische Zeitdeutung
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Paul Tillich und die Technik Das aber ist sicher: Wenn gegenwärtig immer noch Häuser, Möbel und Kleider erzeugt werden, denen vergangene Formenwelten als Verzierung oder Muster aufgeprägt werden, so ist das Lüge und Kitsch, und es ist zu fordern, daß der Geist technischer Rationalität diese Fassaden niederreißt und der Tatsache maschineller Entstehung ehrlichen und darum ästhetisch wertvollen Ausdruck verleiht. Ein Stückchen technischer Schönheit ist heilig zu sprechen gegenüber jener Unwahrheit, die noch heute den Markt überschwemmt.¹
Fast glaubt man ein Stück Adorno’scher Kulturkritik zu hören, wenn Tillich hier – selten dezidiert – die Kulturindustrie aufs Korn nimmt. Der Satz stammt aus Tillichs Rede zur 99. Jahresfeier der Technischen Hochschule Dresden im Jahr 1927, jener Rede, die so ganz anders beginnt und eher nahelegt, dass Tillich wie andere Theologen seiner Generation in Deutschland ein distanziertes Verhältnis zur Technik hat. Ich komme darauf zurück. Ausweislich seiner Veröffentlichungen spielt die Dresdner Zeit die entscheidende Rolle in der Entwicklung von Tillichs Gedanken zur Technik. Angesichts seiner Berufung an die Technische Hochschule ist das ja auch naheliegend. Gleichwohl sind es nur zwei vergleichsweise kurze Texte, die Tillich dezidiert der Technik widmet: zum einen die bereits erwähnte Rede zur 99. Jahrfeier der TH: Logos und Mythos der Technik, zum anderen eine Rede zur Eröffnung der 7. Jahresschau Deutscher Arbeit in Dresden ein Jahr später, also 1928.² Es ist zugleich das Datum des 100jährigen Jubiläums der Technischen Hochschule, wie die Technische Universität Dresden damals noch hieß. Es ist nun nicht meine Absicht, Tillichs Gedanken zum Thema einer genetischen Rekonstruktion zu unterziehen.³ Ich möchte demgegenüber einen etwas anderen Zugang wählen. In Tillichs Schriften zur Technik scheinen mir drei Linien zusammenzulaufen, drei Versuche, das Technische „in den theologischen Griff“ zu bekommen. Ich wähle diese Metapher, weil ein Aspekt theologischer Behandlung der
1 P. Tillich, Logos und Mythos der Technik, GW IX, 297–306, hier: 303. 2 Vgl. P. Tillich, Die technische Stadt als Symbol, GW IX, 307–311. 3 Eine solche ist in sehr erhellender Weise von Thorsten Moss vorgelegt worden. Unter den drei Perspektiven „Technik als Kultur“, „Technik als Gegenstand“ und „Technik als Mentalität“ zeigt Moos, wie Tillich in seinen Schriften zur Technik das Programm seiner Kulturphilosophie einlöst, wie er die Maschine als Referenzpunkt für den Logos der Technik heranzieht und wie er schließlich die mit der Technik verbundene Geisteshaltung analysiert.Vgl. T. Moos, Paul Tillichs Technikdeutung im Kontext seiner wissenschaftssystematischen und religionsphilosophischen Schriften der 1920er Jahre, in: A.-M. Richter/C. Schwarke (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne, Stuttgart 2014, 71–96. https://doi.org/10.1515/9783111264332-013
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Technik so naheliegend wie folgenreich ist: Um überhaupt aus theologischer Sicht etwas über die Technik sagen zu können, wird sie immer auf je unterschiedliche Weise für die Bearbeitung zugeschnitten. Das sorgt gleichzeitig meist für das Unverständnis, mit dem TechnikerInnen solchen Zuschnitten begegnen. Es gibt bei Tillich gleichwohl einen einzigen Gedanken, der diesem Spiel ein Schnippchen schlagen würde. Dabei handelt es sich um die Idee, dass ein System der Technik, dessen Fehlen er 1927 noch beklagt, nicht unter geisteswissenschaftlichen Kategorien, sondern schlicht unter grundlegenden technischen Elementen vorgenommen werden könnte: „Rad, Hebel, Schraube, Stütze“ (GW IX, 301). Tillich hat dies aber meines Wissens nie umgesetzt. Die drei Linien, die ich in Tillichs Texten finde, sind folgende: Erstens ist da die zeittypische Mystifizierung der Technik, die im Wort von der „Dämonie der Technik“ gipfelt. Sie begegnet in der Zeit allenthalben und war für die folgenden Jahrzehnte außerordentlich einflussreich. Zweitens ist da die in gewissem Sinne gegenläufige Linie der Suche nach einem „Realismus“. Diese in den zwanziger Jahren etwa auch in der Kunst wichtige Tendenz wird von Tillich – wie könnte es anders sein – noch einmal tiefergelegt bzw. auf das Absolute bezogen. Diese ersten beiden Linien werde ich mit der damaligen theologischen Situation in den USA vergleichen, um Tillichs Position zu profilieren. Drittens schließlich ist da die symboltheoretische Ebene, die sich bereits im Titel von Tillichs Beitrag aus dem Jahr 1928 spiegelt: Die technische Stadt als Symbol. Blickt man aus der Perspektive des Jahres 1928 in die Zukunft des Tillich’schen Œuvres, so könnte man m. E. eine zeitliche Abfolge meiner drei Linien behaupten: Während die Mystifizierung eigentlich schon im Jahr 1928 überwunden ist, ist die Suche nach einem Realismus vielleicht als Zwischenstufe auf Tillichs Weg zu deuten, Ontologie, aristotelische Ordnungskategorien, Religion und Lebenswelt in eine fruchtbare Beziehung zu bringen. Die symboltheoretische Ebene schließlich, obgleich auch schon 1928 präsent und entfaltet,⁴ weist am weitesten in die Zukunft (u. a. der Systematischen Theologie). Damit verbinden sich Präferenzen auf meiner Seite. Die Abfolge der Schritte ist zugleich eine aufsteigende Kurve in Bezug auf die Frage, wie geeignet die Linien oder Ebenen in Tillichs Konzeption sind, wenn man theologisch angemessen über die Technik sprechen will. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass man sich mit den Mitteln der dritten, symboltheoretischen Ebene noch einmal reflexiv auf die erste, mystifizierende Ebene beziehen und sie damit aufschließen kann.
4 Vgl. P. Tillich, Das religiöse Symbol (1928), in: MW IV, 213–228.
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1 Mystifizierung Der Satz, der Leserinnen und Leser bei der Lektüre der technikphilosophischen Texte Tillichs anspringt wie der Ruf eines Verzweifelten und der scheinbar wie ein erratischer Block aus dem Ganzen herausfällt, bildet den Beginn seiner Rede Logos und Mythos der Technik. Immer wieder wurde er (auch von mir) zitiert: An Plötzlichkeit und Gewalt einer Naturkatastrophe vergleichbar kam die moderne Technik über die abendländischen Völker. Und sie beugten sich, ohne zu verstehen, was geschah. Allmählich aber dämmerte ein Bewußtsein darum, daß sich ein Schicksal vollzogen hatte, daß das Abendland einen Weg gegangen war, der weit hinausführte über alle Möglichkeiten der bisherigen Menschheit. Und dieser Weg des Abendlandes reißt irgendwie die ganze Menschheit in seine Richtung. (GW IX, 297)
Im Folgenden will ich zunächst versuchen, die verschiedenen Elemente dessen, was ich Mystifizierung der Technik nenne, zu charakterisieren. Gleichzeitig soll ein Vergleich mit Äußerungen zur Technik aus den USA Unterschiede und Gemeinsamkeiten zeigen und so Kontextualisierungen ermöglichen. Zunächst kommt in dem obigen Zitat Ohnmacht zum Ausdruck. Naturkatastrophen und Schicksal werden bemüht, um das Unausweichliche der technischen Entwicklung vor Augen zu führen, vor der der Mensch sich nur ducken kann. Woher kommt diese Wahrnehmung, dieser Ton des Unheimlichen angesichts der Technik? Diese Frage stellt sich umso mehr, als Tillich zum Ende seiner Rede in bemerkenswert predigtartiger Rhetorik gerade die befreienden Aspekte der Technik hervorhebt: Und die Technik kann befreien von dem unlöslichen Druck körperlicher Schmerzen, […] von der Wehrlosigkeit, mir der der frühere Mensch der Natur preisgegeben war. […] Und die Technik kann befreien von den Schranken, die Raum und Zeit menschlicher Gemeinschaft bereiten. […] Und die Technik befreit von dem Unheimlichen, Dämonischen in den Dingen. (GW IX, 305)
Die Wahrnehmung, dass die (damals zeitgenössische) Technik den Menschen klein aussehen lässt, ist selbstverständlich unschwer an den Artefakten jener Zeit, großen Lokomotiven und industriellen Anlagen, empirisch aufzuweisen. Und diese Wahrnehmung war auch in den USA anzutreffen, wurde dort jedoch stets im Blick auf die Zukunft eröffnenden Aspekte technischer Innovationen relativiert. In Deutschland dominiert dagegen entsprechend der Zeitstimmung nach dem verlorenen Krieg ein düsteres Bild. So konnte ein 1929 in den USA erschienenes Buch mit dem nüchternen Titel Men and Machines von Stuart Chase in der deutschen Übersetzung den Titel
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Moloch Maschine erhalten.⁵ Dabei handelt das Buch gar nicht von solcher Dramatisierung. Aber die Visualisierung von Technik im Kino der 1920er Jahre scheint hier die Bilder geliefert zu haben. Man denke an Fritz Langs Film Metropolis (1927) oder Sprengbagger 1010 von Carl Ludwig Achaz-Duisberg (1929). In dem Zitat ist bereits das im Kontext der Mystifizierung der Technik in den 1920er Jahren zentrale Stichwort gefallen: die Dämonie. Anders aber als Tillich den Begriff hier benutzt, wird er üblicherweise nicht dazu verwendet zu beschreiben, wovon die Technik erlöst, sondern gerade umgekehrt, was sie an negativen Folgen mit sich bringt. Dietrich Bonhoeffer schreibt ein Jahrzehnt später: „Die Wohltaten der Technik verblassen hinter ihren Dämonien.“⁶ Und auch die bis in die 1990er Jahre umfangreichste theologische Auseinandersetzung mit der Technik, Hanns Liljes Das technische Zeitalter, zwischen 1927 und 1932 immerhin in drei Auflagen erschienen, widmet der „Dämonie der Technik“ einen eigenen Abschnitt.⁷ So verbreitet war das Motiv, dass Heinrich Kley es in einem Titelbild der Zeitschrift Die Jugend 1925 karikierend aufnehmen konnte.⁸ Und auch bei Tillich begegnet diese Wendung zur Dämonie. Noch bevor Tillich die Gewinne der Technik thematisiert, spricht er auf der Suche nach dem Wesen der Technik über die Maschine. Und hier nun sieht Tillich das Unheimliche und Dämonische der Technik verwirklicht, insofern die Maschine ein „Eigenleben“ führe (GW IX, 301). Die Wahrnehmung, dass der technische Fortschritt die Emanzipation des Menschen von der Natur durch neue Abhängigkeiten begleitet, war weit verbreitet. Im Gegensatz zu anderen Theologen, die das Dämonische im Grunde auf die negativen Folgeerscheinungen der Anwendung von Technik und auf die Frage ihrer Beherrschbarkeit begrenzten, ist die Dämonie der Technik bei Tillich jedoch darin begründet, dass Technik es von Anfang an mit dem Unheimlichen zu tun hat. In seinem Beitrag in den Dresdner Neuesten Nachrichten zur Eröffnung der Ausstellung Die technische Stadt 1928 meint Tillich, dass „alle Technik eine Überwindung des Unheimlichen in den Dingen“ sei (GW IX, 309). Im Blick auf die Stadt bedeutet dies, dass zunächst das Haus und dann auch die Stadt den Menschen vor dem Unheimlichen des unbegrenzten Raums bewahren. „Das Unheimliche des unendlichen Raums, das uns in sich hineinreißen will, wird ferngehalten durch den
5 S. Chase, Men and Machines, New York 1929. Deutsche Übersetzung: ders., Moloch Maschine, Stuttgart 1930. 6 D. Bonhoeffer, Ethik, München 91981, 105. Vgl. H. Diebel, Wohltaten und Dämonien. Eine Deutung des Technikbegriffs bei Dietrich Bonhoeffer, in: A.-M. Richter/C. Schwarke (Hg.), Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne, Stuttgart 2014, 113–124. 7 H. Lilje, Das technische Zeitalter. Grundlinien einer christlichen Deutung, Berlin 1932, 123–132. 8 https://i.pinimg.com/originals/11/2e/ab/112eab1d04ab0c39c47c6e6288a1a167.jpg [25.9. 2022].
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begrenzten Raum, den wir erfüllen können mit unserem Dasein“ (GW IX, 308). Technik bedeutet die Zurückdrängung der „dämonischen Tiefe“, der „Fremdheit, Bedrohlichkeit“ der Welt, ja sie ist „Entdämonisierung“. Als ob Tillich die eher nüchterne Darstellung technischer Errungenschaften auf der Ausstellung konterkarieren möchte, ist der Großteil seines Textes diesem Unheimlichen gewidmet. Zwar trugen die einzelnen Teile der Ausstellung metaphorisch aufgeladene Titel wie: „Die Lebensquellen der Stadt“, „Der Organismus der Stadt“ und „Der technische Körper der Stadt“. Aber tatsächlich verbargen sich dahinter eine Fülle einzelner Techniken wie Heizung, Wasserversorgung und Elektrizität. Die Stadt als eigene Größe wurde als solche nicht gezeigt. Sie war eher das gedachte Bindeglied der Werkschau.⁹ Wenn Tillich die Technik also einerseits in einer Art Kompensationstheorie im Unheimlichen verortet, so generiert sie (fast möchte man sagen: selbstverständlich) auch ihrerseits neue Unheimlichkeiten. „Denn mit ihr erhebt sich eine neue Drohung, eine neue Unheimlichkeit, die nicht mehr zu bannen ist durch Wissen und Technik, die vielmehr durch diese selbst gerufen wird“ (GW IX, 310). Und wieder ist es das „Eigenleben“ des Technischen, das Tillich beunruhigt: „Wer kann es noch beherrschen?“ (Ebd.). Denn die Technik beraubt ihrerseits die natürlichen Dinge ihres Eigenlebens. Wenn die technische Stadt die Welt zwar bewohnbar macht, so bleibt sie selbst dem Menschen fremd. Die technische Stadt bringt den Menschen letztlich zum „Erstarren. Der Boden, die Verbindung mit der lebendigen Erde, ist genommen. […] Das Stahlbetonhaus trennt uns mehr als Lehm, Holz und Backstein von den kosmischen Strömungen“ (ebd.). Wieder zeigt ein Vergleich mit ungefähr zeitgleichen Diskussionen in den USA den Unterschied zur deutschen Debatte: Zwar kennt man auch jenseits des Atlantik die Frage, ob der Mensch angesichts der Industrialisierung noch „master“ sei oder nicht vielmehr „slave“ werde.¹⁰ Und selbstverständlich kennt auch die amerikanische Kultur das Unheimliche. Aber soweit ich sehe, hat niemand dort die Technik so eng an die Idee des „Unheimlichen und Dämonischen“ gebunden. Für Tillich verbindet sich damit jedoch die Frage nach dem Sinn von Technik. Und wenn er am Ende seines Beitrages konstatiert, dass die technische Stadt keine Antwort auf diese Frage gebe, so darf man die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks nicht überhören: Nicht nur die technische Stadt, sondern auch die Ausstellung unter gleichem Namen gibt keine Antwort, und zwar vor allem für diejenigen Menschen,
9 Vgl. Siebente Jahresschau Deutscher Arbeit Dresden 1928, Die Technische Stadt; Ausstellungskatalog, Dresden, Verl. d. Jahresschau Deutscher Arbeit 1928. 10 Vgl. z. B.: S. Bent, Machine – Master or Slave? In: The World’s Work 58/2 (August 1929) 62–67. 110. 112. 122.
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„die am tiefsten im Dienste der technischen Stadt […] stehen, die nirgends einen Ersatz haben für die Lebenskräfte, deren sie beraubt sind“ (GW IX, 311) – die Arbeiter. Es ist bezeichnend, dass Tillich diese sozialpolitische Wendung aus dem oben beschriebenen Zusammenhang entwickelt. Es ist dieselbe Grundhaltung, die in einem Gemälde von Hans Baluschek zum Ausdruck kommt (Arbeiterstadt, 1920).¹¹ Im Gegensatz zu vielen Bildern der Neuen Sachlichkeit (auch von Baluschek), die gebeugte Arbeiter und Arbeiterinnen zeigen, malt Baluschek in diesem Fall eigentlich ein mythisches Bild: Eine faustische Gestalt blickt auf eine düstere Szenerie. Die S-Bahngleise winden sich wie die Schlange des Paradieses in den Körper der Stadt. Die erleuchteten Fenster der Häuser wirken wie Augen, die aus tiefen Höhlen schauen. Unter einer Gleisbrücke lauert eine Lokomotive wie der Drache der Unterwelt. Baluschek hat sich durchaus positiv zur Technik geäußert,¹² aber die „technische Stadt“ ist auch ihm – wie Tillich – ein soziales Problem. Dass die Technikwahrnehmung vieler Theologen an die „soziale Frage“ gekoppelt war, gilt übrigens diesseits und jenseits des Atlantiks. Technikkritische Impulse traten in den USA erst auf, als die Kirche in der Folge einer Reihe von brutal niedergeschlagenen Streiks ab den 1870er Jahren den streikenden (noch dazu katholischen Einwanderer‐) Arbeiter nicht mehr calvinistisch als individuell fleißdefizitär wahrnahm, sondern begann, in der Situation ein strukturelles Problem zu sehen.¹³ Dies war eine Verschiebung, die unter anderen Bedingungen auch zwischen Wichern und den religiösen Sozialisten zu beobachten ist. Theologische Technikdeutung nimmt ihren Anfang nicht zufällig in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg.¹⁴ Noch die erste Auflage der RGG kennt das Stichwort „Technik“ nicht. Erst die zweite Auflage verzeichnet einen kleinen Beitrag zum Stichwort „Maschine“.¹⁵ Denn erst jetzt tritt die Technik unübersehbar als Kultur in den Alltag ein, und die schärfer werdenden Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt lassen auch die Intellektuellen von der Konsumtion der Produkte auf die Entstehungsbedingungen schauen.
11 Vgl.: http://collection.mam.org/details.php?id=28079 [25.9. 2022]. 12 Vgl. I. Güssow, Exkurs: Der realistische Maler Hans Baluschek, in: H. Friedel (Hg.), Kunst und Technik in den 20er Jahren. Neue Sachlichkeit und gegenständlicher Konstruktivismus (Ausstellung 2. Juli – 10. August 1980, Städtische Galerie im Lenbachhaus), München 1980, 69–71. 13 Vgl. H.F. May, Protestant Churches and Industrial America, New York 1949, 9–111 (Three Earthquakes). 14 Zum Folgenden vgl. C. Schwarke, Technik und Religion. Religiöse Deutungen und theologische Rezeption der Zweiten Industrialisierung in den USA und in Deutschland, Stuttgart 2014, 224–228. 15 H. Sieveking, Art.: Maschine, in: RGG2, Bd. 3, Tübingen 1929, Sp. 2037 f.
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Darüber hinaus wird nun ein Gegensatz wahrgenommen, den ein Sammelband mit dem Titel Kirche und Industrie aus dem Jahr 1927 auf den Punkt bringt: „Der Kampf geht um den Primat des Kirchturms vor dem Industrieschornstein“.¹⁶ Und obwohl sich Tillich solchen engeren Kirchenbezügen entzieht, prägt der nun wahrgenommene Gegensatz zwischen technischem und religiösem Weltumgang auch seine Suche nach einem dem Problem angemessenen Realismus. Bevor ich dazu komme, ist eine kurze Zwischenbemerkung in normativer Absicht am Platz. Es ist erkennbar geworden, dass ich den mythisierenden Aspekten der Technikdeutung, wie sie die 1920er Jahre bestimmten, skeptisch gegenüberstehe. Tillich nimmt diese auf – darin bleibt er dem Zeitgeist verhaftet –, versucht sie aber im Sinne einer Ambivalenz umzudeuten. Nun könnte man das historisieren und auf sich beruhen lassen. Aber die Figuren sind auch nach 1945 außerordentlich wirksam geworden. Was man in den 1950er bis 1980er Jahren als technologischen Imperativ bezeichnete, ist der Sache nach die gleiche Vorstellung eines „Eigenlebens“ der Technik, auch wenn es weniger geisterhaft formuliert wurde. Und auch diesen halte ich für falsch, weil es eben doch Menschen sind, die Entscheidungen treffen, auch wenn sie bemüht sind, dies zu verschleiern. Wichtiger noch ist mir, dass die Mystifizierung nichts zum Gehalt der damit verbundenen Deutung oder Kritik beiträgt. Das zeigt sich daran, dass sie relativ leicht als sozialpolitische Ohnmachtserfahrung zu entschlüsseln ist. Darüber hinaus ist sie vor allem dafür verantwortlich, dass von Theologen häufig gar nichts anderes erwartet wird als eine generelle Technikablehnung. Dennoch lässt sich mit Tillich gegen Tillich argumentieren und die Mystifizierung hermeneutisch fruchtbar machen, wenn man seine symboltheoretischen Erkenntnisse auf diesen Zusammenhang anwendet. Ich werde das am Ende des dritten Abschnittes erläutern. Damit komme ich gleichsam zum zweiten Anlauf Tillichs und meiner Überlegungen: die Suche nach einem neuen Realismus.
2 Realismus Wie bringt man die Theologie überhaupt ins Gespräch mit der Technik? Oder anders gefragt: Wie nähert man sich dem Gegenstand Technik so, dass er anschlussfähig für theologische (und philosophische) Denkfiguren wird? Eine Möglichkeit haben wir in der Mystifizierung kennengelernt, die erkennbar meist mit Drama-
16 Lüttke, Die reine Siedlungsgemeinde, in: W. Staemmler (Hg.), Kirche und Industrie. Vorträge bei der ersten Tagung von Pfarrern aus Industriegemeinden in Mitteldeutschland, Sangerhausen 1927, 24–26, hier: 26.
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tisierung verbunden ist. Das Gegenteil zu solchen Bewegungen könnte man in den Versuchen identifizieren, besonders realistisch auf die Technik zu blicken. Dem dient zunächst eine Definition dessen, was Technik sei. Neben und im Text vor der schon genannten „Unheimlichkeitskompensation“ rangiert bei Tillich die bekannte Definition: „Technisches Handeln ist Einstellung von Mitteln auf einen Zweck“ (GW IX, 297). Das ist damals Gemeingut und findet sich auch bei Hanns Lilje.¹⁷ Gleichwohl ist diese Bestimmung nicht so unschuldig, wie es scheint. Man hört sofort mit, dass hier Gefahr im Verzug ist. Denn seit Kant hat auch die Theologie gelernt, dass die Welt nur dann in Ordnung ist, und Würde nur dort gewahrt bleibt, wo etwas niemals bloß Mittel ist. Und gänzlich problematisch wird es, wenn Zwecke zu Mitteln umfunktioniert werden. Genau dies ist denn auch die Linie, in der Tillich seine Annäherung an die Technik vorantreibt. Dazu unterscheidet Tillich drei Formen der Technik: Zunächst ist die „entfaltende“ Technik diejenige, die natürliche Gegebenheiten nicht zerstört, sondern bewahrt und heilt. Dazu zählt Tillich Techniken wie Züchtung, Heilkunde, aber auch Verteidigung,Verkehrstechnik und Verwaltung (GW IX, 298 f.). Darauf folgt die „verwirklichende“ Technik, die dem Geist sozusagen zu materieller Präsenz verhilft. Dazu gehören Musikinstrumente, das Buch, künstlerisches Material, aber auch das Kino und Radio. Drittens schließlich gibt es aber eine „umgestaltende“ Technik, die den Baum zu Holz macht. „[S]ie zerreißt die Erdoberfläche durch Straßen und Kanäle, sie preßt das widerstrebende Eisen in Formen, die ihr belieben“ (GW IX, 299). Erst diese Technik schafft das „technische Gebilde“. Sein Kennzeichen ist, dass es nur in seiner Funktion Wert hat. Eine nicht mehr funktionierende Maschine ist eben Schrott. Erst auf dieser Stufe des Technischen wird die Rationalität des Technischen ganz offensichtlich, die nach Tillich wiederum eine dreifache ist: Erstens folgt Technik einer inneren Rationalität ihrer Funktionen (die durchaus auch zu einer spezifischen „inneren Schönheit“ führen kann) (vgl. GW IX, 300). Zweitens hängt die Technik an der Rationalität der Naturgesetze und drittens folgt die Technik der ökonomischen Rationalität. Es gehört zum Gestus des Realistischen in den 1920er Jahren, hinter der Technik die Wirtschaft als die eigentlich treibende Kraft (und zwar zum Schaden für Mensch und Welt) zu sehen.¹⁸ Demgegenüber schreibt Tillich: „Die Technik ist neutral.“ „Die Maschine ist neutral.“ Diese Idee, die auch Lilje vertrat, der davon ausging, dass Technik erst in ihrer wirtschaftlichen Anwendung dämonisch werde, widerspricht freilich sowohl Tillichs schon erwähnter Analyse des Maschinellen als eigenlebendig als auch seiner Bestimmung
17 „Technik ist zweckhafte schöpferische Gestaltung im Rahmen der naturgesetzlichen Wirklichkeit“ (H. Lilje, Zeitalter, 54). 18 So etwa auch bei H. Lilje, Zeitalter, 54. 56 und R. Niebuhr (s. u.).
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der umgestaltenden Technik. Denn diese Umgestaltung ist eben elementar mit einer Wertung verbunden. Gegenüber dem bis heute von Ingenieuren gern wiederholten Credo, dass ihre Schöpfungen wertfrei seien und Verantwortung daher nur alle anderen hätten, kann Technik eben gerade nicht als wertfrei gedacht werden. Das heißt nicht, dass sie negativ wäre, aber auch ein positiver Wert ist ein Wert, und warum sollte überhaupt etwas entwickelt werden, wenn damit nicht ein positives Ziel verbunden wäre? Insofern sind alle späteren Tillich‘schen Bemerkungen, die der Technik „Zweideutigkeit“ attestieren,¹⁹ deutlich „realistischer“ als diese Bestimmung einer Neutralität der Technik. Gleichwohl weist der Zusammenhang über sich hinaus. Denn hier liegt nicht einfach ein Lapsus vor, der nicht hinreichend durchdacht wäre. Vielmehr scheint mir das Problem in jeder denkbaren „realistischen“ Definition des Technischen aus geisteswissenschaftlicher Perspektive zu liegen. Denn in gewissem Sinne „wählt“ sie die Definition so, dass ein Gegensatz zwischen dem Technischen und dem wie auch immer „Eigenen“ des oder der Definierenden entsteht. Ich habe das oben am Beispiel der Zweck-Mittel-Relation erläutert. Wenn das zutrifft, gibt es eigentlich keinen Ausweg aus einer Dichotomie, in diesem Fall zwischen Theologie und Technik. Und dann wäre – überraschenderweise – Tillichs andere Definition des Technischen als Unheimlichkeitsreduktion eine theologisch viel anschlussfähigere. Denn sie lässt eine elementare Gemeinsamkeit zwischen Technik und Theologie erkennen: Beide würden dann daran arbeiten, den Menschen die Welt vertrauter zu machen. Die notorische Fremdheit zwischen Theologie und Technik wäre dann im Kern eine Konkurrenz über den richtigen Weg und die Zuständigkeit bei der „Kontingenzbewältigung“ (H. Lübbe). Sie bestünde nicht in unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Realität sei. Dass es keine geschiedenen Sonderwelten geben kann, ist schon in den 1920er Jahren Tillichs emphatisches Bekenntnis. Und auch Lilje, der übrigens außerordentlich klug darauf hinwies, dass es „die“ Technik an sich nicht gebe, stimmt in seiner Suche nach einer realistischen Position mit Tillich darin überein. Gleichwohl nimmt die Suche nach einem Realismus sowohl bei Lilje als auch bei Tillich eine Wende. Denn mit einem theologisch bestimmten Realismus suchen sie eine Alternative zum alltagssprachlich gefüllten Realismus. Zwar kann man einerseits zeigen, dass die Wahrnehmung der Technik diesseits und jenseits des Atlantik entscheidend dazu beitrug, „Realismus“ für notwendig zu halten. Andererseits perpetuiert sich in seiner Entwicklung wiederum die oben beschriebene Differenzfigur und stellt den Erfolg des Programms infrage.
19 Vgl. P. Tillich, Religion und Weltpolitik, MW IV, 139–192.
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Ich will dies kurz erläutern. Die Wendung zu einem „alternativen“ Realismus findet man bei Tillich nicht in seinen Texten zur Technik, sondern in seinem Aufsatz Gläubiger Realismus (vgl. MW IV, 183–192) aus dem Jahr 1927. Tillich führt in diesem Text drei Formen des Realismus ein. Und er beginnt mit dem aus der Renaissance erwachsenen „technischen Realismus“ (MW IV, 186). Tillich weist darauf hin, dass die Technik uralte Menschheitsträume verwirklicht. Sein Begriff des technischen Realismus meint also durchaus keinen kruden Materialismus. Tillich fährt dann fort mit der Beschreibung des von ihm so genannten „historischen Realismus“. Dabei geht es weniger um die Wahrnehmung oder Wertschätzung des Vergangenen (Tillich und Lilje warnen immer wieder vor einer romantischen Rückwärtsgewandtheit), sondern gerade um die Wahrnehmung der Gegenwart als „Hier und Jetzt des eigenen Schicksals“ (MW IV, 189). Es geht also um ein historisches Bewusstsein im eigentlichen Sinn. Schließlich kommt Tillich zum „gläubigen Realismus“, der sich dadurch auszeichnet, dass er das „Unbedingt-Mächtige“ (ebd.) als Realität wahrnimmt, der gegenüber der Mensch nicht aktiv, sondern passiv „handelt“. „Hier kann der Geist nicht spalten, hier kann er nicht ergreifen. Nur dies kann geschehen, daß er gespalten, daß er ergriffen wird. Und das ist Glaube“ (ebd.). Und es ist diese Differenz, die den technischen Realismus unweigerlich vom „gläubigen Realismus“ trennt: „Darum scheidet der technische Realismus den Glauben völlig aus einer Wirklichkeitserfassung aus und kommt zu einem Nebeneinander, das freilich mit notwendiger Konsequenz in Unglauben umschlägt“ (ebd.). Es ist eine ähnliche Differenz, wie Bultmann sie später, im Übrigen ebenfalls in Auseinandersetzung mit der modernen Technik, als unterschiedliche Ausrichtung der Existenz im Leben aus dem Verfügbaren oder dem Unverfügbaren bestimmen sollte.²⁰ Daher meine ich, dass diese Form der Suche nach einem Realismus die Differenz zwischen einer theologischen und einer technischen Perspektive auf die Wirklichkeit fortführt. Das wäre ja an sich kein Problem, wenn sie sich des Grundes im Definitorischen bewusst wäre, die m. E. alle Differenzbestimmungen zu einer petitio principii machen. In der Charakterisierung des gläubigen Realismus wehrt sich Tillich gleichwohl explizit gegen eine Vereinnahmung durch ein existentialistisches Passivitätspathos: „Wohlgemerkt: Nicht Glaube und Gebundenheit an die Ohnmachtsschichten des Seienden, wie uns eine radikal-protestantische Theologie einreden will“ (MW IV, 190). Es geht Tillich an dieser Stelle nicht darum, sondern um die Frage der Wahrnehmung von Wirklichkeitsschichten und um ein Transzendieren auf das „Unbedingt-Mächtige“ hin. Dennoch: Der„gläubige Realismus“ Tillichs ist im Grunde überhaupt kein Realismus, sondern ein Expressionismus. Und daran ändert auch
20 Vgl. R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941), hg. v. E. Jüngel, München 1988, 32–38.
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nichts, dass und wenn man mit Tillich im Grunde einen Realismusbegriff zugrunde legt, der sich den klassischen Auseinandersetzungen der abendländischen Denkgeschichte verdankt, in denen auch ein Idealismus letztlich ein Realismus ist, wenn er sich selbst als solchen ausgibt. Das alles soll keine Kritik an Tillichs Konzeption als solcher sein. Ich frage mich nur, ob er seinen eigenen Zielen mit dieser Linie seiner Denkbemühung nicht immer noch selbst im Weg stand. Wie gesagt, ist auch das Stichwort des Realismus kein Tillich’sches Sondergut in der Begegnung mit der Technik in den 1920er Jahren. Gleichwohl gibt er ihm eine besondere Wendung, wie man am Vergleich mit den Ideen von Hanns Lilje einerseits und Reinhold Niebuhr andererseits sehen kann. Lilje setzt einerseits konsequenter als Tillich auf den Appell, Technik konkret und so wahrzunehmen, wie sie tatsächlich begegnet, d. h. jenseits philosophischer Wesensbestimmung. Gleichzeitig will er gegen die technische (d. h. tatsächlich wirtschaftlich-technische) Rationalität einen „biblischen Realismus“ stark machen. Dieser besagt, dass technisches Handeln einerseits Teilhabe am Schöpfungshandeln Gottes ist, andererseits aber unter dem Sündenproblem steht. Dies verbindet Liljes Konzept mit demjenigen Reinhold Niebuhrs. Niebuhr ist vor allem durch seinen „politischen Realismus“ wirksam geworden, der nach 1945 (auch ohne seine theologischen Wurzeln) breit rezipiert wurde (u. a. von Hans Morgenthau). Wie ich an anderer Stelle versucht habe zu zeigen,²¹ ist auch Niebuhrs Sinn für die Notwendigkeit eines Realismus – was für ihn gleichbedeutend war mit einer Abkehr von den Illusionen, die er den Liberalen vorwarf –, in der Begegnung mit der Technik entstanden, in seinem Fall bei Besuchen in den Automobilfabriken Detroits. Auch bei Niebuhr wird der„richtige“ Realismus wie bei Lilje, aber letztlich enger, nämlich auch aus der Sünde hergeleitet, wie er es in seinen Gifford-Lectures Nature und Destiny of Man von 1941 entfaltet.²² Demgegenüber war Tillichs Konzept offener. Meines Erachtens erfolgversprechender jedoch ist ein dritter Zugang zum Technischen, dem ich mich abschließend zuwende.
3 Symbolik Schon der Titel verrät die These Tillichs: „Die technische Stadt als Symbol“. Ich hatte oben bereits einen wesentlichen Teil des Inhalts des Textes dargestellt, in dem es darum geht, dass Technik das Unheimliche einerseits bannt, aber es andererseits
21 Vgl. C. Schwarke, Technik und Religion, 228–232. 22 R. Niebuhr, Nature and Destiny of Man. A Christian Interpretation, 2 Bde., New York 1941/1943.
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wieder neu aus sich freisetzt. Diesen inhaltlichen Kern rahmt Tillich mit der Frage nach dem Sinn der technischen Schöpfung. Die Ausstellung würde diese Frage allerdings nicht beantworten, sondern stellen. Was aber ist das „Symbolische“ an der technisch geprägten Stadt? Tillich hält sie für die „symbolkräftigste“ Schöpfung, weil sie den „Gedanken der Seinsbeherrschung mit dem der Einwohnung ins Sein [vereinigt]“ (GW IX, 309). Tillich will das nicht im Einzelnen belegen, gibt aber selbst vorher ein Beispiel: Das moderne Haus z. B. mit seiner Auflösung der Wand in das Fenster, mit seiner wechselseitigen Durchdringung des unendlichen und des abgegrenzten Raumes, mit der Erhebung seiner Basis über den Erdboden ist Symbol des ins Unendliche vorstoßenden modernen Lebensgefühls und seiner Angst vor der Enge der Höhle. (GW IX, 308)
Im gleichen Jahr 1928 hatte Tillich mit Das religiöse Symbol eine erste zusammenfassende Darstellung seiner Symboltheorie vorgelegt. Darin bestimmt er vier Merkmale des Symbols: die Uneigentlichkeit, die Anschaulichkeit, die Selbstmächtigkeit und die Anerkanntheit (vgl. MW IV, 213). Bis in seinen späten Text von 1961 hat Tillich seine Konzeption weiterentwickelt,²³ was hier nicht Gegenstand sein soll. Worauf es mir ankommt, ist, dass Tillich zur Zeit der Entstehung seines Beitrags zur technischen Stadt bereits über ein ausgearbeitetes Konzept verfügte, was Symbole sind, und zwar sowohl religiöse wie allgemeine Symbole. Vor diesem Hintergrund erscheint der Symbolbegriff im Blick auf die Technik merkwürdig blass. Ich denke, dass man sogar sagen könnte, dass das, was Tillich als das Symbolische an der technischen Stadt bezeichnet, eigentlich gar kein Symbol darstellt. Man müsste eher sagen: Die technische Stadt ist Ausdruck von etwas. Das, was Menschen vielleicht an Behaustheit, Freiheit, Versorgtheit und Zusammenleben benötigen, drückt sich in der Stadt aus. Nebenbei sei bemerkt, dass Tillich in seinem Wunsch, allen Dingen bis auf den letzten Grund zu gehen, an diesem Punkt m. E. auch übersieht, dass alles Gesagte für jede auch vorneuzeitliche Stadt gilt, nicht nur für die moderne, technische Stadt. Man hat Tillich vorgeworfen, dass er begrifflich nicht immer präzise ist. Insofern könnte man die Beobachtung, wenn sie denn überhaupt richtig ist, auf sich beruhen lassen. Ich denke jedoch, dass Tillich in dem Text zur Stadt gerade darin unter den Möglichkeiten seiner Theorie bleibt. Und das liegt möglicherweise daran, dass er noch zu sehr an der Objektivität des Symbols haftet. Aber„symballein“ heißt „zusammenwerfen“. Ein Symbol bezeichnet also das, was zwar zusammengehört, aber dennoch zusammengebracht werden muss. Die technische Stadt wäre demzufolge eigentlich nicht an sich Symbol, sondern sie kann als solches identifiziert 23 Vgl. The Meaning and Justification of Religious Symbols (1961), MW IV, 415–420.
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werden. Demgegenüber könnte die technische Stadt durchaus Ausdruck von etwas sein. Auch das müsste man vielleicht entdecken, aber es wäre dem Anspruch nach eine zwingende Aussage. Es ist der ähnliche Unterschied wie zwischen einer (naturwissenschaftlichen) Entdeckung und einer (technischen) Erfindung: Die Entdeckung ist, wenn sie richtig ist, unhintergehbar. Die Erfindung hingegen ist nie alternativlos. Und auch wenn Tillich schon 1928 darauf insistiert, dass das Symbol niemals arbiträr ist, so ist es doch niemals eineindeutig. Die Stadt kann symbolisch mit sehr unterschiedlichen Konnotationen versehen werden. Symbole stellen Zuschreibungen dar. Damit aber lässt sich im Blick auf die Technik hervorragend arbeiten. Das, was Tillich später als das Leben der Symbole, ihre Akzeptanz, ihre Angemessenheit und ihren Anteil an der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, bezeichnet (vgl. MW IV, 415–420), sind wichtige Merkmale, um die symbolischen Zuschreibungen an Techniken zu verstehen. Und wendet man das Symbolische, dergestalt als Werkzeug verstanden, auf den ersten Schritt an, zeigt sich, dass auch die Mystifizierung eine – und zwar nicht von vornherein illegitime – Zuschreibung darstellt, die selbst noch einmal auf etwas außerhalb ihrer selbst verweist und als solche entschlüsselt werden kann. Denn wenn Ohnmacht in bestimmten historischen Kontexten nicht anders als mythisch formuliert werden kann, ist Mystifizierung ein angemessener Ausdruck von Wirklichkeitserfahrung. Tillich hat sein Symbolverständnis später nicht mehr auf die Technik bezogen, sondern es vor allem für die Durchforstung des dogmatischen Altbestandes der Theologie fruchtbar gemacht. Aber nichts spricht dagegen, mit dem Symbolwerkzeug auch andere Kisten aufzuschrauben – wie Techniken und die Kontroversen um sie.
Martin Fritz
Rausch des Unbedingten Tillichs Theorie „dämonisch“ verzerrter Religion Die Idee religiöser „Dämonisierung“ zählt unzweifelhaft zu den zentralen Stücken von Tillichs Religionsdenken, und sie ist fraglos ein charakteristisches Motiv seiner Dresdner Zeit.¹ 1926 erscheint Tillichs Broschüre mit dem Titel Das Dämonische,² daneben der Aufsatz Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie. ³ Auch in der Dresdner Dogmatikvorlesung und in anderen Schriften der sächsischen Jahre spielt dieser Begriff eine ziemlich zentrale Rolle.⁴ Es handelt sich definitiv um eine typisch „Dresdner“ Idee. Überlegungen zu diesem maßgeblichen Theorem mögen beim Kongress zu „Paul Tillich in Dresden“ also angebracht sein. Ich will trotzdem gleich einräumen, dass mein Beitrag in seinem lokalen Bezug nicht ganz redlich ist und überhaupt in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erstens hat der Begriff des Dämonischen bei Tillich natürlich eine Vorgeschichte, die in die Zeit vor Dresden zurückreicht, mindestens nach Marburg und Berlin.⁵ Es ist also keine genuin Dresdner Idee. Nur dürfte in der Dresdner Zeit erstmals eine größere Öffentlichkeit mit ihr bekannt geworden sein. Aber man wüsste gerne, wie diese Idee beim Publikum angekommen ist! Witzigerweise erschien die Abhandlung über Das Dämonische bei Mohr Siebeck in der 1 Der hier dokumentierte Vortrag, gehalten auf dem Tillich-Kongress in Dresden am 8. Juli 2022, fasst Passagen von Teil I meiner Habilitationsschrift Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie (Habil. Neuendettelsau 2017) zusammen, die in der Reihe Tillich Research beim Verlag De Gruyter erscheinen wird. Der Vortragsduktus wurde für die Publikation weitgehend beibehalten. 2 P. Tillich, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (1926), MW V, 99–123. 3 P. Tillich, Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die systematische Theologie (1926), GW VIII, 285–291. 4 P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) [= EW XIV], hg. v. W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/ New York 2005; ferner von Tillich: Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), MW V, 27–97; Kairos: Ideen zur Geisteslage der Gegenwart“ (1926), MW IV, 171–181; Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. Ein Vortrag (1927), MW III, 131–150; Klassenkampf und religiöser Sozialismus (1930), MW III, 167–188. Der letztgenannte Text geht auf einen Vortrag vor der sozialistischen Studentenschaft in Marburg von 1928 zurück. 5 Vgl. vor allem von Tillich: Die religiöse Erneuerung des Sozialismus (1922), EW X, 311–327; Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf (1923), MW III, 103–130; Das Unbedingte und die Geschichte (1923), EW X, 335–350; Der religiöse Sozialismus als universale Bewegung (1923), EW X, 351–355; Mythos und Metaphysik (1923), EW X, 356–370; Kirche und Kultur (1924), MW II, 101–114; Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus“ (1924/ 25), EW X, 454–466; Religionsphilosophie (1925), MW IV, 117–170. https://doi.org/10.1515/9783111264332-014
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Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte. Aber wenn sie irgendetwas nicht ist, diese Schrift, dann gemeinverständlich! Daran ändert es nichts, dass der Titelbegriff auch bei anderen Autoren der Zeit prominent vorkommt, etwa bei Rudolf Otto ⁶ oder Georg Simmel.⁷ Ich meine, Tillichs Leserinnen und Leser können in dem Büchlein eigentlich nur „Bahnhof“ verstanden haben. Die Ausführungen sind obskur, weil enorm voraussetzungsreich. Und wie so oft expliziert Tillich seine Voraussetzungen nicht, sondern – setzt sie eben voraus. (Es ist ja eines der großen Rätsel dieses Mannes, warum er sich in seinen deutschen Jahren partout so wenig Mühe gegeben hat, verstanden zu werden.) Damit bin ich aber schon beim zweiten Problem meines Beitrags: Man muss bei Tillich immer das stillschweigend Vorausgesetzte herbeischaffen, um ihn verständlich zu machen, und das ist mühsam. Nun ist „das Dämonische“ bei Tillich wahrlich keine Entdeckung mehr, vor allem seit der Tillich-Jahrestagung von 2016.⁸ Trotzdem denke ich, dass es dazu noch das ein oder andere zu sagen gibt. Aber wollte ich Tillichs Begriff des „Dämonischen“ in Gänze behandeln, so wäre ich verloren. Unser Held hatte einen Hang zu Lieblingsideen, die an verschiedenen Stellen seines Denkens Anwendung finden, ohne dass man immer sicher sein kann, dass dabei wirklich eine einheitliche Auffassung dahintersteht – man denke an das „Paradox“ oder die „Zweideutigkeit“.⁹ Auch das „Dämonische“ ist so eine Lieblingsidee, die keineswegs von Anfang an feste Konturen hat und die entsprechend variabel eingesetzt wird. Man müsste sehr weit ausholen, um das alles einigermaßen zu sortieren. Ich will daher nur einen Strang aus dem besagten Ideenkomplex herausgreifen, der sich recht gut abgrenzen lässt, eben die Theorie der „dämonischen Verzerrung“ von Religion.¹⁰ Es wird darin die Neigung der Religion zur sakralen oder „sakralistischen“ Verhärtung beschrieben und damit das anspruchsvollste Fundamenta-
6 Vgl. dazu P. Schüz, Heilige Scheu als religiöses Urphänomen. Das Dämonische und das Numinose bei Rudolf Otto, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (= Tillich Research, hg. v. C. Danz [u. a.], Bd. 15), Berlin/Boston 2018, 41–67. 7 Vgl. dazu C. Danz, Das Dämonische. Zu einer Deutungsfigur der modernen Kultur bei Georg Simmel, Georg Lukács, Leo Löwenthal und Paul Tillich, in: ders./ Schüßler (Hg.), Das Dämonische, 147–184. 8 Vgl. die Tagungsbeiträge, die in dem bereits angeführten Band Danz/Schüßler (Hg.), Das Dämonische, versammelt sind. 9 Vgl. dazu neuerdings K. Wörn, Ambiguität. Paul Tillichs Begriff der Zweideutigkeit im Kontext interdisziplinärer Debatten (= Dogmatik in der Moderne, hg. v. C. Danz [u. a.], Bd. 38), Tübingen 2022. 10 Vgl. P. Tillich, Religionsphilosophie, MW IV, 144, wo Tillich von „dämonisch verzerrtem“ Glauben spricht.
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lismus-Konzept (avant la lettre) umrissen, das ich kenne.¹¹ Auch wenn zur fraglichen Theorie schon viel geschrieben wurde, will ich versuchen, daran eine bisher kaum beachtete Seite zu präsentieren. Ich halte die Theorie für eines der interessantesten und fruchtbarsten Elemente von Tillichs Religionsphilosophie – und zugleich für eines der rätselhaftesten. Mein Beitrag läuft schließlich auf die Frage zu, was wir mit diesem „fruchtbaren Rätsel“ heute, nach hundert Jahren, noch anfangen können.
1 Grundkoordinaten von Tillichs Religionsphilosophie Wer Tillich erklären will, muss fast immer bei „Adam und Eva“ anfangen, also mindestens beim Religionsbegriff der frühen zwanziger Jahre, zusammengefasst in dem Opus Religionsphilosophie (1925). Daher folgt nun ein kurzer Parforceritt, der zumindest eine Übersicht über dieses weite Gedankengefilde geben soll, um daraufhin das eigentlich infrage stehende Areal näher in Augenschein nehmen zu können. Wem bei diesem Ritt schwindelig wird, sollte die Schuld nicht bei sich selbst suchen – Tillichs Religionstheorie ist genial, aber auch speziell.¹² Analog zu Schleiermacher begreift Tillich die Religion als ein konstitutives Element des mentalen Lebens des Menschen. Allerdings verortet er sie nicht in einer bestimmten „Provinz im Gemüte“ (bei Schleiermacher: das Gefühl), sondern in der Grundfunktion des menschlichen Geistes. Diese Funktion ist die Sinnstiftung oder Sinnformung. Geist realisiert sich, indem er in bestimmten Sinn- oder Kultursphären, in Wissenschaft, Kunst, Sozial- und Individualethos, Sinn „herstellt“, indem er das Gegebene sinnhaft formt, nämlich in der Produktion und Aneignung von Wissen, von künstlerischen Darstellungen, von sozialer Gerechtigkeit und individuellen Persönlichkeitswerten. Und was soll daran religiös sein? Die Religion kommt nach Tillich dadurch ins Spiel, dass alle diese geistigen Sinnvollzüge in ihrer letzten, eigentlichen Sinnhaftigkeit problematisch sind. Die Sinnhaftigkeit der Kulturleistungen hängt zunächst von den Sinnzusammenhängen ab, in denen sie sich vollziehen. Denn Wissenschaft,
11 Vgl. dazu und überhaupt zum Folgenden den grundlegenden Aufsatz von G. Raatz, Unbedingtsetzung von Bedingtem. Paul Tillichs Begriff religiösen Fundamentalismus’, in: C. Danz [u. a.] (Hg.), Ethics and Eschatology (= International Yearbook for Tillich Research, hg. v. C. Danz [u. a.], Bd. 10), Berlin/Boston 2015, 241–272. 12 Vgl. zum Folgenden Fritz, Menschsein als Frage, 66–95 (dort auch weitere Literatur und detaillierte Angaben zu den Quellen).
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Kunst, Gesellschaft und Persönlichkeitskultur haben ihre je eigenen Gesetze, die über Sinn und Unsinn entscheiden. Wissenschaftlicher Sinn beispielsweise realisiert sich nur unter der Bedingung der Einfügung einer Erkenntnisleistung in die geltenden Standards der jeweiligen Wissenschaft. Aber dann steht auch noch einmal die Sinnhaftigkeit dieser Sinnganzheiten oder überhaupt der Sinntotalität „Kultur“ zur Disposition. Es kommt schlicht die Frage auf: Wozu das alles? (Wer etwa kann Wissenschaftler sein, ohne ab und an daran zu zweifeln, ob das eigentlich was bringt mit der Wissenschaft?) Dass aber diese Kultursphären und die Welt der Kultur überhaupt sinnvoll oder sinnhaft sind, dass sie Anteil haben an emphatischem Sinn, das ist nach Tillich das implizite religiöse Problem der Kultur bzw. des menschlichen Geistes. In allen Sinnvollzügen greift der menschliche Geist notwendig auf einen transzendenten, unbedingten Sinn aus, aus dem sich diese Vollzüge speisen, an dem sie partizipieren. Im Leben des Geistes, jedenfalls des „gesunden“ Geistes, liegt daher ein „schweigender Glaube an den unbedingten Sinn“ (MW II, 104). Und in überschwänglichen Sinnerfahrungen, im Entdecken einer Erkenntnis, im Schaffen oder Erleben eines Kunstwerks, in der Erfahrung von Anerkennung und Liebe zwischen Menschen kann einem auch etwas davon aufgehen, dass in diesen endlichen Sinnerfahrungen ein transzendenter Sinnüberschuss liegt. Dann scheint durch sie unendlicher Sinn gleichsam hindurch. Darum kann für Tillich jeder kulturelle Akt zum Medium religiöser Erfahrung werden. Aber auch das Gegenteil ist möglich: Der „schweigende Glaube“ des Geistes „an den unbedingten Sinn“ kann diffundieren. Dann blickt den betroffenen Menschen alle Kultur mit hohlen Augen an, und er versinkt in nihilistischer Sinnleere.¹³ Damit das nicht passiert, repräsentiert der Mensch jenen unbedingten Sinn, in dem sein geistiges Leben wurzelt, in bestimmten religiösen Kulturformen, in Dogma und Kult, in Kirche und religiösem Ethos. Sie heben sich von der profanen Kultur dadurch ab, dass sie ausdrücklich über sich hinaus auf den unbedingten Sinn, auf den transzendenten Sinngrund der Kultur verweisen. Kurz: Sie alle haben
13 Vgl. dazu M. Fritz, Nihilismus, in: Zeitschrift für Religion und Weltanschauung. Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 85/6 (2022) 448–457 (online: https://tin yurl.com/ywu2537a [30.1. 2023]). Eine sinntheoretische Entfaltung des Nihilismusproblems, die stark an Tillich erinnert (ohne ihn zu nennen), hat vor wenigen Jahren der Philosoph Werner Schneiders vorgelegt, der zuvor vornehmlich als Aufklärungsforscher bekannt war: Die Globalisierung des Nihilismus, Freiburg/München 2019. Dieses letzte Buch von Schneiders, der 2021 in hohem Alter verstorben ist, kann man geradezu als lebensweltliche Erläuterung von Tillichs Theorie lesen. Vgl. dazu meine Rezension in: Zeitschrift für Religion und Weltanschauung. Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 86/1 (2023) 65–76 (online: https://tinyurl.com/ 5cb64wjm [14. 2. 2023]).
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die Funktion von religiösen Symbolen: von Zeichen, die auf das Unbedingte zeigen und sich dazu selbst als uneigentlich kennzeichnen, ihre empirische Oberfläche gleichsam durchstreichen, um in die „Tiefe“ zu deuten.¹⁴ Religion ist nach Tillich die Ausrichtung des Geistes auf seinen unbedingten Sinngrund, und zwar vermittels bedingter Kulturgestalten, die symbolisch auf ihn hinweisen. Der religiöse Bewusstseinsakt hat daher, recht verstanden, die Struktur einer gestuften Ausgerichtetheit oder „Intentionalität“ (Edmund Husserl): Direkt richtet er sich auf ein bestimmtes Symbol, indirekt und eigentlich zielt er auf das Unbedingte als das darin eigentlich „Letztgemeinte“ (MW IV, 214.222). Dementsprechend hat Religion immer eine kulturelle Form. Und Kultur hat, insofern sie auf einen unbedingten Sinngrund verwiesen ist, einen religiösen Kern oder Untergrund, Tillich sagt: einen religiösen „Gehalt“.¹⁵ Soweit das kleine Tillich-Einmaleins. Das Ganze wird aber sogleich noch einen Tick komplizierter: Neben den Begriff des „unbedingten Sinngrundes“ (oder kurz: des „unbedingten Grundes“) tritt der Begriff der „unbedingten Sinnform“ (oder kurz: der „unbedingten Form“).¹⁶ Demnach zeichnet sich die Religion nicht allein durch ihre „doppelstöckige“ Intentionalität aus, direkt auf bedingte Symbole, indirekt aber auf das Unbedingte gerichtet zu sein. Vielmehr treten auch in diesem letztvermeinten Unbedingten zwei Momente auseinander, so dass Religion zwei „letztintendierte“ Ziele kennt: eben den unbedingten Grund und die unbedingte Form. Konstitutiv für Religion ist nicht nur eine doppelte Verweisrelation, sondern zugleich eine zwiespältige Unbedingtheitsintention des Geistes. Und aus Letzterer ergeben sich zwei religiöse Grundrichtungen, die faktisch in Konflikt geraten. Was verbirgt sich hinter dem seltsamen und tillichmäßig superabstrakten Begriff „unbedingte Form“? Der Begriff „Form“ oder „Formung“ ist oben schon einmal kurz aufgetaucht, im Kontext der kulturellen Sinnformung. Tillich ist nun der Ansicht, dass diese Sinnformungstätigkeit nicht nur insofern eine religiöse Seite hat,
14 Vgl. den klassischen Text aus Tillichs Dresdner Zeit: Das religiöse Symbol (1928), MW IV, 213–228. Vgl. dazu die umfassende Darstellung von L. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol. Eine systematischgenetische Rekonstruktion der frühen Symboltheorie Paul Tillichs (= Tillich Research, hg. v. C. Danz [u. a.], Bd. 10), Berlin/Boston 2017. 15 Vgl. die berühmte Formel aus dem Aufsatz Kirche und Kultur (1924), MW II, 110: „[D]er tragende Gehalt der Kultur ist die Religion und die notwendige Form der Religion ist die Kultur.“ Vgl. dazu ferner vor allem den Programmaufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), MW II, 69–85. 16 Vgl. z. B. P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung, EW XIV, 107, wo Religion als „Richtung des Geistes auf die Einheit von unbedingtem Sinngrund und unbedingter Sinnform“ definiert wird.Vgl. zur Einführung des Terminus in der Religionsphilosophie-Vorlesung von 1920 (EW XII, 333–584) Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 273–287, und G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption (= Theologische Bibliothek Töpelmann, hg. v. O. Bayer/W. Härle, Bd. 141), Berlin/New York 2007, 338 f.
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als sie auf einen Sinngrund angewiesen ist, in dem sie wurzelt. Sie hat vielmehr noch eine zweite religiöse Seite, weil in dieser Sinnformungsfunktion eine unbedingte Forderung liegt (vgl. MW IV, 133 f.). Hier kommt Tillichs kantianische Prägung zum Tragen. Die kulturelle Sinnrealisierung ist nicht eine Sache, zu der man Lust hat oder nicht, sondern wir vernehmen im Geist den kategorischen Imperativ, kulturgestaltend zu wirken. Mit dem Vokabular des 19. Jahrhunderts gesagt: Die Kulturarbeit ist nicht Neigung, sondern Pflicht. Und: Diese Pflicht findet nie eine endgültige Erfüllung, sondern treibt die Kultur immer weiter über sich hinaus, weil sich jede Kulturleistung an der Idee unbedingter, vollkommener Sinnverwirklichung misst, sozusagen am „Reich Gottes“ auf Erden. Daran gemessen erweist sie sich aber als nur endlich und bedingt. Die unendliche Fülle des Absoluten ist für jede einzelne Kulturleistung daher nicht nur Sinngrund, sondern auch Sinnabgrund: Sie stiftet als unbedingter Grund die Sinnhaftigkeit, offenbart aber als unbedingte Form zugleich die Nichtigkeit jeder Kulturgestaltung.¹⁷ Nimmt man die beiden Unbedingtheitsaspekte zusammen, so kann man sagen: Das religiöse Subjekt ist nach Tillich idealerweise doppelt religiös, einerseits indem es Sinn aus dem göttlichen Sinngrund schöpft, andererseits indem es die göttliche Forderung unbedingter Sinnerfüllung vernimmt. Religion hat zugleich eine gnadenhafte Fundierungs- und eine gesetzeshafte Forderungsseite – das
17 Die sprechendste Zusammenfassung des in Rede stehenden Sachverhaltes findet sich in dem Nachlassmanuskript über Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus“ von 1924/25, EW X, 456 f.: „In jedem Sinnakt ist enthalten das Bewußtsein um eine unbedingte Forderung, die in den verschiedenen Gebieten als Forderung der Wahrheit, des Ausdrucks, der Gerechtigkeit, der Freiheit, der Liebe auftritt. Man kann sich dieser Forderung nicht entziehen, will man nicht aufhören, Geist zu sein, im Sinn zu leben. Sie gerade ist die Verneinung der Unmittelbarkeit, des bloßen Daseins. Sie ist der Schmerz des Lebens, das selber ins Leben schneidet, wie Nietzsche sagt; sie ist zugleich die Würde des Geistes und seine Unruhe. Denn sie treibt ihn über jeden einzelnen Sinnakt hinaus[,] über jedes Erkennen und jede Bedeutungsschau, über jede Persönlichkeitsform und jede Gemeinschaftsgruppe. Sie treibt weiter zur Einheit aller Sinnvollzüge, zur Synthesis der Synthesen, zur vollendeten Sinnwelt im Theoretischen wie Praktischen. Vor nichts Unmittelbarem, Gegebenem, und wäre es noch so tatsächlich und wäre es noch so heilig, macht diese Sinnforderung Halt. Um der Wahrheit willen fordert sie Überwindung jeder heiligen und unheiligen Unwahrheit in uns und um uns; um der Gerechtigkeit willen fordert sie Überwindung jeder heiligen und unheiligen Ungerechtigkeit in uns und um uns.“ Auch das Gegenmoment, der unbedingte Grund, wird in diesem Zusammenhang erläutert: „Trotz der Unruhe, die von der unbedingten Forderung ausgeht, ist in jedem Sinnakt das Bewußtsein enthalten, sinnhaft zu sein, d. h. nicht leer, nichtig, bedeutungslos zu sein, sondern in eine Fülle, eine Wirklichkeit, eine Tiefe zu reichen, von der er lebt, aus der er seine Sinnhaftigkeit hat und die er doch nicht erschöpfen kann, weder er noch ein anderer Sinn, noch die Totalität alles Sinnes“ (EW X, 457). Das zitierte Manuskript ist überhaupt ein Schlüsseltext für das Verständnis von Tillichs sinntheoretischer Religionsphilosophie, vor ihrer existenzphilosophisch-anthropologischen Erweiterung, die 1925 einsetzt.
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leuchtet jedem guten Lutheraner ein. Das Problem ist allerdings, dass diese beiden Dimensionen des Religiösen in der Realität a) auseinandertreten und b) in Konflikt miteinander geraten. (Das ist der Witz an Tillichs Begriff oder Modell oder Konstruktion von Religion, dass damit nicht nur ein Ideal, sondern auch die daraus realiter resultierenden Spannungen und Konflikte vorgezeichnet werden.)¹⁸ a) Die Dimensionen treten auseinander: Tillich stellt fest, dass es faktisch unterschiedliche Aufmerksamkeitsrichtungen des Geistes im Blick auf das Unbedingte gibt. Die einen richten ihr religiöses Leben mehr am unbedingten Quellgrund aus, die anderen am Streben nach unbedingter Sinnrealisierung.¹⁹ Den einen Typus nennt Tillich „sakramentale“ (vgl. MW IV, 150) oder „priesterliche“ (vgl. MW VI, 236) Religion: Hier geht es um die symbolische Vergegenwärtigung des unbedingten Grundes; idealtypisch ist das der Katholizismus. Der andere Typus ist die „theokratische“ (vgl. MW IV, 150) bzw. „prophetische“ (vgl. MW VI, 236)²⁰ Religion: Hier macht sich die unbedingte Forderung nach Wissen, Gerechtigkeit etc. geltend und wird zum Antrieb kultureller Gestaltung, des Strebens nach Verwirklichung des Reiches Gottes, das aber zugleich immer ausstehend bleibt; idealtypisch ist das der Protestantismus. (Man mag hier in erster Linie an einen Kulturprotestantismus Ritschl’scher Prägung denken oder aber, allgemeiner, an die „Bedeutung“ protestantischen Geistes „für die Entstehung der modernen Welt“, wie sie Ernst Troeltsch klassisch beschrieben hat.²¹ Aber auch schon Luthers Hierarchiekritik, sein Dringen auf persönliche Glaubensaneignung oder seine Berufsethik sind nach diesem Schema Erscheinungsformen prophetischer „Formorientierung“.) b) Die Dimensionen treten in Konflikt: Die beiden Religionstypen können nicht etwa schiedlich-friedlich nebeneinander existieren, als zwei Optionen religiöser Vorzugswahl. Vielmehr sieht man schon historisch, dass die prophetisch-protes-
18 In Tillichs Religionsphilosophie (Teil 1) kommt das im Verhältnis von Wesensbegriff (mit Wesenselementen) der Religion und darauf aufbauender „Konstruktion der Religionsgeschichte“ (MW IV, 153) zum Ausdruck. Eine ausführliche Reflexion dieser Stufung bietet Tillichs Theorie der Geisteswissenschaften im System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), MW I, 113–263, Teil 3 (194–254), mit der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Geistesgeschichte (der sich dann noch als drittes Element die „Systematik“ anschließt). Vgl. dazu Fritz, Menschsein als Frage, 118–126. 19 Diese Typologie ist auch gegenwärtig nicht ohne religionshermeneutische Erschließungskraft. Vgl. dazu M. Fritz, Zwischen Unvernunft und Übervernunft. Religiöser Enthusiasmus als Faktor der Corona-Krise, in: Jeannine Kunert (Hg.), Corona und Religionen (= EZW-Texte, Bd. 268), Berlin 2020, 13–34 (online: https://tinyurl.com/4yen2tm5 [30.1. 2023]). 20 Hier wird von Tillich auch noch das Attribut „eschatologisch“ verwendet. Vgl. auch die Gegenüberstellung von prophetischem und priesterlichem Geist in Kairos: Ideen, MW IV, 177 u. ö. 21 Vgl. E. Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hg. v. T. Rendtorff (= Kritische Gesamtausgabe, hg. v. F.W. Graf [u. a.], Bd. 8), Berlin/New York 2001.
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tantische Religion (verkörpert beispielsweise durch Amos²² und Luther) sich immer kritisch gegen die sakramental-katholische Religion wendet: „Ich mag eure Opfer nicht riechen“, spricht der Gott jenes Prophetismus zu den Sakramentalisten, „solange nicht Gerechtigkeit herrscht.“²³ Und dieses antipodische Verhältnis hat einen tiefen strukturellen Grund: Auch die symbolisch-sakramentale Repräsentation des Göttlichen muss sich an der unbedingten Formforderung messen lassen. Das bedeutet aber zweierlei. Zum einen macht der Geist in Gestalt der Vernunft immer wieder darauf aufmerksam, dass die sakramentale Vergegenwärtigung des Göttlichen eine uneigentliche, symbolische Repräsentation ist. Das heißt: Das Sakrament verweist auf das Unbedingte und partizipiert an ihm im Verweisen, aber es enthält das Unbedingte nicht real.²⁴ An Fronleichnam, so sagt der Protestant, wird nicht Christus im Tabernakel durch die Straßen getragen, sondern eine Hostie, die Christus als Symbol des Unbedingten symbolisch repräsentiert. Im Abendmahl, so sagt der reformierte Protestant, ist der Herr nicht in Fleisch und Blut real präsent, sondern es werden Elemente gereicht, die den Herrn, Symbol des Göttlichen, symbolisch repräsentieren. Und in der Bibel, so sagt der liberale Protestant, finden wir nicht das reale Wort Gottes, sondern einen Schatz von grundlegenden „Symbolen des Christentums“.²⁵ Aber all dies kränkt den sakramental-religiösen, Sinngrund-Präsenz-fixierten Frommen, weil er „reale Gegenwart“ viel lieber hat als „uneigentliche Vergegenwärtigung“. Daher gibt es starke Kräfte in der Religion, die sich im Namen religiöser Realitätsbedürfnisse gegen die Kritik im Namen des Transzendenzbewusstseins und des dahinterstehenden Wahrhaftigkeitsbedürfnisses sträuben (vgl. MW IV, 225). Es gibt aber noch einen anderen Konfliktpunkt, der mit der Autonomie des Kulturellen zu tun hat. Die kulturellen Sphären und die darin zu erschaffenden Kulturgestalten haben jeweils eine Eigenlogik, aus der heraus kulturelle Entwicklungen entstehen. Wie oben angedeutet schreitet die Wissenschaft in ihren eigenen Fragestellungen und Gesetzmäßigkeiten voran, so auch die Kunst und das 22 Vgl. dazu die Ausführungen in der Dresdner Vorlesung zum Alten Testament (Sommersemester 1927), in: P. Tillich, Dresdner Vorlesungen (1925–1927), [= EW XX], hg. v. E. Sturm, Berlin/Boston 2017, 317–359, hier: 338 f. 23 Vgl. z. B. Amos 5,21–24. 24 Dementsprechend bezeichnet der Begriff des „protestantischen Prinzips“ bei Tillich das Moment einer kritischen Selbstnegation innerhalb des religiösen Bewusstseins, das wahrhafter Religion notwendig zu eigen ist. Vgl. dazu M. Fritz, Selbstkritische Affirmation. Tillichs ‚protestantisches Prinzip‘ als Kennzeichen pluralismusfähiger Religion, in: R. Asmar [u. a.] (Hg.), Reformation und Revolution im Denken Paul Tillichs (Tillich Research, hg. v. C. Danz [u. a.], Bd. 18), Berlin/Boston 2019, 131–172. 25 Vgl. U. Barth, Symbole des Christentums. Berliner Dogmatikvorlesung, Tübingen 2021.
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Ethisch-Rechtliche sowie die Persönlichkeitswerte. Im Namen dieses autonomen Fortschreitens protestiert die „unbedingte Form“ gegen die Tendenz der sakramentalen Religion, bestimmte Kulturerscheinungen ein für allemal als die gültige Vergegenwärtigungsgestalt des Unbedingten festzuschreiben. Die prophetische Religion protestiert gegen den strukturellen Traditionalismus und Dogmatismus der sakramentalen Religion, also zum Beispiel gegen die Bindung des Dogmas an die katholische oder altprotestantische Orthodoxie (wie in den verschiedenen Gestalten von Neoorthodoxie), gegen die rituelle Fixierung auf die lateinische Messe (wie im traditionalistischen Katholizismus), gegen die Festlegung des Kirchenbaus auf den gotischen Stil (wie in der Neugotik) oder gegen die Reservierung des kirchlichen Amtes für zölibatär lebende Männer (wie in der römisch-katholischen Kirche) oder für verheiratete Heterosexuelle (wie lange Zeit in den meisten protestantischen Kirchen). Die „unbedingte Form“ verlangt für die symbolische Vergegenwärtigung des Unbedingten eine Gestalt, die kulturell auf der Höhe der Zeit ist, und bringt daher sozusagen nicht nur eine vertikale, sondern zusätzlich eine horizontale Relativierungsdynamik in die Religion.²⁶ Und auch gegen diese Unruhe, diesen steten Reformdruck – ecclesia semper reformanda – sträubt sich die sakramentale Religion, weil ihr Anspruch auf die gültige Vergegenwärtigung des unbedingten Grundes dadurch untergraben wird.
2 Die Religion zwischen Profanisierung und Dämonisierung Mit der skizzierten Konstruktion einer spannungsvollen doppelten Unbedingtheitsintention der Religion – Richtung auf den unbedingten Grund und auf die unbedingte Form, auf die Fundierung des Geistes durch das Unbedingte und auf die Herausforderung des Geistes durch das Unbedingte – haben wir alle Grundzutaten für Tillichs Theorie der dämonisierten Religion beisammen. Denn aus dem Spannungsverhältnis gehen laut Tillich nicht nur zwei Typen von Religion hervor, sondern auch die Neigung zu zwei entsprechenden Abwegen der Religion: Die prophetische Religion tendiert zu einer Radikalisierung ihres Prinzips, die sie in die „Profanisierung“ treibt, in die Selbstauflösung oder Selbstsäkularisierung; die sakramentale Religion tendiert zu einer Radikalisierung namens „Dämonisierung“.²⁷
26 Vgl. dazu das erste Zitat aus dem Manuskript Die religionsphilosophischen Grundlagen des „religiösen Sozialismus“ in Anm. 17. 27 Vgl. zu den beiden folgenden Abschnitten: Fritz, Menschsein als Frage, 96–113.
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Zur Profanisierung will ich nicht viel sagen. Sie besteht in der völligen Isolierung der unbedingten Form, also der autonomen kulturellen Sinnlogiken, von ihrem transzendenten Sinngrund. Es wird im Gehorsam gegen die Formrealisierungsforderung, im Streben nach Kulturverwirklichung, jeder transzendente Überschuss von Sinn, alles Übersichhinausweisen der Kultur in Richtung Religion verdrängt. Das kritisch-rationale Element, das aller autonomen Kultur innewohnt, nimmt gleichsam überhand und blockiert die irrationalen Quellen des Geistes. Die Folge sind ein oberflächlicher Leerlauf der Kultur, eine kulturelle Sinnleere, die in nihilistische Verzweiflung führt. Auf der anderen Seite ist es von der sakramentalen Vereinseitigung nur ein Schritt zur Dämonisierung der Religion. Eine „dämonische Verzerrung“ liegt vor, wo sich die Religion von der Formforderung, der Forderung nach kultureller Rationalität, entschieden lossagt. Das äußert sich zum einen darin, dass sie alle metaphysisch-kritischen Anfragen an ihre sakramentalen Realpräsenzbehauptungen oder alle historisch-kritischen Anfragen an ihre biblizistischen Wort-Gottes-Behauptungen mit theologischen Machtworten zurückweist. (Dies geschieht meist mit dem ausdrücklichen oder unausdrücklichen Kernargument: Wenn wir diese Anfragen erst einmal zulassen, verspielen wir die Gottesgegenwart.) Damit werden alle Einsichten in die Symbolvermitteltheit des Religiösen und in die bleibende Transzendenz des Unbedingten abgeschmettert, und es werden bestimmte religiöse Medien als Orte der Gottesbegegnung ein für alle Mal fixiert und zu Orten der realen Gegenwart des Unbedingten „hochgejazzt“. Mit einem Wort: Bedingte Formen oder Entitäten werden absolut gesetzt, vergötzt. Religionsgeschichtlich gewendet werden damit Vorstellungen archaischer Religion restituiert, wo es noch kein Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Götzenbild und dem darin gemeinten Gott gibt – Religion wird künstlich archaisiert. Und kulturell betrachtet kapselt sich die Religion gegen die Gegenwart ab und verabsolutiert den Stand einer vergangenen (Religions‐)Kultur zum Garanten göttlicher Gegenwart. Religion wird nicht nur zur Sondersphäre innerhalb der Kultur, sondern zu einer Sphäre kultureller „Absonderlichkeit“, des kulturellen Obskurantismus.²⁸ Blicken wir auf die beiden Abwege des Religiösen, so wird nach Tillichs Modell jeweils ein Element des Spannungsverhältnisses unbedingter Grund/unbedingte Form isoliert. Und zwar kippt das Ganze jeweils ins Wesenswidrige, Verfehlte, wo sich das jeweilige Element gegen das andere kehrt: Profanisierung folgt aus der Wendung der kulturellen Sinnform (bzw. ihrer Verwirklichung) gegen den religiö-
28 Vgl. dazu auch M. Fritz, Christlicher Fundamentalismus, in: Zeitschrift für Religion und Weltanschauung. Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 84/4 (2021) 309–318 (online: https://tinyurl.com/2xwn5k2j [30.1. 2023]).
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sen Sinngrund, die Tiefenquelle emphatisch-unbedingten Sinnes; Dämonisierung aus der Wendung des religiösen Sinngrundes (bzw. seiner Vergegenwärtigung) gegen die kulturelle Sinnform, die unbedingte rationale Formforderung. Der goldene Weg der Religion aber würde sich in der Mitte zwischen diesen Abwegen halten. Er bestünde in der Vermittlung beider Elemente, in der Balance zwischen unbedingtem Grund und unbedingter Form. Mit dieser Skizze ist Tillichs Auffassung von den Wesenselementen und den darin angelegten Entartungstendenzen der Religion in den Grundzügen nachgezeichnet. Ich halte diese Konstruktion – auch wenn sie im Wesentlichen „vor Dresden“ erdacht wurde – wirklich für einen großen Wurf. Sie hat eine ungeheuer suggestive Plausibilität für Grundtendenzen der Religion in der Moderne, für ihr Lavieren zwischen rationalistischer Auflösung und sakramentalistischer oder fundamentalistischer Verhärtung. Vor allem aber bietet dieses Modell einen beachtlichen Aufriss dessen, was Peter L. Berger die „Mittelposition“ der Religion zwischen Relativismus und Fundamentalismus genannt hat.²⁹ Wer einmal vom Geist des Tillich’schen Ideals der religiösen Vermittlung zwischen unbedingtem Grund und unbedingter Form geküsst wurde, den lässt er nicht mehr los. Wie sollten wir als moderne Menschen mit unserem kritischen Kulturbewusstsein anders religiös sein können als im besagten Modus der Vermittlung? Man kann sich von Tillichs Idealbild zum liberalen Christentum bekehren lassen! Aber kaum habe ich mich zu einem derartigen Tillich-Enthusiasmus emporgeschwungen, meldet sich auch bei mir die kritische Vernunft. Denn es ist ja durchaus nicht so, dass Tillichs Modell keine Fragen aufwürfe. Einerseits inhaltliche Fragen: Tillich gibt strukturelle Gründe dafür an, wie es zu den unterschiedlichen religiösen (oder ehemals religiösen) Positionen kommt. Das ist die Stärke des Modells. Im Falle der dämonisierten Religion zum Beispiel versteht man sofort, warum sich das „heteronome“ religiöse Bewusstsein gegen die immer neue Kritik- und Neugestaltungsforderung des Geistes und gegen sein Symbolbewusstsein sperrt – es würde ihm sein handgreifliches „religiöses Realitätsgefühl“ (MW IV, 225), seine intensive Gottesnähe zerstören. Man versteht aber auch die profanisierte, wenn man so will: die atheistisch-humanistische Position recht gut, die vor lauter autonomer Rationalität gar keine Beziehung mehr zum irrationalen Sinngrund zulässt. Wie aber kommt es dazu, dass die einen die eine, die anderen die andere Richtung in der Unbedingtheitsvermeinung einschlagen? Das bleibt bei Tillich weitgehend offen.
29 Vgl. P.L. Berger (Hg.), Between Relativism and Fundamentalism. Religious Resources for a Middle Position, Grand Rapids (MI) 2010. Vgl. dazu Fritz, Selbstkritische Affirmation, 131–135.
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Am meisten leuchtet einem natürlich die Vermittlungsposition ein – nur dass man sich hier fragt, wie man sich wohl auf dieser labilen Position in der Mitte zwischen den Extremen halten soll. Tillich hat sich mit dieser Frage namentlich in Dresden intensiv beschäftigt, und er hat für die gesuchte Mittelposition auch einige griffige Formeln gebildet, die großartigste im Dresdner Aufsatz Das religiöse Symbol (1928). Das religiöse Bewusstsein, sofern es sich des Symbolcharakters seiner konkreten Gehalte bewusst ist, zeichnet sich demnach durch das „Schweben zwischen Setzung und Aufhebung des religiösen Gegenstandes“ (MW IV, 222) aus: Es richtet sich auf Gott, etwa im Gebet oder in der Andacht, stellt sich ein höchstes Wesen als Gegenüber vor – und weiß doch zugleich, dass das in dieser Vorstellung „Letztgemeinte“ über selbige hinausweist. Das Bewusstsein „schwebt zwischen Setzung und Aufhebung“ der Gottesvorstellung. Man könnte meinen, anders könne man heute, unter modernen Bedingungen, eigentlich kaum (theistisch‐)religiös sein. Aber ist das eine attraktive, eine haltbare Position? Es ist ja gar keine richtige Position, sondern eher ein Hin und Her. Wie soll eine Frömmigkeit aussehen, die sich das zumutet? Wieso dann nicht besser nach links oder rechts abbiegen? (Es ist kein Wunder, dass Millionen und Abermillionen Menschen an „handfesteren“ Gestalten von Religion festhalten oder, umgekehrt, der Religion überhaupt den Abschied geben.) Von Tillichs Dresdner Ringen mit der Frage nach der Stabilisierung der religiösen Mittelposition zeugen einige neue Begriffe dieser Zeit: „gläubiger Realismus“, „protestantische Kritik und Gestaltung“, „protestantische Gestalt“.³⁰ Mit seinen Reflexionen wollte er der Realisierung der „theonomen“³¹ Mittelposition den „Weg bereiten“ (MW II, 113). Aber wenn ich recht sehe, ist er damit nicht so richtig zum Abschluss gekommen, und der fragliche Reflexionsfaden reißt 1929 mit dem Ruf nach Frankfurt und dann mit der Emigration nach Amerika 1933 mehr oder weniger ab, wenn auch die große Frage nach einer lebbaren „Religion in der Moderne“ bei Tillich natürlich generell leitend bleibt. Das waren einige inhaltliche Fragen. Es gibt aber auch methodische Fragen, die an Tillichs Religionskonstruktion zu richten sind. Man fragt sich einfach: Wie um Himmels willen ist er da draufgekommen? Sicher, es lassen sich einige Theoriestränge identifizieren, die Tillich verarbeitet hat. Das ist für die Geist- und Sinn- und Symboltheorie aufwändig gezeigt worden, wo von ihm neukantianische und phä-
30 Vgl. dazu Fritz, Selbstkritische Affirmation, 135–152. 31 Vgl. zu diesem Tillich’schen Schlüsselbegriff z. B. C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (= Tillich Research, hg. v. C. Danz [u. a.], Bd. 1), Berlin/Boston 2011, 94–127, bes. 103–106; Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 240–250.
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nomenologische Elemente zusammengeführt werden.³² Das lässt die Sache heute immer noch philosophisch mehr oder weniger satisfaktionsfähig erscheinen. Aber am Ende hat man doch den Eindruck, dass da von Tillich ziemlich Verschiedenes auf methodisch nicht immer hundertprozentig kontrollierte Weise „zusammengerührt“ wurde. Und das gesteht er auch offen ein. Denn unter dem Titel einer „metalogischen Methode“ (MW IV, 130)³³ gibt er dem Aspekt der„intuitiven“ (MW IV, 131) Zusammen-„Schau“ (MW IV, 130) in der Religionsphilosophie ausdrücklich Raum.³⁴ Aber kann bei dieser Schau mehr herausgekommen sein als ein eindrückliches Bild für Tillichs eigene Position zwischen den Extremen? Ist sein Religionsmodell mehr als die Explikation eines relativ willkürlich gewählten normativen Ideals von Religion und ein Banner zur Sammlung von Gleichgesinnten, die ebenfalls zugleich religiös und vernünftig bzw. kulturoffen sein wollen? Und die es dabei nicht lassen können, andere Positionen links (z. B. den modernen Atheismus) und rechts (den katholischen Traditionalismus oder den protestantischen Barthianismus oder Evangelikalismus) als abwegig zu verunglimpfen? Haben Tillichs Formeln also einen religions- und zeitdiagnostischen Erkenntniswert über die normative Selbstverständigung und Selbstpositionierung liberaler Frömmigkeit hinaus? Diesen Fragen muss man sich als Tillichianer stellen, wenn man mehr will als eben zufällig Tillichianer sein und Tillich-Werkpflege betreiben.³⁵
3 Die spekulative Tiefenschicht der „Dämonisierung“ Was die soeben aufgeworfenen methodischen Anfragen angeht, kommt alles noch viel schlimmer. Denn schaut man sich Tillichs Religionstheorie und insbesondere 32 Vgl. Heinemann, Sinn – Geist – Symbol, 216–409; U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89–123. 33 Dazu ausführlich MW I, 215–217. 34 Emanuel Hirsch spricht in seiner Rezension von Tillichs Religionsphilosophie von 1925 (ThLZ 51 [1926] 97–103) von einem „an sich großartige[n] Versuch, Schelling und Hegel, den Marburgischen Neukantianismus und die Phänomenologie in einer neuen tieferen Schau zu verbinden“. 35 U. Barth, Religion und Sinn. Betrachtungen zum frühen Tillich, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 431–451, hier: 449, hat gegen Tillichs sinntheoretische Religionskonzeption ferner eingewandt, dass darin das Moment „kritizistischer Restriktion“ gegenüber dem Absoluten nicht hinreichend zur Geltung kommt. Nach Barth ist bei Tillich immer noch zu „unbefangen von einem absoluten Sinngehalt die Rede. Die Sinntheorie fungiert als verdeckte Theorie des Absoluten.“ Was sich auf den ersten Blick wie eine transzendentalphilosophische Theorie des Geistes ausmacht, wechselt unter der Hand auf die Ebene metaphysischer Spekulation.
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die darin enthaltene Theorie der dämonisch verzerrten Religion genauer an, so tritt darin eine Schicht zutage, die heute wissenschaftlich überhaupt nicht mehr satisfaktionsfähig ist. Es ist dies eine Schicht, die innerhalb der Tillich-Forschung niemanden überraschen wird, die aber dennoch bisher in der Rekonstruktion von Tillichs Begriff des Dämonischen, soweit ich sehe, unberücksichtigt blieb. Einen Hinweis auf das besagte Theorieerbe geben einige kryptische Formulierungen im Kontext des Dämonisierungsbegriffs. Wiederholt taucht dort unvermittelt der „menschliche Eros- oder Machtwille“ auf.³⁶ Das Dämonische wird nachgerade anhand dieser Begriffe definiert, nämlich als „das mit den Urkräften von Machtwille und Eros der unbedingten Sinnforderung widerstrebende Heilige“ (EW X, 460).³⁷ Das Motiv des Widerstrebens gegen die unbedingte Sinnforderung kennen wir schon; neu ist hier, dass für dieses Widerstreben zwei vitale Willenskräfte verantwortlich gemacht werden, die „Urkräfte“ Eros und Machtwille. Diese Vitalkräfte scheinen sich gegen die geistige Formung aufzulehnen, indem sie die Heiligkeit, wie es im selben Text heißt, für sich selbst „in Dienst“ nehmen (EW X, 458). Die fraglichen Willenskräfte wehren sich gegen die unbedingte Forderung der geistigen Formung und „legen sich“ stattdessen „selbst Heiligkeit zu“.³⁸ Offenkundig nimmt das Heilige, also die Vergegenwärtigung des Unbedingten, mit dem Ausschluss der unbedingten Form einen neuen Charakter an. Sie bricht nicht etwa zusammen, das Religiöse „funktioniert“ weiterhin. Es funktioniert sogar bestens. Aber nun vergegenwärtigt sich der unbedingte Grund mithilfe der vitalen Lebenskräfte; sie werden als solche „sakralisiert“ und gewinnen so etwas wie die Weihe unbedingter Ursprungstiefe. Der geistige Sinngrund degeneriert dabei gewissermaßen zum vitalen Lebensgrund. Just mit dieser Sakralisierung des Vitalen aber nimmt das Göttliche die Gestalt des Dämonischen an. Man kann diese seltsamen Andeutungen gut dechiffrieren – das ist meine Interpretationsthese –, wenn man sie vor der Folie der von Tillich bekanntlich ausgiebig verarbeiteten Spätphilosophie Schellings liest. Ich kann das hier wiederum nur andeuten, aber die Analogien sind meines Erachtens schlagend. Schelling hat in seiner Freiheitsschrift von 1809, in Aufnahme von Spekulationen des sächsischen
36 Tillich, Die religionsphilosophischen Grundlagen, EW X, 458; vgl. 460: „Eros und Machtwille“; vgl. z. B. Die religiöse Erneuerung des Sozialismus, EW X, passim; Das Unbedingte und die Geschichte, EW X, 347; Dogmatik-Vorlesung, EW XIV, 228; Natur und Geist im Protestantismus (1932/33), GW XIII, 101. 37 Vgl. Die gegenwärtige Lage des Protestantismus (1925), EW XI, 2: „Das Dämonische in der Religion ist die Erhebung des Endlichen, Selbstischen, des reinen Eros- und Machtwillens zum Heiligen.“ 38 Vgl. EW X, 460: „Es gibt einen Dienst Gottes, der in Wahrheit ein Dienst der Dämonen ist, nämlich eine Religion, in der Eros und Machtwille sich ungebrochen von der unbedingten Forderung Heiligkeit zulegen.“
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Mystikers Jakob Böhme, die verwickelte Metaphysik einer Zweiheit in Gott entworfen, wonach sich ein „dunkler Grund“ in Gott erst zur Lichtgestalt des göttlichen Daseins verklärt.³⁹ Daraus werden dann von Schelling anthropologische Schlussfolgerungen gezogen. Jener metaphysische Zusammenhang zwischen dem dunklen und dem lichten Prinzip oder Element in Gott hat seine Entsprechung im Menschen, nämlich im Zusammenhang der (dunklen) Vitalkräfte des Eigenwillens und dem (lichten) Geist, der selbige Kräfte für die Realisierung des allgemeinen Universalwillens nutzen kann und soll. Dieser Zusammenhang, bei Gott unauflöslich, ist nun aber beim Menschen zerrissen. Das ist der Ursprung des Bösen im Menschen (das zentrale Thema der Freiheitsschrift). Und so isoliert sich der vitale Eigenwille vom allgemeinen Sollen und wird kraft der isolierten Vitalkräfte „bloße Sucht oder Begierde, blinder Wille“.⁴⁰ Man kann davon ausgehen, dass diese spekulative Freiheitstheorie für die gesamte oben skizzierte Religionstheorie Tillichs Modell gestanden hat. Emanuel Hirsch hat ganz richtig gesehen, dass in diese „metalogisch“ konzipierte Theorie ein kräftiger „Strom aus Schellings späterer Philosophie“ „hineingeschossen“ ist.⁴¹ Schelling-analog konstruiert Tillich eine Wesenseinheit gegenstrebiger Momente – die Einheit der doppelten Beziehung des Geistes auf das Unbedingte in Gestalt von Sinngrund und Sinnforderung –, die im faktischen Leben des menschlichen Geistes zerreißt. Das Unbedingte als unbedingte Form entspricht dabei dem „lichten“, rationalen Gestaltungsprinzip innerhalb des Schelling’schen Absoluten, das Unbedingte als sinnstiftender unbedingter Grund dem „dunklen“, irrationalen „Grund in Gott“, der die unhintergehbare irrationale Voraussetzung jeder rationalen Gestaltung ist. Wäre das Leben des Geistes, wie es sein soll, wesenhaft, ideal, dann würde es – analog zu Schellings „Geburt aus Dunkel ans Licht“⁴² – darin bestehen, in Teilhabe an dem irrationalen Sinngrund dessen rationale Verwirklichung in der sinnhaften Kulturgestaltung zu betreiben. Und entsprechend würde das ideale religiöse Leben
39 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), Frankfurt a. M. 1975 (auch in: ders., Sämmtliche Werke, hg. v. K.F.A. Schelling, Bd. I/7, Stuttgart/Augsburg, 1860, 331–416). Vgl. dazu U. Barth, Annäherungen an das Böse. Naturphilosophische Aspekte von Schellings Freiheitsschrift, in: ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 205–221; C. Danz, Natur in Gott. Schellings Beitrag zur philosophischen Theologie, in: KuD 57 (2011) 26–40; Neugebauer, Tillichs frühe Christologie, 81–101; U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart 2000, 21–47; W. Schulz, Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie (1975), in: Schelling, Philosophische Untersuchungen, 7–26. 40 Schelling, Philosophische Untersuchungen, 57. 41 Hirsch, (Rez.) Paul Tillich, Religionsphilosophie, 100. 42 Schelling, Philosophische Untersuchungen, 55.
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den unbedingten Sinngrund symbolisch vergegenwärtigen und zugleich die Forderungen der kulturellen Sinnformen zu verwirklichen streben. Aber die Einheit zerreißt, wie im Leben überhaupt so auch in der Religion. Das bedeutet unter anderem, dass auf beiden Seiten die besagte Doppelbeziehung zum Unbedingten weiterwirkt – nun aber in pervertierter Form. Schelling deutet an, dass ein „Band“ zwischen den Vitalkräften im Menschen und dem Grund in Gott besteht,⁴³ auch wenn sie sich vom Geist losgesagt haben. Tillich macht sich, so meine These, auch diesen Aspekt in seiner Theorie der Dämonisierung zu eigen. Im Falle der dämonischen Vergegenwärtigung des unbedingten Grundes kommt selbiger so zur Wirkung, dass er die benannten Vitalwillenskräfte Eros und Macht gleichsam mit Weihe auflädt; oder umgekehrt, dass sich – in Abtrennung von der rationalen Kontrolle des Geistes – das Heilige mit vitaler Energie auflädt. Kraft dieser geheimnisvollen Verbindung der Vitalkräfte mit dem unbedingten Grund kann das religiöse Leben gerade in der Opposition zur unbedingten Form einen besonders vitalen Charakter annehmen. Es kann sich geradezu rauschhaft intensivieren, weil Macht und Eros die „Form des Rausches“ haben (EW X, 318). Just in der Gegenstellung gegen die kulturelle Formforderung, das rationale Prinzip im Unbedingten, macht sich das „halbierte“ Unbedingte umso stärker geltend, indem aus dem dunklen Grund ein vitaler Kraftstrom in das Religiöse einschießt. Das Heilige gleitet unkontrolliert in die Sphäre des Irrationalen ab, und dabei gewinnt es eine gesteigerte, aber eben „dämonisch“ verfinsterte Mächtigkeit. Das Ergebnis ist ein verzerrtes, „falsches“, aber erlebnismäßig umso intensiveres Bewusstsein der Präsenz des Unbedingten, das Züge von Sucht (Schelling) oder Rausch (Tillich) hat. Die dämonisch verzerrte Religion lebt vom vitalen Rausch des Unbedingten. Wenigstens in groben Zügen ist mit dem Ausgeführten eine Schicht in Tillichs Dämonisierungstheorie zutage getreten, die auf Schellings metaphysischen Mythos vom sich zum Gott verklärenden Grund in Gott zurückgreift und die eine Art metaphysisch grundierte Tiefenpsychologie ungebändigt irrationaler Religion enthält. Zieht man diese Schicht in Betracht, so hat Tillich seine Dämonisierungsidee im Wesentlichen auf dem Wege einer Übersetzung der Schelling’schen Theorie des Bösen ins Religionstheoretische gewonnen. Ich muss gestehen, dass mich gerade das besagte spekulative Element fasziniert und dass es mir die Fruchtbarkeit der Tillich’schen Idee noch zu steigern scheint. Beschränkt man sich bei Tillichs Begriff der dämonisierten Religion auf das geläufige Leitmotiv von der Unbedingtsetzung der bedingten religiösen Form, dann ist auch schon viel erschlossen.⁴⁴ Aber durch das hinzutretende Schelling-Motiv von
43 A. a.O., 60. 44 Vgl. z. B. Raatz, Unbedingtsetzung von Bedingtem.
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der Vitalisierung des Religiösen bzw. der Sakralisierung des Vitalen bekommt das Bild der dämonischen Religion eine neue Dynamik, welche die Anziehungs- und Durchschlagskraft, aber auch die Destruktionskraft bestimmter religiöser Erscheinungen wunderbar plausibel zu machen scheint. Im Rausch des unbedingten Grundes, der entsteht, wenn sich dessen Vergegenwärtigung im Protest gegen alle rationale Formung vollzieht, werden religiöse Energien freigesetzt, die im Extremfall Welt und Leben gänzlich mit einer übernatürlichen Aura versehen, weshalb das Hören auf die ernüchternde Vernunft erst recht wenig attraktiv erscheint. Und in diesem Rausch des dezidiert antirational verstandenen und erlebten Heiligen sind Menschen zu diesem und jenem fähig, bis hin zu den schlimmsten Auswüchsen von Kulturfeindlichkeit und Inhumanität. Nicht wenige religiöse Erscheinungen aus Geschichte und Gegenwart könnte man im Lichte von Tillichs Theorie tiefenhermeneutisch erschließen. Aber ich zögere. Können wir uns diese Theorie wirklich zu eigen machen? Können wir eine zeitdiagnostische Phänomenologie und Psychologie des Religiösen heute auch nur ansatzweise auf eine Theorie bauen, die über den schwäbischen Pfarrerssohn Schelling in die Abgründe der Eingebungen des Görlitzer Schusters Böhme zurückweist? Uns sind doch diese Theorieformen, bei denen sich Tillich recht unbefangen bedient (was schon damals etwas aus der Zeit gefallen war), enorm fern gerückt. Und eine Religionspsychologie, die in der Lage wäre, auch solche Theorieelemente in intellektuell vertretbarer Weise zu integrieren oder sich von ihnen zumindest anregen zu lassen, um tiefer in Seele und Geist des Menschen zu blicken als mit den Oberflächensonden empirischer Methoden – eine solche Religionspsychologie ist, soweit ich sehe, kaum irgendwo in Sicht.
4 Offene Fragen So komme ich zu einem etwas abrupten und einigermaßen aporetischen Schluss. Ich habe in meinem Beitrag Tillichs Religionsmodell von der doppelten Unbedingtheitsbezogenheit des menschlichen Geistes dargestellt, um von da aus das Auseinandertreten der beiden Typen „sakramentale“ und „prophetische“ Religion sowie ihre beiden Radikalisierungsformen „Dämonisierung“ und „Profanisierung“ verständlich zu machen, außerdem die ideale Position einer Religion der Vermittlung von Grund- und Formbezogenheit. Die dämonisch verzerrte Gestalt der Gottesvergegenwärtigung wurde dabei grundlegend durch die Opposition zur Formforderung des Geistes charakterisiert, die sich zunächst in der religiösen Fixierung und Absolutsetzung bestimmter kultureller Formen äußert. Daraufhin habe ich noch anzuzeigen versucht, dass es in Tillichs Theorie auch eine spekulativ-tiefenpsychologische Böhme- und Schelling-
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Schicht gibt, wonach sich die dämonisierte Religion zusätzlich durch rauschhafte Vitalisierung auszeichnet. Ich habe aus meiner Faszination von diesen Konzepten keinen Hehl gemacht, aber auch nicht aus meiner Ratlosigkeit, wie wir damit heute umgehen sollen. So will ich noch einmal die aufgeworfenen Fragen auflisten: 1. Ist Tillichs metalogisch entworfenes Religionsmodell nur die eigentümlichgeniale Explikation eines willkürlichen normativen Ideals oder hat sie darüber hinaus Erkenntniswert? 2. Welcher Erkenntniswert ist insbesondere der spekulativen Tiefenpsychologie zuzuschreiben, die Tillich dem späten Schelling entlehnt und seinem Begriff der Dämonisierung eingezeichnet hat? Auf welche Weise könnte man sich diese Theorieelemente aneignen? 3. Was gewinnen wir aus alledem für eine Theorie und Praxis einer religiösen Mittelposition, die den überschwänglichen Bezug auf den unbedingten Grund wie den nüchternen Bezug auf die rationalen Formen der Kultur in Einklang zu bringen vermag? Alle Tillich-instruierten oder gar -inspirierten Theologinnen und Theologen sind dazu aufgerufen, diese Fragen zu bedenken und zu beantworten. Tillich rekonstruierend zu verstehen ist das Eine. Dabei zwischen Aufzunehmendem und Abzulegendem zu unterscheiden ist ein Zweites, was zwar allermeist unterbleibt, womit aber die ernsthafte Auseinandersetzung erst zu ihrem Ziel gelangt. Erst wenn wir seinem Denken mit unserem theologischen Urteil „auf den Pelz rücken“, um das Historische daran der Historie zu übergeben und das Aktualisierungsfähige zu aktualisieren, ehren wir Tillich wirklich als den maßstabgebenden Theologen, der er war.
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Quellen des Selbst Die Seele zwischen Antipsychologismus und Tiefenpsychologie Ich habe den Titel meines Beitrages von Charles Taylors Hauptwerk aus dem Jahr 1989 (dt. 1994) geborgt,¹ weil es mindestens drei Parallelen zu den von mir beleuchteten Zusammenhängen gibt. Wie beim Original soll es bei der Frage nach den Quellen und der Verfassung des Selbst zunächst grundsätzlich um Themen gehen, die in den Bereich der philosophischen Anthropologie fallen. Sodann stehen diese Überlegungen wie in Taylors Monographie so auch bei Tillich im Zusammenhang mit einer kritischen Zeitdiagnose. Und schließlich vollzieht bereits Tillich mit seiner philosophischen Anthropologie den Wechsel vom Seelenbegriff zum Begriff des Selbst als psychologischer Leitkategorie. Dabei handelt es sich um einen Paradigmenwechsel, der zwar nicht erst bei Tillich anhebt, sondern eine längere Vorgeschichte besitzt, der aber gerade in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Konsolidierungsphase erlebt und sich eben letztlich durchsetzen wird,² wie nicht zuletzt Taylor mit der Wahl seiner Leitkategorie bestätigt. Im Unterschied zum kanadischen Sozialphilosophen hat Tillich freilich diesen paradigm shift nicht einfach nur vollzogen, sondern ausdrücklich reflektiert. In der letzten Fassung seiner anthropologischen Begriffsbildung, also der Pneumatologie im dritten Band der Systematischen Theologie aus dem Jahr 1963 (dt. 1966), hat Tillich zu diesem Paradigmenwechsel nämlich explizit Stellung genommen, ihn bejaht und zur Rechtfertigung vor allem auf die Entwicklungen innerhalb der neueren Psychologie hingewiesen.³ Im Folgenden möchte ich daher am Leitfaden psychologischer 1 C. Taylor, Sources of the Self. The Making oft he Modern Identity, Harward 1989; dt.: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1994. 2 H. Holzey, Art.: ‚Seele IV. Neuzeit‘, in: HWP, Bd. 9 (1995) 26–52. 3 Ich gebe die entscheidende Passage zunächst in der deutschen Fassung im Zusammenhang wieder: „Das Wort ‚Seele‘ hat ein ähnliches Geschick erlitten wie das Wort ‚spirit‘ im Englischen. Das gilt vor allen Dingen in der Psychologie, d. h. der Wissenschaft von der Seele. Die moderne Psychologie ist eine ‚Psychologie ohne Seele‘. Eine der Gründe für den Verlust des Seelenbegriffs ist die Ablehnung der Idee einer unsterblichen Seelensubstanz in der Erkenntnistheorie seit Hume und Kant. Jedoch ist das Wort Seele in der Dichtung und im täglichen Leben gebräuchlich geblieben und bezeichnet oft den Sitz der Gefühle und der Leidenschaften. In der heutigen Lehre vom Menschen werden viele der Phänomene, die früher der Seele zugeschrieben wurden, in der PersönlichkeitsPsychologie behandelt. Jedenfalls muß man sagen, daß das Wort Seele, während es noch in der liturgischen, biblischen und dichterischen Sprache seinen Platz hat, seinen Nutzen für die allgemeine wie auch die theologische Beschreibung des Menschen verloren hat.“ (ST III, 35) Im englischen Original ist noch eine interessante Substitutionsthese enthalten, die in der deutschen Überhttps://doi.org/10.1515/9783111264332-015
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Grundbegriffe einige Stationen in Tillichs Verhältnisbestimmung zur Psychologie nachzeichnen, wobei natürlich auch die Dresdner Zeit Beachtung finden wird. Um dafür einen status quo ante als Beurteilungsmaßstab zu gewinnen, beginne ich mit einigen Vorbemerkungen zur Geschichte der Psychologie und Tillichs wissenschaftstheoretischer Einordnung derselben noch aus seiner Berliner Zeit.
1 Zum wissenschaftlichen Ort der Psychologie In der besagten Reflexion über das Schicksal des Seelenbegriffs bemerkt Tillich, dass die Wissenschaft von der Seele eine Psychologie ohne Seele geworden sei. Bei dieser Formulierung handelt es sich um ein zur stehenden Formel gewordenes Zitat aus der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange aus dem Jahr 1866.⁴ Was ist damit gemeint? Lange zählt zu den Gründungsgestalten des Marburger Neukantianismus und zielt mit seiner Geschichte nicht bloß auf eine Affirmation des Materialismus, sondern durchaus auch auf eine Kritik desselben auf Grundlage der Kantischen Philosophie. Die Erinnerung an Kants kritizistische Dekonstruktion der traditionellen Seelenmetaphysik ist nach Lange insofern erforderlich, als in der zeitgenössischen Debatte durch Johann Friedrich Herbart erneut eine metaphysische Begründung der Psychologie vorgeschlagen wurde. In seinem Konzept einer ‚Mathematischen Psychologie‘ ging Herbart von der Annahme einer einfachen Seelensubstanz aus, um deren durch äußere Einwirkung hervorgerufene Vorstellungen in ihrer Mechanik einer exakten Messung zu unterziehen.⁵ Diesen Ansatz hält Lange für vollständig verfehlt und fordert in genau diesem Sinne eine Psychologie ohne Seele, die unter Verzicht auf einen klar abgrenzbaren Gegenstand sich vielmehr allein durch ihre Methoden zu definieren habe.⁶ Damit ist um die Mitte des 19. Jahrhunderts benannt, was sich dann in einem sehr komplexen Prozess realisieren wird: die Emanzipation der Psychologie als einer selbstständigen, sich
setzung fehlt, was die Sprachrelativität psychologischer Begriffe verdeutlicht: „If spirit is defined as the unity of power and meaning, it can become a partial substitute for the lost concept of soul, although it transcends it in range, in structure, and especially, in dynamics.“ (P. Tillich, Systematic Theology. Vol. 3, Chicago 1963, 24). 4 F.A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Zweites Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant, hg. u. eingel. v. A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1974, 823. 5 Einen guten Überblick über die Emanzipation der Psychologie als eigener Wissenschaft und ihre innere Heterogenität bietet E. Scheerer, Art.: ‚Psychologie. D.–E.‘, in: HWP Bd. 7 (1989), 1613–1639; zu Herbart u. Lange vgl. 1615 f., 1618. 6 Vgl. Lange, Geschichte des Materialismus, 818–849.
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vor allem am naturwissenschaftlich-experimentellen Methodenideal orientierenden Fachwissenschaft. Natürlich ist dieser Emanzipationsprozess der Psychologie alles andere als linear und eindeutig. Und schon um die Jahrhundertwende zeichnet sich eine irritierende Vielfalt von Ansätzen ab, worunter sich durchaus auch kritische Positionen mit Bezug auf das naturwissenschaftlich-experimentelle Methodenideal befinden. Von einigen Positionen wird später noch die Rede sein. Doch zunächst lohnt noch ein Rückblick auf die Psychologie als philosophische Disziplin, also die lange Geschichte dieser Disziplin vor ihrer Emanzipation zu einer eigenständigen, sich von der Philosophie abgrenzenden Fachdisziplin. Dabei steht, wie Tillich in seiner späten Reflexion zu Recht bemerkt, vor allem die rationale Psychologie der schulphilosophischen Metaphysik im Zentrum der Kritik und damit deren Vorstellung der Seele als einer einfachen, immateriellen und insofern auch unsterblichen Substanz. Sie ließe sich über die Deutsche Schulphilosophie, Descartes, die Scholastik bis auf Platon zurückverfolgen. Dabei wird jedoch leicht übersehen, dass es noch andere Gestalten der philosophischen Psychologie gab. Mindestens zwei andere Traditionslinien der philosophischen Psychologie wären hier zu nennen: Zum einen wird die Psychologie als Teil der Naturphilosophie entfaltet, was als die erste wissenschaftliche Psychologie überhaupt gilt, nämlich Peri psyches/De anima von Aristoteles.⁷ Gewiss war diese naturphilosophische Psychologie noch rückgebunden an eine metaphysische Grundlegung und konnte sich daher in den großen Synthesen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Schulen durchaus mit anderen Traditionslinien verbinden, nicht zuletzt mit der platonisch-pythagoreischen. Aber die Prämisse einer vom Leib getrennten Seelensubstanz etwa gilt gerade nicht für Aristoteles, der die Seele bekanntlich als zweite Entelechie des Körpers verstand. Zum anderen ist noch auf eine kaum zu überschätzende Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie hinzuweisen, nämlich die Begründung einer empirischen Psychologie neben der rationalen bei Christian Wolff. Hier wird mitten im Herzen der speziellen Metaphysik selbst der durch den Empirismus immer stärker betonten Erfahrung, genauer der Reflexion Rechnung getragen und die Methode der Selbstbeobachtung oder auch Introspektion systematisch fruchtbar gemacht.⁸ Auch das weist freilich auf viel ältere Traditionen zurück – allem voran die Psychologie
7 Aristoteles, Über die Seele, übers. v. W. Theiler, in: ders., Werke in deutscher Übersetzung, begründet von E. Grumach, hg. v. H. Flashar, Bd. 13, Berlin 71994. 8 Vgl. dazu R. Barth, Von Wolffs ‚Psychologia empirica‘ zu Herders ‚Psychologie aus Bildwörtern‘. Beobachtungen zur Umformung des Seelenbegriffs in der Aufklärung, in: Über die Seele, hg. v. K. Crone/J. Schnepf/J. Stolzenberg, Frankfurt a. M. 2010, 174–209; hier 174–191.
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Augustins.⁹ Durch die transzendentalphilosophische Geltungsbegründung und ihre vielen Nachfolgegestalten von Phänomenologie bis Fundamentalontologie wird diese Traditionslinie allerdings immer mehr marginalisiert, während ihre Methode der Introspektion in der sich an den Naturwissenschaften orientierenden Psychologie zunehmend als unwissenschaftlich diskreditiert wird. Nach diesen Schlaglichtern möchte ich nun aber zu Tillich zurückkehren. In einer Zeit, in der sich die theologischen Querdenker von den Anmutungen der wissenschaftlichen Rationalität meinten lossagen zu können, hat Tillich bekanntlich einen konträren Weg eingeschlagen. Eindrucksvoller Beleg dafür ist seine Schrift Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (vgl. GW I, 109–293) von 1923. Mit seiner aus der Idee des Wissens entwickelten und durch die Phänomenologie Husserls aktualisierten Wissenschaftslehre à la Fichte bestimmt Tillich den Ort seiner Kulturtheologie im Gesamtkosmos des Wissens. Um diese ebenso originelle wie anspruchsvolle Bestimmung der Theologie als ‚theonome Haltung‘ in allen Geisteswissenschaften soll es hier jedoch nicht gehen, sondern allein um Tillichs Überlegungen zur Psychologie. In ihnen gerinnt gleichsam die zuvor nur angedeutete wissenschaftstheoretische Problematik einer Fachdisziplin ohne genau definierten Gegenstand. In Tillichs Worten: „Die Psychologie ist das umstrittenste Gebiet in der Systematik und Methodenlehre“, und die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Geisteswissenschaften führe „auf eins der schwerwiegendsten philosophischen Probleme der letzten Zeit“ (GW I, 165. 168). Tillichs eigener Vorschlag im Kontext der wissenschaftstheoretischen Debatten zwischen Positivismus und Neukantianismus macht daher auch die Aporien mehr als deutlich und kann wie folgt umrissen werden. Tillich zieht erstens eine strikte Trennlinie zwischen Psychologie und Geisteswissenschaften. Letztere sind für ihn normative Wissenschaften, was zur Folge hat, dass sowohl die Geschichtswissenschaft als auch die Psychologie nicht zu den Geisteswissenschaften gehören können. Letzteres würde auf den Versuch einer psychologischen Begründung von Geltung hinauslaufen, was Tillich in Übereinstimmung mit dem Antipsychologismus von Kant bis Husserl strikt ablehnt. Zweitens ordnet Tillich die Psychologie den von ihm „Seins- oder Realwissenschaften“ genannten Gebiet zu und hier wiederum näherhin mit der Biologie zusammen dem „System von organischen Wissenschaften“ (GW I, 149. 162). Das ‚Psychische‘ oder die ‚psychischen Vorgänge‘, wie es jetzt ganz zeitgemäß heißt,¹⁰ 9 Vgl. dazu R. Barth, ‚Et quomodo iam inveniam te, si memor non sum tui?‘ Die religionsphilosophische Bedeutung der Subjektivität nach Augustin, in: Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas, hg. v. I.U. Dalferth/P. Stoellger, Tübingen 2005, 493–511. 10 Tillich verwendet nur ein einziges Mal noch den Seelenbegriff, den er als historischen Begriff allerdings in Anführungszeichen setzt (vgl. GW I, 167).
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werden also in der in diesem Kontext auch ausdrücklich genannten aristotelischen Tradition als ein biologisches Phänomen beschrieben. Die Differenz zur Biologie bestehe lediglich in dem methodischen Unterschied zwischen Außen- und Innenperspektive, wobei aber auch die „Innerlichkeit […] schon in der Biologie vorhanden“ (GW I, 165) sei. Auch wenn mit der Innenperspektive ein Erbe der philosophisch-geisteswissenschaftlichen Psychologie wetterleuchtet, soll das Psychische nichtdualistisch verstanden werden, was freilich seiner prinzipiellen Abgrenzung des Geistes in wissenschaftssystematischer Hinsicht nicht im Wege steht. Die antidualistische, Biologie und Psychologie übergreifende Zauberformel wird für Tillich der sowohl lebensphilosophisch wie psychologisch informierte Gestaltbegriff.¹¹ Ganz explizit gibt Tillich bereits hier das Interesse am „unbewußte[n] Seelenleben“ (GW I, 165) als Motiv für sein antimentalistisches Verständnis des Psychischen an, ohne jedoch weiter auf die Tiefenpsychologie einzugehen.¹² Konträr dazu versteht er aber drittens die Psychologie methodisch ganz explizit als eine vornehmlich auf Selbstbeobachtung gründende „beschreibende, verstehende Gestaltwissenschaft“ und erkennt eine kausal-mechanistisch erklärende Methode nur als ‚heterogen‘ an (GW I, 166), ja wirft dieser gar eine Neigung zu psychologistischen Missverständnissen vor. Dieser Versuch, die methodisch auseinanderstrebenden Traditionen und zeitgenössischen Ansätze in der Psychologie zu vermitteln, gleicht einer Quadratur des Kreises. In jedem Fall haben Tillichs Überlegungen exemplarischen Charakter für die philosophischen und wissenschaftstheoretischen Probleme im Zugang zum vormals vom Seelenbegriff repräsentierten Gegenstandsbereich der Psychologie.
2 Der vitalistische Seelenbegriff und das Interesse an der Tiefenpsychologie Ein Portrait des Kulturlebens und der intellektuellen Milieus der pulsierenden Großstadt Dresden, in die Tillich als frisch berufener ordentlicher Professor eintritt, wird in diesem Band facettenreich ausgeführt und muss hier nicht wiederholt werden. Aber es ist kaum verwunderlich, dass sie auch deutliche Spuren in der Wahrnehmung der Psychologie und der kategorialen Behandlung des Psychischen hinterlassen. Das zeigt sich bereits in der Programmschrift der Dresdner Zeit Die religiöse Lage der Gegenwart von 1926, die zwar einerseits an den Gestaltbegriff aus
11 Der Gestaltpsychologie wird Tillich vor allen in ihrer Berliner Ausprägung bei M. Wertheimer, K. Koffka und W. Köhler begegnet sein, vgl. dazu Scheerer, Psychologie, 1632 f. 12 Die Psychoanalyse erwähnt Tillich im System hingegen nur im Kontext der ‚technischen Wissenschaften‘ als eine die Psychiatrie erweiternde „psychologische Technik“ (vgl. GW I, 187).
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dem System der Wissenschaften anknüpft, nun aber vom sachlichen Ton der Wissenschaftstheorie in den Duktus des aufgeputschten Zeitkritikers wechselt, der überall das Zerstörungswerk des bürgerlichen Geistes und den Verlust der religiösen Kultursubstanz diagnostiziert. Zu der gegen diese Krisis sich erhebenden Konterrevolution zählt Tillich also die Gestaltwissenschaften, unter die jetzt Lebensphilosophie, ein Neovitalismus in der Biologie und auch in der Physik, eine ganzheitliche Medizin und Naturheilkunde und in der Psychologie Spranger und Köhler subsumiert werden.¹³ Dieses Syndrom von Einzelwissenschaften lasse nach Tillich die Überwindung des mechanistisch-mathematischen Methodenideals erhoffen. Ganz wichtig aber sei die von der „Schule des Wiener Arztes Freud“ ausgehende Entwicklung, die „das Dogma von der körperlichen Grundlage aller geistigen Erkrankungen schwer erschütterten und eine rein im Seelischen bleibende Heilmethode“ begründete (GW X, 23. 56 f.). Es ist bekannt, dass Tillich, und seine Frau Hannah in Dresden eine Unterweisung in der Psychoanalyse durch die schillernde Figur des Heinrich Goesch erhielten.¹⁴ Mit Heinrich Goesch besuchte Tillich zudem die Tanzgruppe Gertrude Steinweg, was sich wiederum in der kulturkritischen Vereinnahmung des Ausdrucks- und Gruppentanzens für die Überwindung des romantischen Individualismus niederschlägt und sogar unter der Überschrift „Leib und Seele“ zur Würdigung des Beitrags dieser „ästhetische[n] Form der Körperkultur“ zur „Formung der Gesamtpersönlichkeit“ führt (GW X, 59).¹⁵ Das hier nur am Rande aufscheinende Persönlichkeitskonzept steht in einem anderen Text Tillichs aus dieser Zeit ganz im Zentrum. Er ist für die Frage nach der werdenden psychologischen Begriffsbildung Tillichs aussagekräftiger als die Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart. Die Rede ist von dem bereits 1926 an Pfingsten
13 Vgl. P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), in: GW X, 9–99, hier: 15–20. 14 Vgl. W. u. M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken. Bd. 1: Leben, Stuttgart/Frankfurt a. M. 1978, 113 ff. Die erste, durchaus aber noch ausschließlich kritische Auseinandersetzung mit der „sexualpsychologischen“ oder „atheistischen Religionspsychologie“ in „der Schule des Wiener Nervenarztes Freud“ ist indes bereits in Tillichs Antrittsvorlesung als Privatdozent für Systematische Theologie in Berlin (nach der Umhabilitation von Halle a. d. Saale) mit dem Titel Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie vom 24. Januar 1919 zu greifen. Diesen Hinweis verdanke ich Christian Danz, der diese Vorlesung wieder aufgefunden und ediert hat, vgl. C. Danz, Paul Tillich, Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie, in: International Yearbook for Tillich Research Bd. 15 (2021/2022), 141–177, hier: 165 f. Eine positive Bezugnahme „auf das ganze unterbewußte Gebiet“ findet sich in dieser Vorlesung dagegen im Kontext der Würdigung der Religionspsychologie von William James (a. a.O., 168). 15 Vgl. GW X, 36. Dort wird allerdings die ebenfalls in Dresden wirkende Mary Wigman genannt. Vgl. W. Schüßler, Die Marburger und Dresdner Jahre (1924–1929), in: R. Albrecht/ders., Paul Tillich. Sein Werk, Düsseldorf 1986, 55–73; hier: 65 f.
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gehaltenen und dann ein Jahr später in Richard Kroners Logos erstmals publizierten Vortrag Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. ¹⁶ In enigmatischem Stil entfaltet Tillich hier am Leitfaden des Persönlichkeitsbegriffs, der ein weiteres prominentes Nachfolgeparadigma des Seelenkonzepts darstellt, gleichsam eine Dialektik der Aufklärung avant la lettre. Sie weist nicht nur Bezüge zu seiner Kulturkritik und zu dem in dieser Zeit entwickelten Programm des religiösen Sozialismus auf, sondern enthält bereits viele Motive seiner späteren systematischtheologischen Anthropologie. In dieser Motivdichte kann dieser Vortrag durchaus als Schlüsseltext von Tillichs philosophischer Anthropologie gelten. Denn seine kulturkritischen Überlegungen werden eben aus einer anthropologischen Skizze um den Persönlichkeitsgedanken organisiert, die es in sich hat. Der Titel, in dem man vielleicht auch einen Widerhall von Troeltschs Der Historismus und seine Überwindung hören mag,¹⁷ zielt auf eine Negation im Sinne von Aufhebung bei Hegel. Die Überwindung ist also als Erfüllung, genauer gesagt als religiöse Erfüllung der Persönlichkeit, zu verstehen, die jedoch eine Negation des bürgerlich-humanistisch-romantisch enggeführten Persönlichkeitsideals zur Voraussetzung habe. Dieses bürgerliche Ideal, so Tillich, führe nämlich zwangsläufig in eine tiefe Entfremdungsdialektik und einen Selbstverlust in den Polaritäten des Daseins zwischen Ding- und Sozialwelt. Diesem verfehlten Persönlichkeitsideal setzt Tillich sein Konzept einer religiösen Erfüllung der Persönlichkeit gegenüber, deren wesenhaftes Sich-seiner-selbst-mächtig-sein durch einen Bezug auf das unbedingte Sein einzig für einen alle Polaritäten ausbalancierenden Grund offenbleibe. Aufregend ist dieser später mehrfach ergänzte und umgearbeitete Text insofern, als die hier skizzierte Anthropologie eine geniale Synthese von unterschiedlichen Traditionslinien erkennen lässt, die Tillichs Denken bestimmen. Erkennbar ist ein lebensphilosophisches Selbststeigerungskonzept (Wille zur Macht), in das zentrale Motive der Schellingschen Freiheitstheorie mit ihrer Polarität von naturalem Partikular- und Universalwillen eingewoben werden.¹⁸ Und schließlich wird das Ganze noch einmal eingebettet in die offensichtlich von Kierkegaard übernommene Figur eines religiösen Sich-durchsichtig-Werdens des sich zu seinen anthropologischen Verhältnissen verhaltenden Selbst.¹⁹ Darüber hinaus zeigt sich
16 P. Tillich, Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. Ein Vortrag (1927). The Idea and the Ideal of Personality (1948), in: MW III, 131–166. 17 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung. Fünf Vorträge, eingel. v. Fr. v. Hügel, Berlin 1924. 18 F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. v. T. Buchheim, Hamburg 22011, 34–39. 19 S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin, in: ders., Gesammelte Werke 24. u. 25. Abt., übers. v. E. Hirsch, Düsseldorf 1954, 81.
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bereits hier eine ontologische Überformung der Theorie intentionaler Akte – die Persönlichkeit als bestimmtes ‚Seiendes‘ –, die zugleich als explikative Integrationsebene der verschiedenen Traditionslinien fungiert. Mit der These vom „Weltbegriff [als] notwendige[m] Korrelat zum Persönlichkeitsbegriff“ (MW III, 133) werden zugleich auch schon Grundgedanken der philosophischen Anthropologie antizipiert – man denke an Schelers und Plessners Entwürfe aus dem Jahr 1928 und eben nicht nur an den Weltbegriff aus Heideggers 1927 erscheinender Schrift Sein und Zeit, dessen Nachgängigkeit Tillich selbst in einer späteren Anmerkung betont.²⁰ Für meine Fragestellung ist diese anthropologische Skizze nun insofern von Bedeutung, als sie nicht nur im Anschluss an Kierkegaard den Gedanken einer religiösen Vermittlung der in unterschiedlichen Polaritäten aufgespannten Identität des humanen Freiheitslebens entwickelt, sondern auch zu den wenigen Texten gehört, in denen Tillich noch kategorial auf den Seelenbegriff zurückgreift. Denn nach dem Ausloten der Verhältnisse zwischen ‚Persönlichkeit und Dingwelt‘ einerseits, ‚Persönlichkeit und Gesellschaft‘ andererseits, kommt Tillich im Schlussabschnitt zum Verhältnis von ‚Persönlichkeit und Seele‘. Konsequent im Sinne der wissenschaftstheoretischen Abgrenzung der Psychologie von den Geisteswissenschaften und ihrer Zuordnung zu den Wissenschaften vom Leben fungiert hier die Seele als animalisches Gegenüber zur Persönlichkeit. Die sich unmittelbar im Leib ausdrückende und existierende Seele wird dabei aber zugleich verstanden als „dasjenige Sein […], aus dem sich unmittelbar das persönliche Zentrum erhebt“ (MW III, 143). Als Zeitdiagnostiker sieht Tillich freilich auch mit Bezug auf diese Quellen des Selbst die Manifestation einer tiefen Krise: Eine sich auf die individuelle Gewissensreligion der Reformation berufende, diese aber entscheidend verflachende bürgerliche Kultur einer intellektuell-sittlich beherrschten Persönlichkeit habe zu einer sukzessiven Verdrängung der vitalistischen Grundlagen des Freiheitslebens geführt und damit auch zu einer Entzauberung analog zu den Vorgängen in Dingwelt und Gesellschaft. Dieses Abschließen der Persönlichkeit gegen ihre Seele sei eine Strategie des Seiner-selbst-mächtig-Werdens, die nun – so das prophetische Urteil des Dresdner Tillich – zusammenbreche, da sie gleichsam zu einem Zurückschlagen der „seelisch-vitalen Kräfte“ führe. Das „Überhandnehmen
20 Dabei handelt es sich um Anmerkung 2 der zweiten Ausgabe (B), erstmals erschienen im Jahr 1930 (vgl. MW III, 146 f.). Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986. Zu den beiden ebenfalls den Weltbegriff im anthropologischen Sinne entfaltenden Schriften vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9: Späte Schriften, hg. v. M.S. Frings, Bern/ München 1976, 7–71; H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, hg. v. G. Dux/O. Marquard/ E. Ströker, Frankfurt a. M. 1981.
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der psychopathischen Erscheinungen“ sei ein klares Indiz und der Psychoanalyse gehöre das Verdienst, die Verdrängungsmechanismen durchschaut zu haben. Damit könne sie mehr zu einer „heilkräftigen Seelsorge“ beitragen als eine kirchliche Seelsorge, die mit einem dogmatisch enggeführten Rechtfertigungsgedanken gar nicht die „Substanz des religiösen Lebens“ und der Gnade auszumessen im Stande sei (vgl. MW III, 144.145). Im Rahmen einer Kierkegaard’schen Grundfigur für das psychologische Aktzentrum vollzieht Tillich in Dresden die Wende von den anthropologischen Paradigmen der Lutherrenaissance, also vor allem einem als bürgerlich diffamierten Gewissen, hin zur Tiefenpsychologie als einer die unterbewussten Schichten der Persönlichkeitsgenese wiederentdeckenden und methodisch zugänglich machenden Erneuerungsbewegung. Von dieser Würdigung im Zusammenhang einer extrem antibürgerlich zugespitzten Krisendiagnose lassen sich dann unschwer die Linien ausziehen zu den Texten der 1950er und 1960er Jahre, in denen Tillich die Bedeutung und das Verhältnis von Psychoanalyse, Psychotherapie, Seelsorge und Theologie und deren Verständnis des Menschseins und seiner Heilungsmöglichkeiten ausloten wird.²¹ Auf dem Weg dorthin werden freilich in der Exilzeit die autodidaktisch-intimen Impressionen, die Tillich in Dresden von dem „magischen Psychologen“ Goesch erhalten hatte, durch enge Kontakte und intellektuellen Austausch mit Hauptvertretern der Tiefenpsychologie überschrieben.²² Zusammen unter anderem mit Erich Fromm, Rollo May und Carl Rogers war Tillich von 1941 bis 1945 Mitglied der New York Psychology Group. ²³ In meinem dritten Abschnitt möchte ich jetzt noch einige Schlaglichter auf die Nachkriegszeit werfen.
21 Vgl. dazu v. a. P. Tillich, Psychoanalyse und Religion. Zum gleichnamigen Buch von Erich Fromm (1951), in: GW XII, 333–336; ders., Die theologische Bedeutung von Psychoanalyse und Existentialismus (1955), in: GW VIII, 304–315; ders., Seelsorge und Psychotherapie (1958), in: GW VIII, 316–324; ders., Der Einfluß der Psychotherapie auf die Theologie (1960), in GW VIII, 325–335; ders., Carl Gustav Jung. Eine Würdigung anläßlich seines Todes (1961), in: GW XII, 316–319.Vgl. dazu J. Dourley, Tillich in Dialogue with Psychology, in: R.R. Manning (Hg.), The Cambridge Companion to Paul Tillich, Cambridge 2009, 238–253. 22 Pauck, Paul Tillich, 115. 23 Vgl. dazu T.D. Cooper, Paul Tillich and Psychology. Historic and Contemporary Explorations in Theology, Psychoterapy, and Ethics, Macon, GA, 2006. Zuvor hatte auch schon die Frankfurter Zeit weitere Kontakte und eine Vertiefung im Bereich der Tiefenpsychologie mit sich gebracht, vgl. Pauck, Paul Tillich, 125–127.
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3 Selbst zwischen Sein und Geist – die weitere Entwicklung Einer der ersten und wirkmächtigsten Niederschläge der Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie, die nicht zuletzt auch durch Emigration namhafter Vertreter gestärkt wurden und die nordamerikanischen Intellektuellenmilieus faszinierte, ist in Tillichs aus den Terry Lectures von 1950 hervorgegangener Abhandlung Courage to Be (1952; dt. 1953) zu sehen.²⁴ Hier begegnen viele Motive des Dresdner Persönlichkeitsvortrages in einer weitergebildeten Begriffsgestalt, die zugleich als Blaupause für seine theologische Anthropologie des Spätwerks fungiert. Mit der Formel vom ‚Mut zum Sein‘ sucht Tillich bekanntlich genau den Zustand populärwissenschaftlich zu plausibilisieren, der mit dem traditionellen Glaubensbegriff eigentlich gemeint, aber aufgrund vielfältiger geschichtlich bedingter Engführungen dem modernen Menschen kaum noch vermittelbar sei. Da er mit dem Mut dafür eine psychologische Kategorie wählt, soll deren anthropologische Verortung kurz beleuchtet werden. Wenn Tillich einleitend an die platonischen Ursprünge des Mutkonzepts erinnert und das Muthafte, das epithymetikon bzw. der thymos, als Mitte zwischen dem sinnlichen und intellektuellem Seelenteil beschreibt, dann lässt der Theologe trotz aller Neuorientierung der Psychologie und ihren Bedenken gegenüber einer metaphysischen Seelensubstanz geschickt die Kontinuitäten sichtbar werden (vgl. MW V, 142 f.). Die seit dem 19. Jahrhundert von Philosophie bis Literatur reichende Bewegung des Existentialismus liest Tillich gleichsam als Wiederkehr von Konstellationen aus Antike und Christentum und gewinnt so eine kulturgeschichtliche Basis zur Relativierung und Einordnung von Gegenwartsdiskursen. Mit Formulierungen, die fast wörtlich auf die begriffsgeschichtlichen Überlegungen zu spirit und soul im letzten Band der Systematischen Theologie vorverweisen, zieht er jedoch für seinen bildungssprachlichen Explikationsrahmen ganz andere Konsequenzen als dort. Der Seelenbegriff wird nicht sistiert, bleibt aber im Unterschied zum Dresdner Text auch nicht auf die vitale Dimension des Selbst unterhalb der Bewusstseinsschwelle beschränkt. Als vermittelnde Dimension zwischen einer bedeutungslosen Vitalität und einer blutleeren Intentionalität wird hier förmlich eine „spiritual soul“ ausgezeichnet, die den Bezugspunkt für die Angst- und Mutanalysen bildet (MW V, 179). Die Seele wird damit aber auch förmlich zum Ort des ‚ultimate concern‘ – Seele gleichsam als ein tief in die Leiblichkeit hineingesenkter Geist. Die wiederum der inneren Haltung des Mutes vorausgesetzte Angst wird sowohl existentialistisch wie kulturanthropologisch einer breiten Analyse unter-
24 P. Tillich, The Courage to Be (1952), in: MW V, 141–230; dt.: Der Mut zum Sein, in: GW XI, 13–139.
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zogen. Die Unterscheidung von existentieller und neurotischer Angst dient dazu, die in den folgenden Jahren verschiedentlich ausgeführten Bezüge zu Psychotherapie und Tiefenpsychologie herzustellen.²⁵ Insgesamt jedenfalls lassen sich Tillichs Analysen zum Mut als einer Selbstbejahung im Angesicht oder ‚trotz‘ existentieller Angst oder Verzweiflung wie eine phänomenologische Konkretion der späteren Entfremdungs- und Zweideutigkeitslehren in der Systematischen Theologie lesen (vgl. ST II, 52–87). In meinem Fazit komme ich noch einmal auf die wirkmächtige Formel vom ‚Mut zum Sein‘ zurück. Zuvor möchte ich aber noch kurz auf die weitere Entwicklung der psychologischen Begriffsbildung schauen. Eine erste Gestalt gibt ihr Tillich in seiner Umformung der Sündenlehre im dritten Teil bzw. zweiten Band seiner Systematischen Theologie aus dem Jahre 1957/8. Sie weist auf die grundlegenden ontologischen Bestimmungen des ersten Bandes zurück. Dass hier viele seit der Dresdner Zeit erkennbare Motive wiederkehren, hatte ich bereits gesagt. Interessant sind aber die kategorialen Verschiebungen gegenüber der älteren Explikationsgestalt und ihr Niederschlag mit Bezug auf die Dimension des Psychischen. Zunächst ist festzustellen, dass in der Systematischen Theologie nicht nur das bürgerliche Persönlichkeitsideal überwunden wird, sondern das Persönlichkeitskonzept insgesamt als Leitperspektive abgelöst wird. Die theologische Anthropologie, die sich als monistisch versteht (vgl. ST II, 43), wählt vielmehr einen generalistisch-abstrakten Zugriff und spricht von dem Menschen oder dem „Selbst“, von dem bereits der erste Band feststellt, dass es auch „die unterbewußte und die unbewußte Basis des seiner selbst bewußten Ichs“ umfasst (ST I, 200). Die im Persönlichkeitsvortrag bereits angedeutete ontologische Explikationsebene ist jetzt zur Leitperspektive erhoben, während die anthropologischen Bestimmungen nur noch aus diesem Bezugsrahmen heraus entfaltet werden. Bekanntlich rekonstruiert Tillich die christliche Sündensymbolik demgemäß am Leitfaden der Unterscheidung von Essenz und Existenz. So wird der Sündenfall verstanden als der ‚Übergang von der Essenz zur Existenz‘, die Sünde selbst wiederum wird unter der Leitkategorie der ‚Entfremdung der Existenz von der Essenz‘ rekonstruiert, während die Übel im Sinne der Sündenfolgen als ‚existentielle Selbstzerstörung des Menschen‘ in den Blick genommen werden. Kurz: Existenz, Entfremdung und Selbstzerstörung kennzeichnen nach Tillich die menschliche Situation, wie sie traditionell in der mythologischen Symbolik des Christentums aufbewahrt, heute aber nur noch unzureichend als solche verstanden werden (vgl. ST II, 35–52). Gerade für ein solches Verständnis der menschlichen Situation – diese Wertschätzung hält sich durch – seien die Einsichten der neueren Tiefenpsychologie kaum zu überschätzen (vgl. ST II, 34).
25 Vgl. dazu die in Fußnote 21 genannten Beiträge.
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Wertet man diese insgesamt sehr eindrucksvolle und geschlossene Begriffsbildung mit Bezug auf die psychologischen Aspekte aus, so ergibt sich jedoch ein recht diffuses Bild. Plakativ gesprochen könnte man auch sagen: Es zeigt sich tatsächlich eine theologische Anthropologie ohne Seele, die ähnlich der modernen Psychologie ihren Gegenstand in eine Pluralität methodischer Perspektiven auflöst. Man kann das in vier Punkten verdeutlichen: Erstens bleibt die seit dem System der Wissenschaften konstitutive Sonderstellung des Geistes, der jetzt unter dem Titel einer vollständigen Zentrierung des Selbst wiederkehrt, bestehen, auch wenn Tillich immer wieder die Kontinuität innerhalb der menschlichen Natur betont und gerade die bestimmende Macht des Un- oder Vorbewussten mit Bezug auf die rationalen Entscheidungen hervorhebt. Doch weite Strecken seiner Analyse bleiben im Grunde genommen der Psychologie Kierkegaards verpflichtet, die zwar durchaus Grade des Bewusstseins unterschied, aber damit grundsätzlich im Rahmen des Mentalen verblieb. Entsprechend begegnet dann auch in Tillichs Existentialanalyse die These, aus dem Selbstbewusstsein endlicher Freiheit resultiere die Angst vor der Gefahr des Identitätsverlustes.²⁶ Zweitens führt die neue Leitperspektive zur schleichenden Ontologisierung des Psychischen. Die vitalen und unbewussten Dimensionen des Psychischen werden gleichsam in die ontologischen Elemente hineingezogen und firmieren so unter den die Freiheit begrenzenden Schicksalsmächten, also den die Form sprengenden Dynamiken oder den identitätsgefährdenden Partizipationsstrukturen. Dabei betont Tillich, dass die so ontologisch verallgemeinerten psychologischen Prozesse mit Bezug auf eine gelingende Integration der existentiellen Polaritäten durchaus ambivalent sind. Ihre Verdrängung kann ebenso zerstörerisch sein wie ihre Verabsolutierung. Das führt drittens gleichsam zu einem dem antibürgerlichen Impetus der 1920er Jahre gegenläufigen Versuch, die augustinisch-reformatorische Tradition der Interpretation von Sünde als Konkupiszenz mit den Mitteln von Freuds Libido-Theorie oder den Spuren von Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ in der Tiefenpsychologie Alfred Adlers zu plausibilisieren (vgl. ST II, 60–64). Das theologische Überbietungsschema wiederum hatte er schon in der Schrift Der Mut zum Sein entwickelt: Die tiefenpsychologisch-existentialistische Sicht des Menschen laufe Gefahr, die existentielle Entfremdung mit der Essenz des Humanum zu verwechseln. Einer puritanisch-asketischen Selbstverneinung gegenüber, die er bei Freud und Schopenhauer wahrnimmt, könne die schöpfungstheologische Sicht des Menschen dagegen eine in die Liebe eingehegte libido denken (vgl. ST II, 64). Last but not least kann Tillich mit seiner symboltheoretischen Interpretation mythologischer Bestände förmlich eine Entpsycholo-
26 Vgl. ST II, 42: „Die Spannung entsteht in dem Augenblick, in dem die endliche Freiheit ihrer selbst bewußt wird und danach verlangt, aktuell zu werden.“
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gisierung vornehmen. Ja er kreiert im Anschluss an die Tiefenpsychologie sogar den ‚neuen Mythos‘ der ‚träumenden Unschuld‘ als Symbol für die essenzielle Endlichkeit (vgl. ST II, 39–43). In der Einleitung zur Sündenlehre gibt Tillich einen Hinweis, dem ich abschließend nachgehen möchte: „Essentielle so gut wie existentielle Elemente sind Abstraktionen von der konkreten vieldeutigen Aktualität des Seins, dem ‚Leben‘, dem Thema des IV. Teils der Systematische Theologie“ (ST II, 35). Werfen wir also einen Abschlussblick auf die Konkretionen der Pneumatologie. Geist – so lautet die gleichsam die wissenschaftstheoretische Scheidung von Lebens- und Geisteswissenschaften im System der Wissenschaften konterkarierende Grundthese – ist eine Dimension des Lebens, und zwar eine Dimension, die im menschlichen Leben herrschend und für dieses spezifisch ist.²⁷ Das Problem der Reichweite der Dimensions-Metapher, die Tillich gegen die Metaphern von Schichten oder Stufen des Lebens bevorzugt, lasse ich hier auf sich beruhen. Quer zu den Dimensionen des Lebens unterscheidet Tillich weiterhin Strukturelemente, die sich in jeder Dimension wiederfinden, und Funktionen, bei denen das nur eingeschränkt gilt und die gleichsam eine lebensphilosophische Wiedergeburt der ontologischen Polaritäten darstellen. Eine der angekündigten Konkretionen mit Bezug auf die Vieldeutigkeit des Seins, die dieser lebensphilosophische Zugang zur Beschreibung des Menschen aufweist, kann nun darin gesehen werden, dass Tillich in der Dimension des Organischen kategorial zwischen Vegetativem und Psychischem unterscheidet und ‚das Psychische‘ – von der Seele soll die theologische Anthropologie ja nicht mehr sprechen – gar als eine eigenständige Dimension des Lebens abhebt.²⁸ Dabei zeigt sich eine nicht unerhebliche Verschiebung gegenüber den früheren Zugängen zu dieser Dimension des Humanum, die ja stärker auf die vitalistischen Aspekte und das sogenannte Unbewusste zielten. Jetzt hingegen wird das Bewusstsein förmlich zum Konstitutionsmerkmal des Psychischen, zu dem das Unbewusste allenfalls noch irgendwie dazu gehören soll. Doch konstitutiv für das Psychische sei das Aufkommen des Bewusstseins, dessen Zentriertheit nun nicht mehr durch den Gestaltbegriff, sondern durch den Bezug auf den ‚Punkt‘ des ‚psychischen Selbst‘ oder‚Zentrums‘ gewährleistet wird.²⁹ Tillich kann jetzt förmlich vom „erlebenden Subjekt“ (ST III, 49) sprechen und sieht die Dimension des Psychischen vor allem durch Sinneswahrnehmungen, Triebe, Neigungen, Affekte, Gefühle und Wünsche, aber auch Traditionen und soziale Einflüsse bevölkert (vgl. ST II, 38). Mit einer Metapher, die Tillich in einem Columbia-Vortrag im Kontext 27 Zum Folgenden vgl. ST III, 21–130. 28 Vgl. ST III, 31 f.; 35–39; 49 f.; 70–72. 29 Vgl. auch die oben in Fußnote 3 zitierte Passage aus der englischen Originalversion zur Substitution von soul mit spirit.
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seiner Mitwirkung an der New York Psychology Group im Jahre 1945 verwendet hatte, könnte man also sagen, dass die Dimension des Psychischen eine „mittlere Sphäre“³⁰ zwischen dem organischen und geistigen Leben darstellt. In dem Vortrag wird die „dynamische Einheit“ (GW IX, 285) des Menschen allerdings noch mit dem aristotelischen Entelechie-Gedanken konstruiert und dieser gegen den physikalischchemischen Kausalzusammenhang abgegrenzt. Die letzte Fassung seiner Anthropologie spricht hier dann vorsichtiger von Potentialität der jeweils höheren Dimensionen in der fundierenden, bis hinab in den Bereich des Anorganischen. Das auch höheren Tieren zukommende Psychische wird so als die Dimension verstehbar, in der die Emergenz des Geistes auftreten könne. Unbeschadet aller Kritik an einer dualistischen oder triadischen Anthropologie sieht Tillich im Übergang vom psychischen Selbst zum Geist aber weiterhin einen „Sprung“ (ST III, 37), den er nicht nur an der‚vollkommenen Zentrierung‘ im Gegenüber zu einer Welt, sondern – und hier schließt sich gleichsam der Kreis zum frühen System der Wissenschaften – am Auftreten von Gültigkeit im Bewusstsein festmacht. Trotz solcher Kontinuitäten in den Transformationen seiner Auffassung des Psychischen wundert es nicht, dass Tillich auch in dieser späten Schrift die methodischen Schwierigkeiten mit Bezug auf das Psychische betont, wobei er die sachliche Spannung zwischen vitalistischer und mentalistischer Bedeutung des Psychischen ins Methodische wendet: Eine „klar umrissene Beschreibung des Psychischen als solchem“ sei uns deswegen unmöglich, „weil der Mensch gewöhnlich die Dimension des Psychischen nur in Einheit mit der Dimension des Geistes“ erfahre – oder anders formuliert: „Das psychische und personhafte Selbst sind im Menschen normalerweise geeint“ (ST III, 50).
4 Fazit Ich habe ausgehend von Tillichs früher wissenschaftstheoretischer Verortung der Psychologie einige Stationen seiner psychologischen Begriffsbildung verfolgt. In der Dresdner Zeit wird sie zur Funktion der allgemeinen Kulturkritik und vor allem durch die Tiefenpsychologie angereichert. Schon früh ist dabei das Bemühen zu erkennen, heterogene Quellen unter wechselnden anthropologischen Leitparadigmen zu integrieren, wobei die Akzente nicht selten durch die jeweiligen Werkkontexte vorgegeben werden. In der weiteren Entwicklung zeigt Tillichs Begriff des Psychischen jedenfalls grundsätzlich ein Changieren zwischen einer vitalistisch-vormentalen Bedeutung und einem Verständnis als einer sinnlich-affektiven
30 P. Tillich, The Relation of Religion and Health, in: MW II, 209–238, dt.: Die Beziehung zwischen Religion und Gesundheit, in: GW IX, 246–286, hier 282.
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Schicht des Bewusstseins. Wie in Friedrich Albert Langes Programmformel löst sich also die Seele in Tillichs theologischer Anthropologie in eine Vielfalt von methodischen Zugängen auf. Das in ihnen abgesteckte Bedeutungsspektrum wird wiederum durch eine ontologische Fundiertheit auf der einen, eine Fundierungsfunktion mit Bezug auf die Dimension des Geistes auf der anderen Seite in ein theologisches Bezugssystem eingespeist. In ihm spiegelt sich so gesehen die innere Spannung des Psychischen in der theologischen Polarität von absolutem Sein und göttlichem Geist wider. Dieser diffuse Status der Psychologie scheint mir aber auch für sich gesehen nicht unproblematisch zu sein, wofür gerade das wirkmächtige Konzept vom ‚Mut zum Sein‘ als Beispiel dienen kann. Denn zum einen löst sich der Mut durch den ontologischen Explikationsrahmen letztlich wieder in eine erlebnistranszendente Abstraktion auf. Zwar werden im Kontext der historisch-typologischen Analysen noch unterschiedliche Typen der Angst und des Mutes über ihre jeweiligen intentionalen Korrelate unterschieden. Aber der aus dem ‚absoluten Glauben‘ resultierende Mut soll dann gerade kein Mut mehr zu etwas im intentionalen Sinne sein. Was ist er aber dann? Tillich gelingt keine psychologische Konkretion und so könnte es auch so etwas sein wie ein basaler Lebenswille und daher – wie es in der deutschen Übersetzung heißt – „kein Zustand, der uns neben anderen Seelenzuständen zuteilwird. Er ist nichts Abgegrenztes oder Bestimmtes, ein Geschehnis, das isoliert und beschrieben werden könnte. Er ist immer ein Zustand in uns zusammen mit anderen Seelenzuständen“ (GW XI, 128). Zum anderen könnte man vor dem Hintergrund einer von Tillich ja früh rezipierten Ganzheits- oder Gestaltpsychologie fragen, ob die Konkretion der religiösen Heilsaneignung in einer primitiven Basisemotion wie dem Mut adäquat verortet ist. Einiges spricht jedenfalls dafür, das emotionale Korrelat des Unbedingten eher in emotionalen Polaritäten oder Kontrastharmonien zu verorten.³¹ Das führt mich zu einem letzten Punkt: Tillich spricht zwar in Mut zum Sein einerseits von einem ‚Zeitalter der Angst‘ und einem geschichtlichen Wandel von deren Ausdrucksgestalten. Doch unbeschadet dessen wird Angst andererseits als fundamentalanthropologisches Existential expliziert. Die neuere sprachwissenschaftliche Erforschung von Emotionen hat aber ebenso wie die Emotionsgeschichte auch am Beispiel der German Angst gezeigt, dass es sich um ein hochgradig kulturspezifisches Phänomen handelt, das sich nicht so einfach in andere Sprach- und Kulturkreise übertragen lässt.³² Vor diesem Hintergrund 31 Vgl. dazu R. Barth, Gemischte Gefühle. Religionstheoretische Dimensionen des emotionalen Lebens, in: „Fühlt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“ Die emotionale Dimension der Predigt, hg. v. J. Pock/ U. Roth/B. Spielberg, München 2022, 125–142. 32 Vgl. A. Wierzbicka, Emotions Across Languages and Cultures. Diversity and Universals, Cambridge 1999, 123–167; A. Schildt, „German Angst“. Überlegungen zur Mentalitätsgeschichte der
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wäre die Ontologisierung des emotionalen Lebens ihrerseits zu historisieren. Insgesamt zeigt sich also besonders aus theologischer Sicht das Desiderat einer spezifisch geisteswissenschaftlichen Psychologie.³³ Mit dieser Feststellung und den genannten Anfragen sollen freilich die großen Verdienste Tillichs um ein konstruktives Verhältnis der Theologie zur Psychologie keineswegs geschmälert, sondern vielmehr konstruktiv aufgegriffen werden.
Bundesrepublik, in: D. Münkel/J. Schwarzkopf (Hg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2004, 87–97. 33 R. Barth, Dogmatik mit Gefühl? Überlegungen zur Re-Psychologisierung der theologischen Hermeneutik, in: A. Haussmann/N. Schleicher/P. Schüz, Die Entdeckung der inneren Welt, Tübingen 2021, 73–94.
Teil V: Theologische Diskurse in der Weimarer Republik
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Tillichs Dresdner Dogmatik im theologiegeschichtlichen Kontext 1 Einleitung 1.1 Fragestellung Die Frage des folgenden Beitrags gilt nicht in erster Linie den Besonderheiten der Theologie Tillichs im Vergleich mit Karl Barth, Emanuel Hirsch etc., sondern dem übergreifenden Zusammenhang der Theologie der 1920er Jahre. Es soll ein theologiegeschichtliches Bild der Weimarer Zeit gezeichnet werden, auf dessen Hintergrund dann Tillichs Theologie als eine der zeitgemäßen Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Theologie erfasst werden kann. Reiner Anselm hat jüngst in einem Überblick über die theologischen Entwicklungen der 1920er Jahre darauf hingewiesen, dass zwar im Blick auf diese Zeit das spätere Bild eines vorangegangenen Bruchs überwiegt, dass aber daneben die Kontinuitäten der Probleme und der dogmatischen Denkweisen zu berücksichtigen seien.¹ In Bezug auf die Theologiegeschichte der 1920er Jahre will die folgende Darstellung diese Kontinuitäten in den Vordergrund rücken. Damit wird die Selbststilisierung der jüngeren Theologen dieser Zeit aufgebrochen. Denn diese haben das – bereits im Kontext der Durchsetzung der eigenen Theologie entwickelte, gegen die älteren Theologen gerichtete generationsbezogene – Narrativ in die Welt gesetzt und bis an ihr Lebensende bedient, dass mit ihrer Theologie und mit dem Ende des Weltkriegs ein kompletter Neuanfang begonnen habe. Dieses Narrativ beherrscht die Darstellungen der Theologiegeschichte in weiten Teilen bis heute.² Dagegen wird hier die These ver-
1 Vgl. R. Anselm, Die theologische Signatur der Epoche, in: S. Hermle/H. Oelke (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte evangelisch, Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932), Leipzig 2019, 124–147. So auch schon mit den ersten, gegen Karl Barths Theologiegeschichte gerichteten Sätzen seiner umfassenden Darstellung J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, XIX. 2 Vgl. F. Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1981; W. Pauly, Theologien im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Geschichte der christlichen Theologie, Darmstadt 2008, 197–229 („Der Bruch mit der vorausgehenden […] Theologie ist total und unübersehbar.“ [197]). Das Narrativ bedienen auch solche Darstellungen, die die führende Rolle Karl Barths einschränken wollen und deshalb die Pluralität verschiedener Positionen ‚des Aufbruchs‘ betonen: H. Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, https://doi.org/10.1515/9783111264332-016
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treten, dass die 1920er Jahren die End- und Hochphase eines Prozesses der Modernisierung der Theologie darstellen. Dieser Prozess selbst beginnt viel früher; er setzt in Teilen bereits in den 1870ern ein. Und er wird bewusst empfunden und gedeutet seit den 1890er Jahren, und zwar in einem Kontext, in dem auch die Gegenwart seit 1890 als eine neue Phase des Umbaus und der Veränderung der Theologie wahrgenommen wird. Es ist also eine theologiegeschichtliche Zäsur um 1890 zu setzen und von dort aus ist die Theologie der Zwischenkriegszeit als Gipfel verschiedener modernisierender Entwicklungen der Theologie zu interpretieren. Einen Höhepunkt der theologischen Debatte stellt die Weimarer Zeit auch insofern dar, als hier verschiedene Generationen von Theologen produktiv nebeneinander und gegeneinander wirken und ihre gegenseitige Wahrnehmung in ausführlichen Kommentierungen zur Lage der Theologie in der Gegenwart zum Ausdruck bringen.³
1.2 Zu Tillichs Selbsteinordnung und den Folgen für die Theologiegeschichtsschreibung Tillich hat sich in seiner Theologiegeschichte aus den 1960er Jahren explizit der Interpretation der modernen (nachaufklärerischen) Theologiegeschichte durch Karl Barth angeschlossen. Wie dieser (und andere Altersgenossen, zum Beispiel Werner Elert oder Emanuel Hirsch) geht auch Tillich vom Verfall und der Krise der Theologie aus. Alle Krisendiagnostiker beanspruchen, dass diese Krise nur durch eine ganz neue (und am besten die eigene) Theologie überwunden werden kann.⁴ Diese zugespitzte Zielführung wird aber nur über eine massive Verdrängung der theologischen Entwicklungen der Vorkriegszeit und der theologischen Arbeit der 1920er Jahre erreicht. Bei Barth geht dies so weit, dass die eigene Position aus dem Verlauf der neueren Theologiegeschichte gar nicht mehr erklärt werden kann und
Stuttgart 2002; und es bleibt selbst dann in Geltung, wenn aufgrund der Aufgabe die liberalen Theologien des 20. Jahrhunderts mit dargestellt werden sollen, so C. Zangger, Umbrüche. Schweizerische reformierte Theologie im 20. Jahrhundert, Zürich 2019. 3 Vgl. F.W. Graf, Einleitung: Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Zeit, in: ders., Der Heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011, 1–110. 4 Vgl. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1952; P. Tillich, Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens, Teil II: Aspekte des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, EW II; E. Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933, Göttingen 1934. Vgl. F.W. Graf, Die ‚antihistoristische Revolution‘ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre [1988], in: ders., Der heilige Zeitgeist, 111–138.
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direkt an voraufklärerische Theologie wieder anknüpfen soll. Tillich ist hier nicht ganz so radikal; aber auch bei ihm gilt es, aus der Theologie der Zeit, nämlich der durch die Schüler Ritschls und deren Schüler weitergeführten und umgeformten Ritschl’schen Theologie, der religionsgeschichtlichen Schule, der modernisierten Bibeltheologie und der modern-positiven Theologie, auszusteigen. Wie Hegel und Schleiermacher mit der Philosophie des Idealismus die kantische Kritik überwunden haben, meint Tillich, so solle mit seiner Theologie diejenige Ritschls und seiner Schüler und deren Ausgang bei einem anthropologisch bestimmten Religionsbegriff überwunden werden. In der bekannten inhaltlichen Wertung Bultmanns, die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts habe vom Menschen und nicht von Gott gesprochen, sind alle Genannten einig, ebenso wie in der umgekehrten Behauptung, erst ihnen sei es gelungen, einen neuen und angemessenen Weg für die Theologie als Rede von Gott zu finden. Diese Sicht der Theologiegeschichte macht nach dem Zweiten Weltkrieg Schule über die ‚Barthianer‘ hinaus. Als Beispiel sei die eigentlich aus der Erlanger lutherischen Theologie stammende Darstellung der Theologie- und Kirchengeschichte von Friedrich Wilhelm Kantzenbach genannt.⁵ Er erklärt den Kongress freisinniger Theologie von 1913 zum Zenit der theologischen Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg (natürlich ist gemeint des Verfalls), garniert dies mit dem schon von Barth her bekannten süffisanten Verweis auf Rittelmeyers Abgleiten in die Anthroposophie und schweigt sich über die weitere theologische Arbeit der Zwischenkriegszeit, sofern sie nicht zur dialektischen Erneuerung der Theologie passt, einfach aus.⁶ Im Gegensatz zu solchen Konstruktionen soll hier die Theologiegeschichte der 1920er Jahre nicht isoliert und erst recht nicht von hinten her betrachtet werden. Von hinten her meint in diesem Fall aus der Perspektive der sich durchsetzenden dialektischen Theologie (und ihrer verschiedenen Formen) nach Barmen und dem
5 Vgl. F.W. Kantzenbach, Der Weg der evangelischen Kirche vom 19. zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1968. Es handelt sich dabei um den dritten Band einer Darstellung der Frömmigkeits- und Kirchengeschichte seit der Aufklärung, in die Kantzenbach die Theologie mit einbezieht, vgl. als Vorläufer: R. Seeberg, Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert. Eine Einführung in die religiösen, theologischen und kirchlichen Fragen der Gegenwart, Leipzig 1903. 6 Übrigens sei angemerkt, dass es auch innerhalb der barthianisch beeinflussten Theologie Einsprüche gegen dieses Vorgehen gegeben hat. So hat H.J. Iwand in seiner – wenig ausgearbeiteten und damals nicht gedruckten – Theologiegeschichtsvorlesung in Göttingen und Bonn unter dem Titel Väter und Söhne auf die wichtigen Überleitungsfiguren wie Heim, Troeltsch, Schlatter, Otto oder Stange hingewiesen (ders., Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts „Väter und Söhne“. Bearbeitet, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von G.C. den Hertog, Gütersloh 2001). Beides – der offene theologiegeschichtliche Blick auf Übergangsfiguren und die gegenwartsbezogene Gegensatzkonstruktion – prägt auch W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997.
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Zweiten Weltkrieg. Diese Theologie hat eine eigene Wahrnehmung der Probleme. Hier überwiegt die Einsortierung der Theologie des frühen 20. Jahrhunderts als Verfallsgestalt der Theologie, welche die falschen (anthropologischen) Tendenzen der modernen, neuzeitlichen oder neuprotestantischen Theologie auf die Spitze treibt. Es ist zu zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Problemwahrnehmung der dialektischen Theologie ruht selbst auf Modernisierungstendenzen der Theologie des 19. Jahrhunderts auf; und die Abgrenzung von der‚anthropologischen‘ oder bewusstseinsorientierten Theologie, die Suche nach einer auf Gott als ihren eigentlichen Gegenstand bezogenen Theologie, schließlich auch der Rückgriff auf die reformatorische Theologie, auf den von ihr gesetzten Zusammenhang von Rechtfertigung und Glaube sowie Glaube und Gott sind Elemente der theologischen Diskurse seit den 1870er Jahren. Es gilt im Folgenden, eine modernisierungsbezogene Klärung der theologischen Arbeit der Weimarer Zeit zu erreichen, und zwar im Gesamtkontext der Entwicklung der Theologie, der verschiedenen Sichten der Theologengenerationen auf die Zeit und unter Berücksichtigung der Funktion der Gegenüberstellung von Theologie und Moderne. Anschließend ist Paul Tillichs Stellung in diesem Zusammenhang zu erläutern, seine besondere Position innerhalb der jüngeren Theologen darzustellen und dann zu klären, wie es zu der Verfalls- und Erneuerungserzählung in der Selbstwahrnehmung kommt.
1.3 Zum Konzept der Modernisierung Betrachtet man damit die Theologiegeschichte der 1920er Jahre nicht unter (vermeintlich) normativen Gesichtspunkten der Theologie des 20. Jahrhunderts, sondern im offenen Horizont einer pluralen, kontingenten, pfadabhängigen und gleichwohl sinnvoll zu organisierenden Entwicklungsgeschichte, dann eröffnet sich die Möglichkeit, sie nicht nur im Rahmen der theologischen Entwicklung seit der Aufklärung neu zu deuten, sondern sie zudem mit der Kulturgeschichte der Moderne zu parallelisieren. Denn die Theologiegeschichte beschreibt etwas fachspezifisch Eigenes, nämlich die Geschichte der wissenschaftlichen Theologie. Diese Wissenschaftsgeschichte müsste in einem weiteren Schritt ihre Beziehung auf die Frömmigkeits- oder Religionsgeschichte des Christentums (und, sofern wichtig, der Geschichte der außerchristlichen Religion[en] Deutschlands) darlegen. Dann aber wäre darüber hinaus beides – sowohl die Theologiegeschichte als auch die Religions-, Frömmigkeits-, Christentums- und Kirchengeschichte – einzustellen in den Kontext der Geistes-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Moderne insgesamt. Theologisch interne Beurteilungskriterien und Zielbestimmungen müssen also zwar theologisch formuliert und abgeleitet sein, aber sie müssen zugleich paralle-
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lisiert werden können mit kulturgeschichtlichen Prozessen der Modernisierung. Die normativen und deskriptiven Elemente dieses Begriffs gilt es dabei selbstverständlich erst zu klären. Modernisierung zeigt Veränderungsprozesse an, die sich nicht nur in der Theologie, sondern zeitgleich auch in Politik, Gesellschaft und Kultur ereignen. Insbesondere geht es um die Wechselbeziehung von Zeitgeschichte und Theologie. Hat die Theologie eine eigene Entwicklung oder verdoppelt sie nur kulturelle Prozesse? Ist sie nur einer von vielen kulturellen Faktoren, die kulturgeschichtlich parallel zu beschreiben sind – oder gibt es eine entscheidende Distanz von Theologie und Kultur? Eine Dauerfrage dabei im 19. und 20. Jahrhundert ist der Einfluss der modernen Welt auf die Theologie. Wie ist diese moderne Welt zu verstehen und wie kann die Theologie darauf eingehen? Das betrifft in erster Linie Inhalte der Moderne, wie Autonomie des Menschen gegenüber scheinbar naturhaft Vorgegebenem, Loslösung gesellschaftlicher Moralbestimmungen von Tradition und Sitte, individuelle Freiheit als Eröffnung vielfältiger Optionen, Individualisierung der Sinnbestimmung und Lebensführung, Pluralisierung von Perspektiven und gesellschaftlichen Wirklichkeitsdeutungssystemen, Ausdifferenzierung funktionaler gesellschaftlicher Subsysteme, Demokratisierung als Zunahme der Teilhabe aller an Macht, Geld und Bildung, aber auch schwierigere Themen wie Ökonomisierung, Technisierung, Globalisierung, Medialisierung. Im Kontext der Theologiegeschichte der 1920er Jahre soll der Modernisierungsbegriff hier rein als historischer Beschreibungsbegriff solcher Prozesse für die Zeit bis 1933 verwendet werden. Die später anhebenden und bis heute die postkoloniale Kritik antreibenden Reflexionsdebatten um Angemessenheit, Reichweite, Wert- und Machtanspruch des Begriffs sollen damit (und mit der Beschränkung auf die deutsche Kulturgeschichte) zurückgestellt werden. Der hier verwendete Begriff der Moderne schließt an die germanistische Verwendungsweise von ‚klassischer Moderne‘ an.⁷ Es handelt sich dabei um eine übergreifende Bezeichnung für die Literatur zwischen 1890 und 1930, welche selbst in sehr verschiedene Arten zerfällt. In der Literaturwissenschaft wird der Prozess der Modernisierung in dieser Zeit geschildert als eine stufenweise sich verschärfende Abgrenzung von der Welt des frühen 19. Jahrhunderts. Verschiedene künstlerische Erneuerungsbewegungen entstehen. Jede Innovation fasst ihren Vorgänger als Repräsentanten einer alten abgestorbenen Welt auf und verschärft so die Gegensätze. Denn die vorherige Kritik wird von den jeweils Jungen immer als Ausdruck des Kritisierten interpretiert. Dieses Modell ist auf die Theologiegeschichte
7 Vgl. F. Jäger/W. Knöbl/U. Schneider (Hg.), Handbuch der Moderneforschung, Stuttgart 2015; C. Klinger, Art.: Modern/Moderne/Modernismus, in: K. Barck/M. Fontius (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart 2002, 121–160.
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zwischen 1890 und 1930 zu übertragen. Dann ist nicht die dialektische Theologie ein plötzlicher Umsturz gegen das ganze 19. Jahrhundert. Sondern umgekehrt ist die dialektische Theologie nur das Ende einer Reihe von Abgrenzungen und Umformungen. Diese setzen bereits viel früher, z.T. um 1870, verschärft ab 1890 ein.
1.4 Modernisierung der Theologie Der so aus der Germanistik entlehnte Begriff der Modernisierung ist für die Theologie eigens zu füllen. Die Inhalte seien thetisch vorweggenommen: Die Geschichte der systematischen Theologie ist zu konstruieren über die Beschäftigung mit dem Religionsbegriff. Er ist und bleibt die Leitfigur für die moderne Theologie seit der Aufklärung und seit Schleiermacher, aber es kommt zu sehr verschiedenen Weisen des Umgangs mit ihm. Diese Strukturen der theologischen Beschäftigung mit Religion sind sodann zurückzubinden an gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse.⁸ Auf diese Weise wird der jeweilige theologische Umgang mit Religion zum Zeugnis für das dahinterliegende Verhältnis von Religion und Gesellschaft bzw. Religion und Kultur.⁹ Die Theologie kann also einerseits nach ihrer eigenen Logik erfasst werden, andererseits ist sie darin ein Spiegel der allgemeinen Modernisierung. Und für die 1920er Jahre und ihr Kennzeichen als Endphase eines verschärften, reflexiven Modernisierungsprozesses gilt dann: Einerseits geht es um eine verstärkte Erfassung des Eigenen der Religion. Diese Tendenz setzt bereits mit und nach dem Zerfall der idealistischen Einheitskonzeptionen ein und zieht sich dann durch die Theologie seit 1870. Dieses Beharren auf der Ausdifferenzierung der Religion wird aber dann andererseits kontrastiert mit dem Leiden an der Gegenwart, deren Krise gerade als Zerfall der Einheit und als Entfesselung der Eigenlogik der Systeme gesehen wird. Insofern ist die junge Theologie der Nachkriegszeit eingespannt in die Anerkennung von Ausdifferenzierung einerseits, weil genau nur so Religion in ihrem Eigensein und Eigensinn erkannt und theologisch angemessen bearbeitet werden kann. Andererseits wird aber für genau diese Religion ein letztfundamentales Wirken für alles beansprucht. In dieser Doppelstruktur der
8 Vgl. H. Matern, Einleitung, in: G. Pfleiderer/ders. (Hg.), Die Religion der Bürger. Der Religionsbegriff in der protestantischen Theologie vom Vormärz bis zum Ersten Weltkrieg, Tübingen 2021, 3– 194. 9 Vgl. die Forschungen von Friedrich Wilhelm Graf, insbesondere ders., Protestantische Theologie und die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1: Aufklärung – Idealismus – Vormärz, Gütersloh 1990, 11–54; ders., Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: ders., Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2: Kaiserreich; Gütersloh 1992, 12–117.
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Theologie – absoluter Autonomieanspruch gepaart mit absolutem Herrschaftswillen – zeigt sich auch in ihr ihre parallele Einbindung in das totalitäre Zeitalter.
2 Der Religionsbegriff als Konstruktionsbegriff der Theologie im 19. Jahrhundert Diese thetisch angedeutete Perspektive auf die Entwicklung hin zu den 1920er Jahren in der Theologie gilt es im Folgenden skizzenhaft auszuführen. Grundlegend ist die Sicht der Religion in der Theologie, also die Konstruktion von ‚Religion‘ durch die Theologen der verschiedenen nachschleiermacherschen Generationen. Durch die Infragestellung der konstitutiven Funktion des Religionsbegriffs brechen die jungen Theologen in den 1920er Jahren mit der vorigen Theologie. Die anthropologische Normierung der Theologie, die dadurch entsteht, dass die Theologie des 19. Jahrhunderts auf dem Religionsbegriff aufbaut, wird als ‚untheologisch‘ kritisiert. Aber diese Brucherzählung, also die Abgrenzung der Theologie von der anthropologischen Grundlegung in der ‚Religion‘, gehört selbst in die Geschichte der theologischen Beschäftigung mit der Religion (bzw. der theologischen Konstruktion von ‚Religion‘) hinein. Es handelt sich, vorwegnehmend formuliert, um eine Verschärfung der Konzentration auf die Eigenständigkeit der Religion. Religion wird in der Theologie einer eigenen, nämlich theologischen Bestimmung unterworfen. Dadurch konstituiert sich die Theologie als eine eigene Wissenschaft in Kontrast zu den übrigen Geisteswissenschaften. Der Gegensatz ist also der zu einer philosophischen oder kulturgeschichtlichen Bestimmung von Religion im Zusammenhang des menschlichen Geistes. Dieser Zusammenhang wird bewusst aufgelöst. In einigen Stufen soll beschrieben werden, wie sich die Rede von Religion entwickelt. Dann wird sichtbar: Die Generalkritik an ‚Religion‘ ist selbst das Ende einer langwährenden kritischen (insbesondere konstruktionskritischen) Selbstbegrenzung der Theologie.
2.1 Aufklärung Das Christentum als Religion zu bezeichnen, ist erst ein Ergebnis der neuzeitlichen Entwicklung. Vorher hätte man von christlichem Glauben, von Frömmigkeit oder Gottesfurcht geredet. Religion ist ein Allgemeinbegriff, der aufkommt, als die konfessionellen Gegensätze Europa zerstören, also seit der Reformation und insbesondere seit dem Dreißigjährigen Krieg. Außerdem ist er ein Begriff der beginnenden Ausdifferenzierung, denn er erlaubt einen Blick von außen auf das Tun der
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Theologen. Dieses wird als Form der Auseinandersetzung um Wahrheit beschrieben, welche für die Gesellschaft – hier sprechen Politiker, Juristen und Ökonomen – wenig nutzbringend ist und außerdem die konfliktäre Situation des Gemeinwesens insgesamt anheizt. Die gedanklichen Differenzierungen, die die konfessionellen Theologen in ihrem Streit vornehmen, werden auch religiös und frömmigkeitsbezogen – z. B. im Pietismus – als abseitig beurteilt. Dagegen versuchen freie Denker, allgemeine Grundsätze von Religion zu entwickeln, also etwas Allgemeines, das alle Konfessionen verbindet. Im durch die Aufklärung geprägten 18. Jahrhundert setzt sich diese Sicht auch in der Theologie als wissenschaftliche Sicht durch. Natürliche Religion ist die Bezeichnung für einen allen vernünftigen Menschen gemeinsamen Glauben. Theologen der Aufklärung konstruieren die vernünftige Religion anhand der Frage, welche Elemente der Überlieferung der christlichen Kirche und Theologie ‚wahr‘ sind im Sinne der allgemeinen Anerkennbarkeit durch alle Menschen. Daneben entsteht die anthropologische Frage, welchen Nutzen Religion für den Menschen hat. Diese Frage wird sehr verschieden beantwortet. Es kann hier die Fähigkeit der einzelnen Person zur Selbsterkenntnis, oder der Weg zu ihrem Glück und psychischen Wohlergehen, oder die moralische Bildung, oder die allgemeine politische Wohlfahrt der Gesellschaft, aber auch die freie bürgerliche Öffentlichkeit genannt werden. Es gibt (noch) keinen einheitlichen Maßstab, anhand dessen die Frage nach der Funktion der Religion für den Menschen beantwortet werden könnte. Mit der Geschichts- und Kulturwissenschaft könnte man von einer eklektischen Anthropologie als Hintergrund der Religionsfunktionsbestimmung sprechen.¹⁰ Zudem stehen rationale Wahrheitsfrage und anthropologische Funktionsbestimmung unverbunden nebeneinander.
2.2 Romantik Das ändert sich grundlegend mit der Philosophie um 1800. Der Idealismus schafft, auf Kants Theorien aufbauend, ein einheitliches Bild des Menschen von sich selbst, indem er es aus dem Selbstverhältnis des Geistes begründet. Die erkenntniskritische Frage nach der Objektivität der erfahrenen Wirklichkeit wird mit dem philosophischen Konstrukt beantwortet, dass der Mensch hinter den Geist und das Bewusstsein, hinter das Erschlossensein aller Wahrnehmung für sich selbst nicht zurückgehen kann. Auch die Religion, wenn ihr eine Wahrheit zukommen soll, ist ein Teil dieses Geistes; und ihre Wirklichkeit wird ihr als eine geistige gegeben. Funktion der Religion für den Menschen und Wahrheit der Religion (als Allge-
10 Vgl. S. Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015.
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meingültigkeit) kommen darin zusammen. Auf dieser grundlegenden Sicht baut die Theologie im 19. Jahrhundert auf. Damit verändert sie aber die Art der Frage nach der Wahrheit. Nicht mehr inhaltliche Allgemeingültigkeit für das vernünftige Denken, also der Nachweis der ‚realen‘ Gegebenheit religiös behaupteter Sachverhalte, sondern reflexiv die Bedeutung und Funktion der Glaubensaussagen für das Selbstverhältnis des menschlichen Geistes wird gesucht.¹¹ Dies wird die neue allgemeine Basis für die Theologie. Sie versteht den Menschen als ein freies Geistwesens, als ein Wesen mit Bewusstsein, das sich der Bedingungen dieses Bewusstseins reflexiv innewerden kann. Der Gottesgedanke wird in dieser Theologie zum Ausdruck für die letzte allgemeine Wahrheit des Geistes. Allerdings: Was das genau heißt und wie diese letzte Wahrheit des Geistes zu beschreiben ist, darüber gibt es große Differenzen. Jeder Denker behauptet, die Einheit des Geistes erfasst zu haben und wendet sich gegen andere Auffassungen. Da jeder erst aus seiner philosophischen Einheitskonstruktion die Theologie ableitet, können deren inhaltliche Gegensätze aber nicht mehr direkt ausgehandelt werden. Die Theologie wird, so nennt es die Theologiegeschichte, positionell.¹² Die aufgeklärte Theologie mit ihrer einlinigen Wahrheitsfrage wird abgelöst durch romantische Entwürfe, welche die Zeit von 1825 bis 1870 bestimmen.¹³ Es sind parallel im Bereich der schönen Literatur die Jahre, die später als Goetheepigonentum empfunden und von einem ‚modernen‘ Standpunkt aus kritisiert werden. Wichtig für die anthropologische Grundlegung der Religion in der Theologie ist die entstehende Doppelstruktur des theologischen Denkens: Einerseits gibt es eine theologischphilosophische Konstruktionsebene des Geistes, der für die allgemeine Wahrheit einsteht. Hier kann – wie zum Beispiel in Hegels Theorie des Absoluten – der Gottesgedanke als Letztbegründungselement in einer Theorie konstruiert werden, die das reale Selbstverhältnis des Geistes strukturell auf den Begriff bringt. Andererseits kann das Gottesbild auf der Ebene der Religion dann als Vorstellung, als Ausdruck des spekulativ gerechtfertigten ‚wahren‘ Gottesbegriffs gedeutet werden.
11 Eine strukturelle Beschreibung der Transformation der Theologie der Aufklärung hin zu der Romantik findet sich bereits bei Karl Schwarz, Zur Geschichte der neuesten Theologie, Leipzig 1856. Der Bruch manifestiert sich in den Theologiegeschichten, die die moderne Theologie mit Schleiermachers ‚Reden‘ von 1799 beginnen lassen. 12 Vgl. D. Rössler, Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970) 215–231 und darauf aufbauend F. Wagner, Einleitende Bemerkungen zur Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts [1978], in: ders., Zur Revolutionierung des Gottesgedankens. Texte zu einer modernen philosophischen Theologie, hg. v. C. Danz/M. Murrmann-Kahl, Tübingen 2014, 121–133. 13 Der Terminus ‚Vermittlungstheologie‘, der sich in der Theologiegeschichtsschreibung durchgesetzt hat, ist nicht eindeutig. Im Anschluss an K. Schwarz und F. Kattenbusch,Von Schleiermacher zu Ritschl. Zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Dogmatik, Gießen 1892, wird für den Gesamtkomplex hier ‚Theologie der Romantik‘ verwendet.
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Im Gegensatz zu den philosophischen Religionstheorien haben die darauf aufbauenden Theologen diese Differenz nicht immer ausreichend reflektiert. Dadurch kommt es im Bereich der Theologie zu produktiven ‚Missverständnissen‘, indem die Grundlegungsredeweise in unklarer Weise mit der Ausdrucks- und Deutungsebene der religiösen und dogmatischen Inhalte vermischt wird. Zudem wird die Ebene der Grundlegung, also die Theorie des menschlichen Bewusstseins, durch die spekulative Vermischung mit Naturphilosophie, Kosmologie und Metaphysik zunehmend ins Ungefähre aufgeweicht. Beides wird im Kontext der neukantianischen Kritik an der Spekulation auch in der Theologie zunehmend als unbefriedigend und unwissenschaftlich empfunden.
2.3 Realismus Wie durch die Literaturwissenschaft vorbereitet, wird der Prozess der Modernisierung der Theologie im 19. Jahrhundert als Abfolge von Stufen der Kritik an der ‚romantischen Theologie‘ dargestellt. Zu beachten bleibt aber, dass die durch den Idealismus geschaffene neue Basis nicht bestritten wird: Religion ist ein Bestandteil des Geistes und der Kultur, man kann ihr Wesen im Kontext des Wissens, des Wollens oder des Fühlens erfassen, spekulativ, ästhetisch oder ethisch-sittlich. Religion ist deshalb zugleich ein Ausdruck menschlichen Seins in der Welt wie auch immer geschichtlich und wandelbar, ein Produkt der menschlichen Entscheidungen, aus denen die Kultur insgesamt besteht. Aber, dies wird die erste Stufe der Kritik sein, das ist doch sehr schwammig und reicht als Beschreibung von Religion nicht aus.¹⁴ Es gilt, das Besondere der Religion stärker zu erfassen. Das Allgemeine des Geistes, seine Wahrheit oder Selbstbezüglichkeit reicht dann nicht aus. Eine realistische Theologie entsteht – eine Theologie des Realismus, die nach einem sichtbaren, greifbaren weltlichen Bezug von Religion fragt. Schon früh wird hier die Nation als Bezugspunkt genannt bei Lagarde. Aber auch das individuelle Sinnerleben und die tatsächliche Psychologie bei Biedermann und Lipsius. Auch die Beachtung der realen Überlieferungsgeschichte der Christusverkündigung bei Kähler ist eine realistische Revision der von Hofmann vorgelegten spekulativen Heilsgeschichtskonzeption. Am stärksten wirkt allerdings die Kritik und Neukonzeption Ritschls. Er versucht bewusst die Theologie von der (spekulativen) Philosophie abzugrenzen, indem er Religion als eine geschichtsprägende Macht versteht und sie damit über die reale Gestalt Jesu und das Christentum
14 K. Schwarz fordert am Ende seiner Theologiegeschichte bereits 1856 einen Übergang von der Romantik zum Realismus (ders., Zur Geschichte der neuesten Theologie, 437).
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definiert. Das Allgemeine des Geistes ist real in dem sich universal ausrichtenden und die Welt entsprechend gestaltenden Christentum. Theologie ist deshalb die historische Wissenschaft von dem geschichtlich entstehenden und wirkenden Christentum, das es im Kontext der geschichtlichen Entwicklung des Abendlandes zu beschreiben gilt. Diese geschichtliche Entwicklung besteht auf der anderen Seite darin, dass sich das Religiöse am Christentum immer reiner herausstellt. Ritschl sieht den weltlichen Ansatzpunkt der Religion in der Realisierung einer universalen Sittlichkeit. Die christliche Kirche ist deshalb nicht ein Gebilde des reinen Geistes, sondern der historischen Entwicklung des Reiches Gottes, an dem der einzelne durch geschichtliche Verbindung zum Mitstreiter wird. Dieser institutionellen Einbindung des Anspruchs auf eine humane Welt für alle soll sich der einzelne Mensch unterstellen und so Sinn in seinem Einzelleben erfahren. Ritschl sieht das Christentum als den einzigen Ort der wahren Religion. Denn in Jesus Christus realisiert sich weltgeschichtlich genau diese Form des Lebens – einer personal sinnstiftenden Sittlichkeitsorientierung im geschichtlichen Handeln. Zugleich ist die Geschichte des Christentums die notwendige Realisierungsgestalt des allgemeinen humanen Sittlichkeitsbewusstseins. Ritschl hat mit seiner Christentumsdeutung und seiner Neubestimmung der Theologie im Kontext der realen Geschichtswissenschaft einerseits und einer Selbständigkeitserklärung für die Religion als Ausgangspunkt der Theologie andererseits sowohl das Lebensgefühl der Bürger, die je individuelle und sinnhaft-freie Unterwerfung unter ein starkes Allgemeines,¹⁵ die zunehmend wichtiger werdende Funktion der realen Geschichte für die persönliche Sinnfindung und die Aufrichtung des universalen Anspruchs der westlichen Zivilisation, aber auch die Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften (in ihrer Abtrennung von der Naturwissenschaft) sowie die zunehmend wahrgenommene Ausdifferenzierung der Gesellschaft auf den Begriff gebracht.
2.4 Historismus Seine unmittelbaren Zeitgenossen allerdings haben Ritschl so verstanden, als wenn er nur einen weiteren inhaltlichen Vorschlag dafür machen würde, wie Religion im Kontext des menschlichen Geistes zu verstehen sei.¹⁶ Insofern gerät seine Theologie in den Umkreis der positionellen Kämpfe, die die Theologie der Romantik 15 Vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983. 16 Vgl. zur Kritik z. B. O. Pfleiderer, Die Ritschl’sche Theologie kritisch beleuchtet, Braunschweig 1891. Eine polemische Skizze der Kritik aus der Sicht der Ritschlschule findet sich in W. Herrmann, Der Verkehr des Christen mit Gott: im Anschluss an Luther dargestellt, Stuttgart 1886, 1–20 (Einleitung).
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prägen. Erst in den 1870er Jahren kommt es zu einem Umschwung. Eine Reihe junger Theologen nimmt Ritschls Theologie als einen neuen Methodenvorschlag auf (Herrmann, Kaftan, Harnack, Kattenbusch, Häring, Wendt, Bender etc.). Sie übernehmen die Kritik an dem allgemeinen Religionsbegriff, sie nehmen auch die Orientierung an Jesus Christus auf und verstärken die Auszeichnung des Christentums als der eigentlichen Religion. Theologie ist nicht eine Unterart der Philosophie des Geistes, sondern eine eigene Beschreibung des christlichen Glaubens. Und der christliche Glaube ist etwas Eigenes, etwas nicht Konstruierbares, etwas der Theologie Vorgegebenes. Die Theologie wird dadurch zu einer Beschreibungswissenschaft für den Glauben, zu einer Wissenschaft, die empirisch-historisch das Christentum als Religion beschreibt. Die bei Ritschl angebahnte Ersetzung der Konstruktionsebene des allgemeinen Geistes durch die historisch erforschbare, aber doch auch selbst erst zu konstruierende Mentalität historischer Zeitalter wird fortgeführt. Das Wesen wird von einem spekulativ-bewusstseinstheoretischen zu einem historischen Begriff, der darin aber zugleich die Doppelkonstruktion der Theologie beerbt. Noch ein weiterer Punkt kommt hinzu. Glaube ist etwas Individuelles. Er ist eine Weise des Personseins, der freien Sinnstiftung und des innerlichen Erlebens. Dieser Sinn hängt weiterhin an der humanen, sittlichen Ausrichtung der Individualität. Insofern bleibt diese wissenschaftliche Theologie an die Allgemeinheit des Humanen, des sittlichen Geistes gebunden. Die Basis der Theologie des 19. Jahrhunderts wird noch nicht verlassen. Aber indem, insbesondere in Herrmanns Konstitutionstheologie des Glaubens, die Selbständigkeit des Glaubens stark betont wird, zeigen sich erste Momente einer neuen Theologie, einer Theologie im Kontext der Moderne. Wieder einmal verschiebt sich das, was Wahrheit in der Religion bedeutet. Es wird zu etwas Eigenem, rein Religiösem. Es gibt keine Referenz, keinen Bezug mehr, mit dem sich die im Inneren der Person empfundene Wahrheit von außen erklären ließe. Die Theologie kann den Glauben nicht ableiten oder einordnen, nicht als allgemeine menschliche Religion erklären. Sondern sie muss den bestimmten Glauben und seine Inhalte zusammen betrachten. Denn es ist gerade die Eigenart religiöser Inhalte (wie z. B. ‚Gott‘), nur für den Glauben sinnvoll zu sein. Diese eigene Form von religiöser Sinnstiftung gilt es wissenschaftlich-theologisch in eine Theorie zu bringen.
2.5 Moderne und Modernisierung Eine weitere, dritte Stufe der Kritik wird ab ungefähr 1890 in der Theologie geäußert. Religion wird jetzt als etwas grundsätzlich Eigenes beschrieben. Ihre Einbindung in die Sittlichkeit und in den idealen Geist wird in Frage gestellt. Dazu helfen auch religionsgeschichtliche Erkenntnisse über verschiedene (Ur‐)Formen der Re-
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ligion wie Animismus, Totemismus usw.¹⁷ Die Orientierung an allgemeinen Normen wird bestritten, es wird die individuelle Erfahrung und ihre Varietät beschrieben. Und es werden Inhalte der Religion zu denken möglich, die der Theologie bisher fremd waren: das Numinose, das Schweigende, Emotionale und Überwältigende, das Mystisch-Geisthafte oder das psychologisch Eigenständige. Damit wird eine neue Theologie entwickelt, die eigentlich als modern im oben genannten Sinn zu bezeichnen ist. Sie denkt nicht mehr von einem Allgemeinen, vom Menschen als Geistwesen aus. Sie bezieht Religion nicht mehr in die sittliche und humane Gesinnung ein. Sondern sie stellt die Religion als etwas Autonomes, eigenen Gesetzen Gehorchendes und in sich Vielfältiges dar. Für die Theologiegeschichte ist das wichtig. Denn dieses Denken ermöglicht erst den Übergang zur Generalkritik am Religionsbegriff. Die spätere Totalabgrenzung gegenüber dem 19. Jahrhundert ist nur möglich geworden, weil diese Theologie seit 1890 in der Folgezeit aktiv verdrängt wurde. Gerade im Hinblick auf die hier interessierenden Jahre zwischen den Weltkriegen ist zu bedenken, dass eine Reihe von Theologien nebeneinander stehen, die heute weitgehend unbekannt sind. Gegen das übliche Vergessen dieser Übergangsgeneration ist zu sagen: Die entscheidende Zeit einer Modernisierung der Theologie sind die Jahre zwischen 1890 und der nationalsozialistischen Machtergreifung. Die Wende nach dem Ersten Weltkrieg ist nur das Ende dieser breiteren Modernisierungsentwicklung in Richtung einer theoretischen Beschreibung von Religion als eines eigenen, in der modernen Gesellschaft stark ausdifferenzierten Sinnfelds. Schon den Zeitgenossen ist aufgefallen, dass sich um 1890 herum ein neuer Schub der Verwissenschaftlichung, aber auch der Neuorientierung in der Theologie ereignet.¹⁸ Die Generation der älteren Theologen glänzt mit großen, z.T. bis heute
17 Vgl. dazu H.G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997. 18 Vgl. W. Herrmann, Christlich-protestantische Dogmatik, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, Teil I Abt. 4, 2. Hälfte: Systematische christliche Religion, Berlin/Leipzig 1906, 129–189 (wieder abgedruckt in: W. Herrmann, Schriften zur Grundlegung der Theologie, Teil 1, hg. v. P. Fischer-Appelt, München 1966, 298–361; E. Troeltsch, Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft (1908), in: ders. Gesammelte Werke, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, (Neudruck der zweiten Auflage 1922) Aalen 1962, 193–226; W. Herrmann, Die Lage und Aufgabe der evangelischen Dogmatik in der Gegenwart, in: ZThK (1907) 1–33. 172–201. 315– 151, wieder abgedruckt in: ders., Schriften zur Grundlegung der Theologie, Teil 2, hg. v. P. FischerAppelt, München 1967, 1–87; sowie von den Jüngeren: H. Stephan, Die evangelische Dogmatik seit Schleiermacher, in: F.A.B. Nitzsch, Lehrbuch der Dogmatik, Tübingen 31912, hg. u. überarbeitet von H. Stephan, 30–62; R.H. Grützmacher, Die Theologie der Gegenwart, in: F.H.R. (von) Frank, Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere der systematischen, seit Schleiermacher, Erlangen/ Leipzig 41908, 377–532.
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maßgeblichen Gesamtdarstellungen der Geschichte. Neben ihr ersteht eine neue theologische Generation, die Generation der Wilhelminer. Historisch sind das die, die zur Generation Wilhelms II., der 1859 geboren wurde, gehören. Ein wichtiges Merkmal dieser Generation ist, dass sie aus Altersgründen noch nicht an den Kriegen der Reichseinigung aktiv teilgenommen hat. Manche machen diesen ‚Makel‘ später durch entschieden nationalistische Gesinnung wett, für alle aber gilt, dass das junge geeinte nationale Reich zum sozialen und kulturellen Orientierungspunkt des Denkens wird. Die Theologen dieser Generation sind bereits vom Studium an mit wissenschaftlichen Begründungsfragen und historischen Methodenüberlegungen konfrontiert, wie sie die Theologie bis heute kennzeichnen. Paul Wernles Einführung in das Studium der Theologie ist eine noch heute lesenswerte Sammlung aller modernen Probleme der Theologie.¹⁹ Am bekanntesten ist zweifellos die religionsgeschichtliche Schule und die Theologie Ernst Troeltschs. Die Frage, was das Wesen der Religion ist, was darüber hinaus eigentlich christlicher Glaube ist, welche Funktion er hat und welche gesellschaftliche Bedeutung, wird in einem offenbarungskritischen und konsequent historischen Feld neu gestellt. Die Individualisierung wird aufgenommen, aber als Pluralisierung religiöser Empfindungen verstanden. Auch die Sicht der Religionsgeschichte wird offener, sie läuft nicht mehr geradlinig auf das Christentum zu, sondern versteht dies als eine mögliche Sonderentwicklung. Neben der modernistischen Interpretation des Christentums als sittlich-individualistische Moralisierungsinstanz wird erkannt, dass die Tradition des Christentums auch unsittliche, irrationale, kultur- und fortschrittsfeindliche sowie kultische Elemente aufweist, die nicht begrifflich eingehegt werden können. Die Liturgie der Kirche wird zum Ort religiösen Erlebens. Mystik wird zum Schlagwort der Stunde. Zugleich versteht sich die Theologie jetzt auch als Anwalt einer zunehmenden unkirchlichen intellektuellen Öffentlichkeit. Freie Religionsstiftungen geschehen neben dem und außerhalb des Christentums. Seine historisch-empirische Erforschung, aber auch der Religionen insgesamt erweitert das Verständnis der abendländischen Kulturgeschichte. Die wissenschaftliche Theologie versteht sich als Speerspitze einer durchgehenden Historisierung aller geltenden Normen und gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die Einordnung des Christentums in den Bereich vorderorientalischer Religionen zersetzt die alte personal-sittliche Jesusorientierung. Geist und Gott werden neu entdeckt – jetzt aber nicht im Kontext des Bewusstseins oder des allgemeinen Geistes, sondern als die besonderen Markierungs- und Bezugspunkte des Eigenen von Religion. Christlicher Glaube ist nicht mehr auf allgemeine Sittlichkeit und Humanisierung der Welt ausgerichtet, sondern darauf, in besonderer Weise religiöses Erleben zu ermögli-
19 P. Wernle, Einführung in das theologische Studium, Tübingen 1908.
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chen. Psychologische Beschreibungen dieses Besonderen kommen auf. Glaubensinhalt und Glaubensvollzug gehören eng zusammen, es gibt keines von beidem ohne das und außerhalb des anderen, dieses Zusammenspiel in dem Erleben religiöser Gewissheit wird inhaltlich und formal beschrieben, zudem wird die Konstruktionsleistung solcher Beschreibungen durchsichtig gemacht. Eine Gesamteinschätzung dieser neuen theologischen Lage aber ist schwierig. Das stellen schon zeitgenössischen Beobachter fest. Zwei Elemente stehen nebeneinander und können nicht miteinander verbunden werden. Einerseits die durchgehende Historisierung der Religion, die zu einer Einordnung und Einebnung in die Kulturgeschichte führt. Dafür steht schon in der damaligen Wahrnehmung der Name Ernst Troeltsch, der in heutigen Theologiegeschichten oft allein die ganze Zeit vertreten muss. Anderseits: Eine zweite Suche nach neuer Erkenntnis bezieht sich auf das Wesen der Religion, damit auf das ursprünglich Religiöse am christlichen Glauben, das, was jenseits der jeweiligen historischen Gestalt der Überzeugungen, Werturteile und kulturellen Prägungen den eigentlichen religiösen Kern von ‚Glauben‘ ausmacht. Die großen Historiker des Christentums waren überwiegend noch der Meinung, man könne diesen Kern mit historischen Mitteln herauspräparieren, z. B. durch wirklichkeitsbezogene Forschung über Jesus Christus und das Urchristentum. Doch das ist, wie die Jüngeren zeigen, methodisch naiv. Den Kern des Glaubens zu bestimmen, erfordert immer eine systematisch-gedankliche Tätigkeit. Diese aber ist selbst eine zeitbezogene Entscheidung. Einen festen Kern der Religion gibt es nicht, er ist stetigem Wandel unterworfen. Gleichwohl muss jede/r ja wissen, dass er/sie glaubt – und knüpft so notwendig an überlieferte Gestalten von Religion an. Die Theologie sucht – methodisch reflektiert – danach, wie das Eigene der Religion, das auch der Kern des Christentums sein soll, beschrieben werden kann. Die Anerkennung des grundsätzlich Historischen der Kultur wird damit in Bezug auf Glauben und Religion systematisch brüchig. Der Gegenstand der Theologie ist dann etwas Neues, auch wenn es zum Teil weiter ‚Religion‘ genannt wird. Es ist keine Funktion des Geistes, kein letzter Grund jeder Persönlichkeit, keine Norm individuellen Lebens, sondern das Religiöse selbst, das religiös Überzeugende an den Glaubensgehalten, ihr unableitbares Einleuchten im Glaubensvollzug. Damit wird die moderne Ausdifferenzierung der Gesellschaft theologisch abgebildet. Theologen sind nicht mehr für das Ganze, für die Kultur insgesamt, für das letzte Ziel der Gesellschaft zuständig, sondern ‚nur‘ für die Beschreibung des Christentums und seines Glaubens. Allerdings: Dies bleibt zunächst mehr eine implizite Einsicht der Vorgehensweise und wird überall dort befolgt, wo es um das Wesen des Glaubens geht. Daneben kann man aktiv durchaus weiterhin an der Behauptung festhalten, dass jede historisch denkbare Gesellschaft religiös begründet, legitimiert und zielgerichtet sein müsse.
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3 Die Theologie der Weimarer Zeit 3.1 Ausdifferenzierung der Gesellschaft Der Erste Weltkrieg und sein Ende haben diese Erkenntnis nur vertieft. Nicht die Kriegsbegeisterung der national denkenden Theologen hat gezeigt, dass die Theologie neu gedacht werden muss. Das spielt – außer in den stilisierten Erinnerungen von Karl Barth – in den Diskussionen der 1920er Jahre gar keine Rolle. Vielmehr wird angesichts der neuen staatlichen Ordnung und der neuen politischen Lage nach 1918 von allen Theologen zugestanden, dass es nicht mehr die Aufgabe der Theologie ist, die neue Gesellschaft zu bestimmen. Theologen sind nur für die Religion und die Kirche zuständig. Und was das bedeutet, ist die Frage der 1920er Jahre. Wie ist das Verhältnis von Religion und Kultur, von Glauben und Menschsein, von Kirche und Staat zu denken, wenn als Ausgangspunkt feststeht, dass Religion etwas Separates, ganz Eigenes ist? Und wie ist dieses Eigene des Glaubens theoretisch auf den Begriff zu bringen? Was bedeutet die Forderung, dies Eigene theoretisch angemessen zu bedenken, für die Theorie selbst – also für die wissenschaftliche Theologie und ihr Selbstverständnis als Wissenschaft? Verschiedenste Vorschläge werden gemacht, verschiedenste Theorien und Gewährsmänner nebeneinander ausprobiert. Schon in den zeitgenössischen Beschreibungen wird konstatiert, dass die Grundüberzeugung, nämlich die Abgrenzung von dem alten Religionsbegriff, allen gemeinsam ist, dass aber keinerlei Einigkeit darüber besteht, wohin das theoretisch führt. Soll man Luthers Rechtfertigungslehre benutzen und daraus eine moderne Gewissensreligion machen? Oder nicht besser zu Schleiermachers Separierung der Religion von Moral und Denken zurückkehren und von ihm aus vorwärts denken? Soll man Ritschls Theologie in eine für die Gegenwart offene Handlungsethik umformen? Oder lieber von Ritschl ausgehend und die Historisierung seiner Schülergeneration aufnehmend die Geschichtlichkeit des Glaubens mit in seine Definition hineinnehmen? Soll man sich ganz auf eine phänomenologische Beschreibung aus der Innensicht des Glaubens beschränken? Man könnte, so meinen viele, verstärkt Kierkegaard aufnehmen – aber was, seine Kirchenkritik, seine Christusorientierung, seinen Ausgang aus der subjektiven Innerlichkeit oder seine Formulierungen des Glaubensparadoxes? Andere schlagen vor, zum Idealismus zurückzugehen und für die Formulierung des Theologischen absolute Reflexionsstrukturen zu verwenden. Wieder andere wollen den Glauben in Diastase zur Kultur bestimmen, dagegen manche ihn als eine mögliche Weltanschauung unter anderen fassen. Theozentrisches steht neben vertiefter Mystik des Heiligen Geistes, aber auch neben entschiedener Christozentrik. Doch trotz dieser Pluralität an konstruktiven Ideen – nimmt man die ebenfalls in den 1920er
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Jahren in dichter Folge entstehenden Selbstbeschreibungen der Theologen dieser Generation ernst, dann sind alle mehr oder weniger der Meinung, an demselben Problem zu arbeiten und die Theologie damit auf eine neue Stufe gehoben zu haben – nämlich einer präziseren und differenzorientierten Beschreibung des Glaubens als einer spezifischen menschlichen Geisteshaltung, die (auch wegen ihrer besonderen transzendenzbezogenen Gehalte) nicht durch Rekurs auf das Funktionieren anderer Vermögen und Fähigkeit erklärt oder verstanden werden kann.
3.2 Die Ausdifferenzierung der Religion In den 1920er Jahren erscheinen eine Reihe von Dogmatiken, die Grundlage dieser Einschätzung sind. Neben Wiederauflagen und Vorlesungseditionen älterer Ritschlianer (Kaftan, Häring, Herrmann, Wendt, Kirn) sind das die zum Teil umfangreichen Ausarbeitungen von Horst Stephan, Martin Rade, Georg Wobbermin, Karl Heim, Karl Girgensohn, Karl Bornhausen, Carl Stange, auch die etwas frühere Dogmatik Erich Schaeders wäre hier einzubeziehen. Dazu kommen eine Reihe grundlegender Beiträge zur Gegenwartstheologie, wie von Georg Wehrung oder Hans-Emil Weber. Damit sind nur die wichtigsten Theologen aufgezählt, und noch nicht einmal diejenigen, die der konservativen, konfessionellen, biblischen und kirchlichen Theologie zuzuordnen wären. Das Problem ist, dass diese Namen und Dogmatiken heute fast ganz unbekannt sind. Im Diskurs der 1920er Jahre hingegen werden sie als die weiterführenden Theorieentwürfe angesehen, und nicht die damals noch kaum erkennbaren Theologieprojekte der Jüngeren wie Karl Barth, Werner Elert, Paul Althaus oder Tillich mit seiner damals nicht gedruckten Dresdner Dogmatik. Die spätere Verwerfung mit der alles einebnenden Behauptung, alle diese Theologen hätten nur gezeigt, wie sehr von Gott abgewandt und auf den Menschen gekommen die Theologie der Vorkriegsjahre gewesen sei, wird weder der Situation in Weimar noch den Inhalten und Absichten der so Beschriebenen gerecht. Stellt man sich historiographisch ein auf die Sicht, die die Debattierenden selbst gehabt haben, dann wird man umgekehrt mit gutem Grund deren Selbstbeschreibung fortführen können. Zu keiner Zeit in der Geschichte der Theologie wurde so eng miteinander diskutiert, wurde so reflektiert mit Theorieentwürfen umgegangen, wurde so historisch fundiert geurteilt wie in dem produktiven Nebeneinander der verschiedenen Theologengenerationen in der Weimarer Zeit.
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3.3 Theologische Beschreibung der ausdifferenzierten Religion Zur Kennzeichnung der wahrgenommenen Arbeitseinheit beziehe ich mich auf die Glaubenslehre von Horst Stephan.²⁰ Dieser hat sich, was den Ausgang vom Glauben angeht, als Schüler Wilhelm Herrmanns verstanden, jedoch versucht er dies mit einer kultur- und gesellschaftstheoretisch weiten Sicht des Menschen in der Geschichte zu verbinden, wodurch er Anregungen von Ernst Troeltsch einbezieht. Seine Theologie geht von der Selbständigkeit des Glaubens aus. Eine anthropologische oder bewusstseinstheoretische Ableitung hat und braucht der Glaube nicht. Die Theologie ist dazu da, die inneren Glaubensgedanken darzustellen. Stephan geht davon aus, dass diese mit dem christlichen Glauben gegeben sind. Er versteht seine Theologie als eine intuitionsbezogene, phänomenologische Beschreibung des Christentums. In seiner Abweisung von Metaphysik und Philosophie, also in der Betonung der Eigenständigkeit von Religion und Theologie, meint er reformatorisches, schleiermachersches und ritschl-herrmannsches Erbe zu bündeln. Er erkennt in dieser Konzentrierung auf die interne Glaubensgedankenbeschreibung den gemeinsamen Fluchtpunkt der modernen Theologie. Schulunterschiede aus dem 19. Jahrhundert hätten sich in der Gegenwart zugunsten dieser einen Sachfrage aufgelöst. Diese Wahrnehmung Stephans ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie die modern-positive Theologie Seebergs, aber auch die verschiedenen zeitgenössischen Modernisierungen der Bibel-, der konfessionellen und der Erlanger Theologie in eine glaubenszentrierte Entwicklungsgeschichte der modernen Theologie einschreibt.²¹ Stephan lagert alle weltbezogenen Aussagen des Christentums bewusst aus in einen Anwendungsteil der Dogmatik. Dadurch kann es in dem glaubensbezogenen materialen Teil nicht zu Kollisionen mit der modernen Welt kommen. Liest man Stephans Dogmatik heute, so ist es allerdings genau dieses Nebeneinander von Religion und moderner Weltsicht, das theologische Nachfragen erzeugt. Welchen Anspruch auf Geltung hat das Christentum? Wie kann der Einheitsgedanke, den Stephan aus dem Idealismus aufnimmt, angesichts des Ausgangspunkts in der reinen Beschreibung aufrechterhalten werden? Welchen Status hat die Theologie als Wissenschaft? Starke inhaltliche Gegensätze und harter Widerspruch sind nicht einmal denkbar, da alle wirklichen theologischen Begründungsfragen mit Ver-
20 Vgl. H. Stephan, Glaubenslehre. Der evangelische Glaube und seine Weltanschauung, Gießen 1921; vgl. dazu M. Wolfes, Protestantische Theologie und moderne Welt. Studien zur Geschichte der liberalen Theologie nach 1918, Berlin/New York 1999, bes. 95–188. 21 Entsprechende starke Formulierungen hinsichtlich der Übereinstimmung der gegenwärtigen Theologie hinsichtlich Thema und Aufgabe finden sich von der konservativen bzw. biblischen Theologie aus z. B. W. Lütgert, Der Erlösungsgedanke in der neueren Theologie, Gütersloh 1928, Vorwort.
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weis auf die Existenz des Glaubens abgeblendet werden. Stephan hat dies genau als Vorzug betrachtet. Die Theologen kreisen gemeinsam um den Versuch einer selbstbezüglichen Beschreibung des Glaubens. Kirche, Religion und Frömmigkeit werden als existent vorausgesetzt. Diese von heute aus gesehen irritierende Naivität kann aus den damaligen Zeitumständen erklärt werden. Die Geltung der Religion musste nicht zur Debatte stehen, weil sie gesellschaftlich noch gegeben war. Ausdifferenzierung konnte so (noch) ohne Verlustängste beschrieben werden. Und dies geschieht, indem der Glaube nicht bewusstseinstheoretisch abgeleitet oder eingeordnet wird, sondern indem selbstbezogene religionspsychologische und phänomenologische Beschreibungen geliefert werden. Dadurch gewinnt die Religion an Eigenständigkeit in der Kultur. Wobei hier dazu zu sagen ist, dass die Einpassung dieser eigenständigen Religion in die Kultur über die sittliche Inhaltsbeschreibung und die Weiterführung der Reich-Gottes-Ausrichtung jederzeit gegeben ist. Es handelt sich, so könnte man zusammenfassen, um einen methodischen Fortschritt in der Wahrnehmung der Ausdifferenzierungsprozesse der modernen Gesellschaft in Bezug auf die Religion, aber noch nicht um eine grundsätzliche Öffnung für deren Problematik. Allerdings wird der methodische Fortschritt erkauft durch die unbegründete Voraussetzung des christlichen Glaubens und verliert dadurch den Anschluss an die moderne Wissenschaft. Geltungsfragen werden gerade nicht verhandelt, und als Phänomenologie ließe sich der Ansatz nur halten, wenn – was nicht geschieht – bewusst auf die anthropologische Allgemeingültigkeit des Glaubens oder der Religion reflektiert würde, anstatt dies einfach als gesellschaftlich gegeben hinzunehmen.
3.4 Die Bestimmung der Aufgabe der Theologie in der Gegenwart Noch ein letztes Wort zur theologiegeschichtlichen Einordnung der Jüngeren in den 1920er Jahren von dieser Warte aus. Die geübten Theologiebeobachter wie Horst Stephan haben durchaus gesehen,²² dass hier ein neuer Anspruch auftritt,
22 Vgl. z. B. F. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden, Gießen 1926; W. Koepp, Panagape. Eine Metaphysik des Christentums, Buch 1: Der Realismus des Glaubens, Gütersloh 1927; G. Wehrung, Die Haupttypen theologischen Denkens in der neueren Theologie, ZSyTh 2 (1924) 75–145; H. Stephan, Die evangelische Theologie. Ihr jetziger Stand und ihre Aufgaben (4. Teil: Die systematische Theologie), Halle 1928; A. Titius, Deutsche Theologie. Bericht über den ersten deutschen Theologentag, Göttingen 1928; Th. Odenwald, Protestantische Theologie. Überblick und Einführung, Berlin/Leipzig 1928; W. Thimme, Die gegenwärtige Lage der deutschen evangelischen Theologie, in: Die Christliche Welt 42 (1928) 833–841; P. Althaus,
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auch haben sie selbstkritisch gesehen, dass die behauptete Arbeitsgemeinschaft zum theologischen Verstehen des Glaubens durchaus nicht zu einer einheitlichen Theologie führt. Sie haben aber die Pluralität der Positionen als Reichtum der Möglichkeiten gesehen und darauf vertraut, dass dabei schon irgendwann irgendetwas Neues und Sammelndes herauskommt.Von da aus kommt es dann zu überaus generösen Beurteilungen der Jüngeren, sozusagen zu Angeboten der gemeinsamen theologischen Weiterarbeit. Die generationenbedingte schroffe Entgegensetzung, die die Jüngeren vor sich hertragen, wird hier als schlechter Stil eingegrenzt. Allein dies haben die Jüngeren schon als weitere Missachtung des von ihnen Gewollten verstanden. Es lässt sich sagen: Die Positionen der jüngeren Theologen werden im Diskurs der 1920er Jahre als eine mögliche, aber keineswegs als einzig mögliche Meinung interpretiert.²³ Und sie werden entschieden zurückgebunden an die theologische Entwicklung davor. Von Gott und seiner Offenbarung wird allenthalben gehandelt, dass sich der Glauben auf Gott als seinen eigentlichen Gegenstand bezieht, wird ebenfalls für selbstverständlich gehalten, das Religionsverständnis des 19. Jahrhunderts wird von fast allen als zu harmonistisch, zu bürgerlich, zu unhistorisch – und zugleich als historistisch – kritisiert, Rückgriffe auf Bibel und Reformation gibt es von verschiedensten Seiten. Die Theologie der Jüngeren wird eingestellt in den Kontext der Modernisierung der Theologie seit den 1890er Jahren. Denn mit dieser Modernisierung erfasst die Theologie den christlichen Glauben als ein in sich autonomes, eigenständiges, kulturell und geschichtlich nicht ableitbares oder von außen begründbares Geschehen.
4 Theologische Avantgarde 4.1 Theologische Abgrenzung Wie ist mit der Diskrepanz zwischen der von den jüngeren Theologen der ersten Nachkriegszeit inszenierten Brucherzählung und der von den älteren vorgeschlagenen Einheitserzählung der theologischen Fragestellung umzugehen? Im FolgenDie Theologie, in: C. Schweizer (Hg.), Das religiöse Deutschland der Gegenwart, Bd. 2: Der christliche Kreis, Berlin 1929, 121–150; G. Aulén, Das christliche Gottesbild in Vergangenheit und Gegenwart. Eine Umrißzeichnung, Gütersloh 1930. 23 Es ist zu bemerken, dass in der Neuauflage der Theologiegeschichte von Horst Stephan durch Martin Schmidt (H. Stephan, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie seit dem deutschen Idealismus, zweite neubearbeitete Auflage, Berlin/New York 1960) – neben den antisemitischen Ausfällen von 1937 – die entsprechenden kritischen bzw. eingrenzenden Passagen gestrichen wurden, z. B. 294 (erste Auflage).
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den soll eine Doppelstrategie vorgeschlagen werden. Inhaltlich wird die Arbeit an der theoretischen Erfassung der Selbständigkeit der Religion fortgesetzt. Damit wird die Rahmenerzählung der theologischen Bestimmung von Glauben und insofern das Paradigma des Religionsbegriffs als Gegenstand der Theologie beibehalten. Aber methodisch kommt es zugleich zu einem Umschlag: Indem die Religion eigenständig wird, wird auch die Wissenschaft, die sich mit der Religion beschäftigt – also die Theologie – zunehmend eigenständig. Es kommt zu einer bewussten Herauslösung der Theologie aus den anthropologisch und bewusstseinstheoretisch argumentierenden Wissenschaften. Die Theologie versucht sich als alleinige Wissenschaft für den Glauben zu profilieren, mit eigenen Grundsätzen und Kriterien. Auch damit werden Tendenzen fortgesetzt, die schon vorher da waren. Nur werden sie jetzt aufgenommen, radikalisiert und vereinseitigt. Es kommt dadurch zu einer verstärkten Ausdifferenzierung derjenigen Wissenschaften, die sich mit Religion befassen, und die Theologie grenzt sich ab gegen Religionsphilosophie, Religionspsychologie, Religionsgeschichte und Religionssoziologie. Die geistes- und kulturgeschichtlich allgemeine Autonomie- und Ausdifferenzierungswahrnehmung wird verschärft und anerkannt. Inhaltlich wirkt sich dies auf die Theologie aus, indem ihr als die ihr eigene Aufgabe zugeschrieben wird, eine neue Einheit der Gesellschaft zu konstruieren. Aber diese Einheit kann in Kultur und Gesellschaft nicht direkt – denn das würde ja die Ausdifferenzierung zurücknehmen –, sondern nur untergründig wirken. Die Debatten um das Verhältnis von Kultur und Religion im Anschluss an den Weltkrieg und den demokratischen Staatsbildungsprozess in Deutschland thematisieren die neue theologische Anerkennung der Ausdifferenzierungen und Modernisierungen der Gesellschaft. Gogartens Zwischen den Zeiten ist eine Absage an die Funktionalisierung von Religion für die neue Gesellschaft.²⁴ Im überlieferten Religionsbegriff liegen, trotz aller psychologischen, theologischen und pneumatologischen Neubestimmungen, zuviel kulturelle und philosophische Zusammenhänge. Eine eigenständige Theologie muss deshalb auf die Verwendung dieses Begriffs verzichten. Und – so die Aussageabsicht von Gogarten – bevor das, was diese eigenständige Theologie ist, nicht wirklich neu verstanden wurde, gibt es keine sinnvolle Mitwirkung der Theologie an dem notwendigen Neubau der Gesellschaft. Werner Elert kämpft aus konservativer Sicht für eine Loslösung der Religion von aller Kultur und diagnostiziert als Grundübel der Theologie des
24 Vgl. F. Gogarten, Zwischen den Zeiten [1920], in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der Dialektischen Theologie, Bd. 2, München 1963, 95–101, oder in: W. Härle, Grundtexte der neueren evangelischen Theologie, Leipzig 22012, 107–111.
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19. Jahrhunderts ihre Verbindung mit Philosophie und Kulturgeschichte.²⁵ Barths Tambacher Vortrag argumentiert theologisch, indem er eine christologische Sicht auf die Gesellschaft als die der Theologie aufgetragene Aufgabe inszeniert.²⁶ Bultmann beschreibt die inhaltliche Beziehungslosigkeit von Kultur und Religion, um dann – Herrmann aufnehmend – die Individualität des Glaubensvollzugs für den Kern der Religion zu erklären, mit dem sie auf dem Umweg über das existenzielle Selbstverhältnis des einzelnen Menschen dann doch kulturtragend werden kann.²⁷ In den Auseinandersetzungen um Barths Römerbrief kommt Bultmann schließlich mit Barth zu der Einsicht, dass Glaube theologisch nicht als ein Element von menschlichem Bewusstsein behandelt werden darf.²⁸
4.2 Tillichs theologische Religionstheorie In dem Entwurf seiner Kulturtheologie von 1919 vertieft Tillich die Autonomie der Kultur,²⁹ indem er sie mit einer ausschließlich theologischen Rahmenerzählung verbindet. Nicht mehr die Eigenständigkeit der Religion wird beschrieben, sondern ihre ‚Tiefe‘ im menschlichen Erleben, die aus der autonomen Kultur gerade nicht erreicht werden kann. Tillichs System von 1913 hatte zwar auch schon versucht, die je eigenen Funktionsweisen und die davon abhängige selbstzerstörerische Dialektik der autonomen Kultursphären Kunst, Wissenschaft, Recht und Staat sowie Religion zu beschreiben.³⁰ Aber es tat das im Ausgang von einer umfassenden Idee des Absoluten, welches sich in den modernen Konflikten dieser Gebiete zu sich selbst hin entwickelt. Die Kulturtheologie von 1919 radikalisiert die Idee der Autonomie der Kultur. Weil Tillich hier an der alten Ableitung der Kultursphären aus den Bewusstseinsvermögen festhält, fällt – dieser Gedanke ist von heute aus nicht mehr überzeugend – die Religion einerseits als ein eigenständiges Feld aus. Sie existiert und ist kulturell kenntlich in der Gegenwart nur aufgrund historischer Überhänge und tradierter Verhaltensweisen. Tillich nennt die Verwaltung und Selbstbe-
25 Vgl. W. Elert, Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921. 26 Vgl. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft [1919], in: ders.,Vorträge und kleinere Arbeiten 1914– 1921, hg. v. H.A. Drewes in Verbindung mit F.W. Marquardt, Zürich 2012, 546–598. 27 R. Bultmann, Religion und Kultur [1920], in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Bd. 2, München 41987, 11–29. 28 Vgl. dazu bereits Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, 35–37. 29 Vgl. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, EW IX, 13–31. 30 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie 1913, EW IX, 278–434.
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schreibung dieses historisch gegebenen Aspekts der Religion die ‚Kirchentheologie‘. Doch neben dieser traditionellen Kirchentheologie gibt es eine neue Theologie, die (wie Tillich vorschlägt) die Religion zu einem Strukturprinzip in aller Kultur erweitert. Die teleologische Funktion des Absoluten wird in die bewussten Akte des Menschen hineingedeutet und benennt eine ‚Tiefe‘ und ein ‚Meinen‘ in den menschlichen Bewusstseinsvollzügen, welches inhaltlich – also auf der kulturell wahrnehmbaren und reflektierbaren Ebene – gerade nicht aufweisbar ist. Mit der ‚Tiefe‘ ruht alle Kultur auf internen Entwicklungs- und Zeitstrukturen auf, die den durch das Absolute gesetzten Trend zur Realisierung alles Geschaffenen in ihm (aus dem System von 1913) aufnehmen. Die Temporalisierung wird dadurch nach innen verlagert und die ‚Nervosität‘ der Gegenwart als Strukturprinzip von Zeitlichkeit gedeutet. Sinn wird in der reflexiven Moderne nicht von angeeigneten Gehalten empfangen, sondern aus dem selbst beobachteten eigenen Umgang mit ihnen. Und damit steht dieser ‚Sinn‘ quer zu den internen Funktionssinnen der verschiedenen kulturellen Betätigungen, die immer Welt und damit Inhalt betrachten, ordnen oder gestalten. Der damit gegebene (bzw. besser: theologisch konstruierte) religiöse Sinn in aller Kultur ist aber nur außerhalb der kulturellen Systeme in einer speziell theologischen Betrachtung als solcher zu erkennen. In dieser Betrachtung setzt sich einerseits die überlieferte Theologie mit ihrer Suche nach dem Eigenen der Religion jenseits der kulturellen und geistigen bzw. sittlichen Funktionen fort, andererseits wird diese Theologie jetzt radikal verallgemeinert zu einer Diagnostik der Gegenwartskultur. Sie beschreibt die Krise als Autonomisierung, als zunehmende Eigengesetzlichkeit der einzelnen Kulturfelder. So versucht Tillich dann zum Schluss doch, die zerfallende Kultur unter die Idee einer Einheit zu bringen – allerdings eine solche Einheit, die eben nur theologisch zu erfassen ist. In allem geschichtlichen Schaffen der Menschen liegt (in der ‚Tiefe‘ bzw. in einem ‚Meinen‘) Glaube, der so zum Repräsentationsort der Werdestruktur geschichtlicher Zielbestimmung der Schöpfung wird. Die Kirche hat die Aufgabe, diesen Glauben reflexiv zu sammeln, zu benennen und sichtbar zu machen. Ob es Tillich gelingt, diese Aspekte zu einer geschlossenen Theorie zusammenzubringen, ist hier nicht entscheidend. Wichtig ist, dass er mit dem Umschwung von der Absolutheits- zur Sinntheorie sich der Analyse von Glaubensakten anschließt. Und dass er darin einerseits die Autonomiediagnose für die Gegenwart radikalisiert, die er dann doch andererseits theologisch in eine Einheitstheorie bringt. Diese Einheit ist außerhalb der Theologie (durch philosophische, kulturgeschichtliche, soziologische oder psychologische Erkenntnisse) weder sichtbar noch kontrollierbar. Und damit wird in Tillichs Kulturtheologie trotz der kulturphilosophischen Allgemeinheit der Struktur dann doch die Theologie als eine selbständige Form der Erkenntnis und der Konstruktion er-
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neuert.³¹ Theologie lebt nicht durch den Bezug auf die Religion und den vorgegebenen Glauben, wie es bei Stephan der Fall war. Ihre Eigenständigkeit ist nicht einer Eigenständigkeit ihres Gegenstandsfeldes in der Kultur geschuldet, also nicht dem erkennbaren Vorhandensein eines reformatorisch-protestantischen Glaubens in ebensolchen Kirchen. Sondern Theologie konstituiert sich als eigene Form konstruktiven Umgangs mit der unsichtbaren Religion. Sie stellt erst her, was als Religion gelten und insofern gültige Religion sein soll. Dies, so wird hier behauptet, ist gerade das theologische Selbstbewusstsein, dass die jüngeren Theologen in den 1920er Jahren auszeichnet und antreibt. Es ist das untergründige Setzen auf eine eigenständige Theologie, die gegenüber der bewusstseinsorientierten Theologie etwas Neues, Eigenes herstellt. Und es ist genau dieser Aspekt der theoretischen Weiterentwicklung der Theologie, den die Älteren (wie oben an Stephan gezeigt) nicht ‚verstanden‘ haben bzw. jederzeit in das alte Deutungsschema der Theologie wieder eingezogen haben.
4.3 Die Eigenständigkeit der Theologie als Wissenschaft Die Modernisierung der Theologie in den 1920er Jahren erfasst über die Selbständigkeitserklärung für die Religion auch die Theologie selbst. Die Theologie wird auf der Wissenschaftsebene zu einer neuen Theologie. Sie formuliert das, was Religion für den Menschen ist, in eigener theologischer Hoheit. Theologie ist keine Geschichtswissenschaft, egal ob sozial- oder kulturgeschichtlich orientiert. Theologie ist keine philosophische Anthropologie. Theologie ist auch nicht Teil einer Soziologie der Gegenwartsgesellschaft. Sondern im Kern, so wird der Aufbruch der Theologie im 20. Jahrhundert hier gedeutet, ist die Theologie eine eigene Wissenschaft, die mit ihren eigenen Darstellungsmitteln die Religion des Menschen deuten und konstruieren soll. Damit nimmt sie sowohl erkennbar den Diskussionsstrang um die Selbständigkeit der Religion aus dem 19. Jahrhundert auf, indem sie ihn radikalisiert. Andererseits wird deutlich, warum die jüngeren Theologen nach dem Ersten Weltkrieg meinten, eine ganz neue Theologie – als eine nur auf sich selbst bezogene und sich so von den Geistes- und Kulturwissenschaften abgrenzende Theologie – zu entwickeln. Den autonomen Glauben zu verstehen, zu erklären und zu begründen wird zu einem eigenen Geschäft. Theologie ist eine eigene Hermeneutik der Sinnhaftigkeit des Glaubensgeschehens, wie die Literaturwissenschaft im Kern als eine Wissenschaft von der ‚Literarizität‘ der Literatur beschrieben wurde. Damit ge-
31 Vgl. dazu P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 109–123.
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schieht etwas neues, denn jetzt ist nicht mehr Religion oder Glaube der Bezugspunkt der Theologie. Sondern das spezifisch theologische Verständnis von Religion, das sich als eigene Sprache abgrenzt von anderen wissenschaftlichen Zugriffen. Die Theologie bezieht sich nur noch auf ihre eigene Rede von Religion, sie wird Theologie zweiter Stufe: Der Gegenstand der systematischen Theologie im 20. Jahrhundert ist die Theologie.
4.4 Tillichs Dresdner Dogmatik Damit soll noch ein Blick auf Tillichs in Marburg begonnene und in Dresden beendete Dogmatik geworfen werden.³² Einerseits ist die Anknüpfung an die vorherige Theologie zu beschreiben. Andererseits ist herauszustellen, was hier theologisch Neues ausprobiert wird. Anknüpfung geschieht, indem nach einer eigenständigen religiösen Sachebene gesucht wird, die theologisch beobachtet wird und deren Allgemeinheit theologisch begründet werden kann. Hier grenzt sich Tillich von rein phänomenologisch-psychologischen, beschreibenden Ansätzen ab und betreibt Theologie als ‚Angriff‘ auf die gesamte Kultur,³³ d. h. als eine bessere theologische Begründung ihrer Grundlegung. Die systematische Theologie konstruiert die christliche Religion als symbolische Bebilderung der temporalisierten Grundlegungsstruktur. Das Christentum bewahrt die Erinnerung an die religiöse Funktion Christi und die Bedeutung seines Todes. Dieser Moment der Geschichte – also ihre Reflexivität auf ihre Unhintergehbarkeit im gleichzeitigen Wandel der Inhalte – ist eine Tatsache, eine Wirklichkeit oder ein Faktum, das als deutungsresistent verstanden wird, weil es die Struktur jeder möglichen Deutung selbst enthält. Kreuz und Auferstehung stehen für die Bindung an das konkrete Leben in der Geschichte, also notwendige Konkretheit und deren grundlegende Kontingenz, dann aber für die Sinnhaftigkeit und Sinndurchsichtigkeit in dieser geschichtlichen Verbindung von Konkretion und Kontingenz, die nur als reflexive offenbarende Erschließung sich ereignet. Diese Gesamtstruktur geschichtlichen Lebens in seinen einzelnen Akten geht ein in eine Religionskultur, die an sich selbst die Reflexivität der Geschichte durchführt und deren historisches Wesen es ist, in ihrem Bestehen kritisch gegen sich selbst zu sein. Darin unterscheidet sich die Religion von jedem anderen, in sich autonomen Be-
32 P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), EW XIV. 33 Vgl. den Briefwechsel mit E. Hirsch von 1917/1918 und die darin enthaltenen Stellungnahmen beider zu Rudolf Ottos Buch ‚Das Heilige‘, EW VI, 95–136. Dazu C. Danz, Das Dasein Gottes und die Religionspsychologie. Paul Tillichs Berliner Antrittsvorlesung vom 24. Januar 1919, in: C. Danz [u. a.], Liminal Spaces and Ethical Challenges. International Yearbook for Tillich Research 15 (2021/2022), 141–160.
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standteil der Kultur: Hier – also im Wissen, im Recht, in der Politik, der Kunst etc. – geht es nicht in erster Linie um die Kritik, sondern um die positive Gestaltung des Lebens. Damit zugleich ist gesagt, dass die Theologie zur Bestimmung des Eigenen der Religion nicht auf kulturphilosophische oder anthropologische Konzepte zurückgreifen muss. Denn die Historizität des selbstkritischen Moments – Christus am Kreuz – ist ein unverfügbarer Gegenstand des Glaubens. Tillich kann dazu auf entsprechende christologische Gegensatzkonzepte – z. B. bei Karl Heim – zurückgreifen und sie weiterentwickeln. Was die theologische Neuerung betrifft: Sie besteht darin, dass die Theologie die Eigenständigkeit der Religion radikal verallgemeinert und (deshalb) zugleich nur in eigener Regie konstruiert. Damit wirkt die Ausdifferenzierung der autonomen Teilbereiche der Gesellschaft auf die Theologie als Wissenschaft zurück: Indem Theologie die Eigenständigkeit der Religion beschreibt, ist sie selbst ebenfalls nicht geisteswissenschaftlich oder kulturgeschichtlich einzuordnen. Das Eigene der Religion kann nur in der Theologie adäquat erkannt werden. Nur die Theologie wiederum beschreibt dieses Eigene so, dass es als Religion erkennbar wird. Und nur so kann die Theologie als Angriff neu formuliert werden, indem sie eine ‚Tiefe‘ der Bewusstseinskonstellationen beschreibt, die auf der ‚Oberfläche‘ der autonomen, inhaltsgesteuerten Systemfunktionen nicht erkennbar ist. So wird die strikte Allgemeingültigkeit der Theologie festgehalten: Sie erkennt die allen Bewusstseinsakten zu Grunde liegende geschichtlich-teleologisch-reflexive Struktur, behauptet sie aber gerade als eine Tiefe, die anderen (auch systemimmanent selbstkritisch-reflexiven) Erkenntnisweisen nicht erschlossen sei. Während es in der Theologie des 19. Jahrhunderts darum geht, das Eigene der Religion so zu beschreiben, dass die Theologie ihren Status im Bereich der historisch-philosophisch arbeitenden Wissenschaften behält und rechtfertigt, wird diese Einbindung jetzt aufgegeben. Der Gegenstand der Theologie ist dadurch nicht mehr die menschliche Religion, sondern die allgemeine Konstruktivität der Theologie für die Religion. Theologie bezieht sich auf Theologie, indem sie so definiert, was Theologie sein soll. Zwischen der Ebene des Glaubens und seiner Beschreibung in der Theologie etabliert sich so neu ein Implizierungsverhältnis. Die Theologie holt dies ein, indem sie sich selbst als Verlängerung des Glaubens, als seine Sachbeschreibung und sich selbst ebenfalls ausgerichtet auf die Glaubenswahrheit versteht. Die allgemeine anthropologische Tiefenebene des Bewusstseins ist so nur die von Tillich inhaltlich gewählte Weise, diese Neubestimmung der Theologie durchzuführen. Das erklärt dann auch, warum seine Theologie in den 1960er Jahren als theologische Kulturtheorie breit rezipiert werden konnte: Sie bietet eben nicht eine radikale Alternative zur dialektischen Theologie, sondern ist nur eine Variante der neuen auf sich selbst bezogenen Theologie.
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Neben der so beschriebenen Erneuerung der Theologie für das 20. Jahrhundert ist noch ein spezifischer Aspekt der Weimarer Jahre zu nennen, der sich in Tillichs Dresdner Dogmatik spiegelt, die Geschichtlichkeitsreflexivität. Die Christologie insbesondere, aber mit ihr die Theologie insgesamt wird von Tillich hier als Geschichtstheologie verstanden. Das Verhältnis der Religion zur Geschichte steht mit der neuen Theologie in besonderer Weise zur Debatte. Denn die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts hat die Geschichte und die geschichtliche Entwicklung des menschlich-zivilisatorischen Bewusstseins als Rahmen auch für die Religion und ihre Entwicklung verstanden. In der Geschichtsreflexion wird diese frühere Abhängigkeit der Theologie zur Sprache gebracht und kritisch verarbeitet. Die theologisch zu beschreibende Geltung der Religion soll deshalb ihre Unabhängigkeit von der Geschichte verständlich machen. Dazu dient bei Tillich die Zentrierung mit Hilfe des Kreuzesgeschehens. Hier ist die Kritik an sich selbst als historischem Geschehen geschichtlich ausgedrückt. Das Kreuz negiert, indem es sich ereignet, gerade seine eigene Einbindung in die Geschichte und wird dadurch zu einem allgemeinen Strukturmoment des Geschichtlichen. In der religiösen Deutung des Kreuzes wird dieser Moment des Geschichtlichen deshalb gerade nicht übergangen, sondern auf Dauer gestellt. Die Präsenz des Kreuzes ist geschichtlich unhintergehbar – und gerade dadurch strikt allgemein. Die Kritik an der Inhaltsbindung von Sinn wird im Kreuz Christi real. Die Dogmatik beendet die Suche nach einer idealistischen Geschichtsphilosophie, indem sie das existenziale Erleben von Geschichtlichkeit an ihre Stelle setzt. Die Krisenwahrnehmung Weimars führt zur gesteigerten Temporalisierung theologischer Grundlegungen. Hier ist auch an Paul Althaus’ Theologie des Glaubens, Barths ersten Römerbrief, Hirschs Innenverlagerung der Reich-Gottes-Idee, Bultmanns an Heidegger und Kierkegaard angelehnte Zeitlichkeitsdeutung der Eschatologie oder an Georg Wehrungs Analysen der Geschichtlichkeit des Glaubens zu denken.³⁴ Der spätere Übergang aller Genannten – mit Ausnahme Wehrungs – zur ausführlichen dogmatischen Darstellung nimmt
34 P. Althaus, Theologie des Glaubens, in: ZSTh 2 (1924/25) 281–322; ders., Theologie und Geschichte. Zur Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie, in: ZSTh 1 (1923/24) 741–786; K. Barth, Der Römerbrief. (Erste Fassung) 1919, hg. v. H. Schmidt, Zürich 1985; E. Hirsch, Deutschlands Schicksal. Staat, Volk und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht, Göttingen 1920; ders., Die Reich-Gottesbegriffe des neueren europäischen Denkens. Ein Versuch zur Geschichte der Staatsund Gesellschaftsphilosophie, Göttingen 1921; R. Bultmann, Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums [1928], in: ders., Glaube und Verstehen, Bd. 1: Tübingen 1933, 134–152; G. Wehrung, Geschichte und Glaube. Eine Besinnung auf die Grundsätze theologischen Denkens, Gütersloh 1932. Eine eigenständige, aus der intensiven Schleiermacherbeschäftigung der frühen 1920er Jahre abgeleitete Geschichtlichkeitsreflexion findet sich bei R. Hermann, Zur Frage der Zeitlichkeit des Erkennens, in: ZSyTh 9 (1931/32) 93–114; ders., Das Wissen und seine Welt in der Zeitlichkeit des Seins, in: ZSyTh 10 (1933) 535–588.
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diesen Temporalisierungsdruck aus der Theologie und führt zu Herauslösungen der Theologie aus der Autonomisierungs- und Krisendebatte der 1920er Jahre.
5 Modernisierung der Theologie in den 1920er Jahren Abschließend seien folgen Aspekte der Veränderung der Theologie zwischen den Weltkriegen in Deutschland noch einmal genannt.
5.1 Kritik am Religionsbegriff Es vollzieht sich eine fortschreitende und radikalisierte Kritik am Religionsbegriff im Sinne einer Autonomisierung des religiösen Feldes. Das heißt, die Bindung der Theologie an den Religionsbegriff wird kritisiert, um immer stärker sowohl die inhaltliche Eigenständigkeit der Religion als auch damit dann zusammenhängend der Theologie beschreiben zu können. Nicht ‚Religion‘ wird darin kritisiert, sondern die Bindung der Theologie an einen solchen Religionsbegriff, der nicht mehr den Erfahrungen der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Autonomie ihrer Systeme entspricht. Darin sind sich alle Jüngeren in den 1920er Jahren einig. Da Religion in einer durch den Menschen vollzogenen, kulturell gegebenen Deutung besteht, wird die Kritik an diesem Religionsbegriff in massive Wirklichkeitskonstruktionen für den ‚Gegenstand‘ der Religion verkleidet. Ontologie des Glaubens, Objektivität Gottes oder der Offenbarung, alles bestimmende Wirklichkeit oder Unbedingtheit und Absolutheit (und wie die Angebote alle heißen): Sie stehen für die Weigerung, Religion als einen bewussten Akt nach der Struktur anderer Bewusstseinsvermögen, nämlich seinen Inhalt in eigener Hoheit setzend, zu begreifen. Der Glaube ist an seinen Gott gebunden, und gerade das macht die Eigenständigkeit der Religion bzw. des Christentums als der ‚eigentlichen‘ Religion aus. Hier sind die entwicklungsmäßigen Rückbezüge auf Ritschl und seine Schüler deutlich. Die Beschreibung und Begründung von Glauben ist das Zentrum der Theologie.
5.2 Eigenständigkeit der Theologie und Allgemeinheitsanspruch Theologie als Wissenschaft verändert sich gerade dadurch, dass die Eigenständigkeit der Religion als eines eigenen autonomen Systems der Gesellschaft radikal
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gedacht werden soll. Die Theologie wendet um den Ersten Weltkrieg herum diese Autonomie als Begründung ihrer eigenen Eigenständigkeit als Wissenschaft. Sie löst sich von der (spekulativen) Geistphilosophie, aber auch den historischen Geistesund Kulturwissenschaften. Diese Loslösung ist der gemeinsame Grund aller Modernisierung der Theologie zwischen 1890 und 1933. Doch obwohl diese Autonomie für die Theologie selbst unbedingt eingefordert wird und sich in der Folge unangefochten durchsetzt, werden die allgemeinen gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Autonomisierung in den 1920er Jahren als Krise gesehen. Kaum ein Theologe hat die Weimarer Republik und ihren Versuch eines politischen Verfahrensausgleichs von Interessenkonflikten, die stark zunehmende gesellschaftliche Pluralisierung und die damit zunehmende Verdrängung der Religion durch modernere Weltanschauungsformen geschätzt und ausgehalten. Die Autonomie der Religion wurde ebenso strikt gefordert wie ihre gesellschaftliche Marginalisierung abgelehnt. Das führte zu dogmatischen Entwürfen, die den bleibenden Allgemeinheitsanspruch der Theologie auf subtile Weise mit ihrer Selbständigkeit verbinden – oder umgekehrt, die die Selbständigkeit des religiösen Feldes gerade dadurch verstärken wollen, dass sie die bleibende Allgemeingültigkeit der Religion jenseits der vordergründigen Teilhabe der Glaubenden konstruieren. Karl Barth ging an dieser Stelle so vor, dass er die Allgemeingültigkeit als Moment der Selbsterschließung Gottes selbst konstruierte. Dadurch wurde der Unterschied von Theologie und Religion eingezogen und die tätige Konstruktion der Theologie als ‚sachgemäßer‘ Ausfluss der Offenbarung ausgeben. Die Reflexion darüber wurde verhindert, indem die Anerkennung als religiöses Moment der Theologie selbst dargestellt wurde.
5.3 Der theologische Zugriff auf Religion Deshalb wies der theologiegeschichtliche Weg auf die Loslösung der Theologie von der Religion als einem vorgegebenen Gegenstand der Kultur, auf die Trennung der Theologie von Kirche, Tradition, Institution und Konfession. Theologie definiert Religion als ihren Gegenstand in eigener Gestaltungskraft. So ist nicht mehr der gegebene Glaube der Ausgangspunkt der Theologie, sondern er wird erst in ihr konstruiert als ein Ergebnis der christologisch-pneumatologischen Offenbarung. Bei Tillich wird dieser Glaube verstanden als Sinnreflexion in allen kulturellen Akten, allerdings indem zugleich betont wird, dass er für diese kulturellen Akte selbst aber nicht als Glaube identifizierbar sei. Vielmehr ist er in den autonomen Kulturgebieten immer nur mitgemeint. Damit wird die Systematische Theologie zu einer eigenen Wissenschaft, die sich nur auf ihre Definition von Glauben bezieht und sich so grundsätzlich von der Theologie des 19. Jahrhunderts abgrenzt.
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5.4 Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Theologie Die Modernisierung der Theologie als einer Wissenschaft ist ebenso wie die Modernisierung der Gesellschaft als ein Ausdifferenzierungsprozess zu betrachten. Das Bewusstsein davon prägt die Theologie der 1920er Jahre, auch im Sinne einer starken internen Pluralisierung. Man kann die zugespitzte Suche nach Selbständigkeit als Beweis der Modernisierung der Theologie auffassen. Insofern diese Selbständigkeit aber die Abgrenzung der Theologie von der Moderne zu verlangen scheint, ist die Abgrenzung und Gegen-Modernität der Theologie gerade als Weg der Theologie in der Moderne zu deuten. Die theologische Kritik an der Moderne gibt es im besprochenen Zeitraum in vielen Fassungen, welche sich auf verschiedene Momente der Theologie des 19. Jahrhunderts beziehen können, die zumeist aber als Kritik an ‚Religion‘ – also als Kritik an der kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Verfasstheit von Theologie – dargestellt werden. Die Modernisierung der Theologie kann deshalb sowohl über ein einheitliches Konstruktionsprinzip verstanden werden wie auch als weitergehender Prozess der Pluralisierung der Theologie beschrieben werden. Die Theologie Tillichs, seine Abgrenzung vom Religionsbegriff, seine Formulierung der Dogmatik als Angriff im Sinne einer fundamentalen Anthropologie und die geschichtsphilosophische Deutung des Kreuzes Christi ist eine der Varianten der selbststabilisierenden Reflexion des – die Theologie modernisierenden – Ausdifferenzierungsprozesses. Von heute aus gilt es, die Weimarer Zeit als Laboratorium der Modernisierung der Theologie zu deuten, in der verschiedene Stufen der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und ihrer theoretischen Erfassung in der Theologie nebeneinander stehen.
Christian Danz
Theologische Intellektuellen-Diskurse in der Weimarer Republik Protestantismus und moderne Gesellschaft bei Friedrich Gogarten und Paul Tillich Die moderne Gesellschaft ist die autonome und profane Entwicklungsstufe der christlichprotestantischen Gesellschaft. Darin liegt Einheit und Gegensatz beschlossen. Darin ist zugleich die völlige Unsicherheit begründet, in der beide zueinander stehen: ein Hin- und Herschwanken zwischen Ja und Nein, zwischen Identifikation und Widerspruch. (GW X, 103)
Mit diesen Worten taxierte Paul Tillich in seinem Vortrag Das Christentum und die moderne Gesellschaft, den er 1928 in der Zeitschrift The Student World publizierte, das komplexe Verhältnis von Protestantismus und moderner, autonomer Kultur. Einerseits fuße diese auf dem Protestantismus, verdankt ihre Entstehung also der religiösen Entwicklung. Andererseits habe sich die moderne Gesellschaft in ihrer Entwicklung von ihren religiösen Wurzeln emanzipiert, so dass Protestantismus und moderne Kultur in einen Gegensatz getreten sind. Diese Gemengelage stehe im Hintergrund der umstrittenen und hart umkämpften Deutungen des Wesens des Protestantismus in den zeitgenössischen Kontroversen der 1920er Jahre, die zwischen Identifikation und Widerspruch von Christentum und moderner Kultur changieren. Tillichs Beschreibung des Verhältnisses von Protestantismus und moderner Kultur setzt ersichtlich die Analysen der Genese der stahlharten Gehäuse der okzidentalen Rationalität voraus, die Max Weber und Ernst Troeltsch um 1900 ausgearbeitet haben.¹ Doch er folgt nicht einfach nur ihren Arbeiten zum Verhältnis von Protestantismus und moderner Welt, sondern er gibt sowohl dem Protestantismus als auch seiner Entwicklungsgeschichte eine andere und neue Begründung. Diese fand ihren zusammenfassenden Ausdruck in der Protestantismustheorie, die Tillich 1929, am Ende seiner Dresdner Zeit im zweiten Buch des Kairos-Kreises Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung publizierte.² Anliegen des Sammelbandes
1 Vgl. hierzu C. Danz, Disintegrated World. Paul Tillich’s Interpretation of Modernity in the 1940s, in: H. Schelkshorn/H. Westerink (Hg.), Religiöse Erfahrung, säkulare Vernunft und Politik um den zweiten Weltkrieg (im Druck). Der Beitrag entstand im Rahmen des vom FWF (Austria) geförderten Internationale Joint Project „Edition of Paul Tillich’s Correspondence (1887–1933)“ (I 4857-G). 2 Vgl. P. Tillich (Hg.), Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Zweites Buch des Kairos-Kreises, Darmstadt 1929. https://doi.org/10.1515/9783111264332-017
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sei es, wie es in dem von ihm verfassten Vorwort heißt, zu zeigen, „daß der Protestantismus nicht an seinem Ende steht, sondern daß in ihm, gerade in ihm, das Prinzip der Neugestaltung seiner selbst und der autonomen Kultur liegt“.³ Die systematische Ausarbeitung seiner Protestantismustheorie bildet ohne Frage einen Schwerpunkt seiner Dresdner Jahre. Sie führt bewusstseins-, religions- und kulturtheoretische Überlegungen in der Konstruktion des protestantischen Prinzips zusammen, die sich in seinen Texten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs finden.⁴ Doch Tillichs Deutung der Rechtfertigung allein aus Glauben als einem sowohl kritischen als auch gestaltenden Prinzip stellt nicht nur eine Bündelung von früheren Überlegungen dar. Es ist auch das Resultat der Auseinandersetzung und Absetzung von alternativen Protestantismusverständnissen in den IntellektuellenDiskursen der 1920er Jahre. Mit seiner Fassung des protestantischen Prinzips bezieht er sich kritisch auf die Protestantismusdeutung Friedrich Gogartens, die dieser in seinen Schriften aus der Mitte der 1920er Jahre vorgelegt hatte.⁵ Tillich setzte sich bereits 1923 in den Theologischen Blättern mit Friedrich Gogartens und auch mit Karl Barths neuen erkenntniskritischen Theologien auseinander und hatte ihrem kritischen Paradox ein positives an die Seite gestellt, welches als Grundlage von jenem fungieren soll.⁶ In seiner knappen Antwort auf 3 P. Tillich, Vorwort, in: ders. (Hg.), Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Zweites Buch des Kairos-Kreises, Darmstadt 1929, IX–XI, hier: XI. 4 Bekanntlich war es bereits die Intention der 1919 verfassten Skizze Rechtfertigung und Zweifel, ein Verständnis des Prinzips des Protestantismus auszuarbeiten, welches zugleich Grundlage der autonomen Kultur sein könne. Vgl. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, EW IX, 128–185 (1. Version), hier: 135 f. Zu Tillichs Protestantismusverständnis vgl. auch U. Barth, Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs, in: C. Danz/ W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin/ Boston 2011, 14–37. 5 Mit keinem anderen Theologen hat sich Paul Tillich während seiner Dresdner Zeit so auseinandergesetzt, wie mit Friedrich Gogarten. Vgl. P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), EW XIV. Ebenso hat sich Gogarten in seinen Texten auf Tillich bezogen.Vgl. F. Gogarten, Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glaube und Geschichte, Jena 1926; ders., Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928. Zu Gogartens Kontoverse mit Tillich vgl. A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 119 f. Zu Gogartens Theologie vgl. F.W. Graf, Friedrich Gogartens Deutung der Moderne. Ein theologiegeschichtlicher Rückblick, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 4 (1989) 169–230; C. Danz, Reformation, Neuzeit und die ethische Bestimmtheit des Glaubens. Überlegungen zur Lutherdeutung von Ernst Troeltsch und Friedrich Gogarten, in: ders./R. Leonhardt (Hg.), Erinnerte Reformation. Studien zur Luther Rezeption von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, Berlin/New York 2008, 259–279; D.T. Goering, Friedrich Gogarten (1887–1967). Religionsrebell im Jahrhundert der Weltkriege, Berlin/Boston 2017. 6 Vgl. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, GW VII, 216–225, hier: 225: „Die Theologie des kritischen Paradox, die sich nicht nur dialektisch, sondern real unter das Paradox stellt, wird eben damit zur Theologie des positiven
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Tillichs Vorschlag wies Gogarten (ebenso wie Barth) dessen Behauptung, dem kritischen Paradox liege ein positives zugrunde, zurück und lehnte diese als eine nicht genügend erkenntniskritische und mithin metaphysische Voraussetzung ab. Ausgangspunkt der Theologie sei die Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus, doch diese sei kein positives Paradox.⁷ In der weiteren Ausarbeitung seiner Theologie in den 1920er Jahren hat Tillich auf diese Kritik sowohl mit der Einführung der Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung als auch mit einer Neufassung des Protestantismus als Kritik und Gestaltung reagiert.⁸ Dabei führt er Elemente seiner älteren Protestantismusdeutung weiter, welche der Kontroverse in den Theologischen Blättern zugrunde liegen, verbindet diese jedoch mit dem neuen Leitkonzept der Gestalt der Gnade, das nun an die systematische Funktionsstelle des vormaligen positiven Paradoxes aus dem Jahre 1923 tritt. Mit der Kontroverse über das Verständnis des Protestantismus und sein Verhältnis zur modernen Kultur zwischen den Religions-Intellektuellen Tillich und Gogarten ist das Thema der nachfolgenden Ausführungen benannt. Ihre Gliederung ergibt sich aus dem angedeuteten problemgeschichtlichen Horizont von Tillichs Deutung des Protestantismus. Einzusetzen ist mit Friedrich Gogartens Protestantismusverständnis aus der Mitte der 1920er Jahre, die dieser nicht nur in Absetzung von dem Ernst Troeltschs, sondern auch dem Tillichs ausgearbeitet hat. Im zweiten Abschnitt geht es um Tillichs Auseinandersetzung mit Gogartens Deutung des protestantischen Glaubens als einem ethischen Wirklichkeitsverständnis. Abschließend ist Tillichs eigenes Verständnis des Protestantismus als einem kritischen und gestaltenden Prinzip zu diskutieren, mit dem er nicht nur – wie es in dem oben zitierten Vorwort des zweiten Kairos-Bandes hieß – eine Neugestaltung des Protestantismus, sondern auch der autonomen Kultur der Moderne verbindet.
Paradox.“ Zur Kontroverse Paul Tillichs mit Karl Barth vgl. F. Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research 6 (2011) 89–119. 7 Vgl. F. Gogarten, Zur Geisteslage des Theologen. Noch eine Antwort an Paul Tillich, GW VII, 244– 246, hier: 245. 8 Vgl. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, in: ders., Ausgewählte Texte, hg. v. C. Danz/W. Schüßler/ E. Sturm, Berlin/New York 2008, 124–137.
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1 Glaube als ethisches Wirklichkeitsbewusstsein, oder: Friedrich Gogartens Deutung von Protestantismus und moderner Kultur Ähnlich wie für Paul Tillich verdankt sich auch für Friedrich Gogarten die autonome Kultur der Moderne dem Protestantismus, so dass dieser sowohl in Einheit als auch in Gegensatz zu ihr steht. Wie jener bezieht sich Gogarten mit seiner Protestantismusdeutung auf die Untersuchungen von Ernst Troeltsch zur Genese der modernen Kultur aus dem Geist des Protestantismus. Und ebenso wie Tillich legt Gogarten seinem Protestantismusverständnis eine neue, gegenüber Troeltsch veränderte Grundlegung der Religion zugrunde. Eine solche Neubestimmung des Protestantismus hat Gogarten in seinem Nachwort zu der von ihm 1924 besorgten Neuausgabe von Martin Luthers Schrift Vom unfreien Willen, das er unter dem Titel Protestantismus und Wirklichkeit in seine vier Jahre später erschienene Aufsatzsammlung Glaube und Wirklichkeit aufnahm, ausgearbeitet.⁹ Gogarten nimmt Troeltschs Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus auf, gibt ihr jedoch eine andere Lesart. Troeltschs Deutung der Entwicklungsgeschichte des Protestantismus zeige nämlich, dass zwischen dem reformatorischen Altprotestantismus und der modernen Kultur eine Diskontinuität besteht und allein der Neuprotestantismus in Kontinuität mit dem modernen Geist steht. Dass sowohl die moderne Kultur als auch der moderne Protestantismus im Gegensatz zur Reformation stehen, wird also von Troeltsch selbst bestätigt.¹⁰ Dieser Gegensatz – so Gogarten – bestehe darin, dass der reformatorische Protestantismus wesentlich Bindung „durch den offenbaren, in die Endlichkeit eingegangenen Gott“ und der Neuprotestantismus „Freiheit um der Freiheit willen“ sei.¹¹ Doch die Entstehung dieses Gegensatzes gehe auf die Reformation selbst zurück, da sie der Welt diejenige Bindung schuldig geblieben sei, die ihr Wesen ausmacht.¹²
9 Vgl. M. Luther, Vom unfreien Willen. Nach der Übersetzung von Justus Jonas hg. v. F. Gogarten, München 1924; F. Gogarten, Protestantismus und Wirklichkeit, in: ders., Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928, 13–43. 10 Vgl. Gogarten, Protestantismus und Wirklichkeit, 16: „So bringt gerade dieser, von der Erkenntnis des Gegensatzes des modernen Geistes zum Protestantismus der Reformatoren ausgehende Versuch, doch noch eine Kontinuität zwischen ihnen aufzuweisen, den Beweis, daß hier keine Kontinuität vorhanden ist.“ 11 Gogarten, Protestantismus und Wirklichkeit, 21. 12 Vgl. a. a.O., 21 f.: „Diese Bindung ist der Protestantismus der Welt schuldig geblieben, und er hat die Welt darum, als er sie in der Gebundenheit durch die kirchliche Kultur des Altprotestantismus
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Gogartens Deutung des komplexen Verhältnisses von Protestantismus und autonomer Kultur der Moderne baut auf seiner neuen, nach dem Ersten Weltkrieg ausgearbeiteten Theologie auf. Ihre systematische Grundlegung müssen wir uns in ihren Grundzügen in Erinnerung rufen, um den Gehalt seines Protestantismusverständnisses als einem ethischen Wirklichkeitsbewusstsein zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund kann dann sein Vorschlag zur Bewältigung der Krise der Moderne diskutiert werden. Zunächst: Im Verlauf der Entwicklungsgeschichte der Moderne, die sich zunehmend von ihren religiösen Wurzeln emanzipiert hat, ist das Bewusstsein und seine spontane Selbsttätigkeit zum Prinzip aller Realität und aller Normen geworden. Die auf Autonomie fußende moderne Gesellschaft löst alle Inhalte und Gehalte in Produktionen des Bewusstseins auf. Ihre Grundlage ist das autonome Subjekt, welches in sich unendlich und grenzenlos ist. Es ruht in sich und seiner unbegrenzten Freiheit und ist lediglich an sie gebunden.¹³ Indem die moderne Gesellschaft alle Gehalte in Setzungen des Subjekts transformiert, die jederzeit wieder zurückgenommen werden können, wird sie selbst boden- und wirklichkeitslos und taumelt ihrer eigenen Auflösung entgegen. Sodann: Vor dem Hintergrund dieser Diagnose der Weimarer Republik ist deutlich, dass eine Überwindung ihrer Krise weder durch eine Revitalisierung der Reformation noch durch einen Rekurs auf irgendwelche Gegebenheiten wie Gott oder eine vermeintliche Wirklichkeit möglich ist. Alle Wirklichkeit – und sei es die Gottes – ist in der modernen Kultur als Produktion des Subjekts bewusst. In die Grundlegung einer erkenntniskritischen Theologie ist folglich die Religionskritik der Moderne aufzunehmen. Drittens: Gogartens neue Religionsidee besteht darin, dass er die wahre Religion des Glaubens als das Geschehen der Durchsichtigkeit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins konstruiert, das einerseits seinen Grund allein in diesem Geschehen hat, welches grundsätzlich der Bewusstseinsaktivität entzogen ist, und andererseits an dieses Geschehen gebunden und allein in ihm wirklich ist. Das zu beschreiben, ist die systematische Funktion der als Wort Gottes verstandenen Offenbarung. Der Glaube konstituiert sich allein in der Begegnung mit dem Wort in der Kommunikation. Dabei ist diese Kommunikation, also die Verkündigung der Bibel, grundsätzlich menschliche Rede. Zum Wort Gottes wird sie allein im Geschehen des Glaubens, der sich zwar der Begegnung mit dem Wort verdankt, aber weder aus dieser noch aus den Inhalten des Wortes ableitbar ist. Wort Gottes und
nicht mehr halten konnte, ihrer unfehlbar ins Chaos drängenden Schrankenlosigkeit überlassen müssen.“ 13 Vgl. a. a.O., 21.
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Glaube sind von Gogarten strikt selbstbezüglich konstruiert.¹⁴ Transzendenz entsteht somit ausschließlich in diesem selbstbezüglichen Geschehen des Glaubens als dessen Voraussetzung und Grundlage. Glaube – so ergibt sich – ist für Gogarten ein selbstbezügliches und um sich wissendes Geschehen. Es hat seinen Grund und seine Geltung in sich selbst und ist gebunden an dieses Geschehen. In ihm erfasst sich das Bewusstsein und wird sich als ethisches Wirklichkeitsbewusstsein durchsichtig. Denn in dem Geschehen des Glaubens stellt das den Menschen anredende Wort Gottes – welches es allein in diesem Geschehen gibt – diesen und die grenzenlose Produktivität des Bewusstseins in Frage. Ein Wirklichkeitsbewusstsein entsteht folglich allein so, dass die Unendlichkeit des Subjekts und sein totalisierendes Einheitsstreben von außen durchbrochen wird. Wirklichkeit, die sich ausschließlich in dem Geschehen des Glaubens erschließt, ist keine inhaltlich bestimmte Wirklichkeit, sondern die Grenze bzw. das ‚Zwischen‘ zwischen Ich und Du, der unaufhebbare Gegensatz zwischen beiden.¹⁵ Die reflexive Struktur dieses Erschließungsgeschehens stellt das Wort Gottes dar, dessen Inhalt das Geschehen des Wirklichkeitsbewusstseins des Glaubens ist. Genau das repräsentiert der Mensch Jesus Christus als Offenbarung Gottes im und für den Glauben. Gogarten benutzt die Christologie zur Beschreibung der selbstbezüglichen Reflexionsstruktur des Glaubensereignisses in der Begegnung mit dem transzendenten Anderen. Das bedeutet, Jesus Christus ist im und für den Glauben das durchsichtige Bild dieses Glaubens von sich selbst und seiner Bindung an die Geschichte, aus der er selbst nicht herleitbar ist. Er repräsentiert im Glauben den unaufhebbaren Gegensatz zwischen Du und Ich, in dem der Glaube besteht und der allein in seinem Geschehen durchsichtig wird. Folglich kann Christus im Glauben vom Menschen nicht angeeignet werden. Ein ethisches Wirklichkeitsbewusstsein ist der Glaube allein darin, dass er den Gegensatz von Ich und Du anerkennt. Darin ist der Mensch in Einheit mit Christus und in ihm gerechtfertigt. Damit ist der systematische Gehalt des Protestantismus benannt. Sein Wesen besteht im Glauben als einem durchsichtigen ethischen Wirklichkeitsbewusstsein in der Bindung an Gottes Offenbarung in dem Menschen Jesus Christus. Gogartens christologische Beschreibung des Glaubens zielt auf eine theologische Erfassung der
14 Vgl. F. Gogarten, Protestantischer Glaube, in: ders., Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928, 91–117, hier: 96. 15 Vgl. Gogarten, Protestantismus und Wirklichkeit, 31: „Die Wirklichkeit heißt nicht Ich und sie heißt nicht Du. Das will sagen: sie ist keine Einheit, sondern sie ist die Zweiheit. Denn sie heißt Ich und Du. Ich und Du aber sind nur in der strengen, unaufhebbaren Gegensätzlichkeit ihres ganzen Wesens miteinander verbunden. […] Es ist zwischen dem Ich und dem Du eine unüberschreitbare Grenze gesetzt. Diese Grenze aber ist die Wirklichkeit des Ich und Du.“
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Besonderheit des Glaubens im strikten Unterschied zur Kultur. Mit ihr widerspricht er auch Tillichs Behauptung eines positiven Paradoxes als Voraussetzung der protestantischen Kritik an der Kultur. Jesus Christus ist weder ein Symbol noch ein positives Paradox. Er ist „direkte Rede“ (GW VII, 245) von der Gottesoffenbarung, die jedoch strikt an ihr Geschehen gebunden ist. Verbunden mit diesem Protestantismusverständnis ist eine Radikalkritik an aller menschlichen Weltgestaltung. Diese betrifft auch diejenige Selbstkritik, die zur Moderne selbst gehört. Auch sie ist lediglich ein Bestandteil der Unendlichkeit und Schrankenlosigkeit des modernen Subjekts. Der Protestantismus ist nicht einfach eine Verlängerung oder Verdopplung derjenigen Kritik, die die Moderne bereits selbst ist.Vielmehr ist es das Wissen um den Unterschied von Offenbarung und kulturellem Handeln, in dem das Wesen des Protestantismus besteht. Indem er von der Welt unterschieden ist, ist der Protestantismus Kritik an sich selbst und der Kultur, die sowohl seine eigene Fehlentwicklung als auch die Krise der in sich selbst ruhenden bürgerlichen Kultur der Moderne überwinden kann.
2 Abstrakte bürgerliche Intellektuellen-Kritik, oder: Paul Tillichs Auseinandersetzung mit Friedrich Gogarten in seinem Protestantismusaufsatz Paul Tillichs Beschreibung des Verhältnisses von Protestantismus und moderner Kultur entspricht, wie bereits das eingangs genannte Zitat deutlich machte, weitgehend der Friedrich Gogartens. Gleichwohl unterscheidet sich ihr Verständnis des Protestantismus signifikant. Das ist im Folgenden anhand von Tillichs Aufsatz Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip von 1929 zu zeigen. Strukturiert ist der Text in zwei Hauptteile. Zunächst thematisiert Tillich den Protestantismus als kritisches Prinzip in Auseinandersetzung mit anderen Positionen und entwickelt sodann einen eigenen Vorschlag. Im Hintergrund dieses Aufbaus steht die Weiterführung seiner Theologie seit der Kontroverse mit den dialektischen Theologen Barth und Gogarten in den Theologischen Blättern aus dem Jahre 1923. Ebenso wie Gogarten geht Tillich von einer strikten Differenz von Gott und Welt aus, so dass es keinen Weg von der Welt zu Gott gibt. Gott ist transzendent und nur in seiner Offenbarung gegeben. Diesen offenbarungstheologischen Ansatz nimmt Tillich in seine Neudeutung des Protestantismus als prophetische Kritik auf, die aus dem Jenseits des Bewusstseins erfolgt. Protestantismus sei diejenige Kritik, welche die Kritik, die das Be-
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wusstsein selbst bereits ist, ihrerseits unter das Nein und Ja Gottes stellt.¹⁶ Mit dieser Fassung des Protestantismus als prophetischer Kritik bestreitet Tillich Gogartens Offenbarungsverständnis. Dabei wiederholt er einerseits das Argument, welches er bereits 1923 gegen dessen Offenbarungsbegriff vorgebracht hatte, dass nämlich Gogartens christologische Bestimmung der Gottesoffenbarung diese in einen unüberwindbaren Konflikt mit der autonomen Kultur der Moderne bringe,¹⁷ gibt diesem Argument andererseits jedoch eine neue Fassung. Um Tillichs Argumente gegen Gogartens Offenbarungs- und Protestantismusverständnis zu rekonstruieren, müssen wir zunächst die Grundlagen seines Religionsverständnisses in den Blick nehmen und sodann seine darauf aufbauende Deutung des modernen Geistes. Auch Tillich nimmt die Erkenntnis- und Religionskritik in die Grundlegung der Theologie auf. Jeder Gottesgedanke ist eine Setzung des Menschen und verfehlt somit den wahren Gott. Gotteserkenntnis ist folglich an die Offenbarung gebunden. Diese konstruiert Tillich als ein unableitbares Geschehen im Selbstverhältnis des Bewusstseins, welches als allgemeine Grundlegungsstruktur der Kultur fungiert. Dabei geht er davon aus, dass das Selbstverhältnis des Bewusstseins nicht nur der Ort aller Realitätssetzungen ist, sondern dieses unendliche Reflexivität ist, welche Grundlage und Voraussetzung aller konkreten theoretischen und praktischen Akte des Bewusstseins ist. Damit liegt dem Bewusstsein gleichsam im Rücken seiner Tätigkeit stets schon seine unendliche Reflexivität, von Tillich das Unbedingte genannt, zugrunde. Es ist Grund aller Bewusstseinsakte und, da es als Voraussetzung dieser Akte diesen prinzipiell entzogen ist, zugleich ihr Abgrund. Was bedeutet das für die Religion und ihre Einordnung in die Struktur des Bewusstseins? Religion ist zunächst kein Bestandteil der transzendentalen Vermögensstruktur des Bewusstseins,¹⁸ sondern das Geschehen der Erschlossenheit der allgemeinen Grundlegungsstruktur des Bewusstseins im individuellen Bewusstsein. Sie ist Durchbruch des Unbedingten durch die bedingten, vom Bewusstsein gesetzten Formen in diesem, oder, wie Tillichs allgemeine Bestimmung lautet, Richtung des
16 Vgl. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, in: ders., Ausgewählte Texte, 200–221, hier: 200. 17 Vgl. P. Tillich, Antwort, GW VII, 240–243, hier: 242: „Es gibt aber ein Sprechen von der Kultur und ein Springen in die absolute Kontingenz, das Untreue gegen unsere Lage ist, das sich vor allem dadurch richtet, daß es die Gemeinschaft mit denen zerbricht, die in allen Kulturgebieten um Offenbarung des positiven Paradoxes, um Anschauung des Christusgeistes, ringen, und daß es die Kluft zu denen unüberbrückbar macht, die von Kultur und Religion entleert, im Kampfe stehen gegen die Formen von Kultur und Religion, denen sie ihr Schicksal verdanken, Masse und nichts als Masse geworden zu sein.“ 18 Eine solche vermögentheoretische Grundlegung der Religion wies Tillich schon in seinen frühen Schriften vor dem Ersten Weltkrieg zurück.
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Bewusstseins auf das Unbedingte.¹⁹ Das Erschlossensein des Unbedingten ist gebunden an diesen Akt im Selbstverhältnis des Bewusstseins. Doch dieser ist für Tillich kein besonderer Akt, sondern ein selbst unbestimmter. Erschließen kann sich das Unbedingte als Grundlage aller Akte des Bewusstseins in diesem lediglich als Negation der vom Bewusstsein gesetzten konkreten Formen. Es ist folglich im Bewusstsein nur als Negation der konkreten Formen darstellbar, da es selbst weder eine Form noch ein Gegenstand oder Objekt ist. Die eigentliche Religion des Durchbruchs, also die prophetische Kritik, ist keine besondere Form, sondern die Erschlossenheit des allem kulturellen Gestalten bereits zugrunde liegenden Unbedingten. Mit dieser Fassung des Offenbarungsbegriffs ist Gogartens Forderung nach der christologischen Bestimmtheit der Gottesoffenbarung widersprochen. Offenbarung Gottes ist kein besonderer Akt, sondern ein selbst inhaltlich unbestimmter, der sich in allen Formen der Kultur ereignen kann und nur durch seine Intention, Richtung auf das Unbedingte zu sein, bestimmt ist. Hieraus ergeben sich die weiteren Kritikpunkte Tillichs an Gogartens Protestantismusverständnis. Zunächst: Da das Unbedingte dem Bewusstsein stets bereits zugrunde liegt, ist Religion der Übergang vom Kulturbewusstsein zum Meinen des Unbedingten. Damit sind Religion und Kultur von vornherein derart verzahnt, dass sich jene allein in den Kulturfunktionen realisieren kann. Die prophetische Kritik des Protestantismus, also der Durchbruch des Unbedingten, ist an die (kulturelle) Kritik, die das Bewusstsein selbst schon ist, gebunden und wird ausschließlich in ihr konkret.²⁰ Indem Gogartens hingegen auf der christologischen Bestimmtheit der Offenbarung Gottes beharrt, trennt er diese von der Kultur. Dadurch aber werde die protestantische Kritik selbst abstrakt und im Resultat abgeschwächt und aufgehoben.²¹ Sodann: Gogartens christologische Fassung der prophetischen Kritik der Gottesoffenbarung ist nicht nur abstrakt, da sie den Zusammenhang mit der autonomen Kultur und ihrer rationalen Kritik an sich selbst aufkündigt.²² Sie ist vielmehr selbst ein Ausdruck des Geistes der bürgerlichen Gesellschaft, den sie kritisiert und überwinden möchte. Tillich arbeitet dies in seinem Protestantismusaufsatz durch
19 Vgl. P. Tillich, Religionsphilosophie, GW I, 297–364, hier: 320. 20 Vgl. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 202: „Die vom Jenseits von Sein und Geist ausgehende Kritik wird konkret in der im Seinskreise selbst sich erhebenden Kritik des Geistes gegen das Sein. Die prophetische Kritik wird konkret in der rationalen Kritik.“ 21 Vgl. a. a.O., 201: „Wenn die aus dem Jenseits von Sein und Geist kommende Kritik wirklich Kritik, d h. Kraft der Scheidung sein soll, so darf sie nicht so ergehen, daß sie Sein und Geist in abstracto in Frage stellt“. 22 Vgl. ebd., 204: „Das Lutherbild, das auf diesem Hintergrund entsteht, läßt jede Beziehung zu der rationalen Kritik der geschichtlichen Mächte vermissen.“
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eine Einordnung von Gogartens Protestantismusverständnis in die Geschichte des Protestantismus seit der Reformation heraus.²³ Luther habe zwar in seinem Rechtfertigungsverständnis den Offenbarungsdurchbruch erfasst und mit der rationalen Kritik verbunden. Doch indem die Rechtfertigung zum Prinzip des Protestantismus avancierte, erhielten die kritischen Momente die Oberhand, so dass sich die prophetische Kritik zunehmend in rationale auflöste.²⁴ Dadurch hat die Reformation die bürgerliche Gesellschaft auf den Weg gebracht. Indem diese sich von ihren religiösen Grundlagen emanzipierte, löst sie sich selbst in einen leeren Formalismus auf. Die Erkenntniskritik Immanuel Kants und des Neukantianismus führen die Auflösung der prophetischen in rationale Kritik fort, indem sie die apriorischen Normen des Bewusstseins als abstrakte Kritik der Wirklichkeit einfach gegenüberstellen. In diese Entwicklungslinie ordnet Tillich Gogartens Protestantismusverständnis ein. Durch ihre abstrakte Kritik ist die erkenntniskritische Theologie selbst ein Ausdruck des Geistes der bürgerlichen Gesellschaft.²⁵ Drittens: Gogartens Protestantismus, eben weil er abstrakte, von der rationalen Kritik der Kultur abgelöste Kritik ist, wirkt „konservativ“,²⁶ und zwar sowohl im Hinblick auf die Gesellschaft als auch die Theologie. Denn einerseits bestätige eine allgemeine Kritik, die die Gesellschaft als Ganze in Frage stellt, diese lediglich, und andererseits mache sie, da sie Gott und Welt auseinanderreißt, das „Theologische zum Sondergebiet der prophetischen Kritik“.²⁷ Doch das tendiere zu einem neoorthodoxen Theologieverständnis, welches nicht mehr erklären kann, wie die von der Welt radikal unterschiedene Gottesoffenbarung in Jesus Christus in der Welt überhaupt noch verstanden werden könne. Gogartens kritisches Protestantismusverständnis schwächt somit die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft dadurch ab, dass sie diese unter Generalkritik stellt. Daran zeige sich, dass sein Verständnis des Protestantismus ebenso ungenügend ist wie das der Reformatoren, auf das er sich bezieht. Aus diesen ungenügenden und falschen Auffassungen des Protestantismus ergibt sich für Tillich die Forderung seiner Neubestimmung. Sein Wesen besteht nicht darin, (christologi-
23 Tillich nimmt hier seine theologiegeschichtliche Skizze aus dem Vortrag Rechtfertigung und Zweifel von 1924 auf und führt sie weiter. Vgl. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 125–127. Vgl. hierzu Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung, 107–114. 24 Vgl. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 204. 25 Vgl. a. a.O., 207: „Dabei vergißt freilich diese Theologie, daß sie doch eine heimliche Entscheidung getroffen hat, nämlich für die zur Auflösung aller Gestalten treibenden bürgerlichen Gesellschaft, in der allein die abstrakte Kritik möglich ist.“ 26 A. a.O., 202. 27 Ebd.
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sche) Bindung zu sein, sondern kritische Gestaltung. Was das bedeutet, müssen wir nun noch in Augenschein nehmen.
3 Gestalt der Gnade, oder: Paul Tillichs protestantisches Prinzip In seinem 1929 publizierten Aufsatz Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip hat Tillich nicht nur Gogartens christologischer Deutung des Protestantismus widersprochen, sondern auch eine eigene Neudeutung ausgearbeitet. Deren Kern bildet das protestantische Prinzip, welches zugleich Kritik und Gestaltung sei. Es fasst Überlegungen zur Rechtfertigung allein aus Glauben zusammen, die Tillich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs erarbeitet und in den Jahren der Weimarer Republik weitergeführt hatte. Signifikant für den Protestantismusaufsatz von 1929 ist die im zweiten Hauptteil eingeführte Neubestimmung ‚Gestalt der Gnade‘, mit der er sein Neuverständnis des protestantischen Prinzips beschreibt. Tillich verwendet dieses Stichwort, in dem er diverse andere Leitbegriffe aus den 1920er Jahren wie das ‚positive Paradox‘ und den ‚gläubigen Realismus‘ zusammengefasst hat, lediglich in Texten, die um 1928 und 1929 entstanden sind.²⁸ In späteren Texten hat er die Formel wieder fallen gelassen.²⁹ Das Konzept einer Gestalt der Gnade ist also eine Dresdner Neuprägung.³⁰ Seine bewusstseins- und kulturtheoretische Grundlage ist der Religionsbegriff, der oben im zweiten Abschnitt erläutert wurde. Eingegangen in Tillichs Gestalt der Gnade ist auch eine Unterscheidung, die er als Antwort auf die Kritik Barths und Gogartens an seinem Verständnis des positiven Paradoxes in dem Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel von 1924 eingeführt hat, nämlich die von Grund- und Heilsoffenbarung. Diese Unterscheidung strukturiert nicht nur die Ausführungen des Protestantismusaufsatzes von 1929, auch Tillichs Grundthese, eine Gestalt der Gnade sei das Prius der pro-
28 Neben dem Protestantismusaufsatz von 1929 vgl. P. Tillich, Das Alter der Kirche. Zum gleichnamigen Buch von Eugen Rosenstock und Josef Wittig (1928), GW XII, 248–250; ders., Das Christentum und die moderne Gesellschaft (1928), GW X, 100–107, hier: 106 f.; ders., Die Gestalt der religiösen Erkenntnis (1928), EW XIV, 395–431, hier: 396; ders., Protestantische Gestaltung (1929), GW VII, 54–69. 29 Zu Tillichs Konzept ‚Gestalt der Gnade‘ vgl. E. Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur, Gütersloh 1972, 133–173; H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Berlin/New York 1989, 327–451; Barth, Protestantismus und Kultur, 27–31. 30 Vgl. Amelung, Die Gestalt der Liebe, 156: „Von all den Begriffen, die Tillich in seinen Schriften neu geprägt oder neu interpretiert hat, ist der der ‚Gestalt der Gnade‘ der dunkelste.“
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testantischen Kritik,³¹ wird nur auf ihrer Grundlage verständlich. Der systematische Gehalt dieser These Tillichs ist im Folgenden als Antwort auf Gogartens Protestantismusdeutung zu rekonstruieren. Einzusetzen ist mit seiner Neufassung der protestantischen Kritik, sodann ist der Zusammenhang von Grundoffenbarung und Gestalt der Gnade in den Blick zu nehmen und abschließend der von Heilsoffenbarung und protestantischem Prinzip. Zunächst: Religion, so haben wir oben gesehen, ist Richtung auf das Unbedingte. Sie besteht im Übergang vom Kulturbewusstsein zum intentionalen Meinen des Absoluten. Gottes Offenbarung ist kein besonderer Akt. Sie kann sich lediglich als Negation in den vom Bewusstsein gesetzten Formen realisieren. Daraus folgt, dass die Offenbarung Gottes, also die prophetische Kritik, allein in der rationalen Kritik der Kultur konkret werden kann. Doch diese ist keine abstrakte Kritik, wie im (Neu‐)Kantianismus und in der dialektischen Theologie Gogartens. Dessen Verständnis von Kritik fuße, so Tillich, nicht nur auf einem falschen Offenbarungsverständnis, sondern – dem korrespondierend – auch auf einem verfehlten Verständnis der Moderne. Das Bewusstsein als allgemeine Grundlegungsstruktur der Kultur sei nämlich in seiner Produktion von Formen stets selbst schon Kritik an sich selbst. Das bedeutet, dass die kritischen apriorischen Normen, von Tillich Ideal genannt, nicht der Wirklichkeit einfach gegenüberstehen. Sie sind vielmehr schon mit den konkreten, vom Bewusstsein gesetzten Formen verbunden.³² Die allgemeine Normativität des Bewusstseins ist für dieses nur in den konkreten, wandelbaren Gestalten gegeben, da das Bewusstsein stets Inhalte produziert und diese wieder negiert. Das Ideal der rationalen Kritik verdankt sich folglich nicht nur einer konkreten Formung bzw. Gestalt, es setzt sie auch immer schon voraus. Tillich nennt diese in dem Formprozess entstehende Form „werdende Gestalt“. Gemeint ist ein Bewusstsein, welches sich in seiner Setzung und Kritik von Formen selbst erfasst und darin erfüllt. Eine solche Selbsterfassung des Bewusstseins in seiner Formenproduktion sei „repräsentativ“. In ihr bestehe das „logische Verhältnis von Ideal und Erfüllung“, welches dem ganzen Kulturprozess bereits zugrunde liegt.³³ Sodann: Mit der Erfassung des Ideals an einer werdenden Gestalt im Kulturprozess, von dem die rationale Kritik ausgeht, beschreibt Tillich eine Erschlossenheit des Bewusstseins, die er seit 1924 als Grundoffenbarung bezeichnet. Diese
31 Vgl. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 214. 32 Vgl. a. a.O., 207: „Sondern das Ideal ist der Ausdruck der aus den Spannungen einer gegenwärtigen Gestalt sich herausringenden werdenden Gestalt.“ Tillich nimmt hier seine idealistische Weiterführung des Neukantianismus aus seiner Studienzeit und Arbeit an seiner Dissertation zu Schelling auf. Vgl. P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, EW IX, 156–272, bes. 232. 33 Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 207.
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besteht in dem Erschlossensein des im Bewusstsein bereits gegebenen Unbedingten als Grundlage und Voraussetzung aller seiner Akte. Was bedeutet das für die Gestalt der Gnade? Sie ist in allen Bereichen der Kultur möglich, da das Unbedingte oder Gott als Grundlage der gesamten Kultur und ihrer konkreten Formen schon zugrunde liegt. Jede Erschütterung des Geistes des Kapitalismus, die sich in seiner konkreten Kritik artikuliert, ist mithin Hinweis auf eine Grundoffenbarung.³⁴ Tillich nimmt in die Konzeption der Gestalt der Gnade die der Grundoffenbarung auf, so dass jene die Struktur der Erschlossenheit des Selbstverhältnisses des Bewusstseins in seinem Bezug auf von ihm gesetzte Inhalte beschreibt. Es geht um solche Formen, an denen sich die Offenbarung Gottes ereignet. Das ist lediglich als Negation möglich, durch die es zum Übergang vom Kulturbewusstsein zur Intention auf das Unbedingte kommt. Das bedeutet für die Gestalt der Gnade, dass sie eine solche Formsetzung im Bewusstsein ist, die in diesem negiert und dadurch zum Medium wird, durch das das Unbedingte hindurch gemeint wird. In diesem Sinne ist die Gestalt der Gnade, wie Tillich formuliert, als transzendentes Bedeuten eines Gegenstands wirklich.³⁵ Sie tritt in den Texten von 1929 an die Stelle des positiven Paradoxes und lässt sich als dessen symboltheoretische Weiterbestimmung auf der Grundlage der Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung verstehen. Drittens: Tillich hatte an Gogartens christologischer Bestimmung des protestantischen Prinzips kritisiert, dass es durch seinen abstrakten Gegensatz zur Welt die Profanität der bürgerlichen Gesellschaft sanktioniert und durch die von ihm in Anspruch genommene radikale Diastase von Gott und Welt die Gottesoffenbarung in Jesus Christus selbst unverständlich mache. Demgegenüber behauptet Tillich, dass die Heilsoffenbarung Gottes in Jesus Christus nur auf der Basis einer neben ihr bestehenden Grundoffenbarung geschehen könne.³⁶ Die Ausdifferenzierung von Grund- und Heilsoffenbarung ist ein Resultat der Religionsgeschichte, so dass sie zwar unterschieden sind, aber dennoch zusammengehören und teleologisch aufeinander bezogen sind. Erst in dieser vollendet sich jene.³⁷ Die Heilsoffenbarung Gottes in Christus ist als ein Reflexiv-Werden der Grundoffenbarung zu verstehen. 34 Vgl. a. a.O., 213: „Nur durch die verborgene Gegenwart eines Tragenden aus dem Jenseits von Freiheit und Sein hat die lebendige Gestalt Anteil am Sein. Darum ist in jeder [!] lebendigen Gestalt ein Verborgenes von Gnade, das eins ist, mit seiner Macht zu sein.“ Vgl. auch ders., Die gegenwärtige religiöse Lage, GW X, 9–93. 35 Vgl. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 210: „Die Gestalt der Gnade ist Gegenwart, aber nicht Gegenstand. Sie ist wirklich in Gegenständen, aber nicht als Gegenstand, sondern als transzendentes Bedeuten eines Gegenstandes. Die Gestalt der Gnade ist Bedeutungsgestalt.“ 36 Vgl. schon Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 131. 37 Vgl. a. a.O., 134 f. Vgl. hierzu C. Danz, Erläuterungen zu Paul Tillich „Rechtfertigung und Zweifel“, in: P. Tillich, Rechtfertigung und Neues Sein, hg. u. kommentiert v. C. Danz, Leipzig 2018, 66–111.
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Auch jene ist ebenso wie diese nur durch ihre Intention und nicht inhaltlich bestimmt. Daraus ergibt sich, dass die inhaltlichen Aussagen der Religion der Heilsoffenbarung die Struktur der Grundoffenbarung darstellen, also den Übergang von der Kultur zum Meinen des Unbedingten. Was folgt daraus für die Gestalt der Gnade und das Protestantismusverständnis von Tillich? Im Hintergrund von Tillichs Neudeutung des Protestantismus steht, wie eben ausgeführt, die Verzahnung von Grund- und Heilsoffenbarung, damit aber auch die von prophetischer und rationaler Kritik sowie, da jede Kritik eine Gestalt voraussetzt, die von Kritik und Gestaltung. Jeder Durchbruch des Unbedingten setzt voraus, dass dieses in jedem Konkreten und Einzelnen bereits gegeben ist. So ist auch der Protestantismus, obwohl er in einer radikalen Kritik an allen geschichtlichen Repräsentationen des Göttlichen besteht, als geschichtliche Religion nur möglich, indem er in der Kultur Gestalt gewinnt. Seine prophetische Kritik setzt die Grundoffenbarung und damit bestimmte Formen voraus, in denen diese repräsentiert wird. Doch worin bestehen diese Gestalten der Gnade, welche der Protestantismus als Kritik vom Unbedingten her in Anspruch nimmt? Tillich skizziert am Ende seines Aufsatzes von 1929 vor dem Hintergrund der Auflösung des Schriftprinzips als der protestantischen Gestalt der Gnade durch die rationale Kritik und der bleibenden Notwendigkeit der symbolischen Repräsentation der Gottesoffenbarung drei Formen reflexiver protestantischer Gestaltung,³⁸ die zugleich Kritik sind. Diese sind seine religiösen Formen, in denen der Protestantismus geschichtlich anschaulich wird, das Geschichts- und schließlich das Persönlichkeitsverständnis. Was zunächst die religiösen Formen, also die Gestalten der Gnade betrifft, in denen sich der Protestantismus in der Kultur darstellt, so können diese nach allem, was ausgeführt wurde, nur die reflexive Struktur der Grundoffenbarung als Gehalt der religiösen Formen darstellen. Protestantische Religion als eine gesonderte Form in der Kultur kann es mithin nur als Hinweis darauf geben, dass es Religion nicht als einen besonderen Bereich in der Kultur geben kann.³⁹ Sodann: Erst ein Protestantismus, der zugleich Kritik und Gestaltung ist, ist wahres Geschichtsbewusstsein. Denn als reflexive Gestaltung ist der Protestantismus nicht an bestimmte Formen gebunden, sondern sein Wesen besteht im Wissen um die geschichtliche Wandelbarkeit aller Wahrheiten und Normen einschließlich seiner selbst.⁴⁰ Und schließlich drittens: Mit einem erneuerten Protestantismus ist ein Persönlichkeitsverständnis verbunden, welches den bürgerlich-protestantischen Personalismus überwindet, der sich einem einseitigen und darum falschen sote-
38 Vgl. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, 214. 39 Vgl. a. a.O., 218. 40 Vgl. a. a.O., 219.
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riologischen Protestantismusverständnis verdankt und die Persönlichkeit sowohl gegenüber dem seelischen als auch dem gesellschaftlichen Sein isoliert.⁴¹ Die moderne Kultur, so hieß es in dem eingangs genannten Zitat Tillichs, sei ‚die autonome und profane Entwicklungsstufe der christlich-protestantischen Gesellschaft‘. Diesen Gegensatz, in den er in der Moderne zur Kultur getreten ist, kann der Protestantismus nur überwinden, wenn er selbst universaler wird und sich selbst als die religiöse Durchsichtigkeit des autonomen Kulturprozesses begreift. Ein Protestantismus hingegen, der sich als christologische Bindung versteht, wie der Gogartens, zementiere jenen Gegensatz und überlasse die Profanität sich selbst.
41 Vgl. a. a.O., 220; ders., Die Überwindung des Persönlichkeitsideals. Ein Vortrag, MW III, 132–146. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Roderich Barth in diesem Band.
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Symbole, Religion und der christliche Mythos Religionspädagogische Erwägungen zum Symbolbeitrag Paul Tillichs aus der Dresdner Zeit
Einleitung Paul Tillich erhielt im August 1925 einen Ruf an die Technische Hochschule Dresden. Es war ein neues Ordinariat für Religionswissenschaften eingerichtet und mit ihm besetzt worden. In einem Brief an einen Gießner Kollegen schreibt er, dass er in Dresden bleiben müsse und nicht nach Gießen wechseln könne. Ausschlaggebend sei die Überzeugung gewesen, dass er als Theologe die Pflicht habe, „‚zu denen exo zu gehen, in einer Lage, wie sie so günstig und wichtig einem Theologen kaum je geboten ist: Zu einem Volk als Theologe gerade in den Schichten reden zu können, die von Theologie und Kirche in ihrer offiziellen Vertretung so gut wie gar nicht erreicht werden‘.“¹ Unterrichten sollte Tillich Studierende, die das Wahlfach Religion für das Lehramt an der Volksschule im Freistaat Sachsen belegen würden. Erdmann Sturm hat in seiner Einleitung in die Dresdner Vorlesungen Recherchefrüchte festgehalten: Geprüft werden im Wahlfach ‚Religion‘ folgende Fähigkeiten und Kenntnisse: ‚Vertrautheit mit der biblischen Geschichte des Alten und neuen Testaments; Kenntnis der Kirchengeschichte sowie der grundlegenden Bekenntnisschriften und der Einrichtungen und Verfassung der Kirche; religionspsychologische Erkenntnisse. (EW XX, XXXIX)
Er kommentiert, dass Tillich hier also als alleiniger Fachvertreter des Wahlfachs Religion wirkte und dabei alle theologischen Disziplinen aufgreifen sollte, allerdings war hiervon interessanter Weise die Systematische Theologie ausgenommen. Für dieses Wahlfach Religion waren wöchentlich vier Stunden pro Semester vorgesehen. Die Nachfrage war zu Tillichs Zeiten – wie Sturm belegen kann – nicht hoch. Es ging auch nicht darum, die Volksschullehrkräfte auf das Unterrichten des Faches 1 E. Sturm, Historische Einleitung, in: EW XX, XXI–LXX, hier: XXXIV. Sturm zitiert hier eine Xerokopie, die sich im Paul Tillich-Archiv der UB Marburg befindet. https://doi.org/10.1515/9783111264332-018
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Religion vorzubereiten, sondern vielmehr innerhalb eines humanistischen Bildungsverständnisses an der Technischen Hochschule die Gelegenheit zu geben, sich religionswissenschaftlich zu bilden. Tillich agierte demnach in einem Kontext der Kultur- und Religionswissenschaften. In seinem Lehrangebot beschränkte er sich vor allem auf christliche Traditionsbestände und lehrte etwa die von ihm sogenannten Hauptprobleme des Christentums. Dabei griff er auch religionsgeschichtliche und religionswissenschaftliche Themenstellungen in seinen Vorlesungen auf, in dem er z. B. die Geburts- und Kindheitsgeschichte Jesu in einem großen mythischen menschheitlichen Zusammenhang verortete (vgl. EW XX, XLVI). Die Auseinandersetzung mit dem Mythischen und die Erarbeitung eines Verständnisses vom Mythos ist hierbei ein in Tillichs Theologie wie bekannt bedeutendes Thema.² Es tritt z. B. im Kontext der politischen Romantik in der Sozialistischen Entscheidung (vgl. GW II, 219–365) auf und steht selbstverständlich vor allem in Verbindung zu Tillichs Schelling-Rezeption. Es bestimmt weitere Texte, die in das Ende der zwanziger Jahre, also in die Dresdner Zeit fallen: Da ist etwa der Artikel Mythus und Mythologie (vgl. GW V, 187–195) für das Lexikon Religion in Geschichte und Gegenwart verfasst, der 1929 erschien. Aber eben auch der in Dresden entstandene Zeitschriftenbeitrag Das religiöse Symbol (vgl. GW V, 196–212) gehört hierher. Paul Tillich nahm diesen Beitrag in sein Buch Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930, auf, zuvor war der Beitrag erschienen in den Blättern für deutsche Philosophie im Jahre 1928. So gehört er eben auch in die Dresdner Zeit Tillichs. An diesen Beitrag wird hier nun unter der Prämisse angeknüpft, dass er produktive Anfragen an ein gegenwärtiges Verständnis von Symboldidaktik und für das Verständnis des Verhältnisses von Religion und Mythos innerhalb der Religionspädagogik stellt. Der vorliegende Beitrag argumentiert also nicht historisch oder werkgeschichtlich, er setzt sich auch nicht systematisch-theologisch oder religionspädagogisch mit der Stringenz von Tillichs Argumentation auseinander, was sicherlich ebenfalls von Relevanz wäre, sondern er soll schlicht das Potential des Symbol-Vortrags für die gegenwärtige Religionspädagogik ausloten. Hinter dieser Vorgehensweise steht zudem die Lektüre der Dresdner Vorlesungen, die in ihrer Inhaltlichkeit wenig direkte Bezüge zur Religionspädagogik aufweisen, die aber hermeneutisch gelesen zum Symbol- und Mythosthema führen.
2 Vgl. C. Danz/W. Schüssler (Hg.), Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext, Berlin/Boston 2015.
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Das religiöse Symbol Tillich gliedert diesen wirkungsvollen Text der Dresdner Zeit in vier Abschnitte: 1. Das Symbol und sein Bezug zur Wirklichkeit: Die Lektüre dieses Textstücks wirft Anfragen an die Symboldidaktik in der gegenwärtigen Religionspädagogik auf. 2. Theorien des religiösen Symbols: Dieser Abschnitt motiviert dazu, nach der Bedeutung von entwicklungspsychologischen Forschungen zum mythischen Verständnis von Religion und Welt zu fragen. 3. Arten des religiösen Symbols: Die Ausführungen fördern Anfragen zum Religionsverständnis in der Religionspädagogik zutage. 4. Werden und Vergehen religiöser Symbole: Dieser letzte Abschnitt motiviert dazu, nach der Bedeutung von Religionsproduktivität für die religiöse Bildung zu fragen.
I Das erste und grundlegende Merkmal des Symbols sei seine Uneigentlichkeit. Tillich konkretisiert mit folgendem Beispiel: „Die dem Holzkreuz erwiesene Devotion gilt eigentlich dem erlösenden Handeln Gottes, das selbst symbolischer Ausdruck ist für eine Erfahrung des Unbedingt-Transzendenten.“ (GW V, 196) Das zweite Merkmal des Symbols sei seine Anschaulichkeit. Sie besage, dass ein wesensmäßig Unanschauliches, Ideelles oder Transzendentes im Symbol zur Anschauung und damit zur Gegenständlichkeit gebracht werde. Sie brauche keine sinnliche zu sein. Tillich nennt wiederum die Kreuzigung als Beispiel, die man sich doch nur vorstellen könne, von der man aber keine eigene Anschauung habe. Aber er spricht auch von dem Begriff des ‚höchsten Wesens‘ als Symbol des UnbedingtTranszendenten im Bewusstsein der Gemeinde (vgl. ebd.). Als drittes Merkmal benennt er die Selbstmächtigkeit des Symbols. Die ihm innewohnende Macht unterscheide das Symbol vom Zeichen. Während das Zeichen willkürlich sei und austauschbar habe das Symbol Notwendigkeit (vgl. ebd.). Das vierte Merkmal benennt Tillich mit Anerkanntheit. Symbolwerdung und Anerkennung gehörten zusammen. „Der Einzelne kann sich Zeichen machen für seine privaten Bedürfnisse; Symbole kann er nicht machen; wird ihm etwas zum Symbol, so immer im Hinblick auf die Gemeinschaft, die sich darin wiedererkennen kann.“ (GW V, 197) Tillich unterscheidet Symbole von religiösen Symbolen darüber, dass letztere einen Gegenstand ausdrückten, der wesensmäßig jede Gegenständlichkeit transzendiere. Symbole nicht religiöser Art stünden für etwas, das außer der ideellen Bedeutung auch eine unsymbolisch-gegenständliche Existenz habe. So stehe die
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Fahne für die Wehrmacht und diese für den Staat. Tillich fasst das Profil religiöser Symbole hier wie folgt zusammen: Die religiösen Symbole sind weder gegenständlich, noch geistig-sinnhaft fundiert, sie sind unfundiert, religiös gesprochen, sie sind Gegenstand des Glaubens. Sie haben kein anderes Recht als das der Vertretung des Unanschaubar-Transzendenten, das ihrer nicht bedarf, um zur Existenz zu kommen. Auf dieser Tatsache beruht die eigentümliche Zweischichtigkeit der religiösen Symbole. Sie sind in der grundlegenden Schicht gegenständliche Vertretungen des Unbedingt-Transzendenten und der Beziehungen zu ihm, und sie sind in den übrigen Schichten Veranschaulichungen der jener ersten Schicht angehörigen Symbole. (GW V, 198)
Bekanntermaßen ist es die Methode der Korrelation, die Tillichs Theologie Ende der sechziger Jahre, also innerhalb der empirischen Wende der Praktischen Theologie und Religionspädagogik, wichtig werden ließ. Daneben war es aber eben immer auch die Symboldidaktik, die bei Hubertus Halbfass und Peter Biel, später auch kritisch bei Michael Meyer-Blanck zur Aufnahme von Tillich’schem Denken in der Religionspädagogik führte.³ Inzwischen ist die Korrelationsmethode insbesondere innerhalb der katholischen Religionspädagogik zu einem Klassiker geworden ebenso wie es die Symboldidaktik ist. Aber es wird aktuell – soweit zu sehen ist – kaum an ihnen geforscht. Warum? Einen ersten Mosaikstein für eine Antwort liefern aktuelle Grundlagenbeiträge zur Symboldidaktik. Mirjam Zimmermann lässt im Wissenschaftlich-Religionspädagogischen Lexikon den Zeichenbegriff vor dem Symbolbegriff rangieren. Wo sie auf Tillichs Symbolbegriff rekurriert, ist dieser sozusagen seiner mythologischen Dimension entkleidet.⁴ Tillichs Reduktion des Zeichenbegriffs als metaphysisch unbedeutend, scheint gerade nach einer Ära, in der die Sprachtheorien, die Semiotik und der Konstruktivismus metaphysische Systeme verabschiedet hat, nicht mehr einzuleuchten. Zimmermanns Beitrag spiegelt Meyer-Blancks Kritik an einer Symboldidaktik wider. Die semiotisch orientierte Theologie, die insbesondere während der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts entstand, hat Tillichs metaphysisch grundiertes Symbolverständnis also sozusagen entkernt. Religion ist nun kein Symbolsystem mehr, sondern ein Zeichensystem mit Symbolen. So jedenfalls ergibt sich für die religionspädagogische Perspektive, die hier zitiert wurde: Weg von einer Theologie, die Philosophiegeschichte und dabei auch Metaphysik rezipierte hin zu einer Philosophie, die die Logik und Semiotik präferiert. Wie kann 3 Vgl. J. Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik. Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches Prinzip, Göttingen 2011. 4 Vgl. M. Zimmermann, Symboldidaktik, in: Wissenschaftlich religionspädagogisches Lexikon: https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/media/wirelex/pdf/Symboldidaktik__ 2017-10-10_11_12.pdf [10.11.22].
Symbole, Religion und der christliche Mythos
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aber innerhalb von ihnen von Gott gesprochen werden, wenn z. B. das bedeutende Symbol für das Christentum, das Kreuz, nicht allein auf ein Diesseits verweist, also auf den historischen Jesus von Nazareth, sondern darüber hinaus auf den Christus? Das Symbolverständnis Tillichs wirft diese Frage im Kontext der Dogmatik, der Metaphysik und des Mythos-Begriffs auf und macht sie explizit. Die Fokussierung auf das Diesseits in der Religionspädagogik und im Grund aller Disziplinen der Theologie war notwendig, um nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und dem Scheitern von Kulturtheologien in diesem Kontext dogmatisch abzurüsten, anders ausgedrückt um das Evangelium wiederzuentdecken in einer Zeit, in der Kultur und Wissenschaft eine empirische Wende hin zu einem natur- und sozialwissenschaftlich geprägten Weltbild vollzogen. Tillichs Beschreibung der Funktion des spezifisch religiösen Symbols, es stehe für etwas, das als „wesensmäßig Unanschauliches, Ideelles oder Transzendentes“ (GW V, 215) präzisiert werden könne, hatte hier keinen richtigen Platz mehr. Von religiösen Symbolen zu sprechen, die „eine Wirklichkeitsschicht, die der nichtsymbolischen Redeweise unzugänglich ist“ (ebd.) eröffneten, scheint nebulös und zu offen für Machtmissbrauch. Ferner wird Tillichs Argumentation, dass der Tod Jesu auf die Heilstat Gottes bezogen sei, in diesem Verstehenshorizont kaum mehr plausibel. Nochmals sei sein Wort vom Kreuz zitiert: „Die dem Holzkreuz erwiesene Devotion gilt eigentlich dem erlösenden Handeln Gottes, das selbst symbolischer Ausdruck ist für eine Erfahrung des Unbedingt-Transzendenten.“ (GW V, 216) In Befragungen von SchülerInnen und Religionslehrkräften zeigte sich gegenwärtig, dass das Holzkreuz für etwas anderes steht: für den Menschen Jesus von Nazareth, der am Kreuz leiden und sterben musste und dem nach dem Zeugnis von Mk 15 und Mt 27 selbst zugeschrieben wird, dass er tiefste Gottverlassenheit verspürte. Tillich selbst scheint hiervon allerdings ebenfalls etwas gewusst zu haben: Die Formulierung, dass die Devotion ‚eigentlich‘ dem erlösenden Handeln Gottes gelte, lässt dies anklingen. Inwieweit also ein Symbol für das Unbedingt-Transzendente transparent bleibt oder vielmehr zum Symbol von Gottes größter Solidarität mit den Leidenden wird, steht hier in Spannung. Doch die Herausforderung, die Tillichs Symbolverständnis immer wieder ins Spiel der Auslegung des christlichen Glaubens bringt, ist genau jene: Das Kreuz – in seiner Terminologie gesagt – nicht allein zum Zeichen werden zu lassen. Wie herausforderungsvoll diese Aufgabe ist, zeigt der Beitrag von Rudolf Sitzberger zum Symbolorientierten Lernen aus dem Jahr 2021, der zunächst Tillichs Symboltheorie darstellt, dann mit Peter Biel detailliert seinen Ansatz der Merkmale des Symbols darstellt.⁵ Auf dem Hintergrund von Tillichs Beitrag fällt wiederum auf,
5 Vgl. R. Sitzberger, Symboldidaktik, in: E. Stögbauer-Elsner/K. Lindner/B. Porzelt (Hg.), Studienbuch Religionsdidaktik, Bad Heilbrunn 2021, 284–293.
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dass religionsdidaktisch die Begriffe Metaphysik sowie Mythos nicht fallen. Verstanden wird die Symboldidaktik als ‚Religion erlernen‘ in einer Welt, in der religiöse Sozialisation immer mehr schwinde. Sitzberger schreibt: Eine große Chance symbolorientierten Lernens besteht inhaltlich nicht nur im Rahmen der Lernfelder, die zentrale christlich-religiöse Zeichen und Symbole aufgreifen. Vor dem Hintergrund zunehmender Kirchenferne von SchülerInnen werden performative Elemente bedeutsamer. Symboldidaktische und v. a. die von der Semiotik inspirierten, ergänzenden Herangehensweisen im Kontext dieses didaktischen Settings können dazu beitragen, dass auch in Zukunft nicht nur über Religion geredet wird, sondern dass der Code religiöser Rede erhellt und verstanden werden kann. Dazu könnte sich ein erweitertes Konzept einer performativen Symboldidaktik als zielführend erweisen.⁶
Sitzberger geht der Symboldidaktik produktiv nach. Aber letztlich liegt es nahe zu erwarten, dass er die Symboldidaktik für eine Kirche in der Schule funktionalisiert oder anders gesagt: für eine schulische Gelegenheit ansieht, kirchliche Sozialisation einzuholen. Soll dies nicht der Fall sein, muss tatsächlich über Religion im Religionsunterricht geredet werden, und zwar in ihrem Verhältnis zu Symbolen und dem Mythos bzw. der Metaphysik, die diesen reflektiert. Die Bedeutung des Begriffs Symbol bietet einen eigenen Zugang zum Verständnis von Religion an und ist unterbestimmt, wenn es allein auf die gemeinschafts- oder identitätsstiftende Erinnerung im kollektiven Gedächtnis und das durch Erzählungen, Brauchtum, religiöse Feste, Gesten, Bilder, Gebäude und Institutionen bezogen wird. Ein solches Zeichensystem wäre zu Recht als Ideologie zu bezeichnen, weil es insbesondere die ersten beiden Merkmale des Symbols bei Tillich bis zur Unkenntlichkeit hinter sich lässt: die Uneigentlichkeit und die Unanschaulichkeit dessen, auf das es sich bezieht. Das Merkmal der Selbstmächtigkeit ist zudem dann nicht mehr der Kritik unterstellt, dem jedes Symbol, auch das Wort Gott, wie Tillich 1928 noch schreibt, auszusetzen ist. Die Anerkanntheit religiöser Symbole leidet in einem solchen Modus darunter, dass sie sich maßgeblich auf die Legitimierung durch religiöse Institutionen stützt, die diese in ihren Religionspraxen nutzen. Jene Institutionen befinden sich aber gerade jetzt, präziser beschrieben seit mindestens der Empirischen Wende Ende der 1960er Jahre in Deutschland, im freien Fall. Historisch besehen galt dies auch schon für Tillich und seine ZeitgenossInnen, auch in der Weimarer Zeit waren die Kirchen von Geltungs- und Autoritätsverlusten betroffen.⁷
6 A. a.O., 293. 7 Vgl. den Beitrag von Klaus Fitschen in diesem Band.
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II Den zweiten Teil des Aufsatzes widmet Tillich zum einen der Kritik an religiösen Symbolen und zum anderen einer Einbettung seines Symbolverständnisses in einen weiteren Horizont der Trias von Religion, Mythos und Symbol. Dabei ist zugleich daran zu erinnern, dass Tillich nicht zwischen den Begriffen Mythos und Symbol so differenziert, dass die Symbole sozusagen Mythos in kleiner Münze wären. Er kann auch unter dem Symbol einen Komplex verstehen, der ein großes Narrativ umfasst, so z. B., wenn es um das Kreuz Christi geht. Doch zunächst zu seiner Kritik an Symboltheorien: Sie seien Kampftheorien, deren Sinn es sei, Symbolwelten zu stürzen. Den Sturz von Symbolwelten sieht er z. B. in der Deideologisierung sowie in der – in meinen Worten – Entkernung des Realitätsbezugs des Symbols. Mit dem Verweis auf Nietzsche und Marx folgert er: Gegenstand ihres Angriffs ist die Symbolik der bürgerlichen Gesellschaft einschließlich der von ihr durchsetzten Kirchen. Mittel ihres Angriffs ist der Nachweis, dass jene Symbole Ausdruck eines bestimmten Machtwillens sind und keine andere Realität haben als die ihnen vom Machtwillen verliehene. (GW V, 199)
Mit Marx gesprochen seien Symbole als Ideologie zu werten. Mit Freud und der Tiefenpsychologie werde die Gegenständlichkeit des Symbols im Traum und dem Mythos aufgelöst. Symbole würden als Sublimierungen vitaler, in ihrer Wirkung gehemmter Triebimpulse gedeutet. Drittens benennt Tillich Ernst Cassirers Symboltheorie, die er wie häufiger nicht expliziert, aber aufnimmt und in seinem Sinne deutet. Tillich löst anders als Cassirer „die Religion als eine besondere Kulturform auf und versteht sie als ein Reflexionsgeschehen an den kulturellen Formen“.⁸ Er erweitert nun das Spektrum des Symbolbegriffs: Mythische Symbole seien im Unterschied zu anderen unfundierten Symbolen wesentlich durch ihren Symbolcharakter bestimmt (vgl. GW V, 205). Das im mythischen Symbol Gemeinte sei das Unbedingt-Transzendente, das Sein- und Sinn-Gebende als transzendenter Realismus (vgl. GW V, 206). Tillichs Symbolverständnis enthält ein Verständnis von der mythischen Dimension von Religion. Mythen sind, so formuliert er prinzipiell, Symbolschöpfungen. Anschließend spricht er den Kampf der Religionen gegen den Mythos an. Für das Judentum und das Christentum sei hier der Kampf gemeint, der zur Entstehung des Monotheismus geführt hat. Die Nutzung des Kampfbegriffs in Tillichs Formu-
8 C. Danz/W. Schüßler, Die Macht des Mythos. Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext, Berlin/Boston 2015, 6.
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lierungen bedarf einer eigenen Reflexion im Rahmen der politischen Romantik.⁹ Doch an dieser Stelle gilt es zunächst nur festzuhalten, dass Tillich den Prozess der Entstehung des Monotheismus nicht als einen Kampf gegen den Mythos einer pluralen GöttInnenwelt überhaupt wertet, sondern als ein Kampf von einem Mythos gegen einen anderen. Wiederum kann diese These hier nicht in der Tiefe ausgelotet werden. Tillich sieht jedenfalls die Jahwe-Religion selbst auch als einen Jahwe-Mythos an und diesen im Gegenüber zum Polytheismus der Baal-Religion. Der Jahwemythos sei hierbei allerdings als ein Geschichtsmythos zu sehen, d. h. er sei bezogen auf empirische Tatsachen der Geschichte. „Er hat den Realismus des Historischen. Und in das mythische Bild Jahwes ist die Transzendenz in radikaler Fassung eingedrungen. Jahwe erhält die Unbedingtheit, die im religiösen Akt gemeint ist.“ (GW V, 203) Freilich wäre es gut, an dieser Stelle nun auch die empirischen Tatsachen der Geschichte gerade in Bezug auf Jahwe auszuloten. Doch Tillich entfaltet sie nicht. Sie sind in den Narrativen als deren Spiegel enthalten. Einen unmittelbaren Zugriff auf sie gibt es also nicht. In der rhetorischen Richtung des Beitrags bleibt festzuhalten, dass für Tillich Religionskritik zur Theologie und nicht nur zu ihr, sondern auch zur Religionskultur und zum Glauben dazugehört. Er kann den Begriff des Mythos sowohl kritisch als auch konstruktiv bestärkend für die gegenwärtige Religionskultur aufnehmen. Der Begriff hilft dabei, die biblischen Narrative zu verstehen und ihre Bedeutung für die Gegenwart zu erschließen. Er ist für Tillich keinesfalls ein Begriff, der die christliche Religion als unwahr oder als ‚Märchen‘ entlarven würde, sondern gerade das Gegenteil ist für ihn der Fall. Der Mythos in seiner aus ‚heutiger Vernunft‘ betrachteter Perspektive stellt sich ihm als ein immer schon durch diese gebrochene Weltsicht dar, die aber dennoch die Tiefendimension der Transzendierung der Wirklichkeit sichtbar macht. Genau dies ist ebenfalls heute der Fall, wenn Mythen popkulturell bearbeitet werden und Jugendliche und Erwachsene in ihren Bann ziehen. Sie transzendieren erfahrene Wirklichkeit. Geht es aber nicht um erfahrene Wirklichkeiten, sondern um geglaubte Wirklichkeiten, die eingebunden sind in z. B. biblische Narrative, dann treffen Welten aufeinander. Biblische Narrative kommen sozusagen in die Gefahr, ebenso fiktional gesehen werden zu müssen wie andere Fiktionen der Literatur- und Filmgeschichte. Will man diesen Vergleich vermeiden, wird man lieber keine mythische Dimension im Evangelium anerkennen wollen. Die Folge ist, dass, wenn es religionspädagogisch um biblische Motive in der Popkultur geht, die symbolische Dimension hierbei durchaus wahrgenommen
9 C. Danz, Die politische Macht des mythischen Denkens. Paul Tillich und Ernst Cassirer über die Ambivalenz des Mythos, in: ders./W. Schüßler, Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext. Berlin/Boston 2015, 119–142.
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und reflektiert wird, doch das Stichwort Mythos wird außen vor gelassen, es scheint nicht weiterführend, sondern irreführend zu sein.¹⁰ Und so ist im Bereich der Religionspädagogik, wenn von einem Mythos gesprochen wird, doch häufig eher der der anderen gemeint, seien es die in den Wirklichkeiten von filmischen Großerzählungen wie dem Herrn der Ringe oder Harry Potter oder anderer Fantasieliteratur,¹¹ seien es jene derer, die Verschwörungsmythen während der Pandemie erfanden.¹² Beide wurden auch in Bezug auf konkrete Unterrichtskonzeptionen rezipiert. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die Begriffe Religion und Mythos innerhalb der Theologie durchaus eine antagonistische Geschichte haben, die bis heute Wirkungen zeitigt. Greift man nun zweitens Tillichs interessante Kritik am Mythos Wissenschaft auf, scheint es ebenfalls Barrieren zu geben, die verhindern, dass seine Dimension sichtbar und damit auch kritisiert wird. Er setzt damit ein, dass die Theologie wie auch die Religionspraxis, aber eben auch alle Wissenschaften auf konzeptionelle Begriffe wie z. B. Entwicklung oder Leben oder andere mehr angewiesen sind, die nach Tillich selbst wirklichkeitstranszendent sind. Wer dies beachte, so schreibt er, könne sehen, dass auch die Wissenschaften selbst mythenschaffend sind: Auf diese Weise entsteht ein abstrakter Mythos, der nicht weniger Mythos ist als ein konkreter, wenn er auch in seiner Unmittelbarkeit gebrochen ist. Der lebendige Sinn der schöpferischen Metaphysik ist der, dass sie solch abstrakter Mythos ist. Daher ihre wissenschaftliche Fragwürdigkeit und ihre religiöse Kraft. (GW V, 204)
Unter diesen Umständen werde man davon Abstand nehmen müssen, die Mythologie als eine der Wissenschaft und Religion gegenüber selbstständige Symbolschöpfung zu betrachten. Sie sei vielmehr ein Element in beiden, das zwar gebrochen, aber nicht überwunden werden könne (vgl. ebd.). Doch es scheint gerade in dem Bereich der Religionspädagogik, der sich mit Symboltheorie beschäftigt, so zu sein, dass man den Mythos getrennt von der Wissenschaft und Religion verhandeln möchte. Nach einer intensiven Phase der religionswissenschaftlichen, exegetischen und systematisch-theologischen Arbeit am Mythos, in der seine Bedeutung für die Religionsgeschichte des Christentums
10 H. Lindner, Biblische Motive in der Popkultur, in: Wissenschaftlich Religionspädagogisches Lexikon 2018, https://doi.org/10.23768/wirelex.Biblische_Motive_in_der_Popkultur.200295 [14. 2. 2023]. 11 Vgl. eine wegweisende Alternative dazu: A. Dinter/K. Söderblom (Hg.), Vom Logos zum Mythos. „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“ als zentrale Grunderzählungen des 21. Jahrhunderts. Praktischtheologische und religionsdidaktische Analysen, Berlin/Münster 2011. 12 https://material.rpi-virtuell.de/themenseite/verschwoerungstheorien/ [11.12.22].
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mindestens seit Ende des 18. Jahrhunderts diskutiert wurde,¹³ kam es nicht zuletzt auch mit Bultmanns Programm zur Entmythologisierung zu einer religionskulturell betrachtet breiten Ablehnung, indem man ihn depotenzierte und dekonstruierte. Auch wenn innerhalb der Systematischen Theologie längst „die Macht des Mythos“ auch anhand der Theologie Tillichs erneut durchbuchstabiert wurde,¹⁴ führte dies in der Religionspädagogik nicht dazu, jene Kurskorrektur nachzuvollziehen. Dies hat nachvollziehbare Gründe. Denn wie herausforderungsvoll dies für die Pädagogik ist, zeigt sich, wenn man die Stufenmodelle der religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durchmustert.¹⁵ Hier wird klassischer Weise von einer Entwicklung, die vom Mythos zum Logos führt, ausgegangen. Der mythisch wörtliche Glaube ist zu überwinden hin zu eigener Verantwortlichkeit und Intersubjektivität im Glauben. Allerdings hat das Fowlersche Stufenmodell bereits eine kritisch-konstruktive Überarbeitung durch das Modell der religiösen Stiele von Heinz Streib erfahren. Es bezieht sich, soweit zu sehen ist, auf das Mythische als ein wörtliches Verständnis von biblischen Narrativen und ist insofern zu transzendieren, um eine Entwicklung hin zu einem religiösen Fundamentalismus zu verhindern. In Streibs Ansatz wird somit einerseits die Notwendigkeit der Transzendierung des Mythos dargelegt, andererseits kommt seine bleibend wichtige Bedeutung im Verständnis von Religion nicht ausdrücklich vor. In der Trias von Religion, Mythos und Symbol steht nun, nach dieser Fokussierung auf den Mythos, eine Betrachtung der Bedeutung des Symbols an.
III In einem dritten Abschnitt geht Tillich auf verschiedene Arten des religiösen Symbols ein. Er unterscheidet zwei Schichten religiöser Symbole: eine fundierende Schicht, in der die religiöse Gegenständlichkeit gesetzt werde und die selbst unfundiert sei, und eine fundierte Schicht, die auf jene Gegenstände hinweise. In der ersten Schicht siedelt er die von ihm sogenannten religiösen Gegenstandssymbole an, in der zweiten religiöse Hinweissymbole. Tillich konzentriert sich im Folgenden mehr oder weniger auf die Gegenstandssymbole. Zu ihnen gehöre die Welt der
13 Vgl. gerade zur Auseinandersetzung zwischen Bultmann und Tillich: U.H.J. Körtner, Mythos und Entmythologisierung, in: C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext, Berlin/Boston 2015, 143–174. 14 Vgl. C. Danz/W. Schüßler (Hg.), Die Macht des Mythos. Einleitung, in: dies., Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext, Berlin/Boston 2015, bes. 6–8. 15 Vgl. z. B. J.W. Fowler, Stufen des Glaubens: die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991.
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göttlichen Wesen und – nach Brechung des Mythos – auch das ‚Höchste Wesen‘: Gott. Die göttlichen Wesen und das höchste Wesen, Gott, sind Vertretungen des im religiösen Akt Letztgemeinten. Sie sind Vertretungen; denn das Unbedingt-Transzendente geht über jede Setzung eines Wesens, auch eines höchsten Wesens, hinaus. Sofern ein solches gesetzt ist, ist es im religiösen Akt auch wieder aufgehoben. Diese Aufhebung, dieser dem religiösen Akt immanente Atheismus ist die Tiefe des religiösen Aktes. Wo sie verloren geht, entsteht eine Vergegenständlichung des Unbedingten, nie Gegenständlichen, die zerstörend ist ebenso für das religiöse wie für das geistige Leben. (GW V, 206 f.)
Tillich formuliert in Bezug auf das Wort Gott: „Das Wort ‚Gott‘ läßt also im Bewußtsein einen Widerspruch erscheinen zwischen einem uneigentlich Gemeinten, das Bewußtseinsinhalt ist, und einem eigentlich Gemeinten, das von diesem Inhalt vertreten wird.“ (GW V, 207) Zu den religiösen Gegenstandssymbolen gehören daher auch Konkretionen zur Bestimmung über das Wesen und die Handlungen Gottes. Hier sei Gott als Gegenstand vorausgesetzt. Die Wahrheit eines Symbols ruhe in der inneren Notwendigkeit für das symbolschaffende Bewusstsein. Zweifel an seiner Wahrheit zeigten eine Änderung des Bewusstseins, eine neue Stellung zum Unbedingt-Transzendenten an. Für Tillichs Bestimmung der Wahrheit eines Symbols ist das Kriterium, dass das Unbedingte in seiner Unbedingtheit rein erfasst werde. Ein Symbol, das dieser Anforderung nicht genüge, das ein Bedingtes zur Würde des Unbedingten erhebe, sei zwar nicht unrichtig, aber dämonisch. Erwähnenswert sind für Tillich schließlich auch sowohl natürliche als auch historische Objekte, die in die Sphäre der religiösen Gegenstände einbezogen und dadurch zu religiösen Symbolen würden (vgl. GW V, 208). Tillich konkretisiert mit Christus und Buddha, insofern in ihnen das Unbedingt-Transzendente angeschaut werden könne: „Daß diese Gegenwärtigkeit als empirischer Vorgang (etwa die Auferstehung) angeschaut wird, ist die Uneigentlichkeit, die jeder Vergegenständlichung als Transzendenten anhaftet.“ (GW V, 209) Es entspricht sicherlich nicht den üblichen Glaubensvorstellungen, Christus als Symbol zu bezeichnen, eine solche Aussage klingt abstrakt verallgemeinernd und darin distanzierend, wo sie doch von persönlicher Bedeutung sein soll. Es hier wie Tillich zu tun, bedeutet aber, die Struktur religiöser Kommunikation und theologischer Reflexion auf sie transparent zu machen. Dies scheint gerade für eine Religionsdidaktik, die ihr religiöses Fundament innerhalb einer Kultur, die nicht allein christlich, sondern areligiös oder auch religionsplural sich versteht, hoch angemessen zu sein. Freilich ordnet sie religiöse Symbole damit auch ein und begrenzt so ihre Geltung. Dies scheint dem Wahrheitsanspruch, der mit dem Christusglauben in verschiedenen Denominationen verbunden ist, zu widersprechen. De facto tut es dies aber gerade nicht, denn Bezeichnungen wie z. B. Christus, der Pantokrator,
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werden auf diese Weise wieder als Bekenntnis verstehbar, das sich in diesem Fall kunsthistorisch wirkmächtig in der Ikonographie vergegenständlicht hat. Vielleicht ist es gerade dies, was eine zukunftsfähige Religionspädagogik und -didaktik aus Tillichs Symbol-Ansatz lernen kann: von ihren Symbolen und Mythen und von den Grenzen ihres Sinns zu sprechen. Hilfreich hierfür kann darüber hinaus sein, dass Tillich keinen Zweifel an der Geschichtlichkeit von Symbolen lässt, dass er Symbole sich wandelnder Bedeutung und Autorität ausgesetzt sieht. Die zuvor genannten Hinweissymbole sieht er wie folgt: Eine Bearbeitung dieser Symbolschicht käme einer Erscheinungslehre der Religion überhaupt gleich […]. Alle diese Symbole können aufgefaßt werden als depotenzierte Gegenstandssymbole der dritten Gruppe. Sie alle hatten ursprünglich mehr als hinweisende Bedeutung gehabt. Sie waren heilige, mit magisch-sakramentaler Kraft geladene Gegenstände oder Handlungen. In dem Maße, in dem sie zugunsten der unbedingten Transzendenz einerseits, der Verdinglichung der Wirklichkeit andererseits ihre magisch-sakramentale Kraft verloren, sanken sie in die Schicht der hinweisenden Symbole herab. (GW V, 209 f.)
Es kann hier leider nicht ausgeführt werden, dass und wie Tillich ein Verständnis von Magie auch für gegenwärtige, nicht nur religionsgeschichtlich vergangene Perioden des Christentums reklamiert. Aber er verankert in seiner Systematischen Theologie bis heute für viele provokativ ein Verständnis von Magie, das eine Verhältnisbeschreibung zwischen dem Wort Gottes und seiner Kraft und Energie ermöglicht, ohne dass sich einerseits auf ein nicht transparent zu machendes Heiliges bezogen werden muss noch andererseits auf eine entmythologisierte und rationalisierte ‚Diesseitsreligion‘.¹⁶ Dabei unterlässt er es nicht, die dämonische Seite von Magie zu benennen, aber sie ist keinesfalls ihre einzige, sondern sie bringt die Wirkmächtigkeit von religiöser Kommunikation zur Kenntnis, hier im Gebrauch religiöser Symbole. Wie schon bei der Rückholung des Begriffs des Mythos in das systematisch-theologische Denken, so ist es auch bei der des Begriffs der Magie der Fall, dass sie die Tiefendimension der Wirkungsweisen von Religion(en) beschreibbar machen. An ihnen werden dann unvermeidbar auch die Ambivalenzen von Religionskulturen greifbar und identifizierbar. Und mehr noch, beide, die Rede vom Mythos wie jene von der Magie öffnen exemplarisch den Horizont für eine „Erscheinungslehre von Religion“, die dazu verhilft, gelebte Religion in ihrer Vielfältigkeit und Diversität darstellbar zu machen. Ein solches Programm wurde bereits Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts für die Praktische
16 Vgl. H.G. Heimbrock/H. Streib (Hg.), Magie. Katastrophenreligion und Kritik des Glaubens, Kampen 1994.
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Theologie anvisiert, doch im Grunde nicht weiter ausgeführt. Es ist zu vermuten, dass dies darin begründet ist, dass man sich in Zeiten von Enttraditionalisierung auf zentrale Symbolbestände konzentrieren wollte, die sogenannten Hinweissymbole wurden dabei für weniger wichtig erachtet. In religionsdidaktischen Ansätzen hat ein solches enges Symbolverständnis durchaus schwierige Folgen. Während die Tillich’schen Hinweissymbole lebensweltliche Verankerungen haben, sind die Gegenstandssymbole doch hoch abstrakt und zumeist weit weg von der gelebten Religiosität. Das Kreuz scheint für viele Jugendliche so z. B. unverständlich zu sein, sie zögern mit Deutungen oder sind sprachlos. Es werden Begriffe aus der Tradition bedient, aber letztlich kommt eine Art Inhaltsleere mit zum Ausdruck.¹⁷ Ein solch komplexes Symbol wie das Kreuz scheint nicht unmittelbar zugänglich, es braucht didaktische Vorarbeiten, Anbahnungen, die mit kleineren, überschaubareren und vielleicht aus der Alltagswelt aktuell vertrauten Symbolen starten könnten. Denn auch die großen komplexen Symbole wie das Kreuz sind nicht einfach immer dieselben und nicht einfach immer von Belang, je nach Kontext und je nach dem Profil sowie den religiösen Bedürfnissen der RezipientInnen greifen diese auf unterschiedliche Symbole zu. Symbole können überdies für eine Person in verschiedenen Lebensphasen von unterschiedlicher Bedeutung sein. Was ein Symbol ist, so viel ist doch mindestens aus der Semiotik zu lernen, hängt von diffizilen Zuschreibungsprozessen ab.
IV Diese Perspektive greift auch der vierte Abschnitt des hier kommentierten Beitrags über Werden und Vergehen der religiösen Symbole auf. Religiöse Symbole seien, so Tillich, Transformationsprozessen unterlegen. Er sieht sie in der Spannung zwischen Göttlichem und Dämonischem, ihre Schwächung bezeichnet er als Dämonisierung. Die religiösen Symbole dagegen, also grundlegend der Gottesgedanke, hat durch seinen vergegenständlichenden Mißbrauch in solchem Maße an Symbolkraft eingebüßt, dass er weithin eher als eine Verhüllung des Unbedingt-Transzendenten, denn als ein Symbol für dasselbe empfunden wird. Der Nachweis seines ungegenständlich-symbolischen Charakters hat nur da Aussicht auf Wirkung, wo jener Klang der unbedingten Transzendenz im Worte ‚Gott‘ noch gehört werden kann. Wo das nicht der Fall ist, kann der Aufweis des Symbolcharakters der Vorstellungsinhalte im Gottesgedanken nur die Entmächtigung fördern. (GW V, 211)
17 Vgl. J. Heger, Passion und Auferstehung, bibeldidaktisch: https://www.bibelwissenschaft.de/filead min/buh_bibelmodul/media/wirelex/pdf/Passion_und_Auferstehung_bibeldidaktisch_Sekundarstu fe__2017-10-10_12_41.pdf [11.11.22].
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In einer solchen Lage könne es gefahrvoll dazu kommen, dass man meint, unmittelbar sprechen zu wollen, um jenseits aller Symbole das Unbedingt-Transzendente selbst anzuschauen. Tillich lehnt dies ebenso wie die Möglichkeit einer unmythischen Rede von Gott ab und verweist für sie auf das Eschaton, auf eine in Gott stehende Wirklichkeit (vgl. GW V, 212). Welche große Herausforderung diese Ablehnung für die religiöse Praxis bedeutet, wird klar, wenn man an Gottesdienste und Gebete denkt. Die Dresdner Professur eröffnet Tillich darüber hinaus offensichtlich eine Distanz zur Kirche, die auch den Raum gibt, radikale Urteile zu fällen. Mehrfach wurde in Bezug auf die Dresdner Zeit vermerkt, dass Tillich den Kontakt zu einer theologischen Fakultät gesucht habe, ihm ein solcher sehr wichtig war. Aber er war offensichtlich zugleich auch in der Lage, in große Distanz zu traditioneller Religionspraxis und ihrer Reflexion zu gehen. Tillich hat in Dresden, so zeigen biographische Studien, eher in die Kulturszene Kontakte gepflegt als in das kirchliche Leben.¹⁸ Die hier vorgestellte Schrift, die aus der Feder eines Theologen stammt und zugleich viele religionswissenschaftlich bzw. religionsgeschichtlich geprägte Argumentationen aufweist, dürfte das Selbstverständnis der Theologie zu Tillichs Zeiten gestört haben. Es stört noch heute, wenn man etwa an das Verständnis des Gebets im Gottesdienst denkt. Ist es nicht genau die religiöse Handlung, die jene unmythische Rede nicht von, sondern sogar zu Gott ermöglicht? Wäre das Schweigen im Gottesdienst nicht wieder neu zu entdecken, wie es für viele TheologInnen und Glaubende in früheren Zeiten der Fall war und bis heute ist? Das Schweigen gibt davon deutlich Ausdruck, dass uns die Möglichkeiten fehlen, nicht symbolisch und ohne Bezug auf einen Mythos zu Gott zu sprechen. Der Symboldidaktik gibt Tillichs Symbolverständnis so jedenfalls Grundsätzliches zu denken: Wagt sie einen produktiven, weil expliziten Umgang mit dem Mythos, mit dem Symbolischen in der christlichen Religion? Ist sie noch in der Lage, das UnbedingtTranszendente für Kinder, Jugendliche und Erwachsene transparent zu halten?
Coda Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler und Anglist Stephen Greenblatt beschreibt in seinem Buch Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit auf eindrückliche Weise, was Tillich mit der Ausdrucksweise vom gebrochenen Mythos gemeint haben könnte: Seine Eltern gaben ihm für die Zeit, in der am Schluss des Sabbatgottesdienstes die Segenswünsche gesprochen werden, die Anweisung, die Augen geschlossen zu halten und nach unten zu sehen, denn
18 Vgl. hierzu den Beitrag von Alf Christophersen in diesem Band.
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Gott schwebe über den Köpfen und niemand, der in Gottes Angesicht geschaut habe, werde dies überleben. Greenblatt beschreibt im Prolog seines Buches, wie ihm diese Worte nicht aus dem Kopf gingen und ihn doch dazu herausforderten, genau dieses zu tun. Als er sich den Mut fasste und hoch sah, wurde ihm klar, dass er – wie er sagt – belogen worden war. Viele der GottesdienstbesucherInnen hätten hochgeschaut, einander gegrüßt und mehr: Seither sind viele Jahre vergangen, und den naiven Glauben, der mich dazu brachte, mein Leben zu opfern für einen Blick auf Gott, habe ich nie zurückgewonnen. Etwas anderes allerdings lebte weiter in mir, quasi auf der anderen Seite der verlorenen Illusionen. Denn mein Leben lang blieb ich fasziniert von den Geschichten, die wir Menschen erfinden im Versuch, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen, und mir wurde klar, dass es jämmerlich unpassend ist, von ‚Lüge‘ zu sprechen, wenn es um solche Erzählungen geht, um ihr Motiv wie um ihren Inhalt, mögen sie noch so phantastisch sein.¹⁹
Die Literaturwissenschaften ebenso wie viele andere Wissenschaften, mit denen die Theologie es unternimmt, ihre eigenen Gegenstände zu erschließen, lehrt uns, die Tiefe der jüdischen und auch der christlichen Traditionen in all ihren Ambivalenzen wahrzunehmen und naive und von Unmittelbarkeitssehnsüchten geprägte Glaubensvorstellungen hinter sich zu lassen. Dass Religionen großartige Symbolwelten zur Reflexion des eigenen Lebens bereit stellen und dass die Beheimatung in diesen, die man auch Glaube nennen kann, trägt, wird nur dort erfahrbar, wo seine Mythen und Symbole als solche erkennbar werden und man für den Umgang mit ihnen gebildet wird, ohne dass man sie aus der eigenen Welt hinaus zu scheuchen versucht. Denn der gerade Weg vom Mythos zum Logos, wie er bei Greenblatt sogar auch noch leise anklingt, führt nicht hinein in die Welt der Religion(en), sondern allenfalls in die Welt des Mythos vom Logos.
19 S. Greenblatt, Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit, München 2018, 11 f. (US-amerikanisches Original: The Rise and Fall of Adam and Eve, New York 2017).
Autorenverzeichnis Dr. Roderich Barth Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig Dr. Alf Christophersen Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Bergischen Universität Wuppertal Dr. Christian Danz Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien Dr. Klaus Fitschen Professur für Neuere und Neueste Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig Dr. Martin Fritz Wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (Berlin) und Privatdozent für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau Dr. Alexander Gallus Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz Dr. Joseph Imorde Professor für Kunstgeschichte an der Kunsthochschule Weissensee Berlin Gerrit Mauritz, M.A. Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter im FWF-Projekt „Edition der Korrespondenz Paul Tillichs 1887– 1933“ am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Universität Wien Dr. Ilona Nord Professorin am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Dr. Christian E. Roques Dozent für German Studies an der Universität Reims-Champagne-Ardenne. Forscher am Centre Interdisciplinaire de Recherches sur la Langue et la Pensée (CIRLEP) mit dem Schwerpunkt „politische Ideengeschichte“ Dr. Dr. Werner Schüßler Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier Dr. Alexander H. Schwan Visiting Scholar am Center for the Arts & Religion, Graduate Theological Union, Berkeley https://doi.org/10.1515/9783111264332-019
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Autorenverzeichnis
Dr. Christian Schwarke Professor für Systematische Theologie des Instituts für Evangelische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden Dr. Clemens Vollnhals Lehrbeauftragter des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden Dr. Daniel Weidner Professor für Komparatistik des Germanistischen Instituts an der Philosophischen Fakultät an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. Folkart Wittekind Professor für Systematische Theologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität mit Dienstsitz an der Universität zu Köln
Personenregister Achaz-Duisberg, Carl Ludwig Adler, Alfred 240 Adler, Victor 168 Adorno, Theodor W. 154 Albrecht, Renate 86 Allwohn, Adolf 153 Althaus, Paul 263, 273 Anschütz, Gerhard 59 Anselm, Reiner 247 Aristoteles 231 Astrow, Wladimir 20 Augustin von Hippo 232
200
Baader, Franz von 38 Baluschek, Hans 202 Barth, Karl 131, 147, 155, 247–249, 262 f., 268, 273, 275, 278 f., 283, 287 Berdjajew, Nicolai 147–149 Berger, Peter L. 221 Bertram, Ernst 147 Beuys, Joseph 122 Biedermann, Alois Emanuel 256 Biel, Peter 296 f. Bienert, Friedrich 85 Bienert, Ida 85 Blumhardt, Christoph 69 Boehm, Gottfried 121 f. Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 41 Bonhoeffer, Dietrich 200 Bonn, Moritz Julius 18 f., 21 Borinski, Fritz 50 Bornhausen, Karl 263 Bredekamp, Horst 122 Breuer, Robert 23, 25 Brüning, Heinrich 65, 75 Buber, Martin 155, 170, 189 Bultmann, Rudolf 206, 249, 268, 273, 302 Burke, Edmund 41, 48 Buvnov, Nikolai von 87 Casper, Matthias 146 f. Cassirer, Ernst 299 Cézanne, Paul 121, 134, 187 https://doi.org/10.1515/9783111264332-020
Christophersen, Alf 146, 161 Cohn, Jonas 100, 148 Dahrendorf, Ralf 12, 14 f., 28 Dante Alighieri 149 Dehn, Günther 61, 79 Descartes, René 231 Dibelius, Otto 62 f. Diederichs, Eugen 34 Dix, Otto 85 Dombrowsky, Erich 24, 26 Dotzler-Möllering, Leonie 85 f., 103, 108 Dvořák, Max 128 Ebert, Friedrich 23–28 Eckert, Erwin 69 f., 71, 74–76, 80 f. Edschmid, Kasimir 11 Ehrlich, Walter 149 Elert, Werner 248, 263, 267 Erkelenz, Anton 23 f. Erzberger, Matthias 18 Fichte, Johann Gottlieb 32, 38, 48, 232 Fischart, Johannes 24 Fischer, Gustav 43 Flake, Otto 149 Fleck, Ludwik 143, 150, 156 Fowler, James W. 302 Frank, Simon 153 Freud, Sigmund 234, 240, 299 Freyer, Hans 33–36, 39, 47–50, 55 Frick, Heinrich 148, 152 f. Frick, Heinz 147 Fromm, Erich 237 Fuchs, Emil 71, 79, 81 Gehlen, Arnold 14 Gerlach, Hellmut von 25 Geulincx, Arnold 40 Girgensohn, Karl 263 Gleichen-Rußwurm, Alexander von 149 Goesch, Heinrich 187, 234, 237 Gogarten, Friedrich 267, 276, 279 f., 282 f.
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Personenregister
Gogh, Vincent van 134, 187 Göring, Bernhard 70, 79 Graf, Friedrich Wilhelm 51 Gräser, Gusto 63 Greenblatt, Stephen 306 f. Gropius, Walter 85 Gundolf, Friedrich 147 Habermas, Jürgen 12–15, 28 Hacke, Jens 15–17, 19, 21 Haeusser, Ludwig 63 Hain, August Hermann 64 Halbfass, Hubertus 296 Haller, Karl Ludwig von 38 Häring, Johann Theodor von 257, 263 Harnack, Adolf von 257 Harnack, Ernst von 79 Hauer, Jakob Wilhelm 65 Hauptmann, Gerhard 187 Hausenstein, Wilhelm 123, 134 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32, 48, 88– 90, 93 f., 235, 249, 255 Heidegger, Martin 94, 236, 273 Heim, Karl 263, 272 Heimann, Eduard 146–149, 159–165, 170–180 Heimann, Hugo 160 Heimsoeth, Heinz 149 Heller, Hermann 19, 22, 50 Herbart, Johann Friedrich 230 Hermann, Christian 147 f. Herrmann, Wilhelm 257 f., 263 f., 268 Hesse, Herrmann 64 Hessen, Sergius 87 Hielscher, Friedrich 50 Hiller, Kurt 26 f. Hindenburg, Paul von 26 f., 75 Hirsch, Emanuel 225, 247 f., 273 Hitler, Adolf 78 Hoffmann, Ernst Theodor Wilhelm 187 Hofmann, Heinrich 134, 256 Hofmannsthal, Hugo von 187 Holldack, Felix 86, 88 Huch, Ricarda 39 Husserl, Edmund 1, 147, 149, 215, 232 Imdahl, Max
121, 137
Janentzky, Christian 2, 86–88, 93 Jaspers, Karl 181 f., 192–194 Jesus von Nazareth 91, 93, 257 f., 261, 279, 282 f., 286, 289, 297 Jüchen, Aurel von 77, 81 Junginger, Horst 57 Kafka, Franz 156 Kaftan, Theodor 257, 263 Kähler, Martin 256 Kallen, Elisabeth W. 182 f. Kandinsky, Wassily 85, 122, 124, 126 Kant, Immanuel 88 f., 149, 153, 186, 204, 230, 232, 254, 286 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 249 Kästner, Erich 24 Kattenbusch, Ferdinand 257 Keip, Bernhard 63 Kelsen, Hans 20 Keynes, John Maynard 21 Keyserling, Hermann Graf 149 Kierkegaard, Sören 235 f., 262, 273 Klee, Paul 85 Klemperer, Victor 1 f., 5, 87 f. Kley, Heinrich 200 Kodalle, Klaus-Michael 173 Kokoschka, Oskar 85, 183 Kolb, Eberhard 39 Kroner, Alice 85 f. Kroner, Richard 1 f., 85–91, 93 f., 98, 100, 103, 235 Kutter, Hermann 69 Lang, Fritz 200 Lange, Friedrich Albert 230 Lassalle, Ferdinand 168 Latour, Bruno 135 Lehmann-Rußbüldt, Otto 67 Lepsius, Mario Rainer 12 Liebknecht, Karl 66 Lilje, Hanns 204–207 Lipps, Hans 181 Lipsius, Richard Adelbert 256 Löw, Wilhelm 147 Löwe, Adolf 147, 161–163 Loewenstein, Karl 20 Lohmeyer, Ernst 153
Personenregister
Lorenz, Emil Hermann 64 Lübbe, Hermann 205 Ludendorff, Erich 65 Ludendorff, Mathilde 65 Luther, Martin 153, 217 f., 262, 280, 286 Maistre, Joseph de 41 Malebranche, Nicolas 40 Mann, Thomas 18 Mannheim, Karl 33, 44–46 Marc, Franz 126, 133 f. Marlo, Karlo 38 Marx, Karl 78, 93, 168, 173, 299 Marx, Wilhelm 24 May, Rollo 237 Mayer, Emil Walter 2 Mehlis, Georg 87 Meinecke, Friedrich 17, 32, 42 Mennicke, Carl 147 f., 162 f. Meyer-Blanck, Michael 296 Möser, Justus 45 Müller, Adam 31 f., 35, 38, 40, 42, 45, 48 Müller, Alfred Dedo 153 Müller, Hermann 24, 74 Munch, Edward 133, 187 Mund, Hans-Joachim 81 Mutius, Gerhard von 149 Nadler, Käte 93–95 Naumann, Friedrich 24 Newman, Barett 121 Niebuhr, Helmut Richard 181 Niebuhr, Reinhold 181, 207 Niekisch, Ernst 50 Nietzsche, Friedrich 299 Nolde, Emil 133 Nowak, Kurt 51 Oppenheimer, Franz 160 Ossietzky, Carl von 23, 26 Ostwald, Wilhelm 66 Otto, Rudolf 67, 189, 212 Palluca, Gret 85 Pauck, Marion 51 Pauck, Wilhelm 51 Piechowski, Paul 70
313
Platon 231 Plessner, Helmuth 236 Poelchau, Harald 79 Preuß, Hugo 17, 24 Rackwitz, Arthur 79, 81 Rade, Martin 263 Ragaz, Leonhard 69 Rathenau, Walther 18 Reichl, Otto 6, 145, 147, 152 Reitmayer, Morten 22 Richard, Jean 51 Rickert, Heinrich 87, 91 Riezler, Walter 147 Rilke, Rainer Maria 187 Ritschl, Albrecht 249, 256–258, 262–264, 274 Rittelmeyer, Friedrich 64 Rodbertus, Karl 38 Rogers, Carl 237 Rosenberg, Alfred 65 Rosenstock, Eugen 153, 157 Rothko, Mark 121 Rubinstein, Sigmund 33, 36–39 Rüstow, Alexander 146 f., 151, 161–163 Schaeder, Erich 263 Scheler, Max 236 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 38, 48, 224–228, 235, 294 Schelsky, Helmut 14 Schenkel, Gotthilf 70, 76, 78 Schlegel, Friedrich 40, 42, 48 Schmitt, Carl 33, 39–42, 46–48, 54, 79 Schopenhauer, Arthur 240 Schotthöfer, Fritz 19 Schumacher, Karl 81 Schützinger, Hermann 27 Sedlmayr, Hans 123 Seeberg, Reinhold 264 Seydewitz, Max 76 Siebeck, Oskar 98 Siebeck, Paul 87 f. Siegfried, Theodor 147, 152 f. Siegmund-Schultze, Friedrich 79 Simmel, Georg 34, 125, 212 Sitzberger, Rudolf 297 f. Söderblom, Nathan 58
314
Personenregister
Sollmann, Wilhelm 71 Spann, Othmar 33, 43 Spengler, Oswald 188 Stange, Carl 263 Stapel, Wilhelm 65 Starke, Erhard 61 Steiner, Rudolf 57, 64 Steiniger, Peter Alfons 26 Steinweg, Gertrud 6, 103 f., 107–110, 112 f., 187, 194, 234 Stephan, Horst 263–265, 270 Stepun, Fedor 1 f., 86–93, 100 Strasser, Otto 50 Streib, Heinz 302 Strindberg, August 187 Ströbel, Heinrich 23 Taylor, Charles Thälmann, Ernst Tillich, Hannah Troeltsch, Ernst Tucholsky, Kurt Ulich, Robert Walzer, Michael
229 27 85, 102, 234 17 f., 217, 261, 264, 277, 24–26
1, 87 15
280
Warburg, Aby 132 f. Weber, Alfred 160 Weber, Hans-Emil 263 Weber, Max 4, 17, 160, 227 Wehrung, Georg 263, 273 Weizsäcker, Viktor von 155 Weltsch, Felix 20 Wernle, Paul 260 Wiener, Max 154 Wiese, Leopold von 17 Wigman, Mary 6, 85, 102–104, 106, 108–111, 113–116, 118 f., 183, 187 f. Wilhelm II., Friedrich Wilhelm Albert Viktor von Preußen 260 Wirth, Joseph 27 Wittig, Joseph 155 Wobbermin, Georg 263 Wolfers, Arnold 162 Wolff, Christian 231 Worringer, Wilhelm 17 Wünsch, Georg 70, 79 f. Wust, Peter 192 f. Zander, Helmut 57 Ziegler, Leopold 149 Zimmermann, Mirjam
296
Sachregister Abgrund, der 165, 170, 216, 227, 284 Absolute, das 90, 109–112, 123, 128, 198, 216, 225, 243, 268 f., 288 Analyse, die 43, 144, 243, 269 Analyse, die psychoanalytische 234, 237, 239 f. Analyse, die zeitdiagnostische 44, 49, 66, 71, 107, 167, 181–183, 192–194 Anthroposophie, die 57, 59 f., 68, 188, 249 Antipsychologismus, der 229, 232 Apologetik, die 64, 66 f. Ausdifferenzierung, die 252 f., 275 f. Ausdifferenzierung, die gesellschaftliche 251, 257, 261 f., 272, 274 Ausdifferenzierung, die religiöse 263, 265, 267 Ausdruckstanz, der 6, 102–104, 107, 110–119, 187 Barock, der 128, 132, 134 f. Bewusstsein, das 165–168, 170, 173–175, 179, 190, 206, 215, 218, 221 f., 238–243, 250, 256–258, 264–275, 280–290 Bildung, die 170 f., 177–179, 193 Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands, der (= BRSD) 69–81 Christologie, die
93, 273, 282
Demokratie, die 11 f., 14, 16, 20, 24, 26, 28 f. Demokratie, liberale 17–19, 21 Dämonisierung, die 211, 219–228 Dämonische, das 4, 49, 95, 99. 133, 136, 144, 151, 199–201 Deutschen Christen, die 65, 77 f., 104, 113 Durchbruch, der 5, 110–112, 166 f., 184 f., 187, 284–287, 290
Faschismus, der 18–20, 27, 51, 75, 77 Form, die 4–6, 52, 96, 99, 165 Form, unbedingte 215–221, 224–226 Freikirchen, die 57, 59, 63 Gehalt, der 4, 112, 115, 165, 167 f., 171, 178 f., 185, 215, 290 Geist der bürgerlichen Gesellschaft, der 4, 151, 167 f., 171, 176–178, 183 f., 187–190 Geschichte, die 29, 44, 54, 57, 81, 89 f., 100, 145–147, 153, 191, 230, 257, 271–273, 300 Geschichtsbewusstsein, das 290 Geschichtsmetaphysik, die 149 Geschichtsmythos, der 300 Gestalt der Gnade, die 6, 94–98, 153, 279, 287– 290 Gottesbegriff, der 90, 255 Grund, der 11, 15, 169. 215 f., 219–228 Historismus, der
Idealismus, der 35, 88 f., 93 f., 207, 249, 254– 246, 262, 264 Intellektuellengeschichte, die / Intellectual History (engl.) 11–29 Irrationalität, die 132–137 Kairosbegriff, der 94–98 Kapitalismus, der 4, 21, 167–171, 174–177, 289 Keynesianismus, der 21 Klassenkampf, der 48, 71, 92–94, 159–179 Konservatismus, der 33, 43–47 Kreuz, das 271–274, 297–299, 305 Kulturkampf, der 61 f. Logosclique, die
Essay, der 141 Essayismus, der 154–158 Ewige, das 167, 168, 170, 176, 184 f., 189 f. Expressionismus, der 110, 112, 123, 131, 135, 144, 183, 187, 206 Existentialismus, der 238 Existenz, die 95, 206, 239, 265, 295 f. https://doi.org/10.1515/9783111264332-021
43 f., 150, 257
2, 85–88
Marxismus, der 38, 71, 174, 179 Meinen des Unbedingten, das 285–290 Metaphysik, die 40, 92, 110, 149–152, 225, 231, 256, 264, 296–301
316
Sachregister
Modernisierung, die 55, 62, 248, 250– 253, 256, 258 f., 264–267, 270, 274–276 Mythos, der 2, 5 f., 197, 199, 226, 241, 293– 307 Nationalsozialismus, der 109, 112 f., 116, 119
51–53, 62 f., 77, 80,
Occasionalismus, der 40 Offenbarung, die 3, 185, 266, 274 f., 279, 281– 285, 288 f. Persönlichkeitsbegriff, der 98, 235 f. Prinzip, das protestantische 169, 287 Profanisierung, die 97, 166–169, 172, 219 f., 227 Prophetie, die 96, 150–152 Protestantismus, der landeskirchliche 60–63 Psychische, das 232 f., 239–243 Psychologie, die 186, 227, 229–244, 256 Räteidee, die 36–38 Rationalismus, der 4, 34 f., 39, 44, 48 Realismus, der 148, 198, 203–206, 256 f., 299 f. Realismus, der gläubige 6, 94, 170 f., 175–177, 182, 184 f., 187–190, 206 f., 222, 287 Religion, die sakramentale 217–219, 227 Religion, die theokratische/prophetische 217– 219, 227, 285 Religionsgeschichte, die 57, 250, 260, 267, 289, 301 Religionstheorie, die 149, 213, 223–225, 268 Revolution, die deutsche/Novemberrevolution 26, 33 36–38, 69 Romantik, die politische 31–55
Säkularisierung, die 60–62, 136, 219 Seele, die 99 f., 124–127, 131, 157, 227, 229–243 Sinngrund, der 166–169, 214–226 Sozialismus, der religiöse 92 f., 159, 163, 187 Sozialismus, der romantische 36–38 Sozialdemokratie, die 19–23, 26 f., 75–82 Stil/Stilbegriff, der 143 f., 154–157, 182 Sünde, die 207, 239 f. Symbol, das 5–7, 111–113, 176–178, 207–209, 215–218, 222, 283, 294 Symbol, das religiöse 7, 295–305 Symboldidaktik, die 294–299, 306 Technik, die 2, 5 f., 88 f., 99, 180, 184, 187, 193, 197–209 Theonomie, die 49, 185 f., 190–193 Unbedingte, das 5, 100, 165–169, 178, 215–219, 225 f., 284 f., 288 f., 303 Unheimliche, das 89, 200 f., 207 Volk, das 48 f., 65., 79, 92, 293 Volksentscheid, der zur entschädigungslosen Fürstenteignung (1926) 73–75 Weltanschauung, die 58 f. Wirtschaftstheorie, die romantische Zweiparteiensystem, das 26 f. Zivilisation, die 35 f., 105, 257
35 f.