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German Pages [160] Year 1962
Harding Meyer Pascals Pensées als dialogische Verkündigung
Arbeiten zur Pastoraltheologie Herausgegeben von Martin Fischer und Robert Frick
BAND 1
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Pascals Pensées als dialogische Verkündigung
Von HARDING MEYER
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Meiner Mutter und dem Andenken meines Vaters
Gedruckt mit Unterstützung der deutschen Forschungsgemeinschaft. © Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1962. Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung Hubert & Co., Göttingen 7902
VORWORT Bereits zu Anfang des Jahres 1958 lag diese Untersuchung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Hamburg als InauguralDissertation vor. Die Schwierigkeit, aus der Ferne engeren Kontakt mit der europäischen Geistesarbeit zu bewahren, ist der Hauptgrund dafür, daß die seit dieser Zeit erschienene neue Literatur zum Thema — ich denke u. a. an Lacombes „L'apologétique de Pascal" — nicht mehr verarbeitet wurde. Dieser — an sich bedauerliche — Mangel wird vielleicht dadurch gemildert, daß es mir nicht in erster Linie um einen Beitrag zur PascalForschung im strengen Sinne ging. Die „pensée de derrière", die mich bei aller Beschäftigung mit Pascal leitete, war der Wunsch, seine Apologetik in ihrem Wesen zu verstehen, um sie gleichzeitig mit der heutigen Theologie und Verkündigung zu konfrontieren. Im Laufe der Untersuchungen erwies sich das Dialogische als der entscheidende Wesenszug dieser Apologetik. Zu seiner vollen Erfassung und Beschreibung schien es mir nötig zu sein, die ausgeprägte dialogische Linie audi in dem den „Pensées" vorausgehenden Werke Pascals aufzuzeigen und ihr folgend gleichsam eine Schneise in den Wald des Pascalschen Schrifttums zu legen, die für den Leser schließlich in die Lichtung der apologetischen „Pensées" einmündet. Gedacht war dabei vorwiegend an Leser, die selbst vor der Problematik christlicher Predigt stehen. Ihnen möchte die Arbeit das Wesen und die Relevanz dialogischer Grundhaltung und dialogischer Methode im Räume der Evangeliumsverkündigung vor Augen führen. Im Blick auf diese Leser erschien es mir als tunlich, alle fremdsprachigen Zitate, deren Originalfassung die Dissertation bewahrt hatte, übersetzt zu bringen. Soweit es möglich war, wurde dabei, was die Werke Pascals betrifft, auf die Ubersetzungen von E. Wasmuth (Pascal, Uber die Religion, Berlin 1937 und Pascal, Die Kunst zu überzeugen, Heidelberg 1950) und E. Russell (Pascal, Briefe gegen die Jesuiten, Jena 1907), gelegentlich auch auf die Übertragung der „Pensées" von W. Rüttenauer (Pascal, Gedanken, Leipzig o. J.) zurüdkgegrifFen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor D. Dr. Helmut Thielicke, D. D., der die Entstehung der Arbeit mit manch ermutigender Kritik begleitete. 5
Der Abschluß der Untersudiungen wurde dadurch erleichtert, daß das Landeskirchenamt Hannover mich als Studieninspektor an das Predigerseminar in Imbshausen rief, bei dessen Leiter, Herrn Studiendirektor Henry Holze, ich mit meiner Arbeit verständnisvolles Entgegenkommen fand. Daß die Veröffentlichung im Jahre der dreihundertsten Wiederkehr des Todes Pascals möglich wurde, verdanke idi der großzügigen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sao Leopoldo, Brasilien, im Oktober 1961 Harding Meyer
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INHALT Das falsche Bild vom „einsamen" Pascal
11
I. Die dialogische Grundhaltung (Der Dialog-Charakter der Schriften Pascals)
16
1. Die physikalischen und mathematischen Arbeiten
17
a) Die Arbeit an der Rechenmaschine und die Arbeiten über das Vakuum .
17
b) Die Wahrscheinlichkeitsrechnung und das Problem des Zykloids
20
2. Die philosophisdien und theologischen Schriften a) Das „Gespräch mit M. de Saci", die »Drei Vorträge über den Stand der großen Herren" und der „Brief über die Möglichkeit, die Gebote Gottes zu erfüllen"
22
22
b) Die Provinzialbriefe
25
Die Veranlassung
25
Der Adressat
26
Die literarische Form
28
Die bleibende Situationsverflochtenheit
29
3. Das Wesen dialogischer Grundhaltung und dialogischer Literarform . . . .
32
Zusammenfassung
34
II. Die dialogische Methode (Pascals „Kunst zu überzeugen") 1. Pascals „Kunst zu überzeugen" als „Kunst" dialogischen Überzeugens . . . a) Die Personbezogenheit der „Kunst zu überzeugen"
36 36 36
(Ihr Unterschied zur „ geometrischen Methode" des Beweisens) b) Die drei Grundregeln der „Kunst zu überzeugen"
40
c) Die Sachbezogenheit der „Kunst zu überzeugen" (Ihr Unterschied zur „Beredsamkeit" der „honnêtes gens")
44
7
2. Die Verankerung der „Kunst zu überzeugen" in Pascals Wahrheitsverständnis
46
a) Wahrheit als ontologisdie Wahrheit
47
b) Wahrheit als noetische Wahrheit
48
c) Wahrheit als existentielle Wahrheit
52
3. Die Verankerung der „Kunst zu überzeugen" in Pascals Menschenbild . . .
56
a) Die menschliche „diversité"
56
b) Der menschliche „intérêt"
59
Die „inquiétude"
59
Das „chercher"
60
Der „intérêt"
62
4. Die Korrelation von Grundhaltung und Methode und das Ganze Pascalscher Dialogik
III. Die dialogische Verkündigung (Pascals „Pensées") Α. Die „Pensées" im Zeidien der dialogischen Grundhaltung
64
67 67
1. Der Anlaß
68
2. Der Adressat
72
3. Die literarische Form
78
Zusammenfassung
81
B. Die „Pensées" im Zeidien der dialogischen Methode
83
1.Die Anwendung der ersten Grundregel der „Kunst zu überzeugen" . . . (Die Gestalt des „honnête homme")
84
2. Die Anwendung der zweiten Grundregel der „Kunst zu überzeugen" . . (Der „rapport" zwischen „honnête homme" und christlicher Offenbarung)
92
a) Die Frage nsdi dem Menschen als „rapport" zwischen „honnête homme" und christlicher Offenbarung
92
b) Die anthropologische Konzentration der apologetischen Verkündigung
96
3. Die Anwendung der dritten Grundregel der „Kunst zu überzeugen" . . (Die „Anwendung" des „rapport")
98
a) Die „Anwendung" des „rapport" als Akzeptation und Widerspruch oder als Radikalisierung eines Übernommenen
8
100
b) Die lineare Vertiefung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis . .
102
(Die menschliche „Schwäche" und „Ohnmacht") c) Die dialektische Vertiefung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis (Die menschliche „Niedrigkeit" [misère] und „Unbegreiflichkeit" [incompréhensibilité] ) d) Die Radikalisierung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis als Hinführung an die Grenze des Daseins und die Schwelle der Offenbarung Zusammenfassung
111
118 124
Sdiluß: Pascals dialogische Verkündigung und das Problem der Apologetik
125
Literaturverzeichnis
134
Anmerkungen
137
9
DAS FALSCHE BILD VOM „EINSAMEN" PASCAL Das Pascal-Bild, wie es vor allem die ersten vier Jahrzehnte unseres Jahrhunderts entworfen haben und wie es audi heute noch weithin vorherrscht, ist ein Bild mit vorwiegend düsteren Farbtönen. Finster, leidend, schweigsam, aber dodi voll dunkel glühender Leidenschaft und plötzlicher Beredsamkeit, geplagt von der Vorstellung des Unendlichen und Abgründigen, zerrissen von den Widersprüchen und Paradoxien des Daseins, getrieben von Weltangst, gequält von einer Ruhelosigkeit, die auch seinen Glauben voll Furdit und Tränen sein läßt, so steht Pascal vor uns. Es ist der „tragisch-heroische" Pascal, dem alles fehlt, „was in einem besonderen Sinne den Geist menschlich macht: das Lösende, Mildv e r w a n d e l n d e " E r ist ein „französisch-jansenistischer Hamlet" 2 , ein Ausnahme-Mensch, den wir nur mühevoll verstehen können, weil ihm jedes Mittelmaß fremd ist3. Zu diesem Pascal-Bild gehört als wesentlicher Zug die Einsamkeit. „Bei aller geistigen Mächtigkeit und kämpferischen Kraft" ist er „doch ein Heimatloser", den sein Weg schließlich „in die Einsamkeit des vollkommenen Schweigens" führt 4 . In allen Stadien seines Lebens verurteilt ihn seine Überlegenheit zur „Isoliertheit", und selbst die Hingabe an Gott vermag sein „Verlangen nach Kommunikation" nicht zu erfüllen, weil dieser Gott die Einsamkeit seiner Erwählten will 5 . So wird Pascal uns geschildert. Ja, man meint sogar, bei ihm ein Fehlen jeglidien Kommunikationssinnes feststellen zu müssen. „Pascal würde nicht verstehen, daß der mitmenschliche Bezug ein konstitutives Element der Person ist." 6 Man macht ihm den Vorwurf des Individualismus7. „Pascal stellt schon im voraus den klassischen Typ des individualistischen Christen dar." 8 Er sei, so ist gesagt worden, „der größte Individualist, den es gibt" 9 . Gegenwärtig kann man jedoch bei einer Reihe von Forschern das deutliche Bestreben beobachten, von diesem Pascal-Bild, das man mit einem Schlagwort als „romantisch" bezeichnet hat, loszukommen, zumindest es in vielen Zügen zu korrigieren10. Dabei wird der Rede vom „einsamen" oder gar „individualistischen" Pascal entgegengehalten, daß Pascal kein Einsiedler, kein „solitaire", kein „Mensch der abgeschlossenen Studierstube" gewesen sei11, sondern einer mit dem „Temperament eines Tatmenschen", ein „voyageur", einer, der einen weiten Freundes- und Bekanntenkreis besessen habe. Man weist hin auf seine „Empfindsamkeit", 11
die etwa in einer besonderen „Zuneigung zu seiner Familie" zum Ausdruck gekommen sei, deren ganze Intensität jedoch nur in der „Verbindung mit Gott" habe erfüllt werden können 12 . Es ist in der Tat von Wichtigkeit, das Bild des einsamen, kommunikationsarmen, schweigsamen Pascal gründlich zu revidieren, nicht allein deswegen, weil es sich hier um einen biographischen Irrtum handelt, sondern auch, weil diese Vorstellung uns den Weg zu wichtigen Erkenntnissen von vornherein abzuschneiden droht. Der Ursprung dieses Irrtums liegt einmal in der von Gilberte Périer verfaßten Lebensbeschreibung ihres Bruders Pascal, zum anderen in dem weitverbreiteten MißVerständnis der „Pensées" als einer Autobiographie. Mme Périers „Vie de Monsieur Pascal" ist eine Lebensbeschreibung mit stark tendenziösem Charakter. Es geht Gilberte Périer darum, von ihrem Bruder ein Bild zu zeichnen, das ihn als jansenistischen Heiligen darstellt. Eins der Hauptwesensmerkmale des jansenistischen Heiligen aber besteht darin, daß er ein Einsiedler, ein „solitaire", ist, der auf alle näheren menschlichen Beziehungen, selbst auf die Beziehung der Blutsverwandtschaft möglichst ganz verzichtet. „Die Welt und alle weltlichen Unterhaltungen verlassen; denn noch die unschuldigsten sind ständige Vergeblichkeiten, völlig unwürdig der christlichen Heiligkeit" 13 , so umschreibt Mme Périer selbst einmal dieses jansenistische Frömmigkeitsideal des „solitaire", und ihm entsprechend schildert sie ihren Bruder. Mit dreißig Jahren, so schreibt sie, vollzog er eine „retraite considérable" 14. „Er bezeugte so deutlich seinen Entsdiluß, die Welt zu verlassen, daß am Ende die Welt ihn verließ." 16 Er machte sich frei von „überflüssigen Besuchen und wollte sogar überhaupt niemand mehr sehen . . . " 1 β . Empfand er Freude an einer Unterhaltung, so trieb er sich die Eisenspitzen seines Gürtels in den Leib 17 . Auch die „harmlosesten Freundschaften" verwarf er 18 und wollte seiner Schwester nicht einmal gestatten, ihre Kinder zu herzen 19 . Eine „Grundmaxime seiner Frömmigkeit" war, „niemals zu dulden, daß man ihn mit Hingabe liebte" 20 . Mit Bewunderung sagt Gilberte Périer, der Verzicht ihres Bruders auf alle menschlichen Beziehungen sei so groß gewesen, daß er selbst ihr gegenüber, die ihm in den Jahren der Krankheit eine hingebungsvolle Pflegerin gewesen war, keine Zuneigung gezeigt habe 21 . Diesem vom Ideal des jansenistischen „solitaire" bestimmten Bild eines einsamen und schweigenden Pascal ohne Besuche, ohne Freundschaft, ohne Zuneigung widerspricht jedoch der biographische Tatbestand. Pascals „Verlassen der Welt" hatte bei weitem nicht den radikalen Charakter, den Gilberte Périer ihm zu geben versucht. Tatsache ist, daß Pascal nie zu einem der „solitaires" von Port-Royal wurde. Er bradi mit seiner „Bekehrung" die Verbindung zur „Welt" nicht ab, sondern stand weiterhin in durchaus freundschaftlicher Beziehung zu den zahl-
12
reichen Bekannten aus der Zeit vor dem 23. November 1654, dem Datum seiner Bekehrung. So gibt es aus dem Jahre 1659 einen Brief des Chevalier de Méré an Pascal, der in seinem Inhalt deutlich die ungebrochene Verbindung beider voraussetzt. Wir wissen ferner, daß Pascal mit Mme de Sablé, in deren Salon er während seiner „période mondaine" verkehrt hatte, in Beziehung blieb und auch die Verbindung zu den Wissenschaftlern seiner Zeit wahrte. Selbst die Biographie Gilberte Périers läßt gleichsam wider Willen neben dem fiktiven Pascal-,, Solitaire" einen anderen Pascal erkennen, der Freunde besaß, für die er eine „außerordentliche Zuneigung" hegte 22 , der Besudle empfing 23 , zu dem Menschen kamen, ihn um Rat zu fragen 24 , und der selbst in Briefen und Gesprächen bei seiner Schwester Jacqueline Trost und Freude suchte25, der mit Atheisten disputierte 26 , die Kunst der Beredsamkeit in bewunderungswürdigem Maße beherrschte und übte 27 und der auch in den letzten, von Krankheit gezeichneten Monaten seines Lebens nicht zum Einsamen wurde, sondern seinen Neffen bei sich hatte 28 und eine Armenfamilie in sein Haus aufnahm 29 . Was Mme Périer von der „retraite" ihres Bruders berichtet, meint man, werde durch Pascals eigenes Zeugnis bestätigt. Man verweist dabei auf eine Reihe von ,,Pensées"-Fragmenten, die das Sein des Menschen als ein Alleinsein beschreiben. In der Tat gibt es Fragmente, die so vom Menschen reden und alles menschliche Miteinander als bloßes Beieinander verstehen, das die fundamentale Einsamkeit wohl zu verdecken, nicht aber aufzuheben vermag. In diesem Sinne spricht Pascal vom „cachot", vom „Verließ" 30 , in dem die Menschen gefesselt und zum Tode verurteilt liegen, als von einem „Bild der menschlichen Seinslage" 31 . „Es ist albern von uns, daß wir uns in der Gesellschaft von uns Gleichen erholen, die elend wie wir, ohnmächtig wie wir sind: sie werden uns nicht helfen; man stirbt allein. Also gilt es zu handeln, als ob man allein wäre." 32 In anderen Fragmenten ist der „homme égaré", der „Verirrte", das Sinnbild unserer Seinslage. Dieses „Verirrt-sein" des Menschen kann von Pascal auf verschiedene Weise näher umschrieben werden, etwa als wechselseitige Fremdheit, als wechselseitiges Nichtkennen zwischen Mensch und Welt 33 , als Verlorensein des einzelnen zwischen den beiden Unendlichen, die sich über und unter, vor und nach ihm wie unermeßliche Abgründe öffnen 34 , als Verlust des ihm angewiesenen und angemessenen Ortes 35 , als Getrenntsein vom Gesamtorganismus 36 oder als ein Sichselbst-überlassen-sein des Menschen im „ewigen Schweigen der unendlichen Räume" 3T . Ist es nun erlaubt, diese Fragmente und damit überhaupt die „Pensées" autobiographisch, als Aussagen Pascals über sich selbst zu verstehen? Wenn man die Meinungen der Pascal-Interpreten Revue passieren läßt, so stellt man fest, daß weithin die Auffassung herrscht, die „Pensées" 13
trügen Tagebuch- oder Selbstbekenntnischarakter, sie seien „Abbild seines eigenen Geistes"38, „voll vom eigensten Wesen Pascals"39, seien „das Tagebuch seines Lebens"40, und daß nur relativ wenige Pascal-Forscher ausdrücklich eine andere Meinung vertreten. Man könnte versucht sein, dieses Verständnis der „Pensées" mit dem einfachen Hinweis abzuwehren, daß Pascal seine „Pensées" nicht als Bruchstücke eines großen Selbstbekenntnisses, sondern als Teile einer Apologie des Christentums geschrieben habe. Doch ist mit diesem Einwand die Möglichkeit eines autobiographischen Verständnisses noch keineswegs grundsätzlich ausgeschieden. Es wäre durchaus denkbar, daß Pascal in den „Pensées", unbeschadet ihres apologetischen Charakters, doch sein eigenes Herz, seine persönlichen Empfindungen und Gefühle offenbare. Er täte damit nichts anderes, als was christliche Prediger zu allen Zeiten getan haben: Gottes Heilsbotschaft zu verkünden, indem sie von dem ihnen selbst zuteilgewordenen Heil Zeugnis ablegen. Nichtsdestotrotz ist uns ein autobiographisches Verständnis der apologetischen „Pensées" untersagt. Kein geringerer als Pascal selbst verbietet es. Es ist bekannt, daß Pascal — vor allem in seinem Menschenstudium — in starkem Maße Schüler Montaignes war. So häufig wird man bei der Lektüre der Schriften Pascals auf Montaigne verwiesen, daß man die „Essais" als „la bible profane" Pascals bezeichnet hat 41 . Jedoch übernimmt Pascal Montaigne nicht kritiklos. Einer der verschiedenen Punkte seiner Kritik ist, daß Montaigne von sich selbst rede. „Was bei ihm (sc. Montaigne) schlecht ist, ich meine abgesehen vom Lebenswandel, könnte sofort gebessert werden, wenn man ihm klargemacht hätte, daß er zu viele Geschichten erzähle und zuviel von sich selbst spräche."42 Nodi schärfer formuliert Pascal diesen Vorwurf in Fr. 62: „Der törichte Plan, sich selbst darzustellen, und das nicht zufällig und gegen seine Grundsätze, wie es jedem unterläuft, daß er sich irrt, sondern auf Grund seiner eigenen Grundsätze und eines ursprünglichen und maßgebenden Planes. Denn Torheit aus Schwäche und zufällig zu reden, das ist ein gewöhnliches Übel; sie aber nach Plan zu schwätzen, das ist unerträglich." Die literarische Selbstdarstellung könnte nicht schärfer und klarer verurteilt werden. Es ist uns dadurch auf das Entschiedenste verwehrt, sie dennoch bei Pascal selbst zu sudien. Das wird noch klarer, wenn man nach dem Grund dieser Einstellung Pascals zur privat-intimen Rede fragt. Er liegt u. E. vor allem in der „honnêteté", jenem Bildungs- und Lebensideal einer bestimmten soziologischen Schicht der damaligen Zeit, das für Pascal zeitlebens große Bedeutung gehabt hat, und auf das wir in unserer Arbeit noch verschiedentlich zurückkommen werden. Ein charakteristisches Moment dieser „honnêteté" ist die Bezogenheit auf den Anderen. Höflichkeit, Zurückhaltung, Einfühlungsvermögen, die Kunst, dem Anderen zu gefallen, ihn zu unter14
halten und ihm Freude zu machen, das sind einige der vom „honnête homme" besonders geschätzten „Tugenden". Alle Ichbezogenheit, alles Sich-aufdrängen, insbesondere ailes Reden von sich selbst, seinen eigenen Beschäftigungen und Gedanken widerspricht der „honnêteté" zutiefst. „Man weiß — sagt Mme Périer von ihrem Bruder —, daß seiner Ansicht nach ein ,honnête homme' es vermeiden sollte, sich zu nennen, und sogar, sich der Wörter ,ich£ oder .mich' zu bedienen. Er pflegte zu diesem Thema zu sagen, daß die christliche Frömmigkeit das menschliche Ich vernichte und die menschliche Höflichkeit es verberge und unterdrücke. Das faßte er als Richtschnur auf, und genau danach handelte er." 48 Einen weiteren Grund für Pascals Ablehnung aller Selbstdarstellung müssen wir in seiner Auffassung von der Kunst des Uberzeugens suchen. Allein dessen Rede hat Erfolg, so meint Pascal, der uns „nicht seinen eigenen Besitz, sondern unseren eigenen sichtbar macht" u , der also nicht von sich selbst und dem, was ihn bewegt und beschäftigt, spricht, sondern vom Anderen redet und von dem, was diesen bewegt. „Man muß auf den Menschen Rücksicht nehmen, den man überzeugen will . . ," 4 5 ; statt von sich selbst zu reden, soll man sich dem Zuhörer „akkommodieren"4e. Wenn man den tendenziösen Charakter von Mme Périers „Vie de Monsieur Pascal" erkennt und sieht, wie Pascal selbst es ist, der uns das autobiographische Verständnis seiner apologetischen „Pensées" verwehrt, so sind der Auffassung vom Pascal-„ Solitaire" die wichtigsten Stützen entzogen. Damit ist der Weg frei zur Gewinnung eines richtigeren Pascal-Bildes und zu einem besseren Verständnis seiner Werke.
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I.DIE DIALOGISCHE GRUNDHALTUNG (Der Dialog-Charakter der Schriften Pascals) Man kann beim Lesen der Pascalschen Schriften immer wieder die stilistische Beobachtung machen, wie Pascals Sprache zum Gespräch tendiert und stellenweise sogar in den formal durchgeführten Dialog einmündet. Daß dies bei den Provinzialbriefen der Fall ist, liegt auf der Hand und ist allgemein bekannt. Audi im Blick auf die „Pensées" ist der dialogisierende Charakter der Pascalschen Sprache beachtet und hervorgehoben worden. Wesentlich seltener jedoch hat man erkannt, daß es sich hier um ein für nahezu sämtliche, sowohl für die frühen wie für die späten Schriften Pascals zutreffendes Stilmerkmal handelt 1 . Wenn man — durch diesen, zunächst rein formal-literarischen Sachverhalt aufmerksam gemacht — die einzelnen Arbeiten Pascals auf Art und Bedingung ihrer Entstehung hin untersucht, so stellt sich heraus, daß diesem dialogisierenden Stil andere, tiefer liegende Sachverhalte entsprechen, daß es also hier keineswegs um einen bloßen modus loquendi geht, der ebensogut durch einen anderen ersetzt werden könnte, sondern um ein im Sachlichen verankertes Phänomen. Ein Blick auf die jeweiligen Entstehungsbedingungen der einzelnen Arbeiten Pascals läßt dies deutlich erkennen. Er zeigt, daß der weitaus größte Teil seiner Arbeiten Antwortcharakter trägt. Seine Arbeiten sind erstens, was ihr jeweiliges Motiv, ihren Beweggrund anbetrifft, von außen her veranlagt, vom Anderen hervorgerufen, zum Anderen in irgendeiner, d. h. in einer von Fall zu Fall nodi darzulegenden Weise an konkrete Hörer adressiert. Sie entstehen also nicht in jenem symbolischen Studierstübdien des Gelehrten, im Räume „reiner" Wissenschaftlichkeit, abseits von den Anregungen, Fragen und Einflüssen der geschichtlich-konkreten Welt. Es ist augenscheinlich nicht Pascals Art, selbst sich die Probleme, die Fragen zu stellen, deren Lösung er in seinen Werken vollzieht. Vielmehr läßt er sie sich stellen. Jedoch wiederum nicht so, daß sich diese Fragen aus der innerlichen, ungelösten Problematik einer Sache ergäben. Es sind Fragen, die von außen her, aus einer geschichtlich-konkreten Situation, zumeist von einem personhaft Anderen an ihn gestellt werden. Indem Pascal diesen Fragen antwortet, entstehen seine Werke. Es ist darum durchaus dem Wesen dieser Arbeiten angemessen, wenn sie zumeist auch sprachlich zur Dialogform neigen. 16
Das soll ein kurzer Überblick über die wichtigeren Arbeiten Pascals zeigen. Wir besprechen im folgenden zunächst die physikalisch-mathematischen Arbeiten, sodann einige der philosophischen und theologischen Schriften, von denen drei kurz zusammengefaßt, die Provinzialbriefe dagegen ausführlicher behandelt werden sollen.
1. D i e p h y s i k a l i s c h e n u n d m a t h e m a t i s c h e n A r b e i t e n a) Die Arbeit an der Rechenmaschine und die Arbeiten über das Vakuum Sehen wir von dem „Essai pour les coniques" des Sechzehnjährigen ab, einem kurzen Beitrag zur Lehre von den Kegelschnitten, so ist das erste Werk, mit dem Pascal an die Öffentlichkeit tritt, seine Rechenmaschine2. Bereits von dieser Arbeit gilt, daß sie — wie Steinmann sagt — ganz „oeuvre de circonstance", „Gelegenheitsarbeit"3, von einer konkreten Situation hervorgerufenes Werk ist. Pascal selbst gebraucht im Blick auf seine Rechenmaschine den hier entscheidenden Begriff der „Gelegenheit"; er spricht — in einem Schreiben an Königin Christine von Schweden — von der „Gelegenheit ihrer (sc. der Rechenmaschine) Erfindung" 4 . Wir werden also, wenn wir nach dem Beweggrund dieser Arbeit fragen, von Pascal über ihn selbst hinaus auf eine geschichtlich-konkrete Situation verwiesen, in der er den „véritable motif" 5 seiner Arbeit sieht, wobei zugleich deutlich wird, daß er „motif" nicht psychologisch als innerlichen Beweggrund versteht. Ist es möglich, diese „Gelegenheit", von der Pascal spricht, näher anzugeben? Pascal selbst schildert sie in einem Widmungsschreiben an den Kanzler des Reiches Séguier, dem er 1645 das erste Exemplar seiner Rechenmaschine übersendet. Er schreibt: „Die Methoden, deren man sich bisher bediente, waren so zeitraubend und schwierig, daß ich auf den Gedanken kam, ein geeigneteres und leichteres Mittel zu erfinden, das mir bei den großen Berechnungen helfen könne, die mich seit einigen Jahren beschäftigen; diese Berechnungen hängen mit den Ämtern zusammen, mit denen Sie meinen Vater für die Dienste zu ehren beliebten, die er Seiner Majestät in der Hohen Normandie erwiesen hat 8 ". Es geht Pascal in seiner Arbeit also nicht darum, ein interessantes Problem zu lösen, etwa die Frage, wieweit die geistige Arbeit des Rechnens auch von einer Maschine ausgeführt werden könne. Es geht ihm auch nicht darum, ganz allgemein den Menschen die Arbeit des Rechnens zu erleichtern. Die Fülle der Arbeiten, die der Vater als Beauftragter für die Erhebung der Steuern zu bewältigen hat, veranlaßt vielmehr den Sohn, ihm zu helfen und auf ein Mittel zu sinnen, die nötigen Berechnungen noch „genauer" und „leichter" auszuführen. Diese Situation wird zur „Gelegenheit ihrer 2 7902 Meyer, Pascal
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(sc. der Rechenmaschine) Erfindung", d. h. zum von außen kommenden Anstoß seines Denkens und Arbeitens. Es ist nun interessant zu beobachten, wie nicht nur die Initiative der Arbeit von außen kommt, sondern audi die endgültige Durchführung nur auf Grund eines neuen, gleichfalls von außen kommenden Impulses gelingt. Als nach drei Jahren voller Versuche, Enttäuschungen und erneuten Versuchen ein Uhrmacher aus Rouen nach den Prinzipien Pascals eine Konkurrenzmaschine baut, resigniert Pascal und gibt seinen Plan auf 7 . An diesem Punkte ist es der Kanzler Séguier, der auf Bitten des Vaters dem jungen Pascal zusammen mit dem Privileg zur alleinigen Herstellung von Rechenmaschinen die Aufforderung zukommen läßt, seine Arbeit fortzusetzen 8 . So kann Pascal später in dem bereits erwähnten Widmungsschreiben dem Kanzler sagen: „Die Rechenmaschine verdankt ihre Entstehung einzig und allein der Ehre Ihrer Aufträge." 9 „Ihnen also verdanke idi dieses kleine Werk; denn Sie haben mich veranlaßt, es auszuführen." 10 Dieser konkreten Veranlassung entspricht es, wenn die Arbeit an der Rechenmaschine deutlich adressive Ausrichtung trägt. Zunächst dürfte sein Vater im Blickpunkt gestanden haben. Dann tritt neben diesen der Kanzler Séguier, dem Pascal das erste brauchbare Exemplar widmet. Aber darüber hinaus sucht Pascal noch ein weiteres Publikum. Ein zweites Modell schickt er, gleichfalls mit einem ausführlichen Begleitschreiben versehen an Königin Christine von Schweden11, ein anderes an seinen Freund Roberval mit der Bitte, es öffentlich auszustellen, und weitere Modelle gehen an einflußreiche Persönlichkeiten. Gewiß mag es ihm dabei auch um etwas wie geschäftliche Werbung für seine Erfindung gehen, aber in allem ist doch eine echte, tiefgreifende Adressiertheit seiner Arbeit, die den lebendigen und konkreten Anderen im Auge hat, deutlich zu erkennen. Das zeigt sich etwa in der der Rechenmaschine beigefügten „Anweisung. Nötig für solche, die daran interessiert sind, die Rechenmaschine zu sehen und sich ihrer zu bedienen" 12 , einer Art Gebrauchsanweisung zur rechten Handhabung. Sie hat die Form eines Briefes, ja eines Gespräches. Der Andere wird geduzt, wird mit „Freund" und „lieber Leser" angeredet 13 . Pascal scherzt mit ihm, spottet in feiner Art über seine Unlust, große Rechnungen auszuführen. Er begegnet Einwendungen des „Lesers" wie etwa diesen, daß die Maschine „weniger kompliziert" sein könne 14 oder daß jeder Handwerker sie zu bauen vermöge. Pascal verwendet Fragen, Ausrufe, Aufforderungen. Er gebraucht dialogisierende Wendungen wie „ich beschwöre dich" 15 , „siehst du", „weißt du" 1β , „ich bitte dich" 17 und ähnliche. Was sich bei Pascals Beschäftigung mit der Rechenmaschine zeigte, wiederholt sich ähnlich bei seinen physikalischen Arbeiten über das Vakuum. 18
Auch in diesem Falle ist es deutlich eine äußere, konkrete „Gelegenheit", die den Anstoß zur Arbeit gibt. Es ist der Besuch eines gewissen Pierre Petit, der im Oktober 1646 vorübergehend bei der Familie Pascal weilt 18 . Er berichtet dort von den damals noch wenig bekannten Versuchen Torricellis. Zusammen mit Etienne und Blaise Pascal gelingt es ihm, die Torricellischen Versuche zu wiederholen. Nach seiner Abreise setzt Blaise Pascal für sich diese Versuche fort, variiert und erweitert sie und wird so erst eigentlich zum Physiker 19 . Es ist nun bezeichnend, daß Pascal seine Arbeiten nicht im abgeschlossenen Laboratorium durchführt. Er sucht den Anderen, den Hörer, den Zuschauer, den Partner. So gibt er bereits im Januar und Februar 1647 große Schaustellungen vor einem staunenden Publikum von fünfhundert geladenen Gästen. Er berichtet über seine Experimente nach Paris, und nodi bevor er seine Versuchsreihen zu Ende geführt hat, kündigt er bereits den Wissenschaftlern seiner Zeit eine „Abhandlung über die Leere" an. Aber gerade weil Pascal nie im abgeschlossenen Raum reiner Sachlichkeit arbeitet, sondern immer — im weitesten Sinne — dem Anderen, also den wechselnden Situationen, den immer neuen Ereignissen, den anderen Menschen gegenüber Offenheit bewahrt, bleibt diese Abhandlung — wie nahezu alle Schriften Pascals — Fragment. Eine Veröffentlichung des Warschauer Kapuzinermönches Valerian Magni, in der dieser seine eigenen Versuche mit dem Vakuum beschreibt, läßt Pascal seinen Plan ändern. Er sieht die Originalität 'seiner Experimente und Ergebnisse bedroht und schreibt überstürzt die „Neuen Versuche über die Leere"2Ü. Audi in dieser Schrift begegnet man jener vertrauten Hinwendung zum Leser, die bereits die „Anweisung" zur Rechenmaschine auszeichnete und die ein deutliches Zeichen dafür ist, daß Pascal stets im Blick auf den Anderen, auf ein zuhörendes und teilnehmendes Publikum denkt und schreibt. Briefartig beginnt er mit der Anrede „Mein lieber Leser" 21 und berichtet im Gesprächston von den Experimenten Torricellis, Mersennes, Petits und schließlich von seinen eigenen Versuchen und seiner Hypothese. Bishop hat diesen besonderen Charakter der Schrift im Auge, wenn er von ihrem Stil sagt, es sei ein „Stil intimer Einfachheit, der in der wissenschaftlichen Literatur der Zeit selten, wenn nicht einzig dasteht" ^ Diese wesentliche Hörer- oder Publikumsbezogenheit seiner Arbeit spricht, um nodi ein weiteres Beispiel aus seinen Arbeiten über das Vakuum anzuführen, auch aus dem Brief an seinen Schwager Périer in Clermont vom 15. November 1647, in dem er diesen bittet, das hernach berühmt gewordene Experiment vom Puy-de-Dôme anzustellen. In der Gewißheit, sein Schwager werde diesen Versuch durchführen, schreibt Pascal: „Ich habe es allen in Paris, die daran interessiert sind, versprochen, u. a. dem ehrwürdigen Pater Mersenne, der sich verpflichtet hat, es brieflich seinen Freunden in Italien, Schweden, Holland usw. mit2*
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zuteilen, die er sich dort durch seine Verdienste erworben hat" 2S , und er schließt mit der erneuten Bitte, den Versuch möglichst bald durchzuführen, damit er seine Abhandlung über das Vakuum — „das ich der Öffentlichkeit versprochen habe" — abschließen und so das „Verlangen aller Leute, die darauf warten", zufriedenstellen könne24. b) Die Wahrscheinlichkeitsrechnung und das Problem des Zykloid s Ist es bereits eine erstaunliche Tatsache, daß physikalische Arbeiten solch enges Situationsverhaftetsein und solch klare Publikumsbezogenheit aufweisen, so will uns dies bei der wesentlich monologisch angelegten Mathematik noch erstaunlicher erscheinen. Aber auch Pascals mathematische Schriften — wir untersuchen hier nur die beiden wichtigsten Beiträge Pascals zur Mathematik — tragen Antwortcharakter. Es scheint in der zweiten Hälfte des Jahres 1653 gewesen zu sein, als der Chevalier de Méré, Freund Pascals und leidenschaftlicher Liebhaber des Würfel- und Kartenspiels, Pascal auf die Frage aufmerksam macht, wie bei einer Unterbrechung des Spiels die Verteilung der Einsätze entsprechend den Gewinnchancen der einzelnen Spieler berechnet werden könne25. Bot die Lösung dieses speziellen Problems für den Mathematiker auch keine besonderen Schwierigkeiten, so bildete sie doch für Pascal die entscheidende Anregung zur grundsätzlichen Beschäftigung mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung, mit der „aleae Geometrica", der „Geometrie des Zufalls", wie er sie stolz in seiner Zuschrift an die „Academia Parisiensis" nennt 26 . Indem es also Méré war, der, wie Leibniz rund zwei Jahrzehnte später sagt, Pascal den „ersten Anstoß gab zur Berechnung der Einsätze"27, verweist auch diese Arbeit in ihrer Entstehung auf eine konkrete „Gelegenheit". Sie ist — wie die besprochenen physikalischen Arbeiten — von außen motiviert und damit „Gelegenheitsarbeit", „oeuvre de circonstance". In die grundsätzliche Problematik der Wahrscheinlichkeitsrechnung eingetreten, begnügt sich Pascal nicht mit der denkerischen Konzentration auf das Problem allein, sondern sucht zugleich den Anderen, den Zuhörer, den Partner im Gespräch. Er findet ihn in dem Toulouser Parlamentsrat, Juristen und Mathematiker Fermât. Der eine in Paris, der andere in Toulouse, so studieren sie gemeinsam dieselben Probleme. Ein lebhafter Briefwechsel entsteht, in dessen Verlauf beide — jeder von seinen eigenen Grundprinzipien ausgehend — die grundlegenden mathematischen Formeln zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit entwickeln. Die anfängliche Verschiedenheit im Ausgangspunkt, das gemeinsame Fortschreiten und die schließliche Ubereinstimmung in den Ergebnissen wird von beiden, besonders von Pascal, in einer Art Hochstimmung und Begeisterung erlebt. Fermât schreibt: „Unsere Ergebnisse jagen sich noch 20
immer Schlag auf Schlag, und ich bin ebenso wie Sie voll Erstaunen darüber, daß unsere Gedanken so genau zueinander passen. Es will mir scheinen, als hätten sie ein und dieselbe Richtung genommen und ein und denselben Weg zurückgelegt." 28 Und Pascal ruft voll Bewunderung und Stolz: „Die Weisen, ein und dieselbe Sache zu betrachten, sind unendlich. Dafür ist dies hier ein hervorragendes und für midi sehr rühmliches Beispiel. Derselbe Lehrsatz, den idi gerade auf verschiedene Weisen entwikkelt habe, ist auch von unserem berühmten Parlamentsrat Monsieur de Fermât entdeckt worden; und, was das Erstaunliche daran ist, weder er hat mir, noch ich habe ihm den geringsten Hinweis gegeben. Er schrieb in der Provinz, was ich in Paris entdeckte, Stunde für Stunde, wie unsere Briefe, die wir gleichzeitig schrieben und empfingen, es bezeugen." Dieses Forschen und Entdecken im Hinsehen auf den Anderen und unter den Augen des Anderen entspricht zutiefst dem Grundhabitus Pascalsdien Denkens; und so kann er am Ende des Briefwechsels emphatisch ausrufen: „Ich preise mich glücklich, in diesem Falle, wie schon in anderen, auf ganz eigenartige Weise, mit einem so großen und bewunderungswürdigen Manne gemeinsam gearbeitet zu haben . . . " 8 0 Etwa vier Jahre nach dem Briefwechsel mit Fermât arbeitet Pascal am Problem des Zykloids oder der „Roulette", der Radlinie. Uber den Anlaß zu dieser Arbeit gibt uns Mme Périer den etwas einfältig klingenden Bericht, es seien ihrem Bruder während einer Nacht, in der Zahnschmerzen ihn nicht schlafen ließen, eine Folge von Erkenntnissen gekommen, die ihm „gleichsam ohne sein Zutun" die Berechnung der Radlinie eröffnet hätten 81 . Dieser Bericht Mme Périers trägt zu sehr den Charakter bewußter oder unbewußter Bagatellisierung der mathematisdien Arbeit Pascals, um Anspruch auf volle Authentizität erheben zu können. Er gäbe darum keine tragfähige Grundlage ab für die Behauptung, hier etwas wie die „Gelegenheit", den äußeren Anlaß zur Arbeit konstatieren zu können. Audi die von Mme Périer und ihrer Tochter Marguerite stark hervorgehobene Rolle, die der Duc de Roannez bei der Veröffentlichung der Ergebnisse spielt, trägt deutlich tendenziösen Charakter 32 . Tatsache jedoch ist, daß Pascal, noch bevor er seine Gedanken endgültig formuliert, sich in einer Form an die Öffentlichkeit wendet, die uns für seine Grundhaltung bezeichnend erscheinen will. Es ist eine Art Aufruf, eine Herausforderung an die Wissenschaftler seiner Zeit. Sechzig Pistolen setzt er aus für denjenigen, dem es gelingt, sechs Fragen, das Zykloid betreffend, zu beantworten. Wieder wird daran deutlich, daß es Pascal nicht allein um die Lösung eines Problems und die abschließende Veröffentlichung der Ergebnisse geht — die Lösung hatte er ja bereits gefunden und der Veröffentlichung stand deshalb nichts im Wege —, sondern zugleich um den Anderen, den Zuhörer, den Partner im Gespräch, mit dem, vor dessen Augen und unter 21
dessen Anteilnahme er sein Werk schafft. Pascal ist nie der „Mensch der allen von außen kommenden Anregungen verschlossenen Studierstube" 33 . Er bedarf der Anstöße, der Zustimmungen, vielleicht audi der Angriffe von außen, um gesammelt denken und schaffen zu können. Der Dialog scheint das Klima zu sein, in dem Pascals Denken sich erst voll entfaltet. Und so ist auch diese rein mathematische Arbeit, in der man zunächst nichts als monologische Gedankenführung erwarten sollte, tief in das Gespräch, das freilich streckenweise in polemische Bahnen gerät, eingebettet, in Frage und Antwort, Rede und Gegenrede, Protest und Einlenken, Nein und Ja 3 4 . Jetzt erst, nachdem der Hörer aufgerufen ist, bringt Pascal die Ergebnisse seiner Überlegungen zu Papier. Als sei durch das Erscheinen des Anderen eine gewaltige Kraft in ihm frei geworden, so wirft er sich mit ganzer Konzentration auf die Niederschrift. „Es ist unglaublich — schreibt Mme Périer —, mit welcher Eile er das zu Papier gebracht hat; denn er schrieb, solange seine Hand aushielt, und war in wenigen Tagen damit fertig." 3 5
2. D i e p h i l o s o p h i s c h e n u n d t h e o l o g i s c h e n S c h r i f t e n a) Das „Gespräch mit M. de Sacidie „Drei Vortrage über den Stand der großen Herren" und der „Brief über die Möglichkeit, die Gebote Gottes zu erfüllen" Auch diese drei Schriften, die wir beispielshalber aus der größeren Zahl philosophisch-theologischer Arbeiten herausgreifen, stehen ganz im Zeichen dialogischer Grundhaltung. Ihnen ist gemeinsam, daß sie erstens von außen, von einem personenhaften Anderen oder einer konkret-geschichtlichen Situation hervorgerufen und damit in unverkürztem Sinne „oeuvres de circonstance" sind, zweitens in strenger Ausrichtung auf konkrete Adressaten stehen und demzufolge Anredecharakter tragen und drittens in ihrer literarischen Form starke dialogisierende Elemente aufweisen. Beim „Gespräch mit M.de Saci" 3 6 ist es die Bitte Monsieur de Sacis an Pascal, ihm, dem auf philosophischem Gebiete unbewanderten Theologen, von seinen Beschäftigungen mit der Philosophie zu berichten, die Pascal zu einer geschlossenen Darstellung der Lehren Epiktets und Montaignes veranlaßt. „M.de Saci, der immer gemeint hatte — heißt es in der Einleitung —, daß er diese Autoren kaum zu lesen brauche, bat Pascal, eingehender von ihnen zu sprechen."37 Als dergestalt hervorgerufenes Reden ist dieses Reden zugleich adressiertes Reden, ausgerichtet auf einen konkreten, fragenden und hörenden Adressaten. Der Tatsache, daß hier auch formal-literarisch eine Wechsel22
rede vorliegt, kann freilich in diesem Falle keine besondere Bedeutung beigemessen werden; versteht es sich dodi von selbst, daß ein Gespräch auch Gesprächs/om trägt. Bedeutsamer hingegen, weil auf die DialogHaltung Pascalschen Denkens hinweisend, ist der Tatbestand, daß sich in diesem größeren Gesprächsrahmen ein zweites Gespräch abzeichnet, gewissermaßen ein Dialog im Dialog. Er besteht darin, daß Pascal hier nicht Stoizismus und Skeptizismus oder, wie er sagt, Dogmatismus und Pyrrhonismus als ethisch-philosophische Anschauung vergleichend abhandelt, sondern gleichsam als Regisseur und Zuhörer zugleich zwei Personen, Epiktet und Montaigne, einander gegenüberstellt und miteinander reden läßt, beide in ihrer äußeren Gestalt Spiegelungen ihrer ethisch-philosophischen Ansichten 38 . Freilich erscheint der Dialog im Dialog nur andeutungsweise, aber für den, dem die bald nach diesem „Gespräch" erscheinenden Provinzialbriefe mit ihren sich ineinandersciiiebenden Dialogen bekannt sind, ist hier bereits deutlich der Ansatz zum doppelten Dialog erkennbar. Was den Anlaß betrifft, der Pascal seine Gedanken über den „Stand der großen Herren" fassen und formulieren läßt, so ist auch er in einer äußeren Situation zu suchen. Er liegt darin, daß man — wahrscheinlich im Jahre 1660 — Pascal bei einem vorübergehenden Aufenthalt in PortRoyal bittet, dem jungen Prinzen von Luynes, der von seinem Vater, einem eifrigen Jansenisten und Förderer Port-Royals, dem Kloster zur Erziehung anvertraut war, Vorträge über den Stand des Herrschers zu halten. An diesen jungen Prinzen richten sich darum auch die sogenannten drei „Discours", die in ihrer konkreten Veranlassung und der daraus sich ergebenden strengen Adressiertheit der Rede jedoch ihrem Wesen nach alles andere als „discours", als bloß abhandelnde Erörterungen sind. Auf Schritt und Tritt ist in ihnen die Bewegtheit dialogischen Redens wiederzuerkennen. Pascal redet seinen konkreten Hörer an: „Monsieur", „mein Prinz" und vor allem „Sie", so heißt es immer wieder. Er stellt Fragen: „Was ist es Ihrer Meinung nach, ein Grandseigneur zu sein?" 89 oder: „Weshalb ist das so?" und antwortet: „Weil es den Menschen so gefallen hat." 4 0 Er hört die ausgesprochenen oder unausgesprochenen Einwände seines Hörers: „Sie verdanken, meinen Sie, Ihre Reichtümer Ihren Vorfahren" und antwortet ihm mit einer Gegenfrage: „Aber waren es nicht tausend Zufälle, durch die Ihre Vorfahren sie erworben haben?" 41 An einer Stelle läßt er einen Kurzdialog aus Frage („Was würden Sie von jenem Menschen sagen ...?"), Antwort („Sie würden über seine Dummheit und seine Torheit staunen.") und rhetorischer Frage („Gilt aber das für jene Menschen von Stand weniger . . . ? " ) mit einem Ausruf enden: „Wie wichtig ist dieser Hinweis!" 42 An anderer Stelle wiederum tritt Pascal selbst dem Prinzen gegenüber als einer, der ihm auf Grund seiner eigenen 23
niederen Geburt zwar äußeren Respekt zu erweisen bereit ist, ihm jedoch innere Verachtung entgegenbringen würde, wenn er nichts als eben nur geborener Prinz wäre 48 . Es begegnen zahlreiche Imperative: Pascal gibt Warnungen („Decken Sie ihnen diesen Irrtum nicht auf . . .") 44 , Verbote, („Versuchen Sie also nicht, mit Gewalt über sie zu herrschen . . . " ) 4 5 , Ratschläge („Es ist wichtig für Sie zu wissen . . .") 4e und immer wieder Aufforderungen. In allem wird deutlich, wie es Pascal darum zu tun ist, seinen Hörer aus einer bloß passiven Rezeptivität herauszureißen, ihn zum wirklichen Partner zu machen, zwischen sich und ihm die Bewegtheit des Gespräches, die Bewegung von Anrede, Frage, Antwort, Gegenfrage und erneuter Antwort entstehen zu lassen. Es ergibt sich so formal-literarisch eine Gattung, die der Diatribe, wie Pascal sie in den „Dissertationes" des von ihm so hoch geschätzten Epiktet vor Augen hatte, sehr nahe kommt. 47 Was das „Gespräch mit de Saci" und die „Drei Vorträge" auszeichnet, findet sich ebenso in dem „Brief über die Möglichkeit, die Gebote Gottes zu erfüllen" 48 . Er gehört zu den „Schriften über die Gnade" und nimmt innerhalb dieses größeren, aus zahlreichen kleinen und kleinsten Fragmenten bestehenden Schriftenkomplex zusammen mit der sogenannten „Dissertation" 49 den weitaus größten Raum ein. Beide Hauptschriften sind inhaltlich so gut wie identisch. In ihrer Form jedoch weichen sie völlig voneinander ab. Die letztere ist eine formgerechte, in Einleitung, verschiedene, durch Ziffern bezeichnete Hauptteile und Conclusio gegliederte Abhandlung, weswegen Bossut, der erste Herausgeber, sie auch als „Dissertation" überschreibt. Die erstere hingegen erscheint als echter, wenn auch nicht in seiner endgültigen Gestalt vorliegender Brief. Für unsere Untersuchung wichtig ist daran, daß Pascal auch hier seine Gedanken — in diesem Falle seine Gedanken über die Gnade — erst in dem Augenblick niederlegt, in dem die Frage und Bitte eines Anderen ihn dazu aufruft; der Brief beginnt: „Ich besitze weder die Muße, nodi die Bücher, noch das ausreichende Können, um Ihnen so genau zu antworten, wie ich es gern möchte. Indessen werde ich es in dem Maße tun, wie es mir im Augenblick: möglich ist, damit Sie schriftlich vor Augen haben, was ich Ihnen mündlich oftmals gesagt habe, und es sich Ihnen besser einprägt, ohne daß ich es Ihnen nochmals sagen muß. Sie bitten mich, auf jene Worte des 12. Kapitels der 6. Sitzung des Tridentiner Konzils, die Gebote seien für die Gerechten nicht unerfüllbar, zu antworten. Ich will Ihren Wunsch erfüllen, so gut ich es vermag." 50 Die Schrift ist also ein Teil eines Gesprächs und versteht sich eindeutig als Antwort. Sie richtet sich dementsprechend an einen ganz bestimmten Hörer. Die Frage, wer dieser Hörer war, ob Mme de Sablé, wie man angenommen hat, oder jemand anders, ist für uns von durchaus zweitrangiger Bedeutung. Wichtig hingegen ist, daß es sich hier nicht um einen allgemeinen 24
Hörer, sondern um eine konkret-geschichtliche Person handelt, mit der Pascal des öfteren theologische Fragen besprochen hat, die nicht Theologe ist, weil ihr das Latein der Tridentiner Beschlüsse übersetzt werden muß, und die sich jetzt von Pascal eine Reihe von Einwänden beantworten lassen möchte, mit denen ihr ein Molinist entgegengetreten ist. 51 Daß auch diese Schrift, was ihre Sprache anbetrifft, voll von dialogisierenden Wendungen ist, nimmt nicht Wunder. Besonders bezeichnend für die Grundhaltung Pascals ist in diesem Falle, daß er offensichtlich bewußt als Form der Mitteilung den Brief wählt. Er hätte das Gesagte ebenso klar auch in Form einer theologischen Abhandlung darbieten können, wie ja das Parallelstück zu diesem Brief, die „Dissertation", beweist, aber Pascal will offenbar, wo er es nur eben kann, dialogisch reden. b) Die
„Provinzialbriefe"
Die Veranlassung: Im Jahre 1640 erscheint posthum der „Augustinus" des Jansenius in Löwen. Augenblicklich greifen die Jesuiten die darin enthaltene Gnadenlehre an, und bereits 1641 spricht Urban VII. die Verdammung aus. Die gleichzeitig vom Papst bei Strafe der Exkommunikation verbotene Diskussion über die Gnadenfrage wird jedoch ein Jahr später von den Jesuiten wieder aufgenommen. Sie zwingen dadurch den von ihnen der Irrlehre beschuldigten Doktor der Sorbonne Antoine Arnauld zur Antwort. Über verschiedene Stadien hinweg erreicht der in aller Heftigkeit neu aufgebrochene Streit zwischen augustinisch gesinnten Theologen und den Anhängern der Jesuiten schließlich — über eine Reihe von Fakultätssitzungen der Sorbonne hinweg — im Januar 1656 seinen Höhepunkt. Die „question de fait", ob die „Cinq Propositions", die „5 (häretischen) Lehrsätze", in denen Nicolaus Cornet im Juli 1649 die jansenistische Irrlehre zusammengefaßt hatte, im „Augustinus" enthalten sind, wird auf einer Abstimmung gegen Arnauld und seine Anhänger entschieden. Den Protesten und Anträgen auf Nichtigkeitserklärung der Abstimmungen und Beschlüsse wird nicht stattgegeben. Als unmittelbar darauf auch die „question de droit", die Frage nach der häretischen Bedeutung der „Cinq Propositions" entschieden werden soll und sich der größte Teil der Arnauld befreundeten Doktoren, eingeschüchtert durch Drohungen und Ungerechtigkeiten auch von Seiten des Königs und seines Kanzlers, am 24. Januar 1656 von den Sitzungen zurückzieht, scheint die Verurteilung Arnaulds und der ganzen jansenistischen Partei unvermeidlich geworden zu sein. Wahrscheinlich noch am selben Tage findet eine Versammlung der Jansenisten in Port-Royal statt. Nicole berichtet von dieser Zusammenkunft, alle seien sich in dem Plan einig gewesen, die Öffentlichkeit, „le 25
public", darüber aufzuklären, daß es sich in diesem Streit um „nichts Wichtiges und Ernstes, sondern nur um einen Streit um Worte und bloße Rechthaberei" handle. Wer aber sollte diesen Plan durchführen? „Alle billigten diesen Plan; aber niemand erbot sich, ihn auszuführen." 1 Das ist die Lage Arnaulds und Port-Royals am 24. Januar 1656, und diese Situation wird zum Anlaß, der Pascal zum Werk der Provinzialbriefe führt. Nicole fährt in seinem Bericht fort: „Da sagte Pascal, der bisher nodi fast nichts geschrieben hatte und nicht wußte, wie erfolgreich er in dieser Art von Arbeit sein konnte, daß er zwar zu wissen meine, wie diese Schrift abzufassen sei, daß er aber einzig versprechen könne, einen ersten Entwurf zu machen. Dann müsse sich jemand finden, ihn zu glätten und zur Veröffentlichung fertigzumachen. Er wolle noch am nächsten Tage die Arbeit an dem versprochenen Entwurf beginnen . . ." 2 . Ein anderer Bericht von dieser Zusammenkunft erzählt, Arnauld habe zunächst selbst eine an die Öffentlichkeit gerichtete Verteidigungsschrift verfaßt und sie vor der Veröffentlichung seinen Freunden vorgelesen. Sie habe jedoch keinen Beifall gefunden. Ratlos habe sich Arnauld daraufhin an Pascal gewandt: „Aber Sie, der Sie jung sind, könnten Sie nicht zur Feder greifen?" 8 Welchem Bericht man den Vorzug geben soll, mag dahingestellt bleiben, sachlich sind sich beide darin einig, daß es auch im Falle der Provinzialbriefe die Situation ist, die Pascal die Feder in die Hand drückt, und nicht er selbst, der zur Feder greift. Die verzweifelte Lage Port-Royals und seiner jansenistischen Freunde bedeutet für ihn den direkten Aufruf zum Handeln. Mit welcher Macht ihm diese Situation zum Anlaß wird, läßt sich daran ermessen, daß bereits nach zwei Tagen der fertige erste Brief vorgelegen haben muß; denn am 27. Januar schreibt M. de SaintGille, ein Freund Port-Royals in sein Tagebuch: „Heute ist zum ersten Mal ein Brief im Druck erschienen. Er umfaßt acht Seiten im Quartformat, ist an einen Provinzler gerichtet und handelt von dem, was an der Sorbonne vor sich geht." 4 Der Adressat: Wie Nicole schreibt, sollte die „Öffentlichkeit" der Adressat der Briefe sein. Es ist jedoch keine farblose Öffentlichkeit, keine verschwimmende Allgemeinheit, an die Pascal sich wendet. Die Wendung zum „public" ist die Wendung vom theologischen Fachgelehrten fort zu den „gens du monde", den Laien der höheren Gesellschaft. Pascal sagt es selbst in der „Antwort des Provinzlers auf die beiden ersten Briefe seines Freundes": „Sie (sc. die Briefe) werden nicht nur von den Theologen geschätzt. Sie gefallen auch den Laien und werden selbst von den Frauen verstanden." 5 Später formuliert er es noch schärfer. Die Briefe, so sagt er, sollten gar 26
nicht von den Theologen, von den „Gelehrten" gelesen werden; „diese haben sie gar nicht nötig, da sie mindestens ebensoviel wie ich davon wissen." Sein Ziel sei es vielmehr gewesen, „die Damen und Herren der feinen Welt zum Lesen meiner Briefe zu bringen."6 Eine Wendung an die „gens du monde" jener Zeit aber war — und damit erst tritt die Gestalt des Adressaten in ihren wesentlichen Konturen hervor — gleichbedeutend mit einer Hinwendung zu den „honnêtes gens"; denn die „höhere Gesellschaft" des französischen 17. Jahrhunderts war durch und durch bestimmt von dem scharf umrissenen Bildungsideal der „honnêteté": als „homme du monde" war man dem Wesen nach „honnête homme".7 So kann ein Zeitgenosse — Gui Patin — während des Erscheinens der Provinzialbriefe schreiben: „All diese neuen Briefe haben bei den ,honnêtes gens' eine derartige Wirkung, daß die armen Jesuiten nicht mehr wissen, wo aus noch ein. Guter Gott, wie diesen schlauen Füchsen im 15. und 16. Brief mitgespielt wird! Es gibt nodi ,honnêtes gens' auf der Welt! Mögen sie wohl erhalten bleiben, damit der Tyrannei so vieler Böser Widerstand geleistet wird." 8 Der „Monsieur", jener „Provinzler" und „Freund", an den Pascal seine Briefe adressiert, ist also seinem Wesen nach „honnête homme". Nichts beweist die Adressierung an die sich als „honnêtes gens" verstehenden „Leute der feinen Welt" klarer, als die Art wie Pascal schreibt. Sie entspricht ganz jener zugleich natürlichen und gepflegten, spielenden und doch präzisen Sprache, die der „honnête homme" so besonders liebt, und um die er sich, in bewußter Abwendung von allem Preziös-Gespreizten einerseits und allem Gelehrt-Schwerfälligen andererseits so sehr bemüht. Pascal weiß, wer vom „honnête homme" gehört werden will, muß erzählen, unterhalten, auf feine Weise spotten, zum Lachen bringen. Er vermeidet darum jeden doktrinären Ton, alles, was auch nur entfernt nach dogmatischem Traktat aussehen könnte. In der dem 3. Brief vorans t e l l t e n „Antwort des Provinzlers" sagt Pascal selbst von seinen Briefen: „Sie gefallen nicht nur den Laien, sondern werden sogar von den Frauen verstanden" und fährt fort: „Er (sc. der Brief) ist äußerst scharfsinnig und sehr gut geschrieben. Er erzählt, ohne zu erzählen; er macht die verwickeltsten Dinge der Welt klar verständlich; er spottet auf feine Weise; er belehrt die, welche den Sachverhalt nicht genau kennen; er erhöht das Interesse derer, die darüber schon Bescheid wissen."9 Ähnlich schreibt Mme Sévigné, deren Salon einer der Haupttreffpunkte der „honnêtes gens" war, am 12. September 1656 an einen ihrer Freunde: „Ich habe mit großem Vergnügen den elften Brief der Jansenisten gelesen. Er scheint mir sehr schön zu sein . . . Es ist äußerst unterhaltend."10 Und, um noch ein drittes zeitgenössisches Urteil anzuführen, in einer weiteren „Dankesantwort eines Provinzlers" heißt es: „Wenn man Ihre Briefe liest, so findet man darin zugleich Zerstreuendes und Belehrendes.
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Es genügt, eine halbe Stunde auf diese angenehme Lektüre zu verwenden, um sich in Stand zu setzen, gegen alle Gelehrten der Pariser Fakultät zu streiten . . . " u . „Angenehm", „gut schreiben", „auf feine Weise spotten", „Vergnügen", „sich zerstreuen" sind für den „honnête homme" schlechthin kennzeichnende Begriffe, die bei Montaigne, dem großen Lehrmeister der „honnêtes gens" und in den „Discours", „Conversations" und Briefen Mérés, jenes „honnête homme" par excellence, ständig wiederkehren. Eben weil Pascals Sprache in den Provinzialbriefen ganz und gar von seinem Hörer her bestimmt ist, kann er später auf die Frage, weshalb er jenen „gefälligen, ironischen und unterhaltenden Stil" verwandt habe, antworten mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die „Damen und Herren der feinen Welt" als seine Adressaten 12 . Es entspricht ferner dem „honnête homme" und seiner Aversion gegenüber allem Fachgelehrtentum, wenn Pascal sich über das nichtige Resultat der zahlreichen und gewichtigen Fakultätssitzungen lustig macht und sich am Ende des 3. Briefes gelangweilt von dem theologischen Streit, der zu einem bloßen Theologenstreit entartet ist, abwendet. Es läßt den „honnête homme" triumphieren, wenn er sieht, wie der anonyme Verfasser der Briefe, der sich in Haltung, Sprache und Urteil ja ganz als „honnête homme" gibt, die Verwirrung der theologischen Terminologie zeigt, indem er den in sich widersprüchlichen und damit absurden Gebrauch solcher Begriffe wie „unmittelbares Vermögen" (pouvoir prochain) und „genügende Gnade" (grâce suffisante) aufdeckt, der jenem, vom „honnête homme" so hoch geschätzten „sens commun" widerspricht. Es bestätigt den „honnête homme" in seiner Haltung, wenn er sieht, wie aller theologischer Streit, alle hochtrabende theologische Diskussion mit allen termini technici, mit allem „distinguo" sich vor seinen Augen als ein Streit um sinnlose Worte enthüllt. Die literarische Form: Audi die literarische Form ist von Pascal ganz offensichtlich im Blick auf seinen Adressaten gewählt worden. Sie ist die sogenannte „offene" Form, die auf die strenge Geschlossenheit des Traktats, der gelehrten Abhandlung, verzichtet. Diese literarische Form, zu der auch der Aphorismus und der Essai gehört, erscheint bei Pascal als Brief und Dialog. Mit der Wahl dieser beiden Gattungen, die in den Provinzialbriefen zu einem verschmolzen sind 13 , bekundet Pascal erneut, von wem er gehört werden will; denn die Welt der „honnêtes gens" ist die Welt der Konversation, des gefällig dahinfließenden geistreichen Gesprächs, an der der vorübergehend Abwesende durch Briefe weiter Anteil nimmt. Man schrieb Briefe, man empfing Briefe, und man las sie in geselligem Kreis vor, wenn sie „angenehm" zu hören und „gut geschriebene Briefe" waren. 28
In diese Welt der Konversation begibt sich Pascal, wenn er die dogmatischen und moraltheologischen Fragen in Form der aus Gesprächen sich zusammensetzenden „Briefe" an einen in der Provinz, fern vom geselligen Leben der Metropole weilenden Freund abhandelt. Der „honnête homme" erkennt im Schreiber seinesgleichen, und indem er ihm von Gespräch zu Gespräch folgt, erlebt er, wie ihm die Sache der Theologie in vertrauten Denk- und Lebensformen begegnet und in den Horizont seines Interesses gerückt wird. An keiner Stelle Pascalschen Schrifttums ist bisher der Dialog, auch in seiner formalen Gestalt so klar hervorgetreten wie hier in den Provinzialbriefen. Das hat zweifellos seinen Grund nicht allein darin, daß Pascal nach einem, seinem Adressaten angemessenen modus loquendi suchte. Wer erkannt hat, wie aus einer primären Denkhaltung heraus Pascals Schriften von den ersten Anfängen her zum Dialog tendieren, dem wird sich der in den Provinzialbriefen erreichte Höhepunkt so darstellen, daß zu seiner Erreichung beide Faktoren zusammengewirkt haben, Pascals dialogische Denkhaltung und sein bewußtes Suchen nach einer den „gens du monde" adäquaten literarischen Form. Die bleibende Situationsverflochtenheit: Die Provinzialbriefe aber gehen nicht allein in ihrem Ursprung auf eine konkrete Situation zurück. Sie bleiben auch in ihrer Fortsetzung aufs engste der Situation verhaftet. Sie wollen nicht ein geschlossenes Thema in einer geschlossenen Folge von Briefen abhandeln, sondern sie sind immer neu geschriebene Briefe, neue Antworten auf neue Situationen, neu veranlaßt und neu adressiert. Für diese bleibende Situationsverflochtenheit der Provinzialbriefe fehlt es nicht an deutlichen Hinweisen. So gibt es Äußerungen Pascals, die davon sprechen, wie er durch die Geschehnisse „gezwungen" worden sei, seinen „Plan zu ändern" 14 . An anderer Stelle erwähnt er, wie er nach dem 8. Brief vorübergehend der Meinung gewesen sei, „genug geantwortet" zu haben 15 . Am deutlichsten aber erscheint diese Situationsverflochtenheit der Provinzialbriefe an drei Punkten, gewissermaßen drei Wendepunkten, in denen die Briefe infolge von Veränderungen der äußeren Situation jeweils neue Ausrichtung und neue Ausprägung erhalten. Die erste Wende liegt im 4. Provinzialbrief 1β . In diesem Brief vollzieht sich der Ubergang von der Behandlung des Gnadenproblems zum Angriff auf die jesuitische Moraltheologie. Die Thomisten, von denen in den ersten drei Briefen neben den Molinisten stets die Rede war, verschwinden von nun an völlig. Auch der jansenistische Freund des Schreibers nimmt im 4. Brief zum letzten Male am Gespräch teil. Der Gesprächsrahmen verengt sich somit. Es bleibt die Adressierung an den „Provinzler" und das Gespräch zwischen Schreiber und Jesuitenpater, 29
das von jetzt an immer klarer den Charakter eines Streitgesprächs annimmt. Wie kommt es zu dieser Wende? Vergeblich hat Pascal in den ersten Briefen versucht, die drohende Verurteilung Arnaulds nodi in letzter Minute durch einen Appell an die Öffentlichkeit zu verhindern. Am 31. Januar 1656 ist auch die „question de droit" entschieden, und Arnauld wird — am 15. Februar — aufgefordert, die Zensur zu unterschreiben. Pascals 3. Brief 17 stellt die Antwort auf den Beschluß der Fakultät dar, der für ihn ungerecht, absurd und nichtig ist. Er schließt: „Lassen wir also ihre Streitigkeiten. Es ist nur ein Theologen- und kein Theologiestreit." 18 Dieser Satz, wie auch das ausgeführte Gruß wort am Ende des Briefes und dazu — erstmalig — die Unterschrift Pascals 19 legen die Annahme nahe, daß Pascal hier seine Briefe zunächst hat abschließen wollen. Nun aber taucht eine neue Gefahr auf. Das Gerücht läuft um, der päpstliche Nuntius habe auf Anordnung des Papstes den König gebeten, die „Solitaires", die Einsiedler aus Port-Royal, zu vertreiben. In den Kreisen der Jansenisten sieht man darin einen Gegenschlag der Jesuiten. Ein Freund Arnaulds schreibt in dieser Zeit aus Rom: „Ich kann nichts machen. Der Papst ist ganz Jesuit." 20 Zu dieser Bedrohung von Seiten des Staates kommt hinzu die Veröffentlichung der ersten Gegenantwort auf die Provinzialbriefe, datiert vom 22. Februar 1656 21 . Zwar erscheint sie anonym, doch läßt die Schärfe und die Heftigkeit darauf schließen, daß auch dieser Angriff aus dem Lager der Jesuiten kommt. Diese Umstände scheinen es gewesen zu sein, die Pascal zwingen, erneut zur Feder zu greifen. Und es entspricht der neuen Situation, wenn sich die folgenden Briefe ausschließlich mit den Jesuiten, genauer mit der jesuitischen Moraltheologie, befassen 22 . Der erste Satz des 4.Briefes gibt somit gleichsam das Thema an, unter dem alles Folgende steht: „Es geht dodi nichts über die Jesuiten!" Pascal behält den Rahmen der ersten Briefe bei. Aber — wir sagten es bereits — die Vielschichtigkeit der Gespräche reduziert sich. Es bleiben nach dem 4. und den ersten Seiten des 5. Briefes einzig die sich fortan immer wiederholenden Gespräche des Schreibers mit dem Jesuitenpater. Dadurch erhalten die Briefe eine straffere Ausrichtung. Zugleich weicht der in den ersten drei Briefen vorherrschende Ton spielerischer Ironie einem ätzenden Spott, der mehr und mehr die wachsende Empörung des Schreibers verrät 23 . Der „honnête homme" bleibt zwar weiterhin der eigentliche Adressat der Briefe, aber man spürt, wie mit der sich zuspitzenden und verschärfenden Polemik der Jesuitenorden als neuer Adressat mehr und mehr hervortritt, bis es schließlich im 11. Brief 24 zu einer zweiten Wende im Aufbau der Provinzialbriefe kommt. Pascal verzichtet von nun an auf alle ironische Indirektheit. Die nachfolgenden Briefe sind reine Streitschriften, ausdrück30
lidi adressiert an die „Hochwürdigen Patres" 25 . Sie sind darum keine „Provinzialbriefe" im strengeren Sinne mehr. Auch diese Wende trägt deutlich reaktiven Charakter. Pascal sagt selbst zu Anfang des 11. Briefes: „Ich habe die Briefe gelesen, in denen ihr diejenigen besprecht, worin idi einen Freund über eure Moral belehrt habe. Der wichtigste Vorwurf, den ihr gegen mich vorbringt, ist der, ich hätte heilige Dinge lächerlich gemacht. Dieser Vorwurf, meine Patres, ist sehr überraschend und ungerecht." Es ist die ständig wachsende Zahl der jesuitischen Gegenschriften mit diesem stereotyp sich wiederholenden Vorwurf 26 , die Pascal die alte Form verwerfen und eine neue Form wählen läßt, die ihm der veränderten Situation besser zu entsprechen scheint. Jeder einzelne der folgenden Briefe wird fortan bestimmt durch die ausdrüddiche Bezugnahme auf die laufend erfolgenden Angriffe der Jesuiten. Am 9. Dezember 1656, also kurz nach der Veröffentlichung des 16. Provinzialbriefes 27 , greift das geistliche Oberhaupt der französischen Jesuiten, der Beichtvater Ludwigs XIV., Père Annat in den Streit ein 28 . Er beschuldigt die Jansenisten in aller Form der Ketzerei und den „Sekretär von Port-Royal", den Verfasser der Briefe, der Zitatfälschung. Das bedeutet Steigerung der Polemik zu letzter Schärfe. Bei Pascal ruft dieser zugleich auf das Herz Port-Royals und auf seine eigene Person zielende Stoß erneut eine Änderung der Kampfesweise, die dritte Wende hervor. Die adressive Zuspitzung der Briefe erreicht damit ihre letzte Form: Pascal richtet den 17., 18. und audi den fragmentarisch gebliebenen 19. Brief nicht mehr allgemein an die „Hochwürdigen Patres", sondern an den „Hochwürdigen Pater Annat" 2 9 . Dreimal also vollzieht sich in der Nacheinanderfolge der Provinzialbriefe eine deutliche Änderung des Verfahrens. Alle drei Wenden müssen verstanden werden als Reaktionen Pascals auf die jeweiligen Veränderungen der Kampfsituation. Die Provinzialbriefe erweisen sich damit als durchgehend der konkreten Situation verhaftet. Sie tragen, wie Pascal selbst zu verstehen gibt, Antwortcharakter 30 . Es will uns scheinen, daß diesem Charakter der Briefe auch ihr plötzlicher Abbruch entspricht 31 . Die Frage nach dem Grund des jähen Abbrechens ist immer wieder gestellt und auf sehr verschiedene Weise beantwortet worden. Häufig hat man den Grund des Verzichtes auf eine Weiterführung in plötzlich auftauchenden Bedenken an der Fortsetzung eines Streites, der mehr und mehr zu einem Kampf gegen Kirche und Papst zu werden drohte, gesehen32. Auch glaubte man, in Pascals letzten Briefen eine wachsende Unsicherheit seiner jansenistischen Uberzeugung feststellen zu können 33 . Dodi können alle religiös-psychologischen Gründe dieser Art nicht befriedigen. Gegen solche Erklärungen steht einmal Pascals eigenes Bekenntnis zu seinen Provinzialbriefen 34 und zum anderen die Tatsache, 31
daß Pascal den Kampf für Port-Royal und den Jansenismus mit dem Aufhören der Provinzialbriefe nicht einstellt, sondern in aller Entschiedenheit fortsetzt 85 . Die eigentlichen Provinzialbriefe stellen nur eine Phase dieses Kampfes dar. ihr Abbruch ist nichts als ein "Wechsel der polemischen Taktik, hervorgerufen durch eine Veränderung der Situation, also ein Geschehen, dem wir innerhalb der Briefe ja mehrfach begegnet sind. Die Situation, die u. E. zum Abbruch der Provinzialbriefe führt, ist folgende. Am 17. März 1657 empfängt die „Assemblée du Clergé", die „Versammlung der Geistlichkeit", offiziell die Bulle „Ad sanctam" Alexanders VII. 38 . Anfang Mai schlägt der Erzbischof von Toulouse vor, den König zu bitten, die Bulle vom Parlament protokollieren zu lassen und ihr damit Gesetzeskraft zu geben. Damit ist das Stadium theologischer Kontroversen endgültig vorüber. Rettung für Port-Royal kann einzig nodi in einer Verhinderung der Protokollierung liegen. Sofort wenden sich die Jansenisten und ihre Freunde an die „Avocats Généraux" des Parlaments 37 . Um diese Zeit — am 7. Mai — erscheint der 18. und zugleich der letzte vollendete Provinzialbrief 38 . Schon bereitet Pascal den 19. Brief vor. Aber mitten im Satz bricht er ab. Die Situation hat die Form der bisherigen Briefe überholt. Statt eines weiteren Briefes an Père Annat erscheint — einen Monat später — Pascals „Brief eines Advokaten ans Parlament" 89 . Nicht mehr an die Öffentlichkeit, an den „honnête homme", und auch nicht gegen die Jesuiten wendet sich Pascal nunmehr zur Rettung der jansenistischen Sache, sondern ans Parlament. Der Abbruch der Briefe zeigt also erneut, wie sehr Pascal im Kampf der Provinzialbriefe auf die jeweilige Situation hört, wie er in jedem Augenblick bereit ist, einer neuen Situation audi wirklich neu zu antworten.
3. D a s Wesen d i a l o g i s c h e r G r u n d h a l t u n g u n d dialogischer Literarform Das von uns bisher — in einem vorläufigen Sinne — als „dialogisch" bezeichnete Denken Pascals und zugleich die literarische Dialogform seines Redens zeigen sich in den Provinzialbriefen — wie an einem Höhepunkt — in voller Klarheit. Es ist darum angebracht, an diesem Punkte zum ersten Male die grundsätzliche Frage nach dem besonderen Wesen einmal des „Dialogischen" als Form des Denkens und Verhaltens und zum anderen des „Dialogs" als literarischen Phänomens zu stellen, um an Hand dieser Wesensbestimmung das Besondere Pascalschen Denkens und Redens, wie wir es bei der Untersuchung seiner Schriften von 32
Fall zu Fall beobachten konnten, uns noch einmal vor Augen zu führen und erläuternd zusammenzufassen. Der Bereich des „Dialogischen" ist nicht der des formalen Zwiegesprächs oder der Wechselrede. Von vornherein gilt es, sich von diesem formalistischen Verständnis freizumachen, wenn man zu einem wirklichen Wesensverständnis des Dialogischen vorstoßen will. „Die Möglichkeitsgrenzen des Dialogischen — sagt Martin Buber, dessen Betrachtungen über das dialogische Prinzip wir dem Folgenden zugrunde legen möchten — sind die des Innewerdens." 1 Er versteht dabei unter „Innewerden" ein Verhalten des Menschen in der Welt, das — im Gegensatz zum „Beobachten" und „Betrachten" 2 — in allem, was geschieht, erscheint, begegnet, „Anrede" vernimmt. „Es muß keineswegs ein Mensch sein, dessen ich innewerde. . . . Keine Art von Erscheinung, keine Art von Begebenheit ist grundsätzlich aus der Reihe derer ausgeschaltet, durch die mir jeweils etwas gesagt wird." 3 „Was mir widerfährt ist Anrede an mich." 4 „Jede konkrete Stunde . . . , die der Person zugeteilt wird" 5 , jede „Begebenheit des persönlichen Alltags" 6 , jede „Situation" 7 redet mich an, ist von „dialogischer Gewalt" 8 . „Nichts kann sich wehren, dem Wort Gefäß zu sein." 9 Diese „Grundhaltung" 10 , in der man das Geschehen, die Situation, statt sie „von Anrede zu entkeimen" 11 als Anrede wahrnimmt, ist — nach Buber — Möglichkeitsbereich und Möglichkeitsgrund des Dialogischen. Dieser „Grundhaltung" entspricht die „dialogische Grundbewegung" 12 als Verwirklichung des Dialogischen. Diese „Grundbewegung" — Buber nennt sie „Hinwendung" — ist ihrem Wesen nach „Antwort". Das geschichtlich Begegnende, die konkreten Ereignisse, die jeweiligen Situationen rufen mich in ihrem Anredediarakter zur Antwort, zur antwortenden Tat auf. „Immer ist mir ein Wort geschehen, das eine Antwort heischt." 13 Die Formen dieser Hinwendung, dieser Antwort sind so verschieden wie die Formen der Anrede. Dem Wesen nach aber sind sie stets „unser Eingehen auf die Situation, in die Situation . . . , die uns eben jetzt angetreten hat" 1 4 in ihrer ganzen „dialogischen Gewalt" 15 . Innewerden und Hinwendung, Vernehmen und Antworten dürfen aber nicht als zwei getrennte Akte verstanden werden. Beides vereinigt sich zu einem Akt, zu einer schwingenden Bewegung. Hinwendung aus dem Innewerden heraus, Antworten aus dem Vernehmen der Anrede eines Geschichtlich-Konkreten heraus, das ist die Bewegungsstruktur alles dialogischen Tuns. Diese Wesensbestimmung des „Dialogischen" als Form des Denkens und Verhaltens, auf die wir an einem späteren Ort nodi zurückkommen werden, trifft weitgehend mit dem zusammen, was eine Untersuchung des Dialogs als literarischen Phänomens und der ihm unmittelbar benach3 7902 Meyer, Pascal
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harten Gattungen wie der Diatribe und des Briefs, den man schon im Altertum als „halbierten Dialog" bezeichnete16, ergibt. Eins der grundlegenden Wesensmerkmale des „editen" literarischen Dialogs, so lautet das Ergebnis der Literaranalyse, ist sein „Ausgehen vom Gelegentlichen"17, und nicht nur sein anfängliches Ausgehen, sondern seine bleibende Verflochtenheit „mit der lebendigen Wirklichkeit und Umgebung"18. Es muß „als wesentlich für den echten Dialog bezeichnet" werden, daß er „von Anlässen ausgeht", „an die Wirklichkeit anknüpft", sagt Hirzel und zeigt, wie dies bereits in den allerersten Anfängen dieser literarischen Gattung zu beobachten ist19. Die „sokratische Regel, den Dialog frei und lebendig aus der Situation herausspringen zu lassen", bestimmt ebenfalls die Gattung der Diatribe20. Eine Untersuchung etwa der „Dissertationes" Epiktets zeigt, wie sehr oft — sogar expressis verbis — „ein konkreter Anlaß" zum Ausgangspunkt genommen wird 21 . Nicht anders verhält es sich mit dem literarischen Brief: auch er ist und bleibt, sofern er echter Brief ist, „eingesenkt in ganz konkrete Situationen, nicht nur des Schreibers, sondern auch des Empfängers" 22 . In welchem Maße diese Verflochtenheit mit einer konkret-geschichtlichen Wirklichkeit das Wesen des echten Dialogs ausmacht, zeigt sich daran, daß überall dort in der Geschichte des Dialogs, wo seine Rhetorisierung einsetzt, d. h. wo Anlaß, Gesprächspartner oder Adressat zu blassen Fiktionen, Situationen und Wirklichkeit zur künstlichen Kulisse werden, kurz der Dialog zu einem bloßen modus loquendi wird, der Niedergang des Dialogs beginnt, der ihn schließlich im Traktat, in der monologischen Abhandlung verlöschen läßt 23 . Zwiegespräche und Wechselreden sind als solche eben noch kein wirklicher Dialog. Sie sind es erst dann, wenn sie von der „lebendigen Wirklichkeit und Umgebung" der Partner, von einem „konkreten Anlaß" ausgehen und „in ganz konkrete Situationen eingesenkt" bleiben, wenn sie also in der dialogischen Grundbewegung stehen, innewerdende Hinwendung, auf geschichtlich-konkrete Anrede hörendes Antworten sind. Zusammenfassung Blicken wir von dieser Wesenbestimmung des Dialogischen und des Dialogs zurück auf das, was unsere Untersuchung von Pascals Werken ergeben hat, so wird vollends deutlich, in wie starkem Maße diese Werke vom Dialogischen bestimmt sind. Sie entspringen einem Denken, das kein „Gespräch der Seele mit sich selbst" ist, wie Piaton das Denken definieren kann 24 , sondern das auf die „Anrede" von außen hört und wartet, um sidi als Antwort zu vollziehen. Pascal steht an den Antipoden eines sich rein von innen her entfaltenden Denkens, wie es bei34
spielsweise von seinem Zeitgenossen Descartes verkörpert wird, dessen Denken η adi seinem eigenen Zeugnis an seinen Höhepunkten stets meditativ-monologisch ist, ein „sich in aller Ruhe verschiedenen Überlegungen widmen", fern von allen „Gesprächen" 25 . Nie ist Pascals Denken und Reden das Denken und Reden eines Einsamen oder eines sich bewußt von den Bewegungen und Impulsen der Umwelt Abschirmenden, sondern es vollzieht sich stets, indem es einer Gegebenheit, einem Ereignis, einer Frage, kurz einer konkreten geschichtlichen Situation antwortet. „Pascal stellt keine Frage im absoluten Raum, sondern stets indem er einer gegebenen Situation gehorcht." 24 Er wartet auf den „Anstoß . . . von außen" 27 , auf die „von außen kommenden Anregungen" 28. „Fast immer — so hat man gesagt — gehorcht Pascal einem von außen kommenden Anstoß; er wird gleichsam herausgefordert." 29 Nur dann wendet er sich denkend einer Sache zu, wenn die „dialogische Gewalt der Situation" ihn dazu zwingt, wenn er von außen Anrede vernimmt, der er antworten kann 30 . Der Grundcharakter Pascalschen Denkens, Redens und Schaffens liegt darin, daß es dialogisch ist, daß es geschieht im Hören und Antworten auf das Geschichtlich-Konkrete.
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II. D I E D I A L O G I S C H E
METHODE
(Pascals „Kunst zu überzeugen") 1 . P a s c a l s „ K u n s t zu ü b e r z e u g e n " als „ K u n s t " dialogischen Überzeugens An einer Stelle ihrer Vita Pascals schreibt Mme Périer — und sie faßt damit zusammen, was sie über die Beredsamkeit und den Stil ihres Bruders ausgeführt hat —: „Diese Art zu schreiben war ihm in so besonderem Maße zu eigen, daß man beim Erscheinen der Provinzialbriefe sofort seine Verfasserschaft vermutete, so große Mühe er sich auch gegeben hatte, es sogar vor seinen Nächsten geheimzuhalten." 1 Worin besteht diese besondere „Art zu schreiben" Pascals, die ihm so überaus eigentümlich gewesen sein muß? Welches sind jene „ganz besonderen Regeln der Beredsamkeit", von denen Mme Périer spricht 2 , und die Pascal in seinen Provinzialbriefen erstmalig in vollem Umfange zur Anwendung gebracht zu haben scheint? Gibt es grundsätzliche Äußerungen Pascals, die uns diese Frage beantworten können? a) Die Personbezogenheit der „Kunst zu überzeugen" (Der Unterschied zur „geometrischen Methode" des Beweisens) In der Zeit zwischen 1655 und 1658 — eine genaue Datumsangabe wagt man nicht zu machen — verfaßte Pascal zwei fragmentarisch gebliebene Abhandlungen, die später von Havet unter dem Titel „Uber den geometrischen Geist" herausgegeben worden sind 3 . Es sind das im wesentlichen zwei verschiedene Fassungen derselben Arbeit, in denen es um die Darlegung der Methode geometrisch-deduktiver Beweisführung geht. Nun ist aber diese geometrische Methode als solche keineswegs etwas Neues, und darum kann hier in der Befolgung der Regeln dieser geometrisch-deduktiven Uberzeugungskunst nicht das Originelle der Pascalschen „Art zu schreiben" gelegen haben. Pascal selbst gibt dies zu, indem er sagt, daß der Grundsatz, alles zu definieren und alles zu beweisen, unter Mathematikern und Logikern durchaus bekannt sei und von vielen befolgt werde, und daß deshalb auch seine Abhandlung nichts eigentlich Neues biete 4 . Daraus folgt, daß audi Mme Périer mit den „règles d'éloquence toutes particulières", den ganz besonderen Regeln der Beredsam36
keit ihres Bruders, die sie so rühmend erwähnt, nicht die Regeln deduktiven Beweisens gemeint haben kann. Wenn man in der Pascal-Forschung gewöhnlich die beiden erwähnten fragmentarischen Abhandlungen als zwei verschiedene Fassungen ein und derselben Arbeit ansieht 5 , dann ist das insofern richtig, als es Pascal in beiden Abhandlungen darum geht, die Methode geometrischer Beweisführung darzulegen und in Regeln zu fassen. In ihrem Grundtenor jedoch sind beide Abhandlungen sehr verschieden. In der ersten Arbeit ist der Ton fraglosen Vertrauens auf die Sicherheit der geometrischen Methode bestimmend. Um zu zeigen, wie ein Beweis „unanfechtbar" wird, sagt Pascal, „habe ich nur die Methode darzulegen, der die Geometrie folgt"®. Die von dieser Wissenschaft allein erkannten „wahren Gesetze des Beweisens" 7 bestehen kurz gesagt „in der Hauptsache in zweierlei": „alle Begriffe zu definieren und alle Sätze zu beweisen." 8 So ist die Geometrie „beinahe die einzige menschliche Wissenschaft, die untrügliche Beweise liefert, weil sie allein die wahre Methode befolgt" 9 . Wer dieser von der Geometrie erkannten und praktizierten Methode folgt, dessen Beweisführung — und dies ist die eigentliche Aussage der Abhandlung — hat teil an der Sicherheit und Unfehlbarkeit der Geometrie. Es scheint hier ein Kartesianer reinsten Wassers zu sprechen, der in der geometrischen Methode völlig fraglos die „wahre Methode" 1 0 zu erkennen meint, „die allein genügt, um alle Arten von Schwierigkeiten und von Zweideutigkeiten auszuschließen" 11 . Zwar ist es nicht möglich, die Dinge bis zu den letzten Axiomen hin zu definieren. Diese letzten Grundbegriffe sind nicht beweisbar, sondern unmittelbar einsichtig 12 . Das könnte als Schwäche ausgelegt werden, ist aber in Wirklichkeit „eher eine Vollkommenheit als ein Fehler" 1 8 . So bleibt es dabei, daß die Geometrie eine „bewundernswürdige Wissenschaft" ist, die „toute la certitude", volle Gewißheit gibt 1 4 , und daß alles, „was die Geometrie aussagt, vollkommen bewiesen ist, sei es durch die natürliche Einsicht, sei es durch die Beweisführung" 1 S . Was aber von der Geometrie als spezieller Wissenschaft gilt, das gilt gleichfalls von der der Geometrie entlehnten allgemeinen Beweismethode: sie „ s c h e n k t . . . zwar keine höhere als menschliche Vollkommenheit, aber die ganze, an die Menschen gelangen können" l e . Ein völlig anderer Klang herrscht in der zweiten Abhandlung. Hier geht es zwar gleichfalls um die „methodische und vollkommene Beweisführung" 17 , die, wie auch in der ersten Abhandlung ausgeführt worden war, im wesentlichen aus den beiden Teilen besteht, „alle Begriffe zu definieren . . . und im Verlauf des Beweises in Gedanken immer die Definition an dem Ort des Definierten einzusetzen" 18 , aber in diese deduktive „Kunst zu beweisen" dringt nun — und das ist das Andersartige gegenüber der ersten Abhandlung — ein entscheidender Unsicherheitsfaktor 37
ein, der das fundamentale Vertrauen zur Sicherheit und Unfehlbarkeit der geometrischen Methode, wie es uns in der ersten Schrift begegnet ist, unmöglich macht. Was ist und wo erscheint dieser neue Faktor? Bislang lag die Vorbedingung für eine erfolgreiche Anwendung der deduktiven Beweismethode ausschließlich in dem Beweisführenden selbst, d. h. allein in seiner objektiv richtigen Handhabung der methodischen Regeln. Ohne Rücksicht auf den Anderen, den Hörer, konnte die Beweisführung sich abrollen und mußte, vorausgesetzt, daß sie die methodischen Regeln streng befolgt hatte, zum gewünschten Ziel, der Überzeugung der Anderen gelangen. Der Andere, der Adressat war darum für den Beweisführenden letztlich uninteressant und spielte in der Beweisführung lediglich die Rolle des außerhalb stehenden starren Objekts. Dementgegen heißt es jetzt bei Pascal: „ . . . wovon auch immer man jemanden überzeugen will, man hat auf den Menschen Rücksicht zu nehmen, den man überzeugen möchte. Man muß seinen Geist kennen . . . , welchen Grundsätzen er zustimmt . . . " 1 9 . Warum fordert Pascal nunmehr dieses Rücksichtnehmen auf den Adressaten der Beweisführung? Weil die Regeln der „Kunst zu beweisen", also der geometrischen Methode, „nur für den Fall" gelten, „daß man die Grundprinzipien anerkannt hat und daß man an ihnen festhält." „Sonst weiß ich nicht — so fügt Pascal hinzu —, ob es eine Kunst gibt, durch die wir die Beweise der Unbeständigkeit unserer Launen anpassen können." 20 An anderer Stelle sagt er, daß die deduktive Beweismethode nur Geltung habe „unter der Voraussetzung, daß man die Grundprinzipien, die man einmal anerkannt hat, festhält und niemals leugnet" 21 . Nur unter einer doppelten Voraussetzung kann der Beweisführende „sicher sein zu überzeugen": wenn einmal er selbst den methodischen Regeln entspricht und zum anderen die Grundprinzipien — vom Hörer — „angenommen" shid 22 . Was aus allen diesen Stellen spricht, ist klar: der Adressat der Beweisführung tritt aus seinem starren Objektsein heraus, um zu einem mitentscheidenden und mitwirkenden Faktor im Beweis zu werden, so daß nur dort die „Kunst zu beweisen" wirklich erfolgreich durchgeführt werden kann, wo zur objektiven Richtigkeit der Deduktion die „Rücksicht" auf die besondere Eigenart des Adressaten, d. h. auf die von ihm anerkannten Prinzipien, hinzukommt. Darin besteht die Wende, die die zweite Abhandlung gegenüber der ersten vollzieht, und erst mit dieser Wende beginnt das Besondere der Pascalschen Beredsamkeit sich vor uns zu enthüllen. Noch deutlicher aber wird dies, wenn wir uns der der „Kunst zu beweisen" gegenübergestellten und mit ihr unter dem Oberbegriff der „Kunst zu überzeugen" zusammengefaßten anderen Weise des Überzeugens zuwenden, der „Kunst zu gefallen". 38
Diese Gegenüberstellung ist in der zweiten Abhandlung so exakt vollzogen, daß sie zu einer genauen, stellenweise bis in die Syntax hinein sich erstreckenden Parallelisierung wird. Jede der beiden „Künste" entspricht einem der beiden Erkenntnisvermögen, dem „esprit", bzw. dem „entendement" oder Verstand einerseits und dem „coeur", bzw. dem „Willen" andererseits und gründet sich auf Grundprinzipien, die — im Hinblick auf den Verstand — die „einem jeden natürlichen und bekannten Wahrheiten" sind und — im Hinblick auf den Willen — die „natürlichen Verlangen, die allen Menschen eigentümlich sind" 2S . Nun hat Pascal die „Kunst zu beweisen" sowohl in der ersten wie in der zweiten Arbeit ausführlich abgehandelt, die „Kunst zu gefallen" dagegen nie. Das hat seinen Grund nicht in einer zufälligen Verhinderung, sondern in einer auffallenden Scheu und Unsicherheit angesichts der „außerordentlichen Schwierigkeit" des Gegenstandes 24 . Pascal gesteht: „Wenn ich davon nicht handle, dann deshalb nicht, weil ich dazu nicht fähig bin. Idi fühle mich solcher Aufgabe so wenig gewachsen, daß ich ihre Lösung für völlig unmöglich halte." 25 Ein im Munde Pascals ganz außergewöhnliches Eingeständnis, wenn man bedenkt, daß er ein Zurückweichen auch vor den schwierigsten Problemen, seien sie nun mechanischen, physikalischen, mathematischen, anthropologischen oder theologischen Charakters, nicht kennt. Dennoch aber finden sich einige Seiten, auf denen Pascal — freilich ganz im Rahmen allgemeiner Aussagen bleibend — von dieser „Kunst zu gefallen" redet. Sie stehen in der zweiten Abhandlung und sind der Darlegung der Regeln geometrischer Beweisführung vorangestellt. Obwohl Pascal auch hier die eigentlichen Grund regeln dieser Methode nicht zu formulieren wagt, so ist doch aus dem, was er sagt, zu ersehen, daß nach seiner Auffassung die „Kunst zu gefallen" keineswegs etwas grundsätzlich anderes ist als die „Kunst zu beweisen". Die methodologische Grundstruktur ist hier wie dort dieselbe. Unterschieden sind beide Methoden lediglich dadurch, daß — nach Ansicht Pascals — der in der „Kunst zu beweisen" bereits vorhandene besondere Faktor, nämlich der Andere in seiner geschichtlich-jeweiligen Geformtheit, in der „Kunst zu gefallen" potenziert erscheint. Da aber dieser Faktor den Charakter eines Unsicherheitsfaktors hat, bedeutet das zugleich Erschwerung — Pascal spricht von einer „außerordentlichen Schwierigkeit" — der Darstellung und Handhabung dieser „Kunst zu gefallen". Es muß also ausdrücklich festgehalten werden, daß der Unterschied beider Methoden lediglich gradueller, nicht wesentlicher Natur ist. Mit Recht kann Pascal darum von beiden Methoden zusammenfassend als von der „Kunst zu überzeugen" reden 26 . Die „Kunst zu gefallen" wendet sich, wie wir bereits erwähnten, im Unterschied zur „Kunst zu beweisen" an das „Herz", bzw. den „Willen", 39
jenes andere Erkenntnisorgan neben dem „esprit", das — wie Pascal sagt — das größere „Tor" darstellt, durch welches die Erkenntnisse „in Massen" eindringen, während nur „sehr wenige durch den Geist Eingang finden"27. Da jedoch auf diesem Wege über den „coeur" — analog zum Erkenntnisweg über den „esprit" — nur dasjenige aufgenommen wird, das den „natürlichen Verlangen" (désirs naturels), den Neigungen, Sehnsüchten und Wünschen des jeweiligen Hörers korrespondiert, gilt es zunächst einmal, den „coeur" dieses bestimmten Hörers in seinen „Verlangen", seinen „désirs", zu erkennen. Aber — und hier liegt nun der bereits erwähnte quantitative Unterschied zur „Kunst zu beweisen" — diese „natürlichen Verlangen" sind von größter Verschiedenheit und Fülle. Gibt es schon „fast keine Wahrheit, über die wir immer einig blieben", so gibt es „noch weniger Gegenstände des Vergnügens, die wir nicht stündlich wechselten"28. Besteht hinsichtlich der vom Adressaten anerkannten „natürlichen Wahrheiten" noch eine gewisse Möglichkeit, diese zu erfassen und eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß der Andere — wenigstens für einige Zeit — an ihnen festhält, so daß für das „Beweisen" allenfalls noch methodische Regeln aufgestellt werden können, so ist dies, was die „natürlichen Verlangen" des Herzens anbetrifft, von solch „übermäßiger Schwierigkeit", daß es ein so gut wie undurchführbares Unterfangen darstellt 29 ; denn die Prinzipien des Willens sind „nicht fest und beständig" 30 . Sie sind nicht nur „bei jedem Menschen verschieden", sondern sind „in jedem einzelnen so vielfältig veränderlich", daß kaum ein Mensch von dem anderen verschiedener ist, als man es von sich selber zu verschiedenen Zeiten ist" 81 . Derjenige also, der auf dem Wege über den „coeur" Menschen überzeugen möchte, steht in einem noch höheren Maße als der durch rationale Beweise Überzeugende vor der ganzen unsystematisierbaren „diversité" des Menschen. Wenn diese „diversité" des Menschen den Versuch, eine allgemeingültige, detaillierte Methode der „Kunst zu gefallen" aufzustellen, auch undurchführbar macht, so bedeutet das für Pascal jedoch nicht, daß es damit eine Ausübung der „Kunst zu gefallen" überhaupt nicht gebe. Es gibt sie durchaus; nur ist sie gegenüber dem bloßen „Überzeugen durch Beweise" „unvergleichlich schwieriger"82, weil sie in potenziertem Maße mit der menschlichen „diversité" zu rechnen hat 83 . b) Die drei Grundregeln der „Kunst zu überzeugen" Trotz der Scheu Pascals, die „Kunst zu gefallen" methodologisch näher zu bestimmen, heben sich aus dem wenigen, was er sagt, einige besondere, sowohl das „Uberzeugen durch Beweise" als das „Gefallen" bestimmende Grundlinien seiner „Kunst zu überzeugen" ab. Wir können sie in drei Grundregeln zusammenfassen. 40
Als erste Grundregel dieser „Kunst zu überzeugen" gilt die Forderung, den Anderen in seinem individuellen und jeweiligen Geformtsein soweit zu erfassen, daß man sowohl die besonderen Voraussetzungen und Prinzipien seines Denkens als auch die konkreten Neigungen und Wünsche seines Willens genau kennt. Pascal selbst formuliert diese erste Grundregel, indem er sagt: „Daraus geht klar hervor, daß man, wovon immer man jemanden überzeugen will, auf den Menschen Rücksicht zu nehmen hat, den man überzeugen will. Man muß seinen Geist und sein Herz kennen und wissen, welchen Grundsätzen er zustimmt und welche Dinge er liebt." 84 Dabei muß dieses „Kennen" die Art eines „intimen", eines ganz auf den Anderen eingehenden Verstehens haben ss . Mme Périer ist es, die uns die wohl zutreffendste Umschreibung der besonderen Art dieses Erkennens gibt; sie sagt von ihrem Bruder und seiner „Beredsamkeit": „Wenn er etwas bedachte, dann versetzte er sich an die Stelle derjenigen, die es verstehen sollten." 86 Dieses an die Stelle des Anderen tretende, solidarisch mit ihm werdende Erkennen ist also die erste Vorbedingung des „Überzeugens", sowohl beim „Beweisen" als auch — in gesteigertem Maße — beim „Gefallen". Erst „nach" der so erworbenen Kenntnis des Adressaten — so heißt es bei Pascal ausdrücklich —, gilt es, den Gegenstand des Überzeugens, „die Sache, um die es geht" 37 , ins Auge zu fassen. Es versteht sich von selbst, daß Pascal hier nicht grundsätzlich das Erkennen von Gegenständen (choses) im Auge hat. Es geht ihm vielmehr ausschließlich um ein Sacherkennen, das auf Mitteilung ausgerichtet ist, also um ein Erkennen innerhalb der Grenzen von „Uberzeugen" (persuader). Von einem solchen Erkennen fordert er mit Nachdruck, daß es stets ein, von der Erkenntnis des konkreten Adressaten herkommendes Erkennen zu sein habe. In unmittelbarem Anschluß an das oben zitierte Wort von dem zum wirkungskräftigen „Überzeugen" unerläßlichen Kennen oder Verstehen des Anderen fährt Pascal darum fort: „Und danach muß man bei der Sache, um die es sich handelt, darauf achten, welche Gleichheitsbezüge (rapports) sie besitzt zu den vom Hörer anerkannten Prinzipien oder zu den verlockenden Dingen auf Grund der Vorzüge, die man ihr beimißt." 38 Damit formuliert Pascal zugleich die der ersten Grundregel nachfolgende und nicht minder wichtige zweite Grundregel der „Kunst zu überzeugen". Sie verlangt ein von der Erkenntnis des Adressaten herkommendes und durch sie wesentlich bestimmtes Erkennen des Gegenstandes; und zwar gilt es dabei, in dem Gegenstand den „rapport", den „Gleichheitsbezug" — Pascal kann audi von „union" oder „liaison" sprechen89 — zu erkennen, den dieser mit dem zuvor nach „esprit" und „coeur" erkannten Adressaten hat. Es geht hier also um ein Sacherkennen besonderer Art, das nicht von der Frage bestimmt ist, wie der Gegenstand als solcher sei oder wie er mir 44
erscheine, sondern von der Frage, wo ein Gleichheitsbezug, eine Korrespondenz besteht zu bestimmten, vorher erkannten Denkvoraussetzungen und -prinzipien, Neigungen und Wünschen des Adressaten. Gelingt es, einen solchen Gleichheitsbezug, eine Korrespondenz, zwischen Gegenstand und Adressat zu entdecken — Pascal faßt auch die Möglichkeit ins Auge, daß es keinen solchen Gleichheitsbezug gibt 40 —, so tritt nunmehr die letzte, die dritte Grundregel der „Kunst zu überzeugen" in Kraft. Es ist die „application" 41 , die Forderung, den Anderen auf dem Wege über den erkannten Gleichheitsbezug so zur Sache zu führen, daß er sich durch sie in seinem eigenen Wesen, d. h. in dem, was ihm vertraut, bekannt, lieb ist, angesprochen fühlt. Nachdem Pascal den Gleichheitsbezug, die „Entsprechungen" (proportions), festgestellt hatte, so schreibt Mme Périer, „sah er zu, auf welche Weise er sie darstellen müsse"; denn „die Entsprechungen sind nur durch richtige Darstellungsweise in Einklang zu bringen" 42 . Damit ist der Akt des „Uberzeugens" vollzogen; denn nun ist es — nach Ansicht Pascals — gar nicht anders möglich, als daß der Adressat die Sache, die Wahrheit oder die Ansicht, der er so konfrontiert worden ist, mit „Entschiedenheit" (certitude) und „Freudigkeit" (joie) als seine Wahrheit, als seine Ansicht versteht und annimmt4S. Einzig und allein um dieses Annehmen und Aufnehmen der Wahrheit geht es Pascal in seinem „Uberzeugen". Er will seinem Gegenüber kein Ja zu seiner eigenen Ansicht abringen. Er will ebensowenig eine theoretische Einsicht im Hörer hervorrufen, die die Distanz zwischen Verstehendem und Verstandenem beläßt. Ihm geht es vielmehr darum, Hörer und Wahrheit zusammenzuführen, sie zu vereinigen. Das spricht deutlich aus den Formulierungen, die er gebraucht, wenn er vom Ziel seines „Überzeugens" spricht. Es sind Ausdrücke wie „mit Gewißheit annehmen", „in der Seele aufnehmen", „freudig danach greifen" 44 oder — wie es bei Mme Périer heißt — „teilnehmen an den Dingen", „sich ihnen mit Vergnügen hingeben" 45 . Hier liegt auch die tiefere Bedeutung des Pascalschen Gedankens vom Gleichheitsbezug: wenn er seinem Hörer den „rapport", die „liaison" oder die „union" aufzuzeigen versucht, die zwischen ihm und der Wahrheit besteht, so bedeutet ihm das kein taktisches Mittel zur Durchsetzung seiner eigenen Ansicht, sondern soll dem Hörer zeigen, daß diese „Wahrheit" ihn selbst in seinem eigenen Wesen betrifft, zu ihm gehört, daß sie — wie es in Fr. 14 heißt — nicht Sache des Redenden, sondern des Hörenden eigene Sache ist 46 . Trotz der aus dem Gefühl des Unvermögens erwachsenen Scheu Pascals, seine „ganz besonderen Regeln" des rechten „Überzeugens" zu formulieren, und trotz der aus dieser Scheu sich ergebenden Bruchstückhaftigkeit und Spärlichkeit seiner diesbetreffenden Ausführungen, ist den42
nodi das Besondere der Pascalschen „manière d'écrire", das „Geheimnis seiner Beredsamkeit" in seinen wesentlichen Grundzügen deutlich geworden. Zusammenfassend läßt sich von diesem Besonderen sagen: es besteht darin, daß Pascals Reden nicht allein von der Sache, sondern in gleichem Maße vom Adressaten her bestimmtes Reden ist. Dieser Adressat ist und bleibt für Pascal stets ein konkreter Anderer. Pascal systematisiert ihn nicht, reduziert ihn nicht aus der konkreten „diversité" zu einem „gedachten Anderen" 4 7 , zu einem „Unwirklichen" 48 , sondern er „akzeptiert" ihn in seinem „anderen Sein" 49 , „ohne verkürzende Abstraktionen" 60 ; er hält also „dem leibhaftigen Faktum der Anderheit stand" 5 1 , um Worte Martin Bubers zu gebrauchen, dessen Gedanken man auch hier, angesichts der „Kunst zu überzeugen" als Zeugnisse für den echt dialogischen Charakter Pascalschen Denkens und Redens heranziehen kann 52 . Indem Pascal sein Reden dergestalt geprägt sein läßt von einem „wirklichen Zum-Anderen-ausgehen", „Zum-Anderen-gelangen und BeimAnderen-verweilen" 53 , befreit er diesen Anderen, seinen Adressaten, aus seinem starren Objektsein und läßt ihn partnerhaft an der Rede mitwirken, die dadurch Wesen vom Wesen des Anderen trägt. Das Reden Pascals ist also ein vom Anderen herkommendes, dem Anderen entsprechendes, auf sein besonderes Wesen antwortendes Reden, das man einzig mit dem Begriff des „Dialogischen" prägnant und adäquat zu erfassen vermag. Gewissermaßen als Signatur, als Chiffre für die Pascalsche „Kunst zu überzeugen" bietet sich der Begriff des „inter-esse" an. Pascal selbst gebraucht das Wort „intérêt" mehrfach und zwar stets in Verbindung mit Begriffen des Erkennens und Verstehens, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird 5 4 , und Mme Périer bedient sich des Verbum „intéresser" sogar, um damit „einen der Hauptpunkte" der Pascalschen Beredsamkeit zu beschreiben65. In dreifacher Hinsicht wäre dann von der Methode Pascals ein „inter-esse" auszusagen. Es gilt einmal vom Redenden, sofern es nicht monadisch in sich ruht, sondern im Anderen mit seinen Wünschen und Denkvoraussetzungen, Neigungen und Prinzipien „dabei ist". Sodann gilt dieses „inter-esse" gleichfalls vom Zuhörenden, weil auch er nicht in sich, in seinem starren Objektsein verharrt, sondern in der an ihn gerichteten Rede immer schon mitwirkend „dabei ist". Schließlich gilt es auch von der Rede selbst. Sie ist „interessante", den Hörer „interessierende" Darstellung einer Sache, d. h. eine Darstellung, die den Gleichheitsbezug der Sache zum Adressaten aufzeigt und diesem dadurch zu verstehen gibt, daß er „dabei ist", m. a. W. daß für ihn angesichts dieser Sache das „tua res agitur" gilt und daß die Bejahung und Realisierung dieses „Dabei-seins" durch die Übernahme der Sache als seiner eigenen das einzig richtige Verhalten darstellt. Erst auf Grund dieses existentiellen 43
„Interesses" von Adressat, Redendem und Rede kann nun auch — wie im alltäglichen Sprachgebrauch geschieht — im existentiellen Sinne davon gesprochen werden, daß ein Redender das „Interesse" des Hörers besitze, daß seine Rede „interessant" und der Adressat an der dargestellten Sache „interessiert" sei. c) Die Sachbezogenheit der „Kunst zu überzeugen" (Ihr Unterschied zur „Beredsamkeit" der „honnêtes gens") Bevor wir die Darstellung der „Kunst zu überzeugen" im engeren Sinne abschließen, ist es nötig, diese Methode Pascals von einer ihr überaus ähnlichen Methode, wie sie in seiner nächsten Umgebung geübt wurde, abzugrenzen und zugleich damit ihre Wesensbeschreibung zu vervollständigen. In seinen Ausführungen zur „Kunst zu gefallen" macht Pascal dort, wo er von der „übermäßigen Schwierigkeit" spricht, diese „Kunst zu gefallen" in Regeln zu fassen, folgende einschränkende Nebenbemerkung: „Zum mindesten weiß idi, wenn irgend jemand dazu imstande ist, so sind das Menschen, die ich kenne, und daß niemand sonst hierüber so klare und fruchtbare Einsichten besitzt. " M Die hier vorliegende Anspielung auf die „Menschen, die ich kenne", muß als Hinweis auf den Chevalier de Mère und den Kreis der „honnêtes gens" verstanden werden. Das wird durch die Lektüre der Schriften Mérés, des „honnête homme" par excellence, bestätigt. Man stößt dort immer wieder auf Stellen, in denen eine Methode des Umgangs und der Beredsamkeit entwickelt wird, die auf den ersten Blick — oft bis in den Wortlaut hinein — sich mit Pascals „Kunst zu überzeugen", insbesondere mit seiner „Kunst zu gefallen" zu decken scheint. Diese Methode findet ihren Ausgangspunkt in der alles überragenden Bedeutung, die der gesellige Umgang, vor allem das angenehme Gespräch, die Konversation im Leben der „honnêtes gens" hat 57 . Um dieses Miteinander recht zu verwirklichen, entwickelt man eine Kunst des Umgangs und des Gesprächs, die darin ihren Angelpunkt hat, daß sie versucht, ganz auf den konkreten Partner einzugehen, sich ihm rückhaltlos zu „akkommodieren" 58 . „Ich passe midi an alles an", „je m'accommode à tout", kannMéré stolz von sich sagen59. Ziel dieser Akkommodation ist die Herstellung eines Gleichheitsbezugs, eines „rapport", einer „ressemblance", einer „Ähnlichkeit", ja, einer „Konformität" mit dem Anderen 80 . Zur Verwirklichung dieses Gleichheitsbezuges ist es jedoch nötig, den Anderen in seinem jeweiligen, konkreten Sosein bis ins Innerste hinein zu kennen. Méré fordert darum vom „honnête homme" die „Begabung, in das einzudringen, was an Verborgenstem geschieht", die „Fähigkeit zu erahnen", das „klare und genaue Unterscheidungsvermögen" β1 , das die 44
„Gedanken", die „Gefühle" 62 , die „Neigungen", den „Geist" und das „Gemüt" 63 des Gegenüber erfaßt. „Man muß alles beobachten — so sagt er zusammenfassend —, was sich im Herzen und im Geist jener Menschen vollzieht, mit denen man im Gespräch ist." 64 Auf Grund dieses divinatorischen Wissens um den Anderen wird es möglich, sich in seinem Handeln, Reden und Schweigen dem Gegenüber ganz zu akkommodieren, ihm konform zu werden. Die Ähnlichkeit dieser von Méré dargestellten Kunst des Umgangs mit Pascals „Kunst zu überzeugen" ist so groß und so offensichtlich, daß es keinen Zweifel geben kann über die direkte Abhängigkeit Pascals von seinem Freund Méré und dem ihm aus eigener Erfahrung vertrauten Kreis der „honnêtes gens". Dennoch besteht zwischen Méréscher Divinations- und Akkommodationskunst und Pascalscher „Kunst zu überzeugen" ein Unterschied von weittragender Bedeutung. Er liegt darin, daß Pascals „Kunst zu überzeugen" stets auf eine „Sache" (chose), auf eine „Wahrheit" bezogen ist, Mérés Umgangskunst dagegen diese Sachbezogenheit nicht kennt; sie lehnt sie sogar ausdrücklich ab 65 , weil es ihr einzig und allein um wechselseitiges „Gefallen", um „Sympathie" 66 , „Achtung" und „Zuneigung" 67 , um „aimable commerce", „angenehmes Miteinander" 68 geht und jegliche Sachbezogenheit dem Gespräch das Gesellige, Ungezwungene, Angenehme und Heitere nehmen und es so — nach Auffassung des „honnête homme" — seinem eigentlichen Zweck entfremden würde. Pascal dagegen kommt es in seiner „Kunst zu überzeugen" nicht auf das bloße Miteinander von Personen, sondern auf die Zusammenführung von Person und Wahrheit an. Bereits der erste Satz seiner Abhandlung über die „Kunst zu überzeugen" läßt darüber keinen Zweifel: mit aller Prägnanz setzt er als die beiden Brennpunkte seiner „Kunst zu überzeugen" nicht die beiden Partner des Gespräches, sondern den Anderen und die Wahrheit (vérité bzw. chose). „Die Kunst zu überzeugen — so heißt es dort — steht notwendig mit der Art und Weise in Beziehung, wie Menschen einer Sache, die man ihnen vorträgt, zustimmen, und dann mit der Eigenart dessen, was man glauben machen will." 69 Das Subjekt des Uberzeugens hat in allem nur die dienende Funktion, den Bezug herzustellen zwischen dem Anderen und der Sache, und steht nicht im Brennpunkt der „Kunst zu überzeugen". Diese grundlegende Sachbezogenheit trennt die Pascalsche „Kunst zu überzeugen" radikal von der rückhaltlosen Akkommodation, in die Mérés Umgangskunst gerät, und in der es nicht mehr darauf ankommt, eine bestimmte Sache zu sagen, sondern lediglich den geselligen „rapport" herzustellen, dem die Sache als bloßes Mittel dient. „Um mit seinen Worten die Menschen, die man unterhält, wirklich zu erreichen, ist es weniger nötig, hervorragende Dinge zu sagen, als solche Dinge, die am 45
besten zu ihrem Geist, ihrem Charakter, ihrer Neigung in Beziehung stehen. In allem sehen wir, wie Ähnlichkeit und Gleichheit Sympathie entstehen lassen." 70 Pascals „Kunst zu überzeugen" hält somit deutlich die Mitte zwischen den Extremen des starren Monologs einerseits und der rückhaltlosen Akkommodation andererseits. Dieser Mittelstellung seiner „Beredsamkeit" gibt Fr. 25 Ausdruck: „Beredsamkeit: Gefallendes und Wirkliches sind nötig; aber jenes Gefallende muß selber der Wahrheit entstammen."
2. D i e V e r a n k e r u n g d e r „ K u n s t z u ü b e r z e u g e n " in P a s c a l s W a h r h e i t s v e r s t ä n d n i s Einer solchen Methode des Überzeugens muß ein besonderes Verständnis sowohl vom Wesen der Wahrheit als auch vom Wesen des Menschen zugrunde liegen. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. Für Pascal ist — und dies darf wohl als Ausgangsbasis für eine Untersuchung des Pascalschen Wahrheitsverständnisses genommen werden — Wahrheit und Wahrheitserkenntnis nicht etwas selbstverständlich Gegebenes, sondern etwas zutiefst Problematisches. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und noch bis in unser Jahrhundert hinein hat die Pascal-Forschung immer wieder die Frage erörtert, ob und wieweit man von einem Skeptizismus Pascals reden könne, ob er den menschlichen Erkenntnisvermögen, insbesondere der „raison", die Kraft zum Erkennen der Wahrheit abspreche, oder ob er gar jegliches Erscheinen der Wahrheit im Bereich natürlichen Lebens leugne. Selbstverständlich geht es uns, wenn wir jetzt nach Pascals Wahrheitsverständnis fragen, nicht darum, diese längst verjährte Diskussion wieder aufzunehmen. Dennoch aber sieht jeder, der aus den Schriften Pascals, besonders aus seinen „Pensées" zu erheben versucht, was Pascal unter „Wahrheit" näher verstanden hat, sich auf das verwiesen, was man lange Zeit als seinen „Skeptizismus" bezeichnet hat; es gibt nun einmal eine Reihe von Aussagen Pascals, die man — für sich betrachtet — durchaus im Sinne skeptischer Wahrheitsleugnung auslegen kann, Aussagen, denen dann freilich augenblicklich die große Zahl anderer Äußerungen entgegenzuhalten ist, in denen Pascal grundsätzlich Erscheinen und Erkennbarkeit der Wahrheit bejaht. Man hat nun gewöhnlich versucht, auf dem Wege einer Prüfung der von Macht und Unmacht der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten redenden „Pensees"-Fragmente sich in diesem Gegeneinander der Aussagen Klarheit zu verschaffen und ist dabei auch ohne Zweifel zu klärenden Ergebnissen gelangt. Doch haben ein solches Vorgehen und die so erreichten Ergebnisse nur dann wirklich umfassende Gültigkeit, wenn Pascals Wahrheit ausschließlich noetisch, d. h. als adaequatio intellectus et rei, 46
bzw. ad rem verstanden hat. Nun schillert jedoch der Pascalsche Wahrheitsbegriff in einem Maße, daß es so gut wie unmöglich ist, ihn im Sinne einer der üblichen Definitionen von Wahrheit eindeutig zu bestimmen. Von Aussage zu Aussage kann sich bei Pascal das Verständnis von Wahrheit verschieben: einmal ist „vérité" Sachwahrheit, ontologische Wahrheit, dann noetische Wahrheit und schließlich existentielle Wahrheit. Angesichts dieser auf den ersten Blick sich darbietenden Vielgestaltigkeit des Pascalschen Wahrheitsbegriffes ist ein Doppeltes geboten: einmal muß man sich davor hüten, absichtlich oder unabsichtlich nur einen dieser Wahrheitsbegriffe gelten zu lassen und allein von ihm her Pascals Äußerungen zu interpretieren, und zum anderen muß man fragen, wie es sich um die Beziehung dieser verschiedenen Wahrheitsbegriffe zueinander verhält. a) Wahrheit als ontologische Wahrheit Gegenüber einer Absolutsetzung des noetischen Wahrheitsverständnisses bei Pascal muß darauf hingewiesen werden, daß in den Äußerungen Pascals zum Problem der Wahrheit und ihrer Erkennbarkeit deutlich ein ontologischer Wahrheitsbegriff hervortritt. Diese vom ontologischen Verständnis der Wahrheit bestimmten Aussagen enthüllen eine Auffassung vom Sein der Dinge, die das Problem der Wahrheitserkenntnis, lange bevor es im noetischen Bereich erscheint, bereits ontologisch im Sein der Dinge verankert sein läßt. Wenn man angesichts der zahlreichen Äußerungen Pascals über das Ungenügen unserer Wahrheitserkenntnis fragt, warum dieses Ungenügen vorliegt, warum die „lautere Wahrheit" 1 „nicht in unserer Reichweite ist" 2 , so stößt man auf eine Aussagenreihe, die deutlich vom Wesen der Dinge, von ihrem Wahr-sein her argumentiert. Der Grund des Ungenügens, so lautet hier die Antwort, liegt darin, daß die, unserem Erkennen sich darbietenden Dinge nicht einseitig und eindeutig, sondern vielseitig, verschiedenflächig sind. „Die Dinge haben verschiedene Eigenschaften . . . ; denn nichts, was die Seele anspricht, ist einfach", sagt Pascal in den „Pensées" 3, und in „Von der Kunst zu überzeugen" heißt es ganz ähnlich: „ . . . die Eigenschaften der Dinge sind sehr verschieden." 4 Immer wieder redet Pascal von den verschiedenen „Seiten" 5 , „Teilen" β und „Aspekten" (faces) 7 einer Sache. Von allem Erscheinenden gilt: „Alles ist eines, alles ist verschieden." 8 An ein und derselben Sache gibt es also sehr verschiedene Seiten und Aspekte, die alle in gleichem Maße „wahr", im Sinne von „der Sache wesenhaft", „wesensgerecht" sind, und die dennoch zueinander im Verhältnis des Gegensatzes und damit, wenn man von der gebräuchlichen Logik und ihrem principium contradictionis her denkt, der „Unwahr47
heit" stehen können. Im Sinne dieses „wahr" und „dennoch nicht wahr" kann es bei Pascal heißen, alles was sich uns als Wahrheit darbiete, sei eine „Mischung" von Wahrem und Falschem, oder: „Jegliches Ding ist hier auf Erden zum Teil wahr, zum Teil falsch"9, wobei eben dieses zu beachten ist, daß hier „falsch-sein" nichts ist, als ein uneigentlidier Ausdruck für „im-Gegensatz-stehen"; denn in Wirklichkeit sind „die entgegengesetzten Prinzipien" nicht „falsch", sondern sie sind, wie Fr. 394 sagt, „auch wahr". Dieses, daß es an ein und derselben Sache entgegengesetzte und doch in gleicher Weise wesensgerechte, d. h. ontologischwahre Seiten, also „vérités opposées" gibt, zeigt Fr. 567: „Die zwei gegensätzlichen Gründe. Damit muß man beginnen; sonst versteht man nichts, und alles ist häretisch; und sogar am Schluß jeder Wahrheit muß man hinzufügen, daß man sich an die gegensätzliche Wahrheit erinnert." Anders gewendet bedeutet dies — und damit formuliert Pascal selbst die in diesem Wahrheitsverständnis liegende Aufhebung des Satzes vom Widerspruch —: „Weder der Widerspruch ist Zeichen des Falschen, nodi die Widerspruchsfreiheit Zeichen der Wahrheit." 10 Wahrheit — im Sinne von Wahrsein der Dinge — ist also für Pascal eine eminent verschiedenflächige und damit in sich gegensätzliche, widersprüchliche Größe, die mit dem auf dem logischen principium contradictionis basierenden bloßen Richtigkeits- und adaequatio-Begriff nicht voll erfaßt werden kann. b) Wahrheit als noe tische Wahrheit Aus den bisher angeführten Zitaten geht nun aber auch hervor, daß Pascal dieses Wahr-sein der Dinge nie als einen reinen, in sich ruhenden ontologischen Sachverhalt darzustellen vermag, sondern daß er stets so redet, daß er seine Aussagen über das Wahr-sein der Dinge in Beziehung zum menschlichen Erkennen setzt. Die Warnung vor einer stillschweigenden Absolutsetzung eines Wahrheitsbegriffes bei Pascal, wie wir sie im Hinblick auf den noetischen Wahrheitsbegriff ausgesprochen haben, muß also hinsichtlich des ontologischen Verständnisses von Wahrheit wiederholt werden. Diese Beziehung von ontologischer und noetischer Wahrheit bei Pascal hatten wir eingangs so zu umschreiben versucht, daß wir sagten, das Problem der Wahrheitserkenntnis sei im Wahr-sein der Dinge „verankert". Der Art und Weise dieser ontologischen Verankerung des Wahrheitsproblems soll nunmehr in aller Kürze nachgegangen werden. Man hat im allgemeinen die Ansicht vertreten, das Ungenügen unseres Erkennens, das die adaequatio intellectus et rei verhindere oder erschwere, liege für Pascal in — verschiedenartigen — Störungen des Erkenntnisaktes. Das gibt zwar in der Tat die Aussagen einer Reihe von „Pensées"Fragmenten richtig wieder, umfaßt aber dodi u. E. nur eine Hälfte der 48
Gesaratanschauung Pascals in dieser Frage. Für ihn liegt nämlich das Ungenügen menschlichen Erkennens nicht allein in den verschiedenen Erkenntnisstörungen, sondern es liegt tiefer in der mit der Natur des Menschen gegebenen Struktur des Erkennens überhaupt und ihrem Verhältnis zum Wesen der Dinge und ihres Wahr-seins. Dieses Verhältnis von Erkennensstruktur und ontologischer Wahrheit, von „intellectus" und „res" ist das einer vorgegebenen Inadäquatheit, die die adaequatio intellectus et rei nicht nur gelegentlich, sondern grundsätzlich zum Problem macht. Diese Inadäquatheit liegt darin, daß menschliches Erkennen sich von Natur aus stets geradlinig, in direkter Wahrnehmung vollzieht und daß demzufolge jeweils immer nur eine Seite, eine Ansichtsfront der wesenhaft versdiiedenflächigen Dinge erfaßt werden kann. Ausdrücklich bringt dies Fr. 9 zur Sprache, in dem es heißt, der Mensch könne „von Natur . . . nicht alles (d. h. in diesem Zusammenhang: nicht alle Seiten einer Sache) sehen." In diesem Sinne beschreibt auch Fr. 435 (in seiner ersten Fassung) das Ungenügen menschlichen Erkennens als „Unfähigkeit, die ganze Wahrheit zu sehen" 11 . Aber auch aus anderen zahlreichen Äußerungen Pascals spricht deutlich diese besondere Auffassung von der Struktur menschlichen Erkennens; so etwa aus all jenen, zum Teil bereits angeführten Fragmenten, die vom menschlichen Erkennen als einem jeweils einer bestimmten Ansichtsfront, einem bestimmten Teilaspekt der Dinge verhafteten „Sehen", „Betrachten", „Ins-Augefassen" reden 12 . Audi jener Satz aus „Vom geometrischen Geist" ist hier anzuführen: „Es ist ein dem Menschen natürliches Leiden, daß er glaubt, die Wahrheit in direktem Zugriff zu besitzen . . . , während er tatsächlich von Natur her nur die Lüge kennt" 18 , ein Satz, der einmal besagt, daß das „direkte", einlinige Ins-Auge-fassen einer Sache dem Menschen von Natur aus eigentümlich ist, zum anderen, daß diese Weise des Erkennens das Wahr-sein einer Sache nicht erfassen kann und statt der Wahrheit die Unwahrheit ergreifen muß. Dieses einlinige Wahrnehmen der Dinge ist dem Menschen zwar von Natur aus eigen, doch ist der Mensch ihm — nach Pascal — nicht so verhaftet, daß er diese Form der Wahrnehmung nie zu überwinden vermöchte. Es scheint, als habe hier Pascals Unterscheidung von „esprit de géométrie" und „esprit de finesse" ihren Ort. Die „finesse" des Geistes besteht nach Fr. 1 nicht in einem „ins einzelne gehende Sehen", sondern in einem „scharfen, alle Prinzipien umfassenden Blick", obwohl die „Prinzipien so verstreut sind und es so viele gibt, daß es fast unmöglich ist, keines zu übersehen". Ubersähe dieser „Blick" auch nur ein einziges Prinzip, so wäre die Erkenntnis des „esprit fin" falsch. Denn „läßt man eins der Prinzipien aus, so führt das zum Irrtum". Aber „ohne sich Gewalt 4 7902 Meyer, Pascal
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anzutun", vermag der „esprit fin" „mit einem einzigen Hinschauen" oder „auf einmal . . . mit einem einzigen Blick" und nicht „im Fortschreiten der Überlegungen" eine Sache, ein Geschehnis oder eine Auffassung in ihrer vielseitigen Ganzheit zu erfassen. Ähnlich heißt es in der „Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe" von der „finesse", sie bestehe in einer „Geschmeidigkeit des Denkens, mit der er (sc. der Geist) zugleich die verschiedenen und der Liebe werten Seiten dessen, was er liebt, erfaßt", und nicht in den „langsamen, harten und unbeugsamen Einsichten" des geometrischen Geistes14. Jedoch darf der Gedanke Pascals von einem „esprit de finesse" in seiner Bedeutung für die Frage der Wahrheitserkenntnis aus verschiedenen Gründen nicht, wie es häufig geschehen ist, überbewertet werden. Zunächst sollte es die sehr geringe Zahl der Äußerungen Pascals über den „esprit de finesse" sein15, die vor einer falschen Uberbewertung warnt. Hinzu kommt, daß diese wenigen Äußerungen in besonderem Maße fragmentarisch, ja, wenn man Fr. 2 mitberücksichtigt, sogar seltsam widersprüdilich sind1*. Zur Vorsicht mahnt aber auch die Tatsache, daß dort, wo vom „Geist der Feinheit" gesprochen wird, nie der Begriff des „Wahren" oder der „Wahrheit" begegnet; vielmehr scheint der Bereich des „esprit de finesse" vornehmlich der zwischenmenschliche, gesellschaftliche Bereich des Lebens zu sein1T. Behält man diese Vorbehalte im Auge, so läßt sich dann aber doch sagen, daß es Pascal, wo er vom „esprit de finesse" redet, offensichtlich um ein Sehen, ein Erkennen geht, dem es gelingt, statt jeweils nur einzelner Teile die vielflächige Ganzheit einer Sache in den Blick zu bekommen 18 . Wichtiger jedoch als diese Äußerungen über ein eigenständiges Erkenntnisvermögen im Menschen, das an der Einlinigkeit des gewöhnlichen Erkennens nicht teilhat, scheint uns der Gedanke Pascals zu sein, man müsse, um eine Sache in ihrer Ganzheit, in ihrer ganzen Wahrheit zu erfassen, gewissermaßen erkennend „um sie herumgehen" und jegliche Aussage, jegliches Urteil über die Sache solange zurückhalten, bis man auf diesem „Erkenntnisgang" audi die bisher verborgen gebliebenen, häufig sogar entgegengesetzten Seiten der Sache erkannt habe. In verschiedenen Zusammenhängen begegnet dieser Gedanke bei Pascal. Schon im „Gespräch mit M. de Saci" vertritt Pascal die Ansicht, Stoiker und Skeptiker sähen je nur eine Seite des Menschen, und darum sei ihr Bild vom Menschen falsch. Nur beide Aspekte zugleich, Größe und Niedrigkeit, Macht und Ohnmacht erfaßten „die ganze Wahrheit" 19 und führten zu einer „vollkommenen Moral" 20 . Auch in „Vom geometrischen Geist" sagt Pascal, daß man erst im Wissen um die verschiedenen, ja entgegengesetzten Seiten einer Sache eine wahre Aussage machen oder ein gültiges Urteil fällen könne 21 . Besonders häufig begegnet dieser Gedanke in den „Pensées". Freilich bezieht er sich dort, dem Gegenstand der 50
„Pensées" entsprechend, in erster Linie auf religiöse Wirklichkeiten, reicht aber doch, wie wir sehen werden, über sie hinaus. So betont Pascal in der Frage nach dem Wesen der Häresie immer wieder, der Fehler der Irrlehrer liege nicht darin, „daß sie einem Irrtum folgen" 22 , sondern vielmehr darin, daß sie nur einer Wahrheit folgen und die entgegengesetzte Wahrheit oder überhaupt die anderen Wahrheiten nicht sehen oder leugnen. Pascal sagt, es gebe stets „eine große Anzahl von Wahrheiten, sowohl im Glauben als in der Moral, die sich scheinbar widersprechen und die doch alle in einer wundervollen Ordnung gründen. Der Ursprung jeder Häresie ist, daß man einige dieser Wahrheiten ausschließt . .." 2 3 . Und von den Häretikern heißt es im selben Fragment: „Da sie die Beziehung zwischen den gegensätzlichen Wahrheiten nicht herstellen können und glauben, die Annahme der einen setze die Ablehnung der anderen Wahrheit voraus, ist es gewöhnlich so, daß sie sich an die eine Wahrheit halten und die andere ausschließen . . . Nun, die Ausschließung (der anderen Wahrheit) ist der Ursprung ihrer Häresie." Die Häresie wird also nur vermieden durch ein „Bekennen der beiden Gegensätze" 24 . „Die beiden Gegensätze", überschreibt Pascal ein Fragment und fährt dann fort: „Damit muß man beginnen; sonst versteht man nichts, und alles ist häretisch; und sogar am Schluß jeder Wahrheit muß man hinzufügen, daß man sich an die gegensätzliche Wahrheit erinnert." 25 Dieses „Zugleich" verschiedener und entgegengesetzter Wahrheiten gilt aber keineswegs allein für den Bereich der christlichen Religion. Die christliche Wahrheit ist vielmehr nur ein Sonderfall dessen, was — wie wir gesehen haben — allgemein von der Wahrheit gilt, nämlich daß sie verschiedenflächig ist und letztlich etwas wie eine complexio oppositorum darstellt. Es besteht darum überhaupt für das Erkennen der Wahrheit die Forderung, „die Gegensätze zu vereinigen" 26 , „sich der entgegengesetzten Wahrheit zu erinnern" 27 , „die Gegensätze zu prüfen" 28 , „alle Seiten zu sehen" 2e , und damit umgekehrt die Warnung vor einem „Ausschließen"80 und „Auslassen"31. Mit einem Bilde drückt dies Fr. 684 aus: „Man kann eine gute Charakterzeichnung nur geben, wenn man alle Gegensätze unseres Charakters darstellt; es genügt nicht, eine Reihe zusammenstimmender Eigenschaften darzustellen, ohne die entgegengesetzten zu berücksichtigen."32 Blicken wir von hier zurück auf Pascals „Kunst zu überzeugen", so erkennen wir, daß insbesondere hinter ihrer zweiten Grundregel dieses ontologisch-noetische Wahrheitsverständnis steht. In der Anwendung dieser Grundregel vollzieht der Uberzeugende eben jenen „Erkenntnisgang", den wir oben beschrieben haben, der ihm Klarheit darüber verschaffen soll, ob die „Sache, um die es geht" (la (hose dont il s'agit), irgendwelche „Gleichheitsbezüge" (rapports) zu den zuvor erkannten Denkvoraussetzungen und Denkprinzipien, Neigungen und Wünschen seines 4"
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Hörers aufzuweisen hat. Dies setzt einmal die Verschiedenflächigkeit der Wahrheit voraus, auf Grund derer es möglich ist, daß eine Sache sowohl Seiten besitzt, die keinen „rapport" zum Hörer haben, als audi Seiten, die diesen „rapport" aufweisen. Zum anderen steht hinter dieser Grundregel die Auffassung von der natürlichen Einlinigkeit menschlichen Erkennens, die es dazu kommen läßt, daß der zu Überzeugende die Sache bisher nicht in ihrer Ganzheit, in allen ihren Seiten — und damit auch in ihrem „rapport" — erf aßt hat, sondern einem bestimmten Teilaspekt dieser Sache verhaftet ist, einem Aspekt, der ihn die Sache als fremd, als unannehmbar verwerfen läßt. Von hierher gesehen bestände dann die dritte Grundregel der „Kunst zu überzeugen", die „application" des „rapport" im wesentlichen darin, die verschiedenflächige Sache so darzustellen, daß sie dem Hörer jene Seiten zukehrt, die einen „rapport" mit ihm auszuweisen haben. c) Wahrheit als existentielle
Wahrheit
Das Erkennen der Wahrheit erschöpft sich für Pascal jedoch nicht in einer bloß noetisch-theoretischen Gegenstandserfassung. Wahrheitserkenntnis läuft für ihn vielmehr in ein ergreifendes Erkennen, ein Anerkennen der Wahrheit aus. Erkennen eines Gegenstandes bedeutet für Pascal, daß idi diesen Gegenstand „an midi heranlasse, ihn mir aneigne; daß idi auf ihn hin mich entscheide und in der Erkenntnis dieses Gegenstandes mein eigenes lebendiges Sein aktuiere" 3S . Erkennen ist für Pascal also in seiner letzten und eigentlichen Form existentielles Erkennen und Wahrheit existentielle Wahrheit, die nicht in der „adaequatio intellectus et rei" aufgeht, sondern Wahrheit, Eigentlichkeit der Existenz bedeutet. 34 Dieses besondere Moment in Pascals Wahrheitsverständnis erscheint um so deutlicher, als es bei ihm nicht unreflektiert begegnet. Pascal selbst hatte ja als Physiker und Mathematiker eine lange Zeit sich in rein noetisch-theoretischer Weise um die Wahrheit bemüht. Von einem bestimmten Zeitpunkt an 35 aber begann er, sich von dieser, jeglichen Existenzbezuges entbehrenden Denkhaltung, die er in den „Pensées" „curiosité" nennt 36 , mehr und mehr abzuwenden. Rückblickend erschien ihm alle, von der bloßen Wissensfrage bestimmte Erkenntnis als verfehlt. Die „curiosité" ist die Haltung des nur auf Wissen bedachten „Gelehrten" und gehört für Pascal — innerhalb seiner Lehre von den drei Seinsordnungen („ordres") — lediglich dem zweiten „ordo" an, dem „ordo" des „Geistes", der theoretischen Vernunft, nicht aber dem obersten „ordo" des „Herzens" und der „Liebe" 37 . Noch schärfer wertet er die „curiositas" ab, wenn er in ihr nichts als „Eitelkeit" (vanité) sehen will 38 . Der eigentliche Vorwurf gegen diese Art des Erkennens jedoch ist, daß sie „nutzlos" (inutile) sei39. Pascal meint das nicht pragmatisch. Als „inutile" 52
erscheint ihm die „curiositas" insofern, als das von ihr geformte Erkennen keine das Dasein, die Daseinshaltung des Erkennenden bestimmende Wirkung hat. Sie ist für Pascal also existentiell „inutile". Als solche erscheint sie ihm gefährlicher als der Irrtum, so daß er bereit ist, einen „allgemeinen Irrtum" zu bejahen, nur um so zu verhindern, daß die Haltung der „curiosité inutile" aufkommt 4 0 . Von dieser Ablehnung der „curiositas" her, des „unbeteiligten Wissenwollens" (amour désintéressé du savoir) 41 , fällt Pascal seine scharfen Urteile gegen die „reinen Wissenschaften", die „sciences abstraites" 42 und gegen alles, was nach Wissen um des Wissens willen aussieht: gegen die Geometrie und Mathematik („sie ist nutzlos in ihrer Tiefe" 43 ), gegen alle selbstgefällige Systematik („sie ist unnütz" 4 4 ), gegen alle Philosophie und Wissenschaft, die sich in sich selbst vergräbt 4 5 und bloße Sachkunde betreibt, ohne vom Daseinsinteresse bestimmt zu sein: „denn es ist zwecklos, ungewiß und mühsam" und „keine Stunde Mühe wert" 4 e . Diesen verschiedenen Formen des „nutzlosen" Erkenntnisstrebens hält Pascal entgegen, daß die eigentliche Wahrheit eine Wahrheit sei, die für den Menschen existentielle Bedeutung besitzt. Wahrheit und Eigentlichkeit des Daseins, mit den Begriffen Pascals: „vérité" und „bonheur" sind untrennbar verbunden 47 . Aus dieser höchsten „Nützlichkeit" der Wahrheit gewinnt auch die Frage nach der Wahrheit eine Dringlichkeit, die sie vorher nicht besitzen konnte und die dadurch noch ihre letzte Zuspitzung erhält, daß der Mensch, so wie er ist, sich immer bereits in der Uneigentlichkeit, in — wie Pascal sagt — der „misère" befindet. Angesichts dieser Dringlichkeit der Wahrheitsfrage ist alles in der neutralen Haltung der „curiositas" geschehende Suchen nach der Wahrheit ein falsches, sowohl dem Wesen der Wahrheit als auch der Seinslage des Menschen unangemessenes Suchen. Es ist kein wirkliches „Suchen . . . der Dinge", sondern letztlich nur ein um der „Zerstreuung", des „divertissement", willen geschehendes „Suchen nach dem Suchen der Dinge" 48 . Eigentliches Suchen der Wahrheit dagegen ist für Pascal ein Suchen, das in dem Bewußtsein geschieht: „Es geht um uns selbst" 4Θ , das mit der Wahrheit der Sache zugleich die Wahrheit der Existenz finden will 50 . Es ist darum ein Suchen, das kein „Zögern" kennt 5 1 , ein „Suchen unter Seufzen" 52 , getrieben von einem „Sichsehnen nach der Wahrheit" 5 3 , ein Suchen, das sich vollendet in einem ergreifenden Finden, in einem „choisir", d. h. einem „Erwählen" oder „Sich-entscheiden" 54 . Ein solches in Leidenschaft, aus einem zur Daseinssorge gewordenen Daseinsinteresse heraus geschehendes Suchen der Menschen kann Pascal auch als ein „Suchen mit ganzem Herzen" bezeichnen 55 . Dieser Begriff des „Herzens" oder „coeur", der im Pascalschen Denken einen zentralen Platz einnimmt 56 , ist im Laufe der Pascal-Forschung sehr verschieden gedeutet worden 57 . Die Verschiedenheit der Deutungen hat jedoch ihren 53
Grund nicht allein in offensichtlichen Fehlinterpretationen, sondern audi in der Verschiedenheit der Bedeutungen, die Pascal selbst in seinen Schriften diesem Begriffe unterlegt. Angesichts dieser ursprünglichen Mehrdeutigkeit, die nicht nur an diesem Punkte das Verständnis der Pascalschen Begrifflichkeit erschwert58, muß es als fraglich erscheinen, ob überhaupt jemals sämtlichen Seiten des „coeur"-Begriffes in einer einzigen Deutung Genüge getan werden kann. Dennoch aber läßt sich u. E. so viel sagen — und es scheint uns nicht schwer zu sein, die Mehrzahl der bisherigen Deutungen dahingehend zu koordinieren —, daß dieser Begriff das Existentielle des menschlichen Erkennens — sehr häufig im Gegensatz zum rein theoretischen Erkennen des „esprit" oder der „raison" — hervorheben möchte. Der „coeur" ist neben der „raison" ein von dieser wesenhaft unterschiedener zweiter Zugang zur Wahrheit 59 . Er ist darum wirklich „Erkenntnisorgan"60 und hat nichts zu tun „mit einer gemüthaften Kraft, mit unbestimmtem Fühlen, mit Emotionen", „mit einem schwärmerischunklaren Irrationalis" β1 . Der Unterschied zur „raison" oder zum „esprit" liegt vielmehr darin, daß der Erkenntnis des „Herzens" ein aktives willensmäßiges Moment eigen ist, das dem bloß intellektuellen Erkennen fehlt. Das zeigt sich in verschiedener Weise. „Coeur" und „volonté" rücken für Pascal so nahe aneinander heran, daß sie zu auswechselbaren Begriffen werden können 62 . Das „Herz" ist der Ausgangsort der „mouvements", der verschiedenen Formen menschlichen Aus-seins, sei es auf die Dinge der Welt, auf die eigene Person oder auf Gott 63 . Es ist, wie der Wille, der Ort der „Zuneigungen" oder „Hingabe" (attachement)64. Im Herzen fallen — und auch darin ist es dem Willen gleich — die Entscheidungen: es „wählt" 6 5 , es „gibt sich hin" 66 und kann, statt sich hinzugeben, sich auch „verschließen" 67 . Vor allem aber — und das war ja in der „Hingabe", dem „attachement", bereits mitenthalten — 6 8 ist das „Herz" Träger des „amour" sowohl im Sinne der christlichen, auf Gott und den Nächsten gerichteten „caritas" als auch im Sinne weltlicher Liebe. Zu lieben ist dem „Herzen" „von Natur aus" eigen69. „Amour", bzw. „charité" ist die von der „Ordnung" des „Geistes" qualitativ unterschiedene „Ordnung" des „Herzens" 70 . Die Verkehrung des „Herzens" ist gleichbedeutend mit der „Eigenliebe" 71 . Und wiederum kann Pascal alles das ebensogut vom „Willen" aussagen72. Indem aber diese Aussagen gleichzeitig vom „Willen" gelten, erweist sich das Erkennen des „Herzens", auch sofern es liebendes Erkennen ist, wiederum als jenes aktive, willensmäßige Erkennen, das immer das Anerkennen des Erkannten miteinschließt. In exemplarischer Weise aber wird dieses willensmäßige Moment in der Erkenntnis des „coeur" — im Unterschied zum intellektuellen Erkennen — deutlich an der Erkenntnis Gottes und der christlichen Offen54
barung. Zwar vermag audi die „Vernunft", bzw. der „Geist" Gott und die Offenbarung zu erkennen73, aber dieses Erkennen führt lediglich zu einem „Wissen", einem „scio", nicht zu einem wirklichen „credo" 74 . Sie bewirkt einen bloß „menschlichen Glauben" 75 , dessen Wesensmerkmal — entsprechend dem über die „curiositas" Gesagten — die „Nutzlosigkeit" ist 7 ". Zu einem „nützlichen Glauben" (créance utile) dagegen, einem wirklichen Glauben, gelangt man nur über das „Herz" 7 7 . Nur wenn das „Herz" Gott erkennt, „folgt" man der christlichen Botschaft78; nur dann gelangt man zum „Haß" gegen sich selbst79 und zu einem Glauben, der „amor Dei" 8 0 , „Hingabe" an Gott 81 ist; nur dann tritt man ein in den höchsten Seinsordo, den „ordre de la charité" 82 ; nur dann ist man „wirksam überzeugt", „efficacement persuadé" 83 . Das Erkennen des „Herzens" ist also ein Erkennen, das in der willensmäßigen Annahme und Anerkenntnis des Erkannten, die audi die Form persönlicher Hingabe an das Erkannte annehmen kann, zum existentiellen Erkennen geworden ist. Zutreffend formuliert dies Patrick, wenn er sagt, die Erkenntnis des „Herzens" — und damit die für Pascal letzte und eigentliche Form der Wahrheitserkenntnis — sei ein „Ergreifen der Wahrheit auf solche Weise, daß es die ganze Person bestimmt" m . Wenn die Wahrheit „vérité utile" 85 , existentielle Wahrheit ist und somit auch das Erkennen — soll es dieser Wahrheit entsprechen — nicht in der Haltung neutraler „curiositas" geschehen darf, sondern ein aus dem Daseinsinteresse kommendes Anerkennen sein muß, dann muß die Methode des Oberzeugens, die ja zum rechten Erkennen der Wahrheit hinführen soll, notwendig davon bestimmt sein. Daß dies in ganz starkem Maße der Fall ist, hatte die Untersuchung der „Kunst zu überzeugen" ergeben. Die verschiedenen Begriffe, mit denen Pascal das angestrebte Ziel seines Uberzeugens umschrieb, hatten keinen Zweifel darüber gelassen, daß ihm alles darauf ankam, seinen Hörer zur existentiellen Annahme der Wahrheit zu bewegen und nicht ein theoretisches Verstehen hervorzurufen, das die Distanz zwischen Existenz und Wahrheit beläßt. Darin lag der tiefere Sinn und die eigentliche Bedeutung des Gedankens vom Gleichheitsbezug, so war uns deutlich geworden, daß der Hörende die Wahrheit als s e i n e Wahrheit zu übernehmen vermag. Der Aufweis des „rapport" einer Sache ist letztlich nichts anderes als der Aufweis ihrer „utilité". So konnten wir am Ende der Darlegung jener drei Grundregeln der „Kunst zu überzeugen" — in terminologischer Anlehnung an Pascal und Mme Périer — den Begriff des „inter-esse" zur Chiffre erheben. Danach entsprach nur eine solche Rede der „Kunst zu überzeugen", die eine den Hörer „interessierende" Darstellung der „Sache" war, die also dem Hörer zu verstehen gab, daß es in dieser Sache um ihn selbst ging. 55
Dieser enge Bezug von Wahrheitsverständnis und Überzeugungskunst ist von großer Wichtigkeit. Gehört es zum Wesen Pascalscher Beredsamkeit, einen Anderen von einer Sache zu überzeugen, indem man ihm die Sache in Form der „interessierenden" Darstellung nahebringt, so ist diese Weise des „Überzeugens" — versteht man sie allein aus dem Methodischen — in hohem Maße dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei weit mehr eine Form des Überredens als des Überzeugens, sie stelle ein rein taktisches „Uberzeugen durch Gefallen" dar und sei darum unsachlich und illegitim. Blickt man jedoch von der Analyse des Pascalschen Wahrheitsverständnisses auf diese Methode des „Überzeugens" zurück, so erkennt man, daß — fern von aller unsachlichen Überredungstaktik — diese „interessierende" Darstellung eine dem Wesen der Wahrheit, wie es von Pascal erkannt worden ist, zutiefst entsprechende und damit legitime „instruction utile" 86 ist.
3. D i e V e r a n k e r u n g d e r „ K u n s t zu ü b e r z e u g e n " in P a s c a l s M e n s c h e n b i l d Die „Kunst zu überzeugen" hat, wie wir gesehen haben, zwei Gegebenheiten Rechnung zu tragen: einmal dem Adressaten und zum anderen dem Gegenstand des Überzeugens. Nachdem wir in Form einer Untersuchung des Pascalschen Wahrheitsbegriffes zunächst die zweite Gegebenheit näher ins Auge gefaßt haben, gilt es nunmehr auch das bei Pascal vorliegende Verständnis vom Menschen, sofern es einen Bezug zu seiner „Kunst zu überzeugen" hat, zu untersuchen. Dabei klammern wir bewußt alle ethischen und theologischen Aspekte aus also die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott, zum Kosmos, zu seiner Eigentlichkeit, und fragen nur, wie Pascal den Menschen — als potentiellen Adressaten seiner Rede — sieht, ob er etwas wie Grundmerkmale, seinsmäßige Grundstrukturen menschlicher Existenz sich abheben sieht. a) Die menschliche „diversité" So befragt bietet Pascal uns ein Menschenbild, das im wesentlichen zunächst das Menschenbild der französischen Moralistik jener Zeit ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, waren doch der Chevalier de Méré und Montaigne die Lehrer, unter deren Anleitung er sich vom physikalisch-mathematischen Studium abgewandt und dem „Studium des Mensehen" zugewandt hatte 2 . Darum ist — wie für Montaigne und seine Schüler — auch für Pascal das erste und grundlegende Wesensmerkmal des Menschen seine „diversité" 3. 56
Man kann diesen Begriff nur dann voll verstehen, wenn man sieht, daß er — ähnlich einer mehrstöckigen Pyramide — ein in seiner Bedeutungsschärfe sich steigernder Begriff ist. Seine Bedeutungsbasis findet er in dem, was wir Konkretheit nennen. Das, was man in der Pascalinterpretation zu Recht immer wieder hervorgehoben und seinen „Sinn fürs Konkrete" 4 oder seine „natürliche Neigung, das Konkrete dem Abstrakten überzuordnen", genannt hat 5 , tritt hier bei seinem „Menschenstudium" in besonderem Maße hervor®. Indem er in der „diversité" ein Grundmerkmal menschlicher Existenz sieht, lehnt er es ab, den Menschen aus einer allgemeinen Wesensbestimmung heraus zu verstehen. Die wissenschaftlichen Kategorien und Begriffe sind für Pascal „einfache und plumpe Prinzipien" 7 , d.h. vereinfachende und vergröbernde Kategorien, und alle, die in diesen Kategorien und Begriffen denken, „sehen nicht, was vor ihnen ist" 8 ; sie sehen die Dinge — und die wirklichen Dinge sind für Pascal stets „fein und zahlreich" 9 — immer nur „von fern". Wer aber die Wirklichkeit sehen will, muß sich ihr „nähern" 10 . „Distinguo ist das Grundelement meiner Logik", sagt Montaigne in seinen Ausführungen über den Menschen Das trifft auch für Pascal zu. Dieses „distinguo" bedeutet den Verzicht auf alle verallgemeinernden und die Wirklichkeit reduzierenden Begriffe. Fr. 114, das von der „diversité" des Menschen handelt, macht es deutlich: erst indem man alle abstrahierenden Begriffe verläßt, „unterscheidet man (on distingue)", wie Pascal in einem Bilde sagt, „die Trauben von den Früchten und unter ihnen wiederum die Muskateller, weiter die von Coudrien, weiter die, die Desargues gezüchtet . . . " . Aber noch immer bewegt man sich im Bereich des Allgemeinen. Darum fragt Pascal an diesem Punkt: „Ist das alles?", um dann mit der rhetorischen Frage zu antworten: „Gab es jemals zwei gleiche Trauben . . . ? " „Diversité" des Menschen heißt also zunächst soviel wie unsystematisierbare, konkrete Einzelheit. Auf dieser Basis erhebt sich sogleich, wie Fr. 114 zeigt, eine Steigerungsform der „diversité": nicht genug damit, daß es verschiedene Traubenarten und innerhalb dieser verschiedenen Arten nicht zwei wirklich gleiche Trauben gibt, auch in jeder einzelnen Traube sind nicht zwei Kerne, die einander völlig gleich wären. „Diversité" herrscht also nicht allein unter den Menschen, sie herrscht auch im Menschen. Jeder einzelne trägt sie in ihrer ganzen Fülle in sich. Diese gleichsam potenzierte „diversité" ist Gegenstand mehrerer ,,Pensées"-Fragmente. So wird für Pascal die Orgel mit ihren verschiedenen Tasten und Pfeifen zum Bild des Menschen12. Audi eine Stadt, eine Landschaft oder der menschliche Körper werden ihm in diesem Sinne zum Gleichnis13. Alles das sind Gegebenheiten, die bei näherem Hinsehen sich in eine Fülle von Einzelgegebenheiten aufgliedern und dadurch die innere „diversité" des Menschen ver57
bildlichen. „Alles ist eines, alles ist verschieden. Wieviel Naturen im Menschen . . . ! " ruft Pascal in Fr. 116. Der Mensch ist also, fern von aller „simplicitas" ein überaus vielfältiges, komplexes, schwer zu erfassendes Wesen. Pascals Menschenbild zeigt damit eine auffallende Ähnlichkeit, ja Gleichheit mit dem, was er ontologisch unter Wahrheit verstanden hatte 14 . Beides, Wahrheit und Mensch sind verschiedenflächige, vielschichtige Größen, die deshalb mit einem Blick, mit einem Zugriff nicht voll erfaßbar, mit einer Aussage nicht ganz beschreibbar sind. Pascal selbst setzt Wahrheitsverständnis und Menschenbild in Parallele, indem er vom Menschen und von den Dingen ein und dasselbe aussagt: „Die Dinge haben verschiedene Eigenschaften, und die Seele hat verschiedene Neigungen; denn nichts, was sich der Seele darbietet, ist einseitig, und niemals bietet sich die Seele einseitig einer Sache dar." 15 Die menschliche „diversité" erreicht aber ihre letzte und höchste Steigerung darin, daß sie keine statisch-gegebene, sondern eine zeitlich-bewegte „diversité" ist. Nie kann man von den verschiedenen Eigenschaften, Neigungen und Ansichten eines Menschen mehr sagen, als daß sie jetzt, in diesem Augenblick erscheinen. Ein Bleiben, ein Dauern vermag von ihnen nicht ausgesagt zu werden. Um im Bilde Pascals zu bleiben: die Orgel mit ihren verschiedenen Tasten und Pfeifen, die die „diversité" des Menschen verbildlichen soll, ist keine „gewöhnliche Orgel", sondern eine „seltsame, sich wandelnde, veränderliche" Orgel 16 . Die „diversité" des Menschen hat also nicht den Charakter ruhenden, mit sich selbst identisch bleibenden Soseins, sondern ist in eine zeitliche Bewegtheit hineingenommen. Sie wird zur „inconstance", zum „changement" 17 , zur Unbeständigkeit, zum — dauernden — Wechsel. Es ist darum sachlich durchaus richtig, wenn man dem Fr. 111 und anderen ähnlichen Fragmenten 18 später die Uberschrift „inconstance" gegeben hat. „Ich habe erkannt, daß unsere Natur nur ein fortwährendes Ändern ist . . . " , heißt es mit Nachdruck in Fr. 375, und Fr. 72 spricht von einer „fortwährenden Veränderung, die sich in uns vollzieht". Dieses zeitliche „Verändern" bedeutet keine Veränderung, die sich nur an der Oberfläche menschlichen Wesens vollzieht, sondern ist gleichbedeutend mit einer Veränderung der Person. „Die Zeit heilt die Schmerzen und die Streitigkeiten, weil man sich ändert; man ist nicht mehr dieselbe Person."19 Am pointiertesten vielleicht und zudem mit einem erneuten Hinweis auf die Zeit als den Grund der bewegten „diversité" formuliert es Pascal in der „Kunst zu überzeugen": „ . . . kein Mensch ist vom anderen verschiedener, als man es von sich selber zu verschiedenen Zeiten ist", wobei „Zeiten" nicht als formale Kategorie, sondern inhaltlich, ereignishaft, als „accidents", als „Geschehnisse", verstanden sind 20 . 58
h) Der menschliche „intérêt" Bis hierher ist Pascal noch ganz Schüler Montaignes. Dieser hatte im Menschen nichts als ein „unvergleichlich eitles, wandelbares und leicht bewegliches Ding" gesehen21. Für Pascal hingegen — und damit weicht er entscheidend vom Menschenbild Montaignes ab — erschöpft sich das Wesen des Menschen keineswegs in seiner hin- und herwogenden „Unbeständigkeit", in der ziellosen Bewegung der „Veränderung", des „changement". Alle vielfältig-bewegte, wogend-schillernde, ziel- und richtungslose „diversité" des Menschen sieht er linear durchstoßen von einer zielstrebigen Bewegung, deren Subjekt der Mensch selbst ist. Es ist das auf den „bonheur", auf die Wahrheit und Eigentlichkeit seines eigenen Lebens gerichtete wesenhafte Daseinsinteresse des Menschen. Diese andere, von „inconstance" und „changement" grundverschiedene Form der Bewegtheit menschlicher Existenz bezeichnet Pascal in dem lapidaren Satz von Fr. 129 als „mouvement" 22 . Sie ist nicht etwas vom Menschen Mögliches, sondern ihm wesensmäßig Zugehöriges: „Unser Wesen liegt in der Bewegung . . . " . Ins Negative gewendet heißt dies, daß menschliches Sein ohne „mouvement" nicht sein kann, mit den Worten Pascals: „ . . . völlige Ruhe ist der Tod". Der „mouvement" tritt zu der richtungslosen Bewegtheit der „diversité" hinzu, ohne diese damit aufzuheben. Beide Aussagen über das Wesen des Menschen bleiben also in Geltung, sowohl die Aussage von Fr. 375 („Ich habe erkannt, daß unsere Natur nur ein fortwährendes Ändern ist . . . " ) als auch die von Fr. 129 („Unser Wesen liegt in der Bewegung; völlige Ruhe ist der Tod."). Freilich nimmt der Begriff des „mouvement" in Pascals Terminologie keinen hervorragenden Platz ein. Es scheint Pascal überhaupt an einem zentralen Terminus gefehlt zu haben, der geeignet gewesen wäre, dieses zweite grundlegende Phänomen menschlichen Daseins ebenso scharf zu erfassen, wie es — im Blick auf das erste Wesensmerkmal — durch den Begriff der „diversité" gelungen war. Das Phänomen selbst jedoch wird von ihm immer wieder in Blick genommen, wenn auch die Begriffe und Umschreibungen, die es erfassen sollen, verschieden sind. Wir wollen dem an drei Punkten nachgehen. Die „inquiétude" Einer dieser Termini, die auf das wesensmäßige Daseinsinteresse des Menschen verweisen, ist der häufig wiederkehrende Begriff der „inquiétude", der „Unruhe" oder „Ruhelosigkeit". Obwohl Pascal diesen Begriff audi in pejorativem Sinne gebraudien kann 23 , begegnet er bei ihm doch vorwiegend als Bezeichnung echter, der Seinslage des Menschen angemessenen Daseinssorge. 59
Wenn menschliche „inquiétude" vom Apologeten Pascal auch letzten Endes auf eine religiöse „Unruhe" hin interpretiert wird, so wäre es dennoch falsch, sie ausschließlich als religiösen Begriff auffassen zu wollen; denn vor aller religiösen Sinnfüllung bezeichnet sie für Pascal deutlich die Sorge des natürlichen Menschen um sich selbst. So kann Pascal in Fr. 127 den „Zustand", die „condition" des Menschen, in der sich dieser Mensch immer schon vorfindet, mit den drei Worten „Unbeständigkeit, Langeweile, Unruhe" umschreiben. Eine nähere Erläuterung dessen, was das Wesen der „inquiétude" ausmacht, geben die Fragmente 406, 427 und 431. Es geht in der „inquiétude", so zeigen sie, um keine bloß gefühlsmäßige, unbestimmte „Unruhigkeit", sondern um eine gerichtete, zu einem Ziel hinstrebende Sorge. Sie hat ihren Grund in dem „Verirrtsein" des Menschen, das, als ein „deutlich sichtbares Verirrtsein" 24 , ein für jeden Menschen, ob religiös oder irreligiös, wahrnehmbares Phänomen darstellt. Der Mensch hat sich „verirrt", er hat „seinen Platz" 2 5 , „seinen wahren Ort" 2 8 verloren. Aus dieser Situation entsteht die „inquiétude": sie treibt den Menschen dazu, „seinen wahren Ort" zu „suchen"27, damit er in der Erreichung dieses Zieles zugleich sein wahres Sein finde. Daß diese „inquiétude" allen Menschen eigentümlich ist, hatte auf seine Weise Fr. 127 schon gesagt, auch liegt es implizit in der für alle Menschen gleichen Situation des „Verirrtseins" beschlossen. Ausdrücklich behauptet es Pascal in Fr. 406, wenn er von dem „Suchen voller Unruhe" sagt: „Das ist es, was alle Menschen tun". Die wesenhaftc Untrennbarkeit von menschlicher Natur und Daseinssorge, wie sie bereits das vom „mouvement" handelnde Fr. 129 zum Ausdruck gebracht hatte, wird also auch da deutlich, wo Pascal von der „inquiétude" spricht. Darum muß ihm eine Haltung, die dem gegenwärtigen „Zustand" (état) des Menschen gegenüber „indifferent" ist, „ohne Unruhe und ohne innere Bewegung", als „nicht natürlich" erscheinen28. Das „chercher" Wir hatten gesehen, daß die Fragmente 406, 407 und 431 von einem „Suchen voller Unruhe" sprachen. In diesem Begriff des „Suchens" tritt uns ein weiterer Pascalscher Terminus entgegen, der auf den intentionalen Grundcharakter menschlichen Daseins hinweist. Dieses „Suchen" versteht Pascal nicht als eine gelegentliche mensdhliche Verhaltensweise neben anderen. Es ist keine Fähigkeit unter anderen Fähigkeiten, deren sich der Mensch nach Belieben bedienen oder nicht bedienen kann. Es ist auch kein „Suchen", das aus einer letztlich neutralen „curiositas", einem oberflächlichen Interesse am Gesuchten heraus entsteht. Es ist vielmehr ein existentielles Suchen nach dem verlorenen „wahren Ort" 2 9 unserer Existenz, ein „Suchen nach dem höchsten Gut" 3 0 , 60
ein „Suchen nach dem Glück" 31 , dem „bonheur", kurz: es ist das Streben des Menschen nach der verlorenen Ganzheit, Geborgenheit, Eigentlichkeit seines Lebens. Das „Suchen" ist darum kein mögliches Verhalten, sondern eine G«*«dhaltung, die der Mensch als Mensch immer schon einnimmt, aus der heraus er lebt und handelt, und von der er sich, ohne seine wahre „Seinslage" entscheidend zu verkennen und sein wirkliches Menschsein zu verleugnen, nie dispensieren kann. „Alle Menschen ohne Ausnahme — sagt Pascal und beschreibt damit zusammenfassend den Charakter menschlichen „Suchens" — streben danach, glücklich zu sein, wie verschieden die Wege auch sind, die sie einschlagen; alle haben dieses Ziel. Der gleiche Wunsch ist es, mag man ihn auch verschieden erfüllen, der in diesem und jenem lebt und der bewirkt, daß der eine in den Krieg und der andere nicht in den Krieg zieht. Der Wille unternimmt nicht die geringste Handlung, es sei denn, sie richte sich auf dieses Ziel. Es ist der Beweggrund aller Handlungen aller Menschen, selbst derer, die sich aufhängen wollen." 32 Mit diesem seinsmäßigen „Suchen" beschäftigen sich auch alle Fragmente, die von der „Zerstreuung", dem „divertissement", handeln 33 . In sämtlichen dieser „divertissement"-Fragmente geht es Pascal u. a. darum, die pervertierte Form eines echten, wesensmäßigen Suchens aufzuzeigen. „Divertissement" ist für ihn ein „Suchen", das keinem wirklichen Zielpunkt mehr zustrebt, das darum keine lineare Bewegung mehr ist, sondern ein in sich kreisendes „Suchen". Es ist ein „Suchen nach dem Suchen der Dinge" 34 , das nur den „Lärm" (tumulte) 35 , die „Geschäftigkeit" 36 , die „Unruhe" 37 , die bloße „Beschäftigung" 38 des Suchens sucht und so den Menschen der unerfreulichen Notwendigkeit enthebt, „an sich selbst zu denken" 3 ", an seine „schwache und sterbliche Lage" 40 , an seine „ständigen Niedrigkeiten" 41 . Mit dieser Verurteilung des selbstzweckhaften, sich selbst suchenden „Süthens" wendet sich Pascal aber keineswegs gegen das „Suchen" des Menschen überhaupt. Vielmehr setzt er, indem er den „divertissement" als Perversion versteht, ein echtes „Suchen" des Menschen damit gerade voraus und bejaht es ebenso entschieden, wie er die pervertierte Form verwirft. Das „Suchen", so sagt Pascal in Fr. 139, als ein Streben des Menschen nach etwas, das er nicht besitzt, das „au dehors", „draußen" liegt, ist ein „geheimer Instinkt" aller Menschen, der — völlig legitim — aus dem „Empfinden ihrer andauernden Niedrigkeit" 42 , aus dem im Herzen „wesensmäßig verwurzelten" „ennui", der „Langeweile", oder hier vielleicht genauer: der „Unzufriedenheit" entsteht und nach dem verlorenen „bonheur" aus ist 43 . Auch in den „divertissement"-Fragmenten erscheint also das „Suchen" als die dem Menschen natürliche und angemessene Daseinshaltung, die freilich stets in der Gefahr der Pervertierung und darum unter der Forderung immer neuer „Aus-richtung" steht. 61
Der „intérêt" Terminologisch am klarsten erfaßt Pascal die Intentionalität des menschlichen Seins u. E. mit dem Begriff des „intérêt", des „Interesses". Dieser „intérêt" bedeutet für Pascal keine oberflächliche Aufmerksamkeit, kein Distanz haltendes Betrachten, sondern es ist im strengen Sinne Daseins'mteresse, Sorge um das eigene, echte Sein. Es ist, wie Pascal sagt, nicht das „oberflächliche Interesse irgendeiner außenstehenden Person", sondern ein „Interesse", das bestimmt ist von dem Wissen: „Es geht um uns selbst" 44 , ein „Selbst-Interesse" (intérêt-propre) 45 . Auch daran erkennt man diesen „intérêt" deutlich als wollendes, strebendes, gerichtetes Aus-sein auf etwas, daß er häufig in unmittelbarer Nähe zum Begriff der „Eigenliebe" steht: dort wo Pascal von „amour-propre" spricht, begegnet auch der Begriff des „intérêt" 46 , und umgekehrt wird dort, wo er vom Daseinsinteresse redet, der Begriff des „ amour-propre" aufgenommen 47 . Ja, Pascal rückt beide Begriffe so nahe aneinander heran, daß er von einer „Regung des Interesses und der Eigenliebe" 48 oder einfach von einem „intérêt d'amour-propre" 49 sprechen kann. Dieser „intérêt" ist für Pascal, wie die „inquiétude" und das „chercher", wesentliches Merkmal menschlicher Existenz: der Mensch steht kraft seiner menschlichen Natur immer schon in diesem Daseinsinteresse. Auf dieser Voraussetzung ruht ζ. B. die gesamte Argumentation des bekannten Fr. 194, die Aufforderung zum Suchen nach der wahren Religion. Mit allem Nachdruck wehrt Pascal in diesem Fragment jenes Mißverständnis ab, als appelliere er hier an einen „frommen Eifer" 50 und als rede er selbst aus einem „frommen Eifer geistlicher Frömmelei" 51 heraus. „Ich meine im Gegenteil — so sagt er —, man müßte dieses Empfinden (sc. das Sich-bemühen um die Frage nach Gott und dem ewigen Leben) haben auf Grund menschlichen Interesses . . . " . Angesichts seines ungläubigen, skeptischen Adressaten liegt ihm ganz entscheidend daran, hier vom natürlichen Menschen und nicht vom Christen aus zu argumentieren. Das zeigen auch einige erhaltene Notizen, offensichtlich Vorarbeiten zu diesem Fr. 194, die denselben Gedanken variieren: „Ich sage das nicht aus Frömmelei heraus, sondern auf Grund der Beschaffenheit des menschlichen Herzens, nicht aus Frömmigkeitseifer, sondern aus einem rein menschlichen Grunde und einer Regung des Interesses und der Selbstliebe, und weil es sich um etwas handelt, das uns hinreichend betrifft, um uns in Bewegung zu setzen . . . " 5 2 . Wie sehr dieses Daseinsinteresse für Pascal eine dem natürlichen Menschen wesentlich zugehörige Eigenschaft darstellt, geht auch daraus hervor, daß Pascal Menschen, die dort, wo es um ihr Sein geht, statt des natürlichen „intérêt" „Lässigkeit" (négligence), „Gleichgültigkeit" (indifférence) und „Unempfindlichkeit" (insensibilité) zeigen, eigentlich gar 62
nicht mehr als „Menschen" im Vollsinne gelten lassen will. „Diese Lässigkeit in einer Sache, wo es um sie selber geht", „erschrickt" und „entsetzt" ihn 53 . Es ist eine „unbegreifliche Verzauberung" 54 , eine „befremdende Verkehrung im Wesen des Menschen" 55 , eine „Verrücktheit" 5e , ein „entartetes Empfinden" (sentiments dénaturés), etwas das „nicht natürlich" ist 57 . „Das ist ein Unwesen (monstre) für mich," 58 sagt er, „une chose monstrueuse" 59 . Es wäre nun noch zu fragen, ob Pascal im Menschen etwas wie einen „Ort", einen „Träger" oder ein „Organ" dieser seinsmäßigen menschlichen Intentionalität kennt. Im Rückgriff auf das, was bei der Analyse des Pascalsdien Wahrheitsverständnisses erarbeitet worden ist, kann diese Frage positiv beantwortet werden. Wir hatten dort gesehen, daß die letzte und eigentliche Form der Wahrheit für Pascal die „vérité utile", die existentielle Wahrheit war. Diesem Wahrheitsbegriff entsprach seitens des Menschen ein aktives, willensmäßiges, ergreifendes Erkennen. Der Ausgangspunkt eines solchen Erkennens, so hatte sich gezeigt, war für Pascal das „Herz". Eine kurze Untersuchung dieses für Pascals Anthropologie und darüber hinaus für sein ganzes theologisch-philosophisches Denken zentralen Begriffes 60 hatte ergeben: der „coeur" ist der Ausgangspunkt sowohl des leidenschaftlichen, aus der Daseinssorge entspringenden „chercher" als auch der „mouvements", d. h. der verschiedenen Formen menschlichen Ausseins; er ist der Ort der Entscheidungen, des Wählens und des Sich-hingebens; „coeur" steht in soldi unmittelbarer Nähe zur „volonté", zum Willen, daß „coeur" und „volonté" zu auswechselbaren Begriffen werden können; der „coeur" ist der Träger des „amour" und des „amourpropre". Es kann mithin kaum noch Zweifel darüber bestehen, daß für Pascal der „coeur" Ausgangspunkt und Träger der seinsmäßigen Intentionalität des Menschen ist. Das wird, wenngleich mit anderen Worten, audi von der Mehrzahl der Pascal-Interpreten vertreten 61 . Im gleichen Maße aber, in dem der „coeur"-Begriff für Pascal im Mittelpunkt seiner Anthropologie steht, ist — und dies bedeutet Bestätigung des bisher Gesagten — eo ipso die Intentionalität für ihn zentrale Wesensbestimmung menschlichen Daseins. Wir fassen zusammen: Für Pascal ist der Mensch ebensowenig vwie die Wahrheit, eine einflächige, konstante, in sich ruhende Größe. Menschliches Dasein geschieht, es ist lebendige Bewegtheit. Es ist wesentlich bestimmt durch ein Doppeltes: durch konkrete Einzelheit einerseits und durch totale Intentionalität andererseits, genauer: durch eine im ständigen „changement" gipfelnde zeitlich-dynamische „diversité" und durch einen unruhig suchenden, nie erlöschenden „intérêt propre". Rückbeziehen wir nunmehr Pascals Verständnis vom Menschen auf seine „Kunst zu überzeugen", so zeigt sich sofort, wie diese „Kunst zu 63
überzeugen" ganz seinem Menschenbild Rechnung trägt. Der ins Zeitliche hinein gesteigerten „diversité" des Adressaten — in seiner Abhandlung „Über die Kunst zu überzeugen" erwähnt Pascal diese „Steigerungsform" der „diversité" ja ausdrücklich62 — versucht er zu entsprechen, indem er als erste Grundregel ein „intimes", d. h. ein aus der Solidarität erwachsendes Kennen des Anderen fordert, das allein der im dauernden „changement" gipfelnden zeitlich-dynamischen „diversité" des Adressaten wirklich zu folgen vermag. Dem anderen Wesensmerkmal menschlichen Daseins, dem „intérêt* versucht Pascal in seiner Methode dadurch gerecht zu werden, daß er — in seiner dritten Grundregel — eine „interessierende" Darstellung der Sache, um die es geht, fordert, eine Darstellung, die dem Hörer den „rapport", d. h. das in dieser Sache steckende „tua res agi tur" aufzeigt und ihn so in seinem wesensmäßigen Daseinsinteresse anspricht 63 . Pascal mußte von seinem Menschenverständnis her zur dialogischen Methode kommen. Der Versuch, einen allgemeinen, zeitlosen Menschen anzusprechen, wäre für ihn ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Absurdum gewesen. Und ebenso mußte ihm jede überzeugenwollende Rede, die den Hörer nicht in seiner seinsmäßigen Intentionalität angesprochen hätte, als ein glattes Vorbeireden am Hörer erscheinen. Denn sowohl einen zeitlos-allgemeinen wie einen absolut desinteressierten Menschen konnte es für ihn schlechterdings nicht geben. Ein solcher Mensch wäre für ihn kein Mensch, sondern ein „monstre", ein „Ungeheuer" gewesen.
4. D i e K o r r e l a t i o n v o n G r u n d h a l t u n g u n d M e t h o d e und das G a n z e P a s c a l s c h e r D i a l o g i k Obwohl es bei der Darstellung der dialogischen Methode Pascals mehrfach nahegelegen hat, sich auf die im ersten Hauptteil herausgearbeitete dialogische Grundhaltung rüdkzubeziehen und Ähnlichkeits- oder gar Gleichheitsmomente aufzuzeigen, haben wir bewußt darauf verzichtet, da es, um die wahre sachliche Bezogenheit beider Bereiche recht deutlich machen zu können, u. E. von Wichtigkeit ist, sie erst einmal klar zu unterscheiden. Denn einmal verhält es sich ja faktisch so, daß Pascal seine dialogische Grundhaltung — ganz im Gegensatz zum „art de persuader" — weder in den Willen noch in die Reflektion aufgenommen hat, daß sie also den Charakter von etwas schlechthin Vorgegebenem trägt; zum anderen ist die dialogische Grundhaltung als solch spontanes und unreflektiertes Hören und Antworten auf das Andere zugleich etwas Normloses, das kein Kriterium darüber bereit hält, ob die Durchführung dieses Hörens und Antwortens richtig oder falsch, echt oder unecht geschieht, 64
während die dialogische Methode die von Pascal bewußt geschaffene Norm seines Denkens und Redens darstellt. Erst nach dieser Unterscheidung können Grundhaltung und Methode einander zugeordnet werden. Dabei darf jedoch die Zuordnung die vorausgegangene Unterscheidung unter keinen Umständen wieder aufheben; denn Zuordnung und Unterscheidung sind gleichermaßen wichtig, da nur so die Korrelation von Grundhaltung und Methode erkannt wird, die das Ganze der Dialogik Pascalschen Redens und Denkens ausmacht. Wie hat nun die rechte Zuordnung zu geschehen? Gewiß könnte man die innere Verbindung und Nähe beider Teile darstellen oder zu zeigen versuchen, wie Pascal — obwohl unbewußt — von seiner dialogisdien Grundhaltung her zur dialogischen Methode geführt werden mußte. Doch soll dies hier nicht geschehen. Es geht lediglich um jene sachliche Bezogenheit, die die Pascalsche Dialogik zu einem klar strukturierten, ganzheitlichen Gefüge macht. Diese Bezogenheit von Grundhaltung und Methode stellt sich uns dar als korrelative Ergänzung und Sicherung. Wir erwähnten bereits, daß die dialogische Grundhaltung als ein Hören und Antworten auf die Anrede des geschichtlich-konkret Begegnenden keine die Weise dieses Hörens und Antwortens bestimmende Norm in sich trägt. Sie nimmt zwar den von außen kommenden Anstoß auf und schafft gleichzeitig das ihm antwortende Tun, die Hinwendung, wacht jedoch nicht darüber, daß diese Annahme und Hinwendung ihrerseits — in ihrem weiteren Vollzug — dialogischen Charakter bewahrt. Es ist vielmehr durchaus möglich, daß ein auf die dialogische Gewalt der Situation antwortendes Tun, statt der konkreten Anderheit des Gegenüber standzuhalten, dieser Anderheit ausweicht und an der individuell-jeweiligen Besonderheit des Gegenüber vorbeigreift. Als primär schaffendes, nicht kritisch formendes und gestaltendes Prinzip vermag die dialogische Grundhaltung als solche eben noch keine Gewähr dafür zu geben, daß mein Hören und Antworten diesen bestimmten Anderen, dessen Anrede mich getroffen und aufgerufen hat, wirklich meint, ihn nicht zu einem gedachten, unwirklichen Anderen reduziert und damit selbst ins Monologische zurückfällt. Es kann also mein Vernehmen und Antworten sehr wohl in seinem Ursprung dialogisch sein, ohne es dadurch in seinem weiteren Vollzug, in seiner Durchführung bleiben zu müssen. Hier wo es darum geht, daß Vernehmen und Antworten auch in ihrer weiteren Durchführung den dialogischen Charakter ihres Ursprungs bewahren, tritt als eigentlich formendes Prinzip die dialogische Methode zur Grundhaltung hinzu, ergänzt sie und sichert sie so vor dem Rückfall in den Monolog. Die gleiche Funktion der Ergänzung und Sicherung wird umgekehrt von der dialogischen Grundhaltung auf die Methode ausgeübt. 5 7902 Meyer, Pascal
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Der „art de persuader" — so zeigt Pascals Abhandlung — gent von der dreifach gegliederten Voraussetzung aus, daß man einen Anderen von einer Sache überzeugen will. An jedem dieser drei Punkte tritt die dialogische Grundhaltung ergänzend zur Methode hinzu: sie gibt den Adressaten, bestimmt den Gegenstand und vermittelt den Impuls des Uberzeugens. Denn eben darin trat ja diese Grundhaltung wesentlich in Erscheinung — so hatte der erste Hauptteil unserer Arbeit gezeigt —, daß Pascal den Entschluß, sich denkend einer Sache zuzuwenden, stets erst dann faßt und verwirklicht, wenn er sich von außen, von einem Anderen oder — allgemeiner — von einer geschichtlich-konkreten Situation dazu aufgerufen weiß, wenn demnach sein Denken und Reden sich als Antwort vollziehen kann. So ist also Pascals „Kunst zu Überzeugen" in ihren elementarsten Voraussetzungen sich selbst entzogen und bekommt dadurch den Charakter grundsätzlicher Unverfügbarkeit, der sie nicht zu einer jederzeit verfügbaren Technik werden läßt und sie davor bewahrt, eigenmächtig mißverbraucht zu werden zu irgendeiner Form rhetorisch-taktischer Vergewaltigung des Anderen. Solange also der „art de persuader" von dialogischer Grundhaltung umschlossen bleibt, solange er in der Angewiesenheit auf die Frage des Anderen verharrt, kann sein echt dialogischer Charakter als gesichert gelten. Löst er sich dagegen aus dieser Umschlossenheit, so steht er in der akuten Gefahr, zum Mittel bloßer Technik und Insinuation zu werden. Er wäre dann nur noch dem Schein nach „dialogisches" Uberzeugen, in Wirklichkeit jedoch eigenmächtige Überredungskunst. Indem so dialogische Grundhaltung und dialogische Methode einander ergänzen und schützen, entsteht das Ganze Pascalscher Dialogik, das mehr ist, als Pascal selbst reflektierend und darstellend erfaßt hat. Demjenigen, der Pascals „Kunst zu überzeugen" in Anwendung bringen möchte, muß darum gesagt werden, daß es niemals genügen kann, sich die methodischen Regeln des „art de persuader" anzueignen und sich ihrer zu bedienen. Er muß gleichzeitig mit Pascal an jener Grundhaltung teilhaben, die in der Bereitschaft besteht, vor aller Methodik auf die Anrede der geschichtlich-konkreten Situation zu warten, sie zu vernehmen und ihr zu antworten.
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III. D I E D I A L O G I S C H E
VERKÜNDIGUNG
(Pascals „Pensées") A. Die „Pensées" im Zeichen der dialogischen
Grundhaltung
Im ersten Teil unserer Arbeit hatten wir gesehen, wie Pascals dialogische Grundhaltung in den Provinzialbriefen zu ihrer reinsten und vollsten Entfaltung gelangt war: Bei keinem anderen Werk war der Anlaß in seiner Funktion des immer neu ansetzenden Impulses Pascalschen Denkens und Arbeitens so sichtbar geworden; nie hatte irgendeine seiner Schriften eine eindeutigere Adressierung erfahren als die Provinzialbriefe in ihren sukzessiven Stadien; an keinem Punkte seines Schaffens war die literarische Form des gerichteten Gesprächs so ausgeprägt in Erscheinung getreten wie im Briefdialog der „Provinzialbriefe". Mitten in der von seiner dialogischen Grundhaltung so radikal bestimmten Arbeit an den Provinzialbriefen liegen die Anfänge der christlichen Apologie Pascals. Der historische Befund, den wir im Folgenden noch aufzeigen werden, läßt es schlechterdings nicht zu zu behaupten, daß Pascal im Laufe des Kampfes gegen die Jesuiten sich nach und nach „aus der polemisdien Verkrampfung" gelöst habe, um dann schließlich die Provinzialbriefe ganz abzubrechen und an ihre Stelle „ein anderes Projekt" treten zu lassen, den „Plan einer Apologie des Christentums"1. Allein die Tatsache, daß die Entstehung einer beträchtlichen Anzahl von apologetischen Fragmenten zeitlich vor dem Abbruch der „Provinciales" liegt, verbietet es, die „Pensées" in ein Stadium der Pascalschen Existenz zu verlegen, das von dem der Provinzialbriefe durch einen scharfen Trennungsstrich geschieden wäre. Dieser historische Befund der Gleichzeitigkeit von polemischer und apologetischer Arbeit aber ist nur der äußerliche Hinweis auf eine tiefgreifendere Nähe. Ist man auf Grund dieser Gleichzeitigkeit bereit, den Polemiker Pascal und den Apologeten zusammenzuschauen statt sie in Gegensatz zu stellen, so vermeidet man nicht nur Fehlinterpretationen der Provinzialbriefe, sondern findet zugleich einen leichteren Zugang zu einem besseren Verständnis der „Pensées". Aus der Analyse der in sich geschlosseneren und durchsichtigeren „Provinciales" ergeben sich wie von selbst bestimmte Gesichtspunkte, unter denen die Fragmente der Apologie lesbarer werden; denn das apologetische Werk Pascals geht aus seinen polemisdien Provinzialbriefen hervor, wie ein Strom aus einem anderen 5*
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hervorgehen kann, um dann — durili eigene Nebenflüsse verstärkt — neben dem ersten fortzubestehen im Verhältnis von Verwandtschaft und Eigenständigkeit, von Ähnlichkeit und Verschiedenheit zugleich. H a t man erkannt, zu welch voller Entfaltung die dialogische Grundhaltung Pascals in den Provinzialbriefen gelangt war, dann dauert es nicht lange, bis man bei der Untersuchung der „Pensées" feststellt, daß das apologetische Werk gleichermaßen im Zeichen dieser Grundhaltung steht. Aber nicht nur die allgemeine dialogische Bestimmtheit der „Pensees" läßt sich von den Provinzialbriefen her schnell und deutlich erkennen; auch wo man fragt, wie diese Bestimmtheit in concreto erscheint, d. h. wo der Anlaß liegt, wer der Adressat und welches die literarische Form sein sollte, bieten uns die Provinzialbriefe wichtige Hinweise. Am Leitfaden dieser drei Fragen soll der erste Teil unserer Untersuchung der „Pensées" vollzogen werden. 1. D e r
Anlaß
Fragen wir nach den zeitlichen Anfängen der „Pensées", so werden wir in das zweite Stadium der Provinzialbriefe zurückverwiesen. Zwischen der Abfassung des 5. und 6. Briefes liegt ein Ereignis, das man als das „Wunder des heiligen Dorns" zu bezeichnen pflegt. Wir erfahren davon durch Mme Périer: „Zu jener Zeit gefiel es Gott, meine Tochter von einer Tränenfistel zu heilen, an der sie dreieinhalb Jahre gelitten hatte . . . Gott hatte sich vorbehalten, sie durch Berührung eines heiligen Dornes zu heilen, der sich in Port-Royal befand. Dieses Wunder ist von mehreren Chirurgen und Ärzten bescheinigt und durch das feierliche Urteil der Kirche bestätigt worden." 2 Diese Wunderheilung übte auf das im Kampfe stehende, sich gegen den Vorwurf der Häresie wehrende Port-Royal eine ungeheure Wirkung aus. Sogar die Feinde konnten sich dem Eindruck dieses Geschehens nicht völlig entziehen und stellten zeitweilig die Verfolgung ein. Pascal selbst — es handelte sich ja um die Heilung seiner Nichte — war zutiefst berührt. „Seine Freude darüber war so groß, daß er ganz und gar davon durchdrungen war", schreibt Mme Périer 3 . Der Widerhall des Geschehens findet sich in zahlreichen „Pensées"-Fragmenten und in einem aus dieser Zeit datierten Brief an Mlle de Roannez. So unmittelbar fühlte sich Pascal von diesem Ereignis betroffen, daß er sich ein neues Petschaft anfertigen ließ, das das Symbol des Himmels, umgeben von einer Dornenkrone, darstellt mit dem Pauluswort als Motto: Scio cui credidi 4 . Aber es bleibt für Pascal nicht bei einem bloßen Hinnehmen dieses Ereignisses. Wie schon so oft weiß er sich auch hier durch das Geschehen zur Antwort aufgerufen, und das um so mehr, als durch das Wunder an seiner Nichte Gott zu ihm gesprochen und ihn zu antwortendem Handeln 68
aufgefordert hat. So schreibt er in Fr. 856: „Uber das Wunder: da Gott keine Familie glücklicher gemacht hat, möge er auch bewirken, daß er nie eine fände, die dankbarer ist." 5 Wie sehr dies Wunder für Pascal den Charakter des Aufrufes trägt, zeigt sich audi in dem vom Ende Oktober 1656 datierenden Brief an Mlle de Roannez. Pascal schreibt dort: „Es gibt so wenig Menschen, denen Gott sich auf eine so außerordentliche Weise offenbart, daß wir eine solche Gelegenheit sehr wohl nutzen sollten; denn Gott durchbricht das Geheimnis der Natur, die ihn verhüllt, nur, um unseren Glauben zu erwecken, damit wir ihm mit um so größerer Inbrunst dienen, wenn wir ihn gewisser erkennen."® Um so erstaunlicher ist die Tatsache, daß eine direkte Wirkung dieses Ereignisses auf die Provinzialbriefe gänzlich fehlt 7 . Sachlich behandeln die dem 5. Brief nachfolgenden Briefe in gleicher Weise wie die vorausgegangenen die Fragen der Moraltheologie, ohne auch nur mit einem einzigen Wort des Wunders Erwähnung zu tun oder eine der für sie sonst so typischen Wendungen zu vollziehen. Auch dann noch nicht ist davon die Rede, als P. Annat zwischen dem 10. und 11. Brief öffentlich bestreitet, daß Port-Roy al das Wunder des heiligen Dorns zugunsten der jansenistischen Lehre deuten dürfe 8 . Dieses Schweigen Pascals findet seine Erklärung darin, daß er, während er in intensivem Nachdenken versucht, über Wesen und Bedeutung des Wunders Klarheit zu gewinnen, sich mit der Absicht trug, in einer gesonderten Schrift über das Wunder als einem „Hinweis auf das stärkere Argument" 9 den Jesuiten entgegenzutreten. Wir wissen von diesem Plan nicht allein durch Dom Clémencet, den Verfasser der „Histoire de Port-Royal", der berichtet, daß Pascal vorgehabt habe, eine „kleine Schrift über das von Mlle Périer geschehene Wunder" zu schreiben10. Auch der Fragmentenbestand gibt deutliche Hinweise auf eine solche „Wunderschrift". Die neueren Forschungen von Tourneur und Lafuma haben eindeutig erwiesen, daß sich unter den verschiedenen „Liassen", in die Pascal selbst einen großen Teil seiner nachgelassenen Papiere geordnet und gebündelt hatte, sich tatsächlich eine geschlossene Liasse mit Gedanken über die Frage des Wunders befand 11 . Sie läßt deutlich erkennen, daß die geplante „Schrift über das Wunder", wenn sie von Pascal zu Ende geführt worden wäre, einmal die Deutung und Inanspruchnahme des Wunders als eines göttlichen Urteilsspruches für Port-Royal, zum anderen die polemische Antwort auf die jesuitischen Angriffe gegen alle jansenistenfreundlichen Deutungsversuche dieses Wunders dargestellt hätte 12 . Es kommt also, wie die „Wunder-Liasse" zeigt, zu dem Anstoß, den der „miracle de la Sainte Epine" als solcher bereits bedeutet hatte, in Form der sofort einsetzenden jesuitischen Polemik gegen das Wunder nodi ein weiterer Anstoß hinzu, so daß audi von dieser Schrift Pascals
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gesagt werden muß, daß sie ganz „oeuvre de circonstance" ist. Beide „Anstöße" stellen die Schrift, obwohl diese nie zu einem Provinzialbrief geworden ist, deutlich in die Linie antijesuitischer Polemik hinein. Diese Gleichgerichtetheit äußert sich zudem darin, daß auch die Wunderschrift von Pascal in der bereits bewährten Briefform geplant war und an einen Vertreter der Jesuiten adressiert werden sollte18. In dieser Wunderschrift aber erscheinen zugleich die allerersten Anfänge der Pascalschen Apologie. Es geht aus dem Fragmentenbestand der Wunder-Liasse deutlich hervor, wie sich hier das Denken und die Arbeit Pascals gabeln: mit dem Wunderereignis und mit dem Nachdenken darüber tritt für Pascal zur polemischen Aufgabe die apologetische Aufgabe als etwas Neues hinzu. Es ist überaus interessant zu beobachten, wie das Nachdenken über die Wunderfrage Pascal weit über den Bereich eines Antwortbriefes polemischen Charakters hinausführt und es zu Reflexionen kommen läßt, die nur in einer Apologie des christlichen Glaubens ihren Platz hätten finden können. Das zeigt sich nicht allein an den zahlreichen, die Wunderfrage im engeren Sinne ganz hinter sich lassenden Fragmenten über den Skeptizismus (Fr. 51, 385, 390), die „Gewohnheit" (Fr. 222) oder die „Zerstreuung" (Fr. 52), sondern auch und vor allem dort, wo Pascal ausdrücklich die Frage nach den „Fundamenten" der Religion und des Glaubens aufwirft (Fr. 805, 826, 851 u.ö.). Am deutlichsten aber wird diese gleitende Verschiebung des polemischen Bemühens zum apologetischen Nachdenken dort, wo Fragmente beides, polemische und apologetische Aussagen in sich vereinen. So steht am Ende von Fr. 846, das ganz von polemischen Aussagen gegen die jesuitische Auffassung des Wunders bestimmt ist, der apologetisch zu verstehende Satz: „Ubi est Deus tuus? In den Wundern leuchtet es auf wie im Strahl des Blitzes." Ebenso finden sich in Fr. 851 polemische und apologetische Gedanken nebeneinander. Gegen die Jesuiten gerichtete Aussagen wie „Niemals hat die Kirche ein Wunder bei den Häretikern anerkannt" oder „Niemals ist ein Wunder auf Seiten des Teufels geschehen, ohne daß ein stärkeres Zeichen von Gott her geschah . . . " , stehen rein apologetische Gedanken wie „Zwei übernatürliche Fundamente unserer völlig übernatürlichen Religion: das eine sichtbar, das andere unsichtbar" oder „Die Wunder beweisen die Macht, die Gott über die Herzen hat, durch die Macht, mit der er über die Körper verfügt". Die Prüfung der zu Pascals Wunder-Liasse gehörenden Fragmente bestätigt somit das, was Mme Périer von ihrem Bruder schreibt: „Es kamen ihm aus Anlaß dieses besonderen Wunders verschiedene wichtige Gedanken über die Wunder im allgemeinen . . D e r Zentralpunkt dieser Gedanken sei „der Beweis Gottes und des Messias" gewesen; „all die verschiedenen Überlegungen, die mein Bruder über die Wunder anstellte — fährt sie dann fort —, gaben ihm viele neue Einsichten in die Religion . . . 70
Das war die Gelegenheit, bei der er so sehr gegen die Atheisten entbrannte, und da er in den Erleuchtungen, die Gott ihm geschenkt hatte, die Möglichkeit sah, sie zu überzeugen und sie rettungslos zuschanden zu machen, nahm er die Arbeit in Angriff . . . " 1 4 Es zeigt sich also, daß Pascals „Pensées" nach ihrem eigenen Zeugnis und nach dem Zeugnis Mme Périers in ihrer Entstehung auf eine konkrete „occasion" zurückverweisen. Es ist also letztlich nicht Pascal selbst, der sich die apologetische Aufgabe stellt, sondern sie wird ihm gestellt. Nicht aus ihm selbst, aus einer persönlichen Überzeugung oder einem innerlichen Erlebnis kommt der primäre Impuls zum Werk, sondern eine geschichtliche Situation, ein äußeres Geschehen wird ihm zum Anstoß für sein Handeln, das damit, wie in nahezu allen Fällen, in denen er an ein Werk herangeht, keine reine „actio" ist, sondern „reactio"-Charakter trägt. Dieser Tatbestand erscheint in einem noch helleren Lichte, wenn man bedenkt, daß der Gedanke einer „Verteidigung" des christlichen Glaubens Pascal schon seit langem vertraut war. Zweimal, in den Jahren 1648 und 1655 erwähnt er gesprächsweise die Möglichkeit einer christlichen Apologie 15 . Aber nie führt er diesen Gedanken aus. Wir sehen Pascal also auch hier in der für ihn so überaus charakteristischen Haltung dessen, der gleichsam auf den Anstoß von außen wartet, auf jenen äußeren Impuls, der ihn ans Werk stößt. Bei der Frage nach dem Anlaß der „Pensées" darf nun freilich jener Bericht des „Recueil d'Utrecht" nicht unerwähnt bleiben, nach dem Pascal einige Zeit vor dem Wunder des heiligen Dorns ein „Gespräch mit einem Menschen ohne Religion" geführt haben soll. Der Ungläubige, heißt es dort, habe ihn gefragt, warum Gott, wenn er existiere, nicht selbst in den Streit der theologischen Meinungen zwischen Jansenisten und Jesuiten eingreife und so die Entscheidung herbeiführe1®. Dieses Gespräch, so nimmt man an, habe Pascal nach dem Eintreten des Wunders bewogen, sich mit einer Apologie der christlichen Religion an diesen Ungläubigen und seinesgleichen zu wenden. Ohne diesen Bericht überbewerten zu wollen, scheint er uns doch darin Recht zu haben, daß Pascal zu der Zeit, in der die ersten Anfänge seiner Apologie liegen, sich in einem intensiven Gespräch mit den Ungläubigen befunden hat, und zwar mit jenen „honnêtes gens", die die Adressaten seiner laufend erscheinenden Provinzialbriefe darstellten. Wurde in diesem Gespräch der „honnête homme" auch nicht auf seinen persönlichen Unglauben hin angesprochen, sondern ausschließlich als unvorbelasteter, gesund urteilender Schiedsrichter im Streit der Theologen, so war es doch überaus naheliegend, daß an einem Punkte dieses Gespräch über theologische Meinungen zu einem apologetisch-seelsorgerlichen Gespräch über Glaube und Unglaube wurde. Und es will uns nicht eine abenteuerliche 71
Vermutung erscheinen, wenn wir — mit dem „Recueil d'Utrecht" und anderen Pascal-Interpreten — annehmen, daß diese Gesprächswendung durch das Wunderereignis hervorgerufen wurde, eine Annahme, die durch die Tatsache bestätigt werden könnte, daß der in den Provinzialbriefen zu beobachtende Wechsel der Adressierung vom „Mein Herr", dem „honnête homme", zum „Hochwürdige Patres" zeitlich mit dem Wunder des heiligen Dorns und der allmählichen Entfaltung der Apologie zusammenfällt. Wie dem aber auch sei, nach dem Zeugnis Mme Péries, des „Recueil d'Utrecht" und nach dem Hinweis, den die „Pensées" selbst uns geben, stellt das Wunder des heiligen Dorns die „occasion", den Anlaß dar, der Pascal seine Apologie ins Werk setzen läßt. So sind also auch die apologetischen „Pensées" „oeuvre de circonstance", von außen, von einer konkret-geschichtlichen Situation hervorgerufenes Werk.
2. D e r A d r e s s a t Die „Schrift über das Wunder" schien von Pascal zunächst an die „Hochwürdigen Patres" der Jesuiten gerichtet zu sein. Diese Adressierung aber verlor sich in demselben Maße, wie die sich eindrängenden apologetischen Erwägungen die ursprünglich polemische Abzweckung in Frage stellten. Pascal wird in seinem Nachdenken schließlich ganz zur reinen Apologie der christlichen Religion geführt, in der die Diskussion sowohl über die Gnadenfrage, als audi über die Moraltheologie zum Schweigen gekommen ist, und die sich darum nicht mehr an den Jesuitenorden richtet 17 . Auch die Annahme, daß der Jesuitenorden ein Adressat unter anderen gewesen sei, ist ein Trugschluß. Das bloße Vorhandensein polemischer Fragmente in den „Pensées", auf das sich diese Annahme gründet, erklärt sich — wie wir gesehen haben — voll und ganz aus dem besonderen Charakter der Wunderliasse, die sich zwar unter den nachgelassenen und uns als „Pensées" übermittelten Papieren Pascals befand, in Wirklichkeit jedoch nicht zur eigentlichen Apologie hinzugehört, sondern lediglich den allerersten Anfang der Apologie in sich schließt. Die polemischen Fragmente müssen darum aus den eigentlich apologetischen „Pensées" ausgeschieden werden. Mit Recht kann Lafuma darum den einen Teil seines Forschungsergebnisses in dem Satz zusammenfassen: „Die Apologie wäre kein polemisches Werk gewesen." 18 Die Apologie war von Pascal im strengen Sinne als eine Apologie der christlichen Religion geplant. Als solche sollte sie sich ausschließlich an diejenigen wenden, die dieser christlichen Religion nicht oder nicht mehr angehörten und außer ihnen an niemand, weder an die Jesuiten, noch an die Häretiker 1β . 72
Die Adressaten sind — nach Pascals eigenen, oft wiederholten Aussagen — die „Atheisten" (athées), die „Ungläubigen" (incrédules), die „Gottlosen" (impies)20. Jedoch ist der Begriff des „Atheisten", „Ungläubigen" oder „Gottlosen" ein noch viel zu weitgespannter Begriff, als daß er bereits eine fest umrissene Gestalt vor uns hintreten ließe. Bleibt Pascal bei dieser allgemeinen und unbestimmten Publikumsadresse oder hat er, wie bei seinen anderen Arbeiten so auch hier einen bestimmten Hörer, also in diesem Falle einen speziellen Typus des Atheisten oder gar einen konkreten Atheisten im Auge? Eine Feststellung negativer Art kann sogleich gemacht werden: Pascal spricht nicht, wie man hin und wieder angenommen hat, zu den Libertinisten, den „libertins" seiner Zeit. Es waren dies jene sich selbst so nennenden „Schöngeister" (beaux-esprits), Angehörige der sehr verbreiteten Bohème des beginnenden 17. Jahrhunderts, die sich mit bewußter Hemmungslosigkeit allen sinnlichen Freuden hingaben. Der Jesuitenpater Garasse hatte in seiner „Doctrine curieuse des beaux esprits de ce temps . . . " vom Jahre 1623 sie nicht als Atheisten im Vollsinne, sondern nur als „Lehrlinge des Atheismus" gelten lassen21 und von ihnen, die den Typ des Schlemmers, Literaten und Wüstlings in sich vereinigten, gesagt: „Ihre Schule ist die Kneipe, ihre Kanzel ist die Speisetafel, ihre Meister und Lehrer sind die guten Köche"; „sie suchen ihre Befriedigung im Misthaufen ihrer eigenen Unflat." 22 Pascal hatte den Prototyp dieser Art von Atheisten in der Gestalt Des Barreaux's vor Augen, jenes berüchtigten Débauché und Gotteslästerers, der von sich selbst sagte, sein Ziel sei es, zur „bete brute", zum „rohen Tier", zu werden, und dem es, wie seine Lebensgeschichte zeigt, gerade an jenem dezidierten Atheismus fehlte, den Pascal „bis zu einem gewissen Grade" als „Zeichen eines starken Geistes" anzuerkennen bereit war 23 . An keiner Stelle seiner Apologie spricht Pascal seinen Adressaten auf dessen moralische Verfehlungen hin an. Daran wird deutlich, daß er sich mit einem Manne wie Des Barreaux und dem großen Heer seiner Freunde und Nachahmer nicht beschäftigen will. Voll Ekel wendet er sich von ihnen ab: „Diejenigen, die glauben, das Gut des Menschen sei fleischlich, und Übel wäre, was sie an der sinnlichen Lust hindert, die mögen sich darin wälzen und darin krepieren." 24 Wenn Pascal also nicht zu Des Barreaux und seinesgleichen spricht, wendet er sich dann an jenen von Männern wie Geoffroi Vallée d'Orléans, Jean Fontainier oder dem berühmten Vanini vertretenen dogmatischen Atheismus? Dieser zwischen vagem Pantheismus und dogmatischer Gottesleugnung sich bewegende Atheismus verurteilt alle positiven Religionen — und mit ihnen das Christentum — als „Werke der Illusion und der Lüge". Sie erscheinen ihm als „Dinge, die in Wahrheit von den Fürsten erfunden sind, um ihre Untertanen gefügiger zu machen, und von 73
den Priestern, um sich geschickt Geld und Ehren zu verschaffen" 25 . Er bestreitet die Wirklichkeit von Wundern, die Authentizität aller heiligen Schriften und sieht im ewigen Leben und in der Unsterblichkeit der Seele Erfindungen der Priester und Herrscher, die darauf abzwecken, das niedrige Volk in Furcht zu halten, um es besser regieren und leichter ausbeuten zu können 20 . Die Erkenntnis, daß es keinen Gott, wie ihn uns die Religionen lehren, gibt, befreit die Menschen von aller Furcht wie von einem schweren Joch und „versetzt ihr Gemüt in immerwährende Ruhe und Sorglosigkeit" 27 . Zugleich ist dieser Atheismus Träger einer hohen Moral, die nachdrücklich ihre Priorität vor aller Religion behauptet und — gegenüber der eudämonistisch bestimmten religiösen Ethik — stolz auf ihre Autonomie hinweist 28 . Es gibt in den „Pensées" eine Reihe von Äußerungen, die die Annahme nahelegen könnten, Pascal habe sich tatsächlich an die Vertreter dieses dogmatischen Atheismus gewandt. So sagt er in Fr. 187: „Die Menschen verachten die Religion; sie hassen sie und fürchten, daß sie wahr sei." Er spricht von denen, die die Religion „lästern" 29 , „bekämpfen" 30 und sich rühmen, sie wie ein „Joch abgeschüttelt" zu haben 81 , die die Wirklichkeit des Wunders bestreiten 32 , die Apostel für „Betrüger" halten 33 , die Seele als etwas Stoffliches und damit Vergängliches betrachten 34 und keinen Unterschied zwischen dem Leben und Sterben der Tiere, der Türken und der Christen sehen wollen 35 . Nie bezieht Pascal sich auf irgendwelche moralischen Verfehlungen des von ihm anvisierten „Atheisten" und gibt damit zu erkennen, daß — im Gegensatz zum „libertin" — diesem Ungläubigen auf dem Gebiet der Moral nichts vorzuhalten ist. Wie Charron, der von dieser Art des Atheismus sagt, er könne nur in einer „äußerst starken und kühnen Seele" wohnen 36 , erkennt auch Pascal diesen dezidierten Atheismus als „Zeichen eines starken Geistes" an, freilich mit der Einschränkung: „nur bis zu einem gewissen Grade" 37 . Trotz all dieser leicht noch zu vermehrenden Äußerungen Pascals darf der Adressat der Apologie nicht mit diesem dogmatisch-militanten Atheisten identifiziert werden. Davor warnt bereits die Tatsache, daß es zumeist nur kurze, flüchtig hingeworfene Bemerkungen, gewissermaßen Randfragmente der „Pensées" sind, in denen diese Äußerungen begegnen. Die zentralen, umfassendsten und am meisten gearbeiteten Fragmente jedoch, die zugleich am deutlichsten das tiefe Bemühen Pascals um den Hörer widerspiegeln, weisen auf einen Adressaten hin, der deutlich andere Wesensmerkmale aufzuweisen hat als der dezidierte, militante Atheist. Um das in vollem Maße deutlich werden zu lassen, wäre es nötig, schon jetzt auf die großen Themen und Hauptgedanken, in denen Pascal seine Apologie entfaltet, einzugehen; denn gerade in der Wahl der The74
men zeigt sich, wie Pascal stets bemüht ist, den Ausgangspunkt seiner apologetischen Gespräche ganz innerhalb des Interessenbereiches seines bestimmten Hörers zu suchen. Jedoch würden wir damit bereits in den nächsten Teil unserer Arbeit, in die Untersuchung der apologetischen Methode hineingeführt werden. An diesem Punkte jedoch, wo es lediglich um die Frage: bestimmter Adressat oder allgemeine Publikumsadresse geht, müssen wir uns vorerst nodi darauf beschränken, aus direkteren Hinweisen die Gestalt des besonderen Adressaten aufzuweisen, wobei wir freilich schon jetzt auf den noch folgenden Teil als Ergänzung des nunmehr zu Erarbeitenden vorverweisen möchten. Zur Beantwortung der Frage, ob der dogmatische Gottesleugner oder ein anderer Typus des Atheisten den Adressaten der Apologie darstellt, erscheint uns eine Analyse von Fr. 194, eines der umfangreichsten und zugleich am meisten gearbeiteten Fragmente der „Pensées", besonders geeignet zu sein38. Dieses Fragment, das sich ganz mit dem Phänomen des Unglaubens befaßt, ist dadurch in besonderer Weise gekennzeichnet, daß es zunächst die konglome Masse der Ungläubigen — Pascal gebraucht hier keinen festen Terminus wie „athées", „incrédules" usw., sondern spricht in allgemeiner Form von denen, „die von den Wahrheiten des Glaubens nicht überzeugt sind" 39 — in zwei Gruppen aufteilt. Beiden Gruppen gemeinsam ist die „schreckliche Unkenntnis aller Dinge" 40 , insbesondere das Nichtwissen um Woher und Wohin menschlichen Daseins und damit zugleich das Wissen um unseren „Zustand, voller Schwäche und Ungewißheit" 41 , m. a. W. beide Gruppen sind eins im „Zweifel" (doute) 42 . Auseinander jedoch treten sie dort, wo es um ihr Verhältnis zu diesem „Nichtwissen", zu diesem „Zweifel" geht. Die einen, so sagt Pascal, „bemühen sich mit all ihren Kräften, sich zu unterrichten", die anderen hingegen „leben, ohne sich darum zu mühen und ohne daran zu denken" 43 . Während Pascal die erste Art von Ungläubigen nur noch in wenigen Sätzen schildert als solche, „die ernsthaft in diesem Zweifel leiden, für die er das letzte Unglück ist und die nichts versäumen, um ihm zu entkommen" 44, gibt er von denen der zweiten Art eine ausführlichere Beschreibung. Diese Beschreibung läßt keinen Zweifel darüber, daß Pascal hier einen militanten, affirmativen, verhärteten Atheismus im Auge hat. Er sagt von dem Vertreter dieses Atheismus, daß er die Religion „bekämpfen" 45 , die christliche Lehre „zerstören" wolle 46 , daß er sich „tapfer stelle" 47 , sich zu seinem Unglauben „bekenne" 48 , sich dessen „rühme" und ihn zum „Gegenstand seiner Freude und seines Stolzes" mache49. Dieses Verhalten erhebt sich auf einer fundamentalen „Lässigkeit" (négligence), „Gleichgültigkeit" (indifférence) oder „Unempfindlichkeit" (insensibilité) 50 , die „sich keine Mühe machen", „keinen Schritt tun" will 51 , um zu einer wirklichen Lösung der unser zeitliches und ewiges Schicksal ent75
scheidenden Fragen durchzudringen. Von dieser Haltung sagt Pascal voller Empörung, daß sie ihn „erzürne", „erschrecke" und „entsetze" 52 . Er verurteilt sie mit den schärfsten Worten als Entartung der menschlichen Natur, als eine „Verkehrung im Wesen des Menschen" 53 , als „entartetes Empfinden", als „unnatürlich" 54 , und das um so mehr, als diese „befremdliche Unempfindlichkeit" für das Daseinsentscheidende keine umfassende, souveräne Gelassenheit ist, sondern Hand in Hand geht mit einer kleinlichen „Empfindlichkeit gegenüber den geringsten Dingen", die sich etwa darin äußert, daß derselbe verhärtete und gleichgültige Atheist „Tag und Nacht in Wut und Verzweiflung verbringt, weil er seine Stellung verloren oder weil man angeblich seine Ehre gekränkt hat" 5 6 . Es mag bis hierher den Anschein haben, als zielten Pascals Darstellungen und vor allem seine scharfen Invektiven dahin, diesen verhärteten, selbstsicheren Atheisten zu einem suchenden Gottlosen zu machen, womit dann eo ipso dieser Atheist zum Adressaten würde. Aber es ist nun das Interessante an Fr. 194, daß dies nicht, jedenfalls nicht in erster Linie das Ziel ist. Es taucht nämlich nunmehr — in der zweiten Hälfte dieses Fragmentes 50 — eine dritte Gestalt, gleichfalls ein Ungläubiger auf, der seiner Art nach gewissermaßen zwischen dem selbstsicheren Atheisten und dem „seufzenden" Wahrheitssucher steht. Dieser „Dritte" ist der eigentliche Adressat dieses Fragmentes und zugleich der Adressat der ganzen Apologie. Mit einer Periode von Fragen beginnt der zweite Teil des Fragmentes. Alle diese Fragen sind von solcher Art, daß sie jenen „Dritten" mit dem verhärteten Atheisten konfrontieren und ihn zugleich — in rhetorischer Form — fragen, ob er sich jemals Gemeinschaft mit einem solchen Menschen wünschen könne. Die Antwort, ein „Nein", versteht sich — im Sinne des Fragmentes — von selbst. In diesem „Nein" des „Dritten" aber liegt das eigentliche Ziel, das Pascal mit allem, was er in Fr. 194 sagt, anstrebt. Mit der ausführlichen Beschreibung, die er vom dogmatischen Atheisten gibt und mit den scharfen Angriffen, die er gegen dessen Verhalten richtet, meint er nicht ihn selbst, sondern will er lediglich erreichen, daß jener „Dritte", sein eigentlicher Adressat, sich aus der Front des affirmativen Atheismus löst, in die er sich — nach Pascals Aussagen — fälschlicherweise und ohne sich darüber wirklich Rechenschaft zu geben57, eingegliedert hat. Dabei ist wichtig, daß er nicht als Ganzer, sondern nur mit einem Teil seines Wesens in dieser Front steht, sofern er nämlich' ein Verhalten an den Tag legt, das sich mit der „Lässigkeit", der „Gleichgültigkeit", der „Unempfindlichkeit" der Atheisten deckt. Pascal versucht, seinem Adressaten dies vor Augen zu führen. Zunächst zeigt er ihm, wie seine „Lässigkeit" — mag sie im Bereich gesellschaftlichen Lebens audi zum „guten Ton" gehören 58 — dort, wo sie sich auf 76
die Frage nach unserem ewigen Schicksal erstreckt, zur atheistischen „Lässigkeit" wird und ihn damit notwendig als „Genossen" 59 zu den Atheisten „gesellt" 6 0 . Gleichzeitig aber weist Pascal ihn immer wieder darauf hin, daß jene Atheisten ihm ja in Wahrheit völlig wesensfremd sind, daß sie allem, was er als Norm richtigen Lebens anerkennt, entgegenhandeln. Darum ist auch die „Lässigkeit" der Atheisten — so gibt Pascal seinem Adressaten zu verstehen — ihm wesensfremd und unangemessen. Ubernimmt er sie, so „verunstaltet" er sich damit, da er ja „in Wirklichkeit nicht so" ist®1. Möchte er aber sich und seinem Ideal rechten Lebens treu bleiben — und das setzt Pascal bei ihm voraus —, so gibt es für ihn nur den einen Weg, die „Gesellschaft so verächtlicher Personen" zu verlassen, indem er seine atheistische „négligence" aufgibt; „denn wer sollte nicht erschrecken, wenn er erkennt, daß er Gesinnungen teilt, wo er derart verächtliche Menschen zu Genossen hat" 92. Pascal appelliert also an jene besonderen Ideale und Werte, die sein Adressat sich selbst als Normen seines Lebens gesetzt hat. Dabei ergibt sich ein Signalement, das nicht nur besagt, der Adressat Pascals sei ein anderer als der dogmatische Atheist, sondern das uns darüber hinaus auch erkennen läßt, wer dieser Adressat ist. So appelliert Pascal an den „gesunden" 63 oder „allgemeinen Menschenverstand" 84 seines Adressaten, an den „feinen Anstand" 65 , den er sucht, an sein Verlangen, „treu" zu sein, die Dinge „gesund zu beurteilen", „seinem Freund nützliche Dienste zu erweisen" und bei den Mitmenschen „Achtung zu gewinnen" 66 . Er redet ihn an als einen jener „Menschen von Welt", die großen Wert darauf legen, den „guten Ton" zu kennen 67 . Indem Pascal die atheistische „négligence" angesichts seines zuhörenden Adressaten in immer neuen Wendungen als etwas Un-natürliches hinstellt, gibt er zu erkennen, daß seinem Adressaten gerade am „Natürlichen" gelegen ist und er jegliche „Verkehrung" der Natur 6 8 , jede „Vergewaltigung des Natürlichen" 69 verwirft. Vor allem aber appelliert Pascal an die „honnêteté": er spricht seinen Adressaten darauf an, daß er als „honnête" erscheinen70, zu den „honnêtes gens" gehören möchte71, und zeigt ihm, wie die Haltung des Atheisten „im Gegensatz zur .honnêteté' " steht 72 . Für denjenigen, der auf dieses Signalement hin die französische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts Revue passieren läßt und gleichzeitig bedenkt, daß Pascal seinen Adressaten „aus eigener Erfahrung" kennt 73 , ihn sogar zu seinen „Freunden" zählt 74 , kann es keinen Zweifel geben: der Adressat der Apologie ist niemand anders als jener „honnête homme", jener „Monsieur", an den Pascal bereits die ersten neun seiner Provinzialbriefe gerichtet hatte, und der in der Apologie — wenn auch in einer anderen Form als bisher — weiterhin sein Adressat bleibt, indem er gleichsam von den „Provinzialbriefen" in die „Pensées" „übertritt" 76 . 77
Suchen wir noch nach einer allerletzten Konkretisierung des Adressaten, so treten uns wie von selbst zwei Gestalten entgegen, beide Prototypen des „honnête homme" und zugleich dem engsten Bekannten- und Freundeskreis Pascals angehörend: Miton und Mère, zu denen man vielleicht den — zwar seit über 50 Jahren toten, aber in seinem Werk fortlebenden — Lehrmeister der „honnêtes gens", Montaigne, hinzuzählen müßte. Auch diese letzte Präzisierung des Adressaten wird von Pascal in seinen „Pensées" bestätigt, indem er Montaigne immer wieder und Miton namentlich dreimal erwähnt 78 . Dabei müssen wir der dreimaligen Erwähnung Mitons in apologetisch wichtigen Fragmenten ein um so größeres Gewicht beimessen, als Pascal von all seinen Freunden, Bekannten und Zeitgenossen außer ihm nur noch de Roannez und Des Barreaux je einmal und Descartes — in überaus kurzen und nicht zur eigentlichen Apologie gehörenden Notizen — dreimal namentlich erwähnt. Pascals Apologie unterscheidet sich also in der Frage der Adressierung nicht von seinen übrigen Schriften. Sie wendet sich nicht an ein unbestimmtes oder fiktives Publikum. Sie meint — als Apologie der christlichen Religion — audi nicht die gestaltlose Allgemeinheit der Atheisten und Häretiker. Ihr Adressat ist weder ein fiktiver noch unbestimmt-allgemeiner, sondern ein in konkret-geschichtlicher Situation begegnender Adressat, mit dem Pascal bereits in einem intensiven Gespräch begriffen ist, der — wie wir gesehen haben und wie in der Fortführung unsrer Arbeit vollends deutlich werden wird — einer fest umrissenen soziologischen Gruppe angehört und sich einem speziellen Bildungs- und Lebensideal verpflichtet weiß. 3. D i e l i t e r a r i s c h e F o r m Aber nicht nur hinsichtlich Veranlassung und Adressierung steht Pascals Apologie im Zeichen seiner dialogischen Denkhaltung. Audi ihre literarische Form ist ganz vom Dialogischen her bestimmt. Es ist hier wieder von Nutzen, die Nähe und den engen Bezug von Provinzialbriefen und „Pensées" zu berücksichtigen. Hatte sich in Pascals frühen Schriften das Formal-Dialogische ganz von selbst, so müssen wir annehmen, aus seiner dialogischen Grundhaltung ergeben, so kam in den Provinzialbriefen — in Rücksichtnahme auf seine speziellen Hörer — die bewußte Entscheidung für die sogenannte „offene" Literarform hinzu. Diese Wahl war durch den überwältigenden Erfolg der Briefe bei ihren Adressaten, den „honnêtes gens", als richtig bestätigt worden. Pascal selbst vermerkt dies — bereits nach dem Erscheinen des zweiten Briefes — mit sichtlicher Genugtuung 77 . Was konnte für ihn darum näher liegen, als in der Apologie, die sich ja an denselben Adressaten richtete, auch dieselbe literarische Form zu verwenden? 78
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Fr. 18. Es zeigt, wie Pascal die offene literarische Form für die beste und überzeugungskräftigste hält. „Die Art, in der Epiktet, Montaigne und Salomon de Tultie schreiben — heißt es dort —, ist die brauchbarste, die sich am besten einprägt und am leichtesten in der Erinnerung bleibt und die sich am häufigsten zitieren läßt, weil sie völlig aus Gedanken besteht, die in den gewohnten Unterhaltungen des Lebens entstanden sind." Die „Essais" Montaignes und die Diatriben Epiktets aber sind Musterbeispiele der offenen Literarform und stehen in nächster Nähe zum Brief und Dialog 78 , wie Pascal sie in seinen Provinzialbriefen verwendet. Größer noch als die Nähe Pascals zu Montaigne ist dabei seine Nähe zu Epiktet und dessen „Dissertationes", deren Bedeutung hinsichtlich der Pascalschen „manière d'écrire" man u. E. bis heute noch nicht genügend beachtet hat, obwohl es allgemein bekannt ist, daß Epiktet zu den wenigen Autoren gehört, von denen wir mit Bestimmtheit sagen können, Pascal habe sie gern, gründlich und häufig gelesen und aus erster Hand zitiert 79 . Fr. 18 bestätigt aber nicht nur Pascals grundsätzliche Wertschätzung der offenen Literarform, sondern sagt uns audi expressis verbis, daß er seine Apologie tatsächlich in eben dieser literarischen Form schrieb oder zu schreiben beabsichtigte; denn jener erwähnte „Salomon de Tultie" ist kein anderer als Pascal selbst, der seine Apologie unter diesem Pseudonym, einem Anagramm seiner beiden anderen Pseudonyme, herauszugeben gedadite. Durch eine Reihe weiterer, ebenfalls direkter Äußerungen Pascals zur Literaturgattung seiner Apologie wird dies bestätigt und noch näher präzisiert. So gibt Pascal sich selbst — in Fr. 227 — die Anweisung: „Aufbau in Gesprächen" und läßt ein kurzes, ausgeführtes Zwiegespräch zwischen sich und dem Ungläubigen folgen. Auch Fr. 188 erwähnt den „Dialog" und beschreibt ihn als eine Form der Rede, die für den Einwand des Anderen offen ist. Häufiger als die Erwähnung des „Dialogs" sind die direkten Hinweise Pascals auf die Brief-Gattung. Sechsmal spricht er von verschiedenen Teilen seiner Apologie als von „Briefen" 80 . Wie diese „Briefe" in sich wiederum den Dialog eingeschlossen hätten, also Briefe ganz in der Art der Provinzialbriefe gewesen wären, zeigt etwa Fr. 247, in dem Pascal von einem „Brief zur Ermahnung eines Freundes" spricht und diesen „Brief" in Form mehrfacher wörtlicher Rede und Gegenrede zwischen sich und seinem „Freund" — viermal erscheint das bezeichnende Verb „antworten" — skizzenhaft entwirft. Beinahe noch wichtiger aber als die direkten Äußerungen Pascals über die geplante literarische Gattung ist die Form, die die uns erhaltenen Fragmente der Apologie de facto aufweisen. Daß Fragmente in Dialog79
form äußerst zahlreich sind, ist immer wieder in der Pascal-Forschung hervorgehoben und für die Frage nach der von Pascal geplanten literarischen Form ausgewertet worden 81 . Wir können das bisher Erkannte hier nur unterstreichen und möchten es tun, indem wir einige weitere Beobachtungen hinzufügen. Wenn man behauptet, Pascal habe die Form des Dialogs oder des BriefDialogs geplant, so kann das nicht heißen, er habe nur an den exakt ausgeführten Dialog gedacht. Gewiß gibt es dieses wörtliche Zwiegespräch in einer erstaunlichen Anzahl von Fragmenten. Ungleich zahlreicher aber noch ist die Verwendung dialogischer Elemente, so daß eine Gattung entsteht, wie sie etwa in Epiktets Diatriben vorliegt 82 und wie wir sie bei Pascal bereits in den drei „Vorträgen über den Stand der Großen Herrn" feststellen zu können meinten 83 . Selbst bei oberflächlichem Lesen der „Pensées" fällt auf, wie sie keine gleichmäßig fortfließenden Reden darstellen, sondern von Dialogismen völlig durchsetzt sind. Es sind dies dialogische Wendungen verschiedenster Art: Aufforderungen, Ausrufe, direkte und indirekte Reden, die plötzlich in einen ausgeführten Dialog einmünden, ihn aber ebenso plötzlich wieder verlassen können, unvermittelte Anreden im „Du"- oder „Ihr"-Stil, „Wir"-Stücke, Einwände, Einzelfragen, Fragenreihen. All diese Wendungen aber zeugen, wie Bultmann in seiner Untersuchung des kynisch-stoischen Diatribe-Stils sagt und wie es genau so für die Masse der „Pensees"-Fragmente gilt, „daß der Redner sich nicht allein redend denkt, sondern daß er gleichsam in gemeinsamer Untersuchung mit seinem Hörer begriffen ist" 84 . Sehr aufschlußreich für die Frage nach der Literarform der Apologie ist ferner die Beobachtung, daß die Dialog-Diatribe-Gattung besonders in den großen und durchgestalteten apologetischen Stücken, die nicht mehr den Charakter flüchtiger Notizen tragen, erscheint. So ist Fr. 233, das berühmte „Argument der Wette", völlig von dialogischen Elementen durchsetzt, die sich gegen Schluß des Fragmentes zum ausgeführten Dialog verdichten. Ebenfalls schließen die gearbeiteten und für die Apologie grundlegenden Fragmente 430 und 434 ausgeführte Dialog-Partien ein. Zahllose Dialogismen bieten ferner die umfangreichen und von intensiver Durchgestaltung zeugenden Fragmente 72 (über die Seinslage des Menschen zwischen den beiden Unendlichen), 82 (über die Täuschungskraft der „Einbildung"), 139 (das „Zerstreuungs"-Fragment), 294 (offensichtlich das Hauptstück des geplanten „Briefes über die Ungerechtigkeit", von dem Fr. 291 spricht) u. a. m. Diese Tatsache, daß gerade die „fertigen" Stücke der Apologie DialogCharakter tragen, wird dadurch besonders plastisch, daß in den gearbeiteten Fragmenten häufig Korrekturen zu beobachten sind, die Pascal zum Zwecke einer stärkeren Dialogisierung angebracht zu haben scheint. 80
Die Prüfung des Original-Manuskriptes der „Pensées" macht das deutlich. So bietet beispielsweise Fr. 434 kurze, auf Dialoge zusammengestrichene Stücke und mehrere Fragesätze, die nachträglich an den Rand des Fragmentes geschrieben oder eingeschoben worden sind 85 . Interessant ist auch der Anfang des bereits erwähnten Fr. 72: das ursprüngliche, indikativische „Dahin führen uns also unsere natürlichen Erkenntnisse usw." wird von Pascal gestrichen, so daß dieses Fragment nunmehr mit dem adhor tati ven „Also bedenke der Mensch die ganze Welt usw." einsetzt 88 . Derartige Korrekturen, wie man sie auch in anderen Fragmenten beobachten kann 87 , haben den Charakter deutlicher Hinweise auf die von Pascal beabsichtigte literarische Form seiner Apologie.
Zusammenfassung Es hat sich also erwiesen, daß Pascals Apologie — nicht anders als seine übrigen Schriften — in ihrem Ursprung, in ihrer adressiven Ausrichtung und in ihrer literarischen Form ganz von jener dialogischen Grundhaltung bestimmt ist, die in der Bereitschaft besteht, der jeweiligen Situation in ihrem Anrede- und Forderungscharakter zu entsprechen, ihr sowohl Initiative als auch Direktive zu überlassen. Die daraus sich ergebende, dreifach in Erscheinung tretende Situationsverflochtenheit der apologetischen Verkündigung Pascals wollen wir nodi einmal zusammenfassen, um dadurch dem besonderen Charakter Pascalscher Verkündigung, soweit er sich aus dieser Grundhaltung und der daraus folgenden Situationsverflochtenheit ergibt, klar in den Blick zu bekommen. 1. Es scheint uns, wenn freilich auch nicht etwas schlechthin Originelles, so doch ein bedeutsames Charakteristikum der Apologie Pascals zu sein, daß ihr Beweggrund nicht im Bereich der in sich geschlossenen Subjektivität ihres Verfassers zu finden ist. Kein innerlich-religiöses Erlebnis, keine geistliche Berufung schafft den Impuls, aus dem heraus er verkündigt. Keine aus geistiger Überlegung und religiöser Besinnung erwachsene Erkenntnis von der Notwendigkeit christlicher Apologetik läßt ihn seine apologetische Predigt halten. Kein allgemein missionarischer Eifer ist der Anlaß zur Verkündigung, kein innerliches Müssen des von Christus Erlösten, von dem Paulus im Blick auf sich und seine Predigt spricht. In aller christlichen Uberzeugung und innerlichen Glaubensstärke Pascals kann man wohl den Seinsgrund, nicht aber den Beweggrund seiner apologetischen Predigt erkennen. Der Beweggrund liegt jenseits aller Innerlichkeit im Bereich des „Äußeren", des in der äußerlichen Wirklichkeit Gegebenen und sich Be6 7902 Meyer, Pascal
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gebenden. Es ist die Kraft einer geschichtlich-konkreten Situation, die Pascal die Aufgabe der Verkündigung stellt, ihn den Entschluß fassen und diesen Entschluß ins Werk umsetzen läßt. 2. Diese Situation ist — wir sahen es bereits — im wesentlichen durch drei Gegebenheiten bestimmt: durch die an die „honnêtes gens" gerichteten Provinzialbriefe Pascals, durch das von Medizinern und Klerikern attestierte Wunder vom heiligen Dorn und durch den Pascal konkret begegnenden Unglauben seiner „weltlichen" Freunde, eben jener „honnêtes gens", an die er seine Provinzialbriefe richtet. Indem diese geschichtlich-konkrete Situation Pascal die Aufgabe apologetischer Verkündigung stellt, bringt sie ihm gleichzeitig den Adressaten dieser Verkündigung mit, einen in geschichtlicher Bestimmtheit und Konkretheit existierenden, einer scharf umrissenen soziologischen Gruppe angehörenden und einem speziellen Bildungs- und Lebensideal sich verpflichtet wissenden Adressaten. Pascal wendet sich somit in seiner Apologie nidit an einen abstrakten Unglauben, nicht an eine verschwommene Allgemeinheit oder Vielzahl von Ungläubigen, nicht an einen fiktiven, unwirklichen homo homileticus. Er wählt sich seine Hörer auch nicht aus jenen Gruppen von Ungläubigen, die dem Christentum am fernsten sind, ihm am feindlichsten gegenüberstehen oder es häretisch mißverstehen und aus diesen Gründen der christlichen Botschaft und der wahren Lehre vielleicht am vordringlichsten bedürften. Seine Apologie richtet sich folglich nicht, wie die Mehrzahl der zeitgenössischen Apologien, an die Mohammedaner oder Juden, an die Libertinisten oder dogmatischen Atheisten, an Lutheraner oder Calvinisten. Es ist überhaupt nicht Pascals eigene, von Notwendigkeits- oder Dringlichkeitserwägungen geleitete Entscheidung, die den Adressaten bestimmt und damit gleichsam herbeiholt. Der Adressat ist für ihn kraft der Situation schon da und wird von ihm nicht erst gewählt, sondern lediglich bejaht und als sein Adressat akzeptiert. Diese Tatsache, daß der Adressat von Pascal nicht aus der Ferne herbeigeholt werden muß, sondern kraft einer geschichtlichen Situation schon da ist, bedeutet des weiteren, daß zwischen Pascal und seinem Adressaten eine vorgegebene, nicht erst herzustellende Nähe, eine vorgegebene Gemeinsamkeit und Vertrautheit herrscht. Seine Hörer sind ihm keine fremden Hörer, zu denen er sich erst noch auf den Weg machen, die er erst noch aufsuchen müßte, um sie kennen und verstehen zu lernen. Seine Hörer sind bereits bei ihm, und er ist bei seinen Hörern kraft der gemeinsamen, aus ganz bestimmten historischen, soziologischen, bildungsmäßigen und ideellen Gegebenheiten sich zusammensetzenden geschichtlich-konkreten Situation. 82
3. Wie in dem vorapologetischen Schrifttum Pascals der sachlichen Situationsverflochtenheit stets eine dialogisierende Form der Rede entsprach, so verhält es sich, wie wir gesehen haben, auch mit der Apologie. Die geschichtlich-konkrete Wirklichkeit, die Pascals apologetische Verkündigung nach Anlaß und Ausrichtung so nachdrücklich bestimmt, läßt es einfach nicht zur situationsfremden Traktatform, zu einer intellektuell-dogmatischen, einer meditativ-monologischen oder einer künstlich situationsbezogenen Redeweise kommen. Sie gebietet vielmehr eine Form der Rede, die, soweit dies formal-literarisch überhaupt möglich ist, der lebendigen Wirklichkeit und dem konkreten Adressaten Rechnung trägt, sie in sich aufnimmt, statt sie zu ignorieren.
B. Die „Pensées"
im Zeichen der dialogischen
Methode
Die apologetischen „Pensées" sind nicht nur von der dialogischen Grundhaltung Pascalschen Denkens bestimmt, sondern folgen zugleich seiner dialogischen „Kunst zu überzeugen". Im zweiten Hauptteil unserer Arbeit — ich greife kurz zurück — haben wir diese Methode des Uberzeugens in ihrer Beziehung zu Pascals Wahrheitsverständnis und Menschenbild dargelegt und die spezifische Eigenart eines von dieser Methode geprägten Redens darin gesehen, daß es weder ein vom Subjekt, noch ausschließlich vom Gegenstand des Uberzeugens, sondern vornehmlich vom Hörer bestimmtes Reden ist, ein Reden, an dem der Andere in einer Weise mitwirkt, daß es Wesen von seinem Wesen trägt. In dem Maße also, wie das Subjekt des Redens zurücktritt und nur noch die dienende Funktion ausübt, den Gleichheitsbezug zwischen Sache und Hörer darzustellen und damit Sache und Hörer zusammenzuführen, tritt — neben dem Gegenstand, um den es geht — der Andere, der Hörer, als wesensbestimmender Faktor der Rede in den Vordergrund. Das wird in jeder der drei Grundregeln, in die wir mit Pascal die Methode des Überzeugens zusammengefaßt haben, deutlich: es gilt, erstens den Hörer, der für Pascal stets ein lebendig-konkreter Mensch ist, auf dem Wege über ein „an seine Stelle" tretendes Erkennen in seinen besonderen Denkvoraussetzungen, Wünschen und Neigungen zu erfassen, zweitens im Gegenstand des Uberzeugens einen Gleichheitsbezug zum besonderen Wesen des Hörers aufzufinden und drittens den Hörer auf dem Wege über den erkannten Gleichheitsbezug so an den Gegenstand heranzuführen, daß er sich von ihm in seiner eigenen Existenz angesprochen fühlt. Am Leitfaden dieser drei Grundregeln des „Uberzeugens" soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie Pascals apologetische „Pensées" von seiner dialogischen Methode des Überzeugens bestimmt sind. 6"
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1. D i e A n w e n d u n g d e r e r s t e n G r u n d r e g e l d e r „ K u n s t zu ü b e r z e u g e n " (Die Gestalt des „honnête homme") Auf Grund seiner primären dialogischen Denkhaltung — so haben wir gesehen — ist es die geschichtlich-konkrete Situation, die Pascal zugleich mit der Aufgabe und dem Anlaß zur apologetischen Arbeit auch den „honnête homme" als Adressaten gibt. Entsprechend der ersten Grundregel der „Kunst zu überzeugen" kommt es nunmehr für Pascal darauf an, diesen Adressaten so zu kennen, daß er mit ihm bis in seine Denkvoraussetzungen und -prinzipien, seine Wünsche und Neigungen hinein vertraut wird. Dieses nahe, „intime" Vertrautwerden hatten wir — mit Mme Périer — als ein „an die Stelle des Anderen tretendes", als ein solidarisch mit ihm werdendes, aus der Solidarität erwachsendes Erkennen charakterisiert. Wie wird dieses Kennen von Pascal verwirklicht, sofern es überhaupt in den Bereich des zu Verwirklichenden, des Herstellbaren fällt? Es ist wichtig, sich an dieser Stelle der von uns bereits dargestellten grundsätzlichen Korrelation zwischen Grundhaltung und Methode zu erinnern. Die dialogische Grundhaltung, so haben wir gesehen, geht ermöglichend und ergänzend der Methode des „Uberzeugens" voraus und bewahrt sie so davor, zu einer jederzeit verfügbaren Technik des Uberzeugens zu werden. Für die konkrete Anwendung der ersten Grundregel des „Überzeugens" auf die apologetische Verkündigung bedeutet dies, daß das solidarisch mit dem Anderen werdende Erkennen von Pascal nicht allein und nicht primär auf künstlichem Wege, etwa vorwiegend durch psychologische Beobachtung oder divinatorische Einfühlung hergestellt wird. Die Situation, von der er sich den Adressaten geben läßt, ist es auch, so haben wir im Vorausgegangenen bereits hervorgehoben, die ihn mit dem Adressaten verbindet; denn es ist ein und dieselbe Situation, in der Pascal den Anstoß zur apologetischen Verkündigung empfängt und in der der Andere ihm als Adressat begegnet. Kraft dieser gemeinsamen, sowohl Pascal wie seinen Adressaten umschließenden Situation, besteht zwischen beiden das Verhältnis vorgegebener Nähe und Vertrautheit, vorgegebener Solidarität, die Pascal das von der ersten Grundregel geforderte Kennen des Anderen ermöglicht. Es brauchen also Solidarität und Vertrautheit von ihm nicht erst geschaffen, nicht erst hergestellt, sondern nur wahrgenommen und erkannt zu werden. Daß dieses Verhältnis vorgegebener Nähe und Vertrautheit zwischen Pascal und dem „honnête homme" besteht, hatten wir bereits früher erwähnt. Einige biographische Hinweise sollen das genauer belegen. Bereits während des ersten Pariser Aufenthaltes vom Frühjahr 1647 bis zum Frühjahr 1649 lernt Pascal den Duc de Roannez kennen. Die Be84
kanntschaft — durch einen längeren Aufenthalt Pascals in der Auvergne vorübergehend unterbrochen — wird 1650 erneuert und befestigt und wird bald zur „sehr engen Freundschaft", wie Marguerite Périer sagt 1 . Es dauert nicht lange, bis der Duc de Roannez seinen Freund in seine eigenen Gesellschaftskreise einführt. Damit beginnt die sogenannte „Weltliche Periode" Pascals, sein Leben im Kreis der „honnêtes gens", dem er sich so schnell und gründlich einfügt, daß man geradezu von einem Übertritt Pascals zur „honnêteté" sprechen kann. Wenn dieser Übertritt in der bekannten Schilderung Mérés auch zu einer Art plötzlichen Bekehrung dramatisiert wird 2 , so ist es doch wahr, daß Pascal sich nachdrücklich von seinen physikalischen und mathematischen Beschäftigungen abwendet 3 und seiner Lebensführung, seinen Interessen und seinem Umgang nach ganz zum „honnête homme" wird. Er verzichtet, schreibt Mme Périer, „auf alle Geistesarbeit", sucht, wo immer er kann, „Gelegenheiten der Zerstreuung" und liebt die „gewöhnlichen weltlichen Unterhaltungen" 4 ; er bezieht ein eigenes Haus in der Rue Beaubourg, hält einen Lakaien und besitzt seinen eigenen Wagen; er frequentiert den Salon der Mme de Sablé, ist mit dem Chevalier de Méré und mit Miton eng befreundet, bemüht sich um das Studium des Menschen und um die Regeln wirksamer Beredsamkeit und verfaßt sogar eine „Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe". Nach seiner „Bekehrung" im November 1654 — in der Nacht des „Mémorial" — lockert sich seine Verbindung zur Welt der „honnêtes gens" zwar erheblich, doch reißt sie nie ab. Zeit seines Lebens achtet und schätzt er das Ideal der „honnêteté" und pflegt Umgang mit einzelnen „honnêtes gens" 5 . Das beste Zeugnis dieser bleibenden Verbindung sind, wie wir gezeigt haben, seine ersten zehn Provinzialbriefe. Pascals Kenntnis vom „honnête homme", dem Adressaten seiner Apologie, gründet also nicht in einem willentlich, auf dem Wege der Überlegung, Beobachtung oder Einfühlung sich vollziehenden Kennenlernen, sondern in einer vorgegebenen Lebensverbundenheit; sie ist damit wirkliches Vertrautsein, edite Solidarität. Pascal selbst äußert von dem Adressaten seiner Apologie, daß dieser ihm „aus eigener Erfahrung" bekannt sei®. Er kann von ihm als seinem „Freund" sprechen7. Damit kann die erste Grundforderung der „Kunst zu überzeugen" als erfüllt gelten: Pascal kennt „esprit" und „coeur" seines Adressaten, als ob er „an seiner Stelle" stünde. Bevor wir jedoch der weiteren Anwendung der „Kunst zu überzeugen" zu folgen versuchen, gilt es auch für uns, diesen Adressaten, den „honnête homme", so zu kennen, daß wir seine Gestalt — wenigstens in ihren Hauptzügen — klar vor Augen haben. Die Anfänge des „honnête-homme"-Ideals liegen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es entsteht als Gegenschlag gegen den im 85
Fachgelehrtentum sich verhärtenden Späthumanismus mit seinem Ideal des Polyhistors. Der Typ des humanistischen Gelehrten, des spezialisierten Theologen, Philologen oder Juristen wird zur Spottfigur des „Pedanten". Es geschieht etwas wie eine Rückwendung zum „uomo universale" der frühen Renaissance, jenem universal gebildeten „Dilettanten", der per diletto, allein aus spielerischer Freude sich sein mehr vielseitiges als tiefgreifendes Wissen aneignet. Kurz, die formale Wissensbildung wird preisgegeben zugunsten freier Wesensbildung 8 . Bei Montaigne, dessen „Essais" später zu einem der Lieblingsbücher der „honnête gens" werden, kommt diese Wende literarisch wohl am klarsten zum Ausdruck 9 . Er verachtet den mit „zuviel Erlerntem und zuviel Wissensstoff" beladenen „Gelehrten" 1 0 , der sein „Gedächtnis vollpfropft", aber seinen „Verstand" leer sein läßt 11 . Montaigne will — wie Friedrich sagt — „den heiteren Menschen, der in der Gesellschaft, am Hof, auf dem Schlachtfelde ebenso zu Hause ist wie in der stillen Bibliothek, ein souveräner Partner geistiger Erbtümer und in jederzeit aufkündbarem, jederzeit wiederholbarem Verkehr mit ihnen, ohne fachmännische Abschnürung, fähig zur eingestandenen Unwissenheit, bereit zur Selbstironie, achtsam auf das Wohl von Seele und Leib, anschmiegsam an jede Art von Menschsein . . . , nur gegen eines unduldsam, nämlich gegen Dünkel, Erstarrung und Gewalt." 1 2 Obwohl bereits bei Montaigne der „honnête homme" in sehr wesentlichen Zügen beschrieben ist, kommt es zur vollen Entfaltung und Verwirklichung dieses Ideals jedoch erst mit der Bildung der höfischen Gesellschaft und der gleichzeitig entstehenden Konversationskultur des beginnenden und mittleren 17. Jahrhunderts in Frankreich. Erst die glückliche Zeit unter Heinrich IV. schuf das milde Klima, in dem es zu jener Pflege und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens kommen konnte, in der dann auch die „honnêteté" zur vollen Ausbildung gelangte. Es entsteht der „Salon", jener spezifische Rahmen der „grande société" des französischen 17. Jahrhunderts 13 . Dieser „Salon", in dem vornehme, reiche und geistvolle Müßiggänger, Damen und Herren des Hofes, Adlige, Schriftsteller und Dichter, die alle des Broterwerbes und eines festen Berufes nicht bedurften 14 , sich zu leicht dahinfließendem, gepflegtem und geistreichem Gespräch versammelten und dieses gesellige Miteinander zu ihrem Lebensinhalt machten 15 , ist der historische wie soziologische Rahmen, in dem der „honnête homme" lebt und begegnet. Der gesellige Umgang ist aber nicht nur der äußere Lebensrahmen der „honnêtes gens". Er ist zugleich Norm und letztes Ziel ihres Verhaltens. Der „honnête homme" hat „sein ganzes Streben darauf zu richten, den Umgang, den Verkehr mit Menschen zu meistern" 18 . Jeder einzelne Wesenszug der „honnêteté" muß von hierher, als Mittel zur rechten Verwirklichung dieses geselligen Verkehrs verstanden werden. Die 86
„honnêteté" umfaßt, so sagt Méré, „alles, was man sich wünschen kann, um ein liebenswürdiger Gesellschafter zu sein" 17 . Im Mittelpunkt dieses „geselligen Verkehrs" (commerce du monde) 18 steht als die „häufigste Form des Umgangs" 19 die „conversation"20. Dieser Begriff, der synonym mit „entretien" (Gespräch) gebraucht wird, ist bezeichnend. Die von den „honnêtes gens" so hochgeschätzte Unterhaltung ist kein suchendes gemeinsames Forschen, kein gemeinsames Ringen um Wahrheit, keine Diskussion, sondern sie ist „sprühend" und „ungezwungen", eine „conversation brillante et enjouée" 21 , wie es ähnlich immer wieder heißt, in der man sich zerstreut, geistreich plaudert, in der man lacht und scherzt, die keine sachlichen Ergebnisse, sondern nur frohe Geselligkeit, „bonne compagnie" 22 will. Sie besteht darin, „auf möglichst angenehme Weise miteinander umzugehen" 23 ; und dabei kommt es mehr darauf an, zuzuhören und gut zu antworten, als von sich aus etwas sagen zu wollen 24 . Sie ist ein geselliges Beieinandersein, „wo man nur daran denkt, sich zu zerstreuen; und das ist ja in der Tat das Hauptziel des Gesprächs" 25 . Scharf grenzt Méré diese „conversation" ab von der „Sitzung" (conseil) oder der „Verhandlung" (conférence): „Wenn man sich versammelt, um zu ratschlagen oder über Geschäfte zu verhandeln, so ist das eine Sitzung oder eine Verhandlung, in der man gewöhnlich weder lachen noch scherzen darf."2® Eine solche sachbezogene Art des Gespräches hat keinen Ort im geselligen Verkehr der „honnêtes gens". Dieser Auffassung von Geselligkeit und Gespräch entspricht es, wenn man, wie wir bereits sahen, alle fachwissenschaftliche Gelehrsamkeit, alle „grande érudition" und „profonde science"27 zurückweist und nur die — im ursprünglichen Sinne — „dilettantische" und universale Bildung gelten läßt; denn sie allein vermag soldier Geselligkeit zu dienen. Der einseitige Fachgelehrte oder ganz mit seinem Beruf Beschäftigte, der immer nur über ein Partialwissen verfügt und dem Gespräch notwendig das Offene, Spielerische, frei Schweifende nehmen würde, ist in der Gesellschaft der „honnêtes gens" unerwünscht. Der „honnête homme" dagegen ist kein „Autor" 28 ; er hat „point de métier", keinen Beruf 29 . Sollte er dennoch einen Beruf ausüben, so läßt er das im geselligen Umgang unter keinen Umständen merken. Sieht man ihm sein „métier" jedoch an, so bedeutet das für ihn ein „Unglück": „Er muß es ablegen, was auch immer es koste." 30 Um der editen Geselligkeit willen streben die „honnêtes gens" also danach, „umfassend gebildete Menschen" zu sein31, mit einer Bildung, die sich nicht durch „Tiefe", sondern durch „Weite" auszeichnet32. Sie wollen keine besonderen Merkmale, keinen „enseigne", kein „Berufsschild" 33 tragen, das sie als „Politiker", „Dichter", „Mathematiker", „Theologen" oder „Soldaten" zu erkennen gibt 34 . Sie sind Dilettanten, die von allem etwas wissen; „denn es ist viel besser, etwas von allem zu 87
wissen, als alles von einem zu wissen", sagt Pascal und gibt damit dem Ideal dilettantischer Bildung eine pointierte Formulierung 35 . Die besondere Art des geselligen Umgangs schafft einen Moralkodex, der ihr gemäß ist 86 . Nur ein Preisgeben aller egozentrischen Bezogenheit und ein hohes Maß an Hingabebereitschaft gegenüber dem Anderen gibt die Gewähr für das Gelingen des lebendigen, doch nicht leidenschaftlichen, klugen, doch nicht fachmännischen, originellen, doch nicht eigensinnigen Gespräches, in dem es ebensosehr darauf ankommt zuzuhören, wie mitzureden, dem Anderen Recht zu geben, wie ihm zu widersprechen, ohne Eigensinn seinen Irrtum einzugestehen, wie seine Meinung geistreich zu verteidigen. Mit Recht sagt darum Strowski: „Um diesen hohen Grad von Geselligkeit zu erreichen, bedarf es so vieler Qualitäten, Begabungen und Tugenden, daß man sein ganzes Leben lang zu tun hat." 37 Die „honnêteté" verwirft um der rechten Geselligkeit willen alle Eitelkeit 38 , allen Zorn 39 , alle Ungerechtigkeit 40 , sie verbietet häßliche Leidenschaften, persönliche Vorurteile 41 , Ehrgeiz, Habsucht 42 und alle egozentrische Bezogenheit 43 . Sie fordert dagegen Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Güte, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Treue und Selbstlosigkeit. Die „honnêtes gens" sind, so heißt es bei Méré, „freundlichen Wesens und liebevollen Herzens", sind „stolz und höflich, kühn und bescheiden . . . weder geizig noch ehrgeizig . . . , nahezu ihr einziges Ziel ist, überall Freude zu bringen" 44 . So kann Méré sagen: „Ich kenne nichts unter dem Himmel, das über der ,honnêteté' stände; sie ist die Quintessenz aller Tugenden." 45 Freilich darf die Höhe dieser Moral nicht darüber hinwegtäuschen, daß alle ihre Forderungen unter der obersten Forderung nach rechter Verwirklichung des angenehmen geselligen Umgangs stehen. „Es steht gut an, tugendhaft zu sein", sagt Méré 48 und zeigt damit, wie die „bienséance", die „Schicklichkeit" oder, wie es an anderer Stelle heißt, die „Dezenz" das entscheidende Kriterium für Gut und Böse ist 47 , was dann etwa dahin führt, daß die an feste Maxime sich bindende ethische Strenge und der ethische Ernst als „unerträglich" 48 , „lästig" 49 und der „guten Geselligkeit" abträglich 80 verworfen und verspottet werden 51 . Das Verlangen nach der „sprühenden und ungezwungenen Unterhaltung" und die damit in direktem Zusammenhang stehende Geselligkeitsmoral bestimmt zugleich die Grundhaltung, in der der „honnête homme" allem gegenübersteht, was sich ihm zeigt und ihm begegnet. Aus dem radikalen Verzicht auf alle Selbstsucht und Ich-Bezogenheit um des geselligen Miteinander willen, aus der unbedingten Bereitschaft, dem Anderen Recht zu geben, statt eine eigene Uberzeugung durchzusetzen, jegliches Meinen anzuerkennen, statt seine Meinung als wahr zu vertreten, von allem etwas, statt von einem alles zu wissen, unverbindlich zu erwägen, statt affirmativ zu behaupten, höflich und bescheiden, statt bestimmt und entschieden zu sein, bildet sich eine Daseinshaltung teils 88
spielerisch-heiterer, teils resignierend-matter Skepsis. Der „honnête homme" ist wie eingehüllt in eine Atmosphäre des Gleichmuts und der Lässigkeit, in der alles leidenschaftliche Suchen und Fragen, alles den Bannkreis der Desinteressiertheit durchstoßende Sorgen und Hoffen, wenn es überhaupt entsteht, verkümmert und erlischt. Immer wieder trifft man im Schrifttum Mérés auf Stellen, die dem „honnête homme" die Grundhaltung der „négligence" empfehlen und ihn gleichzeitig vor allem „geschäftigen Eifer" (empressement) und aller „Gezwungenheit" warnen; alles an ihm „soll den Anschein der Mühelosigkeit und Leichtigkeit" 82 , der „unbedrückten Lässigkeit" 53 haben. Die „honnêtes gens" haben, schreibt Méré, eine „liebenswürdige, lässige und würdevolle Art, die nur sehr wenig geschäftig ist" B4 . Ihre „Begabung zum ,honnête homme'" zeigt sich daran, daß sie „mehr lässig als genau" sind 55 . „Man sieht sie fast nie geschäftig" 56 ; denn „es ist der geschäftige Eifer, der mißfällt" 5 7 . Sie haben „ein offenes Wesen und eine gewisse Ungezwungenheit" 58 und sind in jeder Hinsicht „frei" (dégagé)59. „Derjenige ist ein rechter ,honnête homme', der sich um nichts bemüht und sich auf nichts etwas einbildet", sagt La Rochefoucauld 80 . Bei aller Betonung und Empfehlung der „négligence"-Haltung kennt und bejaht Méré dennoch ein Suchen nach „Glückseligkeit", nach „félicité" und „bonheur". „Jeder will glücklich sein, und . . . dieses Sehnen ist so natürlich, daß selbst die Tiere es auf ihre Weise empfinden . . . Wir schätzen und wünschen die Dinge nur, sofern sie zu unserer Glückseligkeit beitragen können", schreibt er 61 ; und an einer anderen Stelle heißt es bei ihm: „Die Glückseligkeit ist das höchste Ziel all dessen, was wir unternehmen." 62 Diese gesuchte „Glückseligkeit" aber ist nichts anderes als die vollkommene „honnêteté" 63 . „Es scheint mir — schreibt Méré —, daß es die vollkommene und vollendete .honnêteté' ist, die uns glücklich macht..." 6 4 ; „sie macht glücklich ,wer sich ihr anheimgibt." 65 Das Streben nach „bonheur" ist also gleichbedeutend mit dem Streben nach dem „honnêteté"Ideal, der „Idee der Vollkommenheit" 66 . Die Bezeichnung der „Glückseligkeit" als des „höchsten Ziels" all unseren Handelns kann darum in gleicher Weise auf die „honnêteté" angewandt werden: sie ist „das höchste Ziel all dessen, was man unternimmt" β7. Worin besteht nun diese „Glückseligkeit", die die „honnêteté" dem Menschen vermittelt? Es ist das „Glück" eines „angenehmen Lebens" im geselligen Miteinander 68 , das „Glück" „liebenswerter Geselligkeit" 69 . In diesem Verkehr der „honnêtes gens" richtet jeder sein ganzes Bemühen darauf, dem anderen zu „gefallen" 70 , ihn „glücklich zu machen" 71 , ihm „Freude" und „Vergnügen" zu bereiten 72 , das Leben „angenehm" 73 und „bequem" 74 zu gestalten, kurz: um einen in der Sprachwelt des „honnête homme" häufig begegnenden Doppelbegriff aufzunehmen, sich und den anderen „divertis89
sement" zu schaffen und so den „ennui", den Uberdruß und die Langeweile zu vertreiben 75 . Immer wieder heißt es von der Gesellschaft der „honnêtes gens": „Man denkt nur daran, sich zu zerstreuen." 76 In dieser „Zerstreuung" liegt das „Hauptziel der Unterhaltungen" 77 . Es bedeutet darum in den Augen des „honnête homme" höchstes Lob, wenn von einem Menschen gesagt werden kann: „Wo auch immer er ist, sucht er sich zu zerstreuen, und noch mehr, Freude zu bringen." 78 Und umgekehrt ist es der größte Tadel, wenn es von jemandem heißt, er „mißfalle", sei „unangenehm" und „langweilig". „Das größte Übel der schlechten Dinge ist — schreibt Mere —, daß sie unangenehm (desagréables) sind. Ich glaube sogar, daß es Sünde ist zu mißfallen . . . und jenes Ärgernis, das der Heiland bei so harter Strafe verbietet, was ist daran böse, wenn nicht, daß es mißfällt und mißmutig macht (apporter de l'ennui)." 79 Aus allem bisher Gesagten ist bereits hervorgegangen, wie es dem „honnête homme" in einem ganz besonderen Maße um den Menschen geht. Hinter seiner spezifischen Sittlichkeit und Bildung, hinter seiner Beredsamkeit 80 , seinem Wünschen und Bemühen wird immer wieder dieses ausgeprägte Interesse am mensdilich-mitmenschlichen Bereich sichtbar. Alle Wesenszüge des „honnetete"-Ideals finden hier ihre übergreifende Einheit. Dem entspricht nun, daß — unbeschadet der Forderung nach dilettantisch-universaler Bildung — unter allen Studiengebieten dem „honnête homme" eines das liebste ist, dem er sich mit unerschöpflicher Aufmerksamkeit und unermüdlichem Eifer widmet: das Studium des Menschen91. Dabei geht es ihm, entsprechend der vorwiegend praktischen, der konkreten Wirklichkeit zugewandten Ausrichtung seines Geistes nicht um eine theoretische, allgemeingültige Erkenntnis menschlichen Wesens überhaupt. Sein Augenmerk ist vielmehr auf den sichtbaren, lebendigen Menschen gerichtet, auf sein jeweilig geformtes Sosein, auf sein konkretes Verhalten in den wechselnden Situationen. Es geht ihm um Beobachtung, um ein scharfsichtiges, tiefgreifendes und differenzierendes Erfassen des empirischen Menschen82. Hierin beweist er nun — und damit zeigt sich ein weiteres Charakteristikum seiner Menschenkunde — einen illusionslosen Blick gerade für die Erscheinungen menschlicher Unzulänglichkeit und Schwäche™. Er sieht die tiefeingewurzelte Selbstsucht und Ich-Bezogenheit des Menschen, seinen egoistischen „intérêt" oder „amour-propre" und in dessen Gefolge die Trübungen des menschlichen „Urteilvermögens" und die Fragwürdigkeit menschlicher „Gerechtigkeit". „Es verhält sich in Wahrheit so, daß die Selbstsucht uns alle ungerecht macht, nicht nur in unseren Taten, sondern auch in unseren Urteilen . . . Wer wäre wohl imstande, recht zu urteilen?" schreibt Méré 84 , und La Rochefoucauld, der in seinen Maximen den vielgestaltigen Erscheinungsformen und Verkleidungen 90
menschlicher Selbstsucht nachgeht, sieht im „ganzen Leben" nichts als ein einziges „großes und langwährendes Getriebenwerden" vom „amourpropre" 8 5 . Der Mensch habe sich, so sagt er, aus seiner Eigenliebe einen „Gott" gemacht, „um nun von ihm in allen Handlungen seines Lebens getrieben zu werden"8®. Erkenntnisfähigkeit, Urteilsvermögen und Gerechtigkeit werden aber, so zeigt die Beobachtung des Menschen, in gleichem Maße durch die „Vorurteile" und die „Gewohnheiten" (préventions und coutumes) in Frage gestellt, die ebenso zufällig wie hartnäckig sind. Sie schaffen die „Torheit" 8 7 und „unterwerfen" sich das menschliche „Urteilsvermögen" 8 8 , so daß wir eine Sache nicht mehr „so, wie sie ist", wahrnehmen 89 . „Ein Mensch, der sich von Vorurteilen bestimmen läßt und dabei irgendein weltliches oder kirchliches Amt auszuüben wagt, ist ein Blinder, der malen will, ein Stummer, der einen Vortrag übernommen hat, ein Tauber, der eine Symphonie beurteilt: schwache Bilder, die den Jammer der Voreingenommenheit nur unvollkommen wiedergeben. Man muß hinzufügen, daß sie eine hoffnungslose, unheilbare Krankheit ist, die jeden ansteckt, der sich dem Kranken nähert." 9 0 Der „honnête homme" kennt die gefährliche „Macht der Einbildung", die „einen jeden verwundet" 9 1 . Er kennt die tiefverwurzelte „Eitelkeit" 9 2 , die den Menschen „ständig umtreibt" 9 3 und „alle Tugenden verwirrt" 9 4 . Er erlebt — wir sprachen an anderer Stelle bereits davon — die sich zur Rätselhaftigkeit und Widersprüchlichkeit steigernde „Unbeständigkeit" menschlicher Handlungen, Meinungen und Absichten, den dauernden „changement", der sich im Menschen vollzieht 95 . „Der Mensch ist in jedem Augenblick, was er zuvor nicht war, und er wird bald sein, was er nie gewesen ist. Er ist sein eigener Nachfolger. " β ί Trotz dieser ausgeprägten Schau menschlicher Schwäche, Niedrigkeit und Widersprüchlichkeit jedoch darf man nicht sagen, das Menschenbild der „honnêtes gens" oder der Moralisten sei ein völlig pessimistisches Bild. Neben den menschlichen Unzulänglichkeiten, Fehlern und Verworrenheiten steht — in der Sicht des „honnête homme" — das Große, Rechte und Gute, wie es sich in der „honnêteté", der „Quintessenz aller Tugenden" 9 7 , summiert. Gerade bei Méré, dessen gesamtes Schrifttum sich ja als Darstellung und Empfehlung der „honnêteté" versteht, ist dieser Hinweis auf die positiven Möglichkeiten menschlichen Daseins besonders intensiv, so daß vom Negativen bei ihm vorwiegend in Form der Warnung oder des Verbotes die Rede ist. La Rochefoucauld, L a Bruyère und auch Montaigne freilich reden indikativischer von der Niedrigkeit des Menschen; aber selbst hier, wo menschliche Unzulänglichkeit und Schwäche so überaus scharfsichtig erkannt und so schonungslos benannt werden, fehlt doch keineswegs der Hinweis auf die positiven 91
Möglichkeiten und Wirklichkeiten des Menschen, etwa der Blick auf den kleinen Kreis der „honnêtes hommes" und derer, die sich bemühen „honnêtes" zu sein. Damit möchten wir die Darstellung des „honnête homme" — die Beschreibung seiner besonderen Methode des Gefallens und der Beredsamkeit hatten wir bereits an anderer Stelle gegeben — abgeschlossen sein lassen. Wir meinen, daß die Gestalt des Adressaten der „Pensées" hinreichend scharf umrissen ist, um nunmehr die apologetische Verwendung der zweiten und hernach der dritten Grundregel der „Kunst zu überzeugen" verfolgen zu können. 2. D i e A n w e n d u n g d e r z w e i t e n G r u n d r e g e l d e r „ K u n s t zu ü b e r z e u g e n " (Der „rapport" zwischen „honnête homme" und christlicher Offenbarung) Das beginnende 17. Jahrhundert in Frankreich erlebt eine Flut von christlichen Apologien oder Schriften apologetischen Charakters 1 . Es lag darum für die Pascal-Forschung nahe zu versuchen, die apologetischen „Pensées" von der zeitgenössischen Apologetik her zu verstehen und sie in den breiten Strom jener apologetischen Arbeit einzuordnen. Rückblikkend jedoch muß gesagt werden, daß es nie gelungen ist, eine tiefgreifendere und umfassendere Abhängigkeit der „Pensées" von einer oder mehreren der zeitgenössischen Apologien überzeugend nachzuweisen. Alle Versuche dieser Art finden allein schon darin ihre nahe Grenze, daß man nur von ganz wenigen Apologien annehmen darf, Pascal habe sie gelesen oder näher gekannt. Mit Wahrscheinlichkeit läßt sich dies nur von drei, allenfalls von vier Apologien sagen 2 . Von diesen hat Pascal wohl vereinzelte Gedanken, Zitate, vielleicht auch kleinere Gedankenkomplexe übernommen; in der Gesamtanlage oder den Zentralgedanken seiner Apologie jedoch hat er sich keine dieser Arbeiten zum Vorbild gesetzt 3 . Der apologetische Gesamtentwurf der „Pensées" muß als neu angesprochen werden. Dieser Neuheit ist sich Pascal selbst bewußt 4 . Sie entsteht mit der Anwendung der zweiten Grundregel der „Kunst zu überzeugen". a) Die Frage nach dem Menschen als „rapport" zwischen „honnête homme" und christlicher Offenbarung Die zweite Grundregel der „Kunst zu überzeugen" verlangt vom Uberzeugenden, so haben wir gesehen, ein aus der Vertrautheit mit dem Hörer herkommendes Erkennen der Sache, das nach dem Gleichheitsbezug zwischen Hörer und Sache fragt. Für den Fall der Apologie bedeutet dies, daß Pascal versucht, zwischen der christlichen Offenbarung 92
einerseits und dem „honnête homme" andererseits einen „rapport" festzustellen. Er findet ihn in der Frage nach dem Menschen, d. h. darin, daß es sowohl dem „honnête homme" als auch der christlichen Offenbarung um den Menschen, um seine Erkenntnis und damit zugleich um seine Existenz geht. Wenn Pascal in dieser Frage nach, dem Menschen den „Gleichheitsbezug" zwischen „honnête homme" und christlicher Offenbarung sieht, so heißt das für ihn freilich nicht, daß hier wie dort der Mensch in gleicher Weise gesehen werde. Es bedeutet ebensowenig, daß der „honnête homme" die biblisdie Botschaft, nur weil sie vom Menschen handelt und es ihr um den Menschen geht, annehme. Es heißt aber wohl, daß in der Frage nach dem Menschen, seiner Erkenntnis und seiner Existenz sich „honnêteté" und Offenbarung begegnen. Die Botschaft der Bibel braucht beim „honnête homme" also nicht auf abweisende Desinteressiertheit und Verschlossenheit zu stoßen, sondern kann grundsätzliche Hörbereitschaft, vorgegebene Offenheit und Anteilnahme finden. Wir hatten bei der vorausgegangenen Darstellung des „honnêteté"Ideals ausführlich gezeigt und brauchen darum hier nur kurz zu wiederholen, wie der Blick des „honnête homme" nahezu ausschließlich auf den Bereich des Menschlich-Mitmenschlichen gerichtet ist. Alle Wesenszüge des ,,honnêteté"-Ideals finden in diesem primären Interesse ihre einigende Mitte. Pascal bekennt von sich selbst, daß sein Eintritt in den Kreis der „honnêtes gens" gleichbedeutend war mit der Abwendung von den „sciences abstraites", den mathematisch-physikalischen Arbeiten, und mit der Hinwendung zum „Studium des Menschen". Von allen Wissenschaften ist es allein die vom Menschen handelnde „philosophie morale", die die „honnêtes gens in besonderem Maße betrifft", schreibt SaintEvremont und zeigt dies dadurch, daß er sein gesamtes Schrifttum — für Montaigne, La Rochefoucauld und La Bruyère gilt dasselbe — um die Frage nach dem Menschen kreisen läßt 5 . In gleich starkem Maße ist auch die biblische Botschaft von der Frage nach dem Menschen bestimmt. Sie ist in ihrem Zentrum für Pascal nichts anderes als die Botschaft vom Kommen des „wahren Gottes der Menschen"*, die nicht primär von Gott, sondern vom Menschen spricht, von seinem vergangenen „Schöpfungs- oder Gnadenstand", seinem gegenwärtigen „Zustand des Gefallenseins" und seiner zukünftigen „Erlösung" und nur so von Gott redet 7 . Wenn Pascal immer und immer wieder betont, daß Gotteserkenntnis uns nur in Jesus Christus möglich ist, dann bedeutet dies für ihn, daß wir allein auf dem Wege über die durch Jesus Christus vermittelte Erkenntnis unserer selbst zum Glauben kommen; denn die Botschaft Jesu Christi hören heißt, eine Botschaft über den Menschen hören: „Nichts 93
anderes hat Jesus Christus die Menschen gelehrt, als das, daß sie sich selber liebten, daß sie Sklaven, Blinde, Kranke, Unglückliche und Sünder wären, so daß es notwendig wäre, daß er sie befreie, erleuchte, selig spräche und heile." 8 Die Botschaft vom Menschen, seiner „Verderbtheit" und seiner „Erlösung" steht für Pascal so sehr im Mittelpunkt der christlichen Offenbarung, daß er nahezu den gesamten Inhalt des christlichen Glaubensbekenntnisses in diese Botschaft zusammendrängen kann. „Der christliche Glaube will fast nur diese beiden Dinge feststellen: die Verderbtheit der menschlichen Natur und die Erlösung durch Jesus Christus", kann er in Fr. 194 sagen, und in Fr. 556 leitet er die Darstellung dieser „beiden Wahrheiten" mit dem exklusiv zu verstehenden Satz ein: „Die christliche Religion besteht in zwei Punkten", und an einer späteren Stelle desselben Fragments fügt er dieser Darstellung nochmals hinzu: „Darin besteht sie (sc. die christliche Religion)." Nun ist die Frage nach dem Menschen immer nur in bestimmter geschichtlicher Geformtheit wirklich. Die besondere Form, in der der „honnête homme" von dieser Frage bewegt wird, begegnet, wie ein Rückblick auf unsere Darstellung des ,,honnêteté"-Ideals zeigt, in der, mit der moralistischen Anthropologie jener Zeit identischen Menschenkunde der „honnête gens" und in dem, für den „honnête homme" charakteristischen Streben nach glücklich machender, geselliger „honnêteté". Wenn Pascal also in der Frage nach dem Menschen den „rapport" zwischen „honnête homme" und biblischer Botschaft sieht, so meint er damit nicht schlechthin die Frage nach dem Menschen, sondern ausschließlich diese besondere, dem „honnête homme" eigene Form der Frage. Wie sehr dies der Fall ist, vermag in vollem Umfange erst im folgenden Teil unserer Arbeit, der sich mit der „Anwendung" dieses „rapport" beschäftigen wird, gezeigt werden. Soviel aber kann bereits hier gesagt werden, daß Pascal, wenn er in den einzelnen Teilen seiner Apologie immer wieder die Frage nach dem Menschen stellt, dabei streng innerhalb der besonderen Grenzen bleibt, in denen sein Hörer diese Frage zu stellen und zu beantworten gewohnt ist. Das bedeutet — wir weisen zurück auf unsere Darstellung des „honnête homme" — erstens, daß er mit seinem Hörer nie more geometrico, rein gedanklich-abstrakt oder spekulativ über das allgemeine, gleichbleibende Sein des Menschen, sondern über den konkreten, in seinem Verhalten und seinen Handlungen empirisch sichtbaren Menschen spricht; es bedeutet des weiteren, daß er — in Übernahme des Ertrages moralistischer Menschenbeobachtung — besonders die menschliche Niedrigkeit, Schwäche und Unzulänglichkeit erörtert, dazu — drittens — das Phänomen der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Menschen und schließlich das im Menschen lebende Suchen nach Lebenserfüllung in den Blick nimmt, das die mora94
listische Menschenbeobachtung zwar wahrgenommen hat, das sich aber noch deutlicher in der Haltung des „honnête homme" ausspricht, in seinem Streben nach der von „honnêteté" bestimmten Geselligkeit, die den „ennui" überwindet und das „Glück" angenehmen Miteinanders schafft. Es stellt sich hier die Frage, ob diesem, zwischen Pascals konkret-geschichtlichem Hörer und der christlichen Offenbarung waltenden „rapport" lediglich temporäre oder darüber hinaus bleibendere Geltung beigemessen werden muß. Die Meinung Pascals kann u. E. nicht im Sinne eines Entweder-oder wiedergegeben werden. Zwar gilt, daß es Pascal entsprechend der spezialisierten Adressierung seiner Apologie nicht um den „rapport" zwischen biblischer Botschaft und ungläubigem Menschen schlechthin geht, sondern um den „rapport" zwischen „honnête homme" und Botschaft der Bibel. Die Frage nach Erkenntnis und Existenz des Menschen, die die Funktion des „rapport" hat, erscheint deshalb bei Pascal ausschließlich in der besonderen, geschichtlich bedingten Form, in der der „honnête homme" sie zu stellen und zu beantworten gewohnt ist. Dennoch aber ist erkennbar, wie für Pascal die Frage nach dem Menschen mehr als ein rein zufälliger, allein durch den besonderen Charakter des „honnête homme" bedingter „rapport" zur christlichen Offenbarung ist. Dies erweist sich einmal aus Pascals Menschenverständnis, nach dem, sofern der Mensch wesenhaft im Daseinsinteresse lebt, jeder Mensch von dieser Frage bewegt wird. Zum anderen ergibt sich dies aus der christlichen Offenbarung, sofern — wir haben es bereits mit Pascals eigenen Worten dargelegt — die Frage nach Wesen und Existenz des Menschen nicht nur einen Sektor ihres Gesamtbereiches einnimmt, sondern ihr Zentrum ausmacht und sie in ihrer Ganzheit bestimmt. Mag also der „rapport" in seiner besonderen Gestalt, wie er von Pascal zwischen „honnête homme" und biblischer Botschaft herausgearbeitet wird und die Bahn seiner apologetischen Verkündigung de facto bestimmt, lediglich temporäre Bedeutung haben, so gilt doch, daß dieser „rapport" in seiner wesentlichen Form, nämlich als Frage nach dem Menschen, zwischen jedem Ungläubigen und der biblischen Botschaft existiert, ja, daß — von der Botschaft der Bibel her gesehen — dieser „rapport" sogar als der einzig angemessene, der einzig legitime angesprochen werden muß; denn wenn es der christlichen Offenbarung wesentlich um den Menschen geht, „allein" um seine „Verderbtheit" und „Erlösung", wie Pascal sagen kann, dann hat jede Verkündigung, vorausgesetzt, daß ihr daran liegt, ihren Hörer auf dem Wege über einen Gleichheitsbezug der Offenbarung entgegenzuführen, dort anzusetzen, wo dieser Hörer auf seine Weise von der Frage nach dem Menschen, von der Frage nach sich selbst bewegt wird. 95
b) Die anthropologische Konzentration der apologetischen Verkündigung Pascals Der erkannte „rapport" ist bestimmend für den Gesamtcharakter der Pascalschen Apologie. „Er wollte nichts sagen, das nicht allen, für die sie (sc. die Beweise der Religion) bestimmt waren, verständlich gewesen wäre, und an dem der Mensch nicht mit Interesse teilgenommen hätte", so umschreibt Mme Périer den methodischen Grundsatz, unter dem die apologetische Verkündigung ihres Bruders steht 9 . Pascal selbst sagt in Fr. 242: „Ich bewundere die Kühnheit, mit der diese Leute (Pascal spricht von den ihm bekannten Apologeten) es unternahmen, von Gott zu sprechen. Sie beginnen damit, wenn sie zu den Ungläubigen reden, die Gottheit durch die Werke der Natur zu beweisen . . . ; das bedeutet, daß man ihnen (sc. den Ungläubigen) ein Recht gibt zu glauben, die Beweise unserer Religion seien äußerst schwach, und ich weiß aus Überlegung und Erfahrung, daß nichts geeigneter ist, Verachtung zu wecken." Pascal meint, seiner Apologie einen völlig anderen Charakter geben zu müssen, wenn sie seine Hörer erreichen soll. Er wird — entsprechend dem erkannten „rapport" — den „honnête homme" zur Annahme der christlichen Botschaft zu führen versuchen, indem er mit ihm vornehmlich über den Menschen statt von Gott redet. In dem von intensiver Bearbeitung zeugenden kleinen Fr. 187, das mit größter Wahrscheinlichkeit als eines der allerersten Fragmente angesehen werden muß, die uns über Einteilung und Anordnung der Apologie Auskunft geben, schreibt Pascal: „Die Menschen verachten die Religion, sie hassen sie und fürchten, daß sie wahr sei." Von da her stellt er die methodische Forderung auf: „Um sie davon zu heilen, muß man zunächst zeigen, daß die Religion der Vernunft nicht widerspricht", und fügt, da es ihm ja gerade nicht um den rationalen Beweis der Vernünftigkeit der christlichen Dogmen geht, sogleich erläuternd hinzu: „Verehrungswürdig, ihr Achtung verschaffen." Das Fragment fährt dann fort: „Sie alsdann liebenswert machen, die Guten wünschen lassen, daß sie wahr sei; und dann zeigen, daß sie wahr ist." Es zeichnen sich also im Aufbau der Pascalschen Apologie deutlich zwei Teile ab, die vor dem Wahrheitserweis der christlichen Religion im üblichen Sinne („ . . . zeigen, daß sie wahr ist"), also vor dem eigentlichen Thema der traditionellen Apologien liegen. Pascal stellt diese beiden Teile am Schluß des Fragmentes noch einmal klar heraus: „Verehrungswürdig, weil sie den Menschen so gut gekannt hat. Liebenswert, weil sie das wahre Gut verheißt." Es ist also in diesem — wahrscheinlich überaus frühen — Fragment bereits deutlich, daß Pascals Apologie darin entscheidend von der Bahn traditioneller Apologetik abweicht, daß sie — in weiten Stücken zu96
mindest — primär vom Menschen statt von Gott redet, daß sie nicht im „Theologischen", sondern im „Anthropologischen" ihren thematischen Mittelpunkt hat. Etwas wie ein abschließendes Ergebnis der den „ordre", den Aufbau seiner Apologie betreffenden Erwägungen gibt Pascal in Fr. 60. Ohne Streichungen, Hinzufügungen und Korrekturen, wie das frühe Fr. 187 sie noch aufweist, gibt Pascal hier den endgültigen Entwurf seiner Apologie an: Erster Teil: Elend des Menschen ohne Gott. Zweiter Teil: Glückseligkeit des Menschen mit Gott. Anders: Erster Teil : Daß unsere Natur verderbt ist. An Hand der Natur selbst. Zweiter Teil: Daß es einen Heiland gibt. An Hand der Schrift. Hier ist vollends deutlich, daß die Frage nach Erkenntnis und Existenz des Menschen, die Frage nach seinem „Elend" (misère) und seiner „Glückseligkeit" (félicité) im Mittelpunkt der Pascalschen Apologie steht. Von einem dritten Teil, der das Anliegen der traditionellen Apologetik aufgenommen hätte und der in Fr. 187 noch erwähnt wird, ist hier bezeichnenderweise nicht mehr die Rede. Freilich besteht die Tatsache, daß der Gesamtbestand der „Pensées" eine sehr große Anzahl von Fragmenten umfaßt, die nur in einer Apologie traditionelleren Charakters Platz gefunden hätten. Trotz des Vorhandenseins solcher „Pensées"Fragmente kann jedoch nicht als sicher und selbstverständlich angenommen werden, daß Pascal bei seinem Vorbehalt gegenüber der traditionellen Apologetik und seiner wachsenden Abneigung gegen alle Versuche, den christlichen Glauben rational zu beweisen, an die Aussagen der „Schrift", mit denen nach Fr. 60 die Apologie schließt, noch einen weiteren Teil mit „Beweisen" für die Wahrheit der Religion angefügt hätte. Freilich ist dies eine Frage, die, sofern sie überhaupt entscheidbar ist, hier nicht entschieden werden soll und audi nicht entschieden zu werden braucht. Indem Pascal das übliche „Reden von Gott" und „Beweisen Gottes" als für den „Ungläubigen", den von ihm anvisierten Adressaten, ungeeignet verwirft, vollzieht er also eine kraftvolle Konzentration seiner Apologie auf Aussagen über den in der „misère" lebenden und nach der „félicité" suchenden Menschen. Wie kraftvoll und konsequent durchgeführt diese Konzentration auf den Menschen ist, zeigt sich nicht nur an den bereits zitierten Angaben, die Pascal selbst über den Aufbau, den „ordre" seiner Apologie macht, oder an den positiven Aussagen seiner „Pensées"; es zeigt sich in eindringlicher Weise auch dann, wenn man bedenkt, welche Inhalte des kirchlichen Dogmas von Pascal nicht oder nur ganz am Rande erwähnt werden. Das gilt etwa von den Fragen der 7 7902 Meyer, Pascal
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Existenz Gottes, der Vorsehung, der Schöpfung, der Immaterialität der Seele und ähnlichen Fragen, die in den zeitgenössischen Apologien ausführlich behandelt werden, wie ein Blick in ihre Inhaltsangaben bereits zur Genüge verdeutlicht 10 . Ja, selbst von dem, was die „Pensées" noch an traditionell-apologetischem G u t enthalten, muß aus den erwähnten Gründen fraglich erscheinen, ob es in der fertigen Apologie überhaupt Aufnahme gefunden hätte. Es mag vielleicht so scheinen, als bedeute die von Pascal vollzogene anthropologische Konzentration seiner apologetischen Verkündigung weniger eine Konzentration als eine Vereinseitigung und Restriktion der christlichen Botschaft, als sei darum Pascal im Ansatz bereits der jeglicher Form von Akkommodation drohenden Gefahr erlegen und habe die christliche Botschaft um der Akkommodation willen verkürzt und verfälscht. Mag man nun einer Darstellung der Theologie als Anthropologie verneinend oder bejahend gegenüberstehen, Pascals Überzeugung geht ohne Zweifel dahin, daß in seiner vom Menschen ausgehenden Verkündigung keine verfälschende Restriktion vorliege. Denn die anthropologische Konzentration seiner Apologie gründet für ihn ja nicht ausschließlich in der „Kunst zu überzeugen", sondern findet zugleich ihren Rechtsgrund im Wesen der biblischen Botschaft selbst, sofern diese — nach seiner festen Uberzeugung — ihren Mittelpunkt nirgendwo anders als in der Frage nach Erkenntnis und Existenz des Menschen hat. Wir hatten am Ende unserer Darlegung der „Kunst zu überzeugen" darauf hingewiesen, daß Pascal bei allem Bemühen um den Hörer doch nie die strenge Sachbezogenheit seines Redens preisgibt. „Gefallen und Wirklichkeit sind nötig; aber jenes Gefallende muß selbst der Wahrheit entstammen", so hatte Pascal in Fr. 25 diesen doppelten Grundsatz seiner „Beredsamkeit" formuliert. Indem er die anthropologische Konzentration seiner apologetischen Verkündigung vollzog, meinte er, diesem Grundsatz zu entsprechen und gleichzeitig dem Hörer wie der Sache, dem „honnête homme" wie der christlichen Offenbarung gerecht zu werden. 3. D i e A n w e n d u n g d e r d r i t t e n G r u n d r e g e l d e r „ K u n s t zu ü b e r z e u g e n " (Die „Anwendung" des „rapport") In Fr. 62 ist uns eine kurze methodische Vorüberlegung — gewissermaßen eine Selbstanweisung Pascals — zu einem „Vorwort des ersten Teils" seiner Apologie erhalten, also jenes Teils, der — nach Fr. 60 — das „Elend", die „Niedrigkeit (misère) des Menschen" oder die „verderbte N a t u r " zum Gegenstand haben sollte. Pascal schreibt dort: „Von 98
denen reden, die die Erkenntnis ihrer selbst behandelt haben; die Einteilungen Charrons, die trübsinnig machen und langweilen; von der Verwirrung Montaignes, der den Nachteil einer (geradlinigen) Methode wohl gespürt hat, und den er dadurch vermied, daß er von Thema zu Thema sprang . . . " Wenn man diese Aussage ergänzt durch den Anfang von Fr. 373, wo es heißt: „Ohne Anordnung, aber nicht in einem planlosen Durcheinander werde ich meine Gedanken hier niederschreiben . . s o zeigt sich, daß Pascal eine starre, streng systematisch-progressive Gedankenführung 1 wie auch ein freies, an keine Ordnung und kein Ziel gebundenes Schweifen der Gedanken als für seinen apologetischen Plan ungeeignet verwirft. Er entscheidet sich dagegen für eine Vielzahl kleinerer, in sich abgeschlossener Stücke, die jeweils um einen Gedanken kreisen, ihn zwanglos entfalten und ausführen, die aber dodi nicht völlig isoliert nebeneinander stehen, sondern gemeinsam auf ein und denselben Zielgedanken bezogen sind. „Diese Ordnung — so sagt er in Fr. 283 — besteht hauptsächlich in der ausführlichen Darlegung jedes Punktes, der in Bezug zum Endziel steht, um es immer vor Augen zu stellen." 2 Pascal spricht von diesen, in sich selbständigen und doch in einem gemeinsamen Ziel verbundenen Einzelstücken, aus denen sich die Apologie zusammensetzen sollte, als von „Briefen" und „Dialogen" oder — wenn auch seltener — als von „Vorträgen" und „Kapiteln". Er bezeichnet sie zum Teil thematisch nach ihrem Inhalt. So kann er von einem „Brief, der dazu führt, daß man Gott suche" (Fr. 184), einem „Brief zur Ermahnung eines Freundes" (Fr. 247), einem „Brief über die Torheit der menschlichen Wissenschaft und der Philosophie" (Fr. 74) oder einem „Brief über die Ungerechtigkeit" (Fr. 291) reden. Daß Pascal eine solche Anordnung seiner apologetischen Fragmente nicht nur geplant, sondern auch bereits weitgehend ins Werk gesetzt hat, haben die neueren Forschungen Lafumas ergeben. Es ist durch sie bewiesen, daß Pascal seine „Gedanken" zur Apologie unter bestimmten Einzelthemen schrieb, sammelte, ordnete und laufend ergänzte. Die erste handschriftliche Kopie der „Pensées", eine Bestandsaufnahme der unmittelbar nach dem Tode Pascals gefundenen Notizen, „so wie sie waren" 3 , gibt sehr genau diese verschiedenen „Kapitel" wieder und bringt auch die dazu gehörigen Themen. Wenn wir diese von der Kopie angegebenen Titel und Themen der verschiedenen Gedankenkreise 4 ergänzen durch weitere Hinweise aus den Fragmenten selbst, so ergeben sich für den ersten Teil der Apologie etwa folgende Einzelthemen: „Eitelkeit" (vanité) „Niedrigkeit" (misère) (Hier würden in der fertigen Apologie auch der „Brief über die Ungerechtigkeit" und das „Kapitel über die Täuschungsmächte" ihren Platz gefunden haben.) 7·
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„Überdruß" (ennui) „Ursachen der Wirkungen" (raisons des effets) „Größe" (grandeur) „Widerspriichlichkeiten" (contrariétés) „Zerstreuung" (divertissement) „Philosophen" (Hierher gehört der „Brief über die Torheit der menschlichen Wissenschaft und Philosophie".) „Das höchste Gut" (le souverain bien) Wenngleich die gegenseitige Abgrenzung der einzelnen Themen und der unter diesen Themen von Pascal zusammengefaßten Fragmente nicht immer klar vollzogen werden kann, es vielmehr zu offensichtlichen Uberschneidungen und Wiederholungen kommt 5 , so gilt doch, daß sämtliche Themen in sich geschlossene Gedankenkreise umfassen. Zugleich aber sind alle diese Gedankenkreise dadurch miteinander verbunden, daß sie zusammen einen großen Gedankenkreis bilden, in dessen Mittelpunkt die Frage nach dem Menschen steht, genauer — auch wo dies aus der Formulierung der einzelnen Themen nicht ohne weiteres hervorzugehen scheint wie etwa bei den Themen „Größe" oder „Das höchste Gut" —: die Frage nach der Niedrigkeit und Widersprüchlichkeit des empirischen Menschen in seiner Gestalt und seinem Streben. Damit vollzieht Pascal in jedem dieser apologetischen Einzelstücke die Anwendung der dritten Grundregel seiner „Kunst zu überzeugen", die Hinführung des „honnête homme" zur christlichen Botschaft auf dem Wege über den zuvor erkannten „rapport". Welche genauere Form, welche Bewegungsstruktur zeigt nun diese Hinführung, diese „Anwendung" des „rapport"? a) Die „Anwendung" des „rapport" als Akzeptation und Widerspruch oder als Radikalisierung eines Übernommenen Wenn Pascal in den Einzelstüdken seiner Apologie immer neu ansetzend das Motiv menschlicher Niedrigkeit und Selbstwidersprüchlichkeit ausführt, so tut er das, indem er den Ertrag moralistischer Menschenkunde übernimmt. Das zeigt sich bereits äußerlich an den Formulierungen der verschiedenen Themen: sie entstammen fast sämtlich der spezifischen BegrifFlichkeit der Moralisten und „honnêtes gens". Ebenso lassen sich auch zum Inhalt der einzelnen Gedankenkreise eine Fülle von Aussagen aus dem Schrifttum Montaignes, Mérés, La Rochefoucaulds, La Bruyères und Saint-Evremonts beibringen. Weite Strecken der „Pensées" scheinen beispielsweise nichts als Wiederholungen oder Neuformulierungen Montaigneschen Gedankengutes zu sein, abgewandelte und erweiterte Zitate aus den „Essais", wie die Fülle der Anmerkungen in den Ausgaben von Brunschvicg und Lafuma, die in ihrer Zahl leicht noch 100
vermehrt werden könnten, beweisen. So kann es dahin kommen, daß etwa Brunschvicg sagt, der erste Teil der Apologie sei nichts anderes als die Darstellung des Menschen „durch Montaigne" e , und daß Charles Nodier die These vom „Pascal plagiaire", vom Plagiator Pascal, aufstellt 7. Daß in der Pascal-Forschung eine solche Bestreitung der Originalität der „Pensées" möglich war, zeigt, wie nachdrücklich und mit welchem Ernst Pascal in seiner apologetischen Verkündigung seinen Ausgangspunkt beim Adressaten nimmt. Es ist keine oberflächliche, lockere „Anknüpfung" an das Denken und die Vorstellung des Adressaten, der wir hier begegnen, sondern eine tiefgreifende und umfassende Akzeptation des Anderen. Und doch zeichnet sich in allen apologetischen Einzelstücken eine klare „Wendung" ab, in der Pascal die Einstimmung zur Abwendung, das J a zum Nein, die Akzeptation zum Widerspruch werden läßt. Diese Wendung ist in der Regel nicht an einem bestimmten Punkte der einzelnen apologetischen Stücke lokalisierbar. Zwar kann sie an gewissen Punkten besonders klar hervortreten, grundsätzlich jedoch vollzieht sie sich als dauerndes, ständig neu ansetzendes Wenden. Auch hat diese Wendung in der Regel nicht die Form des Widerspruches, die Form des Nein. Ebensowenig wie die Akzeptation geschieht der Widerspruch expressis verbis. Wenn er dennoch an einigen wenigen Stellen formal in Erscheinung tritt, so muß dies als Ausnahme betrachtet werden, als Selbstanweisung Pascals für seine apologetische Arbeit oder als Zeichen dafür, daß hier die endgültige Durchführung und Formulierung noch aussteht. Es ist ja nach allem, was wir bisher gesehen haben, wohl klar, daß die über der gesamten „Kunst zu überzeugen" stehende Absicht Pascals dahin geht, den Hörer hilfreich durch die Wendung hindurchzuführen, statt ihm den Widerspruch entgegenzuschleudern. Nicht mit „Gewalt" und „Drohungen", sondern mit „Milde" führe Gott den Menschen zum Glauben, sagt Pascal. Das bedeutet für ihn selbst, daß audi seine Verkündigung unter der Forderung der „Milde" zu stehen habe 8 . Pascal versucht darum bei seiner Verkündigung stets, im Bereich des „Angenehmen", „Gefallenden" (agréable), das heißt hier, im Bereich des dem Hörer schon Bekannten und Vertrauten anzusetzen. Daß Pascal mit einem solchen Ansatz der Verkündigung „das Andere" der christlichen Botschaft und damit den im Worte Gottes stets enthaltenen Widerspruch gegen den natürlichen Menschen abschwäche oder gar aufhebe, trifft nicht zu. Der Verfasser der Provinzialbriefe ist auch in seiner Apologie nie bereit, die Wahrheit des Christentums um des natürlichen Menschen willen zu schmälern, und das um so weniger, als seine „Kunst zu überzeugen" als solche bereits unter jener Grundforderung steht: „Gefallen und Wirklichkeit sind nötig; aber jenes Gefallende muß selber der Wahrheit entstammen." 101
Wenn also in den apologetischen Einzelstücken eine dauernde Wendung von der Akzeptation zum Widerspruch geschieht, dieser Widerspruch jedodi nicht die Form des Widerspruches hat, wie erscheint er dann? Er erscheint als Radikalisierung des Übernommenen und erfolgt — aufs Ganze der „Pensées" gesehen — in zwei aufeinander folgenden und aufeinander bezogenen Phasen: zunächst als geradlinige Vertiefung der vom „honnête homme" erkannten „Schwachheit" und „Ohnmacht" des Menschen, sodann als dialektische Verschärfung der vom „honnête homme" gleichfalls gesehenen menschlichen Selbstwidersprüchlichkeit und Fragwürdigkeit. b) Die lineare Vertiefung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis (Die menschliche „Schwäche" und „Ohnmacht") Wir haben bei der Darstellung des „honnête homme" gezeigt, wie dieser einen ausgeprägten Blick für die Unzulänglichkeit und Schwäche des Menschen besitzt. Fileau de la Chaise, ein Jansenist und Zeitgenosse Pascals, schreibt von den „honnêtes gens", sie haben die „Verderbtheit" und die „Niedrigkeit" des Menschen, die „Schwäche des Geistes" erkannt und — „irgendwie" (en quelque façon) — ihre „Verlorenheit" empfunden®. Pascal selbst kann von Miton, dem großen „honnête homme", sagen: „Miton sieht wohl, daß die Natur (sc. des Menschen) verderbt und die Menschen im Gegensatz zur ,honnêteté' stehen . . . " 1 0 Es ist jedoch nun zu beobachten, wie der „honnête homme", den seine Menschenkunde zu solchem Ergebnis führt, in seiner Haltung der Tiefe und bedrängenden Radikalität seiner Erkenntnis nicht nur nicht entspricht, sondern sie sogar wieder verdeckt und abschwächt. Es ist, als nehme er sein vorangetriebenes Wissen um die menschliche Niedrigkeit nicht wirklich ernst, als weiche er ihm aus und hebe das Theoretische praktisch wieder auf. Diese befremdliche Rücknahme und Aufhebung seiner Erkenntnis begegnet uns — aufs Ganze gesehen — in zwei Erscheinungsformen. Sie kann einmal dadurch geschehen, daß der „honnête homme" seine Menschenbeobachtung ganz bestimmt sein läßt durch eine an der Fülle menschlicher Rätsel und Antinomien sich erfreuenden „curiositas" Das „Pathos dieser Menschenkunde" sei, so sagt Friedrich von der Anthropologie Montaignes, „eine helle, freudige Überraschungs- und Entdekkerlust" 12 . Die mannigfaltigen Äußerungen menschlicher Schwäche und Verworrenheit rufen in ihm keine Unruhe und Klage hervor. Sie bedeuten ihm nicht mehr als interessante Phänomene. Er fragt nicht nach ihren tieferliegenden Ursachen, sondern begnügt sich mit ihrer bloßen Faktizität. Ihn interessieren, wie Montaigne in einem Wortspiel sagt, die 102
„Sachen", nicht die „Ursachen" 13 . Wie scharf auch immer er die menschliche Unvollkommenheit beobachtet und beschreibt, er enthält sich doch eines letzten Werturteiles und verzichtet auf den Versuch, sie zu überwinden. „Die Menschen sind nun einmal so," 14 „es gibt kein Heilmittel" 15 , heißt es ähnlich immer wieder in Montaignes Niedrigkeitsaussagen. Dasselbe Verharren bei der wertindifferenten Faktizität menschlicher Niedrigkeit kennzeichnet auch die Menschenkunde La Rochefoucaulds und La Bruyères. „Ereifern wir uns dodi ja nicht gegen die Menschen angesichts ihrer Härte, ihrer Undankbarkeit, ihrer Ungerechtigkeit, ihres Stolzes, ihrer Selbstliebe, ihrer Rücksichtslosigkeit : sie sind nun einmal so geschaffen, es ist ihr Wesen; es wäre, als könnten wir nicht ertragen, daß der Stein zu Boden fällt oder die Flamme emporsteigt." 19 Deutlich ist hier die bereits beschriebene, für den „honnête homme" so überaus charakteristische Grundhaltung der „Lässigkeit" wiederzuerkennen, die „gleichgültige Art" (molle façon), wie Montaigne sagt 17 , oder — mit Mere — die „liebenswürdige, lässige und würdevolle Art, die nur sehr wenig geschäftig ist" 18 , jene Haltung unbedrückter Lässigkeit und heiteren Gleichmuts, die alles leidenschaftliche Suchen und Fragen von sich weist. Eine Art Fortführung dieser Entschärfung aller Niedrigkeitsaussagen bildet die paradoxe Umkehrung der Erniedrigung in die Bejahung, wie sie uns am klarsten bei Montaigne begegnet. Auf der Basis der „négligence", die sich mit der wertindifferenten Faktizität aller Niedrigkeitserscheinungen begnügt, kommt es zu einer Wendung, in der das, was vorher im Zeichen der Niedrigkeit stand, ausdrücklich positive Deutung erfährt. Des Menschen Unzulänglichkeiten, Schwächen und Schattenseiten erscheinen jetzt als Zeichen unerschöpflicher Wesensfülle. Alles Niedrige kann verstanden werden als Teil des bewunderten Reichtums menschlicher Erscheinungen, das um der vollen Menschlichkeit willen nicht überwunden, sondern bewahrt werden muß. Diese Umwertung kann aber noch schärfer hervortreten: die urteilsstörenden Affekte, der rechtswidrige Ursprung der positiven Rechtsordnungen, die Täuschungskraft der Gewohnheit werden nicht mehr auf dem Umwege über den Gedanken von der menschlichen Wesensfülle, sondern direkt zu Positiva erhoben. Die Affekte erscheinen als „notwendige Triebkräfte" 19 , die Gewohnheit als „ordnungsformende Kraft" 2 0 , der rechtswidrige Ursprung des Rechts als notwendige Voraussetzung für das Vorhandensein und den Bestand von Recht überhaupt 21 . In allem steigert sich die Hinnahme der bloßen Faktizität zur ausdrücklich bejahenden Deutung des Faktischen. Im Blick auf Staat und Gesellschaftsordnung bringt Montaigne diese paradoxe Umkehrung einmal folgendermaßen zum Ausdruck: „Wo alles im Fallen ist, fällt von Natur aus nichts. Die Krankheit des Ganzen ist die Gesundheit des einzelnen. Die Gleichförmigkeit ist die Feindin 103
der Auflösung. Was mich betrifft, so gerate ich nicht in Verzweiflung, sondern meine, dort Wege zu sehen, die zu unserer Rettung führen." 2 2 Friedrich, der diese Umkehrung der Erniedrigung in Bejahung als Montaignes „Lieblingsparadoxie" bezeichnet 23 , schreibt, die „vorgenommene Erniedrigung" sei „nur eine Blicköffnung", „das Vorspiel einer Bejahung, die dem erniedrigten Menschen sagt: sei was du bist, sei es ganz, erkenne dich und vertraue der Natur, die dich so geschaffen hat, wie du bist" 2 4 . Eine andere Form, in der die Zurückdrängung der Niedrigkeitserkenntnis sich vollzieht, liegt vor in der Ausbildung des ,,honnêteté"-Gedankens und des durch ihn geprägten Miteinanderlebens der „honnête gens", des „freundlichen geselligen Umgangs" 2 5 . Deutlich geht es dabei um Schaffung eines aus dem Bereich menschlicher Niedrigkeit und menschlichen Elends ausgegrenzten Raumes. Es kann zwar heißen, die „honnêteté", die „Quintessenz aller Tugenden" 2 β , sei etwas so Großes und Hohes, daß sie wie eine nie ganz zu erreichende „reine Idee" anmute 27 . Indessen besteht doch kein Zweifel darüber, daß in der „kleinen Zahl" der „honnêtes gens" 2 8 der Selbstanspruch lebt, eine von der gewöhnlichen Niedrigkeit klar abgehobene Höhenlage menschlicher Existenz erreicht zu haben. Indem es jedem einzelnen darum geht, dem Anderen zu gefallen, ihn zu zerstreuen, ihm das Leben angenehm und ihn glücklich zu machen, ist die menschliche Selbstsucht überwunden, der „Überdruß" beseitigt und das Lebensglück, der „bonheur", verwirklicht. Die Niedrigkeitsaussagen werden vom „honnête homme", der ja „honnête" und in der Gesellschaft seinesgleichen auch „heureux", glücklich ist, abgezogen und auf die „Anderen", die „Toren" (sots), wie sie bezeichnet werden, konzentriert 29 . Das mag in der Méréschen Darstellung der „honnêteté" vielleicht einen recht naiven Ausdruck finden, gilt aber grundsätzlich auch von Montaigne, La Rochefoucauld, L a Bruyère und Saint-Evremont, die alle, wie wir gesehen haben, diesem Ideal verpflichtet sind. Wenn es beispielsweise bei L a Rochefoucauld heißt, derjenige sei wirklich „honnête homme", der seine Fehler und Schwächen erkenne und vor den Anderen eingestehe 80 , so wird gerade in diesem Hinweis auf die auch den „honnête homme" umschließende Realität menschlicher Niedrigkeit zugleich eine besondere Größe des „honnête homme" behauptet. Auch hier verliert also die Niedrigkeitserkenntnis ihre bedrängende Zuspitzung; denn letztlich vermag der „honnête homme" kraft der von ihm angestrebten und verwirklichten „honnêteté" sich von seiner eigenen Niedrigkeitserkenntnis nicht mehr ernsthaft betroffen zu sehen. Beide Weisen, in denen der „honnête homme" sich der eigenen Erkenntnis allgemeinmenschlicher Niedrigkeit wieder entzieht, dürfen trotz sachlicher Unterschiede und Gegensätzlichkeiten nicht so geschieden werden, daß man sie jeweils verschiedenen Typen des „honnête homme" zuspricht. Faktisch stehen sie im „honnête homme" nebeneinander, wie 104
„negligence"-Haltung und „bonheur"-Streben in ihm nebeneinander bestehen31, und haben dieses eine gemeinsam, daß hier die Niedrigkeitserkenntnis in ihrer ganzen Tiefe nicht durchgehalten, sondern abgeriegelt, verflacht, in ihrer selbstbedrängenden Zuspitzung abgebogen wird. Hier setzt nun Pascals Widerspruch ein. Er vollzieht sich als geradlinige Vertiefung des beim „honnête homme" vorgefundenen Wissens um die Niedrigkeit menschlichen Soseins. Pascal beschreibt, indem er zunächst den Ertrag moralistischer Menschenkunde übernimmt, die empirisch-sichtbaren Niederungen unserer Menschlichkeit, etwa die Schwäche unseres Erkenntnisvermögens, das Mißverhältnis unserer geistigen und körperlichen Konstitution oder die Unzulänglichkeit unserer Rechtsordnungen. Aber in dieser Übernahme vollzieht sich zugleich der Widerspruch. In immer neuen Verschärfungen und Potenzierungen der Niedrigkeitserkenntnis hält Pascal den „honnête homme" auf dessen eigenem Erkenntniswege fest und gestattet ihm nicht, auf irgendeine Weise die von ihm selbst eingeschlagene Richtung zu verlassen. Er verwehrt es ihm, im Sich-zufrieden-geben mit der bloßen Faktizität menschlicher Schwäche, in einer paradoxen Umkehrung der Erniedrigung in Bejahung oder im Rückzug auf die Hochebene der „honnêteté" und der angenehmen Geselligkeit ein Refugium abseits dieses Weges zu beziehen. Er will, daß der „honnête homme" sein eigenes Wissen um die in der empirischkonkreten Gestalt des Menschen erscheinende vielgestaltige „Schwäche" ganz ernstnehme und dieses Wissen nicht wieder suspendiere und preisgebe. Obwohl, wie wir sagten, Pascals Widerspruch gegen das Menschenund Selbstverständnis der „honnêtes gens" in der Regel nicht formal als Widerspruch, sondern als Radikalisierung eines Übernommenen erscheint, gibt es dennoch einige kleinere Randfragmente, in denen Pascal diesen Widerspruch ausdrücklich formuliert. Bevor wir uns darum den größeren apologetischen Einzelstücken zuwenden, um an ihnen den Vollzug der Radikalisierung zu verdeutlichen, soll noch ein kurzer Hinweis auf einige dieser Randfragmente gegeben werden, weil sie das Akzeptation-Widerspruch-Verhältnis, das Pascal dem „honnête homme" gegenüber einnimmt, besonders deutlich werden lassen. In Fr. 234 schreibt Pascal: „Montaigne hat bemerkt, daß uns ein geistig Hinkender ärgert und daß die Gewohnheit alles macht, aber er hat den Grund dieser Wirkungen nicht erkannt. Alle diese Menschen haben die Wirkungen bemerkt, aber nicht die Ursachen gesehen; sie verhalten sich zu denen, die die Ursachen entdeckt haben, wie sich Menschen, die nur Augen hätten, zu Menschen verhalten würden, die Geist besitzen." Pascal billigt also Montaigne und seinesgleichen zu, daß sie die menschliche Schwäche — denn darum geht es in den „Wirkungen", von denen die Rede ist — in ihrer Faktizität richtig sehen. Indessen wirft er ihnen 105
vor, daß sie diese Schwäche nicht in ihrer ganzen Tiefe und Radikalität erfassen. Er mißbilligt — und dieser Widerspruch setzt präzise mit einem adversativen „aber" ein —, daß sie sich mit der bloßen Faktizität zufriedengeben und nicht nach den tieferliegenden Ursachen forschen. Zu diesen Ursachen der Erscheinungen aber gilt es vorzudringen, so fügt Pascal hinzu, wenn man die Erscheinungen menschlicher Niedrigkeit ganz erkennen will. „Die Sache haben sie gesehen, den Grund haben sie nicht gesehen", schreibt Pascal in einem anderen Fragment, einem Augustinzitat, und bringt damit sein Verhältnis zum „honnête homme", das Zustimmung und Widerspruch zugleich umfaßt, auf eine knappe Formel. Dasselbe Nebeneinander von Akzeptation und Widerspruch bietet Fr. 328, dem Pascal selbst die Überschrift „Fortwährender Wechsel des Für zum Wider" gegeben hat. Er folgt auch hier zunächst der Auffassung der „honnêtes gens" und zeigt, wie die „törichte" Meinung des einfachen Volkes — etwa man müsse einem König allein auf Grund seiner adligen Abstammung Ehrfurcht entgegenbringen — in Wirklichkeit eine „sehr gesunde Auffassung" ist, insofern als sie die politische Ordnung wahren hilft. Dieser Akzeptation jedoch läßt Pascal sogleich das „Aber" seines Widerspruches folgen: „Jetzt aber müssen wir diese letzte Annahme widerlegen und zeigen, daß es trotzdem wahr bleibt, daß das Volk töricht ist, obgleich seine Meinungen gesunde Meinungen sind . . . und daß . . . seine Meinungen immer sehr falsche und sehr ungesunde Meinungen sind." Wenn also die Torheit des Volkes sich faktisch auch zum Guten auswirkt, so bleibt sie dennoch Torheit und Irrtum. Sie bleibt Erscheinung menschlicher Niedrigkeit und Schwäche und darf nicht in paradoxer Umkehrung zum Positivum erhoben werden. Richtete sich der in diesen Fragmenten formulierte Widerspruch gegen die erste Form, in der der „honnête homme" seine eigene Niedrigkeitserkenntnis wieder rückgängig macht, also gegen das Verharren bei der bloßen Faktizität, das sich zur paradoxen Umkehrung der Erniedrigung in Bejahung steigern kann, so zielt ein anderes Fragment, das Fr. 455 auf die zweite Form, auf den Rückzug aus der „Niedrigkeit" in die „honnêteté". Es billigt Miton, dem „honnête homme", zunächst zu, daß er um die menschliche Selbstsucht und Verwerflichkeit weiß. Es räumt ihm überdies ein, daß im Miteinanderleben der „honnêtes gens" eine Aufhebung dieser Selbstsucht gelungen ist. Nunmehr aber setzt der Widerspruch ein. Pascal zeigt Miton, daß in seiner „honnêteté" lediglich eine vordergründige Form menschlicher Eigenliebe, die „incommodité", also die Ich-Sucht, sofern sie das menschliche Miteinander gefährdet, nicht aber die fundamentale „Ungerechtigkeit" des Menschen, sein Streben, sich zum „Mittelpunkt von allem" zu machen, beseitigt ist. Wieder erscheint diese Radikalisierung in der Form eines Adversativsatzes: „Sie heben nur die Unbequemlichkeit (incommodité) auf, aber nicht die 106
Ungerechtigkeit." Die „honnêteté" stellt darum trotz ihrer Höhenlage eher eine „Verdeckung" als eine „Aufhebung" menschlicher Selbstsucht dar, und der „honnête homme" „bleibt im Unrecht", bleibt „ungerecht" und „immer hassenswert". So formal-direkt, so klar expliziert wie in diesen wenigen Randfragmenten erscheint der Widerspruch Pascals in den größeren und gearbeiteteren apologetischen Einzelstücken freilich nicht. Dennoch ist er auch hier deutlich wahrnehmbar. An Hand dreier Zentralfragmente soll das exemplarisch gezeigt werden. Von Pascal unter dem Generalthema „Eitelkeit" oder „Nichtigkeit" (vanité) eingeordnet findet sidi das große, von intensiver Bearbeitung zeugende Fr.82 S2 . Pascal hat ihm den Titel „Einbildung" gegeben. Jedoch redet es nicht allein von der „Einbildung", sondern darüber hinaus von anderen „Täuschungskräften" 83 , die das menschliche Erkenntnisvermögen schwächen, nämlich von der „Gewohnheit" oder den „seit alters vertrauten Eindrücken" (impressions anciennes), also dem, was Pascal an anderer Stelle „Voreingenommenheit" (prévention) nennt, von den „Krankheiten" und von der „Selbstsucht" (intérêt propre). Der Zielgedanke dieses Fragmentes ist klar. Er wird von dem hinzugehörenden Fr. 83 so formuliert: „Der Mensch ist nichts als ein Wesen voll natürlicher und ohne die Gnade unauslöschlicher Unwahrheit und Unwissenheit. Nichts zeigt ihm die Wahrheit. Er vermag die Wahrheit nicht zu erfassen, (selbst) wenn sie zu ihm käme. Alles täuscht ihn." 34 Das den Ausführenden dieses Fragmentes zugrundeliegende Gedankenmaterial entstammt dem Ertrag der moralistischen Menschenkunde. „Dieses ganze Fragment ist voll von Erinnerungen an Montaigne", schreibt Brunschvicg35 und beweist es durch eine Fülle von Belegen. Es sind also Vorstellungen und Begriffe der „honnêtes gens", die Pascal hier übernimmt. Im Vollzuge dieser Übernahme aber ist zugleich eine sehr deutliche Verschärfung der übernommenen Gedanken zu erkennen. Die „Einbildung" herrscht keineswegs allein bei den „Narren", sondern gerade bei den „Klügsten", wie etwa bei dem „ehrwürdigen Ratsherren" oder dem „größten Philosophen der Welt". „Gerade unter ihnen hat die Einbildung die große Gabe, Menschen zu überzeugen." Ebenso verhält es sich mit der „Selbstsucht", dem „intérêt propre", der unsere Augen „blendet": „Es ist dem gerechtesten Manne der Welt nicht erlaubt, in eigener Sache Richter zu sein." Es mag sein, konzediert Pascal, daß die „Einbildung" nicht immer täuscht. Aber, fährt er fort, gerade darin, daß sie nicht immer täuscht, ist sie erst recht „Herrscherin des Irrtums und des Falschen"; sie ist „um so arglistiger, weil sie nicht immer trügt; denn sie würde untrügliches Kennzeichen der Wahrheit sein, wenn sie das untrügliche der Lüge wäre". 107
Nie kann man mit Gewißheit sagen, etwas sei wahr oder falsch. Keines unserer Erkenntnisvermögen, weder unsere „Vernunft" noch unsere Sinne" führen uns zu irgendwelchen festen Ergebnissen. In einer typischen Steigerung heißt es: „Nicht nur, daß die beiden Erkenntnisvermögen, die Vernunft und die Sinne, unzuverlässig sind, sie betrügen sich auch noch gegenseitig." 36 Der Mensch erfaßt die „Wahrheit" und die „Gerechtigkeit" nicht; seine Wissenschaften sind „imaginäre Wissenschaften". Das menschliche Erkenntnisvermögen versagt nicht „zufällig" hier und da3®, sondern der „Irrtum" und die „Unwissenheit" sind im strengen Sinne „nécessaires", wesenhaft unausweichlich; sie sind „natürlich und unauslöschlich" 3e . In allem versucht Pascal seinen Hörer dahin zu führen, daß er sein Niedrigkeitswissen verschärft und erkennt, wie unausweichlich der Mensch dem Irrtum verfallen ist: die Unwahrheit beherrscht ihn seinsmäßig, sie herrscht universal und absolut. Sachlich neben Fr. 82 gehört das bekannte Fr. 72, das umfangreichste und wohl am meisten durchgearbeitete aller Fragmente. Ähnlich wie in Fr. 82 geht es Pascal auch in diesem Fragment um den „Beweis unserer Schwäche", den Aufweis unserer „Erkenntnisunfähigkeit" oder, wie der Titel dieses Fragmentes besagt, um die „Ungereimtheit des Menschen" (disproportion de l'homme); und audi hier liegt wieder die umfangreiche Übernahme moralistischen Gedankengutes auf der Hand, wie die Anmerkungen Brunschvicgs und Lafumas zeigen. Zugleich aber ist auch hier die dauernde Radikalisierung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis festzustellen. Bereits im Aufbau des Fragmentes im Ganzen heben sich deutlich drei Stufen der radikalisierenden Vertiefung ab, von denen die beiden letzten sich sogar expressis verbis als Vertiefungen des „Schwädie"-Beweises zu erkennen geben. Sie beginnen mit den Worten: „Das aber, was unsere Ohnmacht, die Dinge zu begreifen, vollendet . . . " und „Um schließlich den Beweis unserer Schwäche zu vollenden . . Inhaltlich zeigt der erste Teil die „Unfähigkeit" unserer „natürlichen Erkenntnisvermögen", sofern es ihnen an „Reichweite" (portée) fehlt, den Makrokosmos wie den Mikrokosmos zu durchdringen. Mit beiden Bereichen haben wir keine „proportion", kein gemeinsames Maß. Wir sind nicht nur zu klein, um das Große zu erfassen, sondern wir sind überdies audi noch zu groß, um das Kleine zu erfassen. Gerade darin besteht die Ausweglosigkeit unserer noetischen „Unfähigkeit", daß wir nicht nichts und nicht alles sind. „In jeder Hinsicht beschränkt" sind wir „unfähig, etwas gewiß zu wissen und wirklich nichts zu wissen". Weder im Nichts nodi im All, weder in der Allwissenheit noch in der völligen Unwissenheit bietet sich uns ein fester Ort. Wir sind darum „stets unsicher und schwankend". 108
Sollte nun der Mensch nicht doch wenigstens die „Teile", mit denen er „gemeinsames Maß" hat, erkennen können? Die Antwort ist ein die „Erkenntnisunfähigkeit" vertiefendes Nein. Auch zu dieser Erkenntnis ist der Mensch „unfähig"; denn: „Die Teile der Welt stehen alle derart in Zusammenhang, sind so eines mit dem anderen verflochten, daß ich es für unmöglich halte, einen ohne den anderen und ohne alle zu verstehen." Diese in der mangelnden „Reichweite" gründende Erkenntnisunfähigkeit aber erfährt — im zweiten Teil des Fragmentes — eine weitere Vertiefung. „Das aber, was unsere Ohnmacht, die Dinge zu begreifen, vollendet, ist, daß sie selbst einfach, wir aber aus zwei wesensverschiedenen und gegensätzlichen Naturen zusammengesetzt sind, aus Körper und Seele." Weder die geistigen noch die körperlichen Dinge vermögen wir deshalb zu erkennen. Auch hier ergibt sich wie innerhalb des ersten Teils eine Steigerung: wer nun glaubt, daß wenigstens der Mensch—als „Mischung" von Körperlichem und Geistigem — sich selbst „wirklich verständlich" sei, dem wird geantwortet: „Dies ist indessen das, was wir am wenigsten verstehen. Der Mensch ist sich selbst das unlösbarste Rätsel der Welt; denn er kann nicht begreifen, was der Körper ist, und noch weniger, was der Geist ist, und am wenigsten von allem, wie ein Körper und ein Geist vereint sein können. Das ist der Gipfel aller Schwierigkeiten." Am Ende dieses Fragmentes setzt Pascal noch einmal, dieses Mal offensichtlich zur letzten Radikalisierung des „Schwäche"-Beweises an: „Nunmehr, um den Beweis unserer Schwäche zu vollenden, werde ich mit folgenden zwei Überlegungen schließen . .." Aber er bricht ab. Wir wissen nicht, welches diese „beiden Überlegungen" gewesen wären. Wir wissen aber wohl, daß sie in der Fortführung des Vorausgegangenen den sich selbst entspannenden, entschärfenden und suspendierenden Skeptizismus der „honnêtes gens" weiter vertieft, verschärft, radikalisiert hätten. Darüber hinaus aber wird in diesem Fragment bereits spürbar, wie Pascal seinen Hörer nicht nur in ein vertieftes Wissen menschlicher Unzulänglichkeit und Ohnmacht, sondern zugleich in eine diesem Wissen entsprechende Lebenshaltung führen will. Der den Menschen als „schwach" und „ohnmächtig" Erkennende hat in dieser Erkenntnis „einen großen Anlaß zur Demut". Er sollte angesichts seiner „Ungereimtheit" (disproportion) und „Unfähigkeit" „zittern", „erschrecken", „sich entsetzen", so heißt es immer wieder. Er sollte seine „Anmaßung fahren lassen", „sich selbst" und seinen „wahren Wert" recht einschätzen und darauf verzichten, „Sicherheit" und „Festigkeit" zu suchen. Pascal will also in seinem Hörer zugleich mit der Vertiefung der Niedrigkeitserkenntnis die Wendung des theoretischen Wissens in persönliche Betroffenheit hervorrufen, die, wie es geradezu formelhaft heißen kann, „in Verwunderung sich wandelnde Wissenslust" (curiosité se changeant en admiration) S7 . 109
Zum Schluß soll noch ein kurzer Blick dem von Pascal geplanten „Brief über die Ungerechtigkeit" gelten, dem zwar kein relativ fertiges Fragment entspricht, zu dem aber doch eine Fülle kleinerer Fragmente und Notizen existieren, die sich innerhalb der von Pascal selbst versuchten Einteilung seiner Apologie im wesentlichen unter den Titeln „Niedrigkeit" und „Ursachen der Wirkungen" wiederfinden. Audi mit dem Thema „Ungerechtigkeit" nimmt Pascal, wie bereits erwähnt, ein Lieblingsthema aus der Gedankenwelt der Moralisten und „honnêtes gens" auf. Die Belege, die man dazu allein aus Montaignes „Essais" beibringen kann, sind Legion. Die Nähe der Pascalschen Ausführungen zu den Beobachtungen und Erkenntnissen der Moralisten ist in diesen Fragmenten besonders groß. Bis in Einzelheiten hinein hat er an manchen Stellen Gedanken aus den „Essais" übernommen. Aber auch hier zeichnet sich neben und in der Akzeptation deutlich die radikalisierende Weiterführung des Übernommenen ab. Der aus den verschiedenen Fragmenten sich abhebende Gedankengang ist folgender. Die wahre, in sich gleichbleibende „Gerechtigkeit" ist dem Menschen verborgen. Trotzdem gibt es überall positive Rechtsordnungen, „Gesetze", wie Pascal sagt 3 8 , die ihren Ursprung statt in der Erkenntnis der „wahren Gerechtigkeit" in der äußerlichen „Gewalt" 3 9 , der „Gewohnheit" 4 0 oder der „Einbildung" 4 1 haben und somit nicht „wesenhaft gerecht" 42 , sondern — wegen ihres rechtswidrigen Ursprungs — in Wahrheit „ungerecht" 43 sind. Dennoch sind sie um des Friedens und der Ordnung willen zu respektieren. Bei aller Achtung vor diesen bestehenden Rechtsordnungen aber gilt es — und hier beginnt Pascals radikalisierende Weiterführung der übernommenen Gedanken —, nie das Wissen um ihre fundamentale „Ungerechtigkeit" oder „Rechtswidrigkeit" (injustice) zu suspendieren oder gar preiszugeben. Nie darf es dahin kommen, daß man die „Gebräuche" und „Gesetze" als „vernünftig" oder „gerecht" anspricht. „Montaigne hat unrecht: der Brauch soll allein deswegen befolgt werden, weil er Brauch ist und nicht, weil er vernünftig oder richtig wäre." 4 4 Es bleibt trotz der praktischen Anerkennung dabei, daß das positive Recht „Ungerechtigkeit" ist, daß die Bande, die uns an die bestehenden Rechtsordnungen binden, „Stricke der Einbildung", „cordes d'imagination" sind 45 , daß, wie bereits Fr. 328 sagte, die Meinung des Volkes, die in den Gesetzen wahres Recht sieht, „immer sehr falsch und keineswegs gesund" ist. Es bleibt also dabei, daß der Mensch die wahre „Gerechtigkeit" zu erfassen nicht imstande ist. J a , gerade darin, so argumentiert Pascal weiter, daß es überhaupt möglich ist, auf der Basis der menschlichen „Gewohnheit" 4 e , „Einbildung" 4 7 , „Begierde" 4 8 , „Eitelkeit" 4 9 und „Torheit" 5 0 feste politische und juristische Ordnungen zu errichten, erweist sich, wie universal und tiefverwurzelt die menschliche Schwäche ist. „Die Grundlage des Mächtig110
sten und Wichtigsten auf Erden ist die Schwäche, und dieses Fundament ist bewunderungswürdig sicher; denn es gibt nichts, das sicherer wäre, als daß das Volk schwach bleiben wird." 51 Nichts vermag also stärker die unaufhebbare „Verwirrung" und die unüberwindbare „Schwäche" der Menschen zu beweisen, als daß bei ihnen das „Vernunftloseste der Welt" (les choses du monde les plus déraisonnables) das „Vernünftigste" wird52. So enden also audi hier die Ausführungen Pascals in dem gesteigerten, verschärften, radikalisierten Aufweis menschlicher Schwäche, der es dem „honnête homme" verwehren soll, seine eigene Niedrigkeitserkenntnis in irgendwelcher Form wieder rückgängig zu machen und preiszugeben. c) Die dialektische Vertiefung der übernommenen (Die menschliche „Niedrigkeit" (misère) und ( incomprêhensibilité )
Niedrigkeitserkenntnis „Unbegreiflichkeit"
Der ersten Phase der Radikalisierung des beim „honnête homme" vorgefundenen Menschen- und Selbstverständnisses folgt eine zweite, weiterführende Phase. Denn es geht Pascal, wie in Fr. 72 bereits spürbar geworden ist, um wesentlich mehr als um scharfsichtige Erkenntnis des Faktums menschlicher Schwäche und Gebrechlichkeit. Auch bei der klarsten und illusionslosesten Schau menschlicher Niedrigkeit kann dennoch die Gesinnung der Faktizität, die „négligence" mit ihrem „die Menschen sind nun einmal so", „es ist ihre Natur" das letzte Wort haben. Im Widerspruch gegen diese Haltung läßt Pascal nunmehr seine geradlinige Radikalisierung der Niedrigkeitserkenntnis in eine dialektische Vertiefung übergehen: indem er die faktische Niedrigkeit als verlorene Größe, die „gegenwärtige Schwäche" (faiblesse présente) als „vergangene Größe" (grandeur passée) interpretiert S zeigt er dem „honnête homme", daß des Menschen Sosein nicht Natur, sondern Unnatur ist. Damit läßt er die Niedrigkeitserkenntnis eine Tiefendimension erreichen, in der die menschliche Niedrigkeit aus einer bloß faktischen zu einer verhältnisbezogenen, aus einer quantitativen zu einer qualifizierten Niedrigkeit wird. Sie ist nicht mehr lediglich „Schwäche", „Ungereimtheit", „Unfähigkeit", sondern „Verirrtsein"2, ein „Von-seinem-Platz-gefallen-sein"3, „ohnmächtige Fähigkeit" (capacité vide)4. Sie ist, wie Pascal klassisch formuliert, die „Niedrigkeit eines entthronten Königs"5. Wer dieser Radikalisierung folgt und die menschliche Niedrigkeit als „Verirrtsein", als „Gefallensein", als „Unnatur" versteht, dem ist damit die Möglichkeit entzogen, seine Niedrigkeitserkenntnis in der Faktizitätsgesinnung enden zu lassen. Auf welchem Wege führt Pascal nun seinen Hörer zu dieser Dialektik von „Niedrigkeit" und „Größe"? Das Grundphänomen eines gegensätzlichen Ineinander, Nebeneinander und Nacheinander von Niedrigem und Hohem, von Vermögen und 111
Schwäche im Menschen ist dem moralistischen Denken und dem in diesem Denken lebenden „honnête homme" wohlvertraut. Die Unbeständigkeit unseres Verhaltens, die Widersprüchlichkeit unserer Handlungen, die Gegensätzlichkeit von Motiv und Tat sind Lieblingsthemen moralistischer Menschenkunde. Pascal selbst weist darauf hin, wenn er in Fr. 417 schreibt: „Diese Doppelheit des Menschen ist so offenbar, daß manche glaubten, wir hätten zwei Seelen." Er spielt damit offenbar auf eine Stelle aus dem Essai Montaignes über die „Unbeständigkeit unserer Handlungen" an, einem Essai, das in immer neuen Beispielen und Wendungen diese Selbstwidersprüchlichkeit des Menschen, seine „Verschiedenheit", „Verwirrung" und „Disharmonie", seine „Widersprüchlichkeit" und seine „Gegensätzlichkeiten" beschreibt8. Pascal kann folglich wie in der Darstellung der menschlichen „Schwäche" so auch hier den Ertrag moralistischer Menschenkunde und damit die Gedanken und Begriffe seines Hörers aufnehmen. Wie aber die Erkenntnis der „Schwäche" vom „honnête homme" einer befremdlichen Entschärfung unterzogen wurde, so trägt auch seine Schau menschlicher Selbstwidersprüchlichkeit für ihn keinen bedrängenden Charakter. Ebenso wie die „Schwäche" steht sie unter dem „es ist ihre Natur", mit dem ein La Bruyère sein Kapitel „Uber den Menschen" beginnt. Die Unbeständigkeit unseres Handelns und Meinens ist eine „natürliche Unbeständigkeit" 7 , wie Montaigne sagt, eine „von der Natur gewollte Bestimmung" 8 . Die „Natur" ist es, heißt es bei La Rochefoucauld, die „jedem Menschen bei seiner Geburt sein Ziel im Laster und in der Tugend" setzt 9 ; die „verschiedenen Gegensätzlichkeiten" befinden sich „von Natur im Herzen eines jeden" 10 . So gesehen hat das Phänomen menschlicher Widersprüchlichkeit nichts Beunruhigendes an sich. Es zwingt nicht zur Frage nach seiner verborgenen Ursache. Man nimmt es hin als zum Wesen des Menschen gehörend oder schätzt es gar als Teil menschlicher Wesensfülle. Es geht letztlich immer nur um ein erstaunliches, interessant zu beobachtendes Nebeneinander gegensätzlicher Erscheinungen, um eine zuständliche Komplexität, die man sogar als harmonisches Gefüge, als concordia discors, bejahen kann, nicht aber um rätselhafte, spannungsgeladene, zur lösenden Antwort drängende Selbstwidersprüchlichkeit. Damit aber ist erneut der Punkt erreicht, an dem, wie schon bei der Erkenntnis menschlicher „Schwäche", Pascals Akzeptation in den Widerspruch, in die Radikalisierung des Übernommenen übergeht. Er duldet die Entspannung der menschlichen Widersprüchlichkeit nicht, sondern will, daß der „honnête homme" diese Selbstwidersprüchlichkeit in ihrer ganzen Schärfe erkennt und empfindet. Pascal nimmt also zunächst den Gedanken der menschlichen Widersprüchlichkeit auf; dann aber radikalisiert er ihn. Er tut es dadurch, daß er diese Widersprüchlichkeit anders 112
bestimmt. Er stellt nicht — und das ist der grundlegende Unterschied zum moralistischen Gedanken von der komplexen Struktur des Menschen — die empirisch vorfindliche „Schwäche" einer ebenso vorfindlichen „Größe" gegenüber, sondern er entnimmt die menschliche „Größe" jeglicher Zuständlichkeit und Vorfindlichkeit. Was der „honnête homme" als „Größe" ansieht, das ist, so hat die vorausgegangene Vertiefung der „Schwäche"-Erkenntnis ergeben, nur vordergründige, gelegentliche „Größe". Sie besteht lediglich in kurzen, schnell vorübergehenden „großen Anstrengungen" ohne Dauer 1 1 und bildet keinen wirklichen Gegensatz zur faktischen „Schwäche". „Das sind Fieberhandlungen, die der Gesunde nicht nachahmen kann",sagtPascal 1 2 . Der wirkliche „Widerspruch" des Menschen, seine „erschreckende Gegensätzlichkeit" 13 bricht erst da auf, wo die Niedrigkeit unseres Soseins mit der Größe unseres Ausseins konfrontiert wird, also mit jener Größe des Menschen, die nur in ihrer empfundenen Abwesenheit und dem daraus entstehenden Suchen nach ihr anwesend ist. Es ist für Pascals Methode jedoch bezeichnend, daß auch diese Radikalisierung ihrerseits wiederum als Radikalisierung eines Übernommenen geschieht; denn indem Pascal auf das menschliche Aussein verweist, um es dem Sosein gegenüberzustellen, greift er erneut ein der Moralistik vertrautes Thema auf. Deutlich hat die moralistische Menschenbeobachtung erkannt, wie unser Leben ein dauerndes über sich selbst hinausgreifendes Suchen ist. Im 3. Essai des ersten Buches, das sich mit diesem Phänomen beschäftigt und die Überschrift trägt: „Unsere Affekte drängen über uns hinaus" schreibt Montaigne: „Wir sind niemals bei uns, sondern immer über uns. Die Furcht, das Verlangen, die Hoffnung treiben uns dem Zukünftigen entgegen." 14 La Bruyère kann vom Leben des Menschen sagen: „Unser ganzes Leben ist ein Wünschen." 15 Und bei Mère heißt es — wir haben bereits ausführlicher davon gesprochen — 16 : „Jeder will glücklich sein . . . Wir schätzen und wünschen die Dinge nur, sofern sie zu unserem Glück beitragen können." Aber die moralistische Beschreibung dieses ständigen Ausseins geht sogleich in Kritik über. „Jene, die den Menschen vorwerfen, sie jagten immer nur zukünftigen Dingen nach, treffen damit den am meisten verbreiteten menschlichen Irrtum." 1 7 Unser unablässiges Streben nach dem, was wir nicht haben, erscheint als lächerlich und absurd. „Man verschiebt seine Erholung und seine Freuden auf die Zukunft, oftmals auf jenes Lebensalter, in dem die besten Güter schon vergangen sind: die Gesundheit und die Jugend. Erreicht uns diese Zeit, so findet sie uns noch immer voller Wünsche vor; so steht es um uns, wenn das Fieber kommt und uns auslöscht: würden wir geheilt, so geschähe es nur, damit wir uns nodi länger sehnten." 18 Unsere Wünsche und Hoffnungen sind, wie Montaigne vom „Wunsch nach Erkenntnis" sagt, eine „Jagd ohne Ende"1®, 8
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Meyer, Pascal
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Bemühungen, die nie aufhören, weil sie nie ganz erfüllt werden. Sie sind deshalb „Irrtum", „falsche Einbildung" 2 0 , „Wahn" (vanité) 21 , dem das Sich-zufriedengeben mit dem Gegebenen, die einfache Hingabe an unsere Faktizität, auch wo diese schwach, und unzulänglich ist, als einzig richtiges, weil unserer Natur gemäßes Verhalten entgegengesetzt wird. „Die Weisheit ist immer mit dem zufrieden, was da ist", zitiert Montaigne Seneca 22 . Auch mit dem Streben der „honnêtes gens" nach „divertissement" schaffender und dadurch den „bonheur" verwirklichender Geselligkeit ist, wie wir bereits anmerkten, die Haltung des Sich-schickens in das Gegebene nur scheinbar durchbrochen, nur vorläufig und teilweise preisgegeben. In Wirklichkeit führt dieses Streben gerade in die „négligence"Haltung hinein, weil das Ideal der „honnêteté" eben diese Grundhaltung in sich schließt, die alles leidenschaftliche Suchen, Fragen und Hoffen von sich weist und nur die „ungezwungene Art" 2 3 , die „gemäßigten Regungen der Seele" die „liebenswürdige, lässige und würdevolle A r t " 2 5 gelten läßt. Wenn also Pascal bei der Radikalisierung der menschlichen Selbstwidersprüchlichkeit dahin kommt, der Niedrigkeit unseres Soseins die Größe unseres Ausseins gegenüberzustellen, so kann er auch hier zunächst den Ertrag moralistischer Menschenkunde übernehmen. Er kann seinem Gesprächspartner einräumen, das menschliche Dasein richtig gesehen zu haben als ein dauerndes Aussein über sich selbst hinaus, das immer neu ansetzt, auch wenn es sich vielleicht nie verwirklicht. Dort jedoch, wo der „honnête homme" dieses natürliche Streben in die ,,négligence"-Haltung zurücklenkt oder dazu übergeht, dieses „Verlangen" als „Irrtum", als „falsche Einbildung", als „Wahn" abzutun und dagegen die Preisgabe dieses „Verlangens" als unserer Natur einzig angemessenes Verhalten anzusehen und zu empfehlen, erhebt sich Pascals Widerspruch. Die Form dieses Widerspruchs ist freilich audi hier die der Korrektur und der Radikalisierung. Pascal gibt seinem Hörer zu verstehen, daß er dem elementaren Charakter menschlichen Ausseins nicht gerecht wird, und versucht, ihn einem neuen, tieferdringenden Verständnis dieses Phänomens zuzuführen. Er bedient sich dazu des Hinweises auf die Universalität, Unerfüllbarkeit und Unzerstörbarkeit dieses „Verlangens", ein vom „honnête homme" selbst wahrgenommener, jedoch zumeist negativ, im Sinne der Hartnäckigkeit dieses „allgemeinen Irrtums" verstandener Tatbestand 2 8 , den Pascal nun im Widerspruch gerade als Beweis der Echtheit und Unaufgebbarkeit menschlichen Ausseins interpretiert. Diese vertiefende Deutung des menschlichen „Verlangens" findet sich in zahlreichen kleineren Fragmenten, die wir größtenteils bereits bei der Darstellung des Pascalschen Menschenbildes angeführt haben. Ausführ114
licher begegnet sie in einem der Hauptfragmente, das Pascal unter dem apologetischen Teilthema „Das höchste Gut" eingeordnet hat, dem sehr gearbeiteten Fr. 425. Thesenartig beginnt es: „Alle Menschen ohne Ausnahme streben danach, glücklich zu sein, wie verschieden die Wege audi sind, die sie einschlagen, alle haben dieses Ziel." Diese einleitende Behauptung der schlechthinnigen Universalität menschlichen Ausseins, die dem „honnête homme" zunächst als bejahende Wiedergabe seiner eigenen Auffassung erscheinen muß, wird von Pascal erhärtet durch den Hinweis darauf, daß auch hinter den äußerlich gegensätzlichsten Handlungen des Menschen „dieses selbe Verlangen" stehe, freilich — so fügt er hinzu — „von verschiedenen Gesichtspunkten bestimmt". Niemand, auch nicht der Schreiber oder der Leser dieser Zeilen, sagt Pascal, vermag sich ihm zu entziehen, insofern als sowohl das Schreiben wie das Lesen allein im Wunsch nach „Befriedigung" und damit im „Verlangen" ihren Grund haben. Es gibt nun einmal keinen „wirklich vollkommenen Skeptiker" 27 ; denn unsere Natur, der man sich nicht entziehen kann, „macht die Skeptiker zuschanden" 28 . So kann es dann zu Ende dieses ersten Abschnittes von Fr. 425 thesenartig heißen: „Der Wille unternimmt nicht die geringste Handlung, es sei denn, sie richte sich auf dieses Ziel. Es ist der Beweggrund aller Handlungen aller Menschen, selbst derer, die sich erhängen wollen." Der Universalität dieses „Verlangens" aber entspricht die Universalität seines Scheiterns, die identisch ist mit der Universalität menschlicher Niedrigkeit. Die Antwort auf das Streben des Menschen nach „bonheur" — man darf hier sogleich hinzufügen: und nach „Wahrheit" (vérité) — ist immer wieder das Nein unserer faktischen „Ohnmacht" und „Schwäche", der Niedrigkeit unseres Soseins. „Indessen aber hat . . . keiner dieses Ziel, auf das alle es beständig abgesehen haben . . . , erreicht. Alle klagen . . . , in allen Ländern und zu allen Zeiten, jeglichen Alters und in jeglicher Seinslage." Dennoch aber vermag die immer neue Erfahrung unserer „Ohnmacht" das „Verlangen" nicht zu ersticken29. In radikalem Gegensatz zu unserer Erfahrung und unserem Wissen setzt er immer wieder neu an. „Eine so ausgedehnte, beständige und gleichförmige Erfahrung sollte uns eigentlich von unserer Unfähigkeit, durch unsere Bemühungen glücklich zu werden, überzeugen. Aber die Beispiele belehren uns kaum . . . Da uns so die Gegenwart nie befriedigt, betrügt uns die Erfahrung und führt uns von Unglück zu Unglück bis zum Tode, der sein ewiger Gipfel ist." Gerade dieser Tatbestand, daß das menschliche Aussein nie erfüllt wird und dennoch bleibt, um erst mit unserem Leben zu verlöschen, ein Tatbestand, der für Montaigne und seinesgleichen die „Nichtigkeit" des „Verlangens" verstärkt, wird bei Pascal zum schlüssigen Beweis für Echtheit und Natürlichkeit des „Verlangens". „Wir sind unfähig, Wahrheit 8»
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und Glück nicht zu wünschen . . ." 30 Das „Verlangen" ist „notwendig in allen vorhanden" 31 , „unbesiegbar für den ganzen Skeptizismus" 32 . Der Mensch „vermag nicht, es (sc. das Verlangen) nicht zu haben" 33 . Es ist folglich ein „natürliches Verlangen" m. a. W. es ist nicht Wahn, sondern Wirklichkeit, ist ebenso reale Gegebenheit wie die „Schwäche" und die „Ohnmacht" unseres Soseins und kann und darf darum weder abgewertet noch preisgegeben werden. Im Zuge dieser Ausführungen Pascals hätte, so darf man annehmen, das apologetische Kapitel über die „Zerstreuung", den „divertissement", seinen Platz gefunden, dem wir uns hiermit kurz zuwenden wollen 35 . Das Ziel dieses Kapitels oder Dialogs liegt darin, dem „honnête homme" zu zeigen, wie im Zentrum seiner eigenen Lebensauffassung, nämlich in seinem Suchen nach „divertissement", nach Zerstreuung schaffender Geselligkeit sowohl das unauslöschliche „Verlangen" als auch die unüberwindbare „Schwäche" sichtbar wird. Das Suchen nach „Zerstreuung" oder nach „Vergnügen" und „Zeitvertreib", wie Pascal audi sagen kann 36 , findet seinen Beweggrund im „Empfinden" der „ständigen Niedrigkeiten" (misères continuelles) und des „Überdrusses" (ennui). „Die Niedrigkeiten des menschlichen Lebens sind der Grund dessen; als das die Menschen erkannten, entschieden sie sich für die Zerstreuung." 37 In diesem Suchen weiß der Mensch also, daß seine „Seinslage" nicht „glücklich" ist, sondern „schwach" und „sterblich". Mit Recht meidet er darum „nichts mehr als die Ruhelage", den „repos", und sucht die „Glückseligkeit" „außerhalb". Wer ihm rät, „ruhig zu sein", mißversteht die menschliche Natur, sofern hinter diesem Ratschlag die. irrige Auffassung steht, es gebe für den Menschen eine „vollkommen glückliche Seinslage", die er „mit Muße, ohne in ihr einen Anlaß zur Bekümmerung zu entdecken", betrachten könne. „Das heißt die Natur nicht verstehen." Soweit stimmt Pascal dem Selbstverständnis der „honnêtes gens", wie es sich in ihrem Suchen nach „Zerstreuung" ausspricht, zu. Indessen geht er sogleich dazu über zu zeigen, wie dieses Selbstverständnis das „wahre Wesen des Menschen" nur sehr unvollkommen und unzulänglich erfaßt, so daß letztlich auch von den „honnêtes gens" gesagt werden muß: „Sie kennen sich selbst nicht." Pascal versucht, den nach „Zerstreuung" Strebenden zu zeigen, wie sie sich selbst über das Wesen der „Zerstreuung" nicht im klaren sind. Sie leben in der Illusion („sie bilden sich ein . . . " ) , als ziele der „divertissement" in seinen verschiedenen Formen, in der „Unterhaltung", dem „Glücksspiel", dem „Tanz" oder der „Jagd" auf die wirkliche Aufhebung der „ständigen Niedrigkeiten". In Wahrheit jedoch geht es ihm — und Pascal vermag das sehr plastisch und konkret zu beweisen — gar nicht um Aufhebung, sondern lediglich um Verdeckung der „natürlichen 116
Unglücklichkeit". Der Selbstanspruch des „divertissement" geht allein dahin, „détournement", bloße „Ablenkung" des Blickes von der „schwachen und sterblichen Seinslage" zu sein, Ablenkung des Denkens von sich selbst und seinem „unglücklichen Schicksal" 38 , nicht Aufhebung des „malheur", geschweige denn Verwirklichung eines positiven „bonheur". Der Wunsch nach „divertissement" hat demnach, ohne daß der „honnête homme" sich selbst darüber im klaren wäre, immer nur die „Unruhe", die „Beschäftigung", den „Lärm", die „Geschäftigkeit", die „Plackerei, die uns abhält, an unsere unglückliche Seinslage zu denken", im Auge und niemals, wie die nach „divertissement" Suchenden sich seltsamerweise vormachen, „den Besitz der Dinge, die sie suchen". „Nie suchen wir die Dinge, sondern das Suchen der Dinge." 8 9 Zu dieser Selbsterkenntnis versucht Pascal den nach „divertissement" suchenden „honnête homme" zu führen; denn wenn das vom „divertissement" angestrebte „Glück" nicht Aufhebung der „Niedrigkeit" und des „Unglücks" ist, sondern nur Verdeckung des „Unglücks", also ein „Glück, das darin besteht, davon abgelenkt zu werden, über sich nachzudenken", dann bezeugt dieser „divertissement" damit selbst, wie völlig unaufhebbar für den Menschen seine „unglückliche Seinslage" ist und zugleich wie „unstillbar" sein „Sehnen", wie unerfüllbar sein „Verlangen", ihr zu entgehen 40 . So führt Pascal auch in diesem apologetischen Einzelstück seinen Hörer, indem er dessen Menschen- und Selbstverständnis zugleich akzeptiert und radikalisiert, mitten in die unauflösbare Spannung zwischen „Schwäche" und „Verlangen", zwischen Niedrigkeit unseres Soseins und Größe unseres Ausseins hinein. Die in all dem aufbrechende menschliche Widersprüchlichkeit hat nun nicht mehr den Charakter einer ruhenden Zuständlichkeit, eines komplexen Gefüges oder eines irgendwie überwindbaren und aufhebbaren Gegensatzes, den sie in der Sicht derMoralistik und des „honnête homme" hatte. Sie ist unauflösbare dialektische Spannung, in der das Dasein in seiner wirklichen Tiefendimension sichtbar wird. Dieses Dasein ist Niedrigkeit, aber nicht Niedrigkeit schlechthin, sondern Niedrigkeit als defizienter Modus einer „Größe", sich selbst transzendierende Niedrigkeit. Eben darin aber ist das Dasein zugleich „Unbegreiflichkeit" 41 (incompréhensibilité), radikale Fragwürdigkeit, die nicht im Bereich menschlichen Daseins selbst die lösende Antwort finden kann, sondern in der Frage über sich hinausfragt. Um diese dialektische Niedrigkeit zu bezeichnen, verwendet Pascal vorzüglich, wenn auch nicht ausschließlich, den Begriff der „misère". Die „Ohnmacht" (impuissance) oder „Schwäche" (faiblesse) wird also dadurch zur „misère", daß zugleich mit ihr stets jenes unauslöschliche „Verlangen" (désir), jenes „Gefühl der Größe" lebt, das immer über sie hinaus 117
will und doch immer wieder scheiternd in sie zurückfällt. Die Niedrigkeit des Menschen wird so — wie wir sagten — aus einer bloß quantitativ-faktischen zu einer qualifizierten Niedrigkeit, zur Erniedrigung. Sie ist nicht mehr bloße „Unfähigkeit", sondern „ohnmächtige Fähigkeit" 42 , nicht mehr bloße „Fremdheit" (disproportion) innerhalb des Kosmos, sondern „Verirrtsein" (égarement) 43 . Sie ist „verlorene Größe" (grandeur passée)44, „misère" im Vollsinne des deutschen Wortes „Elend". Sie ist die „Niedrigkeit eines entthronten Königs", der seinem Wesen nach nicht anders kann, als nach seiner verlorenen Eigentlichkeit fragen, indem er über seine gegenwärtige Seinslage hinausfragt4®. Dieser „misère"- oder Niedrigkeitsbegriff ist für Pascal die Chiffre menschlichen Seins schlechthin. In der „misère" faßt sich so stark das Wesen des Menschen zusammen, daß Pascal in ihr die unübersteigbare Barriere sehen kann, die den Menschen vom Tier und von der unbelebten Natur trennt. „Nur der Mensch ist niedrig (misérable). Ego vir videns paupertatem m earn." 46 Hier liegt auch der von Pascal gemeinte Sinn des bekannten und so oft mißdeuteten Bildes vom Menschen als eines „denkenden Schilfrohres" 47 , das man nicht einfach dahingehend interpretieren darf, daß ein leeres, abstraktes Denkvermögen oder ein bloßes Wissen um Nichtwissen und Schwäche den Menschen über Tier und Kosmos erhebt. Pascals Bild vom „denkenden Schilfrohr" muß vielmehr — genau wie das Bild vom „entthronten König" — als bildhafte Verdeutlichung des ,,misère"-Begriffes verstanden werden: der Mensch als „denkendes Schilfrohr" ist der die Niedrigkeit seiner gegenwärtigen Seinslage leidend empfindende und darin zugleich über sie hinausstrebende, der in seiner Uneigentlichkeit nach seiner Eigentlichkeit fragende Mensch48. N u r der hat darum ein wahres, seiner Wirklichkeit adäquates Selbstverständnis, der diese dialektische „misère" erkennt, sie in ihrer Spannung auszuhalten bereit ist und sidi ihr nicht in ein künstliches, unwirkliches Refugium zu entziehen versucht. d) Die Radikalisierung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis als Hinführung an die Grenze des Daseins und die Schwelle der Offenbarung Wo nun das Selbstverständnis die dialektische „misère" und die darin aufbrechende radikale Fragwürdigkeit des Daseins ganz erfaßt, steht der Mensch als ein nach sich selbst Fragender nicht nur am Ende seiner eigenen Möglichkeiten, an der Grenze seines Daseins, sondern zugleich als Fragender vor der Transzendenz. Die „misère" selbst, die die „grandeur" dialektisch in sich schließt, ist es, die den Menschen auf diesen Bereich außerhalb seiner selbst und seiner 118
verfügbaren Welt hinweist, innerhalb dessen er sein verlorenes „wahres Sein" (véritable état) zu suchen habe. Sie „schreit" es ihm zu, kann Pascal sagen und möchte damit zum Ausdruck bringen, daß nicht erst das theologisch verstandene und gedeutete Dasein, sondern das menschliche Dasein selbst es ist, das sich als in die Transzendenz weisend auslegt. „Was schreit uns diese Gier und diese Ohnmacht entgegen, wenn nicht das, daß ehedem der Mensch wirklich im Glück war, wovon uns nichts blieb als die Narbe und die völlig leere Spur, die der Mensch nutzlos mit allem, was ihn umgibt, zu erfüllen trachtet, indem er von dem Abwesenden erlangen will, was er von dem Gegenwärtigen nicht erlangen kann, und was uns weder dieses noch jenes zu geben vermag . . ."* Ähnlich heißt es am Ende von Fr. 435: „ . . . ist es nicht klarer als der Tag, daß wir in uns selbst unaustilgbare Spuren der Größe fühlen? Ist es nicht ebenso wahr, daß wir alle Augenblicke die Wirkungen unserer beklagenswerten Seinslage erfahren? Was schreit uns also dieses Chaos und diese ungeheuerliche Verwirrung zu, wenn nicht die Wahrheit dieser beiden Zustände (es war vorher die Rede von den beiden „Zuständen" vor und nach dem Sündenfall), und mit einer so mächtigen Stimme, daß es unmöglich ist zu widerstehen?" Hierher gehören auch alle Fragmente, die vom menschlichen Verirrtsein oder Gefallensein als „deutlich sichtbar" oder „offenkundig" reden. Besonders deutlich sagt es Pascal nodi einmal in Fr. 409: im besonderen Charakter menschlicher „misère" erscheint die transzendente, verlorene „Größe" als etwas „Sichtbares"; aus seiner „misère" erkennt der Mensch, „daß er, dessen Natur jetzt gleich der der Tiere ist, aus einer besseren Natur, an der er ehemals teilhatte, gestürzt ist". Dort also, wo der Mensch in seinem Selbstverständnis die dialektische „misère" und „incompréhensibilité", die „Niedrigkeit" und die „Unbegreiflichkeit", erfaßt und damit an die Grenze des Daseins tritt, steht er als Fragender an der Schwelle der Offenbarung, die ihm auf sein unbeantwortetes Fragen Antwort gibt. Sie offenbart ihm, daß er das aus der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer schuldhaft gefallene Geschöpf ist, und sie bietet ihm zugleich die Möglichkeit, seine so verlorene Eigentlichkeit, sein „wahres Sein" — die Gemeinschaft mit seinem Schöpfer — wiederzugewinnen. Aber wird man nicht einwenden müssen, es werde hier dem Menschen ein Weg gewiesen, der ihm die Möglichkeit bieten soll, von sich aus nicht nur bis an die Schwelle der Offenbarung, sondern mitten in den Bereich der Offenbarung selbst hineinzudringen? Denn hat nicht der sich als „entthronter König", als „von seinem Platz gefallen", „aus einer besseren Natur gestürzt" verstehende Mensch damit bereits die beiden „Wahrheiten" erreicht, in denen Pascal die biblische Botschaft über den Menschen zusammengefaßt sieht, die beiden Wahrheiten vom Urständ 119
und vom Sündenfall? U n d ist damit die Offenbarung, sofern sie uns unser „wahres Sein" offenbaren will, nicht überflüssig gemacht und zugleich der radikale Bruch zwischen dem gefallenen Menschen und dem sich offenbarenden Gott abgeschwächt oder gar geleugnet? Diese Vermutung scheint zwar durch die angeführten Äußerungen Pascals nahegelegt zu werden, dodi gibt es eine große Anzahl gewichtiger Aussagen, in denen Pascal das ausgesprochene Gegenteil behauptet. Sie sprechen — direkt oder indirekt — davon, daß dem Menschen wahre Erkenntnis seiner selbst allein von der Offenbarung her möglich ist. Zunächst konstatiert Pascal, daß de facto die Menschen von sich aus ihr wahres Wesen nie in den Blick bekommen haben. „Der Skeptizismus ist wahr; denn vor Jesus Christus wußten die Menschen alles in allem nicht, woran sie waren, und sie wußten weder, ob sie groß oder nichtig wären. U n d die, die dies oder jenes lehrten, wußten nichts davon und rieten grundlos und auf gut Glück, und stets irrten sie, wenn sie das eine oder das andere ausschlossen." 2 So kann Pascal auch von den Philosophen sagen: „Weder wissen sie, was dein wahres Gut, noch was deine wahre Seinslage ist." 3 Dieses faktische Nichtgeiingen aber gründet für Pascal in einer prinzipiellen Unfähigkeit, das wahre Wesen des Menschen zu erfassen. Allein der den Menschen geschaffen hat, vermag auch zu sagen, wer der Mensch wirklich ist. „Ich bin es, — läßt Pascal in Fr. 430 die „Weisheit Gottes" sagen — die euch geschaffen hat und die allein euch lehren kann, wer ihr seid." Noch kategorischer gibt Pascal dem in Fr. 548 Ausdruck: „Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch Jesus Christus, Leben und T o d kennen wir allein durch Jesus Christus. Ohne ihn wissen wir weder, was unser Leben, noch was unser Tod, noch was Gott, noch was wir selbst sind. Also ohne die Schrift, die nur von Jesus Christus handelt, wissen wir gar nichts, finden wir nur Finsternis und Verwirrung sowohl im Wesen Gottes als in der eigenen Natur." Auch in Verbindung mit Aussagen über die menschliche Selbstwidersprüchlichkeit gibt Pascal diesem Gedanken Ausdruck. So heißt es beispielsweise in Fr. 434: „Wer wird diese Verwirrung entwirren? D a s übersteigt gewiß den Dogmatismus und den Skeptizismus und die ganze Philosophie der Menschen. Der Mensch überschreitet den Menschen . . . Laßt uns darum von der ungeschaffenen und fleischgewordenen Wahrheit unseren wahren Zustand erfahren." U n d Pascal fährt fort mit den bekannten Sätzen: „Erkennt, Hochmütige, was für ein Widerspruch ihr euch selbst seid. Demütige dich, törichte Vernunft, schweige still, einfältige Natur, begreife: der Mensch überschreitet unendlich den Menschen, und lerne von deinem Herrn deine wirkliche Lage, von der du nichts weißt. H ö r t auf G o t t ! " 4 120
Wie stellt sich nun das Verhältnis dieser beiden, zunächst gegensätzlich erscheinenden Gedankenreihen dar? Wir hatten bereits mehrfach gesagt, daß in dem Verstehen seiner selbst als „niedrig", als „unbegreiflich" der Mensch an die Grenze seines Daseins tritt. Die „eigentliche Funktion" dieser Grenze ist, so können wir mit K. Jaspers sagen, „noch immanent zu sein und schon auf Transzendenz zu weisen"5. Der Mensch sieht sich also in seiner dialektischen „misère", in seiner „incompréhensibilité", auf die Transzendenz verwiesen, die allein ihm die wirkliche Lösung seiner rätselhaften Selbstwidersprüchlichkeiten, die ihm der Blick auf das Diesseits nicht zu geben vermochte, bieten kann. Er versteht, daß „der Mensch den Menschen überschreitet"8, daß sein „Ort", den er im Diesseits vergeblich suchte7, in einem Bereich jenseits seiner selbst, in einer „anderen Natur" liegen muß8, die ihm von sich aus nicht zugänglich ist. Dieses aus der Grenzerfahrung sich ergebende Wissen um die Transzendenz ist kein klares, artikuliertes Wissen. Die Erhellung unseres diesseitigen Daseins erhellt nicht zugleich die Transzendenz. Sie führt lediglich dahin, daß die Transzendenz, auf die das sorgende und unbeantwortete Fragen des Menschen nach seinem „wahren Sein" stößt, sich als dunkle, verborgene, verdeckte Transzendenz vor ihm auftut. M.a.W. der Mensch, der in der Schärfe seines Blickes die Grenze seiner selbst erkennt, sieht immer nur als Fragender, nicht als Erkennender über diese Grenze hinaus. Was sich ihm zeigt, ist nicht mehr — freilich auch nicht weniger — als der „Deus absconditus", der „Dieu caché", von dem Pascal immer wieder spricht9, den man zugleich nicht sieht und dodi sieht, der zugleich sich verbirgt und erscheint, der — so muß man im Sinne Pascals wohl sagen — gerade in seiner Abwesenheit gegenwärtig ist und der nur in Jesus Christus sich demjenigen ganz zeigt und naht, der an den Menschgewordenen glaubt10. Der widersprüchlichen „Wirrnis" menschlichen Wesens11 entspricht der „verworrene Schimmer" menschlicher Gotteserkenntnis12, das Zugleich von „Dunkelheit" und „Licht". „Gäbe es keinerlei Dunkelheit — heißt es in Fr. 586 —, würde der Mensch seine Verderbtheit nicht empfinden; gäbe es keinerlei Licht, würde der Mensch kein Heilmittel erhoffen. Also ist es nicht nur richtig, sondern audi nützlich für uns, daß Gott zum Teil verborgen, zum Teil offenbar ist." 13 Diesen besonderen Doppel- oder Unbestimmtheitscharakter der aus dem rechten Daseinsverhältnis sich ergebenden Transzendenzerfahrung bringt Pascal auch in Fr. 556 zum Ausdruck; es heißt dort: „ . . . da sie (sc. die Welt) nur durch Jesus Christus und für Jesus Christus besteht, und um die Menschen sowohl ihre Verderbtheit wie ihre Erlösung zu lehren, glänzt alles von Beweisen dieser zwiefachen Wahrheit. Alles Wahrnehmbare zeigt weder völlige Abwesenheit nodi offenbare Gegenwärtigkeit des Göttlichen, wohl aber die Gegenwart eines Gottes, der sich verbirgt . . . Es ist nicht nötig, daß 121
er (sc. der Mensch) nichts sieht; es ist nicht nötig, daß er genug von ihm sieht, um zu glauben, daß er ihn besäße, sondern daß er genug von ihm sieht, um zu erkennen, daß er ihn verloren hat; man muß sehen und nicht sehen, und das ist genau die Seinslage der menschlichen Natur." Es ist darum echter Wesensausdruck menschlicher Transzendenzerfahrung, wenn Pascal dort, wo er das aus dem Daseinsverstehen sich ergebende Wissen um den transzendenten Wesensort des Menschen formuliert, es nicht als Indikativ, sondern fast ausnahmslos als Frage formuliert 14 . Dieses aus der unbeantworteten Frage nach sich selbst entstehende fragende Wissen um die Transzendenz unseres Ursprungs ist das Ziel, auf das sich das apologetische Bemühen Pascals richtet. Erst wenn sein Hörer sich selbst als „niedrig" und „unbegreiflich" versteht und sich von diesem Selbstverständnis her suchend und fragend, obschon nicht sehend und erkennend, der Transzendenz als Antwort auf seine Daseinsfrage zuwendet, vermag er in der Offenbarung, die ihm sagt, warum er „niedrig" ist, indem sie zeigt, wer er ist und ihm zugleich die Rettung aus seiner „Niedrigkeit" anbietet, die Antwort auf sein Fragen und Suchen zu vernehmen und anzunehmen. Wenn also nach Pascal der Mensch im Erfassen seiner Grenze auch nicht erkennend über sie hinausdringen kann, so bleibt nun doch die kritische Frage, ob das vorgläubige, ganz auf sich selbst angewiesene Dasein wirklich in der Lage ist, im Verstehen seiner selbst den dargestellten Tiefen weg bis hin zur dialektischen „misère" und radikalen „incompréhensibilité", bis an die Grenze seiner selbst und damit zugleich bis zum fragenden Wissen um seinen transzendenten Ursprung zu gehen? Auch hierauf würde Pascal, so muß man annehmen, negativ antworten. Faktisch, so stellt er ja immer wieder fest, ist dieser Weg dem vorgläubigen Dasein nie gelungen. Skeptizismus einerseits und Dogmatismus andererseits bezeichnen die beiden Möglichkeiten vorgläubigen Selbstverständnisses. Beide sind dadurch entstanden und dadurch charakterisiert, daß das vorgläubige Selbstverständnis die radikale Fragwürdigkeit, die Dialektik der menschlichen „misère", das Ineinander von Niedrigkeit und Größe nicht auszuhalten vermochte und die aneinandergebundenen Gegensätze trennte, indem es je eine Seite absolut setzte. Wenn Pascal aber auch weiß, daß der vorgläubige Mensch von sich aus die letzte Grenze seines Seins nie zu erreichen vermag, so ist er doch davon überzeugt — und damit steht und fällt sein gesamtes apologetisches Unternehmen —, daß, geleitet vom gläubigen Selbstverständnis, das vorgläubige Selbstverständnis kraft seiner eigenen Verstehensmöglichkeiten diese Dialektik nachzuvollziehen imstande ist. Das natürliche Verstehen bedarf also der Führung. N u r sofern es „recht geleitetes Denken" (raisonnement bien conduit) ist, gelangt es an den Punkt, an dem der Glaube — nun freilich nicht mehr kraft natürlichen Verstehens —
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entsteht 15 . Ihm selbst vollziehbar aber wird dieser Weg erst, wenn es den Übertritt in den Bereich der Offenbarung, den Übertritt vom Unglauben zum Glauben vollzogen hat. Denn wem durch die Offenbarung gewiß geworden ist, wer er ist, nämlich das aus der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer gefallene Geschöpf, dem ist es fortan „unmöglich", so sagt Pascal, nicht überall die „lebendigen Merkzeichen dieser beiden Naturen" zu erkennen 16 . „Was mich angeht — schreibt Pascal —, so gestehe ich, daß sobald die christliche Religion diesen Grundsatz enthüllt, daß die Natur des Menschen verdorben und er von Gott verstoßen sei, die Augen geöffnet sind, um die Zeichen dieser Wahrheit überall zu sehen." 17 Wir blicken zurüdk. Wenn Pascal sich die Aufgabe stellt, seinen Hörer auf dem Wege über einen Gleichheitsbezug an die christliche Offenbarung heranzuführen, so heißt das nicht, er versuche, dem Menschen einen Weg zu zeigen, auf dem er von sich aus zum Inhalt der Offenbarung und des Glaubens zu gelangen imstande wäre. Mag es im profanen Bereich des „Überzeugens" einen solchen ungebrochenen „rapport" zwischen verstehendem Subjekt und dem Gegenstand des Verstehens geben, im theologischen Bereich, zwischen dem Menschen und der göttlichen Offenbarung gibt es ihn, das weiß Pascal, schlechterdings nicht 18 . Der „rapport", den Pascal zwischen seinem Hörer und der biblischen Botschaft herzustellen oder aufzunehmen versucht, ist nicht der „rapport" zweier gleicher Gegebenheiten, sondern der „rapport" von Frage und Antwort. Besteht also vom Menschen her gesehen der „rapport" zur biblischen Botschaft darin, daß er sorgend nach sich selbst fragt, nach seinem Wesen und nach seiner Existenz, so bedeutet das nun freilich nicht, daß diese Frage sich immer schon in klarer, deutlich ausgeprägter Form vorfindet. Im Gegenteil, sie erscheint stets mannigfach verdeckt, verkehrt oder durch Beantwortungen und Auslegungen vorschnell zum Schweigen gebracht. Sie vermag darum so, wie sie sich jeweils vorfindet, die Funktion des „rapport" nur unzulänglich oder gar nicht zu erfüllen. Weil also der Gleichheitsbezug de facto sich in Abbiegungen und Rückführungen verläuft oder sich an Hindernissen bricht, macht Pascal es sich zur Aufgabe, auf rein anthropologischem, daseinsanalytischem Wege ihn durch Korrektion und Radikalisierung in der ursprünglichen Richtung weiterzuführen. Für den Fall seiner an den „honnête homme" gerichteten Apologie — wir fassen das Ergebnis der letzten Abschnitte unserer Arbeit noch einmal zusammen — bedeutet dies: da bei seinem Hörer die Erkenntnis menschlicher „Ohnmacht" und die darin implizierte Frage nach dem Grund und der Überwindung dieser „Ohnmacht" in der „Lässigkeits"-Haltung, der Faktizitätsgesinnung erlischt und das „Verlangen" (désir), sofern es nicht zugunsten der Faktizitätsgesinnung verworfen wird, im Kunstwerk der honetten, Zerstreuung schaffenden Geselligkeit endet, versucht Pascal die in beiden Fällen sich vollziehende Verkehrung 123
des Erkenntnisweges noch im Vorfeld der Offenbarung rückgängig zu machen. Er tut dies, indem er — streng anthropologisch argumentierend — seinem Hörer durch Korrektion und Radikalisierung seines Menschenund Selbstverständnisses die radikale „Unbegreiflichkeit" menschlichen Daseins einsichtig macht. Indem Pascal so den vorgläubigen Hörer nötigt, sein natürliches Verstehen den Wirklichkeiten des Daseins besser Rechnung tragen zu lassen als bisher, versucht er in ihm die Frage nach sich selbst als eine der Antwort harrende Frage offen zu halten. Erst das so korrigierte und radikalisierte Selbstverständnis wird zum rechten Vorverständnis der biblischen Botschaft, zum rechten „rapport", der den Menschen an die Schwelle der Offenbarung herantreten, und ihn nicht bereits an einem Punkte haltmachen läßt, an dem die Offenbarung ihm weder in den Blick gekommen ist, noch ernsthaft von ihm in den Blick genommen werden kann. Zusammenfassung Wir haben gezeigt, wie Pascals apologetische Verkündigung nicht nur im Zeichen seiner dialogischen Grundhaltung steht, sondern darüber hinaus ganz von seiner dialogischen Methode des Überzeugens, seiner in den drei Grundregeln sich zusammenfassenden „Kunst zu überzeugen" bestimmt ist: Pascal besitzt — erstens — ein aus dem Verhältnis vorgegebener Nähe und Vertrautheit, vorgegebener Solidarität erwachsendes Wissen um den konkreten Adressaten in seinem besonderen Denken und Wollen; er erkennt — zweitens — in dem für seinen Hörer charakteristischen Bemühen um beobachtende Erfassung des konkreten Menschen in seiner Schwäche, Niedrigkeit und Widersprüchlichkeit den Gleichheitsbezug zur christlichen Botschaft; er führt — drittens — seinen Hörer über diesen Gleichheitsbezug — und das heißt: auf dem Wege natürlichen Verstehens — so an die christliche Offenbarung heran, daß ihm die Möglichkeit gegeben wird, sie als zu ihm gesprochen, ihn selbst betreffend zu verstehen und anzunehmen. In besonderem Maße war dabei der dialogische Charakter seiner Verkündigung in der Anwendung der letzten Grundregel, der „Anwendung" des „rapport", hervorgetreten. In der diese „Anwendung" charakterisierenden Bewegungsstruktur von Akzeptation und Widerspruch, von Übernahme und radikalisierender oder korrigierender Fortführung des Übernommenen, hob sich deutlich die Bewegung des Gespräches, ein immer neues Hören und Antworten ab. Gemäß seinem vom „honnête homme" übernommenen Grundsatz, daß nur der gute Hörer den guten Redner ausmache19, ist Pascal zunächst stets der Hörer seines Hörers, so daß sein Wort, wo immer er es sagt, stets von diesem Hören wesentlich bestimmtes Wort, Antwort ist. Nur so kann er gewiß sein, daß sein Wort 124
nicht am Anderen vorbeigeht, sondern ihn wirklich trifft, ihm wirklich begegnet. Pascal will also seinem Hörer die christliche „Wahrheit", der dieser sich bisher verschlossen hat, nicht als radikal Anderes, als harten, formalen Widerspruch entgegenhalten, sondern sie ihm „gefällig" (agréablement), „verstehbar", so müßte man der gemeinten Sache nach übersetzen, sagen. Er folgt darin bewußt der „Art Gottes", der „über alle Dinge mit Güte (avec douceur) verfügt" und so auch „die Religion im Geiste durch Gründe und im Herzen durch die Gnade einsetzt". Der entgegengesetzte Weg, „die Religion im Geist und im Herzen durch Gewalt und durch Drohungen einsetzen zu wollen", führt nicht in den Glauben, in die Religion, sondern in die „Furcht" 20 . Pascal sieht darum auch für sich und seine apologetische Aufgabe nur eine solche „Beredsamkeit" für legitim an, „die durch Milde, nicht durch Macht überzeugt" 21 . „Das Gefällige" (agréable) und das „Wahre" (vrai), das „Wahre" und das „Gefällige" sollen in seiner Beredsamkeit untrennbar verbunden sein, so sagt er es in Fr. 25, dem locus classicus seiner „Kunst zu überzeugen". Daß dabei weder der Begriff der „Milde" noch der des „Gefallenden" im Sinne taktischer Liebenswürdigkeit und Schmeichelei verstanden werden darf, dürfte die vorausgegangene Untersuchung der „Pensées" zur Genüge gezeigt haben. Vielmehr geht es Pascal, wenn er seinem Hörer die christliche Botschaft „gefällig", „mit Milde" sagen möchte, immer darum, sie ihm nicht thetisch, als bloßes Wort zu sagen, ohne Rücksicht auf die vorgegebenen Verstehensmöglichkeiten, sondern sie ihm dialogisch zu sagen, indem er ihn auf dem Wege über einen „rapport", und damit auf dem Wege natürlichen Verstehens an sie heranführt. Darin sieht Pascal die — menschlich gesprochen — unabdingbare Voraussetzung dafür, daß sein Hörer die biblische Botschaft als ihn selbst betreffende Wahrheit verstehen und annehmen kann. So läßt sich am Ende unserer Untersuchungen das Wesentliche in Pascals dialogischer Grundhaltung, Methode und Verkündigung noch einmal kurz dahingehend zusammenfassen, daß nach Pascals fester Uberzeugung menschliche Rede allein dann wirklich hörbar, verstehbar und annehmbar ist, wenn sie Antwortcharakter trägt. All sein Bemühen richtet sich deshalb darauf, sein Wort, wo und zu welchem Zweck auch immer er es sagt, im Vollsinne Antwort sein zu lassen. Schluß: Pascals dialogische Verkündigung das P r o b l e m der A p o l o g e t i k
und
Der heftige und umfassende Protest gegen alle Apologetik, wie er sich nach dem ersten Weltkriege weithin in der evangelischen Theologie erhob, sollte schon bald einer mehr positiv-kritischen Neubesinnung auf die 125
apologetische Frage weichen. Gewiß war man froh, „eine falsche Apologetik einigermaßen los" zu sein, wie E. Brunner sagte 1 , aber man spürte zugleich, daß es nun galt, sich jener Aufgabe, die die bisherige Apologetik zwar gemeint, aber nicht richtig verwirklicht hatte, „wieder mit vollem Bewußtsein zuzuwenden" 2 . Man stellte fest, daß „trotz der zahlreichen Gegnerschaft . . . die Apologetik am Leben" blieb, weil sie offenbar aus einem „verborgenen Quell der Notwendigkeit gespeist" wurde, daß es also doch eine „apologetische Aufgabe der Kirche" geben mußte 3 . Obwohl man also bereits Ende der zwanziger Jahre die Frage nach einer rechten Apologetik mit allem Nachdruck von neuem gestellt hat, sind die Versuche zur Beantwortung dieser Frage bis heute im wesentlichen nicht über das Anfangsstadium hinausgekommen. So konnte im Jahre 1950 Doerne auf dem Marburger Theologentag über das „unbewältigte Problem der Apologetik" referieren und sagen, daß seit den Äußerungen von E. Brunner und F. K . Schumann über die Frage einer systematischtheologischen Apologetik „kaum noch verhandelt" worden sei 4 . Was hatte zu jener scharfen Kritik geführt, die das Terrain der Apologetik so dicht mit Warnschildern besteckte, daß man kaum einen Schritt vorwärts tun konnte, ohne sich selbst wieder der Kritik auszuliefern? Die Wege der Apologetik des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind viel zu verschlungen, als daß wir versuchen könnten, ihnen an diesem Ort nachzugehen. Vier Haupttypen unter den zahlreichen Spielarten dieser Apologetik heben sich jedoch deutlich ab. Einmal gab es jene, schon sehr bald von Theologen scharf kritisierte und verworfene reine Verteidigungs-Apologetik, deren Funktion darin bestand, einzelne dogmatische Sätze dadurch gegen Bestreitungen zu schützen, daß sie ihre Identität mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit zu beweisen versuchte. Sie wurde vertreten besonders durch Otto Zöckler und zahlreiche, unter seinem Einfluß stehende Apologeten 5 . Apologetik war hier die „Abwehr wissenschaftlicher Angriffe", eine „mit Mitteln der Wissenschaft" — und das hieß: mit den Mitteln der damaligen Naturwissenschaft — vollzogene „Rechtfertigung des Christentums" in seinen „Glaubensinhalten" 6 . In Anwendung von dieser Art Apologetik und unter gelegentlicher, wenn auch nur zum Teil berechtigter Berufung auf Schleiermacher7 verstanden vor allem die Ritschlianer Apologetik rein positiv-selbstbesinnend als Grundlegung der Glaubenslehre, als theologische Prinzipienlehre. Der eigentlichen Dogmatik — als der Entfaltung und Darlegung des christlichen Glaubens — vorangestellt, bestand ihre Aufgabe darin, daß sie über das Wesen der Religion im allgemeinen und das Wesen des Christentums im besonderen handelte, die Wahrheit der christlichen Religion begründete und die Wissenschaftlichkeit der Dogmatik nachwies 8 . 126
Eine andere Richtung wiederum verwarf die Apologetik als theologische Prinzipienlehre und wollte sie als „Wissenschaft . . w e l c h e die Wahrheit des Christentums als der absoluten Religion erweist" 9 , an den Schluß der Dogmatik gesetzt sehen. „Die Apologetik hat — so heißt es — die Begründung der christlichen Gottes- und Weltanschauung durch das objektive Denken zu geben; sie ist die theoretische Rechtfertigung des christlichen Glaubens als der absoluten Wahrheit." 1 0 Schließlich, um eine letzte Form der Apologetik zu nennen, deren Einfluß nodi bis in die Gegenwart hineinreicht, gab es die Apologetik als „Weltanschauungslehre" 11 . Am Ende der Glaubenslehre stehend 12 war ihre Aufgabe die einer „christlichen Weltanschauungsbegründung" 1S . Sie „klärt — so heißt es — den Beitrag des christlichen Glaubens zum Problem des Religionsbegriffes, zum Verständnis des Geistes und der Welt überhaupt, d. h. sie verwirklicht die Universalität des Glaubens nach allen Seiten, indem sie die Fremdreligionen, allgemeines Geistesleben, N a t u r und Welt im Lichte des Glaubens positiv sowohl als kritisch nodi tiefer versteht, als diese selbst es vermögen" 1 4 . In einer „theoretischen Auseinandersetzung" zwischen dem „religiös und nicht-religiös bestimmten Geistesleben" 15 sollte auf dem Wege der „Ergänzung" 1 β , der „Synthese" von „übrigem Welterkennen und dem Weltanschauungsgehalt des Christentums" die „christliche Weltanschauung" aufgebaut werden 1 7 . Apologetik als Verteidigung des Christentums mit H i l f e der N a t u r wissenschaft, Apologetik als Begründung, Rechtfertigung und Nachweis der Wahrheit des christlichen Glaubens mit H i l f e des Denkens, Apologetik als Aufbau einer christlichen Weltanschauung durch Synthese außerchristlichen und christlichen Welterkennens, solche Apologetik mußte auf den Protest einer Theologie stoßen, die wußte, daß ihr Grund und der Grund des Glaubens nicht im Denken, nicht in irgendeiner Wissenschaft lag, sondern einzig und allein im Worte Gottes und seiner Verkündigung, daß ihr Thema und der Inhalt des Glaubens nicht irgendeine Erkenntnis oder Anschauung des geschöpflichen Weltganzen war, sondern Gott und dessen Verhältnis zu dem in der Welt lebenden Menschen. U n d so richtet sich die Kritik der neueren Theologie nicht nur gegen die ohnehin fragwürdigen Advokatenkünste der älteren Apologetik, sondern in erster Linie gegen jeglichen Versuch, die Aussagen der Theologie und den Inhalt des Glaubens dadurch zu begründen und zu rechtfertigen, daß man sie in das vorgegebene Koordinatensystem des Denkens und der Wissenschaft einordnet. Es wird der Apologetik vorgeworfen, daß sie den Glauben „in einer ängstlichen und schwächlichen Defensive vor einem Vernunfttribunal rechtfertigen" wolle 18 , daß sie vergessen habe, wie Gottes Wort sich nie „in der Situation des Angegriffenen, sondern des Angreifers befindet" 1 9 , wie stets Gott der „Fragende" ist und „wir immer 127
die Gefragten" 2β . Man kritisiert, daß hinter dem Wunsch nach Begründung und Rechtfertigung, hinter dem Bedürfnis nach dogmatischen Prolegomena, nach theologischer Prinzipienlehre eine „sachliche Unsicherheit" 21, ein „befremdlicher Mangel an Selbstgewißheit um die christliche und theologische Sache" stehe22. Andererseits wiederum verurteilt man die vom Apologeten oftmals eingenommene Haltung fragloser Selbstsicherheit, als verfüge er über die christliche Wahrheit, als befinde sich sein Standpunkt „über" dem Christentum, als sei er „des Christentums schlechthin mächtig" 23 ; man spricht von seinem „Pharisäismus" 24 oder vom „Pathos der Antwort" 2 5 . Alle Linien der Kritik aber laufen dahingehend zusammen, daß in der bisherigen Apologetik die „diristliche Wahrheit" zum „Gegenstand von Betrachtung" gemacht werde, wie schon Kierkegaard schrieb28, zu einer theoretischen Wahrheit, zu einer „Anschauung", einem „Standpunkt" neben anderen. „Der Hauptfehler der bisherigen Apologetik . . . war der — sagt Brunner —, daß sie sich von vornherein auf den Boden des „Gegners" stellte, nämlich auf den der Theorie. Das ist der peinliche Eindruck, den die übliche Apologetik erweckt, daß sie die christliche Wahrheit als theoretische Aussage neben die theoretischen Aussagen der Vernunft stellt." 27 Erst von dieser Auffassung her konnte sich die Möglichkeit und zugleich auch die Notwendigkeit ergeben, angesichts wissenschaftlicher Angriffe auf das Christentum in die Defensive zu gehen, die biblische Botschaft gegenüber dem objektiven Denken zu begründen, sie theoretisch zu rechtfertigen, sie als wahr zu erweisen, die Theologie um jeden Preis im System der Wissenschaft ihren Platz finden zu lassen und Offenbarung und Glaube in das allgemeine Geistesleben und Welterkennen einzuordnen. Ebenfalls erst auf Grund dieses theoretisdi-intellektualistischen Mißverständnisses konnte audi jene zu Recht verurteilte Haltung, sei es des Verfügens über die christliche Botschaft, sei es der Unsicherheit angesichts der theologischen Sache entstehen. Konfrontiert man Pascals „Pensées" mit dieser Apologetik alten Stils, so stellt man fest, wie sie sich den verschiedenen Selbstdefinitionen dieser Apologetik — und damit zugleich der an ihr geübten Kritik — entziehen. Mit keinem der dargestellten Typen theologischer Apologetik sind sie ernsthaft vergleichbar, und es ist wohl mehr als bloßer Zufall, wenn sich u. W. kein Vertreter der bisherigen protestantischen Apologetik in seiner Arbeit jemals auf Pascal berufen oder bezogen hat. Pascals „Apologie" — er selbst hat sie nie als solche bezeichnet — ist keine Verteidigung, keine Abwehr christentumsfeindlicher Angriffe, auch wenn man sie von Anfang an häufig in dieser Weise mißverstanden hat 28 . Das folgt bereits aus der von uns aufgezeigten besonderen Adressierung: nicht an den dezidierten, militanten Atheisten wendet sie sich, sondern an den „honnête homme" in seinem religiös indifferenten Skeptizismus, 128
seiner lässigen Faktizitätsgesinnung und seiner honetten Diesseitshaltung, die sich selbst für so unanfechtbar hielt, daß sie zwischen sich und christlicher „Frömmigkeit" keinen Unterschied, geschweige denn einen Widerstreit zu sehen vermochte29. Aber auch grundsätzlich — also ganz abgesehen von der zufälligen Adressierung der „Pensées" — zeigt Pascal keinerlei Bereitschaft, das Christentum gegen einen angreifenden Unglauben zu „verteidigen" und zu „rechtfertigen". Alle christentumsfeindliche Haltung, alle Angriffe eines dezidierten Atheismus tut Pascal gleichsam mit einer Handbewegung ab: „Nichts ist feiger als vor Gott den Heldischen zu spielen." 30 Er vermag in solchen Angriffen einfach keine ernsthafte Bedrohung des Christentums zu sehen. „Sie (sc. die Atheisten) werden euch so schwache und törichte Dinge sagen, daß sie euch vom Gegenteil überzeugen werden." 31 „Sie schmähen, was sie nicht kennen" 32 ; das ist sein Urteil über die erklärten Vertreter des Atheismus, und er kann ihnen lediglich den Ratschlag geben, sich intensiver und ernsthafter mit dem Christentum zu beschäftigen, bevor sie sich unterfangen, es zu bekämpfen. „Daß sie wenigstens die Religion, die sie bekämpfen, kennten, bevor sie sie bekämpfen." „Weil sie hin und wieder einige Bücher der Schrift lasen, meinen sie, große Mühe auf gewandt zu haben, um sich zu unterrichten."38 Ebensowenig wie eine Verteidigung christlicher Glaubenssätze gegen Angriffe sind die „Pensées" der Versuch einer Begründung oder Rechtfertigung christlidier Wahrheit vor dem objektiven Denken oder eine in der Form gedanklich-theoretischer Argumentation sich vollziehende Auseinandersetzung mit konkurrierenden, das Christentum ersetzenden Philosophien und Fremdreligionen. Pascal hatte in der zeitgenössischen apologetischen Literatur eine Fülle derartiger Versuche, deren Ziel darin lag, die christliche Religion theoretisch zu rechtfertigen, sie dem Denken als wahr, möglich, vertretbar zu begründen und zu beweisen, ja unmittelbar vor Augen — und lehnte sie ab. Bereits sein Verständnis von Wahrheit als „vérité utile", als die Existenz betreffende Wahrheit, wie auch sein Menschenbild, das den Menschen nicht anders als in einem wesenhaften Daseinsinteresse existierend kannte 34 , verwehrte ihm eine solche lediglich oder vornehmlich an das objektive, betraditende Denken sich wendende Argumentation. Wir hatten das bei der Untersuchung seiner „Kunst zu überzeugen" klar gesehen. Was aber für Pascal im Bereich allgemeiner Wahrheit und allgemeinen Uberzeugens Geltung hat, gilt in erhöhtem Maße im Bereich der Offenbarung und des Glaubens: die christliche Religion ist für ihn nicht eine Summe theoretisch-dogmatischer Sätze über Gott und die Welt, sondern eine den Menschen in seinem Dasein betreffende, ihn „angehende" Botschaft, die sich darin zusammenfaßt, daß sie ihm Wesen und Grund seiner gegenwärtigen Niedrigkeit offenbart und ihm Rettung und Er9 7902 Meyer, Pascal
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lösung bringt 35 . Die Verkündigung dieser Botschaft ist dementsprechend kein „instruire", kein „Lehren", sondern ein „échauffer", ein „Entzünden" 36 , und der Glaube ist kein betrachtendes Erkennen, kein „scio", wie Pascal sagt37, sondern „créance utile" 38 , „nützlicher", d.h. ergreifender und im Ergreifen der Botschaft existenzbestimmender Glaube. Pascals Urteil über eine nur auf den Intellekt bezogene Philosophie trifft darum ebenso eine Religion, die nur theoretische Wahrheiten umfaßt: sie ist wie jene „nutzlos und ungewiß und mühsam" und ist — „auch wenn das (sc. was sie lehrt) ,wahr' wäre", so sagt er — „keine Stunde Mühe wert" 39 . Ausdrücklich auf ein von der eigenen Existenz absehendes dogmatisches Wissen bezogen, heißt es in Fr. 560: „Das zu wissen ist nutzlos, da es nicht helfen kann, diese Seinslage (sc. die gegenwärtige niedrige Seinslage) zu überwinden; das einzig Wichtige ist zu wissen, daß wir elend, verderbt und von Gott getrennt sind, aber durch Jesus Christus losgekauft." Man kann hier den Protest gegen die zeitgenössische Apologetik mit ihren „Beweisen" und dem dahinterstehenden theoretischen Mißverständnis der Offenbarung nicht stark genug hervorheben. „Ich will hier — schreibt Pascal in diesem Sinne — weder die Existenz Gottes, noch die Dreieinigkeit, noch die Unsterblichkeit der Seele, noch irgend etwas dieser Art durch natürliche Schlüsse zu beweisen unternehmen, nicht nur, weil idi mich nicht stark genug fühle, irgend etwas in der Natur zu finden, was verhärtete Atheisten überzeugen könnte, sondern auch, weil solche Erkenntnis ohne Jesus Christus nutzlos und unfruchtbar ist. Ich glaube nicht, daß jemand, der überzeugt sein würde, daß die Beziehung der Zahlen unstoffliche und ewige Wahrheiten seien, die von einer höchsten Wahrheit abhingen, in der alle begründet seien und die man Gott nenne, viel für sein Heil gewonnen hätte . . . Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, der Gott der Christen ist ein Gott der Liebe und des Trostes, ist ein Gott, der die Seele und das Herz derjenigen erfüllt, die er besitzt, ist ein Gott, der sie im Innern ihr Elend und seine unendliche Barmherzigkeit spüren läßt, der sich in der Tiefe ihrer Seele ihnen vereint und sie mit Demut, Freude, Vertrauen und Liebe erfüllt.. ." 40 Pascals Verständnis von Offenbarung und Glaube läßt es schlechterdings nicht dazu kommen, daß er das Christentum zu einem „Standpunkt" unter anderen, grundsätzlich auch möglichen Standpunkten degradiert und sich nun vor der daraus resultierenden Notwendigkeit sieht, diesen Standpunkt gegenüber den anderen zu rechtfertigen, zu begründen, als wahr zu erweisen. Die christliche Offenbarung wird für ihn im Gespräch mit dem Unglauben nie zum Gegenstand theoretischer Auseinandersetzung und der Glaube nie zur Betrachtung oder Anschauung. So befindet sich Pascal, wenn er dem Unglauben gegenüber von der biblischen Botschaft spricht, in einer gleichsam natürlichen Initiative wie der130
jenige sich stets in der Initiative befindet, der einem Anderen eine ihn angehende Nachricht mitzuteilen hat. Mag Pascal sein Wort audi stets als Antwort sagen, so steht er damit dodi keineswegs als ein sich Rechtfertigender Rede und Antwort. Immer wieder, so hat sich gezeigt, vollzieht sich im Gespräch mit dem Ungläubigen die bezeichnende Wendung von Akzeptation in Widerspruch. Gefragt ist deshalb stets nur der, zu dem Pascal redet, auch wenn er ihm sein Wort nicht thetisch, sondern dialogisch, das hieß: antwortend sagt. Um dieses eine freilich geht es Pascal in seinen apologetischen „Pensées": daß er seinem Hörer die biblische Botschaft so sagt, daß dieser sie zu verstehen, und zwar gerade in ihrer ihn existentiell treffenden Bedeutung zu verstehen vermag. Hier und nur hier liegt das „apologetische Problem", wie Pascal es sieht, und wie er es in seinen „Pensées" zu bewältigen versucht. Es ist nicht das Problem des Beweisens, Begründens, Rechtfertigens oder Auseinandersetzens, sondern das Problem des Verstehbarmachens, der Mitteilung, das Problem der rechten Verkündigung von Gottes Wort durch Menschenwort. Damit überschreiten die „Pensées" den Bereich des Apologetischen im üblichen Sinne, nicht nur der systematisch-theologischen, sondern letztlich auch der praktischen Apologetik und finden ihren Ort im Bereich der Verkündigung. Sie sind Verkündigung, freilich — und das haben wir im Verlauf unserer Arbeit zu zeigen versucht — eine besondere Form der Verkündigung, deren Charakter mit dem Begriff des „Dialogischen" u. E. am genauesten umschrieben werden kann. Man wird also sagen müssen, daß Pascal in bewußter Abwendung von der Apologetik seiner Zeit das „apologetische Problem" zu einem kerygmatischen Problem werden läßt. Damit befinden sich die „Pensées" auf einer Linie mit den gegenwärtigen Neuansätzen apologetischer Arbeit. Denn das Gemeinsame der verschiedenen Neuansätze, will uns scheinen, liegt darin, daß man Apologetik in einem Maße, wie es in der „alten" Apologetik nicht geschah, auf das Wort und seine Verkündigung beziehen und ihr damit eine theologisch ebenso notwendige wie legitime Funktion zuteilen möchte. So schreibt z. B. F. K . Schumann in kritischer Übernahme des von Schreiner und C. Schweitzer versuchten Neuansatzes 41 , daß es Apologetik nur dann geben könne, wenn sie notwendig sei für die „durch die Verkündigung des Wortes lebende Kirche". „Apologetik treiben heißt dann nichts anderes als . . . in der jeweils gegebenen Situation Vorbedingungen und menschliche Möglichkeiten für das Vernehmlichwerden der christlichen Verkündigung schaffen 42 . Bei aller Betonung der Nähe zwischen Pascals „Pensées" und den gegenwärtigen Neuansätzen zur Wiedergewinnung rechter Apologetik darf man jedoch nicht den gewichtigen Unterschied verheimlichen, der dennoch zwischen beiden bleibt. Denn trotz der Bezogenheit und Hin9"
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Ordnung der Apologetik auf das Wort und seine Verkündigung geht es der gegenwärtigen Neubesinnung dodi um eine von der Verkündigung selbst abgehobene, im Gegenüber zur nicht-christlichen Lebens- und Weltanschauung sich vollziehenden „Auseinandersetzung", die, auch wenn sie „immer vom Wissen um das Existentielle begleitet ist" 43 , grundsätzlich im Bereich des Gedanklichen, Theoretischen, Allgemeinen und Unverbindlichen bleibt und die Ebene des Einzelnen, Jeweiligen, des gelebt Konkreten und Existentiellen nicht erreicht und — ob man Apologetik nun systematisch-theologisch oder praktisch-theologisch versteht — auch gar nicht erreichen will. Apologetik ist ihrer Aufgabe nach, sagt man, eine in Form der „Reflexion" sich vollziehende „Auseinandersetzung" mit der „Vernunft" 44 , „Auseinandersetzung" mit den „die Zeit beherrschenden weltanschaulichen Gedankenmächten" 45 , „Auseinandersetzung" mit „anderen Konfessionen, kirchlichen oder weltanschaulichen Gemeinschaften" 46 . Sie ist eine „kritische Durchleuchtung" der „geschichtlichen (der geistigen wie der gesellschaftlichen) ,Mächte' " „Kampf" mit allen „,Ismen', die sich an die Stelle der christlichen Wahrheit setzen und sie verdrängen möchten" 48 . Muß sich aber nicht angesichts eines solchen Verständnisses die kritische Frage aufdrängen, ob hier nicht erneut in die alten Bahnen der verurteilten Apologetik zurückgelenkt wird? Denn stellt nicht eine „Auseinandersetzung" mit der „humanen Vernunft", mit nicht-christlichen „Anschauungen", „Gedankenmächten" und „Ismen" die christliche Botschaft notwendig wieder auf die Seite des „Wissens", also dorthin, wo sie selbst nicht mehr als eine „Anschauung" ist, ein System theoretischer Annahmen und Aussagen unter anderen, grundsätzlich gleichberechtigten Anschauungen und Systemen? Gerät nicht jede derartige Auseinandersetzung zwangsläufig dahin, daß sie den Vertreter jener konkurrierenden Anschauung in der biblisdien Botschaft einen „Gegenstand von Betrachtung" sehen läßt, mit dem er sich rein intellektuell beschäftigen könne und dürfe, und damit den Botschaftscharakter des Wortes Gottes preisgibt? Dieser Botschaftscharakter kann doch nur dann voll gewahrt bleiben, wenn der Glaube mit dem Unglauben nicht in abstracto sondern in concreto redet, d. h. wenn er nicht mit nicht-christlichen Anschauungen, Gedankenmächten und „Ismen" sich auseinandersetzt, sondern zu ungläubigen Menschen redet, sie anredet in ihrem besonderen — nun allerdings von geschichtlichen Gedankenmächten geformten — Selbstverständnis. Es kommt eben alles darauf an, dort wo der Glaube dem Unglauben entgegentritt, das theoretisch-intellektualistische MißVerständnis der Offenbarung nicht allein beim Redenden, sondern ebenso beim Hörenden zu vermeiden, jenes πρώ τον ψεΰδος der alten Apologetik, aus dem die Reihe der anderen Irrtümer notwendig resultierte: die schwächlichen De132
fensiven, die an das Denken oder an einen WissensdhaftsbegrifF sich wendenden Rechtfertigungen und Begründungen, die sachliche Unsicherheit oder das selbstsichere Verfügen über das Wort der Offenbarung. Man sollte bei der gegenwärtigen apologetischen Neubesinnung noch genauer als man es bisher hier und dort vielleicht getan hat, auf Pascal wie auch — das meinen wir hier ganz am Rande vermerken zu müssen — auf Kierkegaard hören. Obwohl beide scharfe Kritiker ihrer zeitgenössischen Apologetik waren, wurden sie dodi selbst in einem neuen Sinne wieder zu „Apologeten". Dieses Neue bestand darin, daß für sie beide an die Stelle der „apologetischen Frage", wie man sie zu sehen gewohnt war, die „kerygmatische Frage" trat, die Frage nach der Mitteilung, nach dem rechten Hörbar- und Verstehbarmachen des göttlichen Wortes durch Menschenwort. Ein solch eingehendes Hören auf Pascals apologetische Arbeit wäre dazu angetan, den verheißungsvollen Neuansatz im gegenwärtigen Bemühen um die Apologetik zu verstärken und entschlossener an die Stelle der bisherigen Apologetik eine besondere Form der Verkündigung treten zu lassen, eben eine „dialogische Verkündigung", wie sie uns in den „Pensées" exemplarisch begegnet 48 .
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LITERATURVERZEICHNIS 1. Ausgaben der Werke
Pascals
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Übersetzungen
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ANMERKUNGEN Die Ziffern links am Rande verweisen auf die zugehörigen Seiten Das falsche Bild vom „einsamen" Pascal 11
2 Guardini, S. 65 u. 300. Valéry, S. 145 („Gewöhnlich hat man aus 3 ihm eine Art französisdi-jansenistischen H a m l e t gemacht . . . " ) . 2. Friedrich, S. 291 („Pascal gehört nicht zu den Geistern der Mitte und des Maßes, die . . . 4 5 niemanden befremden und e r s t r e c k e n " ) . Guardini, S. 301. Brunsdivicg, S. 179 u. 182. » Béguin, S. 108; vgl. Valéry, S. 142: „Das geistige Wesen Pascals hat Gefallen daran, zerbrechlich zu sein . . . und umgeben von Ge7 fahren und Einsamkeit." Für Bornhausen ist Pascal erfüllt vom „radikal 8 individualistischen und subjektivistischen Geist", S. 32 f. Béguin, S. 110. 9 10 H e n r i Petit, zit. nach Rich, S. 161 f. Steinmann sagt: „ . . . die große Menge stellt sich einen romantischen und traurigen Pascal vor, während er in Wirklichkeit heiter, geistreich, scharf und spöttisch war . . . " S. 185£.; vgl. Mes11 nard, S. 168 f., und Russier, S. 94 f. Benzecri, S. 15 (Pascal „war niemals ein Mensch der allen von außen kommenden Anregungen verschlossenen Studier-
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12 stube"). Mesnard, S. 170; vgl. Ridi s Stellungnahme gegen das Bild vom 13 14 individualistischen Pascal, S. 161 f. L a f u m a , Pensées, t. I I I , S. 26. ib. t5 17 18 19 20 ib. » ib. S. 28. ib. ib. S. 40. ib. S. 38. ib. 21 22 23 24 S. 41. ib. S. 40. ib. S. 39. B. p. S. 23. Lafuma, 25 26 27 Pensées, t. I I I , S. 28. ib. S. 39. Β. p. S. 22. Lafuma, 28 29 30 Pensées, t. I I I , S. 29 f. ib. S. 65. ib. S. 44. Frr. 200 und 31 32 33 34 35 218. Fr. 199. Fr. 211. Fr. 205. Fr. 72. Frr. 36 37 38 406 u. 427. Fr. 483. Fr. 693; vgl. Fr. 206. Malvy, S. 98. 39 l.Brunschvicg, S . C X L I ; vgl. Strowski, t . I I I , S.405: „Sie (sc. die „Pensées") 40 41 sind Kinder des innersten Wesens Pascals." Cailliet, S. 324. Stap42 43 fer, zit. nach 1. Brunsdivicg, S. L X X . Fr. 65 Lafuma, Pensées, t. I I I , S. 42 f.; vgl. dazu im folgenden unsere Darstellung des „honnête homme", 44 45 46 S.84if. Fr. 14. Β.p. S. 187 . F r . 3 6 ; vgl. dazu im folgenden unsere Darstellung des Pascalschen „art de persuader", S. 36 ff.
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I. Die dialogische 16
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Grundhaltung
Beguin spricht von Pascals Stil als einem „jugendlichen Stil, voller Brüche, in dem sich die wechselnden Antworten eines schnellen Dialogs erkennen lassen", S. 10. „Die Stimme Pascals wird da am deutlichsten hörbar und ergreift uns am tiefsten, wo sie ganz einfadi und w o die Sprache zum Gesprädi w i r d " ; „Pascal kann nicht anders, als überall in den Dialog hineinzugleiten", schreibt Spoerri, S. 38 u. 157. Ähnlich heißt es bei Sdiaedelin, S. 30: „Pascals Schriften sind fast immer Reden, die ohne den bestimmten, fest ins Auge gefaßten H ö r e r unverständlich sind, Dialoge, auch wo sie nicht in Dialogform übergehen." — Hierher gehören audi die Äußerungen über Pascal als „Dramatiker" (Guardini, „Pensées"-Ausgabe von Rüttenauer, S. X X V ) , über seine „dramatische Phantasie" (ib. S. 377), seine „imagination" (1. Brunsdivicg, S. C X I X ) oder seine „dramati2 sehe Vorstellungskraft" (Bishop, S. 381). Die Beschäftigung mit dem Bau
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3 Steinder Rechenmaschine fällt in die Zeit von 1642 oder 1643 bis 1645. 4 B. p. 5 ib. 8 B. p. 7 G. E., mann, S. 281. S. 112. S. 45. 8 ib. 9 B. p. 19 B. p. t . I , S. 311 ff. S. 45. S. 46. "B.p. 12 G . E . , 13 ib. S. 303, 309 u. ö. 14 ib. S. 111 ff. t . I , S. 303 ff. 1 5 ib. S. 305 U.309. 17 ib. S. 314. 1 8 G. Ε , S. 306. » ib. S. 307. 1 9 ib. S. 60. 2 0 G. E., t. II, S. 53; sie erscheinen im Oktot. II, S. 58. 2 1 ib. 2 2 Bishop, 2 8 B. p. 2 4 ib. ber 1647. S. 55. S. 92. S. 72. 2 5 In einem Brief Pascals an Fermât vom 29. Juli 1654 heißt es: „ . . . idi hatte mehrere Personen die Methode (zur Berechnung) des Würfelspiels finden sehen, wie etwa M. Chevalier de Méré, der zugleich derjenige ist, der mir diese Aufgabe vorgelegt hat . . G . E., t. III, S. 381. Méré selbst schreibt an Pascal: „Sie haben Ihre Schriften verfaßt, indem Sie ebenso von meinen Entdeckungen ausgingen wie Monsieur Huyguens, Monsieur de Fermât und so viele andere, die sie be2 4 Es heißt am Ende der Zuwunderten." Méré, Œuvres, t. II, S. 63. schrift: „ . . . und indem man so die Beweise der Mathematik mit der Ungewißheit des Zufalls verbindet und vereint, was gegensätzlich erscheint, erhält es von beiden her seine Bezeichnung und beansprucht mit Recht für sich den erstaun2 7 Zit. nach lichen Titel: Geometrie des Zufalls", G. E. t. III, S. 307f. 2 8 G. E., t. III, S. 417. 2 9 ib. S. 510. 30 ib. G. E., t. III, S. 3 78 . 3 2 ib. 33 Benzecri, Lafuma, Pensées, t. III, S. 34. S. 63 f. S. 15. 8 4 Brunschvicg hat dies gesehen. Er schreibt: „Häufig geschieht es im Laufe seiner mathematischen Arbeiten, daß Pascal sich an seine Leser wendet wie an Gefähr35 Laten, deren Eifer er hervorlocken und deren Neigung er fördern will." 3 8 Es fällt in den Anfang des Jahres 1655. fuma, Pensées, t. III, S. 34. 3 7 B. p. S. 148. 8 8 Pascal sieht Epiktet „mit ernster Miene, finsterem Blick, zerwühlten Haaren, mit zerfurchter Stirn, in gequälter und verkrampfter Haltung, fern von den Menschen, in finsterem Schweigen", Montaigne dagegen „schlicht, alltäglich, gefällig, zum Scherzen geneigt und sozusagen mutwillig, dem folgend, was ihn reizt, nachlässig Scherz treibend mit guten und schlimmen Zufällen, sanft in den Sdioß des lässigen Nichtstun gebettet", B. p. S. 158. — Beide können in dem, was sie sind und sagen, dem Menschen von „Nutzen" sein: Epiktet in seiner „unvergleichlichen Kunst, die Menschen aus der Ruhe, die sie in den äußeren Dingen finden wollen, aufzustören", Montaigne darin, „den Dünkel jener zu vernichten, die sich außerhalb des Glaubens einer wahrhaften Gerechtigkeit rühmen", und „die Vernunft nachdrücklich von dem wenigen Licht und von ihren Irrtümern zu überzeugen", B. p. S. 161 f. — Beide bieten Gefahren: Epiktet verleitet zum „Hochmut", Montaigne zur „Gottlosigkeit" und zum „Laster". Pascal schließt: „Es scheint mir aber, daß, wenn man beide vereint, sie keine schlechte Wirkung haben können, da der eine dem Übel des andern Widerstand 89 B. p. 4 8 B. p. 4 1 B. p. leistet", B. p. S. 162. S. 237. S. 236.
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4 2 B. p. S. 235. 4 3 B. p. S. 236 f. 4 4 B. p. S.235 S. 234. «B.p. 4 8 B- p. S. 236. 4 7 Uber die Nähe der Diatribe-Gattung zum S. 238. 4 8 Die „Schriften über die Gnade" stammen aus der Dialog s. u. S. 33 f. Zeit nach 1656 oder 1657. Man nimmt an, daß ihr Entstehungsjahr das Jahr 4 9 Der volle Titel lautet: „Abhandlung 1658 ist; vgl. G . E . , t . X I , S. 102 f. über die wirkliche Bedeutung dieser Worte der Heiligen Kirchenväter und des Tridentiner Konzils: ,Die Gebote sind für die Gerechten nicht unerfüllbar'." (Œuvres complètes de Β. Pascal, Edition Lahure [Havet], 1866, t. II, S. 81). 8 0 G. E., t. X I , S. 156f. 5 1 G. E., t. X I , S. 103 heißt es: „Man kann erkennen, daß mehrere dieser Stücke zu einem Brief gehörten; dieser Brief war an eine Person gerichtet, mit der Pascal oft theologische Fragen diskutiert hatte, und die ihm eine Anzahl von Einwänden vorgelegt hatte, mit denen ihr ein molinistischer Gegner gekommen war."
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„Provinzialbriefe"
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Zitiert nach Ζ. Tourneur, Les Provinciales, t. I, S. 96 f. (Im folgenden wird der Text der Provinzialbriefe stets nadi dieser Ausgabe zitiert werden.) Für die Historizität des Berichtes spridit, daß Nicole ihn im Jahre 1660, also nodi zu 2 8 Lebzeiten Pascals abgefaßt hat. ib. Zit. nadi 2. Jaccard, S. 81; 4 5 vgl. Bishop, S. 332. Tourneur, 1.1, S. 98. ib. S. 139. « ib. 7 t. II, S. 275. Vgl. die eingehende Darstellung des „honnêteté"-Ideals im 8 folgenden S. 85 fF. Tourneur, t. II, S. 182. » Tourneur, t. I, S. 139 f. 11 12 « ib. t. II, S. 69. Zit. nadi Tourneur, 1.1, S. 230. Nadi Tour13 neur, t. II, S. 275. In den Bericht an den Provinzler sdiieben sidi Gespräche, die der Schreiber mit den Jesuiten, Jansenisten und Thomisten führt, und die sogar zu Gesprädien zu dritt werden, wo — wie im 2. und 4. Brief — der Schreiber sich bei seinem Besuch von einem jansenistisdien Freund begleiten 14 läßt. Es heißt am Anfang des 12. Briefes: „Gerade wollte idi auf die Schmähungen antworten, mit denen ihr midi seit so langer Zeit in euren Schriften überhäuft . . . , als idi eure Antwort las; . . . Dadurch habt ihr mich gezwungen, meinen Plan zu ändern . . . " , Tourneur, t. II, S. 51; vgl. auch das Ende des 9. Briefes, wo Pascal ankündigt, er werde im nächsten Brief die Politik der Jesuiten behandeln (Tourneur, t. I, S. 298), und den Anfang des 10. Briefes: „Diesmal ist's noch nicht die Politik der Jesuiten, wohl aber eines ihrer wichtigsten Prinzipien. Sie werden sehen, in welcher Weise die Beichte angenehm gemacht wird" 15 (Tourneur, t. I, S. 311). Ein von Pascal gestrichener Satz des Fr. 30 lautet: „Nach meinem 8. (sc. Brief) glaubte ich, genug geantwortet zu haben", B. p. S.331, Anm. 3; cf. Tourneur, Edition Paléographique der „Pensées", S. 89. 18 17 Dieser Brief datiert vom 25. Februar 1656. Der Briefkopf gibt als 18 18 Datum den 2. Februar 1656 an. Tourneur, t. I, S. 150. Statt des sonst in den ersten zehn Briefen stereotyp verwandten „ich verbleibe usw." heißt es hier: „Ith verbleibe Ihr ergebener und gehorsamer Diener E.A.A.B.P.A.F. D.E.P.". Man nimmt allgemein an, daß diese Unterschrift die Anfangsbuchstaben darstellt von „Et ancien ami Blaise Pascal, Auvergnat, fils d'Etienne Pascal"; vgl. Strowski, t. III, S. 197. — Cailliet schlägt vor, mit dem 4. Buchstaben zu beginnen und die ersten drei Buchstaben hinten anzufügen als „ . . . et Antoine 20 21 Arnauld"; S.218, Anm. 26. Zit. nach Tourneur, t. I, S. 155. Es handelt sich um die „Lettre escritte à un Abbé par un Docteur sur le sujet des 22 trois lettres escrittes à un Provincial par un de ses amys". Es ist durchaus möglich, daß die Behauptung des Chevalier de Méré stimmt, nach der er es war, der Pascal geraten habe, sich in seinem Kampf von der Gnadenlehre den Fragen der Moral zuzuwenden, weil er dadurch seine Adressaten, die „gens du monde" besser „unterhalte" und ihrer „Aufmerksamkeit" sicher sei; vgl. B.p. S. 256; Strowski, t. III, S. 85 f.; Wasmuth, Ubersetzung der „Pensées", S. 120f., Anm. 1. 23 Man kann in der Abfolge der Provinzialbriefe vom 4. bis zum 10. Brief leicht die sukzessive Verschärfung der Polemik beobachten. Der zunächst — im 5. Brief — um seelsorgerlichen Rat Fragende wird bald zum Schüler, der sein wachsendes Befremden nicht mehr verschweigt und seine Einwände nicht zurückhält. Am Ende der Gespräche des 7. und 9. Briefes kommt es zu ausdrücklicher Kritik an den Entscheidungen der jesuitischen Moraltheologen, bis endlich zum Sdiluß des 10. 24 Briefes die Polemik in aller Direktheit durchbricht. Der 11. Brief trägt 25 24 als Datum den 18. August 1656. Tourneur, t. II, S. 25 u. ö. Nur drei Beispiele aus den jesuitischen Gegenschriften aus der Zeit vor dem Erscheinen des 11. Provinzialbriefes mögen hier angeführt sein. In einer Schrift des königlichen Almosenier de Marandé vom 20. März 1656 wird Pascal erstmalig wegen
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seiner „unverschämten Spöttereien über die heiligsten Dinge" angegriffen; Tourneur, t. I, S. 208. Eine andere jesuitische Gegenschrift nach dem 7. Provinzialbrief erneut diesen Vorwurf; es sei eine Art Gotteslästerung, „im spöttischen Scherz von heiligen Dingen zu handeln"; ib. S. 255. — Schließlich spricht unmittelbar vor dem Erscheinen des 11. Briefes eine Antwort der Jesuiten von den „andauernden Spöttereien", in denen der Verfasser der Briefe sich „auf gottlose Weise über die vertrauten Frömmigkeitsübungen" lustig mache; ib. t. II, S. 13. 17 28 Dieser Brief ist datiert vom 4. Dezember 1656. Der Titel der Schrift lautet: „La Bonne Foy des Jansenistes en la citation des autheurs, reconnue dans les Lettres que le Secrétaire de Port-Royal a fait courir depuis Pasques", vgl. Tourneur, t. II, 29 80 S. 184. Tourneur, t. II, S. 195. Der von Pascal gestrichene Satz des Fr. 30 lautet: „Nach meinem 8. (sc. Brief) meinte idi, genug geantwortet 51 zu haben." Uns ist der Anfang eines 19.Provinzialbriefes — adressiert wie der 17. und 18. Brief an den Père Annat — erhalten, der nach einer S2 Seite mitten im Satz abbricht. Tourneur, t. II, S.255ff. So u.a. 1.Guar33 dini S.290ff.; 2. Jaccard, S.98f. und S.102f. Vgl. 1. Guardini, S.291d; 34 Hubert, S.56; Strowski, t. III, S.140ff. und 155 ff.; 2. Jaccard, S.98f. In späteren Jahren antwortet Pascal auf die Frage, ob er die Provinzialbriefe bereue: „Ich bin weit entfernt davon, sie zu bereuen. Wenn ich sie noch einmal schreiben sollte, so würde ich sie noch viel schärfer machen"; Tourneur, t. II, S. 275. 32
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Pascal setzt diesen Kampf fort einmal in dem „Factum pour les Curés de Paris" aus dem Jahre 1657 und den „Ecrits des Curés de Paris" aus dem Jahre 1658, in denen sich die Geistlichkeit von Paris gegen die jesuitische Kasuistik wendet, und an deren Abfassung Pascal mitgearbeitet hat (G. E. t. VII, S. 278 ff. u. 308 ff.); zum anderen setzt Pascal den Kampf fort in den „Schriften über die Gnade", die aus der Zeit nach 1657 stammen. Näheres über die „Ecrits sur la 38 Grâce" hatten wir bereits auf S . 2 4 f . gesagt. Die Bulle „Ad sanctam" 37 spricht die Verdammung der „Cinq Propositions" aus. Vgl. Tourneur, 38 t. II, S. 228. Der 18. Brief datiert vom 24. März 1657. Sein Erscheinen verzögert sich jedoch, weil man aus taktischen Gründen ihn zunächst nidit verM öffentlichen wollte. Vgl. Tourneur, t. II, S. 227 f. Der volle Titel dieses Briefes lautet „Lettre d'un Avocat au Parlament de Paris, touchant l'inquisition que l'on veut établir en France à l'occasion de la nouvelle bulle du Pape Alexandre VII."; vgl. G. E. t. VII, S. 175ff.
Das Wesen dialogischer Grundhaltung 33
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Literarform
2 4 »Buber, S. 139. ib. S. 136f. » i b . S. 139. ib. S. 140. 7 8 ib. S. 147. « ib. S. 148. ib. S. 148ff. ib. S. 151. » ib. 10 11 12 13 S. 139. ib. S. 272. ib. S. 140. ib. S. 156. ib. 14 15 16 S. 138. ib. S. 149; vgl. S. 148. ib. S. 151. Vgl. Hirzel, 17 Bd. I, S. 305. Niebuhr, Barthold Georg, Lebensnachriditen, Bd. I, Ham18 burg 1838, S. 508. Hirzel, Bd. II, S. 124. « ib. Bd. I, S. 38 u. 67. 20 21 22 ib. Bd. II, S. 118. Bultmann, Diatribe, S. 59. Friedrich, Mon23 24 taigne, S. 437. Vgl. Hirzel, Bd. I, S. 273 ff. Soph. p. 263 E; vgl. 25 Hirzel, Bd. I, S. 175 Anm. 1. Als Belege dafür, wie sehr Descartes zu diesem Typus des von innen heraus arbeitenden Denkers gehört, gibt es einige interessante Selbstzeugnisse sowohl in seinen „Meditationen", die ja bereits als solche nach Titel, Form und Inhalt auf die besondere Denkhaltung ihres Verfassers hinweisen, als auch in seiner „Dissertano de Methodo". So preist er sich 5
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und dialogischer
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in der 1. Meditation, § 3, glücklich, seinen „Geist von allen Sorgen befreit" und sich „eine sichere Muße in einsamer Zurückgezogenheit" verschafft zu haben, um „so . . . endlich ernsten und freien Sinnes zu diesem allgemeinen Umsturz meiner bisherigen Meinungen sdireiten" zu können. In § 6 derselben Meditation entwirft er dann jenes bekannte Selbstporträt, das ihn uns zeigt mit seinem „Winterrocke angetan, am Kamin". Einem ganz ähnlichen Selbstbildnis begegnen wir noch an einem anderen Orte seiner Schriften, in seiner „Dissertano de Methodo". Dort ist es zwar nicht mehr der Kamin, an dem er sitzt, sondern ein „hypocaustum", ein Heizgewölbe, in dem unter den Fußböden der Zimmer die Wärme aus der „hypocausis" zusammenströmt. „Ich war damals in Deutschland — so schreibt er —, und als ich von der Kaiserkrönung zurückkam und in das Lager heimkehrte, verbrachte ich den kalten Winter an einem Ort, wo idi mich, da niemand da war, mit dem ich gerne Gespräche geführt hätte und ich durch einen glücklichen Zufall von allen Geschäften frei war, die ganzen Tage im Heizgewölbe aufhielt. Dort hatte ich Muße, in aller Ruhe midi verschiedenen Überlegungen zu widmen" (S. 8). In diesem meditativen Alleinsein erreicht, ähnlich wie in den „Meditationen", sein Denken die höchste Sammlung und Stärke: in einer Art Vision entdeckt er die Hauptgedanken seiner „universalen", der geometrischen 26 Béguin, S. 42. 27 Bishop, S. 33 3 . 2 8 Benzecri, S. 15. Methode. 29 2. Jaccard, S. 98. 30 Daß Pascals Sdiriften veranlaßte und adressierte Schriften sind, sieht z. B. audi Steinmann. Er sagt: „Alle Werke Pascals sind stets im Blick auf ganz bestimmte Leser geschrieben. Sie sind alle Gelegenheitswerke", S. 281. Ähnlich heißt es bei Schaedlin, S. 30: „Pascals Schriften sind fast immer Reden, die ohne den bestimmten, fest ins Auge gefaßten Hörer unverständlich sind, Dialoge, auch wo sie nicht in Dialogform übergehen." Audi Brunsdivicg weist auf diesen Charakter der Pascalschen Schriften hin: „Man muß beachten, daß Pascal keine seiner Arbeiten aus eigener Initiative unternimmt." Jedoch mißversteht er diese Tatsache, wenn er sagt, daß erst nach der Bekehrung, nach dem „Memorial", Pascals Sdiriften diesen besonderen Charakter trügen. „Es war nötig — meint Brunsdivicg —, daß er durch die äußeren Umstände hindurch den Aufruf jenes Willens vernahm, dem zu gehorchen er gelobt hatte." 2. Brunsdivicg, S. 70.
II. Die dialogische Methode 36
2 ib. 3 Β. p. Lafuma, Pensées, t. I I I , S. 30. S. 29. S. 163. Man braucht nur an den berühmten „Discours de la Méthode" zu denken, in dem Descartes rund zwanzig Jahre zuvor Wesen und Regeln der geometrischen 5 B. p. S. 191 f.; eine gewisse Originalität seiner Methode dargelegt hatte. Arbeit behauptet Pascal nur im Blick auf die Art der Zusammenfassung und Ane B . p . S. 164. 7 B. p. S. 165, Anm. ordnung des Stoffes; B. p. S. 192 f. 8 B . p . S. 165. 10 B . p . S. 165 11 B. 1. » B . p . S. 165, Anm. 2. 12 B . p . 13 B . p . p. S. 167. S. 167 f. S. 173. "B.p. S. 173. 15 B. p. S. 172. 16 ib. 17 B. p. S. 189. 18 ib. » B. p. S. 187; wir zitieren diese Stelle um der Klarheit willen zunächst so, daß sie sich allein auf die „Kunst zu beweisen" und nodi nicht — wie der volle Text es tut — zu20 B . p . 187f. 21 B . p . 188. gleich auf die „Kunst zu gefallen" bezieht. 22 B . p . 23 B . p . 24 B . p . 25 B . p . 189. S. 186. S. 188 . S. 188. 26 Vgl. etwa B. p. S. 187: „ . . . die Kunst zu überzeugen besteht ebenso darin, zu 27 B . p . 2 8 B. p. S. 188. gefallen, wie darin, zu beweisen." S. 186. 2» ib. 30 ib. 31 ib. 32 ib. 33 Vgl. Fr. 106 u. 11; Näheres zur 34 B. p. S. 187. 3« Pascal kann „diversité" des Menschen s. u. S. 56 ff. 1
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von einem „Erkennen" all dessen, das sich im „Innersten des Menschen vollzieht", 3 6 L a f u m a , Pensées, t. III, S. 30. 3 7 Β. p. S. 187. sprechen, B. p. S. 187. „Sache" gebraucht Pascal hier gleichbedeutend mit „Wahrheit" und „Ansicht", 3 8 Ib.; wir meinen um der deutlicheren Wiedergabe der von Pascal „Meinung". gemeinten Sache willen, den französischen Begriff „ r a p p o r t " (Beziehung, Übereinstimmung, Entsprechung) mit „Gleichheitsbezug" wiedergeben zu können; vgl. 8 9 B . p . S. 186 u, 187; das — unechte — Fr. 16 verwendet den Anm. 39. Begriff „correspondance" und Mme Périer spricht von „proportions" oder „dispositions" zwischen Hörer und Sache; sie schreibt von der „Beredsamkeit" ihres Bruders: „ E r glaubte, daß diese Kunst in einer gewissen Ubereinstimmung bestünde zwischen dem Geist und Herzen der Angeredeten einerseits und den Gedanken und Ausdrücken, deren man sich bedient, andererseits . . . " L a f u m a , Pen4 0 Β. p. S. 187; für einen solchen Fall ist jeder Versuch sées, t. I I I , S. 29. des „Oberzeugens" von vornherein sinnlos; denn „das, was weder in Beziehung zu unserem Glauben noch zu unserer Freude steht, ist für uns unbequem, falsch 4 1 L a f u m a , Pensées, t. I I I , S. 29. 42 und völlig befremdend", ib. ib. 4 3 B . p . S. 1 8 6 f . ; von dem „notwendigen" S. 29. Gelingen eines solchen „Uberzeugens" heißt es: „ . . . wenn man den Gleichheitsbezug zeigt, der zwischen ihnen (sc. den Eigenschaften der Dinge, die uns überzeugen sollen) und den Grundsätzen, die man anerkannt hatte, besteht, so folgt daraus ein unausweichlicher Zwang zuzustimmen, und es ist unmöglich, daß sie von der Seele nicht angenommen werden", B. p. S. 186; und ähnlich heißt es von den Dingen, die in den Bereich des „Gefallens" gehören: „ . . . es ist unvermeidlich, daß sie (sc. die Seele) 44 B . p . S. 186f. 45 L a f u m a , nicht freudig danach greift", B . p . S. 187. 4 8 Es dürfte deutlich sein, daß hier, eingebettet Pensées, t. I I I , S. 33 u. 30. in die „Kunst zu überzeugen", eine nicht nur alte (Platon, Augustin u. a.), sondern audi gegenwartsnah anmutende, etwa an Dilthey und Bultmann erinnernde Hermeneutik vorliegt. Es ist uns jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, dem weiter nachzugehen. Hingewiesen sei nur auf bei Bultmann begegnende Begriffe wie „gleicher Lebensbezug zu der in der Rede . . . stehenden Sache", „gleicher Lebenszusammenhang" (Gl. u. Verst., II, S. 217), „vorgängiges Lebensverhältnis zur Sache" (Ker. u. Mythos, I I , S. 192), die sämtlich die „Voraussetzung des Verstehens" (Gl. u. Verst., II, S. 217) angeben und genau den Pascalschen 4 7 Buber, S. 165. Begriffen „rapport", „liaison", „proportion" entsprechen. 4 8 ib. 4 9 ib. 5 0 ib. 5 1 ib. 5 2 AusS. 279. S. 270. S. 165. führlich hatten wir am Ende des 1. Hauptteils unserer Arbeit Pascals Grundhaltung mit Bubers Auffassung vom Dialogischen konfrontiert; s. o. S. 24 ff. 5 3 Buber, S. 165. 54 S. u. S. 52 f. und 62ff. 5 5 L a f u m a , Pensées, t. I I I , 56 B. p. 5 7 Wir S. 33 . S. 188 . verweisen auf die ausführliche Dar5 8 E s heißt bei stellung des „honnête homme" im folgenden; s. u. S. 85 ff. Méré: „ . . . man muß sich, soviel man kann, deaeri anpassen (accomoder), die man gewinnen will", Méré, Œuvres, t. I, S. 61; vgl. Fr. 36: Pascal sagt dort, zum rechten Umgang bedürfe es eines „honnête homme, der allen meinen For5 9 Méré, O . P . S . 2 0 . 6 0 Ders. derungen Genüge tun kann (accomoder)". β 1 Ders. O. P., S. 7. 6 2 Ders. Œuvres, t. I, S. 61. Œuvres, t. I, S. 60. 6 3 Ders. O . P . , S. 106f. 64 Ders. Œuvres, t. I, S. 61. 65 „Ich nenne Gespräch sämtliche Unterhaltungen von Menschen aller Art, die sich einander mitteilen wollen . . . Wenn man sich versammelt, um zu ratschlagen oder über Geschäfte zu verhandeln, so ist das eine Ratsitzung oder eine Verhandlung, in der man gewöhnlidi weder lachen noch scherzen d a r f " , Méré, Œuvres, t. I, S. 55 f. 6 8 Ders. O . P., S. 107. 9 7 ib. S. 42. 6 8 ib. S. 15. 6 9 Β. p. S. 184. 7 0 Méré, O . P . , S. 106f.
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Die "Verankerung der »Kunst zu überzeugen" 47
in Pascals
Wahrheitsverständnis
Pascal spricht in Fr. 385 von einer „wesentlichen" oder „ganz reinen und 2 Fr. 434 (B. p. S. 531, Anm. 2). 3 Fr. 112. ganz wahren Wahrheit". 4 B. p. S. 186. 5 Fr. 9; 124. 7 Fr. 99; 263. 8 Fr. 116. » Fr. 385. 10 Fr. 384. 11 Das ist zwar im Zusammenhang gesagt von 48/49 9 Fr. 385. der Erkenntnis der wahren „Seinslage des Menschen" in ihrer paradoxen Doppelheit von „Größe" und „Niedrigkeit", gilt aber zugleich auch ganz allgemein 12 Fr. 9, 99, 124; vgl. Fr. 145, von allem natürlichen „Sehen der Wahrheit". wo es von der Einlinigkeit unseres Erkennens heißt: „Immer beschäftigt uns ein 13 B. p. einzelner Gedanke; wir sind nicht fähig, zwei auf einmal zu denken." 14 B. p. S. 125. 15 Ausdrücklich ist von der „finesse" die Rede 50 S. 176 f. nur in Fr. 1 und 4 und in der „Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe", B. p. S. 125, wozu allenfalls noch Fr. 2 ergänzend herangezogen werden kann. 18 Auf den Widerspruch zwischen Fr. 1 und 2 weist u. a. besonders Brunschvicg 17 Laporte hin (2. Brunschvicg, S. 44ff.; vgl. auch B. p. S. 320, Anm. 2). schreibt (2. Laporte, S. 60) : „Die ,Dinge des Feinsinns' das sind ganz allgemein die Dinge der Seele, sofern sie Bezug haben auf die Verhältnisse der Menschen untereinander." — Darauf verweist indirekt auch die Nähe der Pascalschen Aussagen zu den Äußerungen Mérés. Auch bei Méré geht es — in der Ablehnung des geometrischen „raisonnement" — um einen besonderen Sinn, den er „bon goût" oder „bon sens" nennt (Strowski, t. I, S. 266 f.) und auch — in einem Brief an Pascal, Méré, Œuvres, t. II, S. 60 f.) — gleichsetzen kann mit den Begriffen „esprit vif" und „yeux fins". Dieser „bon goût", dieser „esprit vif" oder diese „yeux fins" umschreiben aber ganz eindeutig die besondere Fähigkeit des „honnête homme" im Bereich zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher Beziehungen, in dem es um Schicklichkeit, Ansehen, psychologisches Einfühlungsvermögen u. ä. geht (vgl. B. p. S. 319, Anm. 3). — Wie sehr Pascals Verständnis vom „esprit de finesse" in die Welt des „honnête homme" zurückweist, wird auch daran deutlich, daß das Begriffspaar „esprit géométrique — esprit de finesse" bei ihm erstmalig in seiner „Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe" erscheint, einer Schrift, die — ihre Echtheit vorausgesetzt — in der Gesellschaft der „honnêtes gens" 18 Friedrich schreibt: „Es handelt entstanden und für sie geschrieben ist. sich (sc. beim „esprit de finesse") um die Einsicht, daß das noch so genaue objektive Wissen und diskursive Zergliedern einer Sache nicht ausreicht, diese in ihrer Wirklichkeit zu erkennen, sofern sie nicht erfahren, d. h. mittels der inneren Evidenz in ihrer axiometrischen Ganzheit wahrgenommen ist" (Friedrich, Montaigne, Anm. 179). Ähnlich heißt es bei Spörri: „Die Grundvoraussetzung . . . des Geistes der Feinheit im Gegensatz zum Geist der Geometrie ist, daß man nicht vom Einzelnen zum Ganzen, sondern nur vom Ganzen zum Einzelnen kommt" (S. 85). Auch Laros spricht in diesem Sinne von einer „croyance globale", einer das Ganze umfassenden Anschauung, zu der der „esprit de finesse" gelangt (S. 67). 29 ib. 2 1 B.p. S. 176ff. 22 Fr. 863. 51 n B. p. S. 160; vgl. S. 162. 23 Fr. 862. 24 Fr. 865. 2 5 Fr. 567. 26 Fr. 684. 27 Fr. 567. 2 8 B. p. S. 177. 2 9 Fr. 9. 30 Fr. 432; 31 Fr. 865. 32 In 862. diesem Verständnis von Wahrheit und Erkennen der Wahrheit findet auch Pascals Paradox seine eigentliche Erklärung. Es muß so notwendig daraus erwachsen, daß man ebensogut den umgekehrten Weg gehen und aus der ständigen Verwendung des Paradoxes auf dieses bestimmte Verständnis von Wahrheit und Er33 Guardini, S. 240. 34 Dieses Wahrheits52 kennen schließen könnte. verständnis ist in der jüngeren Pascal-Forschung oftmals erkannt und hervorgehoben worden. Besonders ist hier Guardini zu nennen (S. 233 u. 240 f.). Auch Wasmuth weist darauf hin, daß es Pascal in seinem Fragen nach der Wahrheit 1
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um Erkenntnis einer Wirklichkeit geht, „die weder subjektiv, wie die der Dichtung, nodi objektiv, wie die der Wissenschaft ist, sondern eben die Wirklichkeit, die Existenz betrifft, die dem Menschen allein eignet . . ( S . 152). Eben dies will auch Russier hervorheben, wenn sie sagt, das Problem der „Wahrheit" und des „Glückes", also die Erkenntnisfrage und die Frage nach der Eigentlichkeit der Existenz, seien für Pascal untrennbar (S. 51 f.). So kann auch Lohde vom „Zweifel" in den „Pensées" sagen, es sei stets ein Zweifel, der „die Existenz des Menschen selber" betreffe, und der in diesem Sinne ein „existentieller" Zweifel genannt werden könne (S. 18). Daß es Pascal, wo er nach der Wahrheit Gottes fragt, um „existentielle Wahrheit" geht, betont Rich (S. 49); genau so heißt es bei Beguin, diese Frage nach Gott sei „eine existentielle Frage", die nur mit einer „Tat", mit der „Annahme", beantwortet werden könne (S. 111). — Die Nähe dieses Denkens zum „Existentialismus" wird von Forschern wie Bourceret (S. 203 ff.) und Mesnard (S. 175 f.) hervorgehoben. — Es ist anzunehmen, daß Pascal hier auf dem Wege über den Jansenismus augustinisches und darüber hinaus biblisches Gedankengut übernommen hat. So handelt das 7. Kap. im 1. Buch des „Augustinus" von Jansenius unter ständiger Rückbeziehung auf Augustin selbst von der „zweifachen Weise, in die Geheimnisse Gottes einzudringen, durch die menschliche Vernunft und durch die Liebe; jene Weise ist gefährlich und den Philosophen eigentümlich, diese (dagegen) ist zuverlässig und den Christen eigentümlich". Von der zweiten Erkenntnisart heißt es dort: „Diese Weise des Erkennens ist den wahren Christen sehr vertraut: durch sie wächst, indem die Liebe immer mehr zunimmt, die Weisheit in den geistlichen Mensdien, den Männern wie den Frauen, bis sie zur Vollendung gelangt . . . Die aus der Liebe kommende Erkenntnis weckt Liebe . . . , diese Liebe entfacht ständig neues Licht der Erkenntnis, das Licht die Flamme der Liebe und wiederum die Flamme das Licht. So führt die immer neue Wechselwirkung den Geist der Christen zur Fülle der Glut und des Lichtes, d. h. zur Fülle der Liebe und der Wahrheit oder Weisheit." Entsprechend dieser „zweifachen Weise" des Erkennens gibt es — ähnlich wie bei Pascal — auch zwei Arten von „Wahrheiten": „Jene sind meistens dornig und dürr, weil sie nur in der Betrachtung (speculatio) bestehen, und haben darum keinen Wert und keinen Nutzen. Diese dagegen sind, ob sie sich nun auf Gott, die Menschen oder die Sittenlehre beziehen, saftig und dringen ins Innerste des Willens (affectus), von wo sie auch hervorgegangen sind." — Daß auch das alttestamentliche „jada" und das neutestamentliche „ginoskein" mit ihren Derivaten nicht nur ein objektivierendes Konstatieren oder ein theoretisches Erkennen, sondern sehr häufig ein vom Willen wesentlich mitbestimmtes Anerkennen des Erkannten bedeuten, ist in der alt- und neutestamentlichen Forschung der letzten Jahrzehnte immer wieder gesehen und hervorgehoben worden (vgl. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, ed. G. Kittel, Bd. I, Stuttgart 1949, 2. Aufl., 3 5 Von 3 6 Es S. 696 fi.). diesem Zeitpunkt redet Fr. 144. ist dies höchstwahrscheinlich die bewußte Übernahme eines augustinischen Terminus; s. 3 7 Fr. 460. 3 8 Fr. 152; damit erscheint neben dem augustiFr. 543. 39 Fr. nischen Gedankengut das Erbe Montaignes; vgl. B. p. S. 401, Anm. 3. 18; audi dieser Begriff scheint über den Jansenismus auf Augustin zurückzuweisen; vgl. die bereits angeführte Stelle aus dem „Augustinus", die von den „dürren, 4 0 Fr. 18. 4 1 Bayet, S. 93. wert- und nutzlosen Wahrheiten" spricht. 4 2 Fr. 144. 4 3 Fr. 61; Ähnliches schreibt Pascal im August 1660 an Fermât: „Denn um Ihnen ein offenes Wort über die Mathematik zu sagen: ich halte sie für die höchste Übung des Geistes, sehe aber zugleich in ihr etwas so Unnützes, daß idi einen geschickten Handwerker einem Menschen, der nichts ist als ein Mathematiker, vorziehe . . . idi habe schon oft gesagt, daß sie (sc. die Mathe-
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matik) wohl die größte Prüfung, nidit aber eine Erfüllung unserer Kraft ist; so möchte idi nidit zwei Schritte um der Mathematik willen tun . . B . p. S. 229. — Es ist dies dasselbe Urteil über den Wert der Geometrie, das Méré in einem Brief 44 an Pascal aus dem Jahre 1658 oder 1659 fällt; Œuvres, t. II, S. 60 ff. Fr. 45 20. Gegen das „nutzlose" „Vertiefen" des Wissens wenden sidi z. B. Fr. 49 76 und 218. Fr. 79; hier liegt wohl der entscheidende Gegensatz zwischen dem Denken des späteren Pascal und der wissenschaftlichen und philosophischen Arbeit seines Zeitgenossen Descartes. In Fr. 78 kann Pascal darum kurz 47 formulieren: „Descartes nutzlos und ungewiß." Russier, S. 51 f.; vgl. 48 49 50 Fr. 423 und 437. Fr. 135. Fr. 194 (B. p. S. 416). Hierher gehören auch Pascals Aussagen über das Denken des Menschen. Denken, „penser" ist „seine ganze Würde und sein ganzer Verdienst" (Fr. 146; 347; 365; vgl. 346). Doch dieses Denken hat „seltsame Fehler". Es ist darum die „ganze Pflicht" des Menschen, „richtig zu denken" (Fr. 146). Richtig aber ist ein Denken, das der „Ordnung des Denkens" entspricht, und dieser „ordre de la pensée" fordert, „daß man mit sich selbst beginne, und zwar sowohl mit seinem Schöpfer als auch mit seinem Ziel" (Fr. 146). Alles andere Denken, das nicht auf den Mensdien zielt, ist nichtiges, unangemessenes Denken, ist „curiosité" und „divertissement". Darum ist auch unter allen Wissenschaften nur das Studium des Menschen „das 51 wahre Studium, das ihm (sc. dem Menschen) entspricht" (Fr. 144). Fr. 52 211. Fr. 421 („ . . . nur diejenigen kann idi billigen, die unter Seufzen 53 suchen"), vgl. Fr. 194 (B. p. S. 416). Fr. 423 („Dahin also möchte ich den Menschen bringen, daß er die Wahrheit zu finden wünsdit . . . " ) ; Fr. 437 („Wir verlangen nach der Wahrheit . . . Dieses Verlangen ist uns geblieben . . . " ) . 54 55 Fr. 423. Fr. 194 (B. p. S. 423); so audi bei Mme Périer; Lafuma, Pen56 sées, t. III, S. 33. 2. Laporte sagt S. 9: „Die Lehre vom Herzen (cœur) bildet das Zentrum und beinahe das Ganze dessen, was man gemeinhin die 57 ,Philosophie' Pascals zu nennen pflegt." Vgl. dazu Eastwood, S. 50 ff. 54
58 und S. 135 ff. Vgl. 1. Clhevalier, S. 185; 2. Chevalier, S. 305; Benzecri, 59 60 S. 83 ff. Fr. 282; B. p. S. 186. Vinet, S. 105 und S, 190; 1. Che81 82 valier, S. 306. 2. Friedrich, S. 297. Das geschieht z. B. in „Von 83 64 der Kunst zu überzeugen", B. p. S. 186. B. p. S. 60. B. p. S. 58 f. 65 88 87 68 Fr. 277. ib. ib.; B.p. S. 58; Fr. 507. B. p. S. 59 f. werden „aimer" und „s'attadier", „lieben" und „sich hingeben", gleichgesetzt, und B. p. S. 134 wird Liebe ausdrücklich als „Hingabe des Denkens" (attachement de 89 70 pensée) definiert. Fr. 277. Fr. 283; vgl. Fr. 793, in dem es heißt, daß Jesus Christus, der Herr des „ordre de la charité", in seiner Größe nur 71 72 den „Augen des Herzens" sichtbar sei. Fr. 100 (B. p. S. 378). Audi vom „Willen" heißt es, er liebe „von Natur aus" (Fr. 81); ebenso kann der letzte der drei Pascalsdien „ordres" oder „Seinsordnungen", der „ordre de la charité", dem das „Herz" zugehört, als Ordnung des „Willens" bezeichnet werden (Fr. 460); audi die „Eigenliebe", die in der Verderbtheit des „Herzens" besteht, ist identisch mit dem „Eigenwillen", der „volonté-propre" (Fr. 472; vgl. Fr. 477). „Volonté" und „amour", Wille und Liebe werden also von Pascal nicht gesdiie-
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73 74 75 den. Fr. 185; 245; 282. Fr. 284. Fr. 248 und 282. 76 In Fr. 282 heißt es, ohne „Empfinden des Herzens" sei der Glaube nur 77 78 „menschlicher Glaube und für das Heil nutzlos". Fr. 28 4. Fr. 289; vgl. Fr. 564: im „Herzen" entscheidet es sich, ob wir der christlichen Bot79 80 schaft „folgen" oder aber sie „fliehen". Fr. 284. ib.; vgl. Fr. 81 82 83 277. B.p. S. 58 ff. Fr. 283; vgl. Fr. 793. Fr. 287. 84 85 88 Patrick, S. 153. Fr. 100 (B. p. S. 379). Lafuma, Pensées, t. III, S. 33.
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10 7902 Meyer, Pascal
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Die Verankerung 56
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der „Kunst zu überzeugen"
in Pascals
Menschenbild
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Obwohl die enge Verbindung von Anthropologie und Theologie bei Pascal nicht in Frage gestellt werden soll, meinen wir dodi, daß es bei Pascal etwas wie einen „neutralen" Aspekt des Menschen gibt, der die Frage, ob Pascal Grund2 strukturen menschlichen Daseins kennt, rechtfertigt. Vgl. hierzu den Beridit Mérés über die gemeinsame Reise mit Pascal, de Roannez und Miton in 3 die Provinz Poitou; Méré, Œuvres, t. I, S. 38ff. Fr. 112; 114—116 u. ö.; vgl. Montaignes Beschreibung des Menschen als eines „unvergleichlich eitlen, wandelbaren (divers) und leicht beweglichen Dinges", Essais, I, 1 (S. 29); vgl. audi 4 den Essai II, 1 („Über die Unbeständigkeit unserer Handlungen"). Strowski, 5 Bd. III, S. 413. Malvy, S. 22; der nachdrückliche Hinweis darauf, daß Pascal — im Gegensatz zu Descartes — das Konkrete dem Allgemeinen vorordnet, findet sich z. B. auch bei Russier (sie spricht von dem „wissenschaftlichen Charakter seines Geistes", der ihn stets von den „feststellbaren Fakten" ausgehen läßt, S. 97), Blondel (er konstatiert bei Pascal eine „hohe Wertschätzung jener Realitäten, die dem Erkennen zugänglich sind"; immer gehe es ihm darum, „das Konkrete zu beobachten und sich den Gegebenheiten der Wirklichkeit unterzuordnen", S. 149 f.), Chevalier („Pascal läßt das Wirkliche nicht in seinen Formeln erstarren; er zerbricht sie vielmehr, weil sie hinderlich sind", 2. Chevalier, S. 184) und Eastwood (Hervorhebung der Nähe Pascals zu Bergson und Poincaré); vgl. 6 ferner Patrick, S. 149, und Hubert, S. 62. So sagt z. B. Brunner, Pascal wolle „dem seienden Wie des menschlichen Lebens in seiner Konkretheit, Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit auf den Grund kommen" (S. 112). Pascals Menschenbild „baut auf dem Phänomen der Konkretion auf", „der Mensch e x i s t i e r t . . . in der Konkretion" heißt es bei Guardini (S. 66 und 72). Daß Pascal das Problem des Menschen von der konkreten Wirklichkeit her zu erfassen versucht, betonen audi Hubert (S. 62), Patrick (S. 149), Boutroux (S. 167 f.), Strowski (Bd. III, 7 8 S. 413) u. a. m. Fr. 1. ib.; ähnlich schreibt Méré in einem Brief an Pascal: „Die Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind, geschieht weder durch Ihre Zahlen noch durch dieses gekünstelte Denken (raisonnement artifi10 11 ciel . . . " ; Œuvres, t. II, S. 61. » Fr. 1. Fr. 115. Montaigne, 12 13 14 Essais, II, 1 (S.372). Fr. 111. Fr. 115. s. o. S.46f. 15 16 17 Fr. 112. Fr. 111. Vgl. Montaigne, Essais II, 1: „Mir ist bei allem, was die Menschen angeht, nichts schwerer glaublich als die Beständigkeit, nichts sdieint mir glaublicher als ihre Unbeständigkeit." „Unsere gewöhnliche Art ist es, den Antrieben unserer Begierden zu folgen, nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, wie eben der Wind der Gelegenheit uns mitnimmt. Uber das, was wir wollen, denken wir erst nach in dem Augenblick, da unser Wille schon entschieden hat. Wir sind so wandelbar wie jenes Tier, das die Farbe des Orts annimmt, wo man es hinbringt. Was wir uns in diesem Augenblick vorgesetzt haben, das lassen wir bald wieder fallen, und bald darauf kehren wir wieder dazu zu18 rück: alles ist nur Schwanken und Unbeständigkeit" (S. 368). Fr. 112; 19 21 113; vgl. Fr. 110 u. 127. Fr. 122. *> B . p . S. 188. Mon22 taigne, S. 29. D a ß Pascal „mouvement" wirklich als lineare, zielgerichtete Bewegung versteht, läßt sich aus Fr. 129 allein freilich nicht beweisen. Es zeigt sich dies aber indirekt daran, daß Pascal, wo immer er von bloßer, riditungsloser Bewegtheit sprechen will, er wohl von „Unruhigkeit" (agitation), „Aufregung" (remuement) und „Tumult" (Fr. 139), von „Unbeständigkeit" und „Veränderung" (s. o. S. 58), nie aber von „mouvement" redet; direkt wird dies durch eine Reihe von Stellen belegt, die dem „mouvement" stets ein Ausgerichtetsein zuschreiben. In definitorisdier Form heißt es in „Vom geometrischen Geist", „mou-
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vement" könne nicht „ohne Raum" sein, wobei dies so verstanden ist, daß der „mouvement" eine Raumstrecke „durchläuft" (B. p. S. 173 u. 175). Dies bleibt auch im nicht-geometrischen, im übertragenen Sinne für den Begriff des „mouvement" charakteristisch. In dem „Gebet um den rechten Nutzen der Krankheit" spricht Pascal von den „natürlichen Bewegungen (mouvements) meines Herzens, die sich auf die geschaffenen Dinge oder auf midi selbst richten" (B. p. S. 60). Ebenso bezeichnend für den Charakter des „mouvement" ist, daß in der „Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe" die „Liebe", die Pascal dort als „Hingabe des Denkens" definiert (B. p. S. 134), als „mouvement" verstanden wird. Auch Fr. 353 spricht dem „mouvement" eine Richtung zu, wenn es von einer 23 „Bewegung der Seele vom einen zum anderen dieser Extreme" redet. So etwa in Fr. 229, wo „inquiétude" gleichbedeutend neben „doute", „Zweifel" steht. 24 25 26 27 Fr. 406; vgl. Fr. 427. Fr. 406 u. 431. Fr. 427. Fr. 28 29 30 406, 427, 431. Fr. 194, B.p. S.420. Fr. 427. Fr. 73; 31 32 33 vgl. Fr. 422. Fr. 437. Fr. 425. Besonders Fr. 135, 139, 34 38 38 142 und 143 . Fr. 135. Fr. 139 (B. p. S. 393 und 394). ib. 37 38 39 S. 390, 393 u. ö. ib. S. 392. ib. S. 393. ib. S. 392, 40 41 42 43 393 u. ö. ib. S. 390. ib. S. 394. ib. S. 393 f. ib. 44 45 S. 394 f. Fr. 194 (B„ p. S. 416). Fr. 73; vgl. Fr. 82 (B. p. S. 368). 46 In Fr. 82 ist „intérêt-propre" synonym zu „amour-propre" gebraucht und wird verstanden als ein „Grund des Irrtums" menschlichen Erkennens. Ähnlich erscheint in Fr. 100, dem man die Überschrift „amour-propre" gegeben hat, dreimal der Begriff „intérêt". Er ist, wie der „amour-propre", Grund der menschlichen „Ab47 neigung gegen die Wahrheit", des „Wahrheitshasses". In Fr. 16 wird das „Interessiert-sein" an einer Sache mit Hilfe des Begriffes „amour-propre" näher bestimmt. Besonders ist dies der Fall in Fr. 194, dem gegen alle „négligence" und „indifférence" gerichteten Aufruf zum „chercher". Die dort geforderte Haltung der „inquiétude", des „intérêt" ist gleichbedeutend mit dem — hier als legitim 48 verstandenen — „amour-propre". B. p. S. 417, Anm. 2, vgl. Tourneur, 49 69 Pensées, S. 313. Fr. 194 (Β. p. S. 417). Β. p. S. 417, Anm. 2; vgl. 51 52 Tourneur, Pensées, S. 313. Fr. 194 (B. p. S. 417). B. p. S. 417, 53 54 Anm. 2; vgl. Tourneur, Pensées, S. 313. Fr. 194 (B. p. S. 417). Fr. 55 56 194 (B. p. S. 420). ib.; vgl. Fr. 198. Fr. 195 (Β. p. S. 424). 58 59 « Fr. 194 (Β. p. S. 420). ib.; S. 417. ib., S. 420; Fr. 195 (Β. p. ,0 S. 425). Diese zentrale Bedeutung des „Coeur"-Begriffes wird besonders hervorgehoben etwa bei Russier, S. 157 („coeur" als „Grund", als „die Seele selbst" des Menschen)v 2. Friedrich, S. 297 („cœur" als „Persönlichkeitszentrum"), Vinet, S. 220 („ . . . der beherrschende Gedanke und der Schlüssel seiner Apologie ..."), Rauh, S. 319 („coeur" — identisch mit „volonté" und „sentiment" — als Hauptbegriff der Pascalschen Philosophie) und 2. Laporte, S. 9 („ . . . das 61 Zentrum und nahezu das Ganze der .Philosophie' Pascals"). Vielleicht am klarsten drückt dies Friedrich aus, wenn er sagt: „Das Herz ist es . . . , das den Menschen zur Daseinssorge anstößt"; 2. Friedrich, S. 297. Bei anderen Forschern wird „coeur" gesehen etwa als Ausgangspunkt eines aktiven, ergreifenden Erkennens (Eastwood, S. 136; Patrick, S. 153), als Ort der Entscheidung (Béguin, S. 99; Brunner, S. 136), als Ausgangspunkt der Liebe oder des liebenden Erkennens (Russier, S. 163; 1. Chevalier, S. 303 f.; Guardini, S. 187ff.; Wasmuth, S.209 und 221 ; Weingarten, S. 22) oder als identisch mit der „volonté" (Malvy, S. 57 62 und 66; Russier, S.153; 2. Laporte, S.101). B. p. S.188; s. o. S.59. 83 Die Tatsache, daß diese Forderung nach „interessierender" Darstellung von uns bereits als in Pascals Wahrheitsverständnis verankert aufgezeigt worden ist (s. o. S. 55 stellt die erneute Begründung dieser Forderung vom Anthropologischen 147
her nicht in Frage, sondern verweist auf eine Entsprechung zwischen Pascals Wahrheitsverständnis und seinem Menschenbild, wie sie uns bereits bei der Frage nach der menschlichen „diversité" entgegengetreten ist (s. o. S. 57). Die Korrelation von Grundhaltung und Methode und das Ganze Pascalscher Dialogik 67
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1 Guardini, S. 293. Seit den Memoiren des P. Beurrier hat man — namentlich von katholischer Seite — immer wieder versucht, den Autor der Provinzialbriefe von dem der Apologie auf irgendeine Weise zu trennen, und wenn dies nur so geschah, daß man bei der Behandlung der „Pensées" die Provinzialbriefe einfach 2 Lafuma, Pensées, t. I I I , S. 30; die Erklärung der unberücksichtigt ließ. zur Prüfung herangezogenen Mediziner ist uns im Wortlaut erhalten. Den genauen Vorgang der wunderbaren Heilung, die sich am Nachmittag des 24. März 1656 ereignete, erfahren wir aus zwei Briefen Jacquelines an Mme Périer (s. 3 Lafuma, Pensées, t. I I I , Tourneur, Les Provinciales, t. I, S. 205 und 229). 4 2. Timotheus 1, 12. 5 Bayet bemerkt: „Dieser außerordentS. 30. 6 B. p. lichen Gunst muß eine ganz besondere Dankbarkeit entsprechen", S. 9. 7 Indirekt freilich wird dieses Ereignis sich auf den Kampf der ProS. 214. vinzialbriefe dahingehend ausgewirkt haben, daß es Pascal der Gerechtigkeit seiner Sache vollends gewiß gemacht hat. So stellt es u. a. Cailliet dar (S. 223 ff.), 8 Die und eine Reihe von Fragmenten bestätigen das (Fr. 830, 831, 832, 839). Schrift „Le Rabat-Joye des Jansénistes . . . " , deren Autor P.Annat ist, erscheint im August 1656; vgl. Tourneur, Les Provinciales, t. II, S. 11 f. u. 21 f.; vgl. auch 10 2. Lafuma, S. 49. Lafuma, Pensées, t. II, Note 878. » Fr. 839. 11 Sie ist in ihrem Inhalt bei Lafuma, Pensées, t. I unter den Nummern 830—912 wiedergegeben. Zu den Forschungen und Ergebnissen Lafumas vgl. 1. Lafuma, 12 P.Annat — in der bereits erwähnten Schrift „Le Rabat-Joye S. 27 ff. des Jansénistes . . . " — und P. de Lingendes — in einer Fastenpredigt des Jahres
1657 — hatten beide erklärt, daß selbst bei angenommener Authentizität der Wunder in Port-Royal diese Wunder niemals als Bestätigung der jansenistisdien Irrlehre angesehen, sondern nur als Warnung an alle jansenistisdien Häretiker verstanden werden könnten; vgl. Lafuma, Pensées, t. II, Notes 859 u. 878. 13 Das beweist Fr. 852; es stellt deutlich eine Notiz Pascals für einen Brief über das Wunder dar und enthält die Anrede „Sie" wie audi das von den Provinzial14 Lafuma, Pensées, t. III, briefen her bekannte „Hochwürdiger Pater". 15 Schon in seinem Gespräch mit M. de Rebours, von dem er in S. 30 f. einem Brief an Mme Périer vom 26. Januar 1648 berichtet, scheint er den Grundriß einer möglichen Apologie dargelegt zu haben (B. p. S. 86). Einige Jahre später taucht in der Unterhaltung mit M. de Saci, im Jahre 1655, der Plan einer apologetischen Verwendung der Lehren Epiktets und Montaignes auf (B. p. S. 160 ff.). 18 B. p. S. 255. 17 Daß die Apologie Pascals sich außer an die Ungläubigen auch an die Jesuiten gerichtet habe, nehmen fälschlicherweise ζ. B. Boutroux 18 1. Lafuma, S. 19; Lafuma sagt (S. 142) und Brunsdivicg (B. p. S. 256) an. dies von der beabsichtigten, freilich nicht vollendeten Apologie Pascals. 19 Etienne Périer (Β. p. S. 314) und P. Beurrier (Lafuma, Pensées, t. I I I , S. 52) nehmen noch an, die „Pensées" seien auch gegen die „Häretiker", also gegen Cal2 0 Alle drei Bezeichnungen werden von vinisten und Lutheraner, gerichtet. 2 1 Zit. Pascal völlig synonym gebraucht. nach Strowski, t. I, S. 137. 2 2 Zit. nach Strowski, t. I, S. 132 f. und 131. 2 3 Fr. 225. 2 4 Fr. 692. 2 5 Vanini, De Arcanis Naturae; zit. nach Strowski, t. I, S. 151. 2« ib. S. 152. 27 Mit diesen Worten kündigte Jean Fontainier in Paris seine atheistischen Vor2 8 P. Charron, Le Livre de la lesungen an; zit. nach Strowski t. I, S. 141.
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29 30 Sagesse; nach Strowski, t. I, S. 186ff. Fr. 556. Fr. 194 (Β. p. 51 32 33 S. 415). ib. S. 421. Frr. 222, 223 u. ö. Frr. 572, 801, 34 85 38 802. Frr. 221, 194 (B. p. S. 421) u. Ö. Fr. 226. Zit. 37 38 nach Β. p. S. 431, Anm. 2. Fr. 225. Außer der Mühe, die Pascal auf Fr. 194 verwendet hat, sind es nodi zwei weitere Gründe, die uns dieses Fragment besonders berücksichtigen lassen: einmal muß es als Versuch Pascals verstanden werden, seiner Apologie ein „Vorwort", wie Brunschvicg (B. p. S. 423 f., Anm. 5) sagt, eine Einleitung (Strowski stellte es darum an den Anfang seiner ,,Pensées"-Ausgabe) zu geben; zum anderen muß seine Abfassungszeit ganz in den Anfängen der apologetischen Arbeit Pascals angesetzt werden. (Wir setzen dieses Fragment wesentlich früher an, als Lafuma — t. II, Note 427 — es tut, erstens weil es zu den durchgearbeiteten Stücken zählt, die man nicht nach dem letzten Ausbruch der Krankheit Pascals — Januar 1659 — zu datieren pflegt, zweitens weil Pascal — in einer Ergänzung — hier vom Wunder des heiligen Doras spricht — Tourneur, Pensées, S. 314 —, und schließlidi, weil in diesem Fragment jener anthropologische Teil, der den Ungläubigen zur Annahme der „Beweise" der Religion vorbereiten sollte und im Laufe der apologetischen Arbeit Pascals einen immer größeren Umfang und eine reichere Ausformung erhielt, noch unentfaltet, 3 40 41 keimhaft vorliegt.) » Fr. 194 (B. p. S.416). ib. S.418. ib. 42 43 44 45 S. 419. ib. S.418. ib. S.416. ib. ib. S.415. 43 48 49 50 ib. " i b . S. 417. ib. S.418. ib. ib. S. 416, 417. 51 52 53 54 420. ib. S. 419. ib. S. 417. ib. S.420f. ib. S. 420. 53 58 58 ® ib. ib. S. 419 ff. « i b . S. 421. ib. ib. S. 422. 32 33 34 •»ib. S. 421. "ib. ib. S. 422. ib. Fr. 195 (B. p. 35 33 S. 424). Fr. 194 (B. p. S. 421, Anm. 3; S. 422, Anm. 2). ib. S. 421. 87 38 70 71 ib. ib. S. 420 f. ' » i b . S. 422. ib. S.421. ib. 72 73 S. 423. ib. 422. Fr. 242; Mme Périer (B. p. S. 20); vgl. Fr. 194. 74 75 Fr. 247. Dieser „Ubertritt" des Adressaten dokumentiert sich äußerlich darin, daß der in der 2. Phase der Provinzialbriefe sich anbahnende, im 11. Brief vollzogene Adressatenwechsel vom „Mein Herr" zum „Hochwürdige Patres", also vom „honnête homme" zum Jesuiten (s. o. S. 30 f.) zeitlich zusammenfällt mit dem Wunder vom heiligen Dorn und der allmählidien Entfaltung der an den 76 „honnête homme" sich richtenden Apologie. Pascal erwähnt Miton in 77 Fr. 192, 448 und 455. In der „Antwort des Provinzlers auf die beiden ersten Briefe seines Freundes", datiert vom 2. Februar 1656, schreibt Pascal über seine Briefe: „Alle Welt liest sie, alle Welt versteht sie, alle Welt glaubt ihnen. Nicht nur von Theologen werden sie gewürdigt: sie gefallen allen Gebildeten und sind selbst den Frauen verständlich." Tourneur, Les Provinciales, t. I, S. 139. 78 Zu Montaignes „Essais" als „offener" Form vgl. Friedrich, Montaigne, S. 432ff.; die Nähe der „Essais" zum Dialog heben Friedrich (ib. S. 442 ff.) und Hirzel (S. 244) hervor; zur Verwandtschaft des Essai mit der Brief-Gattung vgl. Friedrich, ib. S. 439ff.; zur Diatribe, insbesondere bei Epiktet, vgl. Hirzel, S. 247ff. 7 und vor allem Bultmann, Diatribe, S. 10 ff. » Wir meinen in der Tat, daß, wenn Pascal überhaupt etwas wie ein Vorbild f ü r die Form der „Pensées" gehabt hat, es weniger in den „Essais" Montaignes gesucht werden darf — wie es 80 meistens geschieht —, als vielmehr in Epiktets „Dissertationes". Fr. 74, 81 184, 246, 247, 248, 291. Die „Dialoghypothese" findet sich — in verschiedenen Nuancierungen — z.B. bei 1. Brunschvicg (S. LVf.), Strowski (t. III, S. 314), Laros (S. 50), Béguin (S. 10; vgl. S. 38), Hubert (S. 105 ff.), Schaedelin 82 88 (S. 30) und Spoerri (S. 168). Bultmann, Diatribe, S. lOff. S.o. 84 85 S. 23 f. Bultmann, Diatribe, S. 13. Bibliothèque Nationale, 83 87 Paris, MS 9. 202 f. f. S. 257 ff. ib. S. 347. Vgl. das Original der Fragmente 139, 160 und 293. B
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Die „Pensées" im Zeichen der dialogischen 85
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Methode
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Lafuma, Pensées, t. III, S. 62. Méré, Œuvres, t. I, S. 38 ff. 3 Vgl. 4 5 Fr. 144. Lafuma, Pensées, t. III, S. 25 f. Das legt besonders Strowski dar, t. III, S. 339ff.; es heißt dort: „Und daß Pascal selbst Gefallen daran hat, ,honnête homme' im allerweltlichsten Sinne zu sein, dafür haben wir 8 7 tausend Beweise." Fr. 242. Fr. 247; auch Mme Périer spricht davon, daß ihr Bruder mit den Ungläubigen zu „konferieren" pflegte (Lafuma, Pensées, t. III, S. 33); vgl. dazu das im Vorausgegangenen zum Adressaten der 8 „Pensées" Gesagte. Vgl. zur Entstehung des „honnêteté"-Ideals Fried9 rich, Montaigne, S. 114 ff. Vgl. dazu die „Essais" I, 25 („Du Pédantisme") 10 11 und I, 26 („De l'institution des enfants"). Montaigne, S. 164. ib. 12 13 S. 167. Friedrich, Montaigne, S. 117 f. Boulanger, Le Grand 14 Siècle, Paris 1925, S. 119. In den „CEvres Posthumes" Mérés heißt es von der Entstehung des Begriffes „honnêteté": „Da der französische Hof der größte und schönste ist und er oftmals so still erscheint, daß selbst die besten Arbeiter nichts anderes zu tun haben, als sich auszuruhen, hat es dort stets gewisse Müßiggänger gegeben, die zwar ohne Beruf, aber nicht ohne Talent waren, und die lediglich daran dachten, gut zu leben und sich mit feinem Anstand zu bewegen. Es könnte sehr gut sein, daß uns von Leuten jener Art dieses wichtige 15 Wort überkommen ist" (O. P., S. 2 f.). „Nahezu ihr (sc. der .honnêtes gens') einziges Ziel ist, überall Freude zu bringen, und ihre große Sorge richtet sich allein darauf, Achtung zu erwerben und sich beliebt zu machen . . . .Honnête homme' sein ist also kein Beruf; und wenn mich jemand fragte, worin die .honnêteté' bestehe, würde ich sagen, daß sie in nichts anderem besteht als darin, sich in allem, was Gefälligkeit und Schicklichkeit anbelangt, auszuzeichnen; denn davon hängt, wie mir scheint, der vollkommene und liebenswürdigste gesellige Verkehr ab" (O.P., S. 3). " W i l h e l m , S. 39. " O . P . S. 15; Saint-Evremont schreibt, der „gesellige Verkehr" vollende den „honnête homme" (t. II, S. 30). 18 Vgl. zu diesem Begriff etwa Mérés Traktat „Le commerce du monde" (O. P., 19 20 S. 115 ff.). Wilhelm, S. 40. In Saint-Evremonts Abhandlung „De l'étude et de la conversation" heißt es: „Der Mensch ist dazu geboren, gesellig zu sein" (t. II, S. 26); „Um als Mensch zu leben, muß man also mit Menschen sprechen; die Unterhaltung (conversation) hat das schönste Gut des Lebens 21 zu sein" (ib. S. 28). Œuvres, t. I, S. 202; an anderer Stelle schreibt Méré: „Die Unterhaltung will sauber, frei, wohlanständig und am allermeisten 22 ungezwungen sein . . . " (ib. S. 56). Œuvres, t. I, S. 56, S. 237; O. P., 23 24 S. 37 u. ö. Œuvres, t. I, S. 56. „Der gute Hörer macht den guten 25 Redner aus" (Méré, O. P., S. 14; vgl. Pascal, Fr. 34). Méré, Œuvres, 29 27 28 t. I, S. 56. ib. ib. S. 46. Vgl. Wilhelm, S. 41 ; audi Pas29 cal wertet den Typ des „Autor" ab (Fr. 29). Méré, Œuvres, t. I, S. 190. s 31 32 » Ders., O . P . , S. 121. Fr. 34. Méré, Œuvres, t. I, S . 4 6 f . 34 35 38 » Fr. 34. Fr. 36; vgl. Fr. 35. Fr. 37. Sainte-Beuve schreibt von dieser „Moral der honnêtes gens", sie sei „eine Zusammensetzung von guten Gewohnheiten, guten Umgangsformen, anständigem Benehmen; das alles beruht gewöhnlich auf einem mehr oder weniger großmütigen Kern, auf einer Natur, die mehr oder weniger gut veranlagt ist" (t. III, S. 186). 37 38 Strowski, t. II, S. 263. „Es gibt nichts, das weniger zum .honnête 39 40 homme' paßte als die Eitelkeit" (Méré, O. P., S. 126). ib. S. 33. „Alle 41 Art Ungerechtigkeit mißfällt mir", schreibt Méré (O. P. S. 48). „ . . . die .honnêteté' ist den Vorurteilen nicht unterworfen" (Méré, Œuvres, t. I, S. 267; 42 43 vgl. ib. t. II, S. 48). Ders., O. P. S. 3. Méré wendet sich scharf gegen die „falsche Freude, sich ins Licht zu stellen", oder „das, was sich dar150
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44 ib. S. 3. 4 5 ib. bietet, auf sich selbst zu beziehen" (O. P., S. 32). S. 5 f . ; ähnlich heißt es im selben „Discours": „Die .honnêteté' ist der Gipfel und 47 „Wenn mich die Krönung aller Tugenden" (S. 15). » ib. S. 16. schließlich jemand nach einem untrüglichen Kennzeichen für das Gute und das Böse fragte, so könnte ich ihm kein klareres und weniger täuschendes nennen als die Schicklichkeit (décence) und die Unschicklichkeit (indécence); denn was sich schickt ist gut, und was sich nicht schickt ist schlecht" (Méré, Œuvres, t. I, S. 119 f.). 48 Ders., O. P. S. 39. 49 ib. S. 54. 50 ib. S. 37. 5 1 Wilhelm spricht 5 2 Steimit Recht von dieser Moral als einer „ästhetischen Moral" (S. 55). 53 ib. 5 4 Méré, 5 5 ib. ner, S. 5. S. 18. O.P., S. 122. S. 121. 5 « ib. S. 126. 5 7 Ders., Œuvres, t. I, S. 126. 58 Ders., O. P., S. 143. 50 ib. S. 144. «"> La Rochefoucauld, Réflexions et Maximes, Nr. 203; besonders deutlich spricht sich diese Grundhaltung in dem Briefwechsel zwischen Méré und Miton aus. Und da sind es wiederum vor allem die Briefe Mitons, die eindrucksvoll von der tiefen Gleichgültigkeit und Resignation dieses großen „honnête homme" reden. Miton schreibt: „Ich bin gleichsam wie ein trübes Wetter, das zwar ohne Gewitter und ohne Regen, aber auch ohne Sonne ist." Er fährt fort: „Sie teilen mir mit, daß Sie daran denken, ein unvergängliches Werk zu schreiben. Ich weiß, daß, wenn überhaupt jemand so etwas ausführen könnte, Sie es wären. Aber ist die Welt diese Mühe wert? Solche Dinge lassen sich nicht ohne viel Arbeit machen. Man schädigt seine Gesundheit durch tiefsinnige Uberlegungen, und der Lohn ist nur sehr gering. Das Sicherste ist, will mir scheinen, nur an einfache, ja oberflächliche Dinge zu denken und immer wieder darauf zurückzukommen" (Méré, Œuvres, t. II, S. 252 f.). — Eine gute Beschreibung des „honnête homme" in seiner besonderen Daseinshaltung gibt Pascal in Fr. 331, in dem er Piaton und Aristoteles als „honnêtes gens" beschreibt; vgl. auch das Bild, das Pascal in seinem „Gespräch mit M. de Saci" von Montaigne entwirft; 61 Méré, Œuvres, t. I, S.56. 6 2 Ders., O.P. s.o. S.22f., Anm. 38. M Der S. 50. Gegensatz von „négligence"-Haltung und Glückseligkeitsstreben scheint vom „honnête homme" nicht empfunden zu werden. In der Tat löst er sich für ihn teilweise dadurch wieder auf, daß der gesuchte „bonheur" nichts anderes ist als die vollkommene „honnêteté", zu der ja audi jene Grund64 Méré, Oeuvres, t. I, S. 47. haltung der „négligence" mithinzugehört. 6 5 ib. S. 266. β β „Man muß an der Idee der Vollkommenheit arbeiten", 67 ib. S. 47. schreibt Méré (Œuvres, t. I, S. 19). « 8 ib. t. II, S. 48; Saint-Evremont bezeichnet die „conversation" als das „schönste Gut des Lebens" (t. II, S. 28), und Méré sagt von der das rechte gesellige Miteinander meisternden „Tugend" des „honnête homme": „Von dieser so kostbaren Tugend hängt das 69 Méré, O.P., S. 3 und 15. höchste Glück des Lebens ab" (O.P., S. 34). 70 Immer wieder ist bei Méré vom „Gefallen" die Rede. Er kann sagen: „ . . . in welcher Form auch immer die ,honnêteté' erscheint, stets gefällt sie. Das ist es, woran man sie in erster Linie erkennen kann." Oder: „Er scheint mir, daß bei dem Vorhaben, ein .honnête homme' zu werden, es am wichtigsten ist, in allen Situationen die besten Mittel zum Gefallen erkennen und anwenden zu können" 7 1 Es heißt bei Méré: „Die voll(Œuvres, t. I, S. 265, und t. II, S. 30). kommene ,honnêteté' zeigt sich daran, daß man die besten Mittel und Wege wählt, glücklich zu leben und die glücklich zu machen, die es verdienen" (O. P., 7 2 Vgl. die Aussagen Mérés, die sidi ähnlich häufig wiederholen: S. 18). „Nahezu das einzige Ziel der .honnêtes gens' ist es, überall Freude zu bringen." Oder: „Man soll nicht so sehr an sein eigenes Vergnügen denken als an das der 73 Méré, Oeuvres, Menschen, mit denen man verkehrt" (O. P., S. 3 und 32). t. II, S. 48; vgl. S. 30, wo es heißt: „Allein um (den Anderen) angenehm zu sein,
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74 sollte man wünschen, ,honnête homme' zu werden." ib. t. I, S. 195. Vgl. Saint-Evremonts Abhandlung „Des ennuis e t des déplaisirs", in der er schreibt: „Es ist eins der großen Geheimnisse des Lebens, unseren Ü b e r d r u ß 78 (ennui) mindern z u können . . . " (t. IV, S. 25). Méré, Œ u v r e s , t. I, S. 57; 77 78 79 vgl. ib. S. 56, 186 und 187. ib. S. 56. ib. S. 186 ib. 80 S. 119 f. Die besondere Beredsamkeit Mirés u n d der „honnêtes gens" hatten w i r bereits im zweiten H a u p t t e i l unserer Arbeit dargestellt; s. o. S. 44 f. 81 So k a n n Saint-Evremont in seinem „Jugement sur les sciences où peut s'appliquer un honnête homme" Theologie, M a t h e m a t i k u n d Philosophie — verstanden als in erster Linie um metaphysische Fragen kreisende „Schulphilosophie" (t. IV, S. 167) — verwerfen u n d sagen: „Ich sehe keine Wissenschaft, die die .honnêtes gens' besonders anginge, außer der Moral, der Politik und der sdiönen Wissenschaft. Die erste betrifft die Vernunft, die zweite die Gesellschaft, die dritte die U n t e r h a l t u n g " (t. I, S. 203 f.). Ähnlich heißt es bei ihm an anderer Stelle, daß er nur die „Λ/ora/philosophie" zu schätzen vermöge, da sie sich „vor allem" mit den „menschlichen Verhaltensweisen" befasse (t. IV, S. 167). — Will man von der A r t und den Ergebnissen dieses Mensdienstudiums reden, so kann man hier weniger denn je zuvor zwischen den „honnêtes gens" und den französischen Moralisten des 17. J a h r h u n d e r t s scheiden. O b Montaigne, La Rochefoucauld, SaintE v r e m o n t oder La Bruyère, jeder ist dem Ideal der „honnêteté" so sehr verpflichtet, daß man ihn zum Kreis der „honnêtes gens" rechnen m u ß . Von Montaigne, dem ersten großen Lehrmeister der „honnêteté", hatten w i r dies bereits gezeigt. La Rochefoucauld, ein geschätzter u n d häufiger Gast im Salon der Mme de Sablé, Bekannter des Chevalier de Méré (vgl. Mérés Bericht über ein Gespräch mit La Rochefoucauld; Œ u v r e s , t. I I , S. 45ff.), r ü h m t in seinen Maximen die „honnêteté" (Réflexions et Maximes, N r . 202 u n d 203), stellt sie „über alles" (Méré, Œ u v r e s , t. I I , S. 47) und ist selbst „einer der größten ,honnêtes hommes' der Welt" (ib. S. 355). Auch das Lebens- u n d Bildungsideal Sainte-Evremonts ist — seine Schriften lassen darüber k a u m einen Zweifel — ganz das der „honnêteté"; er h a t in sein Werk sogar eine A b h a n d l u n g Mitons — auch sie handelt von der „honnêteté" — aufgenommen, was auf eine nahe Bekanntschaft mit diesem „honnête homme" p a r excellence schließen l ä ß t (Méré, Œ u v r e s , t. I I , S. 327). U n d von La Bruyère, der in seinen Arbeiten immer wieder das Lob der „honnêteté" anstimmt (vgl. Caractères, „Du mérite personnel" N r . 15, „De la société et de la conversation" N r . 20, „Des jugements N r . 55), k a n n Boileau an Racine schreiben: „Er ist ein großer .honnête homme', dem nichts fehlen würde, wenn die N a t u r ihn so liebenswürdig gemacht hätte, wie er es zu sein wünscht" (Boulanger, 82 a. a. O. S. 421). Wir weisen zurück auf unsere Darstellung des Pas83 calschen Menschenbildes; s.o. S . 5 6 f f . „Ich habe die Fehler des Geistes und des Herzens der meisten Menschen gesehen", sagt La Rochefoucauld in einem Gespräch zu Méré, und dieser stimmt den Worten zu (Méré, Œ u v r e s , t. I I , S. 46). 75
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85 ib. t. I, S. 47. La Rochefoucauld, Maximes supprimées, N r . 583. 87 Ders., Maximes posthumes, N r . 509. Méré, Œ u v r e s , t. I, S. 33. 88 89 ib. S. 267 und t. I I , S. 48. ib. t. I, S. 46; vgl. Montaignes Essais 0(1 über die „Gewohnheit", I, 23 u n d I, 49. L a Bruyère, Caractères, „Des 91 jugements", N r . 41. Montaigne, S. 122; vgl. den ganzen Essai I, 21 (De 02 la force de l'imagination). Méré, O . P . , S. 126: „Es gibt nichts, das weniger zum „honnête homme" p a ß t e als die Eitelkeit" (vgl. Œ u v r e s , t. II, 93 94 S. 361). La Rochefoucauld, Réflexions et Maximes, N r . 443. ib. 95 Nr. 388. Montaigne widmet dieser „inconstance de nos actions" einen ganzen Essai: I I , 1. Er schreibt d o r t : „Wir sind so w a n d e l b a r wie jenes Tier, das die Farbe des Orts annimmt, w o man es hinbringt. Was wir uns in diesem Augen8β
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blick vorgesetzt haben, das lassen wir bald wieder fallen, und bald darauf kehren wir wieder dazu zurück: alles ist nur Schwanken und Unbeständigkeit" (S. 368 f.)· „Wir schwanken hin und her zwischen verschiedenen Ansichten: nichts wollen wir 98 freiwillig, nidits unbedingt, nichts beständig" (S. 369). La Bruyère, 97 Caractères, „De l'homme", Nr. 6; vgl. Nr. 18. Méré, O . P . S. 6. Die Anwendung der zweiten Grundregel der „Kunst zu überzeugen" 1
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Dedieu zählt für die Zeit von 1600 bis 1640 30 apologetische Neuerschei2 nungen, Neuauflagen und Übersetzungen (2. Dedieu, S. 27 f.). Es sind das die „Theologia naturalis sive liber creaturarum" des Raimundus Sebundus, erschienen in den Jahren 1434/36, die der junge Montaigne übersetzt und später in einem ausführlichen Essai (II, 12) der Form nach zwar verteidigt, in Wirklichkeit aber kritisiert, weiter die „Trois Vérités" des Père Charron aus dem Jahre 1593, die Pascal in Fr. 62 selbst erwähnt, der „Pugio fidei" des Raimundus Martini aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und allenfalls noch das apologetische Werk Hugo Grotius', „De veritate religionis christianae", dessen 3 französische Übersetzung 1636 erscheint. Strowski schreibt: „Pascal· hat keiner von ihnen (sc. den systematischen Apologien seiner Zeit) seinen Plan und 4 seinen Aufbau entnommen" (t. III, S. 258). Fr. 22 lautet: „Man sage nicht, ich hätte nichts Neues gesagt: die Anordnung des Stoffes ist neu. Jeder spielt, wenn man Ball spielt, mit dem selben Ball, aber einer piaziert ihn besser."
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Friedrich schreibt von Montaigne: „Nun ist alles, wofür sich Montaigne interessiert, bezogen auf die eine Grundfrage: Was ist der Mensch? — oder nodi genauer: Was sind die Menschen?" Dasselbe gilt von allen Moralisten (Friedrich, 7 8 94 Montaigne, S. 12). « Fr. 547. Fr. 434; vgl. Fr. 430. Fr. 545. 10 96/98 » Lafuma, Pensées, t. III, S. 33. Als Beispiele seien hier kurz die Aufrisse der von Pascal wahrscheinlich gelesenen Apologien Martinis, Charrons und Grotius' angeführt: die drei Bücher „Pugio fidei" beschäftigen sidi mit der Existenz Gottes, mit dem Messiasbeweis und schließlich mit der Trinität, dem Sündenfall, Jesus Christus und der Kirche; die „Trois vérités" umfassen erstens den Gottesbeweis, zweitens den Wahrheitsbeweis der diristlichen Religion und drittens die Widerlegung der atheistischen Anschauung Du-Plessis-Mornays; Grotius' „De veritate" beschäftigt sich im ersten Buch mit der Existenz Gottes, im zweiten mit der Wahrheit der christlichen Religion, im dritten mit der Frage der Echtheit von Altem und Neuem Testament; das vierte Buch richtet sich gegen den Atheismus Vaninis, im fünften Budi geht es um die Frage des Judentums, im sechsten um die mohammedanische Religion. Die Anwendung 99
der dritten Grundregel der „Kunst zu überzeugen"
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Pascal hat ein stark ausgeprägtes Gefühl dafür, daß die Methode dem Gegenstand zu entsprechen hat. So würde eine systematische Abhandlung über den Menschen ihren Gegenstand nicht zu erfassen vermögen, weil der Mensch in seiner zeitlich-bewegten, dynamischen Existenz, wie auch in seiner Verworrenheit und Selbstwidersprüchlichkeit, um deren Aufweis es Pascal ja geht, sich jeder starren Systematik entzieht. So sagt er am Ende von Fr. 373 : „Ich würde meinem Gegenstand zuviel Ehre antun, wollte ich ihn nach einem Plan behandeln, da ich 2 zeigen will, daß er dazu nicht geeignet ist." So schreibt Brunsdivicg von der besonderen inneren Ordnung der „Pensées" : „Jeder einzelne der Briefe, jeder einzelne der Dialoge, aus denen sich die Apologie zusammengesetzt haben würde, sollte so ein Ganzes bilden und in sich selbst abgerundet sein; keine einleitende Untersuchung, keine vorläufige Erörterung: jeder Akt des Dramas sollte zum 153
selben Ergebnis führen" (1. Brunsdivicg, S. L V I I ) . Ähnlich heißt es bei Petitot (S. 143): „Wenn Pascal einen Gedanken sdireibt, behandelt und entwickelt er ihn für sich, ohne sidi besonders um den Bezug (sc. dieses Gedankens) zu den anderen zu kümmern"; freilich, so fügt Petitot gleich hinzu, bleibt jeder „Gedanke" auf 3 V o r w o r t der Ausgabe von P o r t - R o y a l , B . p. die leitende Idee bezogen. 4 Sie werden etwa von L a f u m a in seiner Ausgabe der S. 310. „Pensées", 5 Pascal selbst ist sidi der Zuordnung und Abgren1 0 0 t. I, S. 29, angegeben. zung der verschiedenen Gedankenkreise nicht sicher: z . B . hat e r das F r . 139 zuerst „Niedrigkeit" (misère) überschrieben, um es dann in „Zerstreuung" abzuändern; die Gedanken zu den „Täuschungsmächten" begegnen unter dem Stichwort „Eitelkeit"; Notizen, die zum „Brief über die Ungerechtigkeit" gehören müßten, finden sidi in der Liasse „Niedrigkeit"; und die unter dem Titel „Ubergang vom Mensdien zu G o t t " zusammengefaßten Fragmente würden inhaltlich viel besser zu den Themen „Eitelkeit" (Fr. 72 u. 98) und „ G r ö ß e " (Fr. 347) passen. 7 Zit. nach 1. Brunsdivicg, S . X C V . 8 Fr. 101 · 1. Brunsdivicg, S. X C I V . 1 0 F r . 4 4 8 ; die Destruktions1 0 2 185. » G. E., t. X I I , S. C C X X X V I I I . psydiologie eines zum engen Kreis der „honnêtes gens" gehörenden L a Rodiefoucauld und L a Bruyère scheint keine Würde des Mensdien zu kennen, die in ihrer Wurzel nicht Verwerflichkeit, keine Größe, die nicht Niedrigkeit wäre, und bei Montaigne, dem großen Lehrmeister der „honnêtes gens", sind die Niedrigkeitsaussagen stellenweise so dicht und so radikal, daß angesichts ihrer geradezu von einem „Abtragen aller Würdezeichen" des Mensdien geredet werden kann (Friedridi, Montaigne, S. 152); er spricht von der „menschlichen T o r h e i t " (Montaigne, I, 2, S. 34), der „Schwäche" oder „Niedrigkeit unserer Seinslage" (ib. I I , 23, S. 769, und I I , 12, S. 571); „Ist deir Mensch nidit ein niedriges T i e r ? " fragt er (I, 30, S. 237), und die Antwort lautet: „Das gefährdetste und zerbrechlichste aller Geschöpfe ist der Mensch. E r fühlt und sieht, wie er hier im Schlamm und K o t der W e l t haust, angehaftet an den schlechtesten, totesten und verkommensten Teil des Universums, im untersten und vom Himmelsgewölbe entferntesten Stock1 1 „Curiosité" sei eines von werk der Wohnung . . ( i b . , I I , 12, S. 4 9 7 f . ) . Montaignes „Lieblingswörtern", schreibt Friedrich (Montaigne, S. 445). Sie bilde die „gesunde Triebkraft seines eigenen menschenkundlichen Sinnes" (ib. S. 158). Vgl. etwa das Wort Montaignes: „Um einen Mensdien zu beurteilen, muß man lange und mit Neugier (curieusement) seine Spur verfolgen" ( I I , 1, S. 373). Wie sehr Montaigne von dieser Lust am Sehen und Beobachten beherrscht ist, zeigt plastisch seine Äußerung angesichts der Bürgerkriege seiner Zeit: „ . . . meine Neugier (curiosité) macht, daß idi durchaus Gefallen daran finde, mit meinen Augen dieses bemerkenswerte Schauspiel unseres politischen und sozialen Sterbens in seinen Symptomen und seiner Form zu beobachten. D a ich es nicht aufhalten kann, bin ich es zufrieden, dazu bestimmt zu sein, an ihm teilzunehmen und midi 1 2 Friedrich, Montaigne, S. 181. davon zu unterrichten" ( I I I , 12, S. 1173). 103
1 4 ib. I I I , 9, S. 1109. 1 5 ib. I I I , Montaigne, I I I , 11, S. 1151. 13, 1 6 L a Bruyère, Caractères, „De l'homme", N r . l . 1 7 Montaigne, S. 1202. 1 8 Méré, O . P . , S. 122. 1 9 Friedrich, Montaigne, I I , 12, S . 5 5 9 . S.215. 2 1 ib. S. 236 f. 2 2 Montaigne, I I I , 9, S. 1075. 2 3 Fried1 0 4 2» ib. S. 243. 2 4 ib. S. 180. 2 6 Méré, O . P., S. 15; zum Folrich, Montaigne, S. 237. genden vergleiche unsere Darstellung des „honnête homme", s. o. S. 90 f. 2 6 Méré, O . P . , S. 5 f . 2 7 In einem Brief schreibt M é r é : „Sie ahnen nicht, wie überaus selten es ist, einem ,honnête homme' zu begegnen. Ich habe einen Freund, der nadi Indien fahren würde, um nur einen einzigen zu sehen. Vielleicht nimmt er es hierin zu genau, aber er versichert immer, daß sie (sc. die .honnêteté') eine reine Idee sei und man von ihr nur den Schatten und den 13
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Abglanz sehe. Wie dem auch sei, je mehr man sidi der Idee nähert, um so größeren 28 Verdienst erwirbt man" (Œuvres, t. II, S. 283; vgl. O . P . , S. 17f.). Méré, 29 Œuvres, t. I, S. 184. Méré sagt von der „Torheit": „Sie ist starrköpfig, lästig, arrogant, neidisch, treulos, undankbar, rechthaberisdi, formalistisdi, bürgerlich, pedantisch, selbstsicher, geizig, auf alles bedadit und hält starr an ihren Rechten fest. Sie bewundert allein das Vermögen und die gesicherte Stellung" 30 (Oeuvres, t. I, S. 33). „Die falschen .honnêtes gens' sind jene, die ihre Fehler gegenüber anderen und s idi selbst verbergen; die wahren .honnêtes gens' sind jene, die sie kennen und eingestehen" (Réflexions et maximes, Nr. 202). 81 32 S. o. S. 89 f. Alle folgenden Zitate sind — sofern nicht ausdrücklich 33 34 anders vermerkt — diesem Fragment entnommen. Fr. 83. Zitiert 35 nach dem ursprünglichen Text; Tourneur, Pensées, S. 177. Β. p. S. 363, 3,1 37 Anm. 1. Fr. 83 . „Admiration" konnte im Sprachgebraudi des 17. Jahrhunderts gleichbedeutend sein mit „étonnement", einem staunenden, betroffenen oder gar sidi entsetzenden SiA-verwundern; vgl. etwa den Satz aus den „Drei Vorträgen" Pascals: „Sie würden entsetzt sein (admireriez) über seine Dummheit und Torheit" und dazu die Anmerkung von Brunsdivicg (B. p. S. 235), oder auch die in Fr. 72 begegnende Wendung : „ . . . denn wer wird nicht erstaunt sein (admirera), daß unser Körper, der eben nodi unmerkbar in der Welt war, die 38 selbst unfaßbar im Schöße des Alls ist, jetzt ein Koloß ist . . . " Ζ.B. 3 41 42 Fr. 325 und 326. » Fr. 297 ff. 40 Fr. 294. Fr. 304 Fr. 43 44 45 4e 3 75 . Fr. 326. Fr. 325. Fr. 304. Fr. 294 und 47 48 49 308. Fr. 304. Fr. 314. Fr. 317 bis. so p r - 330. 51 52 ib. Fr. 320. Die dialektische Vertiefung
der übernommenen
Niedrigkeitserkenntnis
2 3 Fr. 435. Fr. 406; vgl. Fr. 427, 431 u. ö. Fr. 406; vgl. Fr. 427. 4 7 8 Fr. 423. « Fr. 398. « Montaigne, II, 1. ib. S.367. Fried8 10 rich, Montaigne, S. 207. Réflexions et maximes, N r . 189. ib. Nr. 11 12 13 14 113 478. Fr. 351. Fr. 350. Fr. 430. Montaigne, I, 15 16 3, S. 35. Caractères, „De l'homme", N r . 19. S. o. S. 89. 17 18 Montaigne, I, 3, S. 35. La Bruyère, Caractères, „De l'homme", N r . 19. 20 21 114 1» Montaigne, III, 13, S. 1199. Ders. I, 3, S. 35. Ders. III, 13, 22 S. 1255. Montaigne, I, 3, S. 35; unmittelbar vor diesem Zitat nimmt Montaigne ein Wort aus Piatons Timaeus auf : „Tue deinen Teil und erkenne dich selbst", und interpretiert es: „Wer seinen Teil tun müßte, würde sehen, daß seine erste Aufgabe darin besteht, zu erkennen, was er ist und was ihm gemäß ist. Und wer sidi selbst erkennt, sieht nicht mehr den Teil des Anderen als seinen Teil an. Er liebt sich selbst und bildet sich aus vor allem anderen. Er entschlägt sich überflüssiger Beschäftigungen und nutzloser Gedanken und Pläne." Audi· Epikur wird als Zeuge für soldi eine Lebenshaltung angeführt: „Epikur entbindet seinen Weisen von der Vorsorge und Besorgnis um die Zukunft" (ib.). Einprägsam formuliert Montaigne selbst diesen Gedanken in einem anderen Essai: „Kurz: man muß den Strom unter der Brücke hindurdifließen lassen, ohne sidi darum zu kümmern oder — zumindest — sidi dadurch stören zu lassen" (III, 8, S. 1040). Vgl. hierzu, was Friedridi über Montaignes Weisheit, insbesondere über seine „Grundhaltung des 23 Gehorsam", seinen „Naturgehorsam" sagt (Montaigne, S. 388 ff.). Méré, 24 25 2 Œuvres, t. I, S. 123. ib. S. 57. Ders., O. P., S. 122. « Montaigne,
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27 28 115 " I , 3, S. 35 . Fr. 434 (B. p. S. 530). ib. (B. p. S. 531). „Gebt nunmehr adit"—schreibt Pascal in Fr. 430 — „auf die Regungen der Größe und Herrlichkeit, die die Erfahrung so vielfältiger Niedrigkeit nidit auszulösdien vermag." Ähnlich spricht Fr. 411 vom „Trieb, den wir nicht unterdrücken können,
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30 Fr. 437. 5 1 Fr. 425. w Fr. 395. 3 3 Fr. 116 der uns emporhebt." 3 4 ib. 35 Es geht hier vor allem um Fr. 139, zu dem die übrigen 425. „divertissement"-Fragmente im Verhältnis von Vorarbeit oder Ergänzung stehen. Die folgenden Zitate stammen — sofern nicht ausdrücklich anders vermerkt — 3 6 Man muß den Begriff „divertissement" hier zuaus diesem Fragment. nächst ganz einfach als Synonym zu „amusement", „plaisir" und „agrément", also zu „Vergnügen" verstehen, wie der Sprachgebraudi von Fr. 139 zeigt. Die abwertende Bedeutung, zu der das deutsche „Zerstreuung" bereits tendiert, erhält der 37 Fr. 167. „divertissement"-Begriff hier erst durch Pascals Interpretation.
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3 8 Fr. 135. 4 0 Vgl. hierzu Fr. 168: „Zer Vgl. Fr. 142 und 143. streuung: da die Mensdien unfähig waren, Tod, Niedrigkeit, Unwissenheit zu überwinden, einigten sie sich, um glücklich zu sein, nicht daran zu denken." Und Fr. 169: „Trotz dieser Niedrigkeit will der Mensch glücklich sein und nichts als glücklich sein, und er ist nicht fähig zu wollen, daß er es nicht sei; wie aber kann er es sein? Nötig wäre, damit er es sei, daß er sich unsterblich mache, da er das 4 1 Wie Pascal aber nicht kann, verfiel er darauf, nicht daran zu denken." seinen Hörer in das Wissen und Empfinden seiner Fragwürdigkeit hineinführen will, zeigt besonders deutlich Fr. 420: „Rühmt er sich, so erniedrige idi ihn; erniedrigt er sich, so rühme idi ihn; und immer widerspreche ich, bis er begreift, daß er ein unbegreifliches Unwesen ist." Audi in Fr. 430, dem Pascal übrigens den Platz anweist: „Nachdem die Unbegreiflichkeit erklärt worden ist", endet die Darstellung des Menschen in dem Aufweis der dialektischen Niedrigkeit und damit zugleich der radikalen Fragwürdigkeit: „Folge deinen Regungen, beobachte dich selbst und sieh zu, ob du nicht die lebendigen Merkzeichen dieser beiden Naturen entdeckten wirst. Könnten so viel Widersprüche in einem einfachen Wesen sein? Unbegreiflich! — Alles was unbegreiflich ist, ist trotzdem." Vgl. ebenfalls Fr. 434, das den Menschen in seiner unauflösbaren Selbstwidersprüchlidikeit schildert und ihn schließlich als „Chaos", „Wirrnis" und „Trugbild" bezeichnet. Ohne das Mysterium der Erbsünde, das unsere Rätselhaftigkeit erklärt, so heißt
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4 ! Fr. 423. 4 3 Fr. 406; 118 es dort, „sind wir uns selbst unbegreiflich." 4 4 Fr. 435. 4 5 Fr. 398 und 409. 4 3 Fr. vgl. Fr. 427, 431 u.ö. 399; vgl. Fr. 397: „Die Größe des Menschen ist groß, weil er sich als niedrig erkennt. Ein Baum weiß nidits von seiner Niedrigkeit." Und Fr. 409: „So offenbar ist die Größe des Menschen, daß er sie selbst aus seiner Niedrigkeit gewinnt. Denn was den Tieren natürlich ist, nennen wir bei den Menschen Niedrigkeit." 4 7 Fr. 347 und 348. 4 8 Es ist bezeichnend', daß beide „Sdiilfrohr"-Fragmente nicht vom Denken an sich reden, sondern vom „richtigen Denken" oder von der „Ordnung des Denkens". Was aber diese „Ordnung des Denkens", dieses „richtige Denken" bedeutet, sagt unmißverständlich Fr. 146: „richtig zu denken" oder die rechte „Ordnung des Denkens ist, daß man mit sich selbst beginnt, sowohl mit seinem Schöpfer als auch mit seinem; Ende". Das „Denken", von dem Pascal spricht, wenn er von dem „denkenden Schilfrohr" redet, ist also nichts anderes als das „Verlangen", nämlich das Fragen und Suchen des Menschen nach sich selbst.
Die Radikalisierung der übernommenen Niedrigkeitserkenntnis als Hinfährung an die Grenze des Daseins und die Schwelle der Offenbarung 119/120
3 Fr. 430 (B. p. S. 523 f.). 4 Die Un» Fr. 425. * Fr. 432. möglichkeit, daß der Mensch aus eigenem Erkenntnisvermögen heraus zur Erkenntnis des Urstandes und der Erbsünde, den beiden Zentralaussagen der biblischen Botschaft über den Mensdien, gelangt, betonen ausdrücklich Fr. 445 und 560. „Die Erbsünde ist für den Menschen Torheit . . . Diese Torheit aber ist weiser
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als alle Weisheit der Menschen . . . ; denn was würde man sonst sagen, daß der Mensch sei? Von diesem undurchdringlichen Punkt hängt seine Lage ab, und wie sollte der Mensch mit seiner Vernunft einsehen, was gegen die Vernunft ist, und von dem sich die Vernunft entfernt, sobald man es ihr vorlegt, statt es auf ihren Wegen auszusinnen?" (Fr. 445). „Weder verstehen wir die Seinslage der Herrlichkeit Adams, nodi die N a t u r seiner Sünde, noch die Fortzeugung der Sünde von ihm auf uns. Das alles sind Dinge . . . , die unser gegenwärtiges Fassungsver5 121 mögen übersteigen" (Fr. 560). Karl Jaspers, Philosophie, Berlin 1932, 7 Bd. II, S. 204. « Fr. 434 (B. p. S. 531, Anm. 2). Fr. 406, 427 und 8 9 10 431. Fr. 430 (B. p. S. 523). Fr. 194, 242, 585, 586 u. ö. „Die Schrift . . . sagt, daß Gott ein verborgener Gott sei; und daß er die Menschen seit der Verderbnis der Natur in einer Blindheit ließ, von der sie nur durch Jesus Christus befreit werden können, ohne den jede Verbindung mit Gott aufgehoben ist: Nemo novit Patrem, nisi Filius, et cui voluerit Filius revelare" (Fr. 242). Daß auch die Offenbarung Gottes in Christus die Verborgenheit nicht völlig aufgibt, sondern eine Verhüllung wahrt, die nur der Glaube durchdringt, betont 11 Pascal an zahlreichen Stellen; so z. B. in Fr. 565, 757 und 786. Fr. 435. 12 13 Fr. 430 (B. p. S. 523). Wie der Deus absconditus für Pascal keineswegs ein schlechthin unsichtbarer, sondern ein dem Menschen sich immer zugleich verbergender und zeigender Gott ist, sagt audi Fr. 557: „Es ist richtig, alles belehrt den Menschen über seine Seinslage, aber man muß genau zuhören; denn es ist nicht richtig, daß alles Gott enthülle, und es ist nicht richtig, daß alles Gott verberge. Es ist aber zugleich richtig, daß er sich vor denen verbirgt, die ihn versuchen und sich denen enthüllt, die ihn suchen, weil die Menschen zugleich Gottes unwürdig wie Gottes fähig sind; unwürdig, weil sie verderbt sind, fähig auf Grund ihrer ersten Natur." Ähnlich heißt es vom Deus absconditus in Fr. 848: 14 122 „ . . . selbst wenn er sich verbirgt, erleuchtet er uns zu unserem Heil." Vgl. dazu besonders die oben (S. 118 f.) angeführten Stellen aus Fr. 425 und Fr. 435. Dieselbe bezeidinende Frageform findet sich in Fr. 431 („Wer erkennt nicht aus alledem, daß der Mensdh verirrt, daß er von seinem Platz gefallen ist . . . ? " ) und Fr. 430 („Gebt nunmehr acht auf die Regungen der Größe und Herrlichkeit, die die Erfahrung so vielfältiger Niedrigkeit nicht auslöschen kann, und überlegt, ob ihr Grund nicht in einer anderen N a t u r liegen muß." „Beobadite didi selbst und sieh zu, ob du nicht die lebendigen Merkzeichen dieser beiden Naturen entdecken wirst. Könnten so viele Widersprüche in einem einfachen Wesen sein?" (B. p. 15 123 S. 523 f.). Bereits in der allerersten uns überlieferten, vom Januar 1648 datierenden Äußerung Pascals über eine mögliche Apologie der diristlidien Religion begegnet dieser Gedanke vom „recht geleiteten Denken". Pascal schildert dort ein Gespräch mit seinem Beichtvater M. Rebours und schreibt: „Ich sagte ihm, idi sei der Meinung, daß man mit den Grundsätzen selbst des gesunden Menschenverstandes viele Dinge beweisen könne, von denen die Gegner sagen, sie seien ihm entgegen, und daß das redit geleitete Denken den Menschen geneigt macht, sie zu glauben, obwohl es sie ohne Hilfe des Denkens zu glauben gilt" le (B. p. S. 86). „Wenn diese zwei Zustände (sc. der „Zustand der Schöpfung" und der „Zustand der Verderbtheit") enthüllt sind, ist es unmöglich, daß du sie nicht erkenntest. Folge deinen Regungen, beobachte dich selbst und sieh zu, ob du nidit die lebendigen Merkzeichen dieser beiden Naturen entdecken wirst" 17 18 (Fr. 430, B. p. S. 524). Fr. 441. Bereits in der Schrift „Über die Kunst zu überzeugen" macht Pascal ausdrücklich den Vorbehalt: „Ich spreche hier nicht von den göttlichen Wahrheiten, denn idi würde mich hüten, sie der Kunst zu überzeugen einzuordnen, da sie unendlich höher sind als die Natur. Gott allein vermag sie in die Seele zu legen und auf die Art, die ihm gefällt" (B. p. 157
S. 185). Wenn die „Pensées" trotzdem eine Anwendung der „Kunst zu überzeugen" darstellen, so weist das lediglich darauf hin, daß Pascal seine Meinung in diesem Punkte präzisiert, nicht aber aufgegeben hat. Nie übersieht Pascal die Distanz zwischen Gotteserkenntnis und Gottesliebe (Fr. 280), nie vergißt er, daß der Glaube letztlich „Geschenk Gottes" und nicht „Gabe der Vernunft" ist (Fr. 1 9 Méré, O . P . , S. 14; s.o. S.87. 2 0 Fr. 185. 124/125 279; vgl. Fr. 248). 2 1 Fr. 15. Schiaß: Pascals dialogische Verkündigung 126
und das Problem der
Apologetik
E. Brunner, Die andere Aufgabe der Theologie, Zw. d. Zeiten, 1929, S. 275. s F. K . Schumann, Neue Wege der Apologetik? Theol. Rundschau, ib. 4 Doerne, Das unbewältigte Problem der Apologetik, 1929, S. 290 f. u. 305. 5 Eiert schreibt: „Bedenkt man Theol. Literaturztg., 1950, Sp. 259. ..., daß Zöckler vier Jahezehnte hindurch in dem von ihm herausgegebenen „Beweis des Glaubens" alle apologetisch Interessierten mit seinen Augen zu sehen angeleitet hat, so darf man urteilen, daß die einseitig naturalistische Tendenz der praktischen Apologeten im letzten Jahrhundert zum guten Teil auf Zöcklers Vorbild zurückgeht" (Der Kampf um das Christentum, München 1921, S. 248). * Zöckler, Geschichte der Apologie des Christentums, Gütersloh 7 Solche Berufungen auf Schleiermachers Verständnis von Apo1907, S. 1 f. logetik, wie er es in der „Kurzen Darstellung des Theologischen Studiums" (§ 39 ff. u. § 43 ff.) entwickelt, finden sich beispielsweise bei J . Kaftan (Die Wahrheit der christlichen Religion, Basel 1888, S. 573 f., und Dogmatik, Leipzig/Tübingen 1897, § 11) und Wobbermin (Systematische Theologie, Bd. I, 2. Aufl., Leipzig 1925, 8 Nach J . Kaftan soll die Apologetik das „Princip der S. 149 f. u. S. 153). Offenbarung . . . als das der Vernunft entsprechende beweisen". Die Dogmatik ist dann lediglich die „Ableitung", „Deduktion", „Entfaltung" der einzelnen Glaubenssätze aus diesem als wahr erwiesenen Prinzip. (Die Wahrheit der christlichen Religion, Basel 1888, S. 571). Vgl. Kaftans Dogmatik, § 11 („Voraussetzung der Dogmatik ist die allgemeine Wahrheit und universelle Bedeutung des christlichen Glaubens, welche darzuthun die Aufgabe der Apologetik ist"). — Wie Kaftan so sieht audi Th. Haering in der Apologetik die der Dogmatik vorausgehende „Begründung seiner (sc. des Glaubens) Wahrheit". Sie „handelt vom Wesen, dann von der Wahrheit der christlichen Religion. Daraus ergibt sich weiterhin die genauere Einsicht in das Wesen der Glaubenserkenntnis und der Glaubenslehre" (Der christliche Glaube, Tübingen 1906, S. 21). — Audi Wobbermin ist hier zu nennen. Trotz gewisser Vorbehalte ist er mit Kaftan derselben Meinung, daß die Apologetik das „Fundament liefern" muß für die dogmatische Arbeit (Systematische Theologie, Bd. I, 2.Aufl. Leipzig 1925, S. 164). Sie ist die „wissenschaftliche Vertretung des Gedankengehaltes der christlichen Religion", bei der es sich darum handelt, „die Berechtigung des Wahrheits-Anspruches jenes Gedankengehaltes zu untersuchen und diesen Wahrheits-Anspruch selbst so, wie es einer wissenschaftlichen Behandlung möglich ist, zu vertreten" (ib. S. 148 f.). Vgl. die auch „Apologetik" genannten „Prinzipienlehren" und ihren Aufbau bei A. v. Oettingen (Lutherische Dogmatik, Bd. I, München 1897) und R . Seeberg (Christliche Dog1
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9 Lemme, R E , 3. Aufl., Bd. I, S. 684. matik, Bd. I, Erlangen/Leipzig 1924). 10 ib. S. 685. 1 1 H. Stephan, R G G , 2. Aufl., Bd. I Sp. 424. Wie diese Art der Apologetik positiv in die heutige apologetische Neubesinnung hineinwirkt, zeigt sich etwa bei Doerne (a. a. O. Sp. 263) und bei Sdirey (RGG, 3. Aufl., Bd. I, 1 2 Diesen Ort soll die „Weltanschauungslehre" einnehmen, weil Sp. 487 f.). die „christliche Weltanschauung" niemals „Grundlage, sondern Frucht des christ1 3 Hunzinger, ,Αροlichen Gottesglaubens" sei, schreibt Stephan (a.a.O.).
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14 logie* und ,diristlidie Weltanschauung', ZThK 1908, S. 45. Stephan, 15 18 a.a.O. 424. Hunzinger, a.a.O. S.40. Stephan, Glaubenslehre, 17 Gießen 1921, S. 220. Hunzinger, a. a. O. 43. — Audi K. Heims apologetische Arbeit ist hier zu nennen. Sein Ziel ist die „Konstruktion eines neuen, die Religion ermöglichenden Weltbildes" (Ruttenbeck, Die apologetisdi-theologisdie Methode Karl Heims, Leipzig 1925, S. 4); vgl. Schrey, RGG, 3. Aufl., Bd. I, 19 19 Sp. 487 f. E. Brunner, a . a . O . S.258. K.Barth, Kirchliche Dog20 matik, II, 2, S. 577. Thielicke, Fragen des Christentums an die moderne Welt, Tübingen 1948, S. 4; vgl. Kierkegaards Wort vom „Verrat" am Christentum durch die Apologetik (Einübung im Christentum, Übers. E. Hirsdi, Düssel21 dorf/Köln 1951, S. 222f.). K.Barth, Die christliche Dogmatik im Ent22 wurf, Bd. I (Prolegomena), München 1927, S. 12. Doerne, a. a. O. Sp. 28 261. K.Barth, Die protestantische Ideologie des 19. Jahrhunderts, Zolli24 25 kon, Zürich 1947, S. 398. E. Brunner, a. a. O. S. 258. Thielicke, 26 27 a. a. O. S. 3. Kierkegaard, a. a. O. S. 225. E. Brunner, a. a. O. 28 S. 260. Bereits Mme Périer (Lafuma, Pensées, t. III, S. 31) und1 Etienne Périer (Préface de Port-Royal, B. p. S. 314) verstehen die „Pensées" als Abwehr 29 30 oder Widerlegung atheistischer Angriffe. Méré, OP, S. 54 f. Fr. 194 (Β. p. S. 422). Wie Pascal den libertinistisdïen Atheismus abtut, erwähnten 31 32 33 wir bereits (s. o. S. 73 f.). ib. Fr. 556. Fr. 194 (B. p. 34 35 S. 415 f.). S. o. S.51ff. u. S.58ff. Das Nötige hierzu haben wir bereits dort gesagt, wo wir vom „rapport" zwischen „honnête homme" und biblischer Botschaft und von der „anthropologischen Konzentration" der Pascal36 37 schen Apologie sprechen; s.o. S.92ff. u. S.96ff. Fr. 283. Fr. 38 39 40 248. Fr. 284. Fr. 79; vgl. im Vorausgegangenen S. 78 f. Fr. 41 556. Bei diesen beiden, aus den Kreisen der inneren Mission kommenden Theologen ist die Bezogenheit der Apologetik auf die Verkündigung verständlicherweise besonders deutlich. Auf jeden Fall ist dies vom Ansatz ihrer Arbeit zu sagen (vgl. die Kritik F. K. Schumanns an der Durchführung dieses Ansatzes, a . a . O . S. 301 ff. u. S. 309 f.). Beide sehen diesen Ansatz einer neuen Apologetik in der Notwendigkeit einer „zeitgemäßen Verkündigung des Wortes" (Schweitzer, Antwort des Glaubens, 2. Aufl. Schwerin 1929, S.47), einer „neuen Verkündigung" (Schreiner, Geist und Gestalt, Schwerin 1926, Untertitel), in der Frage, wie die „Verkündigung von Gottes Wort überhaupt möglich" sei (ib. S. 31). Schweitzer sagt, Apologetik sei „überall anzuwenden, wo das Evangelium an die Menschen heranzutragen ist" (a. a. O. 47; vgl. RGG, 3. Aufl., Bd. I, Sp. 489ff.). Im wesentlichen dieselbe Auffassung begegnet in Alands „Apologie der Apologetik", Ber42 lin 1948. Diese Bezogenheit der Apologetik auf die Verkündigung des Wortes spricht auch aus Doernes Referat, wenn er dort „Apologetik" als „Lehre vom Gegenüber des Wortes Gottes" verstanden wissen möchte (a. a. O. Sp. 259 ff.), und E. Brunner schreibt von der „Erisrik", derer die Theologie nidit entraten könne, daß sie sich „auf den Akt der Wortverkündigung selbst als ihren Ursprung und Beziehungspunkt berufen" könne (a. a. O., S. 258). Audi Thielickes Forderung nadi „Umkehrung der Apologetik" muß als Forderung nach echt kerygmatisdiem Charakter der Apologetik verstanden werden. Er konfrontiert die bisher übliche Apologetik mit den seelsorgerlichen Gesprächen Jesu und schreibt: „Wir sehen also, wie verkehrt die Einstellung der .Apologetik' ist, wenn sie sich immer nur als die Antwortende und nicht mehr als die Fragende versteht . . . Jesus antwortet sozusagen nicht, sondern stellt uns allererst die tiefsten Fragen. Diese Stimmung des fragenden Zugehens sollte auch unserer Verkündigung erhalten bleiben (a. a. O.,
43 44 132 S. 7). Ε. Β runner, a.a.O., S. 269. Ders., a.a.O., 269 u. 259 f. 45 46 47 Schumann, a. a. O., S. 310. Aland, a. a. O., S. 26. Doerne,
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18 49 133 a. a. O., Sp. 259 f. C. Schweitzer, RGG, 3. Aufl., Bd. I, Sp. 490. Der Ruf nach einer Verkündigung, deren Wesen „dialogisch" ist, ist im Laufe der letzten Jahre verschiedentlich erhoben worden. — Einerseits geschieht dies in der Form, daß man von der gottesdienstlichen Predigt überhaupt verlangt, sie müsse „dialogisch" sein. Man hat für eine solche Art der Predigt die Bezeichnung „seelsorgerliche Predigt" gebraucht (Thielicke, Fragen des Christentums an die moderne Welt, Tübingen 1948, S. 226, 270 u. ö.; vgl. Händler, Die Predigt, 2. Aufl. Berlin 1949, S. 275 f.: „ . . . das Wesen der Predigt ist die seelsorgerliche Ordnung") und damit eben dieses zum Ausdrude bringen wollen, daß die Predigt wesentlich „Gespräch" sein müsse; denn „Seelsorge ist durch den Gesprächs-Charakter bestimmt" (Thielicke, a. a. O., S. 223; an anderer Stelle heißt es dort — S. 270 —: „Die seelsorgerliche Predigt wächst aus dem Dialog hervor und ist selbst Dialog"; Müller-Schwefe fordert von der Predigt, daß sie „ein heimlicher oder ein offenbarer Dialog" sei; in: Die Predigt. Gespräch über die Predigt auf der Luther. Generalsynode in Hamburg 1957, Berlin 1957, S. 53; in diesem Sinne spricht auch Lilje von dem Suchen nach dem Gespräch, das ein wesentlicher Zug der rechten Verkündigung sein müsse: Weltluthertum heute, Lund 1950, S. 197). — Andererseits rückt man von der Form der „Kanzelpredigt" ausdrücklich ab und stellt ihr „eine Verkündigung dialogischen Charakters" gegenüber oder zur Seite, die die „Einseitigkeit des Monologs der Kanzelpredigt aufhebt", indem sie sich vollzieht im „Gespräch von Mann zu Mann, im Rundgespräch einer kleinen Gruppe" (H.-D. Wendland, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, Hamburg 1956, S. 218; dasselbe fordern E. zur Nieden, Die Gemeinde nach dem Gottesdienst, Stuttgart 1955, S. 65, und E. Müller, Die Welt ist anders geworden, Hamburg 1955, S. 39 f. u. S. 42 f.). — Was die Begründung dieser Forderung anbetrifft, so pflegt man hier vom „modernen Menschen" her zu argumentieren, dessen besonderes Wesen eine solch gesprächhafte Verkündigung nötig mache; dort hingegen verweist man vorwiegend auf das Wesen christlicher Verkündigung, zu dem der Dialogcharakter grundsätzlich hinzugehöre. Hier wie dort ist man sich aber darin einig, daß es der Verkündigung aufgetragen ist, die Frage der „Hörbarmachung" zu bewältigen, eine Frage, die Thielicke als eine der „aufregendsten Fragen, die der Christenheit gestellt sind", bezeichnet (Theologische Ethik, II, 1, Tübingen 1955, S. 95). Man will also die Verkündigung nicht ausschließlich von ihrem Inhalt, sondern ebenso von ihrem Hörer her bestimmt sein lassen und grenzt sich damit gegenüber einem Verständnis von Verkündigung ab, das alles methodische Eingehen auf den Hörer als Vermenschlichung der christlichen Botschaft, als „pädagogische Experimente" (K. Barth, Kirchliche Dogmatik, II, 1, S. 97 f.), als Mangel an Glauben (ders., ib. III, 3, S. 468 : „Der Glaube ist frei von der Angst, das biblische Zeugnis könne in sich unverständlich sein") abtun möchte und vom Prediger fordert, „abzulesen, was geschrieben steht" (K. Barth/ E. Thurneysen, Die große Barmherzigkeit, München 1935, S. 3), sich die „Denkhaltung der Propheten und Apostel" zu eigen zu machen, die darin besteht, „Alles, Alles auf die Kraft des Deus dixit selber ankommen" und „dieses für sich selber sprechen zu lassen" (K. Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf, Bd. I [Prolegomena], München 1927, S. 149).
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