Partizipation und Staatlichkeit: Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse 3515102817, 9783515102810

Die westlich-repräsentative Demokratie befindet sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer tiefgreifenden Legitimation

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German Pages 267 [270] Year 2012

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINLEITUNG
PARTIZIPATION UND STAATLICHKEIT
I. STAATSTHEORETISCHE BEGRÜNDUNGEN VONPARTIZIPATION – IDEENGESCHICHTLICHE ANSÄTZE
II. DAS VERHÄLTNIS VON PARTIZIPATION UNDSTAATLICHKEIT – AKTUELLE THEORIEDISKURSE
III. NEUE FORMEN DER PARTIZIPATION
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Partizipation und Staatlichkeit: Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse
 3515102817, 9783515102810

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Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.) Partizipation und Staatlichkeit

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 23

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Manuel Knoll, Istanbul Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Peter Schröder, London Virgilio Afonso da Silva, São Paulo

Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.)

Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse

Franz Steiner Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10281-0 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt



INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................... 9 Einleitung Gisela Riescher, Beate Rosenzweig Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse ................................................ 13 I.

Staatstheoretische Begründungen von Partizipation – ideengeschichtliche Ansätze

Jürgen Gebhardt Politische Ordnung und bürgerschaftliche Selbstregierung Idee und Wirklichkeit des republikanischen Ordnungsdiskurses .......................... 21 Samuel Salzborn Der Eigentümer als Bürger Begrenzte Partizipation im liberalen Staatsdenken ............................................... 53 Martin Baesler Republikanische Herausforderungen – Freiheit durch Partizipation ..................... 71 Gisela Riescher Kommunitaristische Begründungen demokratischer Partizipationsformen .......... 91 II. Das Verhältnis von Partizipation und Staatlichkeit – aktuelle Theoriediskurse Winfried Thaa Partizipation und Repräsentation Eine theoretische Neubewertung und ihre offenen Fragen .................................. 109 Gary S. Schaal, Claudia Ritzi Deliberative Partizipation Eine kritische Analyse des Verhältnisses von Deliberation, demokratischer Öffentlichkeit und staatlicher Entscheidung ........................................................ 131

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Inhaltsverzeichnis

Ursula Degener, Beate Rosenzweig Staatlichkeit und Partizipation Zur Analyse eines Spannungsverhältnisses aus feministischer Sicht .................. 155 Astrid Sigglow Partizipation und Selbstexklusion Partizipatorische Politik aus poststrukturalistischer Perspektive......................... 175 III. Neue Formen der Partizipation Anna Meine Partizipation jenseits des Staates? Eine Herausforderung für die Demokratietheorie ............................................... 193 Steffen Albrecht E-Governance – eine Partizipationsform der Zukunft? ....................................... 217 Hubertus Buchstein Der Zufall als Mittel der Politik Zur Erweiterung demokratischer Partizipationsformen durch Losverfahren ...... 241 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 265

VORWORT Die Geschichte der Demokratie erscheint gerade heute als eine alles überstrahlende Erfolgsgeschichte. Schon lange sind die westlichen Staaten gefestigte Demokratien, die Diktaturen des 20. Jahrhunderts gehören der Vergangenheit an. Der Zusammenbruch des Sowjetsystems hat zu einer beispiellosen Ausdehnung der Demokratie geführt. Und die Arabellion scheint nun auch den islamisch geprägten Staaten endlich die Chance auf ein demokratisches Gemeinwesen zu eröffnen. Kaum ein Staat der Welt nimmt nicht auch für sich das Etikett „demokratisch“ in Anspruch. Und doch bleibt ein gewisses Unbehagen bei der Betrachtung der „real existierenden“ Demokratien – auch denen der westlichen Welt. Könnte es sein, dass der schöne Schein trügt? Dieses Unbehagen richtet sich nicht gegen das demokratische Prinzip als solches, es ist vielmehr die Praxis, die hinter den Erwartungen zurückbleibt. Sollte Colin Crouch mit seiner Feststellung Recht haben, dass zwar die demokratischen Institutionen noch vorhanden sind, dass sie auch arbeiten, aber als „leere Hüllen“, denen keine wirkliche Bedeutung mehr zukommt? In dieser Situation scheint das neue Zauberwort „Partizipation“ zu lauten. Könnte man nicht das hehre Ideal der Demokratie durch die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger wieder zu neuem Leben erwecken? So ließe sich womöglich aus der „Fassadendemokratie“ (Jürgen Habermas) wieder das machen, was Abraham Lincoln am 19. November 1863 in seiner berühmten Gettysburg-Address ausgeführt hatte: Jetzt, nach der gewonnenen Schlacht müsse sich erweisen, ob eine „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ dauerhaft bestehen könne. Freilich hieße mehr Partizipation gerade, den von den Herrschenden so gern übersehenen Gesichtspunkt „Regierung durch das Volk“ wieder mehr in den Vordergrund zu rücken. Eliten neigen stets dazu, sich für klüger zu halten als das „einfache Volk“, das ist in demokratischen Systemen nicht anders als in autoritären Regimen. Diese Eliten bestimmen dann, was für das Gemeinwesen „vernünftig“, „gut“ und „richtig“ ist. Dabei ist jedoch eine Erkenntnis verloren gegangen, die David Easton schon 1965 der Politikwissenschaft ins Stammbuch geschrieben hat: Politik braucht die Unterstützung (political support) der Menschen. Sie zu bloßen Zuschauern oder bestenfalls zu Statisten zu degradieren, kann auf die Dauer nicht gut gehen. Alte und neue Formen der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger sind daher auf ihre Tauglichkeit für eine nachhaltige Demokratisierung des politischen Systems zu prüfen. Damit kommt der vorliegende Sammelband der Freiburger Politikwissenschaftlerinnen Gisela Riescher und Beate Rosenzweig ins Spiel, der freilich die Perspektive erweitert. Zwar geht es in erster Linie um Partizipation, im Vordergrund der Untersuchung steht aber das Verhältnis von Partizipation und

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Vorwort

Staatlichkeit. Ideengeschichtliche Diskurse und aktuelle Theoriediskussionen ergänzen sich dabei wechselseitig. In drei Teilen beleuchten 13 Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftler dieses komplexe Thema der Demokratietheorie aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Leserin/dem Leser eröffnet dieser Sammelband die Möglichkeit, sich gezielt in die Thematik zu vertiefen und sich auf den neuesten Stand der Diskussion zu bringen. Die Reihe Staatsdiskurse, die sich vor allem zur Aufgabe gemacht hat, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren, wird damit um die partizipatorische Perspektive erweitert. Es wäre zu wünschen, dass die vorliegende Publikation auch jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu weiteren Arbeiten auf diesem Gebiet anregte.

Netphen, im August 2012

Rüdiger Voigt

EINLEITUNG

PARTIZIPATION UND STAATLICHKEIT Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse Gisela Riescher und Beate Rosenzweig Spätestens mit dem „demokratischen Frühling“ im Nahen Osten, der globalisierungskritischen „Occupy-Bewegung“ und den europaweiten Bürgerprotesten gegen staatliche Finanz- und Sparpolitiken ist die Debatte um den Zustand und die Zukunft der Demokratie in der Öffentlichkeit neu entbrannt. Der weitreichenden Kritik am status quo der repräsentativen Demokratie als eines elitär kontrollierten, intransparenten Gemeinwesens, in dem den Bürgerinnen und Bürgern allenfalls noch die Rolle von passiven oder reaktiven Wählerinnen und Wählern zukomme, wird im Rahmen der aktuellen Bürgerproteste öffentlich Ausdruck verliehen und zugleich mit der Forderung nach mehr demokratischer Teilhabe begegnet. In den aktuellen politischen und sozialen Protesten reartikuliert sich das normative Versprechen der Demokratie nach politischer Freiheit und Gleichheit und der selbstbestimmten Regelung der öffentlichen Angelegenheiten – von der lokalen über die nationale bis hin zur globalen Ebene politischer Entscheidungsfindung. Ob diese neuen Formen bürgerschaftlicher Politisierung allerdings zu einer nachhaltigen partizipativen Neubelebung des Demokratischen führen, lässt sich vor dem Hintergrund der aktuellen demokratietheoretischen Debatte nur mit skeptischer Zurückhaltung vermuten. Die westlich-repräsentative Demokratie, so der weithin geteilte Befund, befindet sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer tiefgreifenden Legitimationskrise und die Zukunftsfähigkeit demokratischen Regierens erscheint angesichts der komplexen inneren und äußeren Herausforderungen keineswegs als ausgemacht. Mit seiner publizistisch verbreiteten Rede von der „Postdemokratie“ hat Colin Crouch vor allem auf die Probleme der inneren Delegitimierung demokratischer Entscheidungsprozesse und ihre Entnormativierung hingewiesen. In den westlichrepräsentativen Demokratien beschränkt sich die demokratische Legitimation demzufolge auf die medial inszenierten und elitär bestimmten institutionellen Formen politischer Partizipation. „Im Schatten [der] politischen Inszenierung“, so Crouch, spielt die „Mehrheit der Bürger eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle“.1 Ihr kommt nur noch die instrumentelle Rolle formaldemokratischer Mehrheitsbeschaffung zu. Darüber hinausgehende Möglichkeiten zur direkten Einflussnahme, Mitentscheidung oder Kontrolle der politischen Repräsentanten bestehen nicht und sind Crouch zufolge von Seiten der herrschenden privile1

Crouch 2008, S. 10.

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gierten Eliten unerwünscht. Die elitäre Verkürzung der Demokratie gründet demnach auf einer „Entpolitisierung von oben“2 und einer Instrumentalisierung demokratischer Entscheidungsstrukturen zugunsten ökonomisch starker Interessen und ihrer formaldemokratisch legitimierten Repräsentation. Diese ideologiekritische Zuspitzung ist, wie Colin Crouch selbst eingesteht, sicherlich übertrieben. Sie bleibt, das hat Emanuel Richter eindrücklich kritisiert, perspektivisch auf den westlich-liberaldemokratischen Kontext verengt, blendet bestehende Formen bürgerschaftlicher Selbstorganisation und politischer Beteiligung aus und suggeriert darüber hinaus die historische Zäsur eines postdemokratischen Zeitalters.3 Dennoch verweist Crouch zu Recht auf das Spannungsverhältnis von normativer Selbstbeschreibung und der vorherrschenden demokratischen Realität.4 Seine Kritik an den legitimatorischen Defiziten bestehender formaldemokratischer Entscheidungsprozesse ist von der politikwissenschaftlichen Forschung vielfach empirisch belegt worden.5 Die Politik- und Parteienverdrossenheit insbesondere sozial schwacher und exkludierter Interessen, der Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit der Politik, die zunehmende Entparlamentarisierung und Intransparenz des demokratischen Entscheidungsprozesses sind Ausdruck der mangelnden Input-Legitimation liberaldemokratischer Systeme. Für die aktuelle demokratietheoretische Debatte sprechen Hubertus Buchstein und Dirk Jörke von einer weitgehenden Verabschiedung der partizipativen Elemente demokratischen Regierens. Unter den Bedingungen der „postnationalen Konstellation“ zunehmender Komplexität und Pluralisierung fokussiere die Demokratietheorie vor allem auf die Output-Legitimation und die Frage, wie der „Rationalitätsgrad“ von Politikergebnissen erhöht werden könne. Die partizipative Komponente werde hingegen den „Rationalitätszumutungen moderner Politik“6 vollständig untergeordnet, sie sei zu einem „Ballast des Demokratiebegriffs“7 geworden. Selbst deliberative Demokratiemodelle im Anschluss an Habermas vertreten demnach einen partizipativ ausgedünnten Demokratiebegriff, der die Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen der verfahrensrechtlich-institutionellen Ebene politischer Entscheidungsfindung nachordnet. Partizipatorische Demokratiemodelle, so das Fazit der Analyse, befinden sich in der Defensive. Entweder lassen sich diese auf den empirisch gesättigten demokratietheoretischen Ernüchterungskurs ein, oder aber sie werden als „unrealistisch utopisch“ an den Rand des herrschenden Diskurses gedrängt.8 Die konstatierte Output-Orientierung demokratietheoretischer Konzepte erscheint allerdings nicht nur aufgrund der normativen Enttäuschung über das demokratische Beteiligungsversprechen, sondern auch aufgrund der zunehmenden Einschränkung der staatlichen Handlungsmacht als problematisch. Unter den Be2 3 4 5 6 7 8

Sauer 2011, S. 33. Richter spricht vom „richtigen ‚Ruf nach Demokratie‘ mit den falschen Lauten“, vgl. Richter 2006, S. 36. Vgl. u. a. Jörke 2005 und 2006. Vgl. u. a. Merkel/Petring 2011, Böhnke 2011. Buchstein/Jörke 2003, S. 476. Ebd., S. 474. Ebd., S. 487.

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dingungen der globalisierten Ökonomie und der zunehmenden Transnationalisierung politischer Entscheidungen wird sie selbst zu einer Quelle der Delegitimierung des demokratischen Staates. Die „Erosion der Staatsmacht“, so spitzte Herfried Münkler aktuell zu, wird „zu einer Krise der Demokratie“.9 Die demokratietheoretische Vernachlässigung des demokratischen Inputs geht somit einher mit einer zunehmenden Problematisierung der effizienzorientierten Legitimation demokratischen Regierens. Die zentrale Herausforderung liegt demnach im Spannungsverhältnis von normativer Rechtfertigung und einer begrenzten politischen Steuerungs- und Leistungsfähigkeit im Rahmen entgrenzter ökonomischer und politischer Handlungsräume.10 Die Frage, wie die Kluft zwischen den Erwartungen an die Demokratie und deren bestehender institutioneller Ausgestaltung überwunden werden kann, lässt sich sicherlich nicht einseitig zugunsten einer (begrenzten) Output-Legitimation beantworten. Der Demokratie als eines politischen Institutionen- und Entscheidungssystems ist eine bürgerschaftlich partizipative Perspektive eingeschrieben. Gerade angesichts der Neujustierung der politischen Handlungsmacht des Staates und der gesellschaftlichen Verständigung darüber gilt es, die Notwendigkeit einer partizipativen Legitimation demokratischen Regierens hervorzuheben. Im Zentrum des vorliegenden Sammelbandes steht damit nicht die Diskussion über das mögliche Ende der Demokratie als einer nicht mehr zeitgemäßen Regierungsform, sondern, im Gegenteil, die Frage nach den Möglichkeiten ihrer fortgesetzten partizipativen Erneuerung. Davon ausgehend erscheint die in der Literatur immer wieder zu findende Gegenüberstellung von einem „mageren“ repräsentativen und einem „echten“ republikanisch-partizipatorischen Demokratiemodell ebenso wenig sinnvoll wie eine schematische Trennung von Input- und Output-Legitimation. Demokratische Partizipation kann weder normativ auf direktdemokratische Entscheidungsrechte oder bürgerschaftlichen Protest verengt werden noch erschöpft sie sich in der als „realistisch“ apostrophierten Option der Wahlbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Sinnvoller ist es vielmehr, von Demokratie als einem offenen Projekt auszugehen, das multiple politische Handlungs- und Beteiligungsmöglichkeiten umfasst und deren ständige kritische Reflexion miteinschließt. Die u. a. von Chantal Mouffe geforderte Wiederbelebung des demokratischen Prozesses11 setzt die fortgesetzte (Re-)Politisierung der Bürgerinnen und Bürger in deliberativen Arenen ebenso voraus wie ihre repräsentative und direktdemokratische Beteiligung auf den unterschiedlichen Ebenen politischer Entscheidungsfindung. Der vorliegende Sammelband zielt dementsprechend auf eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse der zentralen ideengeschichtlichen und aktuellen Theoriedebatten zum Verhältnis von Partizipation und demokratischer Staatlichkeit. In einem ersten Teil werden staatstheoretische Begründungen des republikanischen und liberalen Denkens im Hinblick auf den Bürger- und Partizipationsbe9 Münkler 2012, NZZ vom 25.4. 10 Vgl. Brodocz/Schaal/Llanque 2008, S. 11 ff. 11 Mouffe 2000, S. 85 ff.

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griff kritisch analysiert. Welche normativen Voraussetzungen sind, so fragt Jürgen Gebhardt, dem republikanischen Bürgerbegriff von der Antike bis zur Moderne inhärent und was sind die Möglichkeiten und Grenzen des Bürgerseins unter den Bedingungen der modernen Staatlichkeit? Im modernen republikanischen Diskurs verknüpft sich, so zeigt er, die Idee bürgerschaftlicher Selbstregierung mit dem Prinzip der Repräsentation im Rahmen der konstitutionellen Ordnung. Anders als im neuzeitlich-liberalen Staatsdenken von John Locke und John Stuart Mill, dem, wie Samuel Salzborn deutlich macht, ein funktionales Staatsverständnis und eine weitgehende Einschränkung politischer Partizipation zugrunde liegt, konstituiert sich im (neo-)republikanischen Diskurs ein politischer Freiheitsbegriff, der bürgerliche Partizipation zur grundlegenden Voraussetzung vernünftiger politischer Entscheidungsfindung erklärt. Der Sinn bürgerschaftlichen Partizipierens wird hier, so legt Martin Baesler dar, vor allem in der effektiven Kontrolle und Überwachung politischen Handelns verortet. Ausgehend von kommunitaristischen Begründungen thematisiert Gisela Riescher schließlich die demokratische Notwendigkeit der Konstituierung kommunaler Partizipationsräume. Der zweite Teil des Bandes fokussiert auf die aktuellen Theoriedebatten zur partizipativen Erweiterung demokratischer Staatlichkeit. Wie Winfried Thaa, Gary S. Schaal/Claudia Ritzi und Astrid Sigglow verdeutlichen, besteht ein zentrales Problem in der sozialen Selektivität demokratischer Beteiligung. Während Thaa aus einer repräsentativen Perspektive den Grund hierfür vornehmlich in einem entpolitisierten Parteienwettbewerb sieht, verweisen Schaal und Ritzi auf die Abhängigkeit deliberativer Beteiligung von der individuellen Ressourcenausstattung. Aus einer partizipatorischen Perspektive besteht weder, wie Thaa auf der Grundlage dekonstruktiver Überlegungen zum Repräsentationsbegriff nachweist, ein Gegensatz von Partizipation und Repräsentation, noch stellen deliberative Verfahren den legitimatorischen Königsweg demokratischer Beteiligung dar. Auf der Grundlage der empirischen Forschung analysieren Schaal und Ritzi die zentralen Herausforderungen im Verhältnis von demokratischer Deliberation und staatlicher Entscheidungsfindung. Am Beispiel des Bürgerprotestes gegen Stuttgart 21 zeigt Astrid Sigglow, dass auch partizipatorische Initiativen keineswegs frei sind von sozialen Machtverhältnissen und ausschließenden Praxen. Die Beiträge belegen, dass die Inklusivität politischer Beteiligung auf der Ebene repräsentativer Verfahren und im Hinblick auf deutlich voraussetzungsvollere Formen nichtverfasster politischer Partizipation ein fortgesetzter Kritikmaßstab des Demokratischen bleibt. Ursula Degener und Beate Rosenzweig thematisieren die notwendige Vermittlung zwischen sozialer Protestbewegung, Repräsentation und staatlicher Politik aus der Perspektive der feministischen Bewegung. Im dritten Teil des Bandes werden schließlich neue Formen demokratischer Partizipation erörtert. Dabei stellt Anna Meine zunächst die grundlegende Frage, ob Demokratie jenseits des Staates möglich ist. In ihrer Analyse der aktuellen Theoriedebatte kommt sie zu dem Ergebnis eines zusätzlichen partizipatorischen Potenzials jenseits des Staates und hebt zugleich die Rolle des Staates als zentralem Akteur demokratisch legitimierter Politik hervor. Was die Möglichkeiten neuer Partizipationsformen angeht, so untersucht Steffen Albrecht das Potenzial

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von e-governance und Hubertus Buchstein plädiert für Losverfahren als einer sinnvollen Ergänzung der bestehenden demokratischen Partizipationschancen. Seine im Hinblick auf den partizipativen Mehrwert von Losverfahren formulierte These, dass es um eine gleichzeitige Stärkung von partizipativen, repräsentativen und deliberativen Momenten geht, kann aus Sicht der Herausgeberinnen zugleich als gebotene Perspektive für die Zukunft demokratischen Regierens gelten. LITERATUR Böhnke, Petra, 2011: Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation. In: APuZ 1-2, S. 18–25. Brodocz, André/Llanque, Marcus/Schaal, Gary S., 2008: Demokratie im Angesicht ihrer Bedrohungen. In: Dies. (Hrsg.): Bedrohungen der Demokratie, Wiesbaden, S. 11–26. Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk, 2003: Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In: Leviathan 31/4, S. 470–495. Crouch, Colin, 2008: Postdemokratie, Frankfurt am Main. Jörke, Dirk, 2005: Auf dem Weg zur Postdemokratie. In: Leviathan 4, S. 482–491. Jörke, Dirk, 2006: Warum ‚Postdemokratie‘. In: Forschungsjournal NSB 19, S. 38–46. Merkel, Wolfgang/Petring, Alexander, 2011: Partizipation und Inklusion. In: Friedrich-EbertStiftung (Hrsg.): Demokratie in Deutschland, Bonn; http://www.demokratie-deutschland2011.de/common/pdf/Partizipation_und_Inklusion.pdf (letzter Zugriff 31. Juli 2012) Mouffe, Chantal, 2000: Das Demokratische Paradox. Aus dem Englischen übersetzt und eingeleitet von Oliver Marchart, Wien. Münkler, Herfried, 2012: Steht die Demokratie am Scheideweg? Die Verdrossenen und die Empörten. In: NZZ vom 24.4.2012. Richter, Emanuel, 2006: Das Analysemuster der ‚Postdemokratie‘. Konzeptionelle Probleme und strategische Funktionen. In: Forschungsjournal NSB, Jg. 19/4, S. 23–37. Sauer, Birgit, 2011: Die Allgegenwart der „Androkratie“: Feministische Anmerkungen zur Postdemokratie. In: APuZ 1, S. 32–45.



I. STAATSTHEORETISCHE BEGRÜNDUNGEN VON PARTIZIPATION – IDEENGESCHICHTLICHE ANSÄTZE

POLITISCHE ORDNUNG UND BÜRGERSCHAFTLICHE SELBSTREGIERUNG Idee und Wirklichkeit des republikanischen Ordnungsdiskurses1 Jürgen Gebhardt I. HERRSCHAFTSDISKURS UND BÜRGERDISKURS – ZUM ORDNUNGSKONFLIKT DER MODERNE Der moderne politische Diskurs in der Wissenschaft und der Gesellschaft des Westens ist von einer fundamentalen Ambivalenz geprägt, die sich im Janusgesicht des herrschenden Politikverständnisses dokumentiert. Diese ist unmittelbar verknüpft mit der Frage nach der sozialen, rechtlich und normativ definierten Identität des individuellen Gesellschaftsmitgliedes in der modernen politischen Ordnung, soweit ihre Legitimität letzthin zumindest prinzipiell auf das demokratische Prinzip der Volkssouveränität gründet. Im Begriff der Volkssouveränität spiegeln sich unterschiedliche Formen der Konstitutionalisierung der Herrschaft wider, deren politische Architektonik ideell und institutionell auf der Anerkennung des Individuums als letzte politische und rechtliche Einheit beruht, wie dies im kollektiven Selbstverständnis der politisch organisierten Gesellschaft als ‚Gemeinwesen‘ zum Ausdruck kommt. Auf den ersten Blick kennzeichnet der Begriff des Bürgers die moderne politische Ordnung schlechthin. Zum einen gilt dies im Sinne einer rechtlichen Zuschreibung, die das Individuum als Mitglied einer wie auch immer organisierten politischen Einheit ausweist, zum anderen aber auch mit Rücksicht auf die formale Anerkennung des Individuums als integrales Glied eines Kollektivsouveräns. Dieses Grundprinzip der politischen Modernität generierte zwei nach Inhalt und Form klar unterscheidbare politische Ordnungslogiken des Politischen, welche die Volkssouveränität entweder nach Maßgabe der kontinentaleuropäischen Idee der Staatssouveränität oder nach Maßgabe der republikanisch-kommunitären Idee der bürgerschaftlichen Souveränität deuteten.

1

Die folgende Untersuchung stellt eine erweiterte Fassung meiner Studien zum Bürgerbegriff dar: Gebhardt 1996, Die Idee des Bürgers. In: K. v. Beyme (Hrsg.), Politische Theorien in der Ära der Transformation, Opladen, S. 347–361 und Gebhardt 1998, Norms of Citizenship and Conceptions of Community. In: J. Hell (Hrsg.), Multiculturalism, S. 105–113.

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Jürgen Gebhardt

Erkenntnisleitend für die folgenden Überlegungen zur Idee des Bürgers ist die idealtypische Unterscheidung der in der neueren westlichen Geschichte vorherrschenden Konzeptionen der Politik: Ein herrschafts-, macht- und staatszentrierter Begriff der Politik lässt sich auf die Erfahrung des monarchischen Zentralstaates und dessen bürokratischen Herrschaftsapparat zurückführen, wohingegen ein bürgerschafts- und konsenszentrierter Politikbegriff auf die Erfahrung der sich selbst staatsfrei regierenden Bürgergemeinde rekurriert. Entsprechend dieser geschichtlichen Vorgaben entspringen der modernen Dialektik von Konstitutionalisierung der Herrschaft und Fundamentaldemokratisierung ein Multiversum politischer Ordnungsformen. Jede davon kennt den Formalbegriff des Bürgers, kollektiviert ihn mehrheitlich etatistisch und erlaubt ihm im demokratischen Autoritarismus nur eine scheinkonstitutionelle Schattenexistenz. Zudem negieren sie machtpragmatisch den politisch-sittlichen Geltungsanspruch des existenziell-politischen Bürgers und widersetzen sich damit dem Geist eines genuin republikanischen Regimes. Das etatistische Verständnis des Bürgers widerspricht insofern nicht dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität, als dieses konzeptionell im Begriff des konstitutionalisierten Staates aufging. Somit gilt – wie der deutsche Staatsrechtslehrer Böckenförde ausführt – in dieser Lesart demokratischer Modernität auch für den „demokratisch organisierten Staat, dass der Staat als Macht-, Entscheidungs- und Friedenseinheit“ der Verfassung vorausgeht.2 Das ‚souveräne‘ Volk ist das „Staatsvolk“. Es ist „begrenzt durch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit, das die statusmäßige Zugehörigkeit zum Trägerverband der staatlichen Herrschaftsorganisation zum Inhalt hat. Die Staatsangehörigen sind mit dem politischen Leben und Schicksal des Staates, den sie bilden und tragen, wesentlich verknüpft, stellen insofern auch eine politische Schicksalsgemeinschaft dar.“3

Nur in der Gesamtheit der (Staats-)Bürger, dem Staatsvolk, repräsentiert durch die Aktivbürgerschaft, gewinnt das Volk als politische Schicksalsgemeinschaft seinen politischen Charakter. „Beliebig gruppierte einzelne Bürger aus dem Volk bleiben einzelne (singuli), auch wenn sie – durch Zusammenschluß und Aktivität – zu pouvoirs de fait werden; weder sind sie noch repräsentieren sie das Volk.“4 Folgerichtig gibt es keinen ethisch-politisch gehaltvollen Begriff des Bürgers, keinen substanziell politischen Menschen als normativen Bezugspunkt einer politischen Vergemeinschaftung. Im staatszentrierten Politikbegriff wird der verbindliche Ordnungs- und Sinngehalt der konstitutionellen Politie nicht als Ausdruck gemeinschaftsstiftenden Bürgerbewusstseins begriffen. Wo der Bürger fehlt, bringt Böckenförde ersatzweise die Kollektivperson ‚Volk‘ ins Spiel:

2 3 4

Böckenförde 2000, S. 136. Böckenförde 1991, S. 311 f. Ebd., S. 313.

Politische Ordnung und bürgerschaftliche Selbstregierung

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„Worauf es ankommt, ist also, daß in einem Volk, dann wenn es sich als verfassungsgebende Gewalt betätigt, ein lebendiges Rechtsbewußtsein, wirksame Ordnungsideen und ein ethischpolitischer Gestaltungswille vorhanden sind, kurz, daß es einen ‚Geist‘ in sich trägt, der sich in Institutionen, Regeln und Verfahren ausformen kann und ausformt“.5

Wie aber bleibt ein solcher Geist im Volk gegenwärtig und lebendig unter den Bedingungen der politischen Modernität? Soweit dies nicht durch die Pflege des geistig-kulturellen Erbes, das die Nation in sich trägt, geschieht, entbehrt der demokratische Staat einer konsensuell fundierten geistigen Basis – beruht doch der aktuelle Konsensus nur auf dem Flugsand unverbindlicher pluraler Meinungen und Auffassungen. „Dieser Konsens ist indes kein objektiver, normativ geforderter Konsens, der sich auf ein Staat und Bürger gemeinsam verpflichtendes objektives Prinzip bezieht, sondern ein subjektiver Konsens, der von den tatsächlich vorhandenen gemeinsamen Auffassungen bestimmt wird.“ 6

Es entspricht der Logik dieser Argumentation, dass unter den Bedingungen eines instabilen subjektiven Konsenses das ‚Volk‘ seine ihm eigene Identität, d. h. sein „politisch orientiertes Bewußtsein und Empfinden (Wir-Bewußtsein)“ im Rückgriff auf die Idee der ‚Nation‘ gewinnt.7 In der Tat, überall dort, wo die für die politische Kultur konstitutive Gemeinsamkeit nicht oder nicht mehr im normativen Gehalt der Bürgerkultur verankert ist, legitimiert sich staatliche Herrschaft tendenziell als eine im Erlebnis von Sprache oder Kultur begründete ‚Schicksalsgemeinschaft‘. In dieser herrschaftszentrierten Sicht des Politischen wird der in den real existierenden demokratischen Verfassungsstaaten für eine demokratische Herrschaftsordnung konstitutive Wertkodex, dessen verpflichtender Charakter sich einer letztbegründenden transpersonalen Ordnungsidee verdankt, als Formprinzip eines bürgerschaftlichen Grundkonsenses ausgeblendet. Böckenfördes Analyse verfehlt das Essenzielle der demokratischen Polities. Sie ist jedoch durchaus zutreffend für die herrschafts- und machtzentrierten Erscheinungsformen des demokratischen Prinzips in der politischen Modernität insbesondere dort, wo die konstitutionelle Revolution sich der machtstaatlichen Realität anverwandeln musste und den für diese kennzeichnenden normativ entleerten Bürgerbegriff, wie Herfried Münkler betont, tolerierte.8 Böckenfördes durchaus empirisch unterfütterte realpolitische Apperzeption des Politischen – wie Ernst Vollrath es nannte – speist sich aus dem Geist der europäischen Erfahrung, welche den Wissensgehalt aller Politik mit der einer „depersonalisierten“ Ausübung von Macht und Gewalt in der neuen politischen Welt des erscheinenden Staates identifizierte und in der modernen Wissenschaftskultur

5 6 7 8

Ebd., S. 111. Böckenförde 1991, S. 141. Böckenförde 2000, S. 43, 57. Vgl. Münkler 1993, S. 25–46.

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Jürgen Gebhardt

ihren eigenen unverwechselbaren Ausdruck im Werk Max Webers erlebte. In seiner handlungstheoretisch begründeten Herrschaftssoziologie gerinnen ‚Staat‘ und ‚Macht‘ zu Fundamentalkategorien des Politischen schlechthin und werden in der Folge als epistemologisches Fundament einer modernen politischen Sozialwissenschaft im westlichen Politikdiskurs rezipiert. „Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände“, so die berühmte Leitthese Webers, „ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“.9 Schärfer kann der Gegensatz zu einer auf bürgerschaftlicher Gemeinvernunft und politischer Tugend basierenden Ordnungskonzeption nicht artikuliert werden, denn nach diesem Verständnis optiert Weber für den Despotismus, wie Dolf Sternberger kritisch anmerkt: „Der Staat, der ‚politische Verband‘ überhaupt, stellt sich, sofern Weber moderne Verhältnisse ins Auge fasst, als ein Gewühl von Machtstrebern dar, denen eine mehr oder weniger blinde Menge von ‚Beherrschten‘ oder doch jedenfalls ‚Gehorchenden‘ – also kurz und authentisch: von Untertanen – gegenübersteht, die ihrerseits offenbar nichts mit der ‚Politik‘ zu tun haben, da sie nicht nach Macht streben. Ein politischer Begriff des Bürgers tritt in dem reichen Vorrat an sozialen Figuren nicht hervor – und das, obwohl es Max Weber war, der die Einzigartigkeit der okzidentalen Bürgerstadt auf das Entschiedenste und nicht ohne einen verborgenen Enthusiasmus geschildert hat. Die ‚Bürger‘ bleiben in einem kategorialen Niemandsland, ihre Freiheit heißt nur eine ‚sogenannte‘ und im System der Legitimitätsarten gehen sie leer aus.“10

Das große Kapitel über die ‚Stadt‘, seine sozio-politische Verfassung und den bürgerschaftlichen Verbandscharakter figuriert unter dem Titel „die nichtlegitime Herrschaft“, ist die Stadtkommune doch der erste „ganz bewusst illegitime und revolutionäre politische Verband“, der sich kurzfristig der legitimen Gewalt der Patrimonialmonarchie entledigt hatte.11 Im staats- und herrschaftszentrierten politischen Kosmos der Moderne gibt es keine bürgerschaftliche Politik, auf die sich eine demokratische Ordnung berufen könnte. Dies gilt, wie in den Krisenanalysen 1917 und 1918 mit aller Schärfe ausgesprochen wird, für jede Form des „modernen Massenstaates“, in dem die wirkliche Herrschaft in Händen der Bürokratie liegt, die sich einer cäsaristischplebiszitären Massendemokratie gegenüber sieht. In dieser Konstellation fungiert das moderne Parlament in erster Linie als Vertretung „der durch die Mittel der Bürokratie Beherrschten“12 und als Selektionsmechanismus für die Auswahl der „Massenführer als Staatsleiter“. Parlamentarismus und „Massendemokratisierung“ treten in ein Spannungsverhältnis, insofern der politische Führer nicht mehr per se bewährter Parlamentspolitiker aus der Honoratiorenschicht ist, sondern er „das Vertrauen und den Glauben der Massen an sich und also seine Macht mit massen-

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Weber 1980, S. 507. Sternberger 1978b, S. 356 f. Weber 1964, S. 985. Weber 1980, S. 339.

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demagogischen Mitteln gewinnt.“13 Der „cäsaristische Zug der Massendemokratie“ bedingt das Vorherrschen des „cäsaristischen Prinzips der Führerauslese“ in jeder modernen demokratischen Ordnung. In Webers herrschaftskategorialem Verständnis des Politischen bedingt Demokratisierung die Mobilisierung der emotionalen und irrationalen Massen, verknüpft mit politischem Cäsarismus.14 Diese Sicht der Politik ist durch und durch von der kontinentalen postrevolutionären Erfahrung des plebiszitären Autokratismus geprägt, der sich im europäischen Cäsarismusdiskurs widerspiegelt. Weber generalisiert seine für dieses spezifische Syndrom einer entbürgerlichten Massendemokratie zutreffende Deutung der politischen Modernität, die konsequent die bürgerschaftliche Fundierung des demokratischen Verfassungsstaates und das Ordnungsmodell des Verfassungsstaates selbst aus dem wissenschaftlichen Diskurs eliminiert. Weber belegt dies exemplarisch in der Darstellung der amerikanischen Politik, wo das plebiszitärdemokratische Moment seiner Meinung nach vorherrscht, in Gestalt einer plebiszitären Parteienmaschine und einer plebiszitären Führerwahl, die nicht zuletzt die Bestellung des Präsidenten kennzeichnet. Webers machtpolitische Optik öffnete durchaus den Blick für die latente Dysfunktionalität eines konstitutionellrepublikanischen Regimes durch die demokratische Massenmobilisierung. Entscheidender aber ist, dass seine Herrschaftslehre, die den plebiszitär-demokratischen Autoritarismus kategorial rezipiert, einen Herrschaftstypus beschreibt, der sich in der Tat als die geschichtsmächtige Alternative zum demokratischen Verfassungsstaat durchgesetzt hat. Kein geringerer als der große Analytiker der Demokratie Alexis de Tocqueville hat diese herrschaftstypische Differenz auf einen Begriff gebracht, wenn er vom demokratischen Cäsarismus Bonapartes sagt, er sei „der Despotismus eines Mannes auf demokratischer Grundlage“. In seiner retrospektiven Betrachtung der Revolution (1858) konstatiert er eine erhebliche Konfusion bei der Verwendung der Worte: Demokratie, demokratische Institutionen, demokratische Regime. „Wenn sie nicht klar definiert werden und wenn über die Definition nicht Übereinstimmung herrscht, werden wir in einer unauflöslichen Konfusion der Idee leben, was zum Vorteil von Demagogen und Despoten ist. Diese behaupten, dass ein von einem absoluten Herrscher regiertes Land eine Demokratie ist, weil dieser mit Hilfe solcher Gesetze regiert und solche Institutionen aufrecht erhält, die zum Vorteil der großen Masse des Volkes sind.“15

Ein differenziertes Bild eines neuen demokratischen Despotismus zeichnet er schon in seiner Amerikastudie: die gewaltige, bevormundende Macht eines Souveräns hält die Gesellschaft in einer Art geregelter, milder und friedsamer Knechtschaft. Sie verbindet sich mit einigen der äußeren Formen der Freiheit meist besser als man denkt, und es ist ihr nicht unmöglich, sich im Schatten der Volkssouveränität einzunisten, denken sich die Bürger doch eine einzige schüt-

13 Ebd., S. 403. 14 Ebd., S. 393–395. 15 Tocqueville 1959, S. 102 f., 154.

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zende, allmächtige Macht aus, die von den Bürgern gewählt wird – ein Despotismus in der „vermittelnden Form von Verwaltungsdespotie und Volkssouveränität“, der „die Entwürdigung der Menschen vollzöge ..., ohne sie zu quälen.“16 Hellsichtig diagnostizierte Tocqueville die plebiszitär-cäsaristische Entwicklungstendenz der Demokratie unter den geschichtlichen Bedingungen einer herrschaftsund machtzentrierten Deutung der Volkssouveränität. Für Tocqueville kann das Wort ‚Demokratie‘ jedoch seiner eigentlichen Bedeutung nach nur für ein bürgerschaftliches Regime gelten: „Ein Regime, in dem das Volk mehr oder weniger an seiner Regierung Anteil hat. Ihrem Wesen nach ist sie eng mit der Idee der politischen Freiheit verbunden.“17 Es gründet, wie Tocqueville in einer unvergleichlich eingängigen Formulierung sagt, in der republikanischen Wirklichkeit der Volkssouveränität, wie sie in Amerika in Erscheinung tritt. Dieser Begriff der Volkssouveränität beruht nicht auf Doktrinen, sondern er erwächst aus der Gesamtheit der Vorstellungen und Gewohnheiten, dem republikanischen Geist, der republikanischen Lebensform, die sich auf die Vernunftfähigkeit der menschlichen Natur berufen. Die Vorsehung hat jedem Menschen, wer immer er sei, das nötige Maß von Vernunft gegeben, das er zur selbstständigen Führung der ihn allein angehenden Dinge braucht. Das ist der große Leitsatz, der in den Vereinigten Staaten der bürgerlichen und politischen Gesellschaft zugrundeliegt. Er reguliert die Familie, die Dienstverhältnisse, das Gemeindeleben und das öffentliche Leben insgesamt. „Auf das Ganze der Nation ausgedehnt, wird er zum Dogma der Volkssouveränität“.18 Die Legitimität der konstitutionellen Herrschaftsordnung ist bürgerliche Legitimität, „sie fußt in Wahrheit nicht auf der Kollektivperson Volk“, sagt Dolf Sternberger, „sondern auf der pluralen Bürgerschaft der civitas civium.“19 Tocqueville schält den Kern des republikanischen Paradigmas gesellschaftlicher Ordnung heraus und führt es auf seine anthropologisch-geschichtliche Begründung zurück. Wenn eingangs von der Janusköpfigkeit des modernen Politikdiskurses gesprochen wurde, dann zeigt sich dies an der eigentümlichen Verfassung der angelsächsisch dominierten Sozialwissenschaften: Theoretisch sind sie machtzentriert, empirisch praktisch aber Demokratiewissenschaften, die sich den Weberschen Politikbegriff anverwandeln und damit Gefahr laufen, sich theoretisch nicht mehr auf ihre eigenen normativen Voraussetzungen einzulassen, sondern sich positivistisch mit einem deskriptiven formalen politisch-ethisch entleerten Bürgerbegriff zu begnügen, der auch mit dem global vorherrschenden Schein-Konstitutionalismus vereinbar ist. Als sich jedoch eine erneuerte politische Wissenschaft in den USA in den 1950er Jahren daran machte, das Scheitern der Institutionen der westlichen Demokratie in der europäischen wie in der postkolonialen Welt aus deren historisch-kulturellen Voraussetzungen, d. h. der politischen Kultur heraus zu ver-

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Tocqueville 1964, S. 815. Tocqueville 1959, S. 102. Tocqueville 1964, S. 459. Sternberger 1990, S. 227.

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stehen, machte sich der Widerspruch zwischen wissenschaftstheoretischem Postulat und Erkenntnisinteresse schon in der zentralen Fragestellung nachhaltig bemerkbar: Wie muss die ‚civic virtue‘, von der schon die Griechen sprachen, beschaffen sein, um die Entwicklung und Bewahrung einer demokratischen Politie zu gewährleisten, und welche Art des Gemeinschaftslebens, der Sozialordnung und der Sozialisation begünstigt ein solches Tugendsystem?20 Beantwortet wird die Frage im Umkehrschluss: Da die angelsächsischen Politien sich als die stabilsten erwiesen haben, umschreibt der dort vorherrschende Komplex politischer Denk- und Verhaltensmuster jenes Tugendsystem, das demokratische Stabilität verbürgt: Es ist die ‚civic culture‘, die „participant culture of the citizen“, die Tocqueville ihrem Wesensgehalt nach beschrieben hatte, wobei allerdings dessen anthropologisch fundierte Vernunftethik utilitaristisch-funktional verkürzt wird – Tugend findet nicht mehr statt. Die Thematisierung der ‚civic culture‘ in der politischen Kulturforschung setzt sich fort in einer breiten politischen, sozialwissenschaftlich induzierten Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen des Bürgerseins unter den Bedingungen moderner demokratischer Staatlichkeit im nationalen und globalen Kontext, die einerseits den „return of the citizen“ proklamiert,21 andererseits aber sich auch aus der unterschwelligen Vermutung der Betroffenen nährt, dass selbst im klassischen Verfassungsstaat die anonymen Kräfte von Macht und Markt die Idee der bürgerschaftlichen Selbstregierung bis zur Unkenntlichkeit deformieren. Die ‚Rückkehr des Bürgers‘ in den theoretischen Diskurs ist jedoch nicht nur eine neue Wendung im demokratietheoretischen Budenzauber der akademischen Intelligenz, sondern spiegelt sich in politikpraktischen Diskursen wider, in denen sich das politisch mobilisierte Individuum in einem Akt der Selbstbehauptung auf das Versprechen der konstitutionellen Revolution besinnt und sich als Mensch im Bürger wiedererkennt. Diese Verheißung verdankt die Moderne dem politischen Geist des Westens, dessen historische Tiefendimension im Begriff des Bürgers durchsichtig wird, drückt sich doch in ihm die dem großen achsenzeitlichen Umbruch geschuldete ursprüngliche Fundamentalerfahrung menschlichen Seins aus, dass sich in der Polis die menschliche Gemeinschaft ihrem Wesen nach verwirklicht und der Mensch in seiner Vollendung ein Poliswesen ist, ein ‚zoon politikon‘, das seiner Bestimmung nach auf bürgerschaftliche Gemeinschaftlichkeit hin angelegt ist (Aristoteles, Politik I,9). Aristoteles übersetzt die komplexe, in sich durchaus widersprüchliche geschichtliche Erfahrung in eine politische Ontologie des Bürgermenschen, welche gleichsam die Ordnungslogik des weltgeschichtlich ersten republikanischen Diskurses zum Ausdruck bringt. „Indem die Griechen“, sagt Christian Meier, „das Politische entwickelten, bildeten sie das Nadelöhr, durch das die Weltgeschichte hindurch musste, wenn sie zum modernen

20 Almond/Verba 1963, S. IX. 21 Kymlicka/Norman 1994, S. 352–381.

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Europa gelangen sollte.“22 Das impliziert keineswegs eine durchlaufende Kontinuität bürgerschaftlicher Traditionen in der westlichen Zivilisationsgeschichte, denn ihre geschichtliche Gestaltungskraft entfaltet sich nur unter spezifischen geschichtlichen Konstellationen, wenn die Gunst der Stunde der Vision einer kommunitär-republikanischen Ordnung ihre geschichtliche Realisierung erlaubt. Mit Blick auf den modernen Widerstreit der politischen Ordnungsideen artikuliert Meier das zentrale politische Argument für eine Rückerinnerung an die hellenischen Anfänge in einer Zeit, in der es um die Weichenstellung moderner Polizität geht: „Wo sich das Politische, in Fortsetzung und Abbruch, vom Staat löst, wo nicht mehr nur die Entscheidungen, sondern die politische Entscheidbarkeit dessen, was unsere Lebensverhältnisse uns processualiter zum Pensum machen, kritisch wird, wo unsere Identität auf dem Spiele steht, wird der Blick auf die Besonderheit der Griechen und ihre Errungenschaften neu freigegeben: auf das Politische, das im Wesentlichen als Form freien Zusammenlebens von Bürgern ihre Schöpfung war, auf die politische unter den Kulturen der Weltgeschichte, die sie darstellen, und damit auf ihre Stellung innerhalb dieser Geschichte.“23

Der hellenische Bürgerdiskurs entfaltete seine geschichtliche Wirkung nicht zuletzt in einer Poliswissenschaft, welche das Ganze der Poliserfahrung auf den allgemeinverbindlichen Begriff eines Paradigmas der Ordnung der menschlichen Existenz brachte und die, vermittelt und ergänzt durch den republikanischen Diskurs Roms, die Vision des Bürgers dem symbolischen Haushalt der antiken und nachantiken Welt derart einverleibte, dass sie in Zeiten kritischer Umbrüche ordnungspolitisch reaktiviert und den jeweiligen Imperativen des Politischen institutionell anverwandelt werden konnte. Schon die antiken republikanischen Diskurse evozierten nur mit Einschränkungen und zeitlich begrenzt bürgerschaftliche Ordnungen in der Polis und der römischen Republik, desgleichen die mittelalterliche Wiederentdeckung und Renaissance der Bürgerpolitik in der europäischen Stadtkultur, welche die Initialzündung des bürgerschaftlichen Konstitutionalismus der italienisierten Anglo-Kulturen vorbereitet hat. Peter Riesenbergs Citizenship in the Western Tradition unterscheidet „two citizenships, forms of the institution different enough from each other to justify such a classification and interpretation. The first lasted from the time of the Greek city-state to until the French Revolution; the second has been in existence since then.“24 Aber von einer ungebrochenen Traditionsgeschichte kann nicht die Rede sein und der geschichtliche Bürger war ein pluriformes Wesen, wie Riesenbergs Darstellung selbst belegt. Problematischer aber ist der Versuch einer idealtypischen Unterscheidung, den Riesenberg unternimmt. „Subjectively, the difference between the first and the second citizenships may be perceived as one stance. Under the first, in its most challenging and uplifting formulations, man always

22 Ch. Meier 1980, S. 13. 23 Ebd., S. 21. 24 Riesenberg 1992, S. XVIII.

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leaned into the action summond by notions of virtue ... Under the second, man, now mass man and woman, leans backwards, away. He or she, now enticed by private distractions, often fails to grasp the potentiality for moral growth in the activities prescribed for citizenship.“25

Bei genauerem Hinsehen beschreibt diese idealtypische Unterscheidung zwei Seiten ein und derselben Medaille: Im ersten Fall handelt es sich um die normative Definition des bürgerschaftlichen Ethos, das Gegenstand aller republikanischen Diskurse in der Antike und der Moderne ist. Im zweiten Fall geht es um den empirischen Sachverhalt des tendenziell destruktiven Mehrheitsverhaltens in einem bürgerschaftlichen Gemeinwesen, welches die Leitfiguren des bürgerschaftlichen Diskurses von Aristoteles, Cicero, Machiavelli bis zu den amerikanischen Founding Fathers und den heutigen Kommunitaristen kritisch thematisieren. II. REPUBLIKANISCHE DISKURSE IN DER HELLENISCH-RÖMISCHEN ANTIKE Die historische Soziogenese eines dem Menschen eigentümlichen „potentiell das ganze Leben durchdringenden Handlungsfeldes“ vollendet sich in der hellenischen Bürgerpolis in einem geschichtlich neuartigen Begriff der menschlichen Identität. Der Kristallisationspunkt dieses Prozesses der Identitätsbildung ist der Polismensch, wie er sich in den Selbstverständigungsdiskursen der Poliskultur und hier insbesondere der athenischen Gesellschaft und der institutionellen Praxis der Polis selbst herausbildet. „Aus der Gleichsetzung von Polis und Bürgerschaft ist der Begriff des Politischen entstanden.“26 Semantisch expliziert das substantivierte Adjektiv ‚politikon‘ die Natur des Polishaften.27 Es bezieht sich einmal gleichsam normativ auf „das Ideal einer Bürgerschaft, auf das Ganze der Polis“, aber auch auf spezifische Momente der Polisangelegenheiten (‚ta politika‘). Die entscheidenden Momente dieses republikanischen Diskurses offenbaren sich exemplarisch in drei berühmten narrativen Selbstdeutungen. Am Anfang aller Dinge steht die Figur des ‚diallaktes‘ Solon (594 v. Chr.), dem in der Traditionsgeschichte der Polis die Rolle des ordnungsstiftenden Nomotheten schlechthin zuerkannt wurde. Er antwortete auf die tödliche Krise der aristokratischen Gesellschaft mit einem Programm des gesellschaftlichen Ausgleichs, das die Polisordnung als Angelegenheit des Demos konzipierte und diesem die Verpflichtung auferlegte, das göttlich-kosmisch vorgegebene Prinzip der Gerechtigkeit eigenverantwortlich in einer dieser Vision angemessenen ‚guten Ordnung‘ der Eunomie zu realisieren. Ordnung und Unordnung sind das Resultat menschlichen Handelns, eine Einsicht, welche die Gestaltung des Nomos der Polis mit dem Ethos der guten Ordnung verknüpfte.

25 Ebd., S. XXI. 26 Ch. Meier 1995, S. 248–301, 252. 27 Gebhardt 1999, S. 36–54, 45.

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Jürgen Gebhardt „In der Eunomie wurde der Nomos in neuer Weise normativ.“28 – „In dem nun der Zusammenhang aller Teile des Polislebens unter diesen beiden – göttlich sanktionierten – Möglichkeiten von Ordnung und Unordnung begriffen wurde, wurde eine sehr deutliche Unterscheidung zwischen Eunomie und Dysnomie möglich.“29

Die Konturen einer Ordnungsidee zeichnen sich ab, an der das Bestehende kritisch zu messen war und depravierte Ordnung als solche identifiziert werden konnte, wie schon Solons Ablehnung der Alleinherrschaft des ‚Tyrannen‘ belegt. Inwieweit Solons Appell an die Verantwortung der Bürger für ihre Stadt sich institutionell in der Erweiterung der Basis der Polis, das heißt in der Mehrung der Teilnahmerechte, in seiner Gesetzgebung niederschlugen, ist eine offene Frage. Entscheidender ist, dass die Eunomie nur aus einem gemeinsames Ethos jenseits der traditionellen archaischen (insbesondere aristokratischen) Verhaltenskodes erwächst, denn in ihrer praktischen Gegenwärtigkeit führen jene nur zum Krieg aller gegen alle und enden in Dysnomie. Eunomie verlangt eine neue Vortrefflichkeit der Arete, welche die Sinngebung des menschlichen Handelns nicht aus dem ungezügelten Streben nach Macht und Reichtum, der Illusion individueller Wunschvorstellungen bezieht: „Viele Schurken sind reich, viele Redliche sind arm; dennoch tauschen wir nicht Tugend (arete) ein für schnöden Besitz. Denn Arete ist fest und beständig aber von Hand zu Hand wandert die Ware, das Geld.“30 Die wahre Arete des Polisbürgers ist die Bedingung der Eunomia, denn sie verbürgt die Präsenz der Dike, der Gerechtigkeit, sie setzt der Hybris Maß und Grenze. Dike verweist auf die Maßhaftigkeit, dem Ordnungsprinzip allen Seins. Es ist nicht als göttliches Dekret vorgegeben, sondern erschließt sich im menschlichen Akt der Selbsterkenntnis, dem Delphischen Imperativ des gnothi seauton (erkenne dich selbst): „Am allerschwersten ist in den Blick zu bekommen das unsichtbare Maß der Erkenntnis, das von allem einzig und allein die Grenzen innehat.“31 Die neue Arete des Bürgermenschen formiert sich in der existenziellen Spannung zwischen den destruktiven Kräften eines Lebens in der Verblendung (Doxa) durch die Bedürfnisse, Leidenschaften und Sehnsüchte der Individuen und der ordnenden Kraft des unsichtbaren Maßes, das die Bürger zu kollektivem Handeln im politischen Raum befähigt. In der politischen Dichtung des nomothetischen Staatsmannes Solon zeichnen sich die Schlüsselideen ab, die historisch gegen Ende des 5. Jahrhunderts in der emergenten Bürgerpolis der Reformen des Kleisthenes ihre Wirkung entfalteten, denn „(i)n dieser Zeit erfolgte eine Umwertung der Werte, zugunsten einer eher auf die Polis bezogenen Ethik; neue Maßstäbe verbreiteten sich. Weisheit und Gerechtigkeit konnten als die

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Ch. Meier 1970, S. 21. Ebd., S. 23. Solon 1945, D 4, 9–12, S. 42 (meine Übersetzung). Ebd., D 16, S. 46; nach Schadewaldt 1978, S. 119; vgl. auch Gebhardt 1984, S. 1–34, 10–16; Voegelin 2003, S. 50–59.

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wichtigsten Tugenden erscheinen. Und das korrespondierte mit der Forderung breiter Schichten nach Recht (dike).“32

Die geschichtliche Konkretisierung der Bürgerpolis verdichtet sich im republikanischen Diskurs des Herodot in der Mitte des 5. Jahrhunderts zur symbolischen Selbstrepräsentation eines gesamthellenischen Bürgerparadigmas, das den hellenisch-persischen Konflikt ins Prinzipielle hebt und den Wesensgehalt der Polis, das ‚politikon‘, in seinem Unterschied zur persischen Lebensform herausarbeitet.33 Eingekleidet in den Dialog zwischen dem Perserkönig Xerxes und dem exilierten Spartanerkönig Demarantos, der den Barbaren erklärt, dass es möglich ist ohne Despotie Menschen zum Kampf zu motivieren: Armut sei in Hellas naturgegeben, nicht aber Arete, die es sich durch Weisheit (sophia) und starkes Gesetz (nomos) aneignete. Durch Arete verteidigt sich Hellas gegen Armut und Despotie, denn „sie sind frei, aber nicht gänzlich frei, denn Nomos ist ihr Herr (despotes), den sie mehr fürchten als deine Männer dich (den Perserkönig) fürchten. Sie tun, was jenes befiehlt.“34 Der Dialog, so schreibt Schadewaldt, trägt das „ideelle Gerüst“ des ganzen Werkes, die hellenische Idee der Freiheit unter dem Gesetz.35 Herodots Aitologie des persisch-hellenischen Konflikts kreist um den Begriff des Wesens des Polishaften, des ‚Politikon‘. Zwei nomoi stehen sich gegenüber: die hierarchisch gegliederte Hausherrschaft steht gegen die auf Isonomie (Gleichheit vor dem Recht) und Isegorie (Gleichheit im politischen Raum der Agora) gegründete Polisordnung. In dem subtil konstruierten „agon der Verfassungen“ lässt Herodot die Führungsriege der erfolgreichen persischen Verschwörer über Vor- und Nachteile möglicher Regierungsformen debattieren: die Herrschaft der Vielen oder des Demos, der Wenigen oder des Alleinherrschers. Hier wird erstmals die für die Polispolitik typische Regierungstypologie kategorial bestimmt und die Isonomie mit der Demokratie in der Verbalkonstruktion „als vom Demos regiert werden“ identifiziert: Isonomie heißt Ämterbesetzung durch das Los, Verantwortlichkeit der Amtsinhaber und eine auf das Gemeinschaftliche bezogene Beschlussfassung, denn „in den vielen lebt das Ganze.“36 Drei Aspekte kennzeichnen Herodots distanzierten Blick auf die neuartige, durch die Bipolarität von Athen und Sparta geprägte hellenische Welt: Einmal, dass jedes Regime durch die Hybris der Herrschenden destruiert wird, es also auf die Qualität der Regierenden ankomme; zweitens, dass die Perser im Sinne des von ihren Vorfahren überkommenen Gesetzes sich notwendig für den Alleinherrscher entscheiden mussten und, drittens, zieht Herodot hier die für die Konstruktion seines Werkes entscheidende Schluss-

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Ch. Meier 1980, S. 83. Vgl. Gebhardt 1999, S. 45 ff. Herodot 1971, S. 102–104; Hüttinger 2004, S. 17–26. Schadewaldt 1982, S. 153. Herodot 1971, S. 80.

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folgerung, dass die bürgerschaftlich verfassten Regime von Demokratie und Oligarchie die Gegenentwürfe zu jeglicher Alleinherrschaft oder Despotie darstellen. Eine Generation nach Herodot liefert der Historiker Thukydides mit seiner Rekonstruktion der Rede des Perikles zu Ehren der im hellenischen Bruderkrieg gefallenen Athener die wohl für den antiken republikanischen Diskurs traditionsgeschichtlich wichtigste Selbstdarstellung des bürgerschaftlichen Ideals. Nicole Loraux hat die Totenreden als symbolische Repräsentation der Polis beschrieben, als gleichsam zeitlose Lebensform des Politischen jenseits aller binnenpolitischen Konfliktträchtigkeit der Demokratie. Nicht diese, sondern die Polis ist der Schlüsselbegriff einer Totenrede: „Its omnipresence and its multiform character makes the polis an entity; but in order for it to replace individuals in this way, the orators, refusing the plurality of citizens, must conceive of the city first of all as a unity.“37 Die Evokation der Polis ruft den Zuhörern den Ordnungs- und Sinngehalt ihrer politischen Kultur in Erinnerung, sie ist die imaginative Vergegenwärtigung der Bürgeridentität, der Polis der Arete. Perikles nennt Athen die „Schule von Hellas“ und betrachtet die athenische Demokratie als Paradigma der wohlgeordneten Polis schlechthin. Er entwickelt die Grundzüge der Isonomie und betont die Geltung des Prinzips der Arete, jenseits des sozialen Status, wenn es um die Stellung des Bürgers im Gemeinwesen geht. Bei allem freien Umgang miteinander herrscht in der Polis jene Gesetzesfurcht, die den Gehorsam gegenüber geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen verbürgt. Daran schließt sich eine bis heute in gewisser Weise verbindliche normative Vision des idealen Aktivbürgers (polites) an: „In denselben Personen findet man vereinigt das Interesse sowohl an den häuslichen (privaten) wie an den politischen Angelegenheiten und in anderen von uns, welche den verschiedenen eigenen Geschäften zugewandt sind, findet sich die Einsicht in die politischen Angelegenheiten. Wir allein betrachten einen Mann, der daran keinen Anteil nimmt, nicht als einen, der sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, sondern halten ihn für einen schlechten Bürger (idiotes), und wir allein entscheiden in politischen Fragen selbst oder beurteilen sie doch wenigstens richtig, denn wir sehen nicht in der Debatte eine Gefahr für das Handeln, wohl aber darin, sich nicht durch Reden erst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.“

Dieses politische Ethos des Bürgers ist verknüpft mit der Idee einer umfassenden geistig-kulturellen Formierung des Bürgers, der letzthin den Anspruch Athens als Erzieher aller Hellenen begründet. So lässt Thukydides seinen Perikles stolz verkünden: „Wir eignen uns das Schöne an (philokaloumen), und zwar in Schlichtheit, und wir eignen uns die Weisheit an (philosophoumen), ohne Verweichlichung.“38 Philosophieren ist also ein Begriff des Polisdiskurses und doku-mentiert den Rekurs auf jene Existenztugend, die Weisheit, die seit Solon das ethische Leitprinzip des selbstverantwortlichen Bürgers ist und diesem die Maßhaftigkeit allen Handelns bewusst macht.

37 Loraux 1986, S. 275. 38 Thukydides 1993, S. 240 ff.; Hüttinger 2004, S. 26–37.

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Die Totenrede setzt die Norm, welche die ta politika in der Modell-Politeia regiert. Thukydides gestaltet sie als Spiegel, in dem die Athener die Hybris der Perikleischen Großmachtpolitik vor Augen geführt wird, denn wie Thukydides wenig später anmerkt: „Was dem Namen nach eine Demokratie, war aber in Wirklichkeit das Regime des Ersten Mannes“39, dessen Krise sich in der Umwertung aller Werte im Gefolge der Bürgerkriege ankündigte und aus einer Politeia eine Stasioteia, eine a-politische Politeia des Kampfes jedes gegen jeden macht, wie Platon es nennen sollte.40 In der Stasioteia verflüchtigt sich die Natur des Polishaften, das politikon, wie es im Paradigma der Perikleischen Rede entfaltet wurde. Dieser Erfahrung entsprang in Gestalt Platons die philosophische Politik: Das Politische wurde reflexiv und gewann Gestalt in einer auf neuartige Weise institutionalisierten symbolischen Form des Politischen, die den ta politika kritisch gegenüberstand.41 Das philosophische Paradigma zielt auf die Wiedergewinnung des wahren Sinnes der in der Isonomie und Isegorie postulierten Gleichheit, also des Politischen: Diese Gleichheit muss jene nach Zahl, Maß und Gewicht ergänzen, die im demokratischen Losverfahren wirksam ist. Das reflexive Politikon knüpft der Sache nach durchaus an die normativen Vorgaben der Polisidee an. Entsprechend lautet die aristotelische Bestimmung des Politischen: „Gerechtigkeit ist das Politische, denn das Recht ist die Ordnung der politischen Gemeinschaft, und das Recht urteilt darüber, was das Rechte ist.“42 Bürgerschaft und Polis wurden als identitäre Einheit gedacht, dem entsprach die Teilnahme des Bürgers an Herrschaft und Kult, seine militärischen, sozialen und ökonomischen Privilegien, aber das Bürgerrecht war auch in der Thetendemokratie exklusiv und beruhte auf der polisbürgerlichen Herkunft (von Perikles verschärft auf beide Elternteile), Alter und Geschlecht. Es exkludierte Sklaven und Nichtgriechen, deren Naturalisierung eine Ausnahme blieb, deswegen tat man sich schwer mit der Akzeptanz anderer ethnischer und linguistischer Kulturen. Die Poliskultur offenbart erstmals und in spezifischer Form die Problematik einer partizipatorischen Bürgerkultur, in der die Teilnahme an der Herrschaft das Kriterium des Bürgerrechts ist und somit eine normativ-ethische Integration in das Gemeinwesen fordert, die nicht auf formale Zugehörigkeit allein abhebt. Die reflexive Politik einer polis-unabhängigen Intelligenz hält an der Idee fest, dass der Mensch in seiner Vollendung ein Poliswesen ist, aber sie universalisiert den Polismenschen tendenziell in einer ‚Philosophie des Menschlichen‘, wie Aristoteles dies nennt, und löst den republikanischen Diskurs vom Polisparadigma, er wird denk- und politikgeschichtlich verfügbar für zukünftige Generationen. Als der im Jahr 165 nach Rom deportierte Grieche Polybios sich den Aufstieg der römischen Republik zur imperialen Macht historisch vergegenwärtigte, führte er

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Thukydides 1993, S. 277. Platon 1977, 757 c–e. Vgl. Scholz 1998. Aristoteles 1955, 125 3b.

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diesen auf die den Römern eigentümliche Politeia zurück, deren innere Verfassung sich vorteilhaft von der hellenischen Bürgerpolis unterschied. Sie entsprach nicht der Kategorienlehre von den drei Ordnungsformen, sondern war im Hinblick auf die Macht der Konsuln monarchisch, im Hinblick auf den Senat aristokratisch und im Hinblick auf den Demos demokratisch – so prägte er für die römische Republik den Begriff der Mischverfassung. Der Demos partizipierte über die Volksversammlung an der Herrschaft, aber der Demos regierte nicht das Gemeinwesen.43 Der Bürgerbegriff in den stadtstaatlichen Kulturen Italiens fand letztlich seine charakteristische Form unter den Bedingungen der aristokratischen Republik der Stadt Rom. Er unterschied sich von seinem Ursprung her nicht nur graduell vom hellenischen Bürgerbegriff, sondern er war seiner Natur nach gänzlich anders geartet, denn die römische res publica war nicht identisch mit der Bürgerschaft. Das Institutionengefüge blieb stets aristokratisch und hierarchisch strukturiert und das suffragium, das dem römischen Stadtbürger, dem civis politische Teilhabe gewährte, war auf vielfältige Art nicht zuletzt durch das System der Kollektivstimmen in den Stimmkörperschaften zugunsten der Nobilität eingeschränkt, die auctoritas und potestas monopolisierte. Über der Bürgerschaft stand die res publica, deren Wahrung dem Adel oblag. Der Begriff umschreibt abstrakt die Gesamtheit der öffentlichen politischen, militärischen und kultischen Angelegenheiten im Gegensatz zu den res privata der einfachen Bürger, die der res publica untergeordnet sind. Die civitas, wie es im spätrepublikanischen Diskurs Ciceros hieß, war eine juris societas civium und das Bürgerrecht weniger eine Sache politischer Rechte als ziviler Rechte und Pflichten. Jochen Bleicken spricht vom „abstrakten“ Begriff des „Bürgerrechts“, das sich in Folge der innerrömischen Ständekonflikte in der hohen Republik herausbildete und sich mit der Vorstellung verband, „dass dieses Recht von dem Personenverband, der es hatte bzw. (während des Ständekampfes) erworben hatte, losgelöst und an außerhalb dieses Verbandes stehende Personen ... übertragen werden konnte.“44 Das römische Bürgerrecht war im Prinzip inklusiv. Beruhte es einmal nach wie vor auf dem Agnat, so ließ es doch Freigelassene, Fremde und schließlich, ab dem 3. Jahrhundert, die Mehrheit der Untertanen (sine suffragio) des emergenten Imperiums zum Bürgerrecht zu. Damit konnte „die res publica Romana fortgesetzt und unbeschränkt neue Bürger in ihren Staatsverband aufnehmen ... ohne damit ihre wesensmäßige Grundlage zu verlieren.“45 Die hier implizierte Prägung des römischen Selbstverständnisses durch das Rechtsdenken spiegelte sich im republikanischen Diskurs wider, soweit er ein Bürgerrechtsdiskurs war und sich als solcher in der postrepublikanischen Jurisprudenz des corpus juris civilis niederschlug, dem das westliche Ordnungsdenken seine rechtliche Form verdanken

43 Polybios 1972, S. 296. 44 Bleicken 1995, S. 22. 45 Suerbaum 1970, S. 11.

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sollte: „A ‚citizen‘ became to mean someone free to act by law, free to ask and expect the law’s protection, a citizen of such and such a legal community, of such and such a legal standing in that community.“46 Der Bürgerrechtsdiskurs war gleichsam der juristische Nachklang des im eigentlichen Sinn republikanischen Diskurses der späten Republik, für den das Werk Ciceros steht. Seine politischen Dialoge verknüpfen polis-philosophisches Denken mit dem römischen Ordnungsverständnis in einem Diskurs, der die republikanische Ordnung als historiogenetisch von den ‚Vorvätern‘ überkommenes und somit dem mos maiorum verpflichtetes Leitmodell durchdenkt, um dessen brüchig gewordene Legitimitätsgrundlage zu erneuern. Griechisch ist die politische Kategorienlehre der Herrschaft, sie wird in Analogie zu Polybios als meritokratische Mischverfassung begriffen, griechisch die Einbettung der civitas in die von der späthellenischen Philosophie der Stoa vorgegebenen Vision einer umfassenden Weltordnung, welche die Universalisierung der menschlichen Vernunft kosmo-theologisch unterfüttert. Die menschliche Vernunftnatur erwächst auch der Übereinstimmung mit der göttlichen Weltvernunft. Gott und Mensch haben an der ‚richtigen Vernunft‘ (recta ratio) teil und stehen damit unter dem den Kosmos durchwaltenden einen Gesetz, sodass der Kosmos als eine dem Menschen und Göttern gemeinsame res publica anzusehen ist.47 Innerhalb der gesetzlichen Ordnung erscheint der Mensch nicht nur als Bewohner eines bestimmten Ortes, sondern als Bürger der gesamten Welt, als kosmopolites, der diese gleichsam als eine einzige Stadt begreift. Die römische Stadtrepublik (urbs) offenbart sich uranfänglich als Abbild und Repräsentant eines Universums, das de iure den ganzen Erdkreis (orbs) umfasst.48 Die römische res publica legitimiert sich solchermaßen als die unvergleichlich beste Ordnung, deren Bürgerschaft in der Anerkennung des Rechts (consensus juris) und der Gemeinsamkeit des Nutzens (communio utilitatis) vereinigt ist.49 Das Volk ist eine Rechtsgemeinschaft der Bürger, aber kein Demos im Sinne der athenischen Bürgerpolis, denn die Freiheit des Volkes unter dem Recht in der Mischverfassung hängt nicht von der Organisation der Amtsgewalt ab, sondern entsprechend der väterlichen Tradition von der ordnungsverbürgenden Autorität einer Führungselite von herausragender politischer Sittlichkeit in Senat und Magistrat. Die paradigmatische Sittlichkeit der meritokratischen Elite allein garantiert die öffentliche Tugend der Bürgerschaft. Sittlich-politische Korruption der politischen Klasse bedingt den Sittenverfall der Gesellschaft, die Tugend der Bürger setzt die Tugend der Eliten voraus.50

46 47 48 49 50

Pocock 1992, S. 33–55, 40. Cicero 1988, S. 224 ff. Ebd., S. 248. Cicero, De Re Publica, S. 64. Cicero 1988, S. 316.

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Die öffentlichen Angelegenheiten sind nicht Sache aller Bürger, sie sind in dieser Hinsicht Privatleute, deswegen sind die durch consilium (kraftvolle, auf das Handeln gerichtete Besonnenheit) und auctoritas ausgezeichneten Männer in einem höheren Grade weise als jene, die nicht an den öffentlichen Angelegenheiten teilhaben. Nicht der tugendhafte Bürger noch der platonische Philosoph repräsentieren die Idee der Republik. Die wahre Weisheit ist die ordnungsgenerierende prudentia civilis des öffentlich tätigen Mannes – Tugend ist das dem Manne zukommende kraftvoll gestaltete Tätigsein. In seiner Vollkommenheit bewährt sich ein solcher Staatsmann in der Krise des Gemeinwesens als Lenker und Retter der res publica, denn dies gilt als das „Werk eines großen Bürgers und eines fast göttlichen Mannes.“51 Die antiken republikanischen Diskurse entdecken die Bürgerhaftigkeit der sozialen Verfassung des Menschen in Athen und Rom – gemeinsam ist allen Formen bürgerschaftlicher Vergesellschaftung die das kommunitäre Ethos fundierende Leitidee eines transzendenten Prinzips in Gestalt der Trias von Gerechtigkeit, Recht und Gesetz. In Hellas erfolgt die Universalisierung der Polis-Humanität im philosophischen zoon politikon, in Rom geschieht dies auf zweifache Weise: der Bürger ist einerseits universales Rechtssubjekt, andererseits als solcher ein auf die Herrschertugend der ‚Besten‘, der Optimaten verpflichteter Privatmann. Eine dritte geschichtsmächtige Variante stellt die eigentümliche und folgenreiche Metamorphose des Bürgerbegriffs in der Frühgeschichte der christlichen Gemeindebildung dar, die sich der politischen Semantik bedient, wenn sich ihre Versammlung als Volksversammlung (ekklesia) bezeichnet. Der römische Bürger Paulus usurpiert den Bürgerbegriff für die Mitgliedschaft im spirituell konzipierten corpus Christi. Die Christen, die sich als Bürger vergemeinschaften, sie sind nicht Fremde oder Gäste, sondern Mitbürger (sympolitai) der Heiligen und als solche auf eine „himmlische Bürgerschaft“ ausgerichtet.52 Die spirituelle Gemeinschaftsidee ist einerseits apolitisch, andererseits aber egalitär und universal: Unter Christus sind Juden und Hellenen, Sklaven und Freigelassene, Männer und Frauen insofern gleich, sie unterscheiden sich allein durch unterschiedliche Teilhabe am göttlichen Geist. In der Reinterpretation des Kirchenvaters Augustinus heißt Bürgerschaft Mitgliedschaft in zwei in gleicher Weise unsichtbaren Kommunitäten: die civitas coelestis, deren Bürger unter der Herrschaft Gottes stehen, und die civitas terrena, deren Bürger vom Satan beherrscht werden. Es herrscht Wahlfreiheit, und die Mitgliedschaft in der jeweiligen Stadt stand allen Menschen ohne Unterschied des Standes und des Geschlechtes offen. Der theologisch-metaphysische Bürgerbegriff unterschied sich vom vorgängigen antiken Bürgerbegriff durch die Idee der sozialen Gleichheit unter Gott, wenn auch diese auf ein Jenseitiges allein bezogen

51 Cicero, De Re Publica, S. 68. 52 Paulus, Pros philippesious 1, 27; 3, 20; Pros ephesious, 2, 20.

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und insofern elitär war, als nur wenige der Gnade teilhaftig wurden, in die göttliche Stadt einzugehen.53 Dieser christliche Bürgerbegriff stand in der mittelalterlichen Welt unter dem Vorbehalt einer allgemeinen unaufhebbaren Sündhaftigkeit des Menschen, wie es Lothar von Segni, später Papst Innozenz III, in seiner für den mittelalterlichen Zeitgeist paradigmatischen Schrift „Über das Elend menschlichen Daseins“ (um 1200) darstellte: Vom elenden Anfang der menschlichen condicio folgt der schuldhafte Fortschritt des menschlichen Verhaltens bis zum verdammungswürdigen Ende der Verkommenheit, denn die tödliche Sünde der Hybris bestimmt die menschliche Bedingtheit.54 Es ist nötig, sich diese radikalen Abwertungen allen menschlichen Handelns in dieser radikalen Proklamation des contemptus mundi zu vergegenwärtigen, um den geistig-politischen Umbruch zu verstehen, den die scholastische Wendung zur aristotelischen scientia civilis bedeutete, die den Menschen als bürgerliches Handlungsobjekt restituierte und in Gestalt einer „Theologie der Stadt“ (U. Meier) die emergenten Bürgerkulturen der Städte – insbesondere in Italien – legitimierte. III. DER REPUBLIKANISCHE DISKURS DES BÜRGERSCHAFTLICHEN STADTREGIMENTS Es war die städtisch-kommunale Lebensform im Spannungsfeld von Papst-, Königs- und Kaiserherrschaft, welche diesem ideenpolitischen Neubeginn den Interpretationsrahmen und die Perspektive vermittelte. „Idealtyp der gelehrten mittelalterlichen Bürgerdebatte ist der freie Stadtbürger, der in einem privilegierten Verband rechtsgleicher Genossen Mitglied ist, mindestens rudimentäre Wahlund Akklamationsrechte besitzt und bisweilen stehen kann für den Menschen schlechthin.“55

Die Wiederauferstehung des Bürgers in der spätmittelalterlichen Universitäts- und Stadtkultur verdankte sich einem komplexen Zusammenspiel von Real- und Idealfaktoren, das Form und Inhalt der in sich heterogenen republikanischen Diskurse zum Ausgang des 13. Jahrhunderts bestimmt. Der Bürger erscheint im Windschatten einer umfassenden Reorientierung des Ordnungsdenkens in der lateinischchristlichen Welt, das heißt die Renaissance des römischen Rechtes und der aristotelischen Philosophie kombiniert mit zentralen Elementen der antik-römischen Tradition. Die konfliktträchtige Binnendifferenzierung der europäischen Welt in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft bedingte den Rückgriff auf eine ortsunabhängig geltende Rechtsordnung. Der Charakter eines universalen ontologisch, das heißt rational fundierten und praktisch handhabbaren Ordnungsinstruments wuchs

53 Augustinus, De civitate Dei, Lib 14, 28 und passim. 54 Vgl. Fuhrmann 1987, S. 39 ff.; dieser Text gehörte zu den meistverbreiteten Schriften des Hochmittelalters. 55 U. Meier 1994a, S. 221.

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dem Recht durch die Rezeption des im Justinianischen codex iuris systematisierten christlich-stoisch unterfütterten römischen Recht zu, das ewiges, göttliches, natürliches und positives Recht auf einander abzustimmen versuchte. Zuerst erfolgte im kanonischen Recht der Kirchenjuristen die Verrechtlichung der Kirche zur hierarchisch organisierten Heilsanstalt, dann die Grundlegung einer heilsunabhängigen rationalen Begründung der weltlichen Herrschaftsrechte. Als solches war das römische Recht in gleicher Weise geeignet, die Alleinherrschaft im herrschaftszentrierten Politikdiskurs zu legitimieren, wie aber auch einsetzbar für eine Rechtfertigung der kommunalen Selbstregierung im frühen bürgerzentrierten Politikdiskurs. Die geschichtliche Erscheinung eines sich auf die römische Tradition beziehenden regimen civitatis stellte sich im 12. Jahrhundert als ein Multiversum von anfangs 80 selbstregierenden Stadtstaaten nördlich von Rom dar, von denen nur wenige wie Florenz, Venedig, Lucca, Siena und Genua überlebten und das Vollbild eines republikanischen Ordnungsparadigmas derart realisierten, dass es seine geschichtliche Wirkung im europäischen Kontext entfalten konnte.56 Hier gehen die römisch-juristische Lehrtradition des Bürgers als Rechtssubjekt mit der scholastisch-aristotelischen Lehrtradition des Bürgers als animal civile jene Verbindung ein, die grundlegend werden sollte für die Formulierung einer kommunitär-bürgerschaftlichen Ordnungsidee. Der in sich vielschichtige Rechtsdiskurs des 14. Jahrhunderts, den insbesondere die Postglossatoren Bartolus de Saxoferrato und sein Schüler Baldus de Ubaldis repräsentieren, wendet tendenziell die römisch-rechtliche Kategorienlehre auf die ‚freien‘ bürgerschaftlich verfassten Stadtkommunen an, die, wie Meier sagt, auf den theoretischen Versuch einer „subsidiären Legitimation“ von Herrschaft hinausläuft. In der rechtlichen Anerkennung der bürgerlichen Substanz des kommunalen Institutionengefüges im consensus civium kann dieser „als Quelle der Geltung von Recht und Gesetz erst einmal erkannt und ernst genommen“ werden. Dann ist es nur noch „ein kleiner Schritt zur Vorstellung einer vom Superior unabhängigen Gewalt und zur Konzeption einer unabhängigen Stadt“, um eine „kaiserunabhängige Herrschaftsausübung im regnum Italiae zu legitimieren.“ „Das Axiom einer im consensus civium wurzelnden Ordnung war in der juristischen Lehre der archimedische Punkt, an dem man den Hebel ansetzen konnte zu einer alternativen, mindestens aber zur subsidiären Grundlegung ‚stadtbürgerlicher Herrschaft‘“.57

Insofern die Kommentatoren die kaiserliche Oberherrschaft de jure nicht bestritten, formulieren sie nicht die Theorie einer stadtstaatlichen ‚Souveränität‘, weswegen Weber auf der „Illegitimität“ der Stadtherrschaft besteht. Das eigentlich innovative Moment des Bürgerdiskurses, so Meier, liegt darin begründet, dass die Juristen „grundlegende Fragen der Rechtstheorie und Politikwissenschaft exklusiv an der städtischen Herrschafts- und Gesellschaftsform erör-

56 Vgl. U. Meier 2007, S. 67–89. 57 U. Meier 1994a, S. 156 f.

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tert“ haben.58 Wie immer die Postglossatoren die Rechtsförmigkeit der freien Kommunen im Einzelnen deuteten, sie wurden grundsätzlich als civitas civis und universitas civium begriffen, die auf konsensgestützter Herrschaft beruhte. Aus der Ordnungslogik der kommunalen Verfassung ergab sich der republikanische Binnendiskurs, der den Begriff des Bürgers römisch-rechtlich, d. h. mit Rekurs auf die entsprechenden Definitionen des codex iuris pragmatisch auslegen musste. Dieser Bürgerdiskurs thematisierte Status und Inhalt des Bürgerrechtes und dem folgend den Umfang und die Zuordnung von politischer Teilhabe in der Volksversammlung sowie den Zugang zu öffentlichen Ämtern. Unter den Bedingungen der in sich differenzierten Binnenstruktur der Bürgergemeinschaft ist der Bürger im römischen Sinn Rechtssubjekt, dem die Bürgereigenschaft durch seine Herkunft zukam. Er war civis verus et originarius oder erwarb das Bürgerrecht als Resident der Stadt, als Bürger einer unterworfenen Kommune oder durch die explizite Verleihung des Bürgerrechtes an Einzelpersonen. Jenseits des unterschiedlichen Status von Herkunft, sozialer Stellung und Eigentumsverhältnissen sicherte der republikanische Bürgerdiskurs die Rechtsgleichheit der Bürger in allen privaten, ökonomischen und gerichtlichen Belangen. Der springende Punkt war, dass die Gemeinschaft über Inklusion und Exklusion ihrer Mitglieder entschied, das bedeutete nach der Lehre des Juristen Bartolo: „Die Stadt selbst machte den Menschen zum Bürger, civitas sibi faciat civem.“59 Damit zog der Rechtsdiskurs des Baldus die für das Selbstverständnis der kommunalen Lebensform grundsätzliche Schlussfolgerung, dass „in congregatione homo naturalis efficeretur politicus“60 – als Mitglied eines populus civitatis ist er der homo politicus des Aristoteles. Die dem römischen Recht innewohnende Tendenz einer universalen Vernunft des Gesetzes fand ihre Ergänzung und Bestätigung in der christlich legitimierten Restitution der natürlichen menschlichen Vernunft in der aristotelischen Renaissance, die in der Konzeptionalisierung einer neuartigen Architektonik der Wissenschaften das kirchlich verwaltete Ordnungswissen der Offenbarung der antiken Vernunfttradition anverwandelte. Nur unter dieser Prämisse war eine Reformulierung der klassisch-antiken politischen Wissenschaft möglich, konnte die politische Welt auf das Fundament selbstverantworteten Ordnungshandelns jenseits von monarchischer Sakralität und päpstlicher Autorität errichtet werden. Ein klassisch-relevatorisch traditionell wirksames Handlungswissen, ob Fürstenspiegel oder Beichtspiegel, nicht zu reden von Standesethiken, gab es immer, aber kein Handlungswissen, das die menschlichen Angelegenheiten auf ein diesen inhärentes letztes und höchstes Ziel hin auslegte. Die letzte Trostlosigkeit einer absoluten Sündhaftigkeit der menschlichen Existenz wurde prinzipiell in Frage gestellt. Damit erhielt der Daseinsbereich des Menschlichen einen ontischen Ort im Gesamtgefüge der vom göttlichen Gesetz durchwal-

58 Ebd., S. 189. 59 U. Meier 1994b, S. 147–187, 160. 60 Zit. n. U. Meier 1994a, S. 187.

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teten Realität, von dem her im Begriff des animal sociale vel civile die Normen repräsentativer Menschlichkeit bestimmt werden konnten. Diese theoretischen Vorgaben des scholastischen Aristotelismus für den emergenten Politik- und Bürgerbegriff bezogen sich ursprünglich keineswegs unmittelbar auf die aktuelle Erfahrungs- und Bewusstseinswelt der Stadtkultur. Der reflexive, das heißt universalisierte Begriff des ursprünglich polisbezogenen zoon politikon erlaubte eine äußerst flexible Handhabung der Theorie und deren Anpassung an die komplexe Realität der mittelalterlichen Welt.61 Der essentiell republikanische Diskurs ist eine Konsequenz des ‚thomistischen‘ Politikdiskurses, aber nicht mit ihm identisch. Er beruht allerdings auf zwei ‚thomistischen‘ Voraussetzungen, die kurz und somit vereinfacht zu beleuchten sind. Erstens, die fundamentale Revision der theologischen Anthropologie: Der Vernunftnatur des Menschen entspricht die dem Menschen angeborene ‚natürliche Neigung‘, seiner Vernunft nach tugendhaft zu handeln und in Gemeinschaft zu leben. Die Gemeinschaft, in welcher der Mensch seiner Vernunft nach qua ratio practica optimal dieses natürliche Potenzial realisiert, ist die civitas, Deswegen ist der Mensch ein animal naturaliter civile, hierbei unterscheidet Thomas – ganz unaristotelisch – zwischen jenen, die propter fortunam, äußerer Umstände wegen non civilis sind, und jenen, die sich gegen ihre Natur verhalten und, dem Tier gleich, im Zustand der Erbsünde verbleiben, insofern sie nicht dem Gebot der Vernunft folgend die Ordnung der göttlichen Vorsehung anerkennen. Damit wird die Lehre von der unaufhebbaren Sündhaftigkeit des Menschen in der Welt relativiert und theoretisch neutralisiert. Zweitens, Thomas, Albertus Magnus und die meisten Kommentatoren überlagern die aristotelische Lehre von den politischen Ordnungsformen durch die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der ‚politischen‘ Herrschaft und der ‚königlichen‘ Herrschaft. In jedem dieser Regime untersteht der ‚Bürger‘ – definiert als animal civile – einer ethisch qualifizierten monarchischen Herrschaft. Das königliche Regiment bestimmt sich durch die gesetzlich nicht eingeschränkte plenaria potestas, das politische Regiment ist jener Herrschaftstyp, in dem die potestas des Herrschers auf dem Gesetz beruht. Das monarchische Politikverständnis des Thomas konzentrierte sich auf den Herrscher. Das Definitionsmerkmal ‚herrschen‘ und ‚beherrscht werden‘ beinhaltete für Thomas die machtlogische Unterscheidung von Angelegenheiten, die der potestas unterstehen, und solchen, in denen er den Gesetzen unterworfen ist. Der Gegentypus ist die despotische Herrschaft über Knechte und Unfreie, die nicht als cives betrachtet werden können. „(R)egal rule is like that of a king who rules absolutely, political rule is like that of a polity in which a king rules according to laws established by the whole com-

61 Ich beziehe mich im Folgenden auf meine Darstellung in Gebhardt 2000, S. 139–162, hier S. 152–160.

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munity.“62 Somit bewegt sich die Hauptlinie des neuaristotelischen Bürgerdiskurses in Richtung auf eine Allianz mit der herrschafts- und staatszentrierten Ordnung Kontinentaleuropas. Drittens, wo aber die binnentheoretische Debatte zu einer Differenzierung des politischen Regiments in Absetzung von der Königsherrschaft führte, fokussierte sie zunehmend auf die Formenwelt abgestufter bürgerschaftlicher Mitregierung und die kommunalistische Stadtverfassung konnte als Herrschaftsform zweiten Grades unterhalb des monarchischen Formenkreises politischer Ordnung in den Blick kommen. Je stärker das regimen politicum auf die Stadt als civitas bezogen wurde, desto mehr wandelte sich der Bürgerdiskurs in einen genuin republikanischen Diskurs, der das Wesen des Politischen in der ureigentlichen aristotelischen Bedeutung des Begriffs als bürgerschaftliche Selbstregierung verstand. Diese Verknüpfung von scholastischer Bürgeranthropologie und politischer Herrschaftsform war das große Thema der italienischen Schüler des Thomas, wie im folgenden exemplarischen Beispiel von Remigius von Florenz und Ptolomaeus von Lucca in aller gebotenen Kürze zu zeigen ist. In dem ausgesprochen bürgerscholastischen Werk des Florentiner Schülers des Thomas, Remigius (1235–1319), erweitert dieser die scientia politica, in dem er zentrale Denkmotive der römischen Politik, insbesondere Ciceros, ebenso wie das römische Recht in das aristotelische Konzept einfügt. Seine Schrift De bono communi nimmt die innenpolitische Krise des Florentiner Zünfteregiments um 1300 zum Anlass, um eine epistemologisch ausgewiesene und paradigmatisch ausgerichtete Untersuchung der menschlichen Existenz in der einzig ihr angemessenen Form des Bürgerseins zu verfassen. Ausgangspunkt ist die gemeinscholastische Feststellung, dass das bonum des Einzelnen und das der civitas identisch sei, die Liebe zum Gemeinwohl der Liebe zum Wohl des einzelnen Bürgers vorausgehen müsse. Im Hinblick auf das Gesamtgefüge politischer Vergesellschaftung, das sich von der Stadt über die Provinz, das Regnum bis zu Imperium und Kirche erstreckt, heißt das für Remigius, dass der jeweils größeren Einheit auch ein Mehr an bonum zukommt. Das Gemeinwohl kumuliert gleichsam innerhalb des Stufengefüges der Ordnungskreise, aber, und das ist der springende Punkt, das Fundament, die gemeinwohlstiftende Liebe des Bürgers zum bonum des Ganzen wird in der Stadt gelegt, wie Remigius am Fall von Florenz zeigen möchte. Remigius’ Verchristlichung des aristotelischen Bürgers variiert sein Zeitgenosse Ptolomaeus von Lucca (1236–1327) und entwickelt im Anschluss daran eine eigenständige Formenlehre politischer Ordnung, die auf der Dichotomie von principatus politicus und principatus despoticus aufbaut, die einerseits geschickt der generellen Überzeugung vom monarchischen Charakter aller Rechnung trug, wonach aber andererseits im regimen politicum des städtischen Bürgerregiments allein sich die authentische soziale Lebensweise des Menschen entfalten kann. Nur als Bürger vollendet sich der Mensch und das heißt bei Ptolomaeus, die Stadt

62 Blythe 1992, S. 45.

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ist der Ort des genuin politischen Lebens, ein Ort diesseitiger Vervollkommnung in der felicitas politica. Soweit ich sehe, wird hier erstmals dieser für das bürgerschaftliche Selbstverständnis konstitutive Schlüsselbegriff in den republikanischen Diskurs eingeführt. Der Autor liefert ein argumentatives Meisterstück, schreibt er doch eine Fortsetzung von Thomas’ unvollendeten De regimine principum, nimmt dessen monarchische Vorgabe auf, um dann in einem subtilen traditionsgestützten Diskurs das regimen regale zu Gunsten des regimen politicum zu delegitimieren. Ob bewusst oder unbewusst, durch diesen Kunstgriff konnte die bürgerschaftlichkommunitäre Idee sich gleichsam auf Thomas berufen. In gebotener Knappheit seien drei zentrale Ideenkomplexe betont, ohne im Einzelnen auf den systematischen Zusammenhang einzugehen.63 Erstens ist die Herrschaft von Menschen über Menschen naturale, doch die Form der Herrschaft unterscheidet sich wesensmäßig in ihrer Qualität. Sie wird einmal definiert per modum servilis subjectionis, das heißt sie ist Herrschaft über Unfreie und Knechte, wenn die menschliche Natur sich vom ursprünglich Bösen, der Sündhaftigkeit, der natura corrupta leiten lässt. Zum anderen ist sie officium consulendi et dirigendi modo naturale und somit Ausdruck der Tugend der primären Gerechtigkeit, die in statu innocentiae die menschliche Natur bestimmt hat. Als solche spiegelt die Herrschaft den status integer humanae naturae wider. Aus dieser theologischen Differenzierung der natürlichen Seinsverfassung des Menschen zieht Ptolomaeus die Konsequenz, dass aller monarchischen Herrschaft (königlich, tyrannisch oder despotisch) das Verhältnis von Herr und Knecht zugrunde liegt, sie ist Instrument göttlicher Sündenstrafe für die Auflehnung gegen Gott. Denn wie es im ersten Buch Samuel (1,8-9) heißt, revoltierte das Volk Israel gegen das konsensuale und temporal beschränkte regimen politicum der Richter unter der Oberhoheit Gottes und bestand auf seiner Forderung nach einem König – ungeachtet Samuels Warnung vor den negativen Folgen königlicher Gewaltherrschaft, welche die Israeliten zu Knechten eines Herrschers machte. Hier taucht frühzeitig ein antimonarchischer locus classicus des christlich-biblischen Republikanismus auf. Wo immer die Bosheit der gefallenen Natur durchschlägt, entäußern sich die Menschen ihrer eigentlichen Natur als politische Wesen und werden depolitisiert, das heißt zu Knechten, die für ihre Existenz auf die Zwangsgewalt des principatus despoticus angewiesen sind. Analog zum Volk Israel unter den Richtern exemplizieren Athen und die römische Republik einen principatus, der göttliche Güte jenen verleiht, die ihre Natur in der Vernunft vollenden. Zweitens, eine solche durch ein regimen politicum ausgezeichnete communitas setzt die bürgerschaftlich organisierte Stadtkultur voraus, wie sie sich nach Ptolomaeus in den italienischen Städten, aber auch in Gallien und Germanien entwickelt hat. Nur hier entfaltet der amor civium seine gemeinschaftsstiftende Kraft, formt aus einer Menschenansammlung eine pluralitas von Bürgern, deren

63 Vgl. hierzu Gebhardt 2000 sowie Einleitung und Apparat bei Blythe 1997.

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gewählte Repräsentanten (Rektoren in der Sprache der italienischen Kommune) an Gesetze gebunden und als Regenten der höchsten Tugend, nämlich der Vernunft, derart verpflichtet sind, dass die virtutes civiles der einzelnen Bürger sich harmonisch in ein gemeinsames Ethos einfügen, das politische Glück in einer wohlgeordneten societas perfecta realisieren. Diese ordnungspolitische Voraussetzung erlaubt es dem Autor, die bürgerschaftliche Binnenstruktur entsprechend den aristotelischen Vorgaben nach Sozialstatus, Geschlecht, Funktion im politischen Prozess einer differenzierenden Analyse zu unterziehen und die Stadt allein als politia perfecta anzuerkennen. Drittens, das vivere politice erscheint als höchste und vollendete Form der menschlichen Existenz. Ptolomaeus legt fest, dass das kontemplative Leben aufgeht in die christliche via spiritualis fidelium, die auf das regnum aeternum hingeordnet ist. Somit disponiert die wahre Politie zu einem Leben gemäß der Tugend „und wir partizipieren gleichsam an der himmlischen, welches die civitas Dei ist, die man die ruhmreiche nennt.“64 Aus der Idee der politia perfecta folgt die normativ aufgeladene Fundamentalaussage des republikanischen Diskurses: Auf politische Weise (politice) leben heißt ein vollkommenes und glückliches Leben führen. In diesem für die Idealität einer bürgerschaftlich-kommunitären Vision des Politischen charakteristischen Satz treffen sich die geschichtlichen Traditionsströme antiker, hebräischer, christlicher und genuin mittelalterlicher Herkunft und verschmelzen in einer ordnungspolitischen Synthese, die ideengeschichtlich im Begriff des ‚Bürgerhumanismus‘ expliziert wurde. Ausgehend von den italienischen Bürgerhumanisten wurde dieses Paradigma in den folgenden Jahrhunderten je nach Zeit und Ort variiert, interpretiert und ergänzt und auf die jeweilige Selbstdarstellung der großen Stadtrepubliken zugeschnitten. Von den Florentinern Salutati, Bruni, Giannotti oder dem Venezianer Contarini bis hin zu den resignierten Republikanern und Monarcho-Optanten Guicciardini und Machiavelli, das entscheidende Motiv dieses Denkens kreist stets um die republikanische Option und deren ethisch-politischen Anspruch auf die Wahrheit des regimen politicum. Dieser konsequent republikanische Diskurs differiert in einem zentralen Punkt vom Monarchie-affinen Aristotelismus, wie ihn gleichzeitig Marsilius von Padua mit kirchen- und papstkritischer Akzentuierung präsentiert. Marsilius bekennt sich auch zur bürgerlichen Legitimation jeder politischen Gemeinschaft und sieht die universitas civium als konstituierende Kraft einer jeden herrschaftlichen Ordnung, die sich in der Gesetzgebung und der Bestellung des Herrschers verwirklicht. Doch der Bürger ist nicht das aristotelische zoon politikon und die Idee der communitas perfecta realisiert sich nicht in der bürgerschaftlichen Vervollkommnung der menschlichen Existenz. In den Worten Ottmanns: „Was eine aristotelische Theorie der Bürgerherrschaft zu sein scheint, schließt auch die Möglichkeit einer

64 Thomas, De Regimine Principum, IV, 10.

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Rechtfertigung der Kaiser- und Fürstenherrschaft ein.“65 Bei Marsilius zeigt sich die tendenzielle Wendung des monarchischen Aristotelismus zum machtstaatlichen Bürgerbegriff der europäischen Monarchie. Die nationale Monarchie, die sich als weltliches ‚corpus mysticum‘ (Fortescue, Duprat) versteht, leitet den Bürgerbegriff von der rechtlichen Mitgliedschaft in diesem vom souveränen Monarchen repräsentierten politischen Körper ab. Der Bürger ist in der Bodin’schen Republik der pater familias, der die res privata zugunsten der res publica im Namen eines Gesamtinteresses hintanstellt. Dieser Bürger ist ein freier Untertan, der unter der souveränen Gewalt eines anderen steht. Ausdrücklich lehnt Bodin das aristotelisch-thomistische Kriterium der politischen Teilhabe ab: Bürgerschaft resultiert aus der wechselseitigen Verpflichtung zwischen Untertan und Souverän, welcher – im Austausch für Loyalität und Gehorsam – den ersteren Gerechtigkeit gewährt, sowie Rat, Hilfe und Ermutigung. Das Bürgerrecht ist folgerichtig exklusiv, denn es steht im Belieben des Souveräns, jedem das Bürgerrecht zu verleihen. Diese staatszentrierte Konzeption einer Bürgerschaft wurde die primäre Form des modernen Staatsbürgerrechts. Hobbes radikalisierte es und ließ die Personalität des Staatsbürgers vollständig im politischen Kollektiv aufgehen und unterwarf es der absoluten Souveränität des jeweiligen Herrschers. Damit nahm er entscheidende Momente des staatszentrierten Begriffs des Bürgers vorweg. Diese staatszentrierte Bürgerkonzeption ist das eigentliche Gegenstück zur Idee des existenziell-politischen Bürgermenschen. Dieser kommt geschichtlich zum Zuge in der revolutionären Synthese von politischem Humanismus und radikalem Protestantismus im 17. und 18. Jahrhundert. IV. DER MODERNE REPUBLIKANISCHE DISKURS UND DIE BÜRGERSCHAFTLICHE KONSTITUTIONALISIERUNG DER POLITISCHEN ORDNUNG Die Vision des regimen politicum ging in das politisch-kulturelle Selbstverständnis des emergenten westlichen Konstitutionalismus ein. Arnold J. Toynbee nannte diesen Vorgang die ‚Italienisierung‘ der politischen Ideen, Ideale und Institutionen des atlantischen Westens, ein Meilenstein in der Herausbildung der modernen westlichen Welt.66 Unter der Voraussetzung der großen vielschichtigen gesamteuropäischen Krise und der durch diese bedingten Bürgerkriegssituation des 16. und 17. Jahrhunderts konnte sich der politische Bürgerhumanismus von einer italienischen Manifestation stadtstaatlichen republikanischen Bewusstseins zu einer geistig-politischen Bewegung von gesamteuropäischer Bedeutung wandeln und dem republikanischen Diskurs ein neues in sich widersprüchliches Gesicht geben.

65 Ottmann 2004, S. 271. 66 Vgl. Toynbee 1949 und 1958.

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Geschichtsmächtig, das heißt politisch wirksam, wurde dieser Bürgerdiskurs unter den besonderen Umständen der englischen Revolution von 1649, welche die große atlantische Revolution im 18. Jahrhundert einleiten sollte. Die englische Metamorphose nimmt die Traditionselemente der republikanischen Diskurse in sich auf und rearrangiert sie unter dem Horizont der eigenen unmittelbaren gesellschaftlichen Erfahrung. Doch das entscheidende Denkmotiv der bürgerschaftlichen Idee und ihrer klassischen Begründung bleibt gleichsam als theoretisches Herzstück der ordnungspolitischen Selbstverständigung erhalten. Der republikanische Diskurs ergänzt und erweitert sich um drei Schlüsselelemente: Erstens, die christlich-republikanische Fundierung beruft sich nun ausdrücklich auf das protestantische Prinzip der menschlichen Selbstbestimmung des Christenmenschen unter der unmittelbaren Präsenz Gottes. Zweitens, sie verknüpft die bürgerschaftliche Selbstregierung mit dem institutionellen Prinzip der Repräsentation. Dies ist drittens bedingt durch die Übertragung des stadtstaatlichen Ordnungsmodells auf eine großräumige nationale Gesellschaft. Die Reformation revidierte das christliche Gleichheitsprinzip und die christliche Bürgeridee in einer neuartigen egalitären Kirchenorganisation unter dem Vorzeichen des sich selbstregierenden Bürgers. Die Idee der freien und gleichen Christengemeinde unter Gott, die Tradition des stoisch-christlichen Naturrechts, die rechtliche und institutionelle Praxis der altständischen Gesellschaft wurden mit der bürgerhumanistisch-republikanischen neoklassischen Politik und der Konzeption einer auf Privateigentum basierenden kompetitiven Marktgesellschaft derart miteinander verbunden, dass der geschichtsmächtige Ordnungsentwurf einer christlich-kulturell unterfütterten nationalen und republikanischen Bürgerschaft politisch-praktische Gestalt annahm, England erklärt sich zur Republik: Das revolutionär gesäuberte Parlament vollzieht in der Hinrichtung des Königs die Delegitimierung des sakral begründeten Königtums und erklärt, „that the people are, under God, the original of all just power; that the Commons of England in Parliament assembled, being chosen by and representing the people, have the supreme power in this nation.“67 Die Selbstermächtigung der Bürgerschaft impliziert eine Konstitutionalisierung der Herrschaft, die auf bürgerschaftlicher Legitimation beruht. Die Doktrin vom ‚popular government‘ spiegelt sich in den theoretischen Diskursen Miltons, Harringtons und Sidneys. Harringtons Oceana entwirft für die christlich-klassische Republik, die sich auf den Geist der „antiken Klugheit“ beruft, eine Konzeption des „civil government“, die eine gleichberechtigte Bürgerschaft aller männlichen Erwachsenen auf der Grundlage eines Agrargesetzes als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft postuliert, die ihre Herrschaft durch einen sorgfältig konstruierten Repräsentationsmechanismus ausüben. Harringtons Modell eines auf der ‚Herrschaft der Gesetze‘ beruhenden ‚free Commonwealth‘ avanciert in der amerikanischen Revolution zu einem Schlüsseltext der Grün-

67 Tanner 1960, S. 153.

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dungsväter der amerikanischen Republik, neben Montesquieu und last but not least der Bibel. Diese Gründungseliten verstanden sich nicht nur als Erben der republikanischen Traditionen, sondern als deren Erneuerer und Vollender und stellten sich in eine Reihe mit den großen Gesetzgebern der Antike. Die „divine science of politics“ beschwört John Adams, revolutionärer Staatsmann und intellektueller Vordenker der neuen Ordnung, sie ist die „science of human happiness and human happiness is clearly best promoted by virtue what thorough politician can hesitate who has a new government to build whether to prefer a commonwealth or a monarchy.“68 Nur die republikanische Ordnungsform ist vereinbar „mit dem Geist der Bevölkerung Amerikas …, mit den fundamentalen Prinzipien der Revolution oder mit der ehrenwerten Entschlossenheit, die jeden Vorkämpfer der Freiheit beseelt und verlangt, alle unsere politischen Experimente in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstregierung gründen zu lassen.“69

Das prototypische republikanische Ordnungsparadigma der revolutionären Gründung der amerikanischen Republik manifestierte erstmals die Konstitutionalisierung der Herrschaft in Gestalt eines supreme law, niedergelegt in einer geschriebenen Verfassung, welche den Gesamtkomplex der politischen Herrschaft normierte und deren Legitimität auf einen gesetzgeberischen Akt der Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder gründete: „The fabric of American empire ought to rest on the solid basis of the consent of the people. The streams of national power ought to flow immediately from that pure, original fountain of all legitimate authority.“70 Diese Formulierungen der Federalist Papers thematisieren die Leitidee der Konstitutionalisierung der Herrschaft schlechthin, denn sie gehen von ideenund politikgeschichtlichen Voraussetzungen aus, denen letztlich das spezifische bürgerschaftliche Verständnis des Politischen zugrunde liegt. Der normative Bezug der amerikanischen Staatsverfassungen und schließlich der nationalen Bundesverfassung der USA war der Kollektivsingular ‚the people‘, der gleichsam die für das republikanische Regime konstitutive politische Handlungseinheit definierte – die Zugehörigkeit zu dieser Handlungseinheit war einerseits prinzipiell geklärt, andererseits aber auch Gegenstand eines Konfliktes, der die amerikanische Politik über ein Jahrhundert lang bestimmte. Die Konstitutionalisierung der Herrschaft bedeutet ihrem Wesen nach die kollektive Wandlung des Volkes „from subject to citizen“. „The difference is immense“, erklärt David Ramsay, „Subject [...] means one who is under the power of an other. But a citizen is an unit of a mass of free people who, collectively, posses sovereignty.“71 Souveränität kommt nur dem bürgerschaftlich vergesellschafteten Volk zu. Im

68 Adams/Warren 1917, S. 202. Der Brief enthält den Text von Adams’ Revolutionstraktat Thoughts on Government. 69 Adams/Adams 1994, Federalist-Artikel 39, S. 225. 70 Ebd., Federalist 22, S. 248. 71 Zit. n. Wood 1992, S. 169.

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revolutionären Gründungsakt einer konstitutionellen Ordnung realisiert sich die ureigentliche Wesensbestimmung der politischen Existenz des Menschen: Die Selbstregierung, auf welche die Vernunftnatur des Menschen hin angelegt ist in Gestalt eines sittlichen Imperativs, ist die der ethischen Statur des Bürgermenschen angemessene Herrschaftsform, trägt sie doch allein dem Ethos einer ‚republican citizenship‘ Rechnung. „Public virtue can not exist in a nation without private, and public virtue is the only foundation of republics.“72 Die Bedingung der Möglichkeit der Selbst-Regierung, so resümiert der Federalist-Autor Publius die anthropologische Botschaft des amerikanischen Verfassungsdiskurses, ist die Vermutung, dass die Bürger ein gewisses Maß an vernünftiger Urteilskraft und öffentlicher Tugend aufweisen.73 Weiterhin, dass die unaufhebbaren und gesellschaftlich unabdingbaren gegenläufigen und miteinander konkurrierenden Leidenschaften und Interessen institutionell im Medium der Repräsentation aufgefangen und gemeinwohlverträglich kanalisiert werden. Die neoklassische und biblizistische Grundierung der republikanischen Ordnungsidee zeigte sich in der Überzeugung, dass allein ein republikanisches Regime das Wohl aller zu verbürgen und allein die allgegenwärtige Korrumpierung der Gesellschaft im Zaum zu halten vermöge. Nicht die Herrscher sind der Gemeinwohlgarant, sondern das bürgerschaftlich verfasste Volk kreiert sich eine Regierung, die realisiert, was alle bisherigen Regierungsformen nur versprochen haben: Sicherheit, Prosperität, Gerechtigkeit und Bürgerglück. Dem Repräsentanten in Legislative und Exekutive vertrauen die Repräsentierten in öffentlicher Treuhänderschaft (public trust) die Regierungsgewalt auf Zeit an, auf dass er diese im Sinne der republikanischen Wohlfahrt ausübe. Die der Vorstellung vom ‚public trust‘ zugrundeliegende Idee eines Treueverhältnisses ist die im Repräsentationssystem wirksame sozialmoralische Gemeinschaftssubstanz. Die politische Logik der Repräsentation enthält auch immer ein gemeinschaftsstiftendes religiös-moralisches Moment. Der moralische Imperativ ging als normative Vorgabe in die Staatsverfassungen ein. In der Verfassung von Massachusetts wird der oben skizzierte Zusammernhang unmittelbar greifbar: „A frequent recurrence to the fundamental principles of the constitution, and a constant adherence to those of piety, justice, moderation, temperance, industry and morality, are absolutely necessary to preserve the advantages of liberty and to maintain a free government: The people ought, consequently, to have a particular attention to all those principles, in the choice of their officers and representatives: and they have a right to require of their law-givers and magistrates, an exact and constant observance of them.“74

Die religiös-moralische Unterfütterung der Republik war für die Gründer und ihre politischen Nachfahren eine conditio sine qua non.75 Die wechselseitige Bezie-

72 73 74 75

Adams/Warren 1917, S. 223. Vgl. zum Folgenden Gebhardt 2007, S. 19–37. Taylor 1961, S. 130. Vgl. Gebhardt 2006, S. 323–338.

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hung von Religion und republikanischer Moral garantiert allein die moralischpolitische Kompetenz des Bürgers und war die Quelle der politisch-moralischen Ressource ‚Vertrauen‘ – denn menschliches Vertrauen und Gottvertrauen bedingen einander. Wenn daher auf die Fundierung der republikanischen Moral durch ‚Religion‘ abgehoben wurde, dann ging es im Sinne eines transkonfessionellen politischen Monotheismus um die wie auch immer praktizierte Anerkennung einer letzten göttlichen Instanz, vor der sich menschliches Handeln zu verantworten hat, sei es der persönliche Gott oder „the transcendent law of nature and of nature’s God.“76 Wie ernst die Frage nach dem republikanischen Charakter des Bürgers zu nehmen war, zeigte sich auch in den Debatten um die Einbürgerungsgesetze 1790–98. Wie wird sichergestellt, dass der einzubürgernde Ausländer über die hierfür nötigen republikanischen Charaktereigenschaften verfügt? Im zuständigen Ausschuss zeigte man sich besorgt über die mangelnde Republiktauglichkeit von Ausländern, die, aufgewachsen in den Monarchien und Aristokratien Europas und entsprechend vorbelastet, kaum Eifer für einen ‚pure republicanism‘ entwickeln würden. So kam es unter anderem zum Vorschlag, dass zwei glaubwürdige Personen unter Eid bezeugen, dass der Bewerber „was of good moral character and attached to the principles of the government of the United States“. Waren auch die Kommissionsmitglieder einhellig der Meinung, dass ‚public virtue‘, ‚true morality‘ und ein ‚sense of religion‘ unabdingbare Grundwerte der Republik seien, so zweifelte man doch an der Praktikabilität einer solchen Charakterprüfung, insbesondere nachdem man sich über die Wortbedeutung von „moral“ zerstritt.77 Doch ein tiefes Misstrauen gegen die Einbürgerung von im Sinne des republikanischen Selbstverständnisses unangepassten und kulturell abartigen Europäern war weit verbreitet und Thomas Jefferson gab dem nachhaltigen Ausdruck.78 Aber die Ordnungslogik des republikanischen Paradigmas entfaltete ihre eigene moralisch-politische Dynamik und sprengte die geschichtlich bedingten Schranken, welche der vollen Realisierung der republikanischen Vision zu Anfang entgegenstanden. Die Erklärung hierfür liegt wohl in der anthropologisch fundierten Verheißung einer politischen Existenz in Freiheit und Gleichheit. Der klassisch-christlich inspirierte Republikanimus ging zwar von der Fehlbarkeit und Korrumpierbarkeit der menschlichen Natur aus. Doch „there are other qualities in human nature which justify a certain portion of esteem and confidence. Republican government presupposes these qualities in a higher degree than any other form“.79 Hieraus resultierte die Überzeugung, dass die dictates of reason and common sense die menschliche Depravation zu kontrollieren vermögen, das heißt, dass die Leidenschaftsnatur letztlich durch die Vernunft überformt wird. So setzte

76 77 78 79

Kramnik 1987, Federalist 43, S. 285. Kurland/Lerner 1987, S. 561 ff. Jefferson 1955, S. 84 f. Kramnik 1987, Federalist 55, S. 339.

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der Republikanismus auf die Vernunftnatur des Menschen in seiner politischkulturellen Festschreibung der Idee republikanischer Bürger unter der Annahme, dass diese den Wesensgehalt des Menschen selbst reflektiert und derart ins Normative wendet, dass sich hieraus ein universaler Geltungsanspruch des republikanischen Ordnungsparadigmas begründen lässt. Dem verfassungsstaatlichen Ordnungsentwurf liegt ein moderner republikanischer Diskurs zugrunde, dessen bürgerzentrierter Begriff des Politischen eine „politische Metaphysik der Demokratie als selbstverantwortliche Bürgerschaft“ voraussetzt.80 Ihr liegt ein Begriff der menschlichen Natur zugrunde, der den Menschen im antiken Sinn in seiner Doppelnatur als Vernunft- und Leidenschaftswesen und im christlichen Sinn als Ebenbild Gottes begreift und im Bürger den homo politicus mit dem homo oeconomicus zu versöhnen sucht. Der moderne Verfassungsstaat, belehrt uns Dolf Sternberger, „dieses komplizierte, unübersichtliche, vielköpfige, von permanentem Streit erfüllte, höchst prekäre und zugleich höchst leistungsfähige und lebensvolle Gebilde ist doch selbst eine Metamorphose des alten ‚regimen politicum‘ […] und er lässt einige Wesenszüge des aristotelischen Urbilds wiedererkennen – und mir scheint, es sind die wichtigsten. Oder, wenn der metaphorische Ausdruck erlaubt ist: man kann in seinem Gewebe die alten Fäden schimmern sehen.“81

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80 Lüthy 1951, S. 119–134, 131. 81 Sternberger 1978a, S. 402, 412.

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DER EIGENTÜMER ALS BÜRGER Begrenzte Partizipation im liberalen Staatsdenken Samuel Salzborn Der Blick auf das liberale Staatsdenken offenbart ein Problem der Analyse von politischen Theorien, das für den klassischen Liberalismus in besonderer Weise gilt: denn den Liberalismus, der sich eindeutig personell, regional, temporär und damit intellektuell definieren ließe, gibt es nicht. Dies gilt zwar für alle klassischen Strömungen der modernen politischen Theorie, dennoch sind die Spannungen innerhalb des Liberalismus aufgrund seiner konkurrierenden politischen und ökonomischen Stoßrichtungen größer als beim Konservatismus oder Sozialismus.1 Die Widersprüche innerhalb der bürgerlich-liberalen Bewegungen seit dem 17. Jahrhundert sollten aber nicht dazu führen, den Liberalismus gänzlich für amorph und damit eine abstrakte Begriffsbildung für unmöglich zu halten.2 Vor allem in den 1970/80er Jahren wurde – etwa von Lothar Döhn oder Helga Grebing – vorgeschlagen, generell Abstand von einer Definition des Liberalismus zu nehmen. Das Argument lautete: eine Definition sei nicht nur aufgrund differenter historischer Kontexte unmöglich, sondern laufe auch Gefahr, die Selbstzuschreibungen des Liberalismus affirmativ zu reproduzieren.3 War an dieser Skepsis richtig, dass Definitionen immer konstruiert und damit auch konstruierend sind, liegt in einer rein historischen Deskription der Liberalismen, die sich einer abstrakten Begriffsbildung verweigert, zugleich eine Kapitulation gegenüber dem Versuch, gerade auch Ambivalenzen begrifflich zu fassen. Für die Analyse des limitierten Partizipationsverständnisses im liberalen Staatsdenken ist dies deshalb von Bedeutung, weil bereits die Frage, um welches liberale Staatsdenken es sich denn handelt und ob die eigentumsorientierte Limitierung von Partizipation tatsächlich dem Liberalismus eigen ist (oder lediglich einer bestimmten historischen bzw. regionalen Ausprägung desselben), auf den Kern des Problems fokussiert, das hier als These formuliert sei: Der Eigentümer als Bürger ist sozialstrukturell das Fundament des liberalen Staatsdenkens, das seine politische und seine ökonomische Dimension überhaupt erst verbindet. Um das Verhältnis von Bürger- und Eigentum im liberalen Staatsdenken herauszuarbeiten, bedarf es einer Skizze der Grundelemente einer liberalen politi-

1 2 3

Siehe hierzu auch Göhler 2002, S. 211 ff. Ähnlich argumentiert Bermbach 1986, S. 323. Vgl. Döhn 1983, 1995; Grebing 1970.

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schen Theorie, einer Annäherung an das „liberale Paradigma“.4 In Erweiterung von Jean Césaire kann man sagen, dass der Liberalismus eine „antistaatliche politische Doktrin“ ist,5 die auf den Staat aber trotzdem nicht verzichten kann: „Daß auch der Liberalismus selbst die höchste Tugend des Staates in seiner Nicht-Existenz erblickt, ist so offensichtlich, daß es keines Beleges dafür bedarf. Nach dieser Ideologie soll der Staat sich selbst unbemerkt machen, soll wahrhaft negativ sein. Wollte man unter negativ allerdings schwach verstehen, dann fiele man einer Geschichtstäuschung zum Opfer. Der liberale Staat war immer so stark, wie die politische und soziale Situation und die bürgerlichen Interessen es erforderten.“6

Weltanschaulich betrachtet steht der Liberalismus unter dem Primat der Freiheit, die gleichermaßen politisch und rechtlich wie gesellschaftlich und ökonomisch eingefordert wird. Da der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt des Liberalismus das von den absolutistischen, feudalen und klerikalen Zwängen befreite Individuum ist, werden Freiheitsvorstellungen stets vom Individuum aus begründet, sodass im Mittelpunkt die Autonomie des Menschen als erkenntnisfähiges Subjekt steht. In seiner aufgeklärten, säkularen Vernunftethik konzipiert der Liberalismus Gesellschaftsmodelle, in denen Herrschaft durch Vertragsschlüsse legitimiert werden muss, die wiederum eine Gleichheit vor dem Vertrag beinhalten und diese damit vollzogene Übertragung – und Einschränkung – von individueller Freiheit in einer staatlichen Ordnung begründen, deren zentrale Funktion in der Aufrechterhaltung von allgemeiner Freiheit besteht. Ausgehend von einer zumeist „optimistischen Anthropologie“7 soll der Staat die funktionale Aufgabe erfüllen, die als unveräußerlich verstandenen, letztlich naturrechtlich legitimierten Rechte dauerhaft und mit gleicher Sanktionswirkung zu sichern. Während der Mensch für den Liberalismus, wie Berthold Franke und Kurt Lenk formuliert haben, damit das „Maß aller Dinge“ darstellt, wird der kapitalistische Markt zugleich zum „Maß aller Menschen“:8 Denn die Freiheitsvorstellungen des Liberalismus sind mit einem positiven Eigentumsbegriff verbunden, der zwar – wie John Stuart Mill zeigt9 – nicht zwingend exkludierend mit Blick auf politische Partizipationsrechte angelegt sein muss, der aber stets die Sicherung des Eigentums – als das seit Locke i. d. R. auch der Mensch selbst verstanden wird10 – zur zentralen Prämisse erklärt. Denn der liberale Staat als Sicherungsinstanz der freien Konkurrenz des kapitalistischen Marktes unterstellt nicht nur die Autonomie der Subjekte, sondern auch die einer Herrschaft des Gesetzes, die auf Allgemeinheit und Generalität orientiert und damit, in den Worten von Franz L. Neumann, die „höchste Form der formalen Rationalität“ darstellt.11

4 5 6 7 8 9 10 11

Schaal/Heidenreich 2006, S. 47. Vgl. Césaire 1980, S. 134. Neumann 1937, S. 31. Bermbach 1986, S. 324. Vgl. Lenk/Franke 1987, S. 61 u. 65. Vgl. Höntzsch 2010. Vgl. Brocker 1992. Vgl. Neumann 1937, S. 48.

Der Eigentümer als Bürger

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Auf eine Kurzform gebracht liegt der theoretische Kern des Liberalismus somit in der unterschiedlich konkretisierbaren Ambivalenz, immer zugleich Freiheit von Zwang, aber auch Freiheit von Sicherheit zu bedeuten – wie das Verhältnis zwischen Zwang und Sicherheit austariert ist, konkretisiert sich innerhalb der Pluralität der liberalen Theorien. Die liberale Staatstheorie wiederum ist die Institutionalisierung dieser Ambivalenz: der Eigentümer als Bürger – die Idee, dass die Freiheit von Zwang Ziel, die Freiheit von Sicherheit aber nicht Hindernis für Gesellschaft sein soll, sodass sich eine strukturelle Partizipationseinschränkung daraus ergibt, dass selbst eine abstrakte Rechtsgleichheit noch nicht eine konkrete Partizipationsmöglichkeit generiert, da sich die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen individuell unterscheiden. Im Folgenden soll dieses Schlüsselparadigma des liberalen Staatsdenkens anhand von zwei liberalen Denkern illustriert werden, wobei es sowohl um die Genese liberaler Begründungszusammenhänge des Verhältnisses von Bürgerlichkeit und Eigentum, also letztlich des Verhältnisses von citoyen und bourgeois geht, als auch um die innerhalb des liberalen Staatsdenkens bestehenden Widersprüche. Letztere verdeutlichen, dass die Geschichte des liberalen Staatsdenkens auch die Geschichte von intellektueller Differenz im Spannungsfeld von politischer und ökonomischer Freiheit ist. Während die kontraktualistische Staatstheorie von John Locke (1632–1704) mit Blick auf das von ihm maßgeblich geprägte politische Primat des liberalen Staates als eines Freiheit von Zwang gewährenden, das Privateigentum sichernden Staates diskutiert wird, soll die Analyse der liberalen Theoriebildung von Adam Smith (1723–1790) unter dem ökonomischen Primat und damit der Freiheit von Sicherheit zeigen, inwiefern liberale Staatstheorie aufgrund marktradikaler Erwägungen politische Partizipationsoptionen durch ihre anarchischen Aufhebungsversuche des Politischen zugleich konterkariert und nicht nur – wie bei Locke – limitiert. I. DIE BEGRENZUNG VON PARTIZIPATION: JOHN LOCKE Die Relation von Bürger- und Eigentum ist Bestandteil der kontraktualistischen Argumentation von John Locke, sodass sowohl seine erkenntnistheoretischen und anthropologischen Annahmen als Prämissen dieses Verhältnisses als auch seine expliziten Überlegungen zur staatlichen Herrschaftsordnung von Relevanz für die Bestimmung der von ihm formulierten Begrenzung von politischer Partizipation sind.12 Den philosophischen Ausgangspunkt im Denken von Locke bildet dabei seine strikt empirische Erkenntnistheorie, nach der es keine angeborenen Ideen gibt und der menschliche Geist eine tabula rasa ist, die durch Sinneseindrücke und Reflexionen geprägt wird.13 Dieser – mit Rainer Specht gesprochen – „Empi12 Ich greife bei meinen Ausführungen zu Locke auf Überlegungen zurück, die ich im Rahmen einer Vergleichsanalyse von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau angestellt habe. Vgl. hierzu ausführlich Salzborn 2010a. 13 Vgl. Locke 1976. Siehe hierzu auch Ottmann 2006, S. 343; Chappell 1994, S. 26 ff.

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rismus der Ideen“14 stellt eine fundamentale Abgrenzung von der scholastischen Naturrechtslehre dar, da Locke nur noch davon ausgeht, dass Gott dem Menschen Vernunft verliehen habe,15 aber nichtsdestotrotz in einer teleologischen Ethik verankert bleibt.16 Denn in den Essays on the Law of Nature (1664) argumentiert Locke auf der Basis eines theologischen Naturrechts, das nicht aus Blickrichtung des menschlichen Nutzens legitimiert wird, sondern dessen Verpflichtung vielmehr daraus resultiert, aus dem Willen Gottes zu stammen.17 Im Mittelpunkt steht damit nicht das subjektive Interesse, sondern die ontologische Vernunft, womit die Grundlage der von Locke im Naturzustand angenommenen Gleichheit der Menschen eine theologische ist: „Gott hat den Menschen geschaffen und ihm, wie allen anderen lebenden Wesen, einen starken Selbsterhaltungstrieb eingepflanzt. [...] Denn da der überaus starke Trieb, sein Leben und Dasein zu erhalten, ihm von Gott selbst als ein Prinzip des Handelns eingepflanzt worden war, konnte ihn die Vernunft, als die Stimme Gottes in ihm, nur lehren und überzeugen, daß er in der Befolgung dieser natürlichen Neigung sein Dasein zu erhalten hatte, den Willen seines Schöpfers erfüllte und deshalb ein Recht hatte, sich jene Geschöpfe nutzbar zu machen, von denen er auf Grund seiner Vernunft und seiner Sinne erkennen konnte, daß sie für seine Zwecke geeignet waren. Deshalb war das Eigentum des Menschen an den Geschöpfen aus seinem Recht begründet, von jenen Dingen Gebrauch zu machen, die für sein Dasein notwendig oder nützlich waren.“18

Der Mensch wird als Teil der göttlichen Ordnung begriffen, die bestimmten Regeln folgt und zu deren Einsicht Gott den Menschen dadurch befähigt habe, dass er ihnen Vernunft verliehen hat.19 Als natural law sieht Locke die Vernunft, die jeden regiert und jeden verpflichtet und aufgrund derer der Mensch in die Lage versetzt wird, die natürlichen Normen zu erkennen und nach diesen „richtig“ zu handeln. Das menschliche Verhalten wird insofern bereits im Naturzustand vom natural law bestimmt und reguliert: Locke stellt sich diesen als Zustand friedlichen Zusammenlebens vor, da die Menschen von Natur aus frei und gleich seien und das Recht auf freie Selbsterhaltung besäßen.20 Das „natürliche Gesetz“, das nach Locke der Vernunft entspricht, lehre die Menschheit, dass „niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll“, da alle Menschen „das Werk eines einzigen und allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn“ seien, „auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt“ gesandt worden seien:21

14 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Specht 2007, S. 39. Vgl. Euchner 1996, S. 17 ff.; Euchner 2007, S. 16; Colman 2003, S. 106 ff. Vgl. Hüning 2000, S. 87. Vgl. Locke 1954. Locke 1967, S. 131 (I, § 86); Herv. i. Orig. Vgl. Euchner 2001, S. 18. Vgl. Grant 1991, S. 64 ff. Locke 1967, S. 202 (II, § 6).

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„Locke konzipiert den Naturzustand als einen Zustand vollkommener Freiheit und Gleichheit; damit ist gesagt, daß es keinen Menschen gibt, der von Natur aus rechtlich über anderen steht. Nach Locke sind die Menschen allein Gottes Eigentum und ursprünglich keinem Menschen untertan. Als Geschöpfe Gottes haben sie die Pflicht zur Selbsterhaltung: Sie haben nicht das Recht, sich selbst zu zerstören.“22

Locke geht von einer Limitierung des individuellen Selbsterhaltungsrechts durch eine Verpflichtung zum Erhalt der menschlichen Gattung aus23 und unterstellt seinen Naturzustand dabei als Realzustand, in dem die Menschen frei und gleich seien;24 die Menschen verbleiben für Locke so lange im Naturzustand, bis sie „sich selbst auf Grund ihrer eigenen Zustimmung zu Gliedern einer politischen Gesellschaft machen.“25 Kriegszustand herrscht für Locke hingegen überall dort, wo es zu ungerechter Gewaltanwendung kommt: „Das Fehlen eines gemeinsamen, mit Autorität ausgestatteten Richters versetzt alle Menschen in einen Naturzustand: Gewalt ohne Recht, gegen die Person eines anderen gerichtet, erzeugt einen Kriegszustand, wobei es keine Rolle spielt, ob es einen gemeinsamen Richter gibt oder nicht.“26

Insofern ist der Kriegszustand, wie Wolfgang Kersting betont hat, für Locke kein „späteres Entwicklungsstadium des Naturzustandes“, sondern bereits unmittelbar im Naturzustand präsent und damit letztlich der Grund, aus dem heraus die Menschen ihr herrschaftsfreies Leben im Naturzustand zugunsten einer staatlichen Rechtsordnung aufgeben.27 Die Entscheidung zum Ausgang des Menschen aus dem Naturzustand gilt Locke dabei als eine an der Vernunft orientierte, wobei sich sein Vernunftbegriff auf die ontologisch situierte Kollektivverpflichtung des Gattungserhalts zur Realisierung individueller Freiheit und Bewahrung seines als Eigentum verstandenen Lebens orientiert:28 „Aus der göttlichen Pflicht zur Selbsterhaltung wird sodann bei Locke ein natürliches Recht auf Selbsterhaltung. Und aus diesem natürlichen Selbsterhaltungsrecht wird schließlich das berühmte Recht auf Eigentum im weiteren – auf Leben, Freiheit und Besitz – und im engeren Sinne, welches zu schützen die einzige Aufgabe des Staates sei.“29

Der Mensch war für Locke, wie Manfred Brocker formuliert, von Natur aus sein eigener Herr und damit „Eigentümer seines Lebens und seiner Freiheit“.30 Da der Mensch Eigner seiner selbst und auch seiner Hände Arbeit ist (Marx wird diesen Vorgang später treffend auf den Begriff der „unmittelbaren Aneignung“ bringen),31 wird für Locke die Aneignung von Privateigentum im Naturzustand durch 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Thiel 2000, S. 99. Vgl. Ottmann 2006, S. 353. Vgl. ebd., S. 353. Locke 1967, S. 209 (II, § 15). Locke 1967, S. 212 (II, § 19). Kersting 1994, S. 118. Siehe hierzu auch Seliger 1991, S. 34 ff. Vgl. Brocker 1992; Elbe 2009; Held 2006; Meyer 1991. Jörke 2005, S. 29. Brocker 2007, S. 263. Vgl. Marx 1961, S. 626.

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Bearbeitung legitimiert, entsteht ein verdoppelter Eigentumsbegriff: als Eigentum über das eigene Leben und als Eigentum über das, was auf dieser Basis bearbeitet und angeeignet werden kann. Eigentum entsteht für Locke also durch Arbeit, wobei die Grundlage dafür ist, dass jeder Mensch zuerst ein Eigentum an seiner eigenen Person hat.32 Somit werden für Locke „das Leben, die Freiheit und die materiellen Güter einer Person […] nach dem Gesetz der Natur gleichermaßen sakrosankt.“33 Lockes verdoppelter Eigentumsbegriff verknüpft damit bereits die beiden Momente, die zum zentralen Ideologem des Liberalismus werden sollen: die Verschränkung von politischer und ökonomischer Freiheit, als gleichzeitiger Freiheit von Zwang wie Freiheit von Sicherheit. Aus dem individuellen Grundrecht auf Selbsterhaltung folgt für Locke ein individuelles Recht auf Eigentum, wobei die Ausgangsbasis für alle Menschen gleich sei, da es im Naturzustand keine Unterordnung gebe und Gewalt und Jurisdiktion gegenseitig und gleich seien. Die freien, besitzenden Individuen gründen – zum Schutz ihres Eigentums – eine politische Gemeinschaft, da im Naturzustand keine Rechtssicherheit und dauerhafte Garantie ihres Eigentums besteht: „Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist [...] die Erhaltung ihres Eigentums.“ 34 Im Lockeschen Naturzustand fehlen eine Reihe wesentlicher Dinge zur dauerhaften Eigentumssicherung, nämlich ein feststehendes und geordnetes Gesetz, ein anerkannter und unparteiischer Richter und eine souveräne Vollstreckungsgewalt. Insofern sind die Menschen trotz aller „Vorrechte des Naturzustandes“ letztlich doch in einer schlechten Lage und werden aufgrund dieser „zur Gesellschaft gezwungen“:35 „Wo immer daher eine Anzahl von Menschen sich so zu einer Gesellschaft vereinigt hat, daß jeder einzelne seine exekutive Gewalt des natürlichen Gesetzes aufgibt und zugunsten der Gemeinschaft darauf verzichtet, entsteht […] eine politische oder bürgerliche Gesellschaft.“36 Die Individuen schließen einen durch ihre Zustimmung konstituierten Vertrag, der sie verbinden und vereinigen soll mit dem Ziel des sicheren und friedlichen Lebens. Mit ihrer Einwilligung in den Vertrag werden sie in die Gemeinschaft eingebürgert und unterwerfen sich damit einem Monarchen, einem Oligarchen oder einer demokratischen Vertretung, um auf diese Weise der Gefahr eines allgemeinen Kriegszustandes zu entgehen. Die Abwendung des Kriegszustandes umfasst auch den Schutz gegen alle, die nicht zur Gemeinschaft gehören und hat damit einen deutlich wahrnehmbaren außenpolitischen Akzent.37 Der wichtigste Zweck des Staatswesens besteht in der Erhaltung des Eigentums durch die Schaffung von festem, geordnetem und bekanntem (positivem) Recht, der Einsetzung 32 33 34 35 36 37

Vgl. Llanque 2008, S. 222 ff. Brocker 2007, S. 265. Locke 1967, S. 283 (II, § 124); Herv. i. Orig. Locke 1967 ,S. 284 (II, § 127). Locke 1967, S. 257 f. (II, § 89); Herv. i. Orig. Vgl. Cox 1960.

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eines anerkannten und unparteiischen Richters sowie der Machtkompetenz zur Durchsetzung der Urteile. Damit gibt der Mensch seine Sanktionsgewalt des Naturzustandes auf und überträgt sie auf den Staat, wobei die Absicht dieser Übertragung die bessere Erhaltung seiner selbst, seiner Freiheit und seines Eigentums in einer durch alleinige, aber kontrollierte Souveränität garantierten Eigentumsordnung ist. „Um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ihrem Ursprung abzuleiten, müssen wir erwägen, in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeiten so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein. Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer [...].“38

Wer und in welchem Umfang mit Blick auf diese Integrationsfunktion des Staates auch aktiv partizipieren kann, ist bei Locke zwar nur angedeutet, aber nichtsdestotrotz hinreichend explizit gemacht, um zu erkennen, dass für ihn Eigentum die Grundlage für eine aktive Partizipation und damit den Bürgerstatus bedeutet. Das Eigentum fungiert als zwingende Voraussetzung zur Initiierung eines vollwertigen Bürgerstatus’ in Lockes Theorie, von dem Frauen und Sklaven generell ausgeschlossen sind,39 es suspendiert aber den demokratischen Anspruch von Locke trotzdem nicht in Gänze. In Abschwächung der stark polarisierenden Interpretation von Crawford B. MacPherson,40 der in Lockes politischer Theorie das demokratische Moment geradezu für vernachlässigenswert gegenüber seines Possessive Individualism hält (und damit dem politisch-kulturellen Kontext von Lockes Theorie eine stärkere Gewichtung gegenüber einer textanalytisch-hermeneutischen Interpretation einräumt), scheint mir eine Lesart überzeugender, nach der Locke sich aufgrund seines sozialhistorischen und theoriengeschichtlichen Kontextes und des darin systematisch vollzogenen Ausschlusses der Mehrheit der Bevölkerung von politischer Partizipation fast stillschweigend der Haltung limitierender Partizipation und damit exklusiver Politikgestaltung angeschlossen und diese in seine kontraktualistische Staats- und Eigentumstheorie integriert hat:41 „Nur wer über eigene Produktionsmittel verfügt, kann demzufolge auch im Staat frei sein und an der politischen Willensbildung durch das Recht, die gesetzgebende Versammlung zu wählen, teilnehmen. Zwar sind alle Menschen Mitglieder der bürgerlichen Gemeinschaft, da sie bezüglich der Definition ‚life, liberty and estate‘ über zu schützendes Eigentum, und sei es nur in Form von Leben und Freiheit, verfügen. Doch nur die Eigentümer, die auch über Kapital verfügen, sind in Lockes Theorie vollwertige Mitglieder der Gesellschaft. Die politische Gemeinschaft wird somit in zwei Gruppen geteilt: die wahlberechtigten Aktivbürger und die unmündigen Passivbürger.“42 38 39 40 41

Locke 1967, S. 201 (II, § 4). Vgl. Laukötter/Siep 2010; Rosenzweig 2010. Vgl. MacPherson 1962. In ähnlicher Weise deutet auch Rosenzweig (2010, S. 128) den bürgerrechtlichen Ausschluss von Frauen bei Locke. 42 Held 2006, S. 95.

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Die marktradikale Wende in der liberalen Theoriebildung, die MacPherson bereits wesentlich bei Locke lokalisiert, wird m. E. erst später in ihrer Partizipation grundsätzlich konterkarierenden Radikalität vollzogen, nämlich durch Adam Smith – Lockes limitierende Partizipationsvorstellungen stehen noch unter dem politischen Primat der Freiheit,43 was sich hermeneutisch auch daran zeigt, dass sich die Verknüpfung von aktivem Bürgerstatus und Eigentum explizit nur an einer Stelle in den Treatises (II, § 158) findet, nämlich der, nach der der „Vernunft entsprechend“ diejenigen die „Zahl der Mitglieder an allen Orten“ der politischen Gemeinschaft als ihre Vertretungen festlegen sollen, wobei „jeder Teil des Volkes, gleichgültig wie er sich vereinigt hat“, dies „lediglich im Verhältnis zu dem Beistand beanspruchen kann, den er der Öffentlichkeit leistet“.44 Locke revolutioniert somit die Eigentumstheorie und gibt ihr zugleich die Bedeutung einer Ersatzreligion, da er nicht nur erkennt, dass Arbeit Eigentum generiert und zum Eigentum neben dem Besitz insofern auch das Leben und die Freiheit zu zählen sind, sondern überdies die Genese von Eigentum anthropologisiert und ihre gesellschaftliche Funktion als Herrschafts- und Machtinstrument individualistisch glorifiziert. Eine solche Heiligsprechung von Eigentum, das den letztendlichen Legitimationsgrund für Lockes Kontraktualismus darstellt, führt folgerichtig dazu, dass Locke auch systematisch darauf besteht, die von ihm theoretisch begründete liberale Eigentumsordnung nicht Gefahr laufen zu lassen, durch eine auf tatsächlicher Gleichheit basierende politische Freiheit in Frage gestellt zu werden. Deshalb begrenzt Locke die aktiven Partizipationsmöglichkeiten auch auf die Eigentümer als Bürger, gewährt aber aufgrund seines auch das physische Leben umfassenden Eigentumsbegriffs allen Menschen „unter Rechtsgesetzen“ (Kant),45 die infolge des kontraktualen Schlusses Mitglieder des politischen Gemeinwesens geworden sind, nicht nur die Sicherung auch ihrer Lebensgrundlagen, sondern auch die fortwährende Chance, selbst Eigentümer und damit nicht nur bourgeois, sondern auch citoyen zu werden. Als Friedrich Engels den frühbürgerlichen Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten“ beschrieb,46 hat er damit sehr präzise Lockes begrenztes Partizipationsmodell beschrieben, dessen ökonomische Ausschlusskriterien pro forma revidierbar, de facto aber struktureller Natur sind.

43 Brocker (1991, S. 58 ff.) hat ähnlich argumentiert und eine Reihe von Aspekten im Werk von Locke aufgezeigt, die eine zweifelsfreie Interpretation mit Blick auf die substanzielle Verknüpfung von Eigentum und Bürgerstatus in Frage stellen. Dies scheint plausibel, wobei mir Brockers Argument, Locke habe nun gegenteilig eine tatsächlich demokratische Partizipation unter Einschluss aller Bürger intendiert, in gleicher Weise die Widersprüche im Lockeschen Werk nicht erklären kann – nur dass Brocker die Vorzeichen umkehrt und eine umgekehrte Eindeutigkeit nahelegt, wo Ambivalenzen und Inkohärenzen dominieren. 44 Locke 1967, S. 307 f.; Herv. i. Orig. 45 Kant 1956, S. 431. 46 Engels 1962, S. 222. Siehe hierzu auch Salzborn 2012.

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II. DIE NIVELLIERUNG VON PARTIZIPATION: ADAM SMITH Adam Smith argumentiert nicht nur anders als Locke, sondern entgegengesetzt. In seiner politischen Theorie des Liberalismus hat der freiheitliche Markt die politische Freiheit usurpiert, ist die anthropologisierte Legitimation einer bürgerlichliberalen Eigentumsordnung der Legitimierung der anarchistischen Konkurrenz gewichen, die die radikalste Ausprägung des später von Robert Nozick auch ohne moralische Bedenken vorgetragenen liberalen Ökonomismus ist47 – der allerdings nolens volens auf den Staat nur hypothetisch, nicht real verzichten kann, da er der ‚unsichtbaren Hand‘ in einem noch anderen als von Smith intendierten Sinne bedarf: Die marktradikale Ordnung des Liberalismus funktioniert in ihrer Fixierung auf das Primat des Eigentums nur so lange, wie der Staat als ‚unsichtbare Hand‘ im Sinne einer potenziell sanktionierenden und strafenden ‚Hand‘ Revisionsversuche der Eigentumsordnung unterbindet. Denn sobald er dies nicht mehr täte, verwandelte sich Tausch wieder in Raub und der scheinbar ohne den Staat mögliche Markt würde sich mitsamt seiner Eigentumsordnung aufheben. Smith fundiert sein Modell des ökonomischen, politische Partizipation nivellierenden Liberalismus auch mit vom Individuum ausgehenden Überlegungen, die allerdings explizit nicht vertragstheoretischen Konzeptionen folgen, sondern in ihrer erkenntnistheoretischen Grundierung wieder deutlich stärker auf den neoaristotelischen Diskurs Bezug nehmen, als Locke dies tat. Das Individuum ist bei Smith, wie Bermbach betont hat, ein isoliertes, dessen „Handlungsabsichten strategisch an seinen vernunftentlassenen Affekten“ orientiert sind und zugleich persönliche Nutzenmaximierung zum „Kriterium von Handlungsrationalität“ machen.48 Das „sittlich Richtige“ entsteht für Smith ausgehend von der Sympathie als Grundlage wertender Urteile über Menschen, die zugleich die Gefühle wie Handlungen bestimmen und in ihrer Angemessenheit einordnen, wobei „Sittlichkeit“ durch einen interaktiven Prozess entsteht.49 Die Menschen sind für Smith, wie Christel Fricke formuliert hat, „von Natur aus egoistisch und sympathiebegabt“.50 In The Theory of Moral Sentiments (1759) entwickelt Smith das für diese anthropologische Grundannahme gesellschaftstheoretisch zentrale Modell des „unparteiischen Zuschauers“, der als (fiktive) Instanz das menschliche Verhalten in einer politischen Ordnung letztlich doppelt kontrolliert, da die individuelle Betrachtung des eigenen Handelns vor der moralischen Schablone des „hinzugedachten unparteiischen Zuschauers“ vollzogen wird,51 der wertend über das Individuum richten soll, aber eigentlich zugleich internalisierte Moralvorstellung der Gesellschaft und externalisierte Individualnorm ist. Die moralische Billigung individuellen Handelns basiert damit für Smith auf der Annahme der Übereinstimmung der Gefühle 47 48 49 50 51

Vgl. Nozick 1974. Bermbach 1986, S. 325. Smith 1926 (Teil 1 & 3). Fricke 2008, S. 1193. Smith 1926, S. 127 (Teil 2, Abs. 2, Kap. 2).

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des Handelnden mit der Position des „unparteiischen Zuschauers“. Die menschliche Gesellschaft erscheint dabei, versehen mit dieser pseudoautoregulativen Moralinstanz, „wie eine große, ungeheure Maschine, deren regelmäßige und harmonische Bewegungen tausend angenehme Wirkungen hervorbringen.“52 Der „unparteiische Zuschauer“ bei Smith ist erkenntnistheoretisch ein Konzept, das Empathiefähigkeit aus Selbstreflexivität ermöglicht; wird es jedoch gesellschaftstheoretisch gewendet, dann formuliert es ein Modell antisouveräner Ordnung, in der die Regeln der Gesellschaft nicht durch eine rechtlich verbindliche, homogene und gleiche Normenordnung dominiert werden, sondern auf subjektiver Macht gründen: der Macht des- oder derjenigen, der/die dazu in der Lage ist/sind, sein/ihr subjektives Modell des „unparteiischen Zuschauers“ zu objektivieren und als hegemonial durchzusetzen – denn genau darauf läuft der radikale Individualismus von Smith hinaus, der meint, aus moralischen Erfahrungen Regeln und Grundsätze ableiten zu können,53 die eben als allgemein unterstellt werden, letztlich aber nur aufgrund faktischer Macht durchsetzbar und insofern keineswegs objektiv, sondern lediglich hegemonial sind. Und genau zur Durchsetzung dieser scheinbaren Allgemeinheit in den letztlich willkürlichen Moralpostulaten als verbindliche Normen bedarf es der ökonomischen Macht, die die politische prädominiert, denn zum politischen und ökonomischen Maßstab wird „in jedem Fall die Sympathie bzw. Billigung des unparteiischen Zuschauers.“54 Das damit prolongierte individuelle Interesse ist somit, wie Hartmut Neuendorff festgestellt hat, „nur das subjektive Pendant der allgemeinen Marktgesetze, in denen das Kapital die handlungsleitenden Orientierungsmarken seines Verwertungsprozesses setzt“:55 „Der als Gewissen verinnerlichte, ursprünglich nur vorgestellte äußere unparteiische Zuschauer ist die höchst irdische Instanz moralischer Billigung, die die faktische äußerliche Zensur des einen Menschen durch den anderen in ihrem Gewicht relativiert.“56 Die politische Wendung der Fiktion eines „unparteiischen Zuschauers“ läuft bei Smith dann in der Tat auf einen unter dem Deckmantel moralischer Integrität operierenden Herrscher hinaus, der sich von der „recht zweifelhaften und zweideutigen Rolle eines Parteiführers“ unterscheidet und die „größte und edelste aller Rollen“ als „Reformator und Gesetzgeber eines großen Staates“ erfüllen soll.57 Dieser „Weise und Tugendhafte“58 ist die politische Inkarnation des „unparteiischen Zuschauers“ und genau dabei folgerichtig ein das interessengeleitete Handeln in Abrede stellender Autokrat, der zum Garant für die „natürliche Ordnung einer vollkommenen Freiheit und Gerechtigkeit“ werden soll:59 der radikale Marktliberalismus von Smith kehrt sich politisch damit genau in sein Gegenteil, 52 53 54 55 56 57 58 59

Smith 1926, S. 526 (Teil 7, Abs. 3, Kap. 1). Raphael 1991, S. 48. Fricke 2005, S. 128. Neuendorff 1973, S. 104. Ebd., S. 82. Smith 1926, S. 393 (Teil 6, Abs. 2, Kap. 2). Smith 1926, S. 398 (Teil 6, Abs. 2, Kap. 3). Smith 2009, S. 509 (Buch 4, Kap. 7, Teil 3).

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der staatliche Herrscher umgibt sich mit der Aura des Interessenlosen und ist dabei nichts anderes als die sich moralisch integer generierende Machtinthronisierung derjenigen innerhalb einer politischen Ordnung, die die ökonomische Macht innehaben und dadurch die Moral und die sie generierende Illusion des „unparteiischen Zuschauers“ dominieren können, er stützt sich vor allem auf die „stabilen Kräfte einer Gesellschaft“.60 Der radikal individualistische und letztlich anarchische Marktliberalismus von Smith kehrt sich staatstheoretisch aufgrund seiner bedingungslosen output-Orientierung in einen autokratischen Nachtwächterstaat, der zwar so wenig wie möglich intervenieren, wenn, dann aber mit aller Härte die Aufrechterhaltung der als Teil der Moralordnung des „unparteiischen Zuschauers“ sakrosankt erklärten kapitalistischen Eigentumsordnung erzwingen soll. Deshalb setzt Regieren für Smith auch „eine gewisse Unterordnung“ voraus,61 wobei es für ihn „Geburt und Vermögen“ sind, die „einen Menschen über den anderen erheben.“62 Wo bei Locke der Partizipationsausschluss individuell formuliert und aufgrund seiner liberalen Konstituierung des Vertragsstaates in seiner input-Orientierung letztlich doch demokratisch situiert wird, wird bei Smith der Staat zum moralisch verklärten Herrschaftsinstrument der Eigentümer, wird dadurch der citoyen gänzlich vom bourgeois eliminiert. Die (eingeschränkte) Rechtsgleichheit bei Locke legitimiert und limitiert Partizipation, während Rechtsgleichheit für Smith als nicht dazu in der Lage angesehen wird, „die natürliche Verschiedenheit der Menschen zu überwinden.“63 Konsequenterweise hält Smith mit Blick auf „Ansehen und Würde“ einen Monarchen für geeigneter als Staatsoberhaupt als den Regierungschef „irgendeiner Republik“.64 Insofern geht die Formulierung des Smith-Übersetzers Horst Claus Recktenwald, nach der man bei diesem „verständlicherweise noch keine Diskussion über Entscheidungsmechanismen“ finde, die etwa Wahlen oder parlamentarische Kontrollen der Regierungen betreffen,65 ignorant und grob fahrlässig am Kern des Problems vorbei: Smith eliminiert diese bereits bei Locke angelegten Gedanken, für ihn ist Partizipation nicht etwas limitiertes oder ‚vergessenes‘, sondern etwas überflüssiges, das für die marktradikale Durchsetzung seiner anarchischen Eigentumsordnung geradezu schädlich wäre. Die Staatskonzeption von Smith ist dabei konsequent minimalistisch, im „Mittelpunkt steht der Interessenzusammenhang freier und gleicher Warenproduzenten, die Privateigentümer sind.“66 Smith begründet seinen Idealstaat aus zweierlei Perspektiven, die unmittelbar auf das Wohlergehen der Eigentümer gerichtet sind. Die erste Dimension der Staatslegitimation besteht darin, dass der Staat aus normativer Perspektive geschaffen werden muss, um die Bedingungen für das Funktionieren der kapitalistischen Marktwirtschaft zu konstituieren und zu garantieren, wobei die Einschränkungen für den bourgeois so gering wie möglich 60 61 62 63 64 65 66

Brühlmeier 1988, S. 57. Smith 2009, S. 601 (Buch 5, Kap. 1, Teil 2). Ebd., S. 604. Fricke 2005, S. 130. Smith 2009, S. 694 (Buch 5, Kap. 2, Teil 4). Recktenwald 2009, S. LXVII. Braun/Heine/Opolka 2008, S. 215.

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sein sollen; die zweite Dimension der Staatslegitimation betrifft dessen empirische Dimension, wobei sein Entstehen aus historischen Notwendigkeiten abgeleitet und seine Entwicklung nachgezeichnet wird, namentlich der Genese der Sicherung von Eigentumsordnungen bei gleichzeitiger Abwehr eventueller Angriffe von außen.67 Die innen- wie außenpolitische Intentionalität des Schutzes der Eigentumsordnung zur Abwehr von Partizipationsansprüchen macht Smith dabei explizit deutlich: „Wird also eine Regierungsgewalt zu dem Zwecke eingerichtet, das Eigentum zu sichern, so heißt das in Wirklichkeit nichts anderes, als die Besitzenden gegen Übergriffe der Besitzlosen zu schützen.“68 Smith proklamiert, zuerst in den Lectures on Jurisprudence (1762/3), insofern eine uneingeschränkte Eigentumsordnung ohne Vorbedingungen und hat folglich, wie Marcus Llanque formuliert hat, das „Privateigentum konsequent von aller moralischen Disposition“ befreit.69 Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft sollen soweit als möglich unterbleiben, der Staat hat lediglich die Funktion der „Friedens- und Eigentumssicherung nach innen und außen“ und nur unter diesem Primat steht die Situierung einer Rechtsordnung, die eben jene Garantien für die Ausagierung der bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft sichern soll.70 In An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) formuliert Smith diese staatlichen Minimalfunktionen folgendermaßen: „Gibt man daher alle Systeme der Begünstigung und Beschränkung auf, so stellt sich ganz von selbst das einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit her. Solange der einzelne nicht die Gesetze verletzt, läßt man ihm völlige Freiheit, damit er das eigene Interesse auf seine Weise verfolgen kann und seinen Erwerbsfleiß und sein Kapital im Wettbewerb mit jedem anderen oder einem anderen Stand entwickeln oder einsetzen kann. […] Im System der natürlichen Freiheit hat der Souverän lediglich drei Aufgaben zu erfüllen, die sicherlich von höchster Wichtigkeit sind, aber einfach und dem normalen Verstand zugänglich: Erstens die Pflicht, das Land gegen Gewalttätigkeit und Angriff anderer unabhängiger Staaten zu schützen, zweitens die Aufgabe, jedes Mitglied der Gesellschaft soweit wie möglich vor Ungerechtigkeit oder Unterdrückung durch einen Mitbürger in Schutz zu nehmen oder ein zuverlässiges Justizwesen einzurichten, und drittens die Pflicht, bestimmte öffentliche Anstalten und Einrichtungen zu gründen und zu unterhalten, die ein einzelner oder eine kleine Gruppe aus eigenem Interesse nicht betreiben kann, weil der Gewinn ihre Kosten niemals decken könnte, obwohl er häufig höher sein mag als die Kosten für das ganze Gemeinwesen.“71

Der Staat darf nach den Vorstellungen von Smith also Privatleuten keine einschränkenden Vorschriften mit Blick auf die Frage, wie „sie ihr Kapital investieren sollen“, machen und wird insofern gegenüber den Kapitaleignern systematisch

67 Vgl. Fricke 2005, S. 127 ff.; Pichler 1990, S. 262 ff. 68 Smith 2009, S. 605 (Buch 5, Kap. 1, Teil 2). Im englischen Original dieser Stelle (Smith 1993, S. 554 f.) wird die Intention durch die begriffliche Differenzierung noch deutlicher: „Civil government, so far as it is instituted for the security of property, is in reality instituted for the defence of the rich against the poor, or of those who have some property against those who have none at all.“ 69 Llanque 2008, S. 233. 70 Braun/Heine/Opolka 2008, S. 216. 71 Smith 2009, S. 582 (Buch 4, Kap. 9).

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depotenziert,72 zugleich werden Privatpersonen aber auch von sich aus ihrem Eigentum ergebenden Verantwortungen exkulpiert, wenn Smith schreibt, dass bestimmte Kosten vom Staat getragen werden müssten, die „ihrer ganzen Natur nach niemals einen Ertrag abwerfen“ und man deshalb „nicht erwarten kann“, dass diese Aufgaben von Einzelpersonen übernommen werden.73 Sind also die (nicht oder wenig besitzenden) Staatsangehörigen von der Partizipation strukturell ausgeschlossen, so sollen sie über Steuern und Abgaben doch diejenigen Kosten der Allgemeinheit tragen, die letztlich wiederum den Besitzenden überproportional zugutekommen – da etwa der Schutz der Eigentumsordnung letztlich nur denen nutzt, die über Eigentum verfügen. Insofern kreiert Smith eine eigentlich schizophrene Verantwortungslogik, in der diejenigen, die strukturell von der politischen Partizipation ausgeschlossen sind, den ökonomischen Profit derer, die politisch voll partizipieren, noch vermehren sollen: „Namentlich die Wohlhabenderen sind verständlicherweise daran interessiert, eine solche Ordnung zu unterstützen, da allein sie ihnen alle ihre Vorteile garantieren kann.“74 Soziales Handeln entsteht somit lediglich aus Eigennutz und dem Interesse an Gewinnmaximierung,75 Partizipation ist in diesen marktradikalen Vorstellungen nur partikular wünschenswert und ansonsten überflüssig. III. LIMITIERUNG UND NIVELLIERUNG VON POLITISCHER PARTIZIPATION Der klassische Liberalismus des 17. Jahrhunderts eröffnet den Denkraum für politische Partizipation nachhaltig, da der für diese Phase des Liberalismus ideengeschichtlich zentrale Kontraktualismus das thomasische und neoaristotelische Postulat der Erkenntnistheorie verworfen und damit der modernen politischen Theorie überhaupt erstmals ein wirkliches Subjekt gegeben hat. Die liberale Philosophie der Aufklärung stiftete die Konzepte des modernen Individualismus, der eben genau deshalb die erkenntnistheoretische Voraussetzung für alle Formen von Partizipation ist, weil er das noch in den Fängen klerikaler Hörigkeit befindliche Individuum zu einem sich seiner Aufklärungsfähigkeit bewusst werden könnenden Subjekt emanzipiert hat. So sehr dieser Emanzipationsprozess auf der erkenntnistheoretischen Ebene die Voraussetzung für politische Partizipation war (der aber auch maßgeblich von Denkern wie Machiavelli oder Hobbes beeinflusst wurde, die nicht bzw. nur sehr eingeschränkt dem Liberalismus zugeordnet werden können),76 so sehr war er von Anfang an auch zugleich mit einer limitieren-

72 73 74 75 76

Smith 2009, S. 371 (Buch 4, Kap. 2). Smith 2009, S. 612 (Buch 5, Kap. 1, Teil 3). Smith 2009, S. 605 (Buch 5, Kap. 1, Teil 2). Vgl. Smith 2009, S. 16 ff. (Buch 1, Kap. 2). Vgl. Salzborn 2010b.

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den Partizipationsideologie verbunden, die generell durch ihre Exklusion von Frauen gekennzeichnet war.77 Die Dialektik des klassischen Liberalismus besteht darin, dass in das Versprechen der Freiheit strukturell bereits deren Limitierung inkorporiert ist, da es sich nicht nur um ein politisches, sondern zugleich auch um ein ökonomisches Versprechen handelt. Da die Freiheit im politischen Sinn gleichermaßen gelten soll, im ökonomischen aber soziale Ungleichheit zur Voraussetzung wie zur Bedingung hat, destabilisiert sich die liberale Ideologie letztlich (immer wieder) selbst, weil ihr politisches Freiheitsversprechen aufgrund der dem Wirtschaftsliberalismus zugrunde liegenden Ungleichheiten stets ein halbiertes bleiben muss, es sich mindestens faktisch, oft aber auch normativ um eine Limitierung von Partizipation handelt, in der stets der größere Teil der Bevölkerung nur abstrakt von der Freiheit profitiert, diese aber konkret nicht vollumfänglich zu realisieren in der Lage ist. Während Locke als der wohl prominenteste Vertreter der politischen Dimension des klassischen Liberalismus zwar das Eigentum zum Motiv für die Generierung politischer Freiheit macht, limitiert er diese jedoch nicht generell, sondern punktuell und schwankt damit ideengeschichtlich zwischen einer inkludierenden und einer exkludierenden Partizipationsvorstellung, die letztlich auf der Aporie der Freiheit als einer von Zwang wie einer von Sicherheit fußt. Smith hingegen macht Ernst mit dem ökonomischen Marktradikalismus, der vor einer generellen Negation von politischer Freiheit gerade deshalb nicht zurückschreckt, weil er ein nur strategisches Verhältnis zum Staat hat und diesen nur ob dessen Garantiefunktion zur Absicherung von Eigentumsverhältnissen schätzt, zugleich aber den legitimatorischen Grund für die Situierung eines souveränen Staates mit dem „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“78 verwirft: den Gesellschaftsvertrag, dessen Initiation bei allen Vertragstheoretikern den Staat immer nur als Souverän inthronisiert, wenn und weil er seinen Untertanen die Freiheit garantiert – eine zwar nur relative Freiheit (wie bei Locke), die aber, im Unterschied zur absoluten Freiheit, im staatlichen Kontext gesichert und genau damit nicht mehr riskant ist. Der klassische Marktliberalismus affirmiert, wie das Beispiel Smith zeigt, staatliche Herrschaft dabei lediglich äußerlich und würde, wäre herrschende Gewalt auch jenseits staatlicher Strukturen für einen bürgerlichen Binnenmarkt realisierbar, sein anarchisches Grundprinzip nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch proklamieren. Dass Smith den Kontrakt als Grundidee der bürgerlichen Gesellschaft ablehnt,79 zeigt die offene Flanke des klassischen Liberalismus für vorbürgerliche Machtstrukturen – worauf auch verweist, dass Eigentum für ihn nicht zwingend nur durch Arbeit, sondern auch (wieder) durch Okkupation begründbar wird. Dass er überdies mit Blick auf seine staatstheoretischen Überlegungen Anarchisten wie Bakunin letztlich näher ist als Locke, und dieser wiederum ökonomisch mit Blick auf die rein deskriptive Ebene Sozialisten wie Engels näher77 Vgl. Pateman 1988. 78 Vgl. Weber 1980, S. 29 u. 516. 79 Vgl. Ballestrem 2001, S. 116.

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steht als Smith, zeigt nicht nur die ideengeschichtliche Zerrissenheit des klassischen Liberalismus, sondern verweist überdies auch auf die immanenten Widersprüche bürgerlicher Vergesellschaftung selbst, in der staatliche Herrschaft als seismografisches Zentrum von Macht zur faktischen Nivellierung von weltanschaulichen Grenzen führt, die auf proklamatorischer Ebene nur allzu manifest zu sein scheinen. Die Kopplung der Partizipationsfrage im klassischen Liberalismus an Besitzverhältnisse, die Herrschaftsverhältnisse sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Differenz zwischen politischem und ökonomischem Liberalismus mit Blick auf reale oder hypothetische Partizipationsmöglichkeiten ideengeschichtlich letztlich ein Unterschied ums Ganze ist, da der ökonomische Liberalismus negiert, wofür der politische Liberalismus letztlich doch, wenn auch limitiert, eintritt. LITERATUR Ballestrem, Karl Graf, 2001: Adam Smith, München. Bermbach, Udo, 1986: Liberalismus. In: Fetscher, Iring/Münkler, Herfried (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 4: Neuzeit: Von der Französischen Revolution bis zum europäischen Nationalismus, München, S. 323–368. Braun, Eberhard/Heine, Felix/Opolka, Uwe, 2008: Politische Philosophie. Ein Lesebuch: Texte, Analysen, Kommentare, Reinbek b. Hamburg. Brocker, Manfred, 1991: Wahlrecht und Demokratie in der politischen Philosophie John Lockes. In: Zeitschrift für Politik, 38. Jg., H. 1, S. 47–63. Brocker, Manfred, 1992: Arbeit und Eigentum. Der Paradigmenwechsel in der neuzeitlichen Eigentumstheorie, Darmstadt. Brocker, Manfred, 2007: John Locke ‚Zwei Abhandlungen über die Regierung‘. In: Ders. (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch, Frankfurt/Main, S. 258–272. Brühlmeier, Daniel, 1988: Die Rechts- und Staatslehre von Adam Smith und die Interessentheorie der Verfassung, Berlin. Césaire, Jean, 1980: Der Liberalismus und die Liberalismen. Versuch einer Synthese. In: Gall, Lothar (Hrsg.): Liberalismus, 2., erw. Aufl., Königstein/Ts., S. 134–146. Chappell, Vere, 1994: Locke’s theory of ideas. In: Ders. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Locke, Cambridge, S. 26–55. Colman, John, 2003: Locke’s empiricist theory of the law of nature. In: Anstey, Peter R. (Hrsg.): The Philosophy of John Locke. New Perspectives, London/New York, S. 106–126. Cox, Richard H., 1960: Locke on War and Peace, Oxford. Döhn, Lothar, 1983: Liberalismus. In: Neumann, Franz (Hrsg.): Handbuch Politischer Theorien und Ideologien, 2. erw. Aufl., Reinbek b. Hamburg, S. 9–64. Döhn, Lothar, 1995: Liberalismus – Spannungsverhältnis von Freiheit, Gleichheit und Eigentum. In: Neumann, Franz (Hrsg.): Handbuch Politische Theorien und Ideologien (2 Bände), Bd. 1, Opladen, S. 107–178. Elbe, Ingo, 2009: Privateigentum – „tief im Wesen des Menschen“ begründet? John Lockes Formulierung des bürgerlichen Eigentumsbegriffs. In: Ders./Ellmers, Sven (Hrsg.): Eigentum, Gesellschaftsvertrag, Staat. Begründungskonstellationen der Moderne, Münster, S. 70–108. Engels, Friedrich, 1962: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (zuerst: 1880). In: MEW 19, Berlin/Ost, S. 177–228. Euchner, Walter, 1996: John Locke zur Einführung, Hamburg.

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REPUBLIKANISCHE HERAUSFORDERUNGEN Freiheit durch Partizipation Martin Baesler Vor dem Hintergrund des heutigen Erfahrungshorizonts funktionierender staatlicher Institutionen, technologisierter öffentlicher Verwaltung und einer weitreichenden politischen Arbeitsteilung unter Berufspolitikern erscheint die Partizipation des Bürgers am politischen Prozess nicht mehr als selbstverständlich. Es stellt sich die Frage, warum die Bürger an der politischen Willensbildung partizipieren sollen. Historisch betrachtet ist die bürgerliche Partizipation eng verbunden mit der Idee des Staates. Die antike politische Theorie sah in einer wohlorganisierten und aktiven Bürgerschaft die Verbindung zwischen dem einzelnen Bürger und der politischen Gemeinschaft. Im Kontext des modernen Staates entwickelte sich die Idee des pflichtbewussten und loyalen Bürgers, der die Unversehrtheit und innere Einheit der Nation auf Dauer aufrechterhält. In der heutigen Zeit allerdings dominiert das Gefühl, „that the state is losing control of its destiny“1 und dass die bürgerliche Partizipation an der Bestimmung dieses Schicksals nur noch wenig Bedeutung hat. Die modernen Staaten sehen sich mit der Problematik konfrontiert, wie man angesichts der Abkopplung ökonomischer Prinzipien vom politischen Diskurs, einer eingeschränkten Verantwortungsfähigkeit politischer Eliten, der Kluft zwischen Regierenden und Regierten,2 einer zunehmenden Politikverdrossenheit3 und der ungenügenden institutionellen Einbindung marginalisierter Bevölkerungsschichten politische Krisen abwehren kann.4 Dabei stellt sich die Frage, warum Bürgerinnen und Bürger am politischen Willensbildungsprozess partizipieren sollten? Diese Frage lässt sich beantworten, 1 2

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Magnette 2005, S. 168. Vgl. Pinzani 2003, S. 40–41; die Abkopplung der Bevölkerung von ihren Repräsentanten spiegelt sich im demokratischen Repräsentationsmodell nach Schumpeter selbst wider. Manin bringt das Prinzip auf den Punkt: „The central mechanism whereby voters influence governmental decisions results from the incentives that representative systems create for those in office: representatives who are subject to reelection have an incentive to anticipate the future judgement of the electorate on the policies they pursue.“ Manin 1997, S. 178; vgl. ebenso Dunn 2000. Urbinati führt die Politikverdrossenheit auf die heutige Form der Demokratie als ‚unpolitical democracy‘ zurück. Darin sind die Bürger nur noch Zuschauer und unabhängige Beobachter des eigentlichen politischen Geschehens: „Unpolitical democracy is a detached form of participation, as that of independent viewers or evaluators.“ Urbinati 2010. Vgl. Richter 2004, S. 12; Dunn 2000, S. 284.

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wenn das Bürgersein als die Erfüllung des Menschen im politischen Gemeinwesen verstanden wird. Gebhardt hielt fest, dass die „Sache des Bürgers auch heute noch die Sache des Menschen ist“.5 Damit bringt er zum Ausdruck, dass der Mensch sich als freies und vernünftiges Wesen nur innerhalb eines politischen Gemeinwesens entfalten kann. Schon Aristoteles sah den Staat als das oberste Ziel menschlicher Bestrebungen, weil dieser alle menschlichen Zwecke in sich vereint und weil er durch die Förderung menschlicher Verwirklichung die Umsetzung dieser Zwecke ermöglichte. Aristoteles steht am Anfang der politischen Theorietradition des Republikanismus, die den Zweck des Staates im Ganzen und des politischen Entscheidens im Einzelnen in der gleichmäßigen Förderung der Freiheit der Bürger begreift. Die Freiheit bedeutet dabei die Unabhängigkeit von Fremdbestimmung und die Ausbildung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung in den Angelegenheiten des politischen Gemeinwesens. Mit dieser Freiheit war gleichsam das Bürgersein selbst definiert. Die Partizipation des Bürgers wird als unabdingbares Mittel zur Selbstregierung und dem damit einhergehenden richtigen Urteilen in den Angelegenheiten des menschlichen Zusammenlebens gemäß des allgemeinen Zwecks der politischen Gemeinschaft und zur Verhinderung von Despotie betrachtet. Die freie Entfaltung des Menschen ist nur möglich in einer politischen Ordnung, die auf Freiwilligkeit beruht und diese schützt. In diesem Aufsatz wird eine Linie der politischen Theorietradition erörtert, die aufbauend auf dem historischen Kontextualismus der Cambridge School of the History of Political Thought (kurz Cambridge School) die Bedingungen heutiger Freiheit unter republikanischen Vorzeichen darlegt. Dabei stehen die Werke von John Pocock,6 Quentin Skinner7 und Philip Pettit8 im Vordergrund, in denen die republikanische Ideengeschichte neu interpretiert und bei Pettit schließlich durch einen eigenständigen Theorieansatz revitalisiert wird. Es gehört zum Verdienst der Vertreter des Neorepublikanismus, das oben dargestellte Prinzip der bürgerlichen Freiheit in den politikwissenschaftlichen Diskurs zurückgeholt und verfochten zu haben.9 Die Neorepublikanismustheorien sind nicht als ein einheitliches Paradigma oder gar als eine Ideologie aufzufassen, sondern als eine Gegenbewegung zum dominierenden Diskurs des liberalistischen Individualismus. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie sich auf die über zweitausendjährige Entwicklung der politischen Ideengeschichte des Humanismus und Republikanismus berufen. Damit machen sie kenntlich, dass die Freiheit des modernen Menschen nicht wie in der liberalistischen Theorietradition negativ, sondern in Verbindung mit dem Begriff eines freiheitlich organisierten Gemeinwesens aufzufassen ist. Die 5 6 7 8 9

Gebhardt 1995, S. 359. Pocock 1975; Pocock 1981; Pocock 1985; Pocock 2011. Skinner 1994, c1978; Skinner 1984; Skinner 1990; Skinner 1998; Skinner 2003; Skinner 2008; Skinner/Strath 2003. Pettit 1993; Pettit 1997a; Pettit 1997b; Pettit 2002. Vgl. Dagger 1997; Gelderen/Skinner op. 2002; Honohan 2002; Lovett/Pettit 2009; Münkler 1995; O’Ferrall 2001; Oldfield 1990; Pettit 1997b; Pocock 1975; Skinner 1998; Viroli 1990. Hilfreiche Übersichten zum Neorepublikanismus bieten folgende Autoren: Hölzing 2011; Llanque 2003; Llanque 2008; Pinzani 2003; Richter 2004; Rodgers 1992; Shapiro 1990.

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Erörterung des Zusammenhangs von Partizipation und Freiheit in den neorepublikanischen Ansätzen gelingt nur durch einen Rückbezug auf ihre historisch politiktheoretischen Quellen, aus denen sie sich speisen, nämlich Aristoteles10 und Niccolo Machiavelli.11 Diese politischen Denker bilden deshalb den Anfang dieses Artikels. Anhand der inhaltlich sehr unterschiedlichen Theorien von Aristoteles und Machiavelli werden zwei Perspektiven entwickelt, wie die Freiheit der Menschen durch Partizipation hervorgerufen und geschützt werden kann. Aristoteles war wegweisend für die Forschungen Pococks. Skinner und Pettit hingegen rekurrierten auf Machiavelli, um den neorepublikanischen Freiheitsbegriff zu begründen. In der Behandlung der Autoren wird der Frage nachgegangen, worin die Freiheit der Menschen und Bürger genau besteht und welchen Einfluss die Partizipation dementsprechend auf die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens hat. ARISTOTELES UND DIE ATHENISCHE POLIS Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte eine Wissenschaft der Politik, die das Studium des ganzen Spektrums menschlicher gesellschaftlicher Angelegenheiten enthält.12 Die politike, die er auch Philosophie über die menschlichen Dinge13 nennt, umfasst die Aktivitäten der Bürger in den Angelegenheiten der polis. Gerade durch diese handlungszentrierte Betrachtung der Angelegenheiten in der polis gelingt Aristoteles die Bestimmung des aktiven Menschen und Bürgers, dessen Freiheit in der Verwirklichung seiner natürlichen Vermögen liegt. Dabei werden die Fähigkeiten der Individuen sowohl im Bereich des Hauses (oikos) und in den Angelegenheiten der polis in den Blick genommen mit dem Ziel, die Möglichkeiten der Verwirklichung von Glückseligkeit (eudaimonia) zu erforschen. Aristoteles definiert den natürlichen Zweck des Staates, ein tugendhaftes Leben zu fördern: „Und in der Tat muß ein Staat, der in Wahrheit und nicht bloß dem Namen nach ein Staat ist, sich um die Tugenden kümmern. Denn sonst wäre die Gemeinschaft ein bloßer Beistandsvertrag.“14 Damit ist in erster Linie die Ausbildung des Vermögens der Menschen gemeint, ihre Handlungen dem Zweck 10 Aristoteles 2003. 11 Machiavelli 1969; Machiavelli 1977. 12 Vgl. Salkever 1981, S. 479 f. Ähnlich fasst auch Hans Morgenthau die Relevanz der aristotelischen Schriften für die heutigen Untersuchungen des Politischen zusammen: „Naturally you will ask yourself what has an old guy who lived almost 2500 years ago to tell us about contemporary political problems. […] in contrast to the technical and scientific problems, social and political problems do not change through history. The problem of authority, the problems of the relation between the individual and the state, the purpose of the state, the common good, the issue of law versus naked power, the problem of violence, the class problem, the distribution of wealth in political terms – all those problems are of perennial nature.“ Morgenthau et al. 2004, S. 15. 13 Aristoteles 1985, 1181b15. 14 Aristoteles 2003, 1276b1-3.

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des guten Lebens gemäß, also der freiheitlichen Verwirklichung der Individuen in der polis, auszurichten. Es bedeutet nicht, dass die Menschen sich in die staatliche Organisation gemäß ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten einfügen und als rein funktionaler Teil des Ganzen agieren. Die Reflexion über den Zweck des Staates inkorporiert den Einzelnen im Allgemeinen. Die Menschen tragen durch ihre unterschiedlichen Vermögen zum Gelingen des Zusammenlebens bei und profitieren vom gemeinsamen Werk materiell, z. B. durch Güter und Schutz, und theoretisch, z. B. durch Bildung. Der Beitrag der Einzelnen zum Gesamtwerk der polis trägt das Ziel in sich selbst, da es jeden einzelnen Menschen in der polis betrifft. Er wirkt sich dauerhaft auf das Leben und Handeln aller aus. Die politische Freiheit der Bürger ist nach Aristoteles durch die Abstammung und durch die Möglichkeit zur Partizipation an politischen Ämtern festgelegt. Aristoteles bezieht sich hierbei auf die Bürgerrechte in der Athener polis. In ihr war nur der Mensch mit allen Privilegien des Bürgerseins ausgestattet, dessen Vorfahren Athener Bürger waren. Zu diesen Privilegien zählten das Recht zur freien Rede (isegoria), die Gleichheit zur politischen Teilhabe und vor dem Gesetz (isonomia) und die gleichmäßige Verteilung der politischen Macht auf alle gesellschaftlichen Klassen (isokratia). In den Augen von Aristoteles ist die Teilhabe das wichtigste Kennzeichen der Bürgerfreundschaft, denn durch sie wird gleichermaßen kluges Urteilen ausgebildet. Dies ist jedoch nicht in einer absoluten Weise zu interpretieren, die jeden Einzelnen dazu verpflichten würde, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Hierbei ist Richard Mulgans Argumentation zuzustimmen, dass die Einbindung des Einzelnen nicht schon als aktives Teilnehmen an der politischen Willensbildung gedeutet werden sollte.15 Denn in erster Linie bestimmt Aristoteles die Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen durch ihr jeweiliges Können und auf der Grundlage ihrer Vorstellungen über ein gelungenes Leben. Es ist wichtig festzuhalten, dass das glückselige Leben nicht nur denjenigen möglich ist, die gemäß Aristoteles das Göttliche in sich tragen,16 sondern jedem, der gemäß seiner Fähigkeiten handelt und sich dadurch selbst verwirklicht. Genau deshalb ist das politische Leben in der Gemeinschaft so bedeutsam für jeden Einzelnen als politisches Wesen. Die Beteiligung oder der Beitrag des Einzelnen ist dann am wertvollsten für die Gemeinschaft, wenn der Einzelne sich seiner Fähigkeiten und Eigenschaften bewusst ist, sich gemäß dieser entwickelt und in seinem Hervorbringen von Gütern und Handlungen selbst als guter Mensch erweist.17 Schon in diesem Handeln und nicht erst durch militärische Errungenschaften erweist er sich als tugendhafter und freier Mensch. Im Gegensatz zu diesem Freiheitsverständnis entwirft Machiavelli Jahrhunderte später einen Partizipationsbegriff, der sich aus dem Ethos der kämpferischen Verteidigung der bürgerlichen Freiheit entfaltet.

15 Vgl. Mulgan 1990, S. 205. 16 Aristoteles 1985, 1177a17-18. 17 Vgl. Ackrill 1975, S. 20.

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MACHIAVELLI UND DIE RÖMISCHE REPUBLIK Niccolo Machiavelli (1469–1527) nahm das antike Motiv des freien Gemeinwesens und seiner Gefahren, wie es bei Aristoteles vorgestellt wurde, in seiner Schrift ‚Abhandlungen über die ersten zehn Bücher des Titus Livius‘ (‚Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio‘, veröffentlicht im Jahr 1532)18 auf und untersuchte die Bedrohungen dieser Freiheit. In seiner Kritik der florentinischen Politik seiner Zeit bezog er sich allerdings nicht auf den aristotelischen polis-Begriff,19 sondern auf die Geschichte der römischen Republik.20 An ihr vollzog er nach, welche Vorteile die republikanische Verfassung zum Erhalt eines freien Gemeinwesens hat. Machiavelli entwickelte ein für seine Zeit neuartiges politisches Denken, insofern er gegen die mittelalterlich scholastische Auslegung linearer geschichtlicher Entwicklung die Betonung auf die weltlichen und von Agonalität gekennzeichneten Herausforderungen eines freien Gemeinwesens legte. Nach Herfried Münkler besteht die Neuigkeit des machiavellischen Denkens in der „systematische(n) Verkopplung von Geschichtsphilosophie und politischem Handeln“.21 Denn Machiavelli untersuchte die römische Geschichte mit dem Ziel, die Begrenzung menschlichen Handelns in der effektiven Umsetzung politischer Ziele deutlich zu machen und gleichzeitig die Korruptibilität des Menschen als Gefahr für den Bestand des Gemeinwesens zum festen Bestandteil politischer Reflexion zu erheben. Die Freiheit eines Gemeinwesens besteht nach Machiavelli in der Freiheit seiner Bewohner. Dieser Grundsatz erinnert an den schon von Platon und Aristoteles vertretenen Ansatz des politischen Körpers, in dem jedes einzelne Glied zugleich Ausdruck und Bestimmung für das Ganze ist. Die römische Republik zeichnet sich in Machiavellis Augen dadurch aus, dass sie dem Kreislauf des Entstehens und Verfalls der politischen Gemeinwesen durch kluge Gesetzgebung und Institutionenordnung sowie durch Partizipation und die Ausbildung von Tugenden entgangen ist. Vor allem aber war es die Liebe des römischen Volkes zur Freiheit, die Rom zum aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand macht.22 Im Gegensatz zur venetianischen Republik oder zur demokratischen Verfassung des solonischen Athens sieht Machiavelli in Rom eine ausgewogene und die Freiheit dauerhaft 18 Machiavelli 1977. 19 Allerdings finden sich bei Machiavelli thematische Übereinstimmungen zu Aristoteles in der Auseinandersetzung mit Herrschaft und Korruption. Vgl. Euben 1978, S. 107; Pocock 1975. 20 Machiavelli bezieht sich hauptsächlich auf die Schriften von Livius ‚Historia de Roma‘, Cicero ‚De officiis‘ und ‚De re publica‘, Polybios ‚Historiae‘ und Sallust ‚Bellum Catilinae‘.Vgl. Skinner 1990. 21 Münkler 1995, S. 46. 22 „Betrachtet man das römische Volk, so sieht man, daß es 400 Jahre lang dem Königtum Freund war und den Ruhm und das öffentliche Wohl seines Vaterlandes über alles liebte.“ I.58, S. 151. Die hier zugrundeliegende und ansonsten konsistente Übersetzung der ‚Discorsi‘ von Rudolf Zorn ist in diesem entscheidenden Punkt falsch. Er übersetzt „Freund“ statt „Feind“. Im Original heißt es: „E chi considererà il popolo romano, lo vedrà essere stato per quattrocento anni inimico del nome regio ed amatore della gloria e del bene commune della sua patria“. Machiavelli 1969, S. 171.

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garantierende Verfassung gegeben.23 Kennzeichnend für sie war, dass Rom als freier Staat sich erlaubte, „dem Ehrgeiz des Volks Luft zu machen“24 und das Volk in wichtigen Angelegenheiten zu beteiligen. Im Zentrum stand die Überzeugung: „Auch sind die Forderungen der freien Völker selten für die Freiheit schädlich; denn diese sind entweder eine Folge der Unterdrückung oder eine Folge der Furcht vor Unterdrückung.“25 Die Teilnahme der Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens entspringt demnach einer anderen Ursache als der bei Aristoteles angegebenen. Es ist die Furcht, die erlangte Freiheit zu verlieren und sich in Abhängigkeit von einem Herrscher oder einer herrschenden Gruppe oder einer fremden politischen Macht zu begeben. Angesichts der Furcht vor Fremdbestimmung muss die beste Verfassung für ein freies und nicht monarchisch organisiertes Gemeinwesen einen Ausgleich schaffen zwischen den verschiedenen Auswüchsen des Bestrebens nach Macht: „Untersucht man das Bestreben des Adels und des Volks, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein starkes Verlangen zu herrschen, beim Volk aber nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden, und folglich ein stärkerer Wille, in Freiheit zu leben, da es weniger hoffen kann, die Freiheit zu mißbrauchen, als der Adel.“26

Die Partizipation des Volkes in den Angelegenheiten des Gemeinwesens entspringt in dieser Hinsicht einer negativen Motivation, nämlich sich vor den Übergriffen einer adligen Elite zu schützen. Das Partizipationsbestreben ist von einem Pragmatismus geprägt, der auf das Ziel der Nichtbeherrschung angelegt ist. Aus der Furcht erwächst eine Form von Selbstbehauptung gegen Fremdbestimmung. Die richtige Auswahl der Mittel und die Habitualisierung tugendhaften Handelns dient allein dem Zweck des Freiheitserhalts.27 Deswegen sind die durch militärische Übung erlernte Tugend des Mutes, durch Selbstbegrenzung ausgebildete Tugend der Mäßigkeit und die durch richtige Kriegsführung erlangte Tugend der Klugheit in besonderem Maße notwendig für das freie Leben. Die Tugend (virtù) als menschliche Handlungsmacht und Entscheidungsfähigkeit im Gegensatz zu Zufall und Kontingenz (fortuna) wird von Machiavelli vor allem durch Erfahrungen geprägt. Ihr Verständnis ist römisch geprägt in der Hinsicht, dass sie aus politischen und militärischen Kämpfen erwächst.28 Machiavelli spricht der Bevölkerung ein hohes Potenzial zur Verteidigung des Gemeinwohls zu. Was bedeutet diese Konzeption von kämpferisch geprägter Freiheit für die Partizipation und hat die Erfahrung der Freiheit eine transformierende und Gemeinsamkeit erzeugende Wirkung auf die Bürger?29 Machiavellis Republik ist von dauerndem Konflikt zwischen dem Volk und dem Adel gekennzeichnet, weswegen sich die politische Teilnahme der Bevölkerung in erster Linie 23 24 25 26 27 28 29

Machiavelli 1977, I.4, S. 19. Ebd., S. 20. Ebd. Machiavelli 1977, I.5, S. 21. Vgl. Machiavelli 1977, I.46, S. 123. Vgl. Mansfield 1966, S. 11. Vgl. Sullivan 1992, S. 313.

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ex negativo erklären lässt, nämlich als Schutz vor den Übergriffen des Adels. Hannah Pitkin interpretiert diesen Zusammenhang folgenderweise: „Internal conflict, aggression, ambition, directed and used in the right way, are the sources of strength, health, and growth.“30 Im Misstrauen gegen den Adel und im Kampf gegen externe Aggressoren ergibt sich die Verwirklichung der Freiheit und die virtù kommt zu ihrer Erfüllung. Ausdruck dieser Stärke sind der Einfluss des Volkes auf die Gesetzgebung und eine kontinuierliche Überwachung der Ämtervergabe und Amtsführung. Die Autorität der Gesetze verhindert private Initiativen zum Kampf und hebt die Zwistigkeiten zwischen Volk und Senat auf die Ebene politischer Institutionalisierung. Durch die gesetzliche Einbindung des Volkes werden somit willkürliche Faktionierungen verhindert, was den dauerhaften Erhalt der staatlichen Ordnung über mehrere Generationen erst ermöglicht. Denn eine Regierung, die den Gesetzen folgt und die friedliche Gesinnung der Bevölkerung gegenüber den staatlichen Einrichtungen hervorruft, kann dauerhaft überleben. In den Grenzen der Republik kann es keinem gelingen, eine über die Gesetze hinwegreichende Autorität zu erlangen, die sich von der Quelle dieser Autorität, dem Volk, ablöst und nur noch nach eigenem Interesse handelt.31 Umgekehrt ist es ebensowenig dem Volk gegeben, seinem Wunsch nach noch größerer Freiheit vor der Autorität und den Entscheidungen des Gemeinwesens zu folgen.32 RÜCKSCHLÜSSE AUF DEN ZUSAMMENHANG VON PARTIZIPATION UND BEWAHRUNG DER FREIHEIT Weder bei Aristoteles noch bei Machiavelli findet sich eine im heutigen Sinne edukative Funktion der demokratischen Beteiligung an politischen Ämtern. Aristoteles betonte den Vorbildcharakter der Tugendhaften für die Bürger und sah die Regierenden in der Pflicht, die Bürger in gemeinwohlorientiertem und entscheidungsfreudigem Handeln von Jugend an zu bilden. Aber auch er gibt zu bedenken, dass die wahrhaft Tugendhaften in der polis stets in der Minderzahl sind. Die Freiheit jedes Bürgers besteht darin, am Regieren teilzunehmen und den Erhalt des Gemeinwesens, in dem sie diese Freiheit haben, zu gewährleisten. Die Freiheitskonzeption lässt sich deuten als ein Eingeständnis von Aristoteles, dass es zwar nicht viele Tugendhafte gibt, die verschiedenen einzelnen Tugenden aber über die Menschen verteilt sind. Somit tragen alle mittelbar zum Erhalt der polis bei und verteidigen ihre Freiheit. Die daraus erwachsenden Möglichkeiten zur Förderung des glückseligen menschlichen Zusammenlebens werden nicht durch die Partizipation per se bestimmt. Der Hauptakzent liegt auf dem richtigen Beurteilen der Fähigkeiten und seelischen Vermögen der Mitbürger und vor allem der Regierenden sowie dann im entschlossenen Eintreten für die Herstellung der Umstände, die die Ausübung dieser Fähigkeiten bei sich selbst und bei anderen 30 Pitkin 1999, S. 90. 31 Vgl. Machiavelli 1977, I.58. 32 Vgl. Machiavelli 1977, I.40, S. 113.

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dauerhaft ermöglichen. Im Rahmen einer politischen (und nicht despotischen) Verfassung verwirklicht sich dieses Prinzip, weil die gegensätzlichen Kräfte der Bevölkerungsklassen, der Armen und Reichen, innerhalb der polis zwar nicht in Einklang, dafür aber in einen Ausgleich gebracht werden. Sowohl die kluge Verfassungsgebung als auch die aufmerksame Einhaltung des Gerechtigkeitsprinzips der jeweiligen Verfassung im politischen Handeln spiegeln den Inhalt der politischen Tugend wider. Somit wird der natürliche Impuls des Menschen zum gemeinschaftlichen Leben nicht nur vom Ideal und Endzustand her gedacht, sondern auch und in engem Zusammenhang mit den Konflikten und kontextuellen Verwirklichungsformen. Machiavelli sah in der Menge der Bevölkerung ein natürliches und durch Erfahrung bestätigtes Misstrauen gegeben, welches jede Form von Eigeninteresse sofort offenbart. Die gesamte Konstruktion des freiheitlichen Gemeinwesens beruht auf der Partizipation weniger als demokratische Willensbekundung, sondern vielmehr als Maßnahme zur Vorsicht vor den Quellen und Auswüchsen von Unheil. Die freiheitliche Verfassung, die Machiavelli ähnlich wie Aristoteles als eine Mischverfassung auffasst, ist in erster Linie zur Einhegung gesellschaftlicher Antagonismen33 angelegt. Sie bietet keinen Schutz vor gesellschaftlichen Konflikten selbst, sondern integriert diese sogar als heilsame Lektionen politischen Strebens. Beide Autoren machen die Teilnahme an politischen Ämtern nicht davon abhängig, dass die Menschen tugendhaft sind. Ob sie durch die Ämterführung tugendhaft werden, liegt im Bereich des Möglichen. Es ist keine Voraussetzung. Die einzige Bedingung für die Teilnahme ist es, als Freier regieren und sich regieren lassen zu können. Dementsprechend stellen sie auch keine feste Regel vor, wie das Gemeinwohl durch tugendhaftes Handeln im konkreten Fall gefördert werden kann und wie die Ämter effektiv ausgeübt werden können. Politik ist keine Wissenschaft und auch keine Kunst, sondern mit dem Handeln befasst, welches Klugheit beinhaltet und die individuellen Umstände berücksichtigt. Das Prinzip des zoon politikon ist verwirklicht in einer Politik, die das Individuum ins Zentrum des Politischen rückt und Politiker und Bürger dazu anhält, tugendhaft zu handeln.

33 Die Berücksichtigung der Agonialität in der Auseinandersetzung mit dem besten politischen Gemeinwesen findet sich auch bei Aristoteles. Hierzu zählt die Lehre der Verfassungsumbrüche in den Büchern 4 bis 6 der ‚Politik‘. Neuere Forschungsansätze zur Interpretation der aristotelischen ‚Politik‘ legen nahe, dass auch Aristoteles ein konfliktives Grundmuster in seine Konzeption der polis integrierte und die politische Gemeinschaft (koinonia politike) deshalb nicht ohne Weiteres als ein harmonisches Zusammenwirken der Bürger zu verstehen ist. Vgl. Yack 1993; Skultety 2009.

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DER NEOREPUBLIKANISMUS Der Neorepublikanismus34 entwickelte sich aus der Grundsatzkritik des liberaldemokratischen Individualismusverständnisses und der einseitigen liberalistischen Deutung der Geschichte der europäischen Aufklärung und der amerikanischen Verfassungsgeschichte. Zum einen richtet sich diese Kritik gegen den negativ verstandenen Freiheitsbegriff35 als einzige plausible normative Grundlage des heutigen Politikverständnisses. Zum anderen wird die Geschichtsvergessenheit liberalistischer Ansätze und der daraus resultierende Glaube an eine Universalisierung des liberalen Rechteverständnisses bemängelt. Der Beginn der republikanischen Kritik an diesem Gesellschaftsverständnis wird zumeist mit Hannah Arendt in Verbindung gebracht. Insbesondere ihr Werk ‚On Revolution‘ firmiert dabei als Alternative und als Grundlage für einen bürgerlichen Republikanismus. In ihm legt sie dar, dass die Bürger im revolutionären Geist für die Freiheit der öffentlichen Sphäre eintreten und die freie Rede und Meinungsäußerung zum zentralen Element des Zusammenlebens machen.36 In ähnlicher Weise, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung des kommunitarischen Gedankens und der individuellen Freiheit, argumentieren Vertreter des Neo-Aristotelismus37 und des Kommunitarismus.38 Beide Theorieschulen werden häufig mit dem Republikanismus in eins gesetzt, da sie ebenso wie der Republikanismus auf antike und neuzeitliche Quellen, allen voran auf Aristoteles, zurückgreifen. Die Kritik an der Geschichtsvergessenheit liberalistischer Theorien und einer zu einseitigen Auslegung der europäischen und insbesondere amerikanischen Verfassungsgeschichte brachte einen Republikanismus hervor, der auf einer kontextualisierenden Rezeptionsgeschichte antiker und neuzeitlicher Quellen aufbaut.39 Vertreter dieser als neorepublikanisch40 bezeichneten Schule sind John Pocock, Quentin Skinner und Philip Pettit. Sie plädieren auf die Förderung eines neuen Verständnisses von Freiheit durch die Beschäftigung mit den Quellen republikanischen Denkens. Durch die Methode der Kontextualisierung soll die Annäherung an den Kernbestand des republikanischen Selbstverständnisses erreicht werden. Im Vordergrund stand die Revision und Neu-Interpretation der Schriften

34 Heutiger Republikanismus und Neo-Republikanismus werden synonym verwendet. 35 Vgl. Berlin 1969. 36 Arendt definiert diese freiheitliche öffentliche Ordnung als Raum des Austauschs: „No one could be called happy without his share of public happiness, that no one could be called free without his experience in public freedom, and that no one could be called happy or free without participating, and having a share, in public power.“ Arendt 1990, S. 225. 37 Vgl. MacIntyre 2007; Nussbaum 2001. 38 Vgl. Sandel 1998. Der Kommunitarismus entwickelte sich in den 1980er Jahren als Politisierung des republikanischen Bürgerhumanismus. Anhänger des Kommunitarismus verstanden ihre Ansätze als Gegenentwurf zu den vorherrschenden Ideologien des Liberalismus, Sozialismus und Marxismus. Vgl. Hankins 2003, c2000, S. 2. 39 Vgl. Llanque 2003, S. 12. 40 Vgl. Lovett/Pettit 2009. Pocock und Skinner sind zugleich Begründer der Cambridge School of the History of Political Thought, kurz Cambridge School.

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Niccolo Machiavellis.41 Ziel war es aufzuzeigen, dass es von Machiavelli ausgehend eine kohärente republikanische Traditionslinie gibt, die über die englischen Denker wie James Harrington und John Milton, im französischen und amerikanischen Raum über Montesquieu, Jean-Jacques Rousseau und James Madison weiter wirkte und die als einflussreiche Inspirationsquelle für die amerikanische Revolution und Verfassungsgebung diente.42 Der Neo-Republikanismus wurzelt im geschichtswissenschaftlichen Gegenentwurf zu einem rein von Lockes Naturrechtslehre inspirierten liberalen Konsens, wie er in der amerikanischen Geschichtsschreibung der 1950er und 60er Jahre vorherrschte.43 Ziel ist die Wiederbelebung eines „self-conscious understanding of a set of concepts that we now employ unselfconsciously and, to some degree, even uncomprehendingly.“44 POCOCK UND DIE WIEDERBELEBUNG DES VIVERE CIVILE John Pocock entwickelte in seiner Schrift ‚The Machiavellian Moment‘45 im Jahr 1975 eine Perspektive auf die Geschichte des Republikanismus in Europa und Amerika, die die republikanische Theorietradition als Wurzel des heutigen transatlantischen Republikanismus auswies.46 Er sieht die Wirkung des machiavellischen Moments in der örtlichen und zeitlichen Ausbreitung eines „remodeling of the historical self-image“47 im Sinne aristotelischer und machiavellischer Ideen des zoon politikon und des vivere civile. Er fasste seine Untersuchungen zum machiavellischen Moment als eine „tunnel history“ der humanistischen Debatte um die Stabilität des Gemeinwesens auf, von der er sagte:

41 Don Herzog merkt zur Wirkung dieser Revision der machiavellischen Schriften an: „Even a sleepy historiographer of political theory of some future day will notice the most dramatic revision of the last 25 years or so. I refer of course to the discovery – and celebration – of civic humanism. The devilish Machiavelli of Elizabethan times has been gently set aside for ‚the divine Machiavel‘ (...). And historians of political thought have lovingly traced the transmission of civic humanism from Florence to England and America, giving us a brand new past.“ Herzog 1986, S. 473. 42 Vgl. Laborde/Maynor 2008a, S. 3. 43 Hauptvertreter dieser Auffassung der amerikanischen Geschichte war Louis Hartz, der die amerikanische Gesellschaft als wesentlich lockesche beschrieb, nämlich als „individualistic, ambitious, protocapitalist, in a word, ‚liberal‘.“ Rodgers 1992, S. 13. 44 Skinner 1998, S. 110. 45 Pocock 1975. 46 „Pocock’s study helped liberate a generation of American historians and political theorists from the unquestioned and unquestionable assumption that American public philosophy descended directly from the liberal tradition of John Locke and seventeenth-century contractarian and rights theorists.“ Hankins 2003, c2000, S. 2. 47 Pocock 1975, S. 334.

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„It pursued a single theme, that of the vivere civile, and its virtue, to the partial exclusion of parallel phenomena – with the result (...) that it considered the notion of liberty only in its civic sense of the capacity to participate in self-rule and hardly at all in its liberal sense of the enjoyment of one’s own under the protection of law.”48

Das vivere civile definiert Pocock als eine bürgerliche Aktivität, „a way of life given over to the civic concerns and the (ultimately political) activity of citizenship.“49 Die Renaissance wendete den Blick auf die Diesseitigkeit menschlichen und politischen Lebens und machte es deshalb notwendig, die Tugendkonzeption neu zu überdenken. Auf der Suche nach den richtigen Mitteln zur dauerhaften Etablierung und Stabilisierung des vivere civile gehen die Humanisten der Renaissance und in der Folge die Anhänger des Republikanismus auf die Überlegungen des Aristoteles zurück, in welchen Zyklen Verfassungen sich entwickeln und welche Bedeutung die tugendhafte Praxis dabei innehat. Pocock demonstriert, dass die Teilnahme am politischen Leben in der polis von Aristoteles als universale Tätigkeit verstanden werden muss, insofern die polis alle anderen partikularen Gemeinschaften in sich aufnahm und damit gleichbedeutend den gemeinsamen und allgemeinsten Zweck bildete. Die Herausforderung bestand in der Einrichtung einer Regierungsform, in der die Verteilung der Autorität gleichzeitig die Verwirklichung der moralischen Vermögen der Menschen dauerhaft gewährleisten konnte.50 Pocock zufolge sollte die Verfassung des aristotelischen Gemeinwesens so organisiert sein, dass jede individuelle Wertevorstellung in den Gesamtrahmen integriert werden konnte. Diese Vorstellung beeinflusste auch die Humanisten der Renaissance und ihr Bild eines vivere civile, nicht als kontemplatives Leben, sondern als lebendiger Austausch der Bürger untereinander.51 Wesentlich für das säkulare Verständnis des Politischen war der Staat als Resultat menschlicher Interaktion. Für die italienischen Humanisten war deshalb die Frage der richtigen Anordnung der politischen Institutionen von großer Bedeutung, um so dem von Aristoteles vorgestellten und von Polybius an der römischen Geschichte demonstrierten Zyklus der Verfassungsumbrüche zu entkommen. Die aristotelische Politie oder Mischverfassung galt als Ausweg, um dem Zufall (fortuna) durch aktives politisches Handeln entgegentreten zu können. Einige italienische Humanisten, wie Guicciardini, favorisierten eine stark elitistisch geprägte Verfassung für Florenz. Machiavelli hingegen sah Pocock zufolge den Ausweg aus dem geschichtlichen Kreislauf in der Neubegründung der virtù als 48 Pocock 1981, S. 53. 49 Pocock 1975, S. 75–76. 50 „There did exist in the Athenian political tradition means of asserting that the republic was a partnership of all men aimed at the realization of all values. If it was this it was a universal entity; but this assertion rested on the theory that it could achieve a distribution of authority such that every citizen’s moral nature would be fulfilled.“ Pocock übersetzt den herkömmlicherweise als Verfassung übersetzten Begriff der politeia deshalb mit der Form der Verteilung der Autorität „within a universal decision-making process in which all citizens are participant“, Pocock 1981, S. 66, 70. 51 Vgl. Pocock 1981, S. 75.

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„the dynamic spirit of the armed many“.52 Die Militarisierung der Bevölkerung ist das Herzstück des machiavellischen Gemeinwesens, weil die Bürger anders als etwa Söldner ihre Freiheit aus voller Überzeugung gegen außen und innen verteidigen. Eine so verstandene Bürgertugend definiert sich nicht durch Demut, sondern aus dem Sieg über die Gegner der Freiheit. Diese äußerst säkulare Vorstellung eines Gemeinwesens trennte sich vom christlichen Erbe. Pocock weist nach, dass Machiavellis Betonung einer aktiven Bevölkerung und das republikanische Konzept der Mischverfassung sich über England weiterverfolgen lassen. Er sieht zwei prinzipiell im Gegensatz zueinander stehende Traditionen im England des 17. Jahrhunderts. Zum einen die römisch-rechtliche Tradition durch Vertreter der Naturrechtslehre sowie eine aristotelisch-machiavellische Tradition, vertreten vor allem durch die Anti-Feudalisten und Partisanen einer englischen republikanischen Verfassung. James Harrington entwarf in seiner Schrift ‚Oceana‘53 ein Bürgerverständnis, „which depicted the possession of arms as crucial to both the distribution of power and the exercise of civic virtue“.54 Harrington belebte das machiavellische Verständnis vom militarisierten Bürger neu als Kampfansage gegen den Feudalismus. Die Bewaffnung als Schutz gegen Freiheitsbedrohung wurde ausgeweitet auf das Argument, dass Waffenfähigkeit und Besitz von Eigentum (vor allem Land) zusammengedacht werden sollten: „The function of free proprietorship became the liberation of arms, and consequently of the personality, for free public action and civic virtue.“55 Wenn die politische Autorität sich nicht mehr an der Verteilung des Eigentums ausrichte und das Eigentum selbst nicht zum Zweck der Freiheit zur Teilnahme am Gemeinwesen verstanden wird, komme es zum schon von Aristoteles beschriebenen Fehlurteil über Gleichheit und Ungleichheit der Bürger. Umso drastischer zeigte sich die Auswirkung dieses Fehlurteils im zunehmenden Einfluss von Kommerz und Krediten. Pocock demonstriert nun, dass die Anhänger beider Formen von Individualismus, des aristotelisch und des auf Eigentumsschutz im Sinne des Naturrechts verstandenen, einen gemeinsamen intellektuellen Ausgangspunkt hatten. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt war die Frage, wie die Stabilität des Gemeinwesens dauerhaft gewährleistet werden kann. Dabei hatten sie unterschiedliche Vorstellungen über die Verteilung des Landbesitzes und den richtigen Umgang mit der aufkommenden Finanz- und Kreditwirtschaft und der Macht des Geldes hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die Standhaftigkeit der bürgerlichen virtù. Der machiavellische Moment war die Frage nach der Stabilität angesichts sehr unterschiedlicher Ansichten über die Rolle der Kommerzialisierung und der durch Landbesitz geprägten Vorstellung einer Bürgertugend. Die Korruption des Einzelnen, die in England mit der zunehmenden Spezialisierung und Arbeitsteilung und damit durch das Wegdriften von der eigentlichen Rolle des Landbesitzes als Grundlage der Bürgertugend gesehen wurde, wurde im 52 53 54 55

Pocock 1981, S. 232. Harrington 1992. Harrington veröffentlichte ‚Oceana‘ im Jahr 1656. Pocock 1975, S. 385. Ebd., S. 386.

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amerikanischen ideenpolitischen Diskurs aufgegriffen. Die klassische Tugend des Einzelnen als Bedingung des freien Gemeinwesens wurde relativiert vor dem Hintergrund eines modernen, am privaten Interesse ausgerichteten Individuums und einer auf Kommerz und wirtschaftlichem Wachstum gründenden amerikanischen Republik. Pocock hob insbesondere an Thomas Jefferson den Glauben an eine neue Form von Republik hervor, in der Land und Kommerz zusammengedacht werden können. Pocock vollzog anhand der politischen Ideengeschichte der Humanisten nach, wie die Sprache des Humanismus und das positive Verständnis der Freiheit stetig durch das Paradigma des Rechts ausgehölt wurden. Nunmehr stand nicht das Verhältnis der Menschen zueinander, sondern in Bezug auf sich selbst und der ungestörten Verfolgung der eigenen Interessen im Vordergrund. SKINNER UND DIE NEORÖMISCHE KONZEPTION DES FREIEN GEMEINWESENS Der durch diese Schrift in Gang gesetzte Diskurs über die Neuauslegung Machiavellis im Sinne einer humanistischen Politiktradition wurde von Quentin Skinner aufgegriffen und entscheidend weiterentwickelt. Skinner bestimmt die Grundlage des republikanischen Denkens durch den Ansatz „personal liberty can only be fully assured within a self-governing form of republican community“.56 Aus dieser Grundidee folgert er die Pflicht jedes Menschen, um des Schutzes seiner Freiheit willen an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen und dem Gemeinwohl zu dienen. Skinner leitet diesen Bezug aus seiner Interpretation von Machiavellis Freiheitsbegriff in den ‚Discorsi‘ her, den er in Weiterentwicklung von Pococks machiavellischen Moment als die Verknüpfbarkeit von negativer Freiheit und Partizipation am Gemeinwohl darstellt. Grundlage dieses Verständnisses ist die Annahme, dass Machiavelli die Freiheit als „absence of constraint, especially absence of any limitations imposed by other social agents on one’s capacity to act independently in pursuit of one’s chosen goals“57 versteht. Entgegen einem hobbesschen Verständnis von Freiheit als negativ, in dem die zivile Freiheit allein auf dem Schweigen der Gesetze gründet,58 entwickelt Skinner einen republikanischen Freiheitsbegriff. Den Ansatz zur Überwindung des negativen Freiheitsverständnisses entwickelt Skinner durch Rekurs auf Machiavelli und die „neo-roman“59 Theorietradition. Was die Individuen in Machiavellis 56 57 58 59

Skinner 1984, S. 207–208. Ebd., S. 206. Skinner 1998, S. 8–10. Skinner löst sich von Pococks athenisch geprägter Sichtweise auf den Republikanismus und rekurriert auf einen allein römisch geprägten Begriff von Freiheit, wenn er betont, dass Harrington und andere Vertreter des englischen Republikanismus sich vor allem durch Livius, Sallust und Machiavelli beeinflussen ließen. Zu den neo-römischen Denkern zählt er Richard Beacon, Francis Bacon, Sir Philip Sidney, Ben Jonson, Henri Neville, Algernon Sidney, Lord Bolingbroke und Richard Price. Vgl. Skinner 1998, S. 11.

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‚Discorsi‘ Skinner zufolge verbindet, ist die ständige Sorge, dass ihre Freiheit beeinträchtigt oder genommen wird. Die Bedrohung dieser Freiheit erwächst zum einen durch äußere Feinde oder durch übermäßig ehrgeizige Eliten innerhalb des Gemeinwesens. So gelinge es nur in einem freien Gemeinwesen, die Früchte der individuellen Freiheit zu genießen und stetig zu sichern. Ein solche Form von Gemeinwesen könne nur als Republik und nicht als Monarchie bestehen. Innerhalb des republikanischen Gemeinwesens stehen sich Skinner zufolge zwei Gruppen gegenüber. Die Einen, deren Zweck in der Akkumulation von Macht und Ruhm besteht, und die Anderen, die unabhängig von jedem Zwang ihre privaten Zwecke und ihr „quiet life“60 verfolgen wollen. Um die Freiheit beider zu sichern, bedarf es der aktiven Teilnahme an der Regierung des Gemeinwesens durch beide Gruppen: „The liberty of individual citizens depends in the first place on their capacity to fight off ‚servitude arising from outside‘“. Skinner fährt fort: „Personal liberty also depends for Machiavelli on preventing the grandi from coercing the popolo into serving their ends (...) in such a way that each and every citizen is equally able to play a part in determining the actions of the body politics as a whole.“61

Nach Skinner brach Machiavelli mit Ciceros Ansatz, dass sich das Gemeinwohl nur durch eine concordia ordinum, also die Abwesenheit von internen Kämpfen herstellen lasse. Machiavelli setze dem entgegen, „that political action should be judged not by their intrinsic rightness but by their effects.“62 Die Wirkung politischen Handelns sollte demnach in der Ermöglichung von Größe (grandezza) und Ruhm liegen, welche sich wiederum durch einen dauerhaften freien Lebensstil auszeichnen. Zu diesem Zweck, dem Gemeinwohl, trägt der Einzelne nicht durch Befolgung seiner privaten Interessen bei, sondern durch tugendhaftes Handeln im Sinne des Gemeinwohls. Ein korrupter Bürger ist demzufolge derjenige, der die eigenen Ambitionen über die des Allgemeinen stellt und sich dadurch abhängig macht. Das über Machiavelli erschlossene Argument zur republikanischen Freiheit lautet dementsprechend, dass eine Verpflichtung zur Partizipation am Gemeinwesen notwendig ist, um der Verpflichtung zur Befolgung eines anderen Willens als des eigenen zu entgehen oder entgegenzutreten. Skinner verweist auf diesen Leitgedanken der Kritiker der negativen Freiheit und sieht dadurch ihren radikalen Beitrag zur englischen Revolution: „It is only possible to be free in a free state.“63 Bedeutsam ist, so fügt Skinner hinzu, dass der Bewohner des Gemeinwesens sich den Gesetzen unterwerfen muss. Nur so wird seine Freiheit vor Beherrschung dauerhaft gesichert. Jeder unrechtmäßige Eingriff in diese Freiheit darf demnach sanktioniert werden. Skinner stellt zurecht die Frage, was die Neo-Römer dann von den Denkern des Liberalismus unterscheide. Der neo-römische Ansatz sieht

60 61 62 63

Skinner 1984, S. 209. Ebd., S. 213–214. Skinner 1990, S. 136. Skinner 1998, S. 60.

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die Freiheit durch jede Form von Abhängigkeit gefährdet.64 Der klassisch, liberalistische Ansatz hingegen rechtfertige Formen des Eingriffs, solange sie nicht gewaltsam oder durch Androhung von Gewalt geschehen.65 Die republikanische Formel der Abwesenheit von jeglicher Form von Eingriff geht über den negativen Freiheitsbegriff hinaus, weil er jede Form von Eingriff verbietet (auch wenn sie die Freiheit aller steigern würde). Die republikanische Freiheit vereint die negative Konzeption von Freiheit mit einem positiven Gemeinwohlverständnis insofern, als sie die Verantwortung für das freie Gemeinwesen in die Hände aller legte. Die Folgen dieser Sicht liegen allerdings nicht in einer stärkeren politischen Partizipation der Bürger. Es bleibt kaum berücksichtigt, inwiefern das republikanische Modell der Neo-Römer die Beteiligung der Menge beinhaltet und wie sich das schon bei Machiavelli identifizierte Gleichgewicht zwischen den Gruppen der Adligen und des Volkes genau herstellt. PETTIT UND DIE FREIHEIT ALS NICHT-UNTERWERFUNG Philip Pettit formt im Rückbezug auf die römisch geprägte Traditionslinie des Republikanismus eine normative Doktrin republikanischen Denkens, die die historisch bestimmten Ansätze Pococks und Skinners systematisch fundiert. Pettit unterscheidet sich von Skinner im Inhalt des Republikanismus. Skinner interpretiert den Republikanismus als Nicht-Beherrschung bzw. Nicht-Abhängigkeit. Pettit hingegen differenziert das republikanische Freiheitsverständnis der NichtBeherrschung Skinners, indem er jede Form von Eingriff auf willkürlicher Basis als Unfreiheit deklariert. Er definiert diese Form von Freiheit als NichtUnterwerfung („non-domination“): „One agent dominates another if and only if they have certain power over the other, in particular a power of interference on an arbitrary basis.“66 Skinner hingegen expliziert das Freiheitskonzept sowohl als Nicht-Eingriff als auch als Fehlen von jeglicher Form von Abhängigkeit. Pettit fasst den Unterschied wie folgt zusammen: „According to Skinner’s account, republican freedom requires both noninterference and nondomination. According to mine, formal republican freedom requires only the absence of domination“.67 Grundlegend für die Aufschlüsselung dieses Paradigmas ist der Grundsatz, dass Freiheit als Kennzeichen der gesamten Strukturen des Gemeinwesens zu verstehen ist und nicht als Ergebnis auch unfreier Strukturen. Soweit gleichen sich Skinner und Pettit.

64 „The distinctive contention uniting these various strands of thought is that the mere presence of arbitrary power has the effect of undermining political liberty. (…) The basic argument on which republican theorists take their stand is that the presence of arbitrary power within civil association has the effect, as they lie to phrase it, of converting its members from the status of free-men into that of slaves.“ Skinner 2008, S. 85. 65 Skinner 1998, S. 84. 66 Pettit 1997b, S. 52. 67 Pettit 2002, S. 343.

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In einem Verhältnis der Beherrschung stehen sich Herrscher und Beherrschter, oder in den Worten Pettits Herr und Sklave,68 gegenüber. In einem solchen Verhältnis kann der Herr willkürlich in die Belange des Sklaven eingreifen (interference) und ihn durch Anwendung von Zwang oder Androhung von Gewalt nötigen. Er kann aber auch davon ablassen (non-interference), was nach dem Ansatz der negativen Freiheit von Isaiah Berlin bedeuten würde, dass die Freiheit des Sklaven zugenommen hat. Pettit argumentiert nun, dass in einem Regime der „non-domination“, in dem kein Herren-Sklaven-Verhältnis besteht, niemand willkürlich eingreifen darf. Er zeigt aber auch, dass ein Eingreifen (interference) in einem solchen Regime der „non-domination“ möglich ist. Ein solches Verständnis hatte Pettit zufolge die Tradition des römisch geprägten Republikanismus. In einem von Gesetzen regierten Gemeinwesen werden Eingriffe nicht als Unfreiheit aufgefasst, sondern als die Interessen und Ansichten der Betroffenen in sich aufnehmend. Die Betroffenen befolgen diese Gesetze, ohne sich in Unfreiheit zu wähnen. Eine Wiedergutmachung für die von den Eingriffen Betroffenen mit dem Ziel der Erhöhung ihres Maßes an Freiheit ist in diesem Ansatz nicht enthalten. Pettit sieht die Vorteile des republikanischen Ideals der Nicht-Beherrschung in der Einschränkung willkürlichen Zwangs. Die Maximierung von NichtBeherrschung zieht eine größere Auswahl an Möglichkeiten nach sich, unter denen die Menschen entscheiden können. Gleichzeitig schränkt sie die Unsicherheit ein, dass ein nicht abgesprochener oder unvorhergesehener Eingriff in diese Möglichkeiten stattfindet. Ein weiterer Vorteil besteht nach Pettit darin, dass vorauseilende Ehrerbietung oder gar strategische Schutzmaßnahmen eingeschränkt werden können. Zudem fördere „non-domination“ ein gemeinsames Verständnis unter den Menschen über die Verteilung von Macht und Einfluss.69 Die republikanische Verfassung muss Pettit zufolge hauptsächlich zwei Ziele verfolgen: Die Eingrenzung von Willkür und Korruption und eine Gesetzgebung im Sinne und Interesse der betroffenen Bürger. Drei Bedingungen tragen nach Pettit dazu bei, dass sie gelingt. Es müsse ein Reich des Gesetzes und nicht der Menschen sein, die Gesetzgebungsmacht sollte auf verschiedene Personen und Parteien verteilt sein und schließlich sollten die Gesetze so wenig wie möglich durch den Mehrheitswillen veränderbar sein.70 Pettit fügt diese Elemente in eine Verfassungskonzeption, die die Wahlmöglichkeiten aller steigert. „Whether the decisions are taken in the legislature, in the administration, or in the courts, they must bear the marks of our ways of caring and our ways of thinking.“71 Diesem hohen Anspruch wird das republikanische Regime nur gerecht, wenn es die Einbindung der Bürger in die Gesetzgebung sicherstellt. Pettit sieht dies nicht durch ein elektorales oder partizipatives Demokratiemodell gewährleistet, sondern durch eine elektorale und streitbare Demokratie (democracy, electoral and contestatory). Er definiert die streitbare Demokratie als ein Verfahren, „that would enable 68 69 70 71

Pettit 1997b, S. 22. Die drei Vorteile vgl. Pettit 1997b, S. 85 ff. Vgl. Pettit 1997b, S. 173. Ebd., S. 184.

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people, not to veto public decisions on the basis of their avowable, perceived interests, but to call them into question on such a basis and to trigger review.“72 Die Form des öffentlichen Mitwirkens sieht Pettit in Deliberationsstrukturen, die die Gesetzgebung begleiten. Sie ist definitiv keine Form der Mehrheitsbildung wie im klassischen Sinn der Demokratie. Der zentrale Stellenwert im republikanischen Partizipationsverständnis kommt nicht der Menge der Bürger zu, auch nicht möglichen Formen von kollektiver Willensbildung. Es geht letztlich nicht um die Verwirklichung des Willens, sondern um die Bedingungen vernünftigen Entscheidens „to let the requirements of reason materialize and impose themselves“.73 RESÜMEE Das Prinzip des zoon politikon wurde von Aristoteles mit einem freien Gemeinwesen in eins gesetzt. Kennzeichnend für ein solches ist nach Machiavelli, dass die Bürger nicht nur wehrhaft ihre Freiheit verteidigen, sondern auch die Gesetze der republikanischen Verfassung befolgen. Beide Autoren weisen den Bürgern ein weitreichendes politisches Urteilsvermögen zu, da sie das freie Bürgersein entweder mit der Fähigkeit zum Regieren oder mit der misstrauischen Beaufsichtigung der politischen Eliten verbinden. Die heutige Linie des Neorepublikanismus interpretiert das freie Bürgersein aufbauend auf Aristoteles und vor allem auf Machiavelli als Fundament staatlicher Organisation und bürgerlicher Partizipation. Im Zentrum bei Pocock stehen die Untersuchung des ideengeschichtlichen Zwiespalts zwischen verschiedenen Konzeptionen von Tugend und Freiheit als machiavellische Momente sowie die Herauslösung des republikanischen Freiheitsverständnisses aus den geschichtlichen Diskursen zur heutigen Verwertung. Das Vorhaben von Skinner und Pettit bestand in der Kritik des negativen Freiheitsprinzips und der Geschichtsvergessenheit des heutigen Liberalismus. Die neorepublikanische Herausforderung ergibt sich aus der Bestimmung eines Freiheitsbegriffs, der die Teilhabe der Bürger am politischen Gemeinwesen einschließt, ohne jedoch eine kommunitaristisch geleitete positive Freiheit zu etablieren. Die Vertreter des Neorepublikanismus zielen auf die Bestimmung einer alternativen Form von Freiheit, die zum einen nicht durch eine spezifische Form des guten Lebens definiert ist und zum anderen die Unzulänglichkeit des negativen Freiheitsbegriffs korrigiert. Aufbauend auf Pococks aristotelisch, humanistisch geprägten Studien entdecken Skinner und Pettit den Freiheitsbegriff bei Machiavelli und der klassischen republikanischen Theorietradition römischen Ursprungs. Er beinhaltet eine bürgerliche Freiheit der Nicht-Unterwerfung, der rechtlichen und institutionellen Verhinderung von Willkür und Korruption sowie der Förderung vernünftigen Entscheidens in politischen Angelegenheiten. Der Sinn bürgerlichen Partizipierens ergibt sich in erster Linie aus der effektiven Überwachung 72 Pettit 1999, S. 179–180. 73 Pettit 1997b, S. 201.

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politischen Handelns. Kollektives politisches Handeln zielt auf die Förderung richtiger Beratschlagung darüber, was für die Erhaltung der Freiheit aller zuträglich ist. Es wird betont, dass der Schlüssel zu dieser Partizipation vor allem in der Etablierung starker rechtsstaatlicher Strukturen liegt. Denn die Hauptherausforderung liegt in der Verhinderung jeglicher Form potenzieller Willkürhandlungen sowohl durch autokratisch gesinnte Herrscher als auch durch Gruppierungen innerhalb der Zivilgesellschaft. Dem Vorwurf, ihre Theorie übernehme neben dem Freiheitsbegriff auch den stark elitären Charakter des klassischen republikanischen Denkens, begegnen die Neorepublikaner mit dem Hinweis darauf, dass eine Freiheit der Nichtunterwerfung einen Elitismus nicht mitdenkt. Und dennoch stellt sich angesichts dieser Verfassungsordnung die Frage, wie sich die republikanische Freiheit ungeachtet etwa der sozioökonomischen Kluft zwischen Armen und Reichen etablieren lässt.74 Die Vertreter der neo-republikanischen Theorien stemmen sich gegen einen popularen Partizipationsgedanken zugunsten eines betont vernunftgeleiteten Politikverständnisses mit einem rechtsstaatlich angelegten institutionellen Design. In welchem Rahmen die Gruppe der Schlechtergestellten in der Gesellschaft auf ihre Belange aufmerksam machen und zur Besserung beitragen können, ist in diesem Arrangement von ihrer Beteiligung an der Gesetzgebung abhängig. Die bürgerliche Partizipation zur Verteidigung und Förderung der Freiheit vor Willkür zielt in erster Linie auf die uneingeschränkte Anerkennung der rechtsstaatlichen Normen und ihrer Institutionen in allen gesellschaftlichen Belangen. Der bestechende Grundgedanke daran ist, dass jeder Bürger im Schutz durch die staatlichen Strukturen und durch seinen kontestatorischen Einfluss auf die Gesetzgebung zu seiner Verwirklichung kommen kann, ohne die Freiheit seiner Mitbürger einzuschränken. Die eingangs gestellte Frage, warum Bürgerinnen und Bürger sich am politischen Prozess beteiligen sollten, findet eine neorepublikanische Antwort in der Furcht vor staatlicher Willkür. Aus Furcht vor Willkür entwickelt sich die Einsicht, dass Beteiligung sich lohnt. LITERATUR Ackrill, J. L., 1975: Aristotle on eudaimonia. Dawes Hicks Lecture on Philosophy. In: Proceedings of the British Academy, London, S. 3–24. Arendt, Hannah, 1990: On revolution, New York. Aristoteles, 1985: Nikomachische Ethik. 4. Aufl., Hamburg. Aristoteles, 2003: Politik, 9. Aufl., München. Berlin, Isaiah, 1969: Four essays on liberty, London, New York etc. Dagger, Richard, 1997: Civic virtues. Rights, citizenship, and republican liberalism, New York. Dunn, John, 2000: The cunning of unreason. Making sense of politics, London. Euben, J. Peter, 1978: On political corruption. In: The Antioch Review 36 (1), S. 103–118. Gebhardt, Jürgen, 1995: Die Idee des Bürgers. In: Klaus v. Beyme und Claus Offe (Hrsg.): Politische Theorien in der Ära der Transformation, Opladen, S. 349–361. Gebhardt, Jürgen, 1998: Die vielen Gesichter und Traditionen des Republikanismus. In: Klaus Dicke und Klaus-Michael Kodalle (Hrsg.): Republik und Weltbürgerrecht. Kantische Anre74 Vgl. McCormick 2003.

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KOMMUNITARISTISCHE BEGRÜNDUNGEN DEMOKRATISCHER PARTIZIPATIONSFORMEN Gisela Riescher Städte und Gemeinden sind Lebensräume, in denen sich heute mehr denn je gesellschaftliches und politisches Leben verdichtet. Das Leben in der Stadt ist gekennzeichnet durch die räumliche Enge der Baustruktur und eine Straßenführung, die manchmal nur Gassen ermöglicht, durch soziale Nähe, die nicht zuletzt durch konzentriertes Wohnen entsteht. Hier gilt es, die mit dem Stadt- und Gemeinderecht verbundenen kommunalen Pflichtaufgaben zu erfüllen, die seit jeher Wasser, Feuer, Friedhöfe, Verkehrswege, Ausbildungsstätten und mancherorts auch Hilfe in sozialer Not umfassen. Dazu kommen räumlich konzentrierte Versorgungsfunktionen wie das Marktrecht, Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser, frühkindliche Erziehungs- und weiterführende Bildungsangebote. Zu Städten und Kommunen, die Zentrumfunktionen erfüllen, gehören Arbeitsplätze, aber auch Vergnügungsangebote wie Theater, Konzerte, Jahrmärkte, Sportplätze und Diskotheken. In präferierten Landschaften spielt der Fremdenverkehr eine bedeutende Rolle. All dies stellt das Zusammenleben im kommunalen Raum vor besondere Aufgaben, die als Anforderungen an die Menschen, die hier leben, und an die Stadt- und Gemeindepolitik gerichtet sind. Wodurch aber zeichnet sich eine „gute“ Stadtpolitik aus? Geht es allein um dezentrale Aufgabenerfüllung, finanzielle Leistungsstärke und Verwaltungseffizienz oder zeichnet sich eine „gute“ Stadtpolitik nicht vielmehr dadurch aus, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern den kommunalen Raum zu einem Partizipationsraum macht? Mit einem kommunitaristischen Blick, der hier eingenommen werden soll, wird sich erweisen, dass beides nicht voneinander zu trennen ist. Kommunalpolitik ist eine anspruchsvolle Herausforderung, die häufig im politischen und finanziellen Schatten von regionaler und staatlicher Politik steht. Und obgleich Bürgerinnen und Bürger zunehmend weniger an Kommunalwahlen teilnehmen,1 spürt man in der lokalen Politik am unmittelbarsten, wenn sie nicht 1

Angelika Vetter 2008, S. 50, zeigt in einer Studie auf, dass seit den 80er Jahren „ein nahezu dramatischer Rückgang lokaler Wahlbeteiligung zu konstatieren [ist]. Seit Gründung der Bundesrepublik lag die lokale Wahlbeteiligung immer unter der Beteiligungsquote von Bundestagswahlen. Sie betrug Anfang der 50er Jahre im Durchschnitt der Bundesländer etwa 77 Prozent. Und noch zu Beginn der 90er Jahre nahmen durchschnittlich 70 Prozent der Bürger an den Wahlen zu lokalen Vertretungskörperschaften teil. Heute dagegen beträgt die Wahlbeteiligung durchschnittlich nicht einmal mehr 50 Prozent.“ Nach der empirischen Überprüfung verschiedener Hypothesen (S. 57–63) bleibt am Ende aber doch offen, „warum lokale Wahlen zunehmend weniger Bürger an die Wahlurnen locken“, Vetter 2008, S. 69. Doch auch – und

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funktioniert: Der Müll bleibt auf den Bürgersteigen liegen, die Schulgebäude verwahrlosen, Schlaglöcher auf den Straßen erschweren die Durchfahrt, Bausünden verunstalten das Stadtbild, Betriebe wandern ab und ohne sportliches und kulturelles Angebot kann es schnell langweilig in einer Stadt werden. Soll eine Stadt ein attraktiver Lebensort ihrer Bürger sein, so ist ein gewisses Maß an kommunalpolitischer Funktionserfüllung notwendig. Aber eine gut funktionierende Stadtverwaltung ist das eine, Stadtpolitik als lokale Selbstverwaltung – die Betonung liegt hier auf Selbst – das andere. Sie bezieht die Bürgerinnen und Bürger im Sinne demokratischer Selbstverantwortung mit ein und ermöglicht bürgerschaftliche Partizipation; nicht nur als Steuerzahler – dies sicher auch, um die kommunalen Pflichtaufgaben und die freiwilligen Aufgaben finanzieren zu können –, vor allem aber als engagierte, als aktive, als beteiligte, aber auch als kritische Bewohner ihrer Stadt – auch über den Wahltag hinaus. Lokale Bürgerbeteiligung ist folglich eine Anforderung an die Stadtpolitik und die Bürger einer Stadt gleichermaßen. Wenn ich im Folgenden diese politischen Anforderungen an eine Stadt mit dem Begriff der Heimat verbinde und vom Begriff der Heimat her beschreibe, dann deshalb, weil eine kommunitaristische Interpretation zeigen wird, dass ein gelingendes Leben in der Stadt die Stadt sowohl als politischen Raum wie auch als Lebensform der Bürgerinnen und Bürger beansprucht. Der Begriff Heimat meint hier nicht einen Ort der gefühlsbetonten Sehnsucht, der idyllischen Kindheitserinnerung oder einer vormodernen Enge. Die Heimat ist ein Ort der Vertrautheit, sie ist mehr als ein zufälliger Aufenthaltsort, sie ist der Lebensort, an dem man sich zuhause fühlt, an dem man bleiben, von dem man aber auch weggehen und an den man wieder zurückkehren kann. Die Stadt als politische Heimat wird hier zu beschreiben sein als politischer Raum, der Schutz und Verhaltenssicherheit bietet, der Identität und Geborgenheit ermöglicht und der seinen Bürgern die Chance einräumt, das eigene Leben aktiv zu gestalten. 1. HEIMAT ALS „GELEBTER“, „LEBENSWELTLICHER“ UND AKTIV ERWORBENER RAUM Man könnte auch andere Beschreibungen wählen und Heimat ersetzen durch „gelebter Raum“: Von gelebtem Raum sprechen Soziologen und Philosophen wie Minkowski2 und Merleau-Ponty3 in Abgrenzung zum mathematischen oder physikalischen Raum. Gemeint ist folglich ein Raum, der bewohnt ist, in dem Wesen

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gerade – im lokalen Bereich wird der Rückgang der Wahlbeteiligung auf soziale Mobilisierungsprozesse zurückgeführt, wie z. B. die Auflösung traditioneller Milieus, die zunehmende Individualisierung und Mobilisierung der Bevölkerung. Damit verändern sich „Werte und Einstellungen der Bürger und ihre Beziehung zu gesellschaftlichen Großgruppen ebenso wie das Verhältnis zur Politik selbst“, Vetter 2008, S. 69. Vgl. Minkowski 1971, S. 90 sowie Minkowski 1972, S. 232 ff. Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 326–329.

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leiblich verankert sind.4 Auch Hans-Otto Bollnow spricht vom gelebten Raum und meint damit die doppelseitige Beeinflussung von Mensch und Raum: Die seelische Verfassung eines Menschen bestimmt für ihn den Charakter des umgebenden Raumes (Angst oder Trauer z. B. lassen die Landschaft eng und düster erscheinen) und umgekehrt wirkt der Raum zurück auf den seelischen Zustand des Menschen: Kirchenräume vermitteln eine besondere Stimmung, Farben ebenso.5 Statt Heimat ließe sich der Begriff „Lebenswelt“ verwenden. Diesen Begriff hat Edmund Husserl als Analyseform geprägt und nach ihm verwenden ihn Phänomenologen wie Schütz und Luckmann, Waldenfels und Gander, um die Phänomene und Strukturen zu beschreiben, die die natürliche und alltägliche Welt ausformen als erfahrene und erfahrbare Welt. Husserl spricht auch von der „alltäglichen Lebenswelt“.6 Es ist dies die uns vertraute Welt, die der unmittelbaren Erfahrung zugänglich ist. Alltäglich ist sie in dem Sinne, dass wir sie als selbstverständlich erleben. Dieses Vertraute und Selbstverständliche wird uns oft erst dann bewusst, wenn es verlorengegangen ist und wir es vermissen. In Anlehnung an kulturanthropologische Forschungen hätte ich auch den Begriff des „Territoriums“ statt den der Heimat verwenden können. Ina Maria Greverus spricht vom territorialen Menschen und beschreibt ihn damit als wohnendes Wesen, das einen besonderen Bezug zur ihm vertrauten Umwelt hat.7 Der Raum wird zum Identitätsraum, in dem der Mensch Antwort auf die Frage erhält, wo er hingehört. Um einen Wohnort als Heimat zu bezeichnen, gehören folglich die Identifikation mit dem Ort dazu, das Gefühl der Dazugehörigkeit und die Möglichkeit sich zu beteiligen an den Angelegenheiten, die das Wohnen, Arbeiten und Leben dort betreffen. Ich habe das andernorts als Aktivität bezeichnet.8 Greverus bezeichnet es als Aktion – und meint: Der Ort, an dem wir leben, muss es uns auch ermöglichen, arbeiten zu können und Ruhe zu finden, Familien zu gründen und Kinder erziehen zu können, Wohnraum zu schaffen und die Freizeit zu gestalten, praktische und ästhetische Stadtentwürfe mitzuplanen und hässliche Bau- sowie Umweltsünden zu vermeiden, Straßenführungen durch den Vorgarten zu verhindern, wenn es andere Möglichkeiten gibt, Verantwortung zu tragen, politisch Verantwortliche zu bestimmen und zu unterstützen, Feste gemeinsam zu organisieren und zu feiern und vieles mehr – je nach eigenen Neigungen, Bedürfnissen und Fähigkeiten in Einklang mit den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihnen.9 Heimat, um den Begriff noch einmal politisch zu fassen, ist also etwas, das mit Bernhard Waldenfels gesprochen „erworben und gestaltet und nicht bloß vor-

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Vgl. auch die Anwendung dieser These auf die Stadt als einem „gelebten Raum“ bei Hasse 2002. Vgl. Bollnow 21971, S. 18 ff. Husserl 1977, S. 49, zitiert nach Gander 2001, S. 118. Vgl. Greverus 1972; Greverus 1979. Vgl. Riescher 1988, S. 72. Vgl. Greverus 1972, S. 17 und 28.

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gefunden wird.“10 Denn, so heißt es dort ebenso: „Eine juristische Aufenthaltserlaubnis schafft noch keine Heimat. Heimat wird nicht von Meldeämtern verwaltet.“11 In diesem Sinne ist Heimat ein Raum mit politischen Eigenschaften, der aktiv und partizipatorisch mitgestaltet werden kann. Dazu gehören gerade in Städten und Gemeinden die Erhaltung historischer Bauformen und Plätze, ohne sich aber neuen Wohnformen, Arbeitsplätzen und funktionalen Straßenführungen zu verweigern. Der Einzug von Autos in spätmittelalterliche Städte hat diese ebenso verändert wie ihre spätere Verbannung aus den Innenstädten, als man Fußgängerzonen schuf. Straßenführungen um die Stadt, Industrie- und Gewerbeansiedlungen und die Ausweisung neuer Wohngebiete sind besondere Herausforderungen. Für Bürgerinnen und Bürger einer Stadt sind dies Bereiche, die sie aktiv mitentscheiden können sollten, damit ein Ort, eine Stadt, eine Gemeinde ihre Heimat bleiben kann. Aber wenn Heimat in diesem Sinne aktiv erworben und gestaltet werden kann, dann kann sie auch verloren gehen, indem sie fremd wird, indem man sich nicht mehr mit ihr identifizieren kann und indem man weggeht, um nach neuen Möglichkeiten zu suchen, nach einem neuen Ort, der Aktionsmöglichkeiten bietet und auf längere Sicht Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit erwarten lässt. Damit werden „Wahlheimaten“, „zweite Heimaten“ möglich, die erworben werden und angeeignet sind, die bewusst gewählt werden und die wir uns zur Heimat machen. Aber, um noch einmal mit Bernhard Waldenfels zu sprechen, beliebig viele Heimaten gibt es nicht.12 2. BÜRGER ALS IM KOMMUNALEN RAUM ÖFFENTLICH HANDELNDE Der kommunale Raum als Heimat der Bürger zeigt sich damit in seiner politischen Implikation. Der Begriff des Bürgers, wie Manfred Riedel im historischen Lexikon der Geschichtlichen Grundbegriffe herausarbeitet, findet sich erst im Spätmittelalter.13 Die Bürger traten zwischen Rittern und Bauern in Erscheinung, wie ein Zitat von Oswald von Wolkenstein belegt, der bei der Beschreibung von Streitigkeiten von einem purger und einem hofmann berichtet. Riedel schreibt: „Der Rechtsbegriff des Bürgers erwies sich als sehr vielschichtig und von Stadt zu Stadt verschieden, Voraussetzung für das Bürgerrecht bildete der Besitz von Grund und Haus in der Stadt“.14 Stadtsässigkeit, wirtschaftliche und politische Stellung erweisen sich als untrennbar verbunden. Etwa zur gleichen Zeit schrieb Marsilius von Padua in seiner Schrift Defensor pacis („Verteidiger des Friedens“, 1324), dass die besten Gesetze allein von der Gesamtheit der Bürger ausgehen können: „Also kommt es der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit aus-

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Waldenfels 1985, S. 199. Ebd., S. 199. Vgl. ebd. Vgl. Riedel 1972, S. 677. Ebd., S. 676–677.

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schließlich zu, Gesetze zu geben oder zu beschließen.“15 Marsilius von Padua bezog sich damit auf den reflexiven Bürgerdiskurs der griechischen Philosophie und das dort entfaltete Konzept des zoon politikon, das besagt, dass „der Mensch nur in der Polis [dem Stadtstaat] seine Humanität vollgültig zu aktualisieren vermöge.“16 Aristoteles schreibt im dritten Buch der Politik, es sei die Tugend des Bürgers, gut zu regieren und gut regiert werden zu können: „So ist denn auch bei den Bürgern, mögen sie auch verschieden sein, die Erhaltung der Gemeinschaft ihr gemeinsames Werk, und diese Gemeinschaft ist eben die Staatsverfassung.“17 Der Bürger der griechischen Polis agierte mit anderen freien Bürgern, die politisch die gleichen Rechte besaßen, im öffentlichen Raum. In der politischen Theorie der Antike ist Gleichheit keine soziale Forderung. Es geht um partizipatorische Gleichheit, um die Bürger, die als Freie und Gleiche in den öffentlichen Raum der Polis, in die politische Sphäre des Stadtstaates treten. Der Raum des Privaten, des Hauses und des Wirtschaftens dagegen ist bestimmt von Ungleichheit, hier herrschen hierarchische Strukturen: Herr und Sklave, Mann und Frau und Kinder. „Die Gleichheit, an der alle Athener teilhaben, wird von den antiken Autoren übereinstimmend als die Grundidee der Demokratie betrachtet“.18 Man behandelt sie nicht als besonderes, erklärungsbedürftiges Phänomen, sondern betrachtet sie als natürlichen, selbstverständlichen Bestandteil des Bürgerseins. Gleichheit bezieht sich auf die Menge, die herrscht, auf die Bürger, und an ihr haben Arme und Reiche ohne Unterschied des Standes oder der Bildung Anteil. „Gleichheit als das die Demokratie konstituierende Prinzip meint vielmehr die Beteiligung aller am öffentlichen Leben, also die politische Gleichberechtigung.“19 Dabei geht es um die Mitsprache in Rat und Volksversammlung, denn in der Demokratie geht es um die gemeinsame Beratung und die Teilhabe an den beratenden Versammlungen, um das Mitreden. An diese aristotelische Grundlegung des bürgerschaftlichen Partizipationsbegriffes als Tugend und als Pflicht der Gleichen und Freien in der Polis schließt Hannah Arendts Bestimmung des Politischen als Handeln an: „Nur ein Privatleben führen heißt in erster Linie, in einem Zustand leben, in dem man bestimmter, wesentlich menschlicher Dinge beraubt ist.“20 Das heißt, so fährt sie andernorts fort, dass sich dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, „eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz erschließt, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen ‚Glück‘ gehört.“21 Karl-Heinz Breier bindet Hannah Arendts Begriff des Politischen an die Existenz des öffentlichen Raumes, wobei die politische Partizipation des handelnden Bürgers bei Arendt diesen Raum des Öffentlichen erst konstituiert: 15 16 17 18 19 20 21

Marsilius von Padua, zitiert nach Hofmann/Riescher 1999, S. 32–33. Gebhardt 1996, S. 352. Aristoteles 2006, S. 84 (III 1276 b 26). Bleicken 1995, S. 340. Ebd., S. 341. Arendt 21981, S. 57. Hannah Arendt im Interview mit Adalbert Reif 41981, S. 109.

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Gisela Riescher „Im Politischen zeigen sich die unterschiedlichen Sichten auf die Welt, und sie können sich nur eröffnen, wenn handelnde und sprechende Menschen in all ihrer Pluralität dafür Sorge tragen, einen Handlungs-, Urteils- und Erinnerungsraum zu gründen und zu bewahren, der den weltbezogenen menschlichen Fähigkeiten Raum gibt, ja der es den Menschen ermöglicht, als politische Wesen in Erscheinung zu treten. Jenseits aller Notwendigkeiten entfaltet sich das Politische, wenn es Räume, Einrichtungen, Institutionen gibt, in denen sich Menschen als weltorientierte Bürger, denen an der Qualität ihrer Welt sowie an der Qualität ihrer Bezüge untereinander gelegen ist, verbinden können.“22

3. DIE KRISE DER KOMMUNALEN BÜRGERBETEILIGUNG In diesem Aufeinanderangewiesensein von politischem – hier kommunalpolitischem – Partizipationsangebot und „Bürgertugenden“ formuliert sich ein anspruchsvoller normativer Bürger- und Partizipationsbegriff, der – so zeigen empirische Analysen – der politischen Wirklichkeit nicht bedingungslos standhält. Empirische Integrations- und Partizipationsgradmessungen weisen gerade auch auf kommunaler Ebene zunehmend apolitische Bürger nach.23 Die empirisch gemessene Bürgerbeteiligung zeigt uns eher einen kritischen Konsumenten der kommunalen Politik, den Benjamin Barber nicht mehr als Bürger, nicht mehr als Citizen, sondern als privaten Klienten bzw. Konsumenten überzeichnet: „The modern privatized client-consumer who demands his rights, sells his services, contracts his relationships, votes his interests, and cost-analyzes his life plan is a man who does not exist for others.“24 Barbers Anspruch an die Bürger einer „starken Demokratie“ – so seine partizipatorische, die magere liberale Demokratie ablösende Politikform – ist eine Form der „Bürgerbeteiligung [, die] alle einbezieht […], denn der ‚Andere‘ ist nur ein Konstrukt, das für ein Individuum erst wirklich wird, wenn es ihm unmittelbar in der politischen Arena begegnet.“25 Rechtlich gesehen bedeutet ja Bürger einer Stadt zu sein zunächst nicht viel mehr und nicht viel weniger als Wohnrecht zu haben und steuer- und abgabenpflichtig zu sein, je nach Kommunalrecht den geltenden Rechten und Pflichten unterworfen zu sein und als politisches Recht das aktive und passive Wahlrecht zu haben. Darüber hinaus aber und vorrangig leben die meisten Menschen heute ihr privates Leben, sei es in der Familie, in der Arbeit, in der Freizeit. Sie verfolgen individuelle Lebensziele und sehen es häufig als größtes Glück, nicht, wie bei Hannah Arendt hervorgehoben, öffentlich zu handeln im Sinne von politischer 22 Breier 2001, S. 81. 23 Der Sammelband von Angelika Vetter (2008) über die „Erfolgsbedingungen lokaler Bürgerbeteiligung“ zeigt in verschieden Beiträgen die Diskrepanz zwischen dem normativen Anspruch und den empirischen Fakten auf. Neben der bereits in Fußnote 1 konstatierten Abnahme der Wahlbeteiligung zeigen auch Analysen über neue partizipative Arrangements, wie z. B. Geißel 2008, S. 30–43 im genannten Sammelband oder auch der Beitrag von Gohl/Wüst 2008, S. 259–279, wie voraussetzungsvoll kommunalpolitische Beteiligung ist und welch geringe Effekte gemessen werden können. 24 Barber 1984, zitiert nach Gebhardt 1996, S. 354. 25 Barber 1994, S. 149.

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Aktivität, sondern unabhängig von der Familie, von Freunden und der Gemeinschaft den eigenen Interessen nachgehen zu können und sich deren Forderungen zu entziehen. Florian Illies, ehemals Kulturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, drückt in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch über die „Generation Golf“ diese individualistische Haltung, die er sich und jenen, die sein Lebensgefühl teilen, zuschreibt, so aus: „Wir lernten […] fürs Leben, unser Hauptfach hieß Karriere […]. Zu kämpfen […] lohnt sich vor allem gegen die Spaßfeindlichkeit der Gesellschaft. […] [D]eutsche Innenpolitik interessiert uns nur, wenn die Werbungskostenpauschale gesenkt oder andere Spesenabrechnungen gefährdet sind.“26

Diese apolitische Lebensform, die Bürgerinnen und Bürger zu Zuschauern einer output-orientierten Politik macht, wird in der kommunitaristischen Kritik vor allem als Resultat der vorherrschenden liberalen und liberalistischen Konzeptionen des Staates beschrieben. Nicht die Community, die Gemeinschaft, das Gemeinwesen und die bürgerschaftliche Beteiligung stehen im Mittelpunkt des liberalen Mainstream-Denkens und -Forschens, sondern die Privatsphäre und vor allem die ökonomischen Interessen der Bürger. In ihrer Diagnostik der Moderne sehen die kommunitaristischen Kritiker vor allem die Dominanz des liberalen Freiheitsbegriffes als Ursache des Rückzugs der Bürger vom gemeinschaftlichen politischen Handeln an. Wenn die Freiheit im privaten, im individuellen Wohlergehen und wirtschaftlichen Erfolg gesucht wird, wird der Bereich des Privaten zum Raum einer vermeintlich freiheitlichen Selbstverwirklichung. „Mit Freiheit ist gemeint von anderen in Ruhe gelassen zu werden, nicht den Werten, Ideen, Lebensformen anderer unterworfen und weder in Beruf und Familie noch im politischen Leben willkürlicher Autorität ausgesetzt zu sein.“27 Solche und viele ähnliche Beschreibungen von Individualismus anstelle politischer Partizipation erhielt ein sozialwissenschaftliches Forschungsteam, das in den 80er Jahren in den USA die amerikanische Mittelschicht erforschte. Robert Bellah, Ann Swidler, Richard Madson, Sven Tipton und William Sullivan verfolgten ein interessantes Projekt, das Thesen in der Mittelpunkt stellte, die Alexis de Tocqueville 150 Jahre zuvor nach seiner Reise durch Amerika formulierte: die zerstörerische Kraft des Individualismus für die Demokratie. „Uns scheint es, daß der Individualismus […] in unserer Geschichte unerbittlich auf dem Vormarsch war. Wir fürchten, daß er krebsartig gewachsen sein könnte – daß er die sozialen Zwischenräume zerstört, die Tocqueville zufolge sein destruktives Potential auffangen konnten, daß er zu einer Bedrohung für die Freiheit selbst geworden ist. […] Tocquevilles Hinweis aufgreifend, nehmen wir an, daß einer der Schlüssel zum Überleben freier Institutionen in der Beziehung zwischen privatem und öffentlichem Leben und in der Art liegt, in welcher Bürger an der öffentlichen Sphäre teilnehmen oder dies unterlassen.“28

26 Zitiert nach Poschardt 7.04.2000, S. 17. 27 Bellah et al. 1987, S. 46. 28 Ebd., S. 16–17.

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Der Individualismus als präferierte Lebensform der weißen Mittelschichtamerikaner, die in der oben genannten Studie als Probanden firmieren, speist sich nicht primär aus der Ablehnung von gemeinschaftlichem oder politischem Handeln. Häufig fehlt schlicht die Zeit dafür oder die persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf. Ökonomisches Denken, wirtschaftlicher oder beruflicher Leistungs- und Erfolgsdruck sowie als zu gering empfundener Output des politischen Engagements zeigen sich ebenso als Rückzugsfaktoren in die Privatsphäre wie mangelnde lokale und soziale Bindungen. 4. EINE KOMMUNITARISTISCHE ANTWORT … Alexis de Tocqueville hielt in seiner analytisch scharfen Beschreibung der „Demokratie in Amerika“ von 1836 für diese atomisierenden Tendenzen ein Gegenmittel bereit: Die kommunale Selbstverwaltung und die Mitwirkung in politischen und gesellschaftlichen Organisationen, um als Bürger die Belange des Gemeinwesens mitzugestalten. Er formuliert es so: „Sind die Bürger gezwungen, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen, so werden sie notwendig ihren persönlichen Interessen entzogen und ab und zu aus ihrer Selbstschau herausgerissen. Sobald man die gemeinschaftlichen Angelegenheiten gemeinsam behandelt, bemerkt jeder, daß er von seinen Mitmenschen nicht so unabhängig ist, wie er zuerst dachte, und daß er, um ihre Unterstützung zu erlangen, ihnen oft beistehen muß.“29 Die Beobachtung, dass ausschließlich individualistische Lebensformen der öffentlichen Beteiligung, der politischen Partizipation, dem Engagement für das Gemeinwesen entgegenstehen, und dass als Heilmittel wiederum bürgerschaftliche Beteiligung gefordert wird, mag für das 19. Jahrhundert noch als ein Lösungsansatz gesehen werden. Die Problemlagen am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts verweisen auf eine zunehmende Differenz zwischen individueller, ökonomischer und politischer Lebensweise. Denn während Tocquevilles Demokratie in Amerika auf eine weitgehend ortsgebundene Bevölkerung verweisen konnte, die mit lokalen Partizipationsangeboten zu politischer Beteiligung in Gemeinden, Schulen, Kirchengemeinden „erzogen“ werden konnte,30 sehen sich die Kommunitaristen den Herausforderungen einer zunehmenden Mobilität gegenüber, die der Praxis kommunaler Selbstverwaltung entgegensteht. In Michael Walzers Diagnose ist die mobile Gesellschaft der Gegenwart eine „zutiefst unstete Gesellschaft“.31 Walzer beschreibt damit eine Gesellschaftsform, in der nicht nur die Unabhängigkeit der Individuen voneinander sehr groß ist, sondern sich auch 29 Tocqueville 21984, S. 590. 30 „Die Gemeindeeinrichtungen sind für die Freiheit, was die Volksschulen für die Wissenschaften sind; sie machen sie dem Volke zugänglich; sie wecken in ihm den Geschmack an ihrem freiheitlichen Gebrauch und gewöhnen es daran. Ohne Gemeindeeinrichtungen kann sich ein Volk eine freie Regierung geben, aber den Geist der Freiheit besitzt es nicht.“ Tocqueville 2 1984, S. 68. 31 Walzer 31995, S. 164.

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Lebensformen entwickelt haben, die länger- oder langfristige Beziehungen kaum mehr ermöglichen. Er macht vier dominante Mobilitätsvarianten aus, die in der liberalen Beschreibung den modernen Menschen zunehmend flexibel, unabhängig und frei machen: die geographische Mobilität, die soziale Mobilität, die Beziehungsmobilität und die politische Mobilität.32 In der kommunitaristischen Interpretation ist dieser „flexible Mensch“33 ökonomisch verfügbar, einsam, in einem negativen Sinne ungebunden und räumlich unstet, ortsungebunden und damit heimatlos im Hinblick auf lokalpolitische Interessen und daraus erwachsende bürgerschaftliche Partizipation. Gerade die geographische und die politische Mobilität lassen Instabilitäten entstehen, die die magere, beteiligungs- und bindungslose Demokratie begünstigen. Denn hier genügt es notfalls auch, wenn das Stimmrecht alle vier oder sechs Jahre per Briefwahl erfolgt. Für die partizipatorisch starke Demokratie bedeuten räumliche Ungebundenheit und zumeist der Arbeitsmobilität geschuldete kurze Wohn- und Arbeitsaufenthalte den Verlust von Heimat und damit kommunalpolitische Bindungslosigkeit. Walzer konstatiert: „Da ihre Zahl [die Zahl der in dieser Weise mobilen Menschen; G. R.] wächst, kommt es zu einer unbeständigen Wählerschaft und damit auch zu institutioneller Instabilität, insbesondere auf der lokalen Ebene, wo die politische Organisation in früheren Zeiten die Funktion hatte, die Gemeinschaftsbande fester und enger zu knüpfen.“34

Mobilität, die dominante Anforderung an den modernen, flexiblen Menschen, lässt in gewissem Sinne Wohn- und Arbeitsmonaden weiterziehen, bevor sie sich den kommunalen Raum zu einer Heimat machen konnten oder können, die Identifikation, Verhaltenssicherheit und politische Aktivitäten ermöglicht. Denn, so Richard Sennett, „[d]er Ort wird von der Geographie definiert, die Gemeinde beschwört die sozialen und persönlichen Dimensionen des Ortes. Ein Ort wird zu einer Gemeinde, wenn Menschen das Pronomen ‚Wir‘ zu gebrauchen beginnen. So zu sprechen, setzt Bindungen voraus, im Kleinen wie im Großen.“35 An dieser Stelle setzt ein weiterer entscheidender kommunitaristischer Kritikpunkt am liberalen mageren Bürgerkonzept an: die Kritik am „ungebundenen Selbst“.36 Dem ungebundenen, atomisierten Menschen wird die kommunitaristische Gemeinschaftsidee entgegengesetzt. Gegen die liberale Befreiung aus allen – im liberalen Sinne – die Freiheit des Einzelnen einengenden Bindungen und Beziehungen formulieren die Kommunitaristen das „gebundene Selbst“ eines Individuums, das sich zudem als soziales Wesen begreifen kann und beschreiben lässt durch seine Einbettung in die Gemeinschaft, die Bindung an den Ort, die Familie, die Freundschaftskreise. Aus der Kritik am ungebundenen Selbst erwächst nicht 32 Vgl. Walzer 31995, S. 164–166. 33 So nennt Richard Sennett den modernen Menschen, von dem die kapitalistische Beschäftigungsform heute verlangt, „sich flexibler zu verhalten, offen für kurzfristige Veränderungen zu sein, ständig Risiken einzugehen und weniger abhängig von Regeln und förmlichen Prozeduren zu werden.“ Sennett 81998, S. 10. 34 Walzer 31995, S. 166. 35 Sennett 81998, S. 189. 36 Vgl. Sandel 31995, S. 24.

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zuletzt die Kritik am Rawls’schen Schleier des Nichtwissens, der die Individuen, die über die Grundsätze der Gerechtigkeit entscheiden, isoliert und entkontextualisiert.37 Darin wurzelt auch die kommunitaristische Kritik an einem Freiheitsverständnis, das sich ausschließlich am Eigeninteresse orientiert und zu den ebenso kritisierten Formen eines isolierenden Individualismus führt. Argumente, wie sie Florian Illies oder die Probanden der oben zitierten Umfrage von Bellah et al. benutzen, um ihre individualistischen Freiheitsvorstellungen zu formulieren, werden in den kommunitaristischen Ansätzen als gemeinschaftsfeindliche, für das Zusammenleben der Menschen unbrauchbare und der bürgerschaftlichen Partizipation widersprechende Denk- und Verhaltensstrukturen gekennzeichnet. Michael Sandel pointiert die kommunitaristischen Argumente gegen das „ungebundene Selbst“ so: „Sich ein Bild einer Person zu machen, die solcher konstitutiver Bindungen unfähig ist, bedeutet nicht, sich einen idealen, frei und rational Handelnden zu denken, sondern eine Person ohne jeglichen Charakter, ohne moralisches Rückgrat vorzustellen.“38 Charles Taylor betont in der Auseinandersetzung mit Sandels Buch „Liberalism and the Limits of Justice“ von 1982 und in grundsätzlicher Unterstützung seiner Thesen, dass die Annahme eines völlig ungebundenen Selbst eine für Menschen nicht mögliche Lebensform darstelle. Die Bindungen an die Familie, die Nachbarschaft, den Freundeskreis und andere Nahbeziehungen lassen die atomistische Gesellschaft schnell zu einem Trugbild werden.39 Es kommt demnach darauf an, wie die Einbindung bzw. die Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben erfolgt. Das heißt in Bezug auf eine politische „Nahbeziehung“ wie auch auf das Leben in einer demokratischen Gemeinschaft, dass bürgerschaftliche Beteiligung, politische Partizipation, Teilhabe am Politischen – wie immer die Beschreibung für die res publica lauten mag – es vermag, eine Verbindung zwischen Individuum und Gemeinschaft herzustellen. Taylor formuliert den Zusammenhang zwischen situiertem Selbst und politischer Partizipation in der res publica als Akt der Freiheit. Nicht das isolierte Individuum ist frei, indem es sich frei von Bindungen, also von anderen in Ruhe gelassen fühlt, sondern der am Gemeinschaftsleben partizipierende Bürger. Taylor denkt Freiheit gemäß der „republikanisch-humanistischen Tradition“ als Bürgerfreiheit,

37 Hierzu bestimmt Sandel 31995, S. 29: „Wenn diejenigen, deren Schicksal ich teilen soll, aus moralischer Sicht tatsächlich andere sind, nicht Mitbeteiligte an einer meine Identität bestimmenden Lebensart, so fällt das Differenzprinzip denselben Einwänden zum Opfer wie der Utilitarismus. Sein mir gegenüber erhobener Anspruch ist nicht der Anspruch einer konstitutiven Gemeinschaft, deren Bindung ich anerkenne, sondern vielmehr der Anspruch eines zusammengeketteten Kollektivs, dessen Verwicklungen ich mich gegenüber sehe.“ 38 Ebd., S. 29–30. 39 Vgl. Taylor 31995, S. 105–108.

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„als Freiheit des aktiv an öffentlichen Angelegenheiten Teilnehmenden. […] Da partizipatorische Selbstregierung für gewöhnlich in gemeinsamen Handlungen ausgeführt wird, ist es vielleicht normal, sie als etwas anzusehen, das durch gemeinsame Identifikationen mit Leben erfüllt ist. Da man Freiheit in gemeinsamen Handlungen ausübt, mag es natürlich scheinen, daß man sie als gemeinsames Gut schätzt.“40

5. PARTIZIPATION IM KOMMUNALEN RAUM ALS ANTWORT AUF DIE KRISE DER DEMOKRATIE Damit ist jene Lebensform formuliert, die Alexis de Tocqueville seit dem Beginn demokratischer Gesellschaften als einzig mögliches Fundament des freiheitlichen Zusammenlebens beschreibt, nämlich im gemeinsamen Handeln für die Politik eine freiheitliche Lebensform zu vollziehen. Nicht das isolierte Individuum, sondern der Mensch als situiertes politisches Wesen gelangt über Partizipation zur Freiheit. Benjamin Barber geht in der Beschreibung von politischer Partizipation so weit, dass er formuliert, sie mache die Beteiligten gemeinsam zu Bürgern. Die Auseinandersetzung zwischen mir als Bürger mit dem anderen als Bürger zwinge „uns“ zu gemeinschaftlichem Handeln. Denn wenn Individuen sich als Bürger neu definieren, schaffen sie jene politische Gemeinschaft, die ihnen gemeinschaftliches politisches Handeln ermöglicht und zum Erfolg führt.41 Sein Modell der „starken“ partizipatorischen Demokratie formuliert Bürgerschaft als Lebensform: „Bürger zu sein heißt, auf eine bestimmte, bewußte Weise an etwas teilzunehmen, auf eine Weise, die voraussetzt, daß man andere wahrnimmt und gemeinsam mit ihnen handelt. Aufgrund dieses Bewußtseins verändern sich die Einstellungen und gewinnt Partizipation jenen Sinn von wir, den ich mit Gemeinschaft assoziiert habe. Teilzunehmen heißt, eine Gemeinschaft zu schaffen, die sich selbst regiert und eine sich selbst regierende Gemeinschaft zu schaffen, heißt teilzunehmen.“42

Mit dieser Dialektik von Partizipation und Gemeinschaft ist ein normativer Anspruch formuliert, der sich an den Menschen und die Demokratie gleichermaßen richtet. Denn Beteiligung braucht auch die Ermöglichung der Beteiligung. Die Demokratie ist die Regierungsform, die diese Ermöglichung verspricht. Sie einzuhalten ist eine Anforderung an die demokratischen Institutionen, die Verfahren und Prozesse und das politische Personal. Partizipation benötigt Chancen und manchmal explizit auch Ermutigung, die z. B. über die Bereitstellung direktdemokratischer Verfahren in den Verfassungen hinausgeht, indem über die Entscheidungsalternativen umfassend informiert wird und die Konsequenzen der Entscheidung verdeutlicht werden. Ermutigungen liegen auch in der Einrichtung von Bürgerversammlungen, kommunalen Beteiligungshaushalten, Mediationsverfahren im Planungsstadium von Großprojekten und nicht zuletzt in einem Angebot an politischer Bildung. 40 Ebd., S. 116–117 [Hervorhebung der Autorin; G. R.]. 41 Barber 1994, S. 148–149. 42 Ebd., S. 152.

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Die Erziehung zur Partizipation ist stets eine zentrale kommunitaristische Forderung gewesen, die von Alexis de Tocqueville über Benjamin Barber bis Amitai Etzioni – um nur wenige Exponenten zu benennen – reicht. Der „Erziehungsprozess“ ist dabei immer auch ein doppelter, der von der Möglichkeit zur Beteiligung ausgeht und zur Partizipation wieder zurückführt. So z. B. Barber: „Nehmen Individuen ihre Aufgaben als Bürger wahr, dann werden sie dazu erzogen, öffentlich als Bürger zu denken. […] Politik wird zu ihrer eigenen Universität, Bürgerschaft zu ihrer eigenen Lehranstalt und Partizipation zu ihrem eigenen Lehrmeister.“43

Auch wenn es um das kommunitaristische Programm nach seinen Höhepunkten in den 80er und 90er Jahren ruhiger geworden ist, sind die kommunitaristischen Ideen der Partizipation aus der gemeinschaftsorientierten Beziehung des Subjektes heraus und seiner Inklusion in eine politische Gemeinschaft nach wie vor wirkungsmächtig. In den kritischen Auseinandersetzungen der politischen Theorie mit der repräsentativen Demokratie, die in ihrer liberalen oder liberalistischen Ausprägung partizipatorisch „mager“ (Barber) und am Output orientiert bleibt, spielen die gleichen Argumente eine Rolle wie in der kommunitaristischen Theorie. Es ist heute Colin Crouch, der dieses republikanische und kommunitaristische Ideal aufnimmt und seiner Gegenwartsdiagnose, die er als Postdemokratie beschreibt, entgegensetzt.44 Er schließt sich Philippe Schmitters Thesen über die post-liberale Demokratie an45 und präferiert Bürgerversammlungen, die kombiniert mit direktdemokratischen Verfahren Gesetzesentwürfe diskutieren und entscheiden. Ohne das Engagement in politischen Parteien für unwichtig zu deklarieren, ergänzt er repräsentative Verfahren mit basisdemokratischen Beteiligungsmodellen und wirbt so für die bürgerschaftliche Beteiligung am öffentlichen Leben. Aktives Interesse für die Politik, Mitgestaltung der politischen Agenda, Entwicklung von politischem Sachverstand und schließlich die Beteiligung an Bürgerversammlungen sind für Crouch zentrale Aspekte, um den apolitischen Zustand der Postdemokratie partizipatorisch zu verbessern. Und es ist wiederum, wie bei den Kommunitaristen, die Ebene der lokalen Politik, die die gewünschten Partizipationsgemeinschaften ermöglicht und formt: 43 Barber 1994, S. 148–149. Ähnlich auch Etzioni 1996, S. 45: „Das verdeutlicht, daß es wichtig ist, das Wissen um den Wert der Demokratie sowohl den zukünftigen Generationen und den neuen Staatsbürgern zu vermitteln, als auch unter den alteingesessenen lebendig zu erhalten. Eine wichtige Methode zur Erreichung dieses Zieles ist die Einbindung der Bürger in staatsbürgerschaftliche Betätigungen, etwa in Form einer Teilnahme an Ratssitzungen, Gemeindeausschüssen, Schulausschüssen etc. Auch der Sozialkundeunterricht in den Schulen ist ein sinnvoller Weg, das demokratische Bewußtsein zu stärken.“ 44 Mit dem Begriff „Postdemokratie“ bezeichnet Crouch 2008, S. 10, „ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen […]. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ 45 Schmitter 2002, zitiert nach Crouch 2008, S. 10.

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„Allgemein bieten sich gerade auf der lokalen Ebene beträchtliche Chancen, die Probleme der Postdemokratie zu umgehen. […] Da die Beteiligung an der formalen Politik auf dieser Ebene […] in der Regel unkomplizierter ist und wesentlich leichter gestärkt werden kann, sollte man im Sinne der wahrhaften Demokratie die Bedeutung der kommunalen und regionalen Politik stärken, Aufgaben dezentralisieren und den Bereich der staatlichen Leistungen, den die kommunalen Behörden verantworten, ausweiten.“46

FAZIT Damit lassen sich die Fäden der beiden Gedankengänge zu politischer Heimat und Bürgerschaft miteinander verbinden und zusammenfassend als kommunalpolitische Partizipations- und Handlungsräume im Sinne kommunitaristischer Beteiligungsforderungen beschreiben.47 Denn auf der Suche nach demokratischen Orientierungen bieten die kommunitaristischen Ideen und Ideale nach wie vor politischtheoretische Orientierungshilfen an. Sie eröffnen erneut den republikanischen Diskurs darüber, dass das Leben als Bürger in einer Demokratie ein Mindestmaß an politischer Diskussion, an öffentlicher Beteiligung und Kontrolle erfordert. Sie verschweigen nicht, dass die republikanische Lebensform eines Aristoteles oder eines Alexis de Tocqueville ein nur von ganz wenigen erreichbares Ideal sein kann. Sie bringen in Erinnerung, dass unser Leben in verschiedenen Handlungsräumen stattfindet: Sowohl in der Arbeitswelt als auch in der Privatsphäre und in den politischen und gesellschaftlichen Bereichen des öffentlichen Lebens existieren jeweils spezifische Handlungsanforderungen. Es kommt darauf an, die nötige Balance dieser Handlungsebenen zu finden. Kommunitarier plädieren für eine Verbindung von privatem und öffentlichem Leben und sehen in der Verbindung von privater Verwirklichung und öffentlichem Engagement die beiden Hälften eines Ganzen. Sie fordern Möglichkeiten bürgerschaftlicher Beteiligung, die diese Verbindung erlauben. Sie diskutieren „neue Formen politischer Aktivität, deren demokratische Reformabsicht auf lokaler Ebene ansetzt.“48 Bürgerbewegungen, Bürgerversammlungen und lokale Selbsthilfegruppen sind hier Beispiele für politisches Engagement, die immer im kommunitaristischen Sinne auch zeigen, dass „[d]as individuelle Selbst […] seine Erfüllung in Beziehungen zu anderen [findet], und zwar in einer Gesellschaft, die durch den öffentlichen Dialog organisiert wird.“49 Die partizipatorische Bürgergesellschaft verbindet damit, ideal gesehen, die verschiedenen menschlichen Handlungsräume miteinander: politische, genossenschaftliche, gewerkschaftliche, universitäre, literarische, religiöse, freizeitliche, freundschaftliche und nachbarschaftliche Gruppierungen greifen ineinander über und grenzen Privatsphäre, Arbeitsmarkt und Politik nicht hermetisch gegeneinander ab, sondern öffnen sie füreinander. Vorpolitische Aktivitäten und Diskussio46 47 48 49

Crouch 2008, S. 145. Vgl. zum Folgenden Riescher 1998. Bellah et al. 1987, S. 249; siehe auch FN 43 sowie 46. Ebd., S. 254.

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nen verbinden sich mit weiterreichenden Problemlösungsvorschlägen und politischen Entscheidungsvorbereitungen. „Die zivile Gesellschaft“, so Walzer, „wird daran gemessen, ob sie fähig ist, Bürger hervorzubringen, die wenigstens manchmal Interessen verfolgen, die über ihre eigenen […] hinausgehen und die über das politische Gemeinwesen wachen, das die Netzwerke der Vereinigungen fördert und schützt.“50

Ein bürgerliches Engagement in diesem Sinne – ich habe es oben Aktivität genannt – scheint wesentlich zur Aneignung einer Stadt oder eines Ortes als Heimat und zur Heimaterfahrung zu gehören. Bürgerinnen und Bürger schaffen und gestalten sich aktiv den Ort, an dem sie leben, zu dem sie gehören, der ihnen Identität gibt. Die Identitätserfahrung des Einzelnen wird mithin zur Erfahrung einer sozialen Identität, die an eine Orts- und Wertegemeinschaft gebunden ist, die hinreichend politischen Handlungsspielraum gewährt. Der Lebensort, die Stadt sind der politische Raum, der Lebensplanung und Lebensgestaltung in verschiedenen Lebensphasen ermöglicht, den Bürgerinnen und Bürger aktiv mitgestalten und für den sie sich politisch verantwortlich zeigen können. Kommunitaristische Begründungen politischer Partizipation bewähren sich von daher vorrangig ausgehend von den Ebenen der lokalen Politik, von einer Umgebung, an die man sich gebunden fühlt, deren politische Konfliktlagen man kennt und von denen man betroffen ist. In diesem heimatlichen Raum erfüllt bürgerschaftliche Beteiligung zudem die Anforderungen an einen Inklusionsbegriff, der sich über die Integration von Individuen definiert und sich nicht von Gemeinschaften oder Vereinigungen her begründet. Über die Partizipation von Individuen erfolgt die Inklusion und über die Bindungen an die Gemeinschaft die Bereitschaft zur Partizipation. Da diese Form der politischen Inklusion über Partizipation allen offensteht, ist die Problematik der Exklusion in diesem kommunitarischen Beteiligungsmodell nicht von vorneherein mitgedacht. Die Kontroverse um die Inklusionsfähigkeit kommunitaristischer Gemeinschaften, die sich nicht zuletzt im Anschluss an Sandel, Taylor und Walzer und das Integrationspotenzial von Einwanderungsgesellschaften entwickelte, ist insofern zwar ernst zu nehmen, als Mitgliedschaft nicht immer objektiven Gerechtigkeitskriterien unterliegt.51 Aber solange Partizipationschancen unabhängig von Gruppenzugehörigkeiten als individuelle Chancen geboten und ermöglicht werden, besteht wenig Anlass, Partizipation und Gemeinschaft nicht inklusiv zu sehen. Nimmt man das demokratische Versprechen auf bürgerschaftliche Beteiligung im Sinne einer Herrschaft des demos, des Volkes ernst, so werden die Befürworter wie die Kritiker nicht umhinkommen, den kommunitaristischen Partizipationsvorschlägen mitsamt ihrer Bindung an den lokalen Raum und im Ausgang von politischen Stadt- und Heimatbegriffen nach wie vor politische Ernsthaftigkeit und politisch-theoretische Wirkungsmächtigkeit zuzugestehen.

50 Walzer 1992, S. 93. 51 Vgl. zusammenfassend zur Debatte um Gemeinschaft und Exklusion unter anderem Rieger 1998 sowie Reese-Schäfer 21995.

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II. DAS VERHÄLTNIS VON PARTIZIPATION UND STAATLICHKEIT – AKTUELLE THEORIEDISKURSE

PARTIZIPATION UND REPRÄSENTATION Eine theoretische Neubewertung und ihre offenen Fragen Winfried Thaa EINLEITUNG Repräsentation und Partizipation galten in der politischen Theorie jahrhundertelang als Gegensatz. Besonders prominent und einflussreich ist in diesem Zusammenhang das berühmte Diktum Rousseaus: „Vom Augenblick an, wo ein Volk sich Repräsentanten gibt, ist es nicht mehr frei, ja es existiert nicht mehr.“1 Aber nicht nur die Kritik Rousseaus, auch die klassische Rechtfertigung der modernen politischen Repräsentation stellte diese in einen Gegensatz zur Demokratie. Die Autoren der „Federalist Papers“ rechtfertigen die Vertretung des Volkes durch Abgeordnete nicht zuletzt mit dem Schutz vor den Gefahren der „reinen Demokratie“, wozu sie unter anderem die ungezügelten Leidenschaften des Volkes, seine begrenzte Urteilsfähigkeit sowie die drohende Unterdrückung von Minderheiten rechnen.2 In jüngerer Zeit spricht Benjamin Barber in seinem einflussreichen Buch „Starke Demokratie“ von der „Unvereinbarkeit von Freiheit und Repräsentation“.3 Und Hanna Pitkin, die mit ihrem längst zu einem Klassiker gewordenen Werk zum Begriff der Repräsentation die politikwissenschaftliche Diskussion nachhaltig prägte,4 stellte jüngst, mit Blick auf die aktuellen Krisensymptome westlicher Demokratien, resigniert fest, Rousseau habe mit seiner Repräsentationskritik recht behalten: „Despite repeated efforts to democratize the representative system, the predominant result has been that representation has supplanted democracy instead of serving it. Our governors have become a self-perpetuating elite that rules – or rather administers – passive or privatized masses of people.“5

Vor diesem Hintergrund muss es erstaunen, dass politische Repräsentation während der letzten zehn, fünfzehn Jahre immer mehr Fürsprecher gefunden hat. Dabei haben nicht so sehr diejenigen, die das Repräsentationsprinzip immer schon gegen die vermeintlich überzogenen Partizipationsansprüche der normativen De1 2 3 4 5

Rousseau 1977, S. 160. Hamilton/Madison/Jay 1981. Barber 1994, S. 139. Pitkin 1972. Pitkin 2004, S. 339.

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mokratietheoretiker verteidigt hatten, starken Zulauf gewonnen. Vielmehr entdeckten Autorinnen und Autoren, die eindeutig dem partizipatorischen Lager zuzuordnen sind, die demokratischen Qualitäten der politischen Repräsentation. Darauf bezogen habe ich vor einiger Zeit von einer Neubewertung der politischen Repräsentation gesprochen, durch die sie sich von einem Hindernis zur Möglichkeitsbedingung politischer Freiheit gewandelt hat.6 Formelhaft auf den Punkt bringt diese 180°-Wende der Titel eines Aufsatzes von David Plotke aus dem Jahr 1997. Er lautet schlicht „Representation is Democracy“.7 Für Plotke und die zahlreichen an seiner Umkehrung anschließenden Autorinnen und Autoren8 ist die repräsentative Demokratie nicht mehr ein in großen Flächenstaaten unvermeidliches Übel, ein mangelhafter Ersatz für die direkte Selbstregierung des Volkes. Vielmehr soll Repräsentation selbst erst demokratische Praktiken begründen.9 Ich werde im folgenden Beitrag zunächst kurz den gesellschaftspolitischen Hintergrund der neuen Perspektive auf politische Repräsentation skizzieren (1.), um dann etwas ausführlicher die für die neue Wertschätzung politischer Repräsentation grundlegende Kritik des Ideals einer Identität von Regierenden und Regierten darzustellen (2.). Mit der Kritik des Identitätsideals verbinden sich bei einem Teil der Autoren die Verabschiedung des Willens als entscheidender Kategorie politischer Selbstbestimmung und eine positive Bestimmung politischer Repräsentation als ergebnisoffener Prozess der Beratung und des Urteilens (3.1 und 3.2). Im Kontrast zu den bis dahin dargestellten partizipatorischen Neubewertungen politischer Repräsentation steht eine auch im deutschsprachigen Raum auf Interesse stoßende Aufwertung politischer Repräsentation im Geiste Max Webers und Carl Schmitts. In einem knappen Exkurs werde ich zeigen, dass Repräsentation in dieser Konzeption der „leader democracy“ dem antidemokratischen Ideal einer autoritären Einheitsverkörperung verpflichtet bleibt (4.). In den letzten beiden Teilen des Aufsatzes werde ich auf die aktuelle Krise politischer Repräsentation zu sprechen kommen, nach Reformvorstellungen in der dargestellten Debatte fragen (5.) und diese durch einige eigene Überlegungen ergänzen (6.). 1. DER GESELLSCHAFTSPOLITISCHE HINTERGRUND: REPRÄSENTATION STATT EXKLUSION Eine grundsätzliche Umwertung zentraler politischer Begriffe, wie sie die zitierte programmatische Formulierung Plotkes vornimmt, geschieht nicht alle Tage. Angesichts der aktuellen Krisenphänomene der repräsentativen Demokratie und dem besonders in westeuropäischen Ländern beklagten Bedeutungsverlust der parla6 7 8 9

Thaa 2008. Plotke 1997. Dieselbe Botschaft vermittelt der Titel eines Beitrages von Sofia Näsström: „Representative Democracy as Tautology“ (Näsström 2006). Ich beziehe mich im Folgenden insbesondere auf Schriften von Frank Ankersmit, Jane Mansbridge, Sofia Näsström, David Plotke, Nadia Urbinati und Iris Marion Young, die allesamt zwischen 1996 und 2006 erschienen sind. „Representation is crucial in constituting democratic practices“ (Plotke 1997, S. 19).

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mentarischen Repräsentanten durch die Schwächung der Nationalstaaten und die Zunahme von internationalen Absprachen der Exekutiven könnte auf den ersten Blick der Eindruck entstehen, es handele sich hier um ein Nostalgiephänomen: Wie viele andere Dinge lernen wir eben auch die repräsentative Demokratie erst im Moment ihres Verlustes schätzen. Da mag etwas dran sein. Dennoch stehen hinter dem Wandel partizipatorischer Demokratietheoretiker zu Verteidigern politischer Repräsentation gewichtige gesellschaftliche und politische Veränderungen, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt. Ein erster Hinweis darauf findet sich bereits in der Begründung, die Plotke seiner prägnanten Formel „representation is democracy“ folgen lässt. Er formuliert nämlich, das Gegenteil von Repräsentation sei nicht Partizipation, sondern Exklusion.10 Die neomarxistische Linke der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts bezog sich noch auf die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts der gesellschaftlichen Emanzipation, sei es „die Arbeiterklasse“ oder „das Volk“. Angesichts der zunehmenden Pluralität und kulturellen Heterogenität westlicher Gesellschaften ließen sich die gesellschaftskritischen Bewegungen während der letzten Jahrzehnte keiner Einheitsperspektive mehr einordnen. Ins Zentrum gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen rückten stattdessen die Kämpfe verschiedener, häufig ethnisch oder sexuell definierter Gruppen um Gleichstellung, Inklusion und Anerkennung.11 Vor diesem Hintergrund erlangten Diversität und ihre Sichtbarmachung durch Repräsentation einen Eigenwert, was nicht zuletzt in der Durchsetzung von Quoten für Frauen oder ethnische Minderheiten seinen Ausdruck fand. Es ist von daher kein Zufall, dass einige der Beiträge zur Neubewertung politischer Repräsentation im Kontext der Auseinandersetzungen um eine angemessene Repräsentation bislang diskriminierter Gruppen entstanden.12 Wer aber für eine angemessene Repräsentation benachteiligter oder historisch diskriminierter Gruppen kämpft, Frauenquoten oder eine gesicherte parlamentarische Vertretung ethnischer Minderheiten fordert, wird kaum umhinkommen, die grundsätzliche Kritik politischer Repräsentation zu überdenken. 2. DIFFERENZREPRÄSENTATION STATT IDENTITÄTSLOGIK In diesem Zusammenhang kam es auf Seiten partizipatorischer Demokratietheoretiker zu einer bemerkenswerten Neubestimmung politischer Repräsentation. Herkömmliche Definitionen bestimmen Repräsentation als Vergegenwärtigung eines Abwesenden. So heißt es etwa bei Hanna Pitkin: „Representation … means the making present in some sense of something which is nevertheless not present literally or in fact.“13 Das Problem dieses Repräsentationsbegriffes sehen eine Rei10 Vgl. Plotke 1997, S. 19. 11 Kritisch zum Verhältnis von Umverteilungs- und Anerkennungskämpfen Fraser 2001. 12 Unter den hier ausführlicher berücksichtigten Autoren gilt dies vor allem für die Beiträge von Iris Marion Young und Jane Mansbridge. 13 Pitkin 1972, S. 9.

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he neuerer Autoren in dem von ihm transportierten Identitätsideal. Denn wenn Repräsentation etwas faktisch nicht Anwesendes gegenwärtig machen soll, dann liegt es nahe, sie am Ideal der Identität zwischen dem Repräsentanten und dem Repräsentierten zu messen. Frank Ankersmit spricht in Bezug darauf von einer „mimetischen Theorie der Repräsentation“.14 Zu ihrer Charakterisierung zitiert er John Adams aus der Zeit der amerikanischen Revolution, der meinte, die Repräsentanten sollten im Kleinen ein exaktes Porträt des Volkes im Ganzen, seiner Gedanken, Gefühle und Überlegungen sein.15 Nach Ankersmit impliziert ein solches Repräsentationsverständnis die politisch höchst problematische Unterstellung einer tieferen Gemeinsamkeit zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, wie sie auch totalitäre Regime für sich in Anspruch nehmen.16 Ganz ähnlich kritisiert Iris Marion Young das Identitätsideal radikaldemokratischer Repräsentationskritiker. Nach Young basiert die Norm einer weitestgehenden Übereinstimmung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten auf einer „Metaphysik der Präsenz“, die Zeitlichkeit und Wandel in Kategorien selbstidentischer Substanz konzeptualisiere. Young bezieht sich dabei auf Jacques Derrida und dessen Begriff der „différance“, der uns hier jedoch nicht weiter zu interessieren braucht.17 Ihr Punkt ist auch ohne Exkurs auf Derrida klarzumachen: Die übliche Repräsentationskritik argumentiere in einer Logik der Identität. Sie unterstelle einen ursprünglichen Augenblick, in dem das Volk mit sich selbst identisch sei, seinen einheitlichen Willen artikuliere, und eine Person wähle, um diesen zu repräsentieren.18 Gegenüber diesem Moment der Identität erscheine politische Repräsentation stets abgeleitet, zweideutig und suspekt.19 Demgegenüber sollte – darin sind sich die hier thematisierten Autoren einig – Repräsentation außerhalb einer Logik der Identität gedacht und, so explizit Young, als Differenzbeziehung konzeptionalisiert werden.20 Dies gilt in dreifacher Hinsicht: für die Beziehung zwischen den Abgeordneten und ihren Wählern, für die zwischen den Bürgern sowie schließlich für diejenige zwischen den Repräsentanten. In allen drei Fällen sei Differenz konstitutiv und unaufhebbar. Löst man sich vom Ideal der möglichst exakten Repräsentation einer gegebenen Einheit oder eines vorab gebildeten Willens, so kann es kein gesichertes Wissen über das zu Repräsentierende mehr geben. Stattdessen geraten die relationalen und handlungsbezogenen Dimensionen der Repräsentation in den Blick.21 Denn aus der Anerkennung einer unaufhebbaren vertikalen Differenz zwischen den Repräsentanten und den Repräsentierten folgt logischerweise eine für alle Akteure 14 15 16 17 18

Ankersmit 1996, S. 28. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Young 1997, S. 355. „Ideally, ‚the people‘ meet in an original moment of presence, where they express their will and choose a person to represent that will. In this original moment, the many become one“ (Young 1997, S. 356). 19 Young 1997, S. 356. 20 Young 2000, S. 126. 21 Plotke 1997, S. 24.

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geltende prinzipielle Offenheit der Frage, was und wie repräsentiert werden sollte. Die unausweichliche Folge sind Meinungsverschiedenheiten auf allen drei genannten Beziehungsebenen. Ankersmit formuliert deshalb auch, es sei das Wesen jedes repräsentativen Organs „to be divided“.22 Ob man diese prinzipielle Differenz in den Repräsentationsbeziehungen mit Derridas Poststrukturalismus (Young 1997), mit einer postmodernen Ästhetik (Ankersmit 1996), durch eine ideengeschichtliche Genealogie politischer Repräsentation (Urbinati 2006) oder ganz ohne metatheoretische Vergewisserung aus einer Analyse zeitgenössischer Demokratien (Plotke 1997) begründet, macht im Ergebnis wenig Unterschied: Die Protagonisten einer partizipatorischen Neubewertung politischer Repräsentation bewerten die Nichtidentität in der Repräsentationsbeziehung als entscheidende Voraussetzung für die Pluralität und Optionalität des Politischen.23 Dieser Bruch mit der Identitätslogik und die Betonung einer unaufhebbaren Differenz zwischen dem Demos und seinen Repräsentanten erinnert nicht von ungefähr an ältere Schriften von Claude Lefort und Marcel Gauchet. Lefort spricht in einer programmatischen Schrift mit dem Titel „Die Frage der Demokratie“ von einer „Logik der Identifikation“, die alle Formen gesellschaftlicher Teilung leugne und den Anspruch der politischen Macht begründe, die Gesellschaft als Ganze zu verkörpern.24 Er konkretisiert dies mit den Verkörperungsketten kommunistischer Selbstlegitimation, nach denen Volk und Proletariat, Proletariat und Partei sowie schließlich Partei und Politbüro bzw. der herrschende Egokrat in eins fallen.25 Gauchet nennt entsprechend als „das entscheidende Kennzeichen des Totalitarismus die Behauptung der gesellschaftlichen Einheit“.26 Die Ablehnung des Identitätsideals in der Repräsentationsbeziehung hat demnach eine Wurzel im antitotalitären Denken. Es würde allerdings zu kurz greifen, in der hier zur Diskussion stehenden Neubestimmung politischer Repräsentation lediglich eine Absicherung gegenüber den totalitären Gefahren der Demokratie zu sehen. Die Umorientierung von der Identität zur Differenz verändert den Demokratiebegriff selbst und löst ihn, zumindest implizit, von einem mit Willensautonomie gleichgesetzten Freiheitsbegriff.

22 23 24 25 26

Ankersmit 1996, S. 38. Sinngemäß so etwa Plotke 1997, S. 28; Young 1997, S. 357; Ankersmit 1996, S. 38. Lefort 1990, S. 287 Ebd., S. 287. Gauchet 1990, S. 213.

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3. URTEILEN UND PLURALES HANDELN STATT AUTONOMIE DES WILLENS 3.1 Autonomie als kognitiv herzustellende Willenseinheit Zur Verdeutlichung dieses Gedankens ist noch einmal kurz auf Rousseau und seine Ablehnung der politischen Repräsentation zurückzukommen. Wie aus der eingangs bereits zitierten Repräsentationskritik deutlich wird, steht Repräsentation für Rousseau in einem unaufhebbaren Gegensatz zur Freiheit. Dabei bestimmt er Freiheit im Sinne der europäischen Aufklärung reflexionsmoralisch als „Sichselbst-bestimmen“.27 Überträgt man diesen Freiheitsbegriff auf den Bereich des politischen Zusammenlebens, so entsteht ein scheinbar unlösbares Problem, das Rousseau im „Gesellschaftsvertrag“ selbst benennt: „Wie kann ein Mensch frei und dennoch gezwungen sein, sich dem Willen anderer, der nicht sein Wille ist, zu fügen?“28 Bestimmen wir mit Rousseau Freiheit als Willensfreiheit, muss in der Tat jede Repräsentationsbeziehung als Skandal erscheinen. Und zwar nicht, weil sie unsere politischen Partizipationsmöglichkeiten einschränkt, sondern weil Repräsentation den Widerspruch zwischen individueller und kollektiver Autonomie verschärft. Denn nach der Wahl müssen wir uns dem Willen der Repräsentanten unterordnen, womit wir, in den Augen Rousseaus, uns nicht mehr von Sklaven unterscheiden. Umgekehrt schätzt Rousseau die direkte Versammlungsdemokratie nicht etwa deshalb, weil sie dem einzelnen Bürger größere Handlungs- und Beteiligungsmöglichkeiten böte. Ganz im Gegenteil: Rousseau war kein Freund der öffentlichen Debatte. Die Demokratie Athens, mit ihrer herausragenden Bedeutung von öffentlicher Rede und Konflikten unter den Bürgern, war ihm ein Gräuel.29 Seine Lösung des Herrschaftsproblems liegt bekanntermaßen darin, das Gesetz auf einen allen gemeinsamen, vernünftigen Willen zurückzuführen. Zu diesem kommt er allerdings nur durch die Unterstellung, das Abstimmungsverhalten des einzelnen Bürgers in der Volksversammlung drücke nicht dessen partikulare Zustimmung oder Ablehnung eines Vorschlags aus, sondern sei Ausdruck der Erkenntnis des prinzipiell evidenten Allgemeinwillens, also letztlich ein kognitiver Akt. „Wenn ich überstimmt werde, so beweist das nur, dass ich mich geirrt habe, und dass es nicht der Gemeinwille war, was ich dafür gehalten habe“.30 Wer einem derart ermittelten volonté générale gehorcht, unterwirft sich nicht einem fremden Willen, er gehorcht letztlich sich selbst und kann deshalb so frei bleiben wie zuvor. Indem Rousseau auf diese Weise einen kognitiven Charakter des Gemeinwillens unterstellt, kann er für Mehrheitsbeschlüsse der Volksversammlung eine Identität von individueller und kollektiver Autonomie behaupten

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Kritisch dazu Vollrath 1982 und 1995. Rousseau 1977, S. 171. Vgl. dazu Herb 2000, S. 174; Urbinati 2000, S. 765. Rousseau 1977, S. 172.

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und Herrschaft, verstanden als Unterwerfung unter einen fremden Willen, aus der Welt schaffen.31 Der Anspruch Rousseaus, demokratische Selbstregierung verwirkliche sich in einer kognitiv herzustellenden Einheit von individueller und öffentlicher Autonomie, ist weniger antiquiert als es aufgrund der von ihm benutzten Begriffe erscheinen mag. Die Vorstellung eines durch individuelle Reflektionsakte der Bürger zu ermittelnden volonté générale erscheint uns heute als leicht durchschaubare Mystifikation. Ihre Orientierung auf eine durch Vernunft herzustellende Willenseinheit lebt jedoch in der diskurstheoretisch begründeten deliberativen Demokratietheorie von Jürgen Habermas fort. Diese lehnt zwar das Repräsentationsprinzip nicht rundweg ab und will darüber hinaus die Vorstellung eines kollektiven „Selbst“ bzw. die „konkretistische Lesart“ einer Verkörperung der Souveränität im Volk bei Rousseau durch die „subjektlosen Kommunikationsformen der diskursiven Meinungs- und Willensbildung“ ersetzen.32 Aber auch für Habermas lassen sich die Autonomie des Bürgers und das Mehrheitsprinzip der Demokratie nur vereinbaren, sofern die Verfahren der Meinungs- und Willensbildung eine interne Beziehung zur Wahrheitssuche aufweisen und ihre Ergebnisse aufgrund dessen die „Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben“.33 Politische Repräsentation erscheint dann weniger als eine durch Autorisierung und Verantwortlichkeit charakterisierte Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten, als ein Moment im umfassenderen Prozess der diskursiven Meinungs- und Willensbildung, der die Vermutung vernünftiger und deshalb von jedem Individuum rational zu akzeptierender Entscheidungen gewährleisten soll. Dies wird allerdings nur möglich, weil, wie Habermas selbst formuliert, durch sein diskurstheoretisches Verständnis von Demokratie „ein Vernunftmoment ins Spiel [kommt], das den Sinn des Repräsentationsprinzips verändert“.34 Vereinfacht gesagt will er die Delegation von Willensmacht, an der sich Rousseau stößt, vermeiden, indem er die repräsentativen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates in einen prinzipiell wahrheitsfähigen, die allgemeine Öffentlichkeit und informelle zivilgesellschaftliche Foren und Arenen einschließenden Prozess der diskursiven Meinungs- und Willensbildung einordnet. Dazu entwickelt er sein Modell einer „zweigleisigen deliberativen Politik“,35 in der die Entscheidungen der parlamentarischen Vertreter an die kommunikative Macht einer breiten, autonomen Öffentlichkeit rückgebunden bleiben. Habermas stellt sich vor, die vielfältigen Deliberationen führten zur Herausbildung einer öffentlichen Meinung, die dann die politischen Entscheidungen „programmieren“ könne.36 Das bei Rousseau in der Evidenz des Gemeinwohls enthaltene Vernunftmoment verlagert er so in die diskursive Struktur der Meinungs- und Willensbildung, die eine „vernünftige 31 32 33 34 35 36

Zur Gesetzgebung als „epistemologischem Akt“ bei Rousseau vgl. auch Herb 2000, S. 175. Vgl. etwa Habermas 1992, S. 614 und 1996, S. 290 f. Habermas 1992, S. 613. Ebd., S. 223. Ebd., S. 369. Den bemerkenswert technischen Begriff des Programmierens in diesem Zusammenhang benutzt Habermas selbst. So etwa Habermas 1992, S. 386.

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Qualität ihrer Ergebnisse“ erwarten lässt.37 Herrschaft oder Fremdbestimmung sind dann – ganz ähnlich wie bei Rousseau – durch die kognitive Umdeutung demokratischer Entscheidungen beseitigt. In beiden Fällen, bei Rousseau wie bei Habermas, gehorcht der Bürger, der sich demokratisch zustande gekommenen Gesetzen unterordnet, letztlich sich selbst, er bleibt frei, weil die Gesetze Ausdruck eines allgemeinen, vernünftigen Willens sind. 3.2 Prozess und Urteil statt Willenseinheit Die differenztheoretischen Neubewertungen politischer Repräsentation dekonstruieren dieses Ideal der durch einen vernünftigen Willen herzustellenden Einheit zwischen Bürger und politischer Gemeinschaft. Dennoch sehen die hier diskutierten Theorien im politischen Prozess mehr als einen Mechanismus zur Aggregation oder zum Ausgleich bestehender gesellschaftlicher Interessen. Sie unterscheiden sich damit sowohl von diskurstheoretischen als auch von liberalen Demokratietheorien. Iris Marion Young etwa betont den Prozesscharakter und die Zeitlichkeit politischer Repräsentation und bezeichnet sie als eine „deferring relationship“.38 „To defer“ lässt sich zum einen mit „verschieben“ (im zeitlichen Sinn) übersetzen, zum anderen aber auch mit „sich beugen“ oder „sich fügen“. Ein „deferred payment“ ist eine Ratenzahlung, aber „to defer to somebody’s wishes“ heißt, sich jemandes Wünschen fügen. Young will Repräsentationsbeziehungen als einen Prozess denken, der sich zeitlich zwischen den beiden Momenten der Autorisierung und der Rechenschaftspflicht bewegt und gerade in diesem „Zwischen“ Kommunikation und politisches Handeln ermöglicht. Zwar bleibe die eigentliche Entscheidung Sache des Repräsentanten. Sein Handeln beziehe sich aber nicht nur nach hinten, auf die vorausgegangene Autorisierung durch die Wähler, sondern auch nach vorne, auf den Moment der Rechenschaft. Letztere, „accountability“, will Young nicht auf periodisch stattfindende Wahlen beschränken. Vielmehr macht sie die demokratische Qualität der Repräsentationsbeziehung von den institutionalisierten Möglichkeiten abhängig, die Repräsentanten durch periodische Anhörungen, Implementationsstudien und andere Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung zu kontrollieren. Dadurch soll es der Bürgerschaft möglich werden, über den Akt der Autorisierung hinaus aktiv zu bleiben und Einfluss auszuüben.39 Daran anschließend argumentiert Young, eine so verstandene politische Repräsentation sei nicht nur unverzichtbar, sondern normativ wünschenswert, weil die zeitlich gestreckten Beratungsprozesse und Rechenschaftspflichten besser ge37 Habermas 1992, S. 369. 38 „As a deferring relationship between constituents and their agents, representation moves between moments of authorization and accountability. Representation is a cycle of anticipation and recollection between constituents and representative, in which discourse and action at each moment ought to bear traces of the others“ (Young 2000, S. 129). 39 Young 1997, S. 361.

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eignet seien, die Multiperspektivität und den Prozesscharakter der Deliberation zu gewährleisten, als jede denkbare Form direkter Demokratie. Ein „sorgfältig und fair gestaltetes System der Repräsentation“, das nach Young die Repräsentation bislang unterdrückter oder ausgebeuteter Gruppen einschließt, soll Minderheiten und sozial Schwachen eine Stimme in der politischen Auseinandersetzung sichern.40 Mit anderen theoretischen Bezügen, aber in der Konsequenz ganz ähnlich argumentiert Nadia Urbinati. Ihr zufolge erfüllt die Wahl politischer Repräsentanten nicht in erster Linie die Funktion, eine professionalisierte politische Elite zu autorisieren oder den zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden politischen Willen der Mehrheit festzuhalten. Ihre Bedeutung liege vielmehr in den zwischen den Wahlen stattfindenden Prozessen der Beratung, Urteilsbildung und Entscheidung.41 Urbinati übernimmt dabei den Begriff der Deliberation, grenzt ihn aber von der rationalisierenden, einheitsorientierten Bedeutung bei Habermas ab und betont das Element des Bruches („rupture“) in der Beziehung zwischen Repräsentanten und Bürgern, das immer wieder außerparlamentarische politische Aktivitäten hervorbringe.42 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch ihre Unterscheidung von juristischer, institutioneller und politischer Repräsentation. Die erste bezieht sie auf Rousseau und Hobbes, die zweite auf Sieyès’ Konzeption der Parlamentssouveränität. Während die beiden erstgenannten Vorstellungen Souveränität als Willenseinheit unterstellten, impliziere ein politisches Verständnis von Repräsentation einen wechselseitigen oder zirkulären Prozess zwischen den repräsentativen Institutionen und der Gesellschaft.43 Neben der Autorisation durch Wahlen habe Repräsentation ein zweites Gesicht, nämlich die „reflective adhesion to society through time“, die den Demos nicht als einen einheitlichen Willen, sondern in der Form des politischen Urteilens vergegenwärtige.44 Eine Formulierung von Benjamin Constant übernehmend spricht sie dabei von „representation as durée“.45 Repräsentation kann demnach in juristischen Kategorien nicht adäquat verstanden werden – weder im Sinne einer Abtretung der Volkssouveränität an die Abgeordneten noch im Sinne eines imperativen Mandats an Delegierte. Bisweilen hat man bei der Lektüre der Schriften Urbinatis den Eindruck, als würde sie lediglich die von partizipatorischen Demokratietheorien während der achtziger und neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Alternative zur reprä40 Young 1997, S. 353. Ausführlicher zum Konzept der Gruppenrepräsentation bei Young vgl. Thaa 2011. 41 Ähnlich Plotke, der argumentiert, gerade die Nichtidentität zwischen Prinzipal und Repräsentant erfordere ein ständiges Aushandeln ihrer Beziehung (Plotke 1997, S. 28 f.). 42 Urbinati 2005, S. 198. 43 „The political conception of representation claims that in a government that derives its legitimacy from free and regular elections, the activation of a communicative current between civil and political society is essential and constitutive, not just unavoidable“ (Urbinati 2006, S. 26). 44 Urbinati 2005, S. 198. 45 Ebd., S. 198.

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sentativen Demokratie gepriesenen Aktivitäten der Zivilgesellschaft zu einem Moment der Repräsentationsbeziehung uminterpretieren. So bezeichnet sie etwa die indirekte und informelle Machtentfaltung durch soziale Foren und Bewegungen, durch Assoziationen, Medien und Straßendemonstrationen als „essential ingredient of representation’s democratic performance“.46 In neueren Veröffentlichungen hat Nadia Urbinati jedoch die Potenziale und Gefahren nicht-elektoraler Formen der Repräsentation ausführlicher diskutiert und vor den entpolitisierenden und in letzter Konsequenz antidemokratischen Implikationen einer Ablösung politischer Deliberation von Wahlen und Parteienwettbewerb gewarnt.47 Von entscheidender Bedeutung für Urbinatis nicht grundsätzlich ablehnende, aber insgesamt eher skeptische Haltung gegenüber nicht-elektoralen Formen der Repräsentation und Deliberation ist ihr Begriff des politischen Urteilens. Gegen Versuche, die derzeitige Krise der repräsentativen Demokratien durch eine Stärkung überparteilicher Expertengremien oder die Institutionalisierung von Bürgerkomitees zu lösen,48 betont Urbinati, die Parteilichkeit des politischen Urteilens lasse sich nur um den Preis einer Aufgabe der Volkssouveränität überwinden. Politisches Urteilen unterscheide sich vom gerichtlichen Urteil oder einer Expertenmeinung gerade dadurch, dass der Urteilende in den zu entscheidenden Fall involviert sei. Obwohl auch das politische Urteilen nach einer gewissen Allgemeinheit strebe, könne diese nicht durch Verlassen des eigenen Standpunktes oder der eigenen Perspektive erreicht werden.49 Statt kontroverse Standpunkte aus der politischen Debatte zu nehmen und der überparteilichen Entscheidung von Experten oder ausgewählten Bürgern zu überlassen, bestünde die der Demokratie angemessene Lösung darin, den Prozess der Urteilsfindung offen und revidierbar zu halten sowie die politische Arena durch widerstreitende Visionen und konkurrierende politische Gruppen zu strukturieren.50 Die politischen Auseinandersetzungen, die Urbinati zu einem Teil der Repräsentationsbeziehung macht, unterscheiden sich demnach grundlegend von der rationalisierenden, auf einen vernünftigen Konsens gerichteten Deliberation bei Habermas. 4. DIE EINHEITSVERKÖRPERNDE REPRÄSENTATION DER „LEADER DEMOCRACY“ Die bis dahin dargestellten Neubewertungen politischer Repräsentation zeichnen sich bei allen Unterschieden durch eine partizipatorische Input-Orientierung sowie ein agonistisches, Optionalität und Konflikt ins Zentrum rückendes Politikverständnis aus. In jüngster Zeit sorgt jedoch eine weitere, in diesen Punkten gegen46 Urbinati 2006, S. 29. 47 Urbinati/Warren 2008 und Urbinati 2010. 48 Urbinati wendet sich vor allem gegen Pierre Rosanvallon und Philip Pettit. Vgl. Urbinati 2010. 49 Obwohl Urbinatis Ausführungen stark an Arendts Konzeption des politischen Urteils erinnern, erwähnt sie diese in dem Aufsatz von 2010 nicht. 50 Urbinati 2010, S. 85.

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sätzliche Neubewertung politischer Repräsentation für Aufmerksamkeit. Gemeint ist die von Claudia Ritzi und Gary S. Schaal einem breiteren deutschsprachigen Publikum als Lösung für die Krise der „Postdemokratie“ angetragene Konzeption der „leader democracy“ von Andras Körösényi.51 Auf den ersten Blick weist Körösényis Wertschätzung politischer Repräsentation bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit den dargestellten Theorien von Plotke, Ankersmit, Young und Urbinati auf. Auch Körösényi versteht die Repräsentationsbeziehung als politischen Prozess und bestreitet die Existenz vorpolitisch gegebener Interessen und Meinungen, und auch aus seiner Sicht kann demokratische Politik weder im liberalen Sinn als Interessenaggregation noch deliberativ als rationales Verfahren der Problemlösung adäquat erfasst werden. Für Körösényi wie für die bislang dargestellten Theorien ist der politische Prozess durch Meinungsverschiedenheiten, Konflikt und Entscheidungen charakterisiert.52 Ganz im Gegensatz zu den zuvor thematisierten Autorinnen und Autoren sieht er die Bedeutung politischer Repräsentation aber nicht in der Öffnung eines politischen Raumes für die Partizipation der Bürger. Körösényi formuliert kurz und bündig: „The meaning of political representation is leadership.“53 In seiner Konzeption der „Führerdemokratie“54 orientiert er sich vor allem an drei deutschsprachigen Autoren, nämlich Max Weber, Joseph Schumpeter und Carl Schmitt. Er begründet dies damit, dass diese im Gegensatz zu anderen Elitentheoretikern keinen Gegensatz zwischen Elitenherrschaft und Demokratie konstruierten.55 Tatsächlich erscheint Körösényis Plädoyer für starke politische Führer über weite Strecken lediglich eine Weber und Schumpeter synthetisierende Neuauflage der Elitentheorie: So sieht er die Führerpersönlichkeit als selbstverantwortlichen politischen Unternehmer, betont, dass diese selbst, und nicht etwa das Publikum, die öffentliche Meinung formierten und meint, dass nicht länger das Parlament, sondern der Chef der Exekutive das Subjekt politischer Repräsentation bilde und nicht responsiv, sondern verantwortlich regieren solle.56 Besonders ähnelt seine Position der von Max Weber, wenn er die charismatischen Elemente seiner Führerdemokratie betont. Präsidenten oder auch die Regierungschefs in parlamentarischen Systemen würden gewählt wegen ihres persönlichen Appeals, ihres Images und ihrer Fähigkeit, Loyalität zu schaffen. „Leader democracy is a routinized version of charismatic leadership.“57 An diesem Bild einer durch starke Führerpersönlichkeiten geprägten und Output-orientierten Demokratie anknüpfend sehen Ritzi/Schaal in der „leader democracy“ einen möglichen Ausweg aus der derzeitigen Krise der Demokratie. Trotz 51 52 53 54

Ritzi/Schaal 2010; Körösényi 2005. Körösényi 2005, S. 361–364. Ebd., S. 364. Pikanterweise benutzt Körösényi in seinem englischsprachigen Text den deutschen Begriff, während ihn Ritzi und Schaal in ihrem deutschsprachigen Beitrag tunlichst vermeiden und nur von „leader democracy“ sprechen. 55 Körösényi 2005, S. 359. 56 Ebd., S. 364–371. 57 Ebd., S. 371.

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der auch von ihnen genannten Gefahr, die von einer starken Führerschaft für Responsivität und Legitimität der Demokratie ausgeht, meinen sie, Führung im Sinne einer „leader democracy“ könne „dazu beitragen, notwendige politische Entscheidungen zu implementieren und repräsentativ verfasste Demokratie aus der Handlungsunfähigkeit zu befreien, die aus Interessenkonflikten in pluralen Gesellschaften resultiert.“58

Bereits die im Zitat enthaltenen Hinweise auf vermeintlich notwendige Entscheidungen (wer entscheidet denn über deren Notwendigkeit?) und die hinderliche Rolle von Interessenkonflikten lassen eine erstaunlich antipluralistische Haltung der Autoren erkennen. Theoretisch aufschlussreicher ist allerdings, dass Ritzi und Schaal den dritten Gewährsmann für Körösényis Führerdemokratie, Carl Schmitt, gänzlich unerwähnt lassen. Dadurch übersehen oder ignorieren sie jedoch, dass Körösényi auf Schmitts Begriff der „qualitativen Repräsentation“ zurückgreift und diese, wie Schmitt selbst, gegenüber der profanen, quantitativen und mechanistischen Repräsentation des liberalen Parlamentarismus abgrenzt.59 Um seinen Antiparlamentarismus etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen: „Representation in leader democracy is a personalistic idea. Assemblies, mirroring the composition of their constituencies, cannot represent: at most they can re-present a state of affairs or the composition of a constituency, but they cannot act. Schmitt´s personalistic idea of representation and Weber´s concept of charismatic leadership applied to democratic legitimacy express the personalized character of leader democracy.“60

Aber was genau sollen wir uns unter einer personalen, qualitativen Idee von Repräsentation vorstellen? Mit Bezug auf Schmitts Schrift „Römischer Katholizismus und politische Form“61 meint Körösényi, qualitative Repräsentation sei nicht funktional, sondern normativ, sie stehe für eine „invisible idea and/or a metaphysical essence“.62 Liest man dazu den Originaltext von Carl Schmitt, wird das Ganze etwas klarer. Für Schmitt ist das idealtypische Beispiel qualitativer Repräsentation die katholische Kirche. Hier kann man tatsächlich nicht behaupten, der Papst repräsentiere die quantitative Zusammensetzung der Kirche oder die verschiedenen Interessen ihrer Mitglieder. Wenn überhaupt jemand, dann repräsentiert er, als Stellvertreter Christi, ein „metaphysisches Wesen“. Daran orientiert, ist Repräsentation für Schmitt nur als Verkörperung einer höheren Idee oder eines übergeordneten Werts durch eine Person möglich. „Gott, oder in der demokratischen Ideologie das Volk, oder abstrakte Ideen wie Freiheit und Gleichheit sind denkbarer Inhalt einer Repräsentation, aber nicht Produktion und Konsum.“63 Eine solche höhere Idee oder Wert kann für Schmitt nur von einer Person, genauer einer Person, die Autorität besitzt, nicht aber von einer in sich zerstrittenen

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Ritzi/Schaal 2010, S. 10. Körösényi 2005, S. 375. Ebd., S. 377. Schmitt 1923. Körösényi 2005, S. 375. Schmitt 1923, S. 36.

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Versammlung repräsentiert werden.64 Schmitt betont zudem, das Handeln im Interesse anderer Personen sei im eigentlichen Sinn keine politische Repräsentation, sondern eine privatrechtliche Vertretung. Von Repräsentation will er dagegen nur sprechen, wenn in ihr „eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung“ kommt.65 Körösényi hält diese Schmittsche Konzeption von Repräsentation für geeignet, um den freien und innovativen Charakter der Repräsentation durch einen politischen Führer zu erfassen. Qualitative Repräsentation, die er von seiner „leader democracy“ erwartet, soll nicht re-produzierend oder re-präsentierend sein, sondern kreativ etwas Neues präsentieren.66 Es scheint unbestreitbar, dass Körösényi und Ritzi/Schaal mit der Konzeption der Führerdemokratie eine Seite der widersprüchlichen Entwicklung repräsentativer Demokratien während der letzten Jahre erfassen. Parlamente und Parteien haben in vielen westlichen Demokratien gegenüber den massenmedial inszenierten Spitzenpolitikern ebenso an Bedeutung verloren wie inhaltliche Programme gegenüber professionell erzeugten Kompetenzen und Images. Körösényis Anleihen bei Carl Schmitt unterstreichen jedoch, dass der Kern der empfohlenen Führerdemokratie in der Wiederbelebung einer vor- bzw. undemokratischen Vorstellung von Einheitsrepräsentation liegt. Wo eine Person ihren Machtanspruch mit der Verkörperung höherer Werte oder Ideen begründet, sind Grundprinzipien der Demokratie, wie die Legitimität widerstreitender Meinungen und die Offenheit politischer Entscheidungen, immer in Gefahr, außer Kraft gesetzt zu werden. 5. DIFFERENZREPRÄSENTATION UND KONKRETE FORMEN DER PARTIZIPATION Obwohl also die beiden dargestellten Neuinterpretationen von Autoren wie Plotke, Young und Urbinati auf der einen, Körösényi, Ritzi und Schaal auf der anderen Seite den politischen Charakter der Repräsentationsbeziehung betonen, könnten sie hinsichtlich der jeweils für die Bürger vorgesehenen Rolle kaum gegensätzlicher sein. Die erstgenannten sehen Repräsentation als einen politischen Prozess, der den Bürgern Wahl- und Partizipationsmöglichkeiten bietet, die anderen als ein Verhältnis, das starke politische Führer in die Lage versetzt, die öffentliche Meinung zu formen, notwendige Entscheidungen zu fällen und unabhängig von gesellschaftlichen Interessen Neues hervorzubringen. Wenn wir nun zu den zuerst dargestellten partizipatorischen Theorien zurückkommen, so stellt sich für sie die Aufgabe, innerhalb der theoretisch als offener politischer Prozess rekonstruierten Repräsentationsbeziehung konkrete Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger auszumachen und entsprechende Reformperspektiven für die zeitgenössischen Demokratien zu entwerfen. Dies gilt umso mehr, als 64 Schmitt 1923, S. 36. 65 Schmitt 1928, S. 210. 66 Körösényi 2005, S. 375.

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ja der gegenwärtige Zustand westlicher Demokratien es kaum erlaubt, ihn als die Wirklichkeit gewordene Idee demokratischer Repräsentation zu interpretieren. Bei den Versuchen einer Konkretisierung des Partizipationspotenzials von Repräsentationsbeziehungen zeichnen sich in der Literatur zwei Richtungen ab: Zum einen plädieren vor allem feministisch geprägte Autorinnen wie Iris Marion Young, Jane Mansbridge und Anne Phillips für eine Institutionalisierung gesonderter Repräsentationsrechte für benachteiligte und diskriminierte Gruppen.67 Zum zweiten finden sich in der Literatur Forderungen, die Verantwortlichkeit der Repräsentanten gegenüber ihren Wählern zu stärken und die Einflussmöglichkeiten der Bürger zwischen den periodisch stattfindenden Wahlen durch institutionalisierte Beteiligungsmöglichkeiten zu erhöhen.68 ad 1) Den Forderungen nach Gruppenrepräsentation durch Quoten, die ja auch in der deutschen Politik eine prominente Rolle spielen, durch Anhörungs- oder gar Vetorechte liegt in der Regel die Überzeugung zugrunde, die rechtliche und politische Gleichstellung historisch benachteiligter Gruppen reiche nicht aus, um ihnen eine adäquate politische Repräsentation zu sichern. Iris Marion Young etwa argumentiert, dies sei nicht nur deshalb der Fall, weil diese Gruppen meist nicht über dieselben Voraussetzungen zur Nutzung rechtlich gegebener Chancen verfügten, sondern weil die Gleichheitsideale der bürgerlichen Öffentlichkeit selbst keineswegs unparteiisch und universell seien. Sie beruhten vielmehr auf dem abwertenden Ausschluss von Andersheit, konkret etwa der Körperlichkeit und Affektivität von Frauen.69 Allgemein gelte, dass strukturelle Ungleichheiten in Macht und Rechten durch formal demokratische Verfahren in der Regel nicht überwunden, sondern reproduziert würden.70 Vor diesem Hintergrund scheint es dann geboten, im Namen einer „Politik der Differenz“ für eine größere Heterogenität und Perspektivenvielfalt der Politik zu sorgen, auch wenn dadurch das Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit verletzt wird.71 Die Forderung nach einer „differentiated citizenship“72 mit besonderen Gruppenrechten kollidiert jedoch nicht nur mit dem fundamentalen Gleichheitsgrundsatz rechtsstaatlicher Demokratien. Wenn Frauen durch Frauen, Afroamerikaner durch Afroamerikaner oder türkeistämmige Deutsche durch türkeistämmige Deutsche repräsentiert werden sollen, sei es über Quoten, Anhörungs- oder Vetorechte, so scheint die dabei beanspruchte kollektive Identität auf den ersten Blick

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Young 1997 und 2000; Mansbridge 2000 und 2003; Phillips 1995. Young 1997, S. 361; Young 2000, S. 132; Urbinati 2006, S. 29; Urbinati/Warren 2008. Young 1995, S. 248. Young 2000, S. 34. Zur Kritik daran vgl. Beiner 2006. Young 1995a, S. 184.

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auch dem Verständnis von Repräsentation als Differenzbeziehung zu widersprechen. Sowohl Young als auch Mansbridge tun sich deshalb schwer, die Forderung nach politischen Gruppenrechten mit ihrer differenztheoretischen Perspektive zu vereinbaren. Mansbridge verweist selbst auf die Gefahr des Essentialismus und hält deskriptive Repräsentation deshalb nur unter besonderen Bedingungen für akzeptabel. Dazu nennt sie den Fall eines historisch begründeten Misstrauens zwischen Gruppen oder eine Situation, in der eine bislang benachteiligte Gruppe ihre Interessen noch gar nicht ausbilden konnte.73 Formen besonderer Repräsentation von benachteiligten Gruppen sollen also nur durch bestimmte Funktionen in ganz bestimmten Situationen nach Abwägung der Vor- und Nachteile begründbar sein.74 Auch Iris Marion Young sieht in der Repräsentation benachteiligter Gruppen, die sich auf deren Identität, Interessen oder Meinungen bezieht, die Gefahr der Unterdrückung von Minderheiten innerhalb dieser Gruppen. Bei allen Unterschieden teilten Gruppen jedoch eine gemeinsame gesellschaftliche Perspektive, die von anderen nur schwer eingenommen werden könne. Deshalb will sie mit der Forderung nach besonderer Repräsentation von unterdrückten oder benachteiligten Gruppen lediglich sicherstellen, dass die Perspektiven aller gesellschaftlichen Gruppen im politischen Gemeinwesen vertreten sein sollten.75 Der vorgeschlagene Weg der Gruppenrepräsentation scheint demnach allenfalls in begründeten Ausnahmefällen geeignet, durch Repräsentation Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Auch wenn man von der erwähnten, hier nicht grundsätzlich auszuführenden Problematik der implizierten Verletzung des Gleichheitsprinzips absieht, lässt sich deskriptive Repräsentation nicht auf alle ökonomischen, sozialstrukturell und kulturell bedingten Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen anwenden. Allein Youngs lange Liste benachteiligter Gruppen führt diese Vorstellung ad absurdum.76 Noch weniger aber kann Gruppenrepräsentation schwache Interessen im Sinne horizontaler Disparitäten zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen erfassen, die in der Pluralismuskritik von Olson und Offe eine prominente Rolle spielen.77 Zudem wird die garantierte Repräsentation verschiedener Gruppen im besten Fall dazu führen, dass auf der 73 Ein Beispiel für den ersten Fall wären die Rassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten, für den zweiten kämen Frauen oder Gruppen mit einer abweichenden sexuellen Orientierung in Frage. 74 Mansbridge 2000. 75 Young 1997, S. 370. Diese Einschränkung brachte ihr den Vorwurf von Suzanne Dovi ein, ihre Sorge um die Minderheiten innerhalb benachteiligter Gruppen schwäche die ursprüngliche Intention, die Repräsentation dieser Gruppen zu verbessern (Dovi 2002, S. 732). 76 Für die Gesellschaft der Vereinigten Staaten zählt sie folgende Gruppen auf, die entsprechende Sonderrechte beanspruchen könnten: „Women, blacks, Native Americans, Chicanos, Puerto Ricans and other Spanish-speaking people, Asian Americans, gay men, lesbians, workingclass people, poor people, old people, and mentally and physically disabled people“ (Young 1995, S. 188). 77 Olson 1968; Offe 1972.

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Ebene der Mandats- und Amtsträger die entsprechenden Perspektiven präsent sind, sie trägt jedoch nichts zur Beantwortung der Frage bei, wie der einzelne Bürger die Repräsentationsbeziehung als Partizipationschance nutzen kann. ad 2) Wie oben bereits erwähnt konzipieren Plotke, Young und Urbinati Repräsentation als wechselseitigen politischen Prozess zwischen Bürgern und Repräsentanten. Damit ist Partizipation zwar allgemein als ein Moment der Repräsentationsbeziehung benannt, aber noch wenig ausgesagt über konkrete Beteiligungsmöglichkeiten und ihre institutionelle Ausgestaltung. Nun hat Nadia Urbinati jüngst mit Mark E. Warren verschiedene institutionelle Designs elektoraler sowie die oben bereits erwähnten Formen nicht-elektoraler Repräsentation systematischer diskutiert. Zum ersten Punkt diskutieren die Autoren ohne klare Parteinahme u. a. die Vor- und Nachteile präsidentieller und parlamentarischer Regierungssysteme, Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, die Rolle von Parteien, den zunehmenden Einfluss von Gerichten sowie neuere Vorschläge, über Losverfahren bzw. nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzte Versammlungen zu bilden. Im Ergebnis bekräftigen sie vor allem ihre allgemeinen Aussagen zur repräsentativen Demokratie und plädieren dafür, diese nicht als pragmatische Alternative zur direkten Demokratie zu sehen, sondern als „an intrinsically modern way of intertwining participation, political judgement, and the constitution of demoi capable of self rule“.78 Etwas konkreter werden sie bei der Diskussion der nicht-elektoralen Formen der Repräsentation. Dazu unterscheiden sie zwischen selbsternannten Repräsentanten wie Interessengruppen, Advokatoren, philanthropischen Vereinigungen, Journalisten etc. und sogenannten „citizen representatives“. In den selbsternannten Repräsentanten der Zivilgesellschaft sehen sie vor allem einen Faktor, der eine „negative Volksmacht“ organisieren und in den Fällen eines Versagens der institutionalisierten Repräsentation als Gegenpolitik fungieren kann.79 Zudem wirke diese Form der Repräsentation über nationale Grenzen hinweg auch in Politikbereichen, die noch gar nicht demokratisiert seien.80 Zur zweiten Gruppe rechnen sie sowohl die Geschworenen im klassischen Jurysystem als auch eine lange Liste der in jüngster Vergangenheit geschaffenen institutionalisierten Formen der Bürgerbeteiligung wie Beiräte, öffentliche Anhörungen, deliberative Foren etc. Im deutschen Kontext wären hier wohl spezifischer Mediationsverfahren, Bürgergutachten, -haushalte und -konferenzen zu nennen. Urbinati/Warren warnen darauf bezogen vor den Möglichkeiten der politischen Eliten, sich durch derartige Beteiligungsformen unter Umgehung ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber den Wählern eine Legitimation ihrer Politik zu beschaffen. 78 Urbinati/Warren 2008, S. 402. 79 Ebd., S. 403. 80 Ebd., S. 404.

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Positiv heben sie demgegenüber vor allem zwei Stärken dieser Ergänzungen der repräsentativen Demokratie hervor: Sie seien zum einen in der Lage, in den von ihnen geschaffenen „minipublics“ Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die in den formalen politischen Institutionen nicht beachtet werden und damit breit diskutierte, überlegte Meinungen hervorzubringen; zum anderen könnten sie ein Korrektiv gegenüber den ungleichen Machtpotenzialen gesellschaftlicher Interessenvertreter bilden.81 6. THEORETISCHE REKONSTRUKTION UND AKTUELLE KRISE POLITISCHER REPRÄSENTATION Gemessen an den hohen Ansprüchen der partizipatorischen Neuinterpretationen politischer Repräsentation sind die skizzierten Konkretisierungsvorschläge enttäuschend. Plotkes programmatische Formel „Representation is Democracy“,82 die zu Recht als Motto der Debatte gelten darf, steht für eine theoretisch bleibende Rekonstruktion des demokratischen Potenzials von Repräsentationsbeziehungen. Die verschiedenen Beiträge zur partizipatorischen Neubewertung politischer Repräsentation verabschieden das alte radikaldemokratische Projekt, die Differenz zwischen Regierenden und Regierten in der Identität eines allgemeinen, vernünftigen Willens aufzuheben und deuten die Repräsentationsbeziehung so um, dass sie die politische Autonomie der Bürger nicht länger dementiert, sondern zu einer Möglichkeitsbedingung ihres politischen Handelns wird. Verstehen wir Repräsentationsbeziehungen als optionalen politischen Raum, in dem geurteilt und gehandelt werden kann, verschwindet in der Tat der Gegensatz zwischen Demokratie und Repräsentation. Leider jedoch scheint die Wirklichkeit der westlichen Demokratien dieser Neubestimmung politischer Repräsentation weniger denn je zu entsprechen. Auch wenn Krisen für die Demokratie als einer auf Konflikt und Machtwechsel basierenden Regierungsform der Normalfall sind, so lässt sich doch nicht übersehen, dass die Unzufriedenheit mit den demokratischen Institutionen während der letzten Jahre in allen westlichen Ländern derart zugenommen hat, dass sich kritische Kommentatoren mittlerweile in der Radikalität ihres Abgesangs auf die Demokratie zu übertreffen suchen.83 Erforderlich ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine die Handlungsmöglichkeiten der Bürger in einzelnen Beteiligungsformen konkretisierende Analyse, wie sie ansatzweise etwa in den neueren Beiträgen von Nadia Urbinati geleistet wird, sondern eine Diagnose der aktuellen Repräsentationskrise und ihrer Ursa81 Ebd., S. 405 f. 82 Plotke 1997. 83 Vgl. dazu etwa Colin Crouch mit seiner These der „Postdemokratie“ (Crouch 2004) und Ingolfur Blühdorn, der ihn mit der These überbietet, die Denk- und Verhaltensweisen der Menschen seien bereits so weit von Marktlogik und Konsumorientierung durchdrungen, dass damit auch die Grundlage jeder politisch zu repräsentierenden Identität zerstört sei (Blühdorn 2006). Noch desillusionierter gibt sich Peter Sloterdijk in einem Spiegel Essay (Sloterdijk 2010).

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chen. Dabei wären vor allem zwei Phänomene in den Blick zu nehmen: die offensichtlich wachsende soziale Selektivität der politischen Repräsentation, in deren Folge die Wahlbeteiligungen stark sinken und ganze Bevölkerungsgruppen politisch marginalisiert werden,84 sowie die schlagwortartig als „Publikumsdemokratie“ bezeichneten Veränderungen im Verhältnis von Bürgern, Politikern und Medien.85 Ohne diese Phänomene hier eingehend diskutieren zu können, sei zum Schluss des Beitrages mit der Entpolitisierung des Parteienwettbewerbs aber auf einen Faktor verwiesen, der eng mit beiden Phänomen, der sozialen Schieflage politischer Repräsentation und der marktorientierten Medialisierung der Politik zusammenhängt. Während in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, in den Hochzeiten des sozialstaatlich regulierten Industriekapitalismus, widerstreitende Interessen und Werte noch einen Ausdruck in politischen Konfliktlinien fanden – insbesondere, aber nicht nur, in der zwischen Arbeit und Kapital –, so war dies trotz zunehmender Ungleichheiten in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger der Fall. Neue Ungleichheitsformen wie Dauerarbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder die lokale Segregation ganzer Bevölkerungsgruppen werden zwar öffentlich diskutiert, führten bislang aber weder zu einer Wiederbelebung der alten noch zur Herausbildung neuer prägender politischer Konfliktlinien. Stattdessen ließ sich beobachten, wie die großen Parteien in Reaktion auf den Bedeutungsverlust der alten Konfliktlinien versuchen, in die politische Mitte zu rücken und die klassische Rechts-Links-Unterscheidung durch „sachorientierte Problemlösungen“ und „alternativlose Modernisierung“ zu ersetzen. Exemplarisch hierfür steht die unter dem Etikett des „Dritten Weges“ betriebene Modernisierung der sozialdemokratischen Arbeiterparteien. Eine solche „Politik der Entpolitisierung“ muss dann konsequenterweise ihr Heil in der Professionalisierung ihrer Marketing-Strategien und insbesondere in der mediengerechten Präsentation ihres Führungspersonals suchen. Aufgrund einer derartigen inhaltlichen Entleerung ihrer Konkurrenz können Parteien die wichtigste Aufgabe politischer Repräsentation, die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen- und Meinungskonflikte zu entscheidbaren politischen Alternativen umzuformen, nicht mehr wahrnehmen. Damit verliert nicht nur der Wahlakt selbst seine Bedeutung. Darüber hinaus kann sich ohne politische Repräsentation von Alternativen auch der oben skizzierte öffentliche Prozess der Beratung und des Urteilens nicht entfalten. In der Folge kommt es zu einer Schließung des politischen Raumes, die in populären Formeln der Politikverdrossenheit ihren Ausdruck findet, wie „es gibt doch eh nichts zu entscheiden“, „die tun sowieso was sie wollen“ u. ä. m.86 Demokratische Politik 84 Schäfer 2010. 85 Manin 1997. 86 Laut einer 2010 erhobenen Forsa Umfrage beklagen 79 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass auf die Interessen des Volkes kaum Rücksicht genommen wird. Lediglich vier Prozent glauben, Wahlentscheidungen würden in starkem Maße die Richtung der Politik bestimmen, 53 Prozent sehen „etwas Einfluss“, 43 Prozent sind der Meinung, dass Wahlen für die Richtung der Politik bedeutungslos sind (Bürger fühlen sich der Politik ausgeliefert 2010).

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ist ohne Parteinahme nicht denkbar, die Bürger können aber nur Partei ergreifen, wenn und soweit politische Alternativen repräsentiert werden. In einem jüngst mit Markus Linden veröffentlichten Beitrag zu möglichen Auswegen aus der derzeitigen Krise politischer Repräsentation haben wir deshalb die Repolitisierung gesellschaftlicher Probleme und Konflikte in den Mittelpunkt gestellt.87 Politische Repräsentation hat nicht nur die Aufgabe, konkurrierende Eliten zur Wahl zu stellen, sondern Alternativen der gesellschaftlichen Entwicklung für die Bürger sichtbar und politisch entscheidbar zu machen. Dies setzt allerdings voraus, dass die Politik sich aus der Unterordnung unter die vermeintlichen Sachzwänge der kapitalistischen Ökonomie befreit. Zu einem solchen Repräsentationsverständnis gehört ein Verständnis von Verantwortlichkeit der Repräsentanten gegenüber den Bürgern, das es ermöglicht, getroffene Entscheidungen zuzuordnen und zu sanktionieren. Der Prozesscharakter politischer Repräsentation, der im Zentrum der oben skizzierten partizipatorischen Neubewertungen steht, ist ohne die Zuordenbarkeit von Entscheidungen und die Verantwortlichkeit der Repräsentanten gar nicht vorstellbar. Beides ließe sich durch eine Ausweitung des Öffentlichkeitsprinzips verbessern. Wenn der Bürger nur noch mit den Verhandlungsergebnissen von Koalitionsausschüssen oder dem Output der Mehrebenenpolitik konfrontiert wird, kann er das spezifische Handeln verschiedener Repräsentanten weder erkennen noch beurteilen, geschweige denn beeinflussen oder gegebenenfalls sanktionieren. Die derzeit diskutierten Reformvorschläge zur Wiederbelebung der repräsentativen Demokratie, die von direktdemokratischen Elementen über Mediationsverfahren zu kooperativen und konsultativen Beteiligungsformen reichen, werden u. E. zu wenig nach den Effekten beurteilt, die von ihnen auf die Offenheit des politischen Prozesses und seine Strukturierung durch alternative Handlungsoptionen ausgehen. So können beispielsweise fakultative Referenden als eine Art Bürgerveto wirken, um einen über gewichtige Interessen oder Meinungen in der Bevölkerung hinweggehenden Elitenkonsens aufzubrechen und den demokratischen Prozess erneut für Alternativen zu öffnen. Mediationsverfahren und kooperative Beteiligungsformen sind u. a. daran zu messen, ob sie lediglich der Legitimationsbeschaffung für bereits getroffene Entscheidungen dienen oder den Bürgern die Möglichkeit bieten, ein Gegengewicht zum politischen Einfluss mächtiger Interessengruppen zu bilden. Gegenüber der im Zusammenhang dieser Diskussion jüngst vertretenen Perspektive einer die repräsentative Demokratie ablösenden „multiplen Demokratie“ als einem „komplexen Gefüge verschiedener Handlungsformen und institutioneller Arrangements“88 halten wir es jedoch für wichtig, dass das demokratische Grundprinzip der politischen Gleichheit, das der Legitimation durch Wahlen zugrunde liegt, durch zusätzliche Beteiligungsformen nicht entwertet wird. Von daher gilt es in der institutionellen Ausgestaltung nicht-elektoraler Beteiligungsformen darauf zu achten, der in anspruchvolleren Formen der Partizipation grundsätzlich gegebenen Gefahr der sozialen Selektivität entgegenzuwir87 Linden/Thaa 2011. 88 Nolte 2011, S. 10.

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ken. Neben der Optionalität des politischen Prozesses, der Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit von Entscheidungen sind deshalb auch Inklusivität und partizipatorische Parität89 wichtige Kriterien zur Beurteilung neuer Beteiligungsformen im Rahmen repräsentativer Demokratien. LITERATUR Ankersmit, Frank R., 1996: Aesthetic Politics. Political Philosophy Beyond Fact and Value, Stanford. Barber, Benjamin, 1994: Starke Demokratie, Hamburg. Beiner, Ronald, 2006: Multiculturalism and Citizenship: A Critical Response to Iris Marion Young. In: Educational Philosophy and Theory 38, H.1, S. 25–37. Blühdorn, Ingolfuhr, 2006: billig will Ich. Post-demokratische Wende und simulative Demokratie. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H.4, S. 72–83. Bürger fühlen sich der Politik ausgeliefert. In: Spiegel online 11.11. 2010, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,728640,00.html (27.1.2011). Crouch, Colin, 2004: Post-democracy, Cambridge. Dovi, Suzanne, 2002: Preferable Descriptive Representatives: Will Just Any Woman, Black, or Latino Do? In: American Political Science Review 96, H.4, S. 729–743. Fraser, Nancy, 2001: Von der Umverteilung zur Anerkennung? In: Fraser, Nancy: Die halbierte Gerechtigkeit, Frankfurt a. M., S. 23–66. Fraser, Nancy, 2007: Die Transnationalisierung von Öffentlichkeit. In: Niesen, Peter/Herborth, Benjamin (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt a. M., S. 224–253. Gauchet, Marcel, 1990: Die totalitäre Erfahrung und das Denken des Politischen. In: Rödel, Ulrich: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M., S. 207–238. Habermas, Jürgen, 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen, 1996: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. Hamilton, Alexander/Madison, James/Jay, John, 1981: The Federalist Papers, Baltimore. Herb, Karlfriedrich, 2000: Verweigerte Moderne. Das Problem der Repräsentation. In: Brandt, Reinhard/Herb, Karlfriedrich (Hrsg.): Jean Jacques Rousseau. Vom Gesellschaftsvertrag, Berlin, S. 167–188. Körösényi, András, 2005: Political Representation in Leader Democracy. In: Government and Opposition 40, H.3, S. 358–378. Lefort, Claude: Die Frage der Demokratie. In: Rödel, Ulrich: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M., S. 281–297. Linden, Markus/Thaa, Winfried, 2011: Die Krise der Repräsentation – gibt es Auswege? In: Dies. (Hrsg.): Krise und Reform politischer Repräsentation, Baden-Baden, S. 305–324. Manin, Bernard, 1997: The Principles of Representative Government, Cambridge. Mansbridge, Jane, 2000: What Does a Representative Do? Descriptive Representation in Communicative Settings of Distrust, Uncrystallized Interests, and Historically Denigrated Status. In: Kymlicka, Will/Norman, Wayne (Hrsg.): Citizenship in Diverse Societies, Oxford, S. 99– 123. Mansbridge, Jane, 2003: Rethinking Representation. In: American Political Science Review 97, H.4, S. 515–528. 89 Nancy Fraser nennt diese beiden Begriffe als normative Kriterien im Zusammenhang der Diskussion um eine Transnationalisierung von Öffentlichkeit (Fraser 2007, S. 247).

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DELIBERATIVE PARTIZIPATION Eine kritische Analyse des Verhältnisses von Deliberation, demokratischer Öffentlichkeit und staatlicher Entscheidung Gary S. Schaal und Claudia Ritzi 1. PROBLEMEXPOSITION Viele zeitgenössische liberale Demokratietheorien beschränken die normativ wünschenswerten Formen politischer Partizipation auf die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Wahlen und Abstimmungen.1 Die daraus resultierende „aggregative Responsivität“ einer Regierung gegenüber den auf diese Weise in den demokratischen Prozess eingespeisten und normativ unhintergehbaren politischen Präferenzen wird damit zum zentralen Bewertungskriterium der demokratischen Performanz liberaler Demokratien.2 Doch ist an diesem Demokratiemodell in den letzten 20 Jahren massive Kritik geübt worden. So argumentierte Cass Sunstein bereits 1991 aus einer deliberativ-republikanischen Perspektive, dass die politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger in spezifischen Fällen durchaus übergangen werden dürfen.3 Grundlegender war die Kritik von Bernard Manin: Er argumentiert, dass die Legitimation des demokratischen Prozesses nicht aus der aggregativen Responsivität, sondern aus dem Prozess der deliberativen Genese politischer Präferenzen resultiert.4 Ähnlich auch Dryzek: „[O]utcomes are legitimate to the extent they receive reflective assent through participation in authentic deliberation by all those subject to the decision in question“.5 Der für diesen Diskurs zentrale Jürgen Habermas plädiert für eine grundbegriffliche Umstellung vom Konzept der praktischen Vernunft hin zu einem der kommunikativen Vernunft.6 Diese Umstellung ist für die Demokratietheorie folgenreich, da die Volkssouveränität als zentrale Legitimationsfigur nicht mehr subjektphilosophisch gedacht werden kann. Das heißt: Die einzelnen Bürgerinnen und Bürger sind nicht im Aggregat Trägerinnen und Träger der Souveränität, sondern die Souveränität zieht sich in jene anonymen deliberativen Foren und Arenen zurück, die die gemeinsame Deliberation ermöglichen. 1 2 3 4 5 6

Vgl. Dahl 1991; Sartori 1990. Vgl. Saward 1991. Vgl. Sunstein 1991. Vgl. Manin 1987. Dryzek 2001, S. 651. Vgl. Habermas 1996; 1998.

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Damit verlagert sich die normative Aufmerksamkeit von dem Ideal der „aggregativen Responsivität“ gegenüber den vorpolitischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger auf das Ideal „deliberativer Responsivität“: „Democratic deliberation should somehow embody the essential democratic principles of responsiveness to public wishes.“7 Aus diesem Paradigmenwechsel resultieren gravierende legitimatorische Herausforderungen in Bezug auf das Verhältnis von demokratischer Öffentlichkeit zu staatlicher Entscheidung und Entscheidungsfindung.8 Die erste Klasse von Herausforderungen resultiert aus dem Fakt, dass deliberative Formen der Entscheidungsfindung typischerweise als Ergänzung in liberalrepräsentative implementiert werden sollen und damit zwei Legitimationsressourcen gleichzeitig gelten. Doch wann sollen staatliche Entscheidungen dem Ideal der aggregativen, wann der deliberativen Responsivität folgen? Welche Entscheidungsprozedur besitzt im Konfliktfall Vorrang? Die zweite Klasse von legitimatorischen Herausforderungen resultiert aus normativen Zielkonflikten innerhalb der deliberativen Demokratietheorie. Deliberative Entscheidungsverfahren und -prozeduren sind nur dann und in jenem Maße legitim, in dem sie spezifische normative Ideale erfüllen. Diese sind: „equal opportunity of access to political influence“,9 Transparenz, Diskursivität und deliberative Responsivität. Wir vertreten die These, dass diese normativen Ideale, die auf der theoretischen Ebene harmonieren und sich wechselseitig stützen, vor dem Hintergrund empirischer Studien in der politischen Praxis problematisch werden. Konkreter wird deutlich, dass ein trade-off zwischen Transparenz und Diskursivität besteht, wenn eine differenzierte Analyse der Effekte von Öffentlichkeit vorgelegt wird. Damit wird die Legitimation deliberativer Verfahren in empirischer Perspektive problematisch. Die folgenden Ausführungen thematisieren vier legitimatorische Herausforderungen, die sich einstellen, wenn deliberative Entscheidungsfindungsprozeduren und normative Ideale in ein liberal-repräsentatives Institutionensetting implementiert werden. Die legitimatorischen Fragen werden hierbei vor dem Hintergrund empirischer Studien aus der Partizipations-, Deliberations- und Medienforschung diskutiert. Diese empirisch gesättigte normative Diskussion erscheint uns angemessen, da deliberative Entscheidungsverfahren immer häufiger faktisch implementiert werden. 2. DELIBERATION, ÖFFENTLICHKEIT UND STAATLICHE ENTSCHEIDUNGSFINDUNG – DAS THEORETISCHE FUNDAMENT Das theoretisch-konzeptionelle Verhältnis von Öffentlichkeit und staatlicher Entscheidung soll in einem ersten Schritt aufgrund seiner Bedeutung für den gesamten Ansatz anhand der Argumentation von Habermas in Faktizität und Geltung 7 8 9

Parkinson 2003, S. 180. Vgl. Parkinson 2003. Knight/Johnson 1997, S. 280.

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nachvollzogen werden.10 Die Vermittlung zwischen der Zivilgesellschaft, den Diskursen in den verschiedenen Öffentlichkeiten und der administrativen Macht (i. S. staatlicher Entscheidungen) soll hier das Recht leisten, da Recht gegenüber den Rechtsadressatinnen und -adressaten begründungsnotwendig ist, das politische System aus sich heraus jedoch keine guten Gründe (für die öffentliche Begründung von Politiken) generieren kann, sondern auf den „Pool von Gründen“ zurückgreifen muss, der von der Zivilgesellschaft im Zuge öffentlicher Diskurse generiert wird. „Im diskurstheoretisch begriffenen Rechtsstaat verkörpert sich die Volkssouveränität nicht mehr in einer anschaulich identifizierbaren Versammlung autonomer Bürger. Sie zieht sich in die gleichsam subjektlosen Kommunikationskreisläufe von Foren und Körperschaften zurück. Nur in dieser anonymen Form kann ihre kommunikativ verflüssigte Macht die administrative Macht des Staatsapparates an den Willen der Staatsbürger binden.“11

Die diskursive Genese des Rechtes überwindet somit die neuzeitliche Trennung von Legalität und Legitimität, die dem geschichtlichen Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung geschuldet ist, da Recht und Moral sich für Habermas ergänzen. Der kritische Gehalt der Habermas’schen Theorie bezieht sich dabei stärker auf die Begründung deliberativer Demokratie und weniger auf die Erwartung intensiver faktischer Deliberation in den westlichen Demokratien. Entsprechend differenziert Habermas drei Modi demokratischer Politik: zwei Routinemodi und einen „außerordentlichen Problemverarbeitungsmodus“.12 Im Routinemodus setzt das Politische System selbst die politische Agenda, d. h. es löst jene Probleme – ohne Rekurs auf die Zivilgesellschaft –, die es selbst identifiziert hat. Normativ anspruchsvoller ist das zweite Modell, in dem das politische System zwar die Agenda setzt, in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit jedoch dezentral über Problemlösungen deliberiert wird. Der außerordentliche Modus liegt dann vor, wenn die Zivilgesellschaft selbst die politische Agenda setzt und das politische System durch „Belagerung“ zum Handeln zwingt. Grundsätzlich ist das politische System auf die Problemwahrnehmungskapazitäten zivilgesellschaftlicher Akteure angewiesen. Sie dienen als Seismographen jener gesellschaftlichen Problemlagen, für die das politische Zentrum noch keine Sensibilität entwickelt hat. Um das politische System in empirischer Perspektive vor einem input-overload zu bewahren, konzeptualisiert Habermas es in Anlehnung an Bernhard Peters als ein Schleusenmodell mit Zentrum und Peripherie, in dem die unterschiedlichen Schleusen als „Filter“ fungieren.13 Auf welche Öffentlichkeit sollte Politik jedoch mit deliberativer Responsivität reagieren? Auf welche Diskurse und Diskursergebnisse in den fragmentierten und pluralisierten Öffentlichkeiten kann eine Regierung in empirischer Perspektive 10 Habermas 1998. Vgl. auch die Beiträge in Schaal 2009 für weiterführende Analysen zum Verhältnis Staat – Öffentlichkeit bei Habermas. Vgl. auch Peters 1993 für eine ausführlichere Darstellung des Demokratiemodells von Habermas. 11 Habermas 1998, S. 170. 12 Habermas 1998, Kap. VIII. 13 Vgl. Peters 1993.

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zurückgreifen? Rekurrieren wir noch einmal auf den Ansatz von Habermas. Er konzipiert Öffentlichkeit als ein „Netz für die Kommunikationen und Stellungnahmen“.14 Der öffentliche Raum wird durch kommunikatives Handeln also überhaupt erst konstituiert. Die Öffentlichkeit vermittelt die Kommunikationskreisläufe in und zwischen drei Sphären: dem politischen System, den privaten Sektoren der Lebenswelt und den funktional ausdifferenzierten Handlungssystemen. Diese offene Definition ermöglicht es, Öffentlichkeitstypen und Akteure sehr differenziert zu identifizieren. Typen von Öffentlichkeit reichen von der episodischen Öffentlichkeit, wie Straßen- oder Kneipenöffentlichkeit, über die veranstaltete Öffentlichkeit, wie Parteiversammlungen oder Kirchentage, bis hin zur abstrakten Öffentlichkeit, die massenmedial vermittelt hergestellt wird. Innerhalb jeder dieser Arenen erfolgt eine Binnendifferenzierung verschiedener Akteursrollen wie Teilnehmerinnen/Teilnehmer, Publikum etc. Dort deliberieren die Bürgerinnen und Bürger über lebensweltliche, ökonomische, aber auch über politische Fragen. Damit übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure sowie die Öffentlichkeit zentrale Rollen innerhalb der Demokratietheorie. Habermas differenziert zudem zwischen autochthoner und vermachteter Öffentlichkeit: „Das Resultat einer autochthonen Öffentlichkeit ist die Entstehung einer kommunikativ erzeugten Macht, das Resultat einer vermachteten Öffentlichkeit die einer administrativen Macht, die keine oder geringe Legitimität für sich beanspruchen kann.“15 Die autochthone Öffentlichkeit zeichnet sich in personaler Hinsicht dadurch aus, dass die Kommunikation durch die Akteure der Zivilgesellschaft bestimmt und beherrscht wird. Akteure der Zivilgesellschaft sind einerseits Bürgerinnen und Bürger und andererseits kollektive Akteure wie NSB, NGO etc. Hierin liegt eine wichtige Veränderung in der normativen Orientierung der Theorie, da Habermas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“16 den Neuen Sozialen Bewegungen die emanzipatorische Dimension abgesprochen hatte. Die autochthone Öffentlichkeit zeichnet sich in substanzieller und prozeduraler Perspektive dadurch aus, dass die Geltungsbehauptungen, die in der Öffentlichkeit von den Bürgerinnen und Bürgern aufgestellt werden, auch begründet werden. Das bedeutet, dass mithin die (kontrafaktischen) Präsuppositionen des rationalen Diskurses gelten. In einer vermachteten Öffentlichkeit sind es die Akteure des politischen Zentrums, die – v. a. vermittelt über die Massenmedien – den Diskurs in der Öffentlichkeit dominieren. Ihr Kommunikationsmodus ist nicht der rationale Diskurs, nicht kommunikatives, sondern strategisches Handeln und bargaining.

14 Habermas 1998, S. 436. 15 Gerhards 1997, S. 6 16 Habermas 1981.

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3. VIER HERAUSFORDERUNGEN DELIBERATIVER RESPONSIVITÄT IM KONTEXT LIBERALER DEMOKRATIE Die erste Herausforderung besteht in der Frage, ob die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Prozessen der Deliberation in der Öffentlichkeit überhaupt als politische Partizipation im Sinne der gängigen Definition von Barnes und Kaase17 gelten kann, denn Deliberation kann unterschiedliche Ziele verfolgen.18 Sie kann u. a. der Selbstaufklärung, der Fremdaufklärung, der Beratung von entscheidungsrelevanten Akteuren/Institutionen sowie der Entscheidungsfindung selbst dienen. Folgt man Dryzek, so ist ein zentrales normatives Ideal der deliberativen Demokratietheorie die deliberative Responsivität,19 d. h. dass in politischen Entscheidungen auf jene Wünsche, Präferenzen, Argumente eingegangen wird oder diese aufgegriffen werden, welche sich im Zuge öffentlicher deliberativer Prozesse entwickelt haben. Doch wie sind diskursive Prozesse, die als bewusste Beeinflussung von politischen Entscheidungen gedacht sind, von jenen zu differenzieren, die der bloßen Selbstaufklärung dienen? Ein weiteres Ideal der deliberativen Demokratietheorie ist die Diskursivität. Präferenzen, Argumente, Wünsche gewinnen in jenem Maße an Legitimität, in dem sie sich dem „Säurebad des öffentlichen Diskurses“20 ausgesetzt haben. Die epistemische Dimension der Deliberation ist jedoch von der Beteiligungsdimension unabhängig. Die Kneipen- oder Stammtischöffentlichkeit will z. B. mit ihren kommunikativen Akten die Politik beeinflussen, ohne dabei epistemisch hochwertig zu sein, da typischerweise die Anforderungen eines rationalen Dialoges nicht erfüllt werden. Das Ideal der deliberativen Responsivität befindet sich also in einem legitimatorischen Spannungsfeld, das sich zwischen der Beteiligungsintention und der Beteiligungsqualität in epistemischer Perspektive positioniert. Die zweite Herausforderung resultiert aus der Dualität und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen demokratischer Legitimation und demokratischer Willensbildung. Keine zeitgenössische deliberative Demokratietheorie verlässt den institutionellen Rahmen der repräsentativen Demokratie vollständig, vielmehr werden deliberative Entscheidungsverfahren als Ergänzung zum institutionellen Setting der liberal-repräsentativen Demokratie eingeführt.21 Damit stellt sich die Frage nach dem normativen Verhältnis von Deliberation zu liberaler Repräsentation – von deliberativer Responsivität zu aggregativer Responsivität – im demokratischen Prozess. Die dritte Herausforderung resultiert aus dem normativen Ideal, wonach genau jene Handlungsnormen gültig sind, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können“.22 Dieses Ideal ist 17 18 19 20 21 22

Vgl. Barnes/Kaase 1979. Vgl. die Beiträge in Elster 1998. Dryzek 2001, S. 651. Habermas 1998, S. 67. Vgl. Habermas 1998. Habermas 1998, S. 138.

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jedoch nicht freistehend, sondern impliziert ein weiteres: die „equal opportunity of access to political influence.“23 Was impliziert das letztere normative Ideal? Es kann in zumindest zweierlei Hinsicht konkretisiert werden: Auf der prozeduralen Ebene kann es dahingehend spezifiziert werden, dass jede Bürgerin und jeder Bürger den gleichen Zugang zur Öffentlichkeit und zur Deliberation beanspruchen kann. Nur in jenem Fall, in dem jede Bürgerin und jeder Bürger den gleichen Zugang zur Öffentlichkeit besitzt, ist es möglich, das Inklusionskriterium zu erfüllen, das aus dem Ideal resultiert, wonach Entscheidungsbetroffene auch Entscheidungsberechtigte sein sollen. Auf der substanziellen Ebene verlangt das Ideal der „equal opportunity of access to political influence“, dass die Bürgerinnen und Bürger die gleichen und adäquaten Möglichkeiten haben, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die substanzielle Dimension erschöpft sich jedoch nicht darin, dass Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte besitzen. Vielmehr geht es auch darum, dass die beteiligten Bürgerinnen und Bürger innerhalb der diskutierenden Gruppe die gleichen Chancen haben, dass ihre Position gehört und aufgenommen wird. Erst wenn diese Kriterien erfüllt sind, kann das regulative Ideal der deliberativen Responsivität greifen. Die faktische Inklusivität deliberativer Prozesse ist jedoch ein normatives Ideal, hinter dem die politische Beteiligungswirklichkeit systematisch zurückbleibt. Doch welche Legitimität kann ein nicht-inklusiver deliberativer Prozess als Basis deliberativer Responsivität des politischen Systems für sich beanspruchen? Dryzek greift diese Bedenken auf, wenn er argumentiert, dass von der regulativen „idea of legitimacy from a head count“ insoweit abgerückt werden kann, als dass „this constellation [der deliberative Prozess in der politischen Öffentlichkeit; GS & CR] is subject to the reflective control of competent actors“.24 Dieses Zitat hilft, zwei von vielen Autorinnen und Autoren in diesem Diskurs geteilte implizite Annahmen zu explizieren: Das Argument, wonach „competent actors“ die deliberative Situation reflexiv kontrollieren sollen, verweist erstens auf die Frage, ab wann eine deliberativ entwickelte Präferenz epistemisch „hochwertig“ genug ist, um Objekt deliberativer Responsivität zu sein. So argumentieren u. a. Robert Goodin25 und Claus Offe26, dass politische Präferenzen, die nicht (hinreichend) deliberativ aufgeklärt sind, übergangen werden dürfen.27 Dies wirft aus der Perspektive des politischen Systems wieder die Frage nach der deliberativen Responsivität auf, denn welche deliberativen Präferenzen ab welcher epistemischen Qualität dürfen Gegenstand deliberativer Responsivität sein? Zweitens muss konzeptionell berücksichtigt werden, dass eine Pluralität von fragmentierten Öffentlichkeiten und Teilöffentlichkeiten existiert, die es unmöglich erscheinen lassen, „das“ Ergebnis öffentlicher Deliberation identifizieren zu können.28 Zudem ist der Natio23 Knight/Johnson 1997, S. 280. 24 Dryzek 2001, S. 660; 665. Vgl. zum Verhältnis von demokratischer Inklusion und epistemischer Qualität deliberativer Prozesse Schaal/Heidenreich 2007. 25 Vgl. Goodin 1995. 26 Vgl. Offe 2003. 27 Goodin spricht von „laundering“, also „Reinigung“ von Präferenzen, vgl. Goodin 1995. 28 Vgl. Peters 2007.

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nalstaat nicht mehr der einzige Kontext von Deliberation. Betroffene von politischen Entscheidungen konstituieren sich über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg und schaffen somit eine transnationale Öffentlichkeit. Dies wirft jedoch eine ganze Reihe von neuen Herausforderungen auf (die Möglichkeiten einer transnationalen Öffentlichkeit, die Sprache der Deliberation etc.). Im Kontext der hier vorgelegten Überlegungen beschränken wir uns jedoch auf den Nationalstaat. Die bisher skizzierten Herausforderungen betrachten deliberative Partizipation als „bottom-up“-Prozess, also aus einer Perspektive heraus, in der die Bürgerinnen und Bürger als zentrale Akteure untersucht werden. Obwohl diese Perspektive maßgeblich für die Legitimation demokratischer Politik ist, entgeht ihr der Blick auf den „top-down“-Prozess, der für das Verhältnis von demokratischer Öffentlichkeit und staatlicher Entscheidung ebenfalls relevant ist. Für die Diskussion der legitimatorischen Herausforderungen im Verhältnis staatliche Entscheidungen–Öffentlichkeit–Bürgerinnen/Bürger ist zunächst das deliberative Ideal der „Transparenz“ einschlägig. Aus ihm folgt, dass die Bürgerinnen und Bürger die gleichen und angemessenen Möglichkeiten besitzen müssen, den politischen Entscheidungsprozess zu verfolgen. Notwendig hierfür sind freie Massenmedien, der freie Zugang zu politischer Information sowie die Publizität der (deliberativen) Entscheidungsfindung im throughput-Bereich des demokratischen Prozesses. Als zweites Ideal wird „Diskursivität“ relevant. Das Ideal der „Diskursivität“ fokussiert auf den Kommunikationsmodus. Das Ideal der Kommunikation im politischen Prozess und gegenüber den Rechtsadressatinnen und -adressaten ist hier arguing und nicht bargaining, d. h. in substanzieller Perspektive die Orientierung am Gemeinwohl.29 Und schließlich wird auch hier das Ideal der „deliberativen Responsivität“ einschlägig, wonach die Outputs des demokratischen Prozesses responsiv hinsichtlich der Ergebnisse und Prozesse öffentlicher Deliberation sein sollen. Die Ideale der „Diskursivität“ und „Transparenz“ folgen logisch aus der Anforderung, wonach demokratische Politik gegenüber den Rechtsadressatinnen und -adressaten – mithin also der Gemeinschaft der (Staats-)Bürgerinnen und Bürger – begründungspflichtig ist. Diese Begründung erfolgt im Medium der Öffentlichkeit. Diskursivität und Transparenz sind auf theoretischer Ebene zwei normative Ideale, die sich wechselseitig stützen und die miteinander optimiert werden können. In empirischer Perspektive ist der Einfluss der Öffentlichkeit, verstanden als das Medium, in dem Diskursivität und Transparenz nicht nur vermittelt, sondern auch generiert werden, auf die beiden Ideale gegenläufig. Diskursivität (verstanden als epistemische Qualität von Kommunikation) und Transparenz (verstanden als jene Öffentlichkeit, in der Diskursivität vermittelt wird) sind vielmehr gegeneinander optimierbar. Die Öffentlichkeit ist nämlich nicht nur ein neutrales Medium, eine „Einbahnstraße“ der kommunikativen Rationalität. Vielmehr vermittelt die Öffentlichkeit auch die (deliberativ nicht gefilterten) Erwartungen der Rechtsadressatinnen und -adressaten an die politischen Entscheidungsträger. Die Heraus-

29 Vgl. Cohen 1989.

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forderung ist für die zentrale Legitimationsinstanz demokratischer Politik – der Parlamentsdebatte – und Öffentlichkeit von herausragender Bedeutung. Die skizzierten Herausforderungen besitzen zunehmende Dringlichkeit. In theoretischer Perspektive ist die Relevanz der deliberativen Demokratietheorie in den vergangenen 20 Jahren stetig gestiegen, da innerhalb der zeitgenössischen Demokratietheorie ein „deliberative turn“30 erfolgte und die deliberative Demokratietheorie „moved beyond the ‚theoretical statement‘ stage and into the ‚working theory‘ stage“.31 Dies findet in empirischer Perspektive seine Entsprechung darin, dass zunehmend häufiger deliberative Entscheidungsprozeduren implementiert werden.32 Darüber hinaus sind diese Verfahren nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa eine Antwort auf die wachsende Nachfrage der Bürgerinnen und Bürger nach zusätzlichen demokratischen Partizipationsformen33 im Angesicht wachsender Legitimationsdefizite liberal-repräsentativer Demokratien.34 Zur besseren Übersicht werden die vier deliberativen Ideale in der folgenden Tabelle den drei Stufen des demokratischen Prozesses zugeordnet. Stufe des politischen Prozesses Input

Throughput Output

Relevante deliberative Ideale

„equal opportunity of access to political influence“ Diskursivität (Diskursive Responsivität) Diskursivität Transparenz Deliberative Responsivität

Tabelle 1: Die Stufen des demokratischen Prozesses und ihre deliberativen Ideale (Quelle: eigene Darstellung)

Die skizzierten legitimatorischen Herausforderungen dürfen also nicht nur auf der theoretischen, sondern sie müssen auch auf der empirischen Ebene adressiert werden. Dies heißt nicht, dass sich die normative Diskussion der Faktizität der politischen Praxis übergibt. Es bedeutet vielmehr, dass die normative Theorie den Dialog mit der Empirie sucht und so zu einer empiriegesättigten normativen Theorie avanciert. Die legitimatorischen Herausforderungen werden im Folgenden aus zwei Perspektiven betrachtet: einerseits mit dominantem Blick auf das Verhältnis Deliberation-Öffentlichkeit-Bürgerinnen/Bürger (3.1), andererseits mit dominantem Blick auf das Verhältnis Staat (staatliche Entscheidungen)-DeliberationÖffentlichkeit (3.2).

30 Vgl. Dryzek 2000. 31 Chambers 2003, S. 307. Vgl. für eine noch immer gehaltvolle Kritik an der deliberativen Demokratietheorie Sanders 1997. 32 Vgl. Gastil/Levine 2005; Kahane et al. 2009. 33 Vgl. Geissel 2009a; 2009b. 34 Vgl. Norris 2011; Ritzi 2012.

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3.1. Deliberation auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger Im Folgenden wollen wir die erste Herausforderung näher analysieren. Wir argumentieren, dass man bestimmte Formen der Deliberation als politische Partizipation klassifizieren kann. Dies macht es einerseits notwendig, genauer zu bestimmen, wann genau von Deliberation als Partizipation gesprochen werden kann. Andererseits impliziert die These, dass Deliberation als Partizipation verstanden werden kann, dass die aggregative Responsivität um die deliberative Responsivität ergänzt werden muss, obwohl dies legitimatorische Vorrangprobleme impliziert (vgl. auch Herausforderung 2). In theoretischer Perspektive muss zunächst konstatiert werden, dass hiermit eine häufig zu identifizierende konzeptionelle Schwachstelle der deliberativen Demokratietheorie angesprochen wird, nämlich das Verhältnis von Partizipation zu Deliberation. Viele Studien stellen beide als distinkte Formen politischen Handelns nebeneinander, d. h. sie diskutieren Partizipation und Deliberation.35 Andere konzeptualisieren eine Verschachtelung der beiden Formen im Sinne einer Partizipation in der Deliberation. Die hier vorgeschlagene Fragestellung verbindet die beiden Formen im Sinne von Partizipation als Deliberation. Das „als“ ist eine implizite Annahme etlicher Studien36 und liegt auch dem Ideal deliberativer Responsivität zu Grunde, dessen normative und legitimatorische Problematik jedoch selten expliziert wird.37 Ob Partizipation als Deliberation konzeptualisiert werden kann, ist zunächst von der Definition von Deliberation abhängig.38 Ein gängiger Ansatz konzipiert Deliberation konsequentialistisch, d. h. als Deliberation werden nur jene dialogischen kommunikativen Akte gewertet, die durch den rationalen Austausch von Argumenten, orientiert am regulativen Ideal des Konsenses, eine Entscheidungsfindung anstreben.39 Diese Definition erscheint nicht nur aufgrund ihrer kognitivistischen Orientierung verkürzt,40 sondern auch inadäquat, um kommunikative Prozesse in der politischen Öffentlichkeit konzeptionell zu fassen. Greift man auf die Beiträge in Elster zurück,41 so können konsequentialistisch zumindest vier Ziele von Deliberation identifiziert werden: Selbstaufklärung, Fremdaufklärung, Beratung von (politisch entscheidungsbefugten) Dritten sowie Entscheidungsfin-

35 Vgl. Mutz 2002; 2006. Wobei festgehalten muss, dass Mutz ein Deliberationskonzept nutzt, das zwischen Deliberation und weniger anspruchsvoller Kommunikation nur schwach differenziert. 36 Vgl. Dryzek 2001. 37 Insofern geht es weniger um die Frage „can the people govern“ (Rosenberg 2007), sondern „how ‚can the people govern‘“? 38 In ihrem State of the Art-Aufsatz haben Mansbridge et al. (2010) einen sehr umfassenden Überblick über die Genealogie des Deliberationskonzepts vorgelegt, auf deren Analyse wir hier rekurrieren. 39 Vgl. Cohen 1989. 40 Vgl. Kingston 2008; Thompson/Hoggett 2001. 41 Vgl. Elster 1998.

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dung und -beeinflussung.42 Die empirische Alltagserfahrung zeigt jedoch, dass die dominanten Ziele der Deliberation in der politischen Öffentlichkeit oder der Zivilgesellschaft Selbst- und Fremdaufklärung sind, nicht jedoch Entscheidungsfindung. Auch wenn der Sprache das „Telos der Verständigung“43 und damit eine immanente Tendenz hin zur Konsensfindung eingeschrieben ist, so wird dieser Prozess unter lebensweltlichen Bedingungen doch habituell früher abgebrochen. Solche diskursiven Prozesse maximieren damit nicht ihre kommunikative Rationalität und epistemische Qualität, sondern optimieren sie bestenfalls nur. Als politische Partizipation können alle freiwilligen Handlungen und Verhaltensweisen definiert werden, mit denen intentional Einfluss auf Entscheidungen auf allen Ebenen des politischen Systems ausgeübt werden soll.44 Folgt man der gängigen Differenzierung in konventionelle und unkonventionelle bzw. verfasste und nicht verfasste Beteiligungsformen, so ist Partizipation als Deliberation eine unkonventionelle, nicht verfasste politische Beteiligungsform. Nachdem wir verdeutlicht haben, wie Partizipation als Deliberation konzeptionell gefasst werden kann, können wir uns der zweiten Herausforderung zuwenden: der Frage, ob, und wenn ja, in welcher Intensität das deliberative Ideal der „equal opportunity of access to political influence“ in empirischer Perspektive realisiert werden kann. Deliberative Partizipation korreliert – wie unkonventionelle politische Partizipationsformen generell – positiv mit der individuellen Ressourcenausstattung.45 Bildung, Einkommen, sozialer Status, Eingebundenheit in soziale Netzwerke sind wichtige Prädiktoren unkonventioneller, aber auch konventioneller Partizipation.46 Entsprechend weisen auch die meisten deliberativen Gruppen, sofern sich deren Mitglieder selbst rekrutieren, einen sozialen Bias auf.47 Es sind vor allem Vertreterinnen und Vertreter der Mittelklasse, des Bildungsbürgertums, die bei Bürgerversammlungen etc. zusammenkommen, um sich über politische Fragen auszutauschen. Diese soziale Schicht und ihre politischen Präferenzen sind damit in der (semi-institutionalisierten) Öffentlichkeit überrepräsentiert. Auch bei Wahlen und Abstimmungen beteiligen sich die ressourcenstarken Schichten der Gesellschaft deutlich intensiver als die ressourcenschwachen; der Unterschied in der Partizipationsintensität ist bei direktdemokratischen Beteiligungsformen und deliberativen Partizipationsformen jedoch weitaus größer.48 Greift man auf das Ideal zurück, wonach nur jene Handlungsnormen gültig sind, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. auch Thompson 2008. Habermas 1998, S. 75. Vgl. Barnes/Kaase 1979. Vgl. Nover 2009. Vgl. Ehegötz 2011; Klandermans/Roggeband 2009. Vgl. Fishkin 2011. Die Einsicht in die anspruchsvollen Voraussetzungen diskursiver Verfahren findet sich bei Habermas bereits Ende der 1980er Jahre. Er bemerkt, dass „die rationale Qualität der politischen Gesetzgebung [...] auch vom Niveau der Beteiligung und der Schulbildung, vom Grad der Informationen und der Schärfe der Artikulation strittiger Fragen im breiten Publikum“ (Habermas 1987, S. 14) abhängt.

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zustimmen können“49 (vgl. Herausforderung 3), reduziert sich die Legitimität deliberativer Partizipationsformen deutlich, da es gerade nicht alle potenziell Betroffenen sind, die sich an deliberativen Entscheidungs- oder Meinungsbildungsprozessen beteiligen. Es handelt sich hierbei häufig nicht um objektive Ausgrenzungs- oder Selektionsmechanismen, sondern um Prozesse der Selbstexklusion, die aus prekären und asymmetrisch verteilten Ressourcenausstattungen resultieren.50 Doch selbst wenn diese soziale Schieflage überwunden wäre, existieren im Prozess der Deliberation auch kommunikationsbedingte Selektivitäten, die potenziell weitere Asymmetrien erzeugen können. Es war prominent Iris Marion Young,51 die darauf hingewiesen hat, dass die Akzeptanz von Argumenten in deliberativen Prozessen nicht neutral in Bezug auf die Sprecherinnen/Sprecher ist.52 Vielmehr werde die Akzeptanz von Argumenten in heterogen zusammengesetzten deliberativen Gruppen von ähnlichen Statusmerkmalen positiv beeinflusst wie die Bereitschaft zur deliberativen Partizipation selbst. Young argumentiert (aufgrund ihrer Herkunft vor allem mit Blick auf die amerikanische Bevölkerungsstruktur), dass männliche, hellhäutige Akademiker mit einem rationalen, unemotionalen Sprachstil für identische Argumente eher Akzeptanz finden werden als nicht weiße Nichtakademiker, die emotional argumentieren. Es mag hier ausreichen, darauf hinzuweisen, dass auch die empirische Diskursforschung zeigen kann, dass der sozioökonomische Status der Bürgerinnen und Bürger sowohl die Wahrscheinlichkeit ihrer Teilnahme an Diskursen als auch die Wertigkeit ihrer Stimme im Diskurs beeinflusst.53 Die Art des Sprechens beeinflusst also die Akzeptanz des vorgetragenen Arguments – der zwanglose Zwang des besseren Arguments gilt damit nicht gleichermaßen für alle Sprecherinnen und Sprecher. Zweifellos kann eine deliberierende Gruppe, deren Mitgliedern diese Exklusionskriterien bekannt sind, ihr eigenes kommunikatives Verhalten entsprechend anpassen. In der allgemeinen Öffentlichkeit jedoch, in Situationen, die nicht (semi-)strukturiert sind, ist es eher unwahrscheinlich, dass eine entsprechende Sensibilität für diskursive Exklusionsmechanismen an den Tag gelegt wird. In der Herausforderung 2 wurde auf das normative Ideal rekurriert, wonach nur jene Normen Geltung beanspruchen können, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmerinnen/Teilnehmer rationaler Diskurse zustimmen können. Die Akzeptabilität von diskursiv getroffenen Entscheidungen ist jedoch nicht unabhängig von der je individuellen Möglichkeit, sich in den Diskurs als Gleiche einzubringen. Die skizzierten Asymmetrien stellen damit das normative Ideal der „equality of access to influence of political decision“ massiv in Frage.

49 50 51 52 53

Habermas 1998, S. 138. Vgl. Schäfer 2010. Vgl. Young 2001. Vgl. Ritzi/Schaal 2012. Für eine Übersicht über die Ergebnisse von Studien zur Wirksamkeit von Gruppennormen in Deliberationen siehe Karpowitz/Mendelberg 2007 und Mendelberg 2002.

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Die Frage, in welchem Verhältnis deliberative Partizipation zu konventioneller Partizipation steht, ist von Diana Mutz partiell empirisch adressiert worden.54 Auf Basis umfangreicher Netzwerkanalysen kommt sie – in Übereinstimmung mit den Arbeiten von Sunstein55 zum „law of group polarization“ – zu dem Ergebnis, dass die erhofften positiven Effekte von (politischer) Kommunikation sich vor allem dann einstellen, wenn Akteure miteinander kommunizieren, die divergierende politische Präferenzen besitzen. Der größte Teil politischer Kommunikation erfolgt jedoch mit Gleichgesinnten. Je größer das politische Interesse einer/eines Bürgerin/Bürgers, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich diese Tendenz noch verstärkt. Daran ändert auch die Partizipation in sekundären und tertiären Assoziationen nichts – im Gegenteil: In solchen Assoziationen treffen sich maßgeblich im Amerikanischen so genannte like-minded people. Das theoretisch herausforderndste Ergebnis der Studie von Mutz ist jedoch, dass die Partizipation in kommunikativen Prozessen mit Personen, die divergierende politische Präferenzen besitzen, nicht positiv mit der Bereitschaft zur politischen Partizipation in der klassischen Staatsbürgerrolle (v. a. Wählen) korreliert. Deliberation reduziert zudem tendenziell die Intensität, mit der politische Präferenzen vertreten werden.56 Deliberation führt also in der Praxis häufig zu einem normativ unerwünschten Dreiklang: Sie erhöht die kognitive Kompetenz und die individuelle Begründungstiefe von politischen Präferenzen, reduziert jedoch zugleich gerade dadurch (d. h. durch die gut begründete Kontingenzerfahrung) ihre Intensität und verringert damit die Wahrscheinlichkeit der Beteiligung an konventionellen Formen politischer Partizipation, z. B. bei Abstimmungen, die sich an deliberative Verfahren anschließen können und so den politischen Prozess programmieren sollen. 3.2. Staatliche Entscheidung und ihre deliberative Begründung Im Folgenden nehmen wir die legitimatorischen Probleme der Herausforderung 4 näher in den Fokus, indem wir die deliberative Qualität der Begründungen staatlichen Handelns diskutieren. Innerhalb einer liberalen Demokratie, die um Elemente deliberativer Demokratie ergänzt wurde, kann sich eine Regierung sowohl am Ideal der aggregativen als auch der deliberativen Responsivität orientieren (vgl. Herausforderung 2). Unabhängig davon müssen die daraus resultierenden Politiken in beiden Fällen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern begründet werden, und zwar im Rekurs auf den „Pool guter Gründe“, den die Bürgerinnen und Bürger selbst bewirtschaften. Für das legitimatorische Verhältnis von staatlicher Entscheidung und Öffentlichkeit ist es von entscheidender Bedeutung, ob, und wenn ja, welche deliberative Qualität die Begründung staatlichen Handelns besitzt. Damit rücken die Öffentlichkeit bzw. unterschiedliche öffentliche Arenen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zwei Arenen sind in deliberativ-demokratischer 54 Vgl. Mutz 2002; 2006. 55 Vgl. Sunstein 2002. 56 Vgl. Barabas 2004.

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Perspektive dabei von besonderer Bedeutung: Erstens die parlamentarische Arena und zweitens die Massenmedien. Das Parlament ist der Ort, an dem Politiken dargelegt, begründet, entwickelt, bezweifelt und herausgefordert werden. Die parlamentarische Arena kann dabei in zwei Subarenen differenziert werden, einerseits das Parlament als Ganzes und andererseits die Ausschüsse des Parlaments. Beide Subarenen besitzen unterschiedliche Affinitäten zur Öffentlichkeit: Das parlamentarische Forum ist der Ort der allgemeinen Öffentlichkeit und Transparenz, während die Ausschüsse häufig geheim tagen. Die Unterschiede in der Öffentlichkeit besitzen gravierende Konsequenzen für die beiden normativen Ideale der „Diskursivität“ und der „Transparenz“. Es wird sich zeigen, dass die beiden Ideale sich in der parlamentarischen Arena nur gegeneinander, aber nicht gleichzeitig optimieren lassen (Herausforderung 4). Die wenigsten Bürgerinnen und Bürger nehmen Politik und deren Begründung jedoch direkt wahr. Die meisten lernen sie nur vermittelt über die zweite Arena, die Massenmedien, kennen. Insofern sind die Massenmedien der zentrale Ort der Herstellung von Öffentlichkeit für (deliberative) staatliche Entscheidungen. Massenmedien sind jedoch kein Abbild der Wirklichkeit, sie konstruieren sie vielmehr und dies entlang der Eigen- und Verwertungslogiken der Massenmedien, die nicht notwendigerweise kompatibel mit dem Ideal des rationalen Diskurses sind. Im Folgenden betrachten wir zunächst die parlamentarische und anschließend die massenmediale Arena. 3.2.1. Deliberation und Öffentlichkeit in der parlamentarischen Arena Simone Chambers argumentiert in ihrem einflussreichen Aufsatz „Behind Closed Doors“,57 dass öffentliche Begründungen von Politiken zwei normative Ideale erfüllen sollen: Erstens sollen sie epistemisch hochwertig (Sokratische Dimension) und zweitens gemeinwohlorientiert (demokratische Dimension) sein. Chambers arbeitet – in Übereinstimmung mit empirischen Analysen,58 aber entgegen dem theoretischen Mainstream, der von einem holistischen Deliberationskonzept ausgeht – heraus, dass die beiden normativen Ideale unabhängig voneinander sind. Begründungen, die im Medium der Öffentlichkeit artikuliert werden (müssen), besitzen eine Affinität zur Gemeinwohlorientierung. Damit wirkt sich die Öffentlichkeit, unter anderem wenn es um die Arbeit im parlamentarischen Kontext geht, positiv auf die demokratische Dimension von Deliberation aus. Zugleich reduziere die Öffentlichkeit jedoch die epistemische Qualität der Begründungen von Politiken, da die Bereitschaft der Teilnehmerinnen/Teilnehmer zum Eingestehen eigener Fehler oder Präferenzveränderungen unter öffentlicher Beobachtung relativ gering ist. Jene zweite Qualität von Deliberation, die von Chambers als „Sokratische Dimension“ bezeichnet wird, profitiert also von geschlossenen, d. h. 57 Vgl. Chambers 2004. 58 Bächtiger/Shikano/Pedrini 2010.

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geheimen und der breiten Öffentlichkeit nicht zugänglichen settings, da die Diskursbeteiligten ohne die Aufmerksamkeit des Publikums und dessen inhaltlichen Erwartungshaltungen ergebnisoffener und unabhängiger von parteipolitischen Kalkülen argumentieren können und Präferenztransformation bzw. Konsens damit wahrscheinlicher wird.59 Umgekehrt wirkt sich Deliberation im Geheimen nach Chambers Auffassung negativ auf die Gemeinwohlorientierung von Politiken aus, weil hier die Aufsicht bzw. Einsicht der Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger nicht gegeben ist. Auf der Grundlage beider Dimensionen können also vier Kommunikationsformen differenziert werden: „Hochwertige Deliberation, in der Argumente gemeinwohlorientiert und gut begründet sind; plebiszitäre Kommunikation mit gemeinwohlorientierten, aber schlecht begründeten Argumenten; rationale Kommunikation, in der Argumente gut begründet werden, aber auf Partikularinteressen fokussieren; und schließlich den Modus der Verhandlung, mit dem Ziel der Durchsetzung von Partikularinteressen.“60

Demokratische Dimension

Gemeinwohlorientierung Orientierung an Partikularinteressen

Sokratische Dimension Hoher Grad der Begründung von Politiken Hochwertige Deliberation Rationale Kommunikation

Niedriger Grad der Begründung von Politiken Plebiszitäre Kommunikation Verhandlungen

Tabelle 2: Vier Kommunikationsformen nach Chambers 2004 (Quelle: eigene Darstellung)

Das Argument von Chambers wirft ein problematisches Licht auf das Ideal, wonach staatliche Entscheidungen oder Politiken gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern begründungsbedürftig und epistemisch hochwertig sein sollen: Gerade wenn das Ideal der Begründung von Politik im Medium der Öffentlichkeit realisiert wird, reduziert sich die theoretisch erwartbare epistemische Qualität ihrer Begründung. Die beiden normativen Ideale der Transparenz und Diskursivität scheinen zumindest auf den ersten Blick nur gegeneinander optimierbar zu sein (siehe Herausforderung 4). Jenseits dieses grundsätzlichen Konflikts zwischen Transparenz und deliberativer Qualität fokussiert ein großer Teil der empirischen Studien zu Entscheidungsfindungsprozessen in Parlamenten zunächst auf die Frage, ob und inwiefern institutionalisierte politische Kommunikation die Kriterien eines rationalen Dis-

59 Vgl. hierzu bereits Elster 1994. Vgl. Schaal/Fuhse 2005 für eine Analyse der Bedeutung des sukzessiven Verschwindens des Geheimen für die Genese von Verfassungen in der Gegenwart. 60 Roger 2011.

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kurses erfüllt, ob also arguing statt bargaining61 betrieben wird und ob es unter den Beteiligten zu Einigungsprozessen kommt. Hier sind vor allem die Arbeiten der Gruppe um Jürg Steiner zu nennen.62 Diese hat ein Instrument zur graduellen Bestimmung der Qualität eines Diskurses entwickelt, den so genannten „Discourse Quality Index“ (DQI)63 und wendet diesen auf Parlamentsdebatten und parlamentarische Entscheidungsgremien an, um zu überprüfen, inwiefern Debatten dort jenen Kriterien entsprechen, die Habermas in seiner Diskursethik entwickelt hat (z. B. gegenseitiger Respekt, Argumentationsniveau, Wille zur Konsensgenerierung). Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass institutionelle Arrangements die Diskursqualität beeinflussen, beispielsweise stellt die Forschergruppe fest, dass Konsenssysteme (wie Deutschland) deliberationsfreundlicher sind als wettbewerbsorientierte Parteiensysteme (wie Großbritannien). Zudem können die Forscher zeigen, dass Deliberation in Gremien wie dem Vermittlungsausschuss des deutschen Bundestages – also weitgehend unbeobachtet von der politischen Öffentlichkeit – höherwertiger sind als im Plenum.64 In einer Studie der deliberativen Qualität politischer Kommunikation im Vermittlungsausschuss des Deutschen Bundestags kommt Spörndli zu dem Ergebnis, dass konsensualen Entscheidungen meist qualitativ hochwertige Diskurse vorausgehen.65 Dies unterstützt die Hoffnungen von Theoretikern wie Habermas, dass De-

61 In den letzten Jahren erfolgte in der empirischen Deliberationsforschung ein Paradigmenwechsel hinsichtlich der Kategorien der Qualitätsmessung von Deliberation. Während im Anschluss an die klassischen Arbeiten von Elster eine binäre Codierung in arguing und bargaining vorgenommen wurde, argumentieren Bächtiger et al. (Bächtiger/Shikano/Pedrini 2010), dass sich die deliberative Qualität parlamentarischer Kommunikation in unterschiedliche Dimensionen und Sequenzen differenzieren lässt, die nicht unidirektional verlaufen, d. h. dass Deliberation nicht als holistisches Konzept verstanden wird (vgl. auch Mansbridge et al. 2010). 62 Vgl. Steiner et al. 2004. 63 Vgl. Bächtiger/Pedrini/Ryser 2010. 64 Auch Landwehr (2010, S. 113) argumentiert, dass Kommunikation im Plenum “nondiscursive” ist, wobei sie darauf hinweist, dass unterschiedliche Typen von Parlamenten unterschiedliche deliberative Qualitäten aufweisen: „Speakers (usually) hold pre-prepared speeches, assertions cannot immediately be challenged and speaking time and order are assigned according to internal rules of procedure. The addressees of speeches given in parliament are thus listeners rather than hearers, and are therefore not committed to results of interaction.“ Diesen Modus der Kommunikation bezeichnet Landwehr als debate. Anders verhält es sich für sie in Ausschüssen: Da dort Präferenzen nicht nur begründet, sondern auch transformiert werden (können), liege hier eher die Möglichkeit vor, dass eine deliberative Kommunikationssituation eintrete. 65 Vgl. Spörndli 2004. Dieses aus der Perspektive der normativen Theorie der Deliberation positive Ergebnis wird jedoch durch widersprüchliche Ergebnisse anderer Studien in Frage gestellt. So konnte gezeigt werden, dass die Qualität des deliberativen Prozesses durch den Abstimmungsmodus beeinflusst wird (vgl. Mendelberg/Karpowitz 2006). Diskursive Prozesse, bei denen im Vorfeld bekannt ist, dass sie einstimmig entschieden werden müssen, reduzieren – scheinbar in Form antizipierter Selbstbeschneidung – die Bandbreite der Redebeiträge in sachlicher und evaluativer Perspektive deutlich. Anders verhält es sich, wenn nur einfache oder absolute Mehrheiten für Entscheidungen im Anschluss an deliberative Prozesse

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liberation die Qualität und Akzeptabilität politischer Entscheidungen verbessern kann. Die Analysen der deliberativen Qualität von politischer Kommunikation in parlamentarischen Kontexten unterstützen auf empirischer Ebene also die skizzierten theoretischen Erwartungen von Chambers über den Einfluss der Öffentlichkeit auf die Sokratische Dimension von Deliberation.66 Es sind gerade nicht die Parlamentsdebatten, in denen besonders hochwertig deliberiert wird, sondern die Debatten in den Ausschüssen der Parlamente, die sich durch eine höhere epistemische Qualität auszeichnen. 3.2.2. Die deliberative Qualität der massenmedialen Arena Auch der Blick auf die zweite relevante Arena rationaler Diskussion, den massenmedialen Diskurs, wirft ein problematisches Licht auf die Hoffnungen der deliberativen Erweiterbarkeit des liberalen Demokratiemodells: In einer methodisch anspruchsvollen Studie haben Jürgen Gerhards und seine Kollegen den massenmedialen Diskurs in der Bundesrepublik (1970–1994) über die Abtreibung analysiert.67 Sie gelangen hierdurch zu empirisch gesättigten Aussagen über das Rationalitätsniveau dieser Debatte, und zwar differenziert nach Akteursgruppen. Die Ergebnisse dieser Studie sind aus Sicht der normativ anspruchsvollen deliberativen Demokratietheorie desillusionierend, da „[...] die Akteure in der Medienarena weder im hohen Maße ihre Kommunikationen mit Begründungen versehen noch ihr Kommunikationsverhalten die Form eines Diskurses aufweist [...]. [D]ieses Defizit [darf] nicht der Struktur medialer Öffentlichkeit, sondern dem Kommunikationsverhalten der Akteure selbst angelastet [werden]“.68

Die massenmediale Kommunikation scheint derzeit also selbst in Qualitätszeitungen bei weitem nicht jene Standards zu erfüllen, die ein deliberatives Demokratiemodell erfordert. Gerhards belegt in seiner Arbeit zunächst, dass das liberale Öffentlichkeitsmodell wirklichkeitsnäher ist als das deliberative, da die argumentative Qualität der Debatte über Abtreibung generell ein eher geringes Rationalitätsniveau aufweist. So werden beispielsweise nur wenige Begründungen vorgebracht und die verschiedenen Akteure nehmen nur selten Bezug auf die Äußerungen anderer Akteursgruppen. In einem zweiten Schritt belegt die Untersuchung zum Abtreibungsdiskurs, dass die zivilgesellschaftliche Kommunikation – deren Wert in der deliberativen Demokratietheorie besonders hervorgehoben wird, weil sie gemäß der Erwartungen von Habermas und anderen Theoretikerinnen/Theoretikern weniger professionalisiert und von Machtkalkülen beeinflusst sei – ein geringeres notwendig sind. Es ist also notwendig, zwischen Einstimmigkeit als kontingentes Ergebnis deliberativer Prozesse und als formales Entscheidungskriterium zu differenzieren. 66 Vgl. Chambers 2004. 67 Gerhards 1997. 68 Ebd., S. 20–21.

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Rationalitätsniveau aufweist als jene der Sprecher des politischen Zentrums und der Massenmedien. Welche Konsequenzen sollen aus diesen empirischen Einsichten von Gerhards gezogen werden? Gerhards argumentiert: „Eine Theorie der Öffentlichkeit, die an einer Funktionsbestimmung von Akteuren der Zivilgesellschaft festhalten will, muss sich allerdings eine andere als eine diskurstheoretische Begründung suchen.“69 In anderen Worten: Eine Stärkung deliberativer Ideale im politischen Zentrum mag demokratieförderlich sein, sofern die Möglichkeit besteht, den rationalen Austausch von Argumenten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu praktizieren. Ein stärkerer Einbezug zivilgesellschaftlicher Akteure scheint jedoch nicht dazu beizutragen, die deliberative Qualität des öffentlichen Diskurses zu stärken, da ihr Kommunikationsverhalten meist nur eine geringe argumentative Qualität aufweist. Aufgrund der Fragmentierung und Pluralisierung der politischen Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter ist eine solche Bewertung jedoch stets nur – wie in der Studie von Gerhards et al. geschehen – exemplarisch möglich. Die Verallgemeinerbarkeit dieser Ergebnisse muss daher, obwohl sie deliberativen Theoretikerinnen/Theoretikern zweifellos zu denken geben sollten, auch kritisch betrachtet werden. Der Blick auf die Entwicklung der Qualität des öffentlichen Diskurses – sofern er massenmedial vermittelt wird – stimmt dennoch skeptisch. Auch wenn, wie Pfetsch und Adam zu Recht hervorheben, der These der Mediatisierung von Politik bzw. der Rede von der Herausbildung von „Mediendemokratien“ eine Grundsätzlichkeit anhaftet, deren empirischer Nachweis nach wie vor aussteht,70 ist es doch in der Kommunikationswissenschaft derzeit weitgehend unumstritten, dass die Massenmedien in westlichen Demokratien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges kontinuierlich an Macht gewonnen haben und zunehmend als eigenständige Akteure, gemäß der ihnen eigenen Logik, agieren.71 Diese Logik wiederum scheint nicht den Idealen der deliberativen Demokratietheorie zu entsprechen, sondern gehorcht vielmehr den Gesetzen der Marktwirtschaft bzw. des liberalen Öffentlichkeitsmodells: Die Maximierung von ökonomischen Profiten bzw. Marktanteilen steht zunehmend im Fokus der journalistischen Produktion und damit einhergehend kann von einem Trend zur Boulevardisierung und Beschleunigung gesprochen werden.72 Und wie Leggewie zeigt, scheint selbst die steigende Vielfalt an massenmedialen Angeboten derzeit nicht dazu beizutragen, die argumentative Qualität oder Breite des politischen Diskurses zu erhöhen.73 Auch vor diesem Hintergrund sollten die Hoffnungen auf eine zunehmende deliberative Responsivität politischer Entscheidungen derzeit wohl eher vorsichtig als unumwunden optimistisch artikuliert werden.

69 70 71 72 73

Gerhards 1997, S. 32. Pfetsch/Adam 2008, S. 18–19. Vgl. Page 1996. Siehe u. a. McChesney 2008; Bennett 2009; Meyer 2001. Leggewie 2009.

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4. DISKUSSION UND SCHLUSSBETRACHTUNGEN Ziel dieses Aufsatzes war es, das Verhältnis von Deliberation, Öffentlichkeit und staatlicher Entscheidung in normativ-legitimatorischer Perspektive zu analysieren. Dieses Verhältnis ist, wie gezeigt wurde, in vielfältiger Hinsicht problematisch. Unsere Analyse fokussierte dazu vier Herausforderungen: Diskutiert wurden das normative Verhältnis von aggregativer zu deliberativer Responsivität, die Frage nach der Inklusivität deliberativer Prozesse in der allgemeinen und der semistrukturierten Öffentlichkeit, die Frage nach der politischen Partizipationsdimension von Deliberation und schließlich die deliberative Qualität der Begründungen staatlicher Entscheidungen. Um die Herausforderungen einerseits besser fokussieren und die Lösungsangebote andererseits normativ besser bewerten zu können, wurden der Analyse vier wichtige Ideale der deliberativen Demokratietheorie zugrunde gelegt. Dies sind die „equal opportunity of access to political influence“, Transparenz, Diskursivität und deliberative Responsivität. In empirischer Perspektive wurde gezeigt, dass reale Deliberation häufig nicht als das Ziel der Beeinflussung politischer Entscheidungen auf unterschiedlichen Ebenen des politischen Systems eingeschrieben ist. Zudem zeichnen sich reale Deliberationen in der (semistrukturierten) Öffentlichkeit durch eine hohe sozioökonomische Selektivität aus, da die typischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an deliberativen Verfahren höhere Bildung, ein höheres Einkommen, eine bessere soziale Vernetzung etc. besitzen. Diese Exklusion setzt sich in der deliberativen Kommunikationssituation fort, da die Akzeptanz von Argumenten nicht nur von deren rationaler Überzeugungskraft abhängig ist, sondern auch davon, wer das Argument artikuliert. Die (Selbst-)Exklusion der Nicht-Bildungsaffinen kollidiert jedoch mit dem normativen Ideal der „equal opportunity of access to political influence“ und wirft einen legitimatorischen Schatten auf die Idee der deliberativen Responsivität. Es konnte gezeigt werden, dass zumindest die massenmedial vermittelte Öffentlichkeit nicht den Qualitätskriterien einer autochthonen Öffentlichkeit entspricht, d. h. das Kriterium der „Diskursivität“ nicht hinlänglich erfüllt. Im Zuge der Analyse der deliberativen Begründungsqualität von politischen Entscheidungen wurde außerdem eine neue Spannung deutlich: Deliberation wird in der Regel als holistisches Konzept verstanden, in dem die Ideale der Diskursivität und der Transparenz positiv korrelieren. Im Rekurs auf Chambers wurde argumentiert, dass die beiden Ideale unabhängig sind. Übersetzt in die eingangs genannten normativen Ideale der deliberativen Demokratietheorie folgt daraus, dass Transparenz und Diskursivität nicht miteinander, sondern zumindest in der repräsentativ-parlamentarischen Arena nur gegeneinander optimierbar sind. Welche normativen Konsequenzen sind aus diesen Einsichten zu ziehen, wenn die deliberative Begründung staatlicher Entscheidungen zum legitimatorischen Kern der deliberativen Demokratietheorie gehört? Landwehr argumentiert für eine Beibehaltung des Ideals der Öffentlichkeit, trotz der damit einhergehenden Probleme:

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„[…] publicity needs not necessarily at every stage, moment and place to be mass-media publicity, what matters is a logic of publicity. Interaction is more likely to be driven by general and transferable reasons if it is in principle accessible to outsiders and if what is being said is in principle said for everyone to hear. Accessibility could be guaranteed if doors remain ajar, for example if a committee meeting that is not organized for a large audience is nonetheless open to interested members of the public, journalists or researchers.“74

Landwehr ist zuzustimmen, dass Öffentlichkeit und Transparenz definierende Objekte der deliberativen Demokratie sind. Gerade daher erscheint es jedoch zu defensiv, sich auf die schiere Logik der Öffentlichkeit und Transparenz zurückzuziehen und interessierte Bürgerinnen/Bürger, Journalistinnen/Journalisten oder Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftler als normatives Substitut zu identifizieren, denn diese Öffentlichkeit besitzt nur noch die Anmutung von Öffentlichkeit. Legitimation (qua Öffentlichkeit) und epistemische Qualität (qua Öffentlichkeit) scheinen für bestimmte Kontexte auseinanderzufallen – doch gerade die Gleichzeitigkeit von höherer Legitimation und epistemischen Versprechen generiert die Attraktivität der deliberativen Demokratie. Das Auseinanderfallen reduziert die Legitimität deliberativer Entscheidungsprozesse und damit auch die Attraktivität dieses Ansatzes. Deutlich wird, dass aus der Dualität von deliberativen Entscheidungselementen in liberal-repräsentativen Settings normative Probleme der Vor- und Nachrangigkeit entstehen, die nicht nur theoretisch, sondern auch mit Blick auf die Empirie zu beantworten sind. Die Antworten werden durch die Tatsache, dass die deliberativen Entscheidungsstrukturen zudem durch interne normative und legitimatorische Probleme charakterisiert sind, nicht einfacher. Eine institutionelle Lösung könnte in der bewussten Implementation von mini publics, d. h. in der Implementation von Strukturen, in denen Deliberation gleichsam unter Laborbedingungen ablaufen kann, bestehen. An diesen deliberativ erzielten Konsensen oder Präferenzen könnte sich Politik dann – so zumindest die Hoffnung der Verteidiger dieses Ansatzes – orientieren. Im Zentrum dieser Argumentation stehen die Ergebnisse der von James Fishkin initiierten deliberative poll-Projekte.75 Ausgangspunkt der Studien von Fishkin ist die empirische Feststellung, dass Politik im Sinne einer aggregativen Responsivität zunehmend stärker von Meinungsumfragen beeinflusst wird. Durchaus auf einer Argumentationslinie mit Manin76 liegend argumentiert Fishkin, dass die so abgefragten Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger „Null-Präferenzen“ sind, d. h. Meinungen oder Einstellungen, die durch den Akt des Abfragens überhaupt erst generiert werden. Entsprechend sind sie – und dies ist die kritische Dimension der Diagnose von Fishkin – nicht aufgeklärt und ihre politischen Präferenzen entsprechen somit nicht den Mindestanforderungen, die man an diese stellen sollte. Um Politik sachgerecht informieren zu können, müssten Umfragen sachlich fundierte und diskursiv validierte Präferenzen abfragen – und genau dies ist das Ziel des deliberative 74 Landwehr 2010, S. 106. 75 Vgl. Fishkin 2011. 76 Vgl. Manin 1987.

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poll. Er führt Menschen, die nach statistischen Merkmalen ausgewählt wurden und so ein repräsentatives Sample der jeweiligen Bevölkerung darstellen, für einige Tage an einem Ort zusammen. Diese Bürgerinnen und Bürger sollen auf der Basis eines breit angelegten, zuvor per Post verschickten Informationsportfolios und mit Unterstützung von Expertinnen und Experten vor Ort über eine PolicyFrage miteinander diskutieren. Zudem werden die Beratungen auf Video aufgezeichnet und später veröffentlicht (Fernsehen, Internet) – in der Hoffnung, dass die hierdurch noch einmal vergrößerte Öffentlichkeit sich positiv auf die Rationalität der geführten Diskurse auswirkt. Die Policy-Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger werden vor und nach dem deliberative poll abgefragt. Die Transformation der Präferenzen wird von Fishkin als Ergebnis des deliberativen Prozesses gedeutet, die hierdurch auch die Vermutung erhöhter Vernünftigkeit für sich reklamieren können. Fishkin konnte zeigen, dass Deliberation unter Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich deren Policy-Präferenzen verändert – und dort, wo sie nicht verändert wurden, doch zumindest zu einer besseren, d. h. tieferen Begründung prädiskursiver Präferenzen führt. Diese Studien stützen die bereits skizzierten theoretischen Hoffnungen deliberativer Theorie hinsichtlich der diskursiven Reinigung von Präferenzen. Doch sollte sich die verfasste Politik von den Ergebnissen eines deliberative poll beeinflussen lassen?77 Sie könnte sich für diese Option entscheiden, indem sie auf die Vermutung der erhöhten Rationalität rekurriert. Zudem zeichnen sich zufällig ausgewählte und repräsentativ zusammengesetzte Gruppen durch eine höhere Inklusivität aus, als dies konventionelle oder unkonventionelle Partizipationsformen tun. Es liegt also eine De-facto-Inklusion vor,78 die die Ergebnisse eines deliberative poll zu einer wichtigen legitimatorischen Ressource avancieren lassen. Zwei Argumente sprechen jedoch auch dagegen: In deliberative polls besitzen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erstens keine Agenda-Kompetenz, d. h. dass die konkret zu diskutierende Frage nicht durch die Gruppenmitglieder transformiert werden kann. Dies schränkt die epistemischen Vorteile deliberativer Prozesse, in denen die Grundlagen und Themen der Deliberation selbst wieder zu deliberativen Themen werden können, stark ein. Zweitens spricht die Tatsache, dass es sich „nur“ um einen poll – also eine Meinungsumfrage – handelt, dagegen, die Ergebnisse at face value zu nehmen. Deliberative polls können wertvolle Hinweise geben, wie deliberativ transformierte Präferenzen aussehen könnten, es mangelt ihnen jedoch in letzter Konsequenz an Legitimität, wenn sie nicht formalrechtlich kodifiziert in das (dann konventionelle) politische Partizipationsrepertoire aufgenommen werden.

77 Inklusiver als der deliberative poll ist der von Fishkin und Ackerman vorgeschlagene Deliberation Day (Ackerman/Fishkin 2005). Er sieht vor, dass an der Idee des deliberative poll orientierte Beteiligungsverfahren überall im Land gleichzeitig stattfinden und der Dialog nicht nur zwischen den anwesenden Bürgerinnen und Bürgern, sondern, vermittelt über das Fernsehen, auch zwischen den Teilöffentlichkeiten stattfindet. 78 Vgl. Ritzi 2012.

Deliberative Partizipation

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Die Versöhnung von Deliberation und Repräsentation stellt Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler also vor wesentliche Schwierigkeiten, die teilweise erst oder besonders im Licht der empirischen Forschung erkannt und anschließend theoretisch diskutiert und bearbeitet werden können. In den letzten Jahren mag die empirische Deliberationsforschung zwar zu einiger Ernüchterung mit Blick auf die praktische Umsetzbarkeit der normativen Hoffnungen der deliberativen Demokratietheorie geführt haben. Dennoch hat sie auch wesentlich zu der Weiterentwicklung und dem Erfolg dieser Theorieströmung beigetragen. Auch in Zukunft sollte vor diesem Hintergrund eine enge – vielleicht sogar noch engere als die bislang praktizierte – Verzahnung des empirischen und des normativ-analytischen Paradigmas in der Forschung zur deliberativen Demokratie angestrebt werden. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil die in diesem Aufsatz diskutierten Spannungsverhältnisse zwischen Deliberation, politischer Öffentlichkeit und staatlicher Entscheidung mit Herausforderungen einhergehen, die angesichts der steigenden und auch praktischen Bedeutung deliberativer Verfahren dringend der wissenschaftlichen Diskussion und Erforschung bedürfen. Denn auch wenn im vorliegenden Beitrag vielleicht manches Mal ein kritisches Licht auf die derzeitigen praktischen Möglichkeiten deliberativer Responsivität geworfen wurde, soll dies durchaus nicht implizieren, dass die genannten Schwierigkeiten unüberwindbar sind. Im Gegenteil: Gerade weil die deliberative Erweiterung liberaler Staatlichkeit angesichts der Politikverdrossenheit und Postdemokratisierung heute so ungemein bedeutsam erscheint, kommt der Optimierung ihrer Gestaltung auf der Basis politikwissenschaftlicher Forschung in unseren Augen besondere Bedeutung zu. LITERATUR Ackerman, Bruce A./Fishkin, James S., 2005: Deliberation Day, Yale. Barabas, Jason, 2004: How Deliberation Affects Policy Opinions. In: The American Political Science Review 98, H.4, S. 687–701. Barnes, Samuel H./Kaase, Max, 1979: Political Action, Sage. Bächtiger, André/Pedrini, Seraina/Ryser, Mirjam, 2010: Analyzing Political Process: Deliberative Standards, Discourse Types, and Sequenzialization. Conference Paper Democracy as Idea and Practice, Oslo. Bächtiger, André/Shikano, Susumu/Pedrini, Mirjam, 2010: Measuring Deliberation 2.0: Standards, Discourse Types, and Sequentialization. http://ash.harvard.edu/extension/ash/docs/baechtiger.pdf, download am 13.12.2011. Bennett, Lance W., 2009: Power and the News Media: The Press and Democratic Accountability. In: Pfetsch, Barbara/Marcinkowski, Frank (Hrsg.): Politik in der Mediendemokratie. Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift 42/2009, S. 84–102. Chambers, Simone, 2003: Deliberative Democratic Theory. In: Annual Review of Political Science 6, S. 307–326. Chambers, Simone, 2004: Behind closed Doors: Publicity, Secrecy, and the Quality of Deliberation. In: Journal of Political Philosophy 12, H.4, S. 389–410. Cohen, Joshua, 1989: Deliberation and Democratic Legitimacy. In: Hamlin, Alan/Pettit, Philip (Hrsg.): The Good Polity, Oxford, S. 17–34. Dahl, Robert A., 1991: Democracy and Its Critics, Yale.

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STAATLICHKEIT UND PARTIZIPATION Zur Analyse eines Spannungsverhältnisses aus feministischer Sicht Ursula Degener und Beate Rosenzweig „We would not be here if electoral politics were representing the will of the people. We sit and stand and move as the popular will, the one that electoral politics has forgotten and abandoned, but we are here time and again persisting and enacting the phrase We the people.“1

Mit diesen Worten beschloss Judith Butler am 23. Oktober 2011 ihre Solidaritätsadresse an die New Yorker Occupy Bewegung im Washington Square Park. Butler verlieh damit nicht nur ihrer Unterstützung des politischen Protestes Ausdruck, sondern sie bündelte auch eine von den Protestierenden vielfach vorgetragene Kritik an den etablierten Strukturen demokratischer Repräsentation und Entscheidungsfindung. „You don’t represent us“ und „We are the 99%“ wurden zu den wohl meist zitierten Slogans der Protestbewegung. Butler evoziert in ihrer kurzen mit Hilfe des human microphone verbreiteten Rede den Gegensatz zwischen dem Allgemein- bzw. Volkswillen einerseits und der auf eine elitäre Interessenpolitik verkürzten Realität demokratischer Systeme andererseits. Mit ihrem „We the people“ verweist sie auf das uneingelöste Versprechen demokratischer Regierung und bündelt zugleich die fundamentale Kritik an den vorherrschenden Formen demokratischer Repräsentation. Ihrer kritischen Analyse der herrschenden politischen Zustände setzt sie die Notwendigkeit einer sichtbaren und nachhaltigen Rückeroberung des öffentlichen Raumes sowie die Forderung nach einer Politik, die sich an den Grundbedürfnissen der überwiegenden Mehrheit des Volkes orientiert, entgegen. „Die Politik der Straße“ und die basis- wie verhandlungsdemokratische Konsenskultur werden nicht nur in der Occupy Bewegung, sondern auch in anderen politischen Protestkontexten immer wieder als das eigentlich „Demokratische“ den etablierten politischen Strukturen entgegengesetzt. Demokratie, so die zugespitzte Aussage, artikuliert sich in erster Linie als Protest gegen den Staat und die etablierten Strukturen der Demokratie, die als magere Form repräsentativ legitimierter Elitenherrschaft kritisiert werden. Anschließend an diese aktuelle Kritik am gegenwärtigen Zustand der demokratischen Entscheidungsstrukturen wollen wir im Folgenden das Verhältnis von Staatlichkeit und Partizipation problematisieren. Am Beispiel der feministischen Bewegung und ihrer geschlechtertheoretischen Analyse analysieren wir exemplarisch das wechselvolle Verhältnis von sozialer Bewegung und staatlicher Politik. 1

Butler 2011. Deutsche Übersetzung in Schmitt/Taylor/Greiff 2011, S. 35 f.

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Ursula Degener, Beate Rosenzweig

Unsere These lautet, dass sich anhand der feministischen Bewegung – die ohne Zweifel als eine der wirkmächtigsten sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gelten kann – unterschiedliche Beziehungsverhältnisse zwischen staatlicher Politik und sozialer Bewegung verdeutlichen lassen. Eine spannungsfreie Beziehung kann es dabei ebenso wenig geben wie den Verzicht auf gegenseitige Vermittlung. Die u. a. in der Occupy Bewegung zum Ausdruck gebrachte Skepsis gegenüber dem Staat verweist auf die frühe feministische Staatskritik und das Selbstverständnis der Frauenbewegung als einer sozialen Bewegung. Anhand der Entwicklung der Frauenbewegung lässt sich jedoch auch veranschaulichen, dass eine Verengung von Demokratie auf Protest zu kurz greift. Sie negiert Erfolge von sozialen Bewegungen innerhalb staatlicher Institutionen und wird der Notwendigkeit strategischer Bündnis- und Allianzpolitik nur unzureichend gerecht. Im Folgenden werden wir in Anlehnung an Sylvia Walby und Nancy Fraser drei Zugänge der feministischen und geschlechtertheoretischen Auseinandersetzung mit Staatlichkeit und Partizipation unterscheiden.2 Wir bezeichnen sie als „Feminism without the state“,„Feminism within the state“ und „Feminism in a diverse state“. Ihre chronologische Abfolge lässt sich keineswegs mit einer strikten Grenzziehung zwischen den einzelnen Phasen und Verhältnisbestimmungen gleichsetzen. Daher werden wir zunächst die Unterschiede zwischen den einzelnen Zugängen herausarbeiten und auf ihre jeweils charakteristischen Blindstellen verweisen. Die Frage, inwiefern sich aus der Geschichte der Frauenbewegung als einer sozialen Protestbewegung verallgemeinerbare Erkenntnisse auch für die Occupy Bewegung ableiten lassen, wird abschließend diskutiert. 1. „FEMINISM WITHOUT THE STATE“ STAATSKRITIK, EXKLUSION UND DEMOKRATIE ALS PROTEST Die feministische Auseinandersetzung mit dem Staat und seiner Bedeutung begann, wie die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer gezeigt hat, erst verhältnismäßig spät.3 Noch Mitte der 1980er Jahre konstatierte Catherine MacKinnon, dass der Feminismus über keine Staatstheorie verfüge. „Staatsblindheit“ sei vielmehr das grundlegende Charakteristikum feministischer Theoriebildung.4 Diesem Befund ist insofern zuzustimmen, als in der politischen Praxis der zweiten Frauenbewegung der Staat weitgehend links liegengelassen wurde. Unter dem bekannten Slogan „Das Private ist politisch“ konstituierte sich die zweite Frauenbewegung seit Ende der 1960er Jahre im nordamerikanischen und europäischen Kontext als eine soziale Bewegung jenseits des politischen Mainstream und seiner etablierten politischen Strukturen. Der Staat erschien in Erweiterung einer kritischen Theorieperspektive als ein mit Birgit Sauer gesprochen „ideeller Gesamtpatriarch“,5 2 3 4 5

Vgl. Walby 2011, S. 52 ff. und Fraser 2009, S. 97 ff. Vgl. zum Folgenden Ludwig/Sauer/Wöhl 2009, S. 11 ff., und grundlegend Sauer 2001. MacKinnon 1989, S. 157. Ludwig/Sauer/Wöhl 2009, S. 12.

Staatlichkeit und Partizipation aus feministischer Sicht

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staatliche Institutionen und Politiken dementsprechend als Insignien fortgesetzten Frauenausschlusses und der Fortschreibung patriarchaler Geschlechterhierarchisierung. Nicht die Auseinandersetzung mit dem Staat, sondern vielmehr die Begründung eines neuen Politikverständnisses standen im Vordergrund feministischer Politik und Theoriebildung. Emanzipatorische Politik bedeutete die Erschließung neuer „politische(r) Handlungsräume jenseits des Staates und der institutionellen Politik.“6 Die politische Praxis der Frauenbewegung kann dementsprechend mit Sylvia Walby zunächst als eine spontane und wenig formalisierte Mobilisierungs- und Bewusstseinsbildungspolitik charakterisiert werden, bei der die Opposition zum Staat zugleich als konstitutives Element der Selbstverständigung diente.7 Wahrgenommen als ein maßgeblicher Teil des Problems herrschender Geschlechterordnung, wurde dem Staat allenfalls eine instrumentelle, auf geringe finanzielle Projektunterstützung beschränkte Rolle zugeschrieben. „There was“, so Walby, „wariness about taking money from the state if this was thought to compromise the ideals of those involved.“8 Die in poststrukturalistischen Geschlechtertheorien vielfach kritisierte Identitätspolitik der Frauenbewegung und die Vereinheitlichung der Kategorie „Frau“ ging folglich einher mit der zumindest rhetorischen Vereinheitlichung des patriarchalen Staates, gleichsam als einer Leviathanschen Verdichtung bestehender Geschlechterhierarchie. Empirisch untermauern ließ sich die anfänglich feministische Staatskritik nicht nur mit der Eindeutigkeit männlicher Repräsentationsstrukturen – noch bis Mitte der 1980er Jahre betrug der Frauenanteil im deutschen Bundestag unter 10%9 –, sondern auch mit maskulinistischen politischen Rekrutierungsmustern in Parteien, politischen Entscheidungsgremien und staatlichen Verwaltungen.10 Auf staatstheoretischer Ebene fand diese grundsätzliche Kritik mit Carole Patemans „The Sexual Contract“ von 1988 ihre ideengeschichtliche Bestätigung.11 Patemans Akzentuierung der inneren Widersprüchlichkeit liberaler Staatsbegründung gilt als Grundlagentext feministischer Staatskritik.12 Das Ziel ihrer Auseinandersetzung mit der ideengeschichtlichen Begründung neuzeitlicher Staatlichkeit war jedoch nicht in erster Linie ein feministisches „re-reading“ der vertragstheoretischen Klassiker. Vielmehr ging es ihr darum, gegenwärtige politische und soziale Institutionen zu beleuchten und die moderne Form patriarchaler Ge6 7 8 9 10

Ebd., S. 11. Walby 2011, S. 54 f. Ebd., S. 54. Bothfeld/Fuchs 2011, S. 9 f., vgl. auch Brunsbach 2011, S. 3 ff. Vgl. hierzu u. a. Schaeffer-Hegel 1990 und die nach wie vor einschlägigen Forschungen von Hoecker 2008 und Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern, hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2010, S. 7 ff. Zur kommunalpolitischen Ebene vgl. Holtkamp/Schnittke/Wiechmann 2011. Leider wird im Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2011 auf Analysen zur Partizipation von Männern und Frauen verzichtet, vgl. BMFSFJ 2011. 11 Pateman 1988. 12 Vgl. Wilde 2009, S. 32.

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schlechterverhältnisse zu analysieren.13 Warum, so lautete ihr zentrales Erkenntnisinteresse, ging die Begründung der modernen Gesellschaft und des neuzeitlichen Staates nicht mit der gleichen Teilhabe von Frauen und Männern an politischen Entscheidungsprozessen einher? Was ist die Ursache dafür, dass das moderne demokratische Versprechen nach freier und gleicher Staatsbürgerschaft nach wie vor nicht eingelöst ist? Ihre viel zitierte These ist, dass mit der Begründung des neuzeitlichen Staates zugleich eine neue Form „moderner“ patriarchaler Geschlechterordnung festgeschrieben wurde. Die moderne bürgerliche Gesellschaft konstituiert sich Pateman zufolge nicht allein durch die freiwillige Zustimmung von freien und gleichen Individuen, sondern gleichzeitig auch durch die Naturalisierung von Frauen und privaten Geschlechterverhältnissen.14 Die Selbstbestimmung und Emanzipation der männlichen Individuen setzt demnach zugleich die private Unterwerfung von Frauen und die Fortschreibung patriarchaler Geschlechter- und Familienverhältnisse voraus. Die Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit ist demnach konstitutiv für die Begründung neuzeitlicher Staatlichkeit, oder in Patemans Worten, der moderne bürgerliche Staat gründet auf einem Gesellschaftsvertrag der freien Besitzbürger, welcher an einen Geschlechtervertrag gekoppelt ist, der die private und von staatlichen Eingriffen möglichst freie Unterwerfung von Frauen unter männliche Herrschaft festschreibt.15 Das universelle Emanzipationsversprechen der Moderne bleibt damit notwendig exklusiv und auf eine androzentrische Bestimmung des Politischen und des Staates beschränkt. Für Pateman erscheint eine feministische Reformulierung des liberalen Staates grundsätzlich zum Scheitern verurteilt und liberale Staatlichkeit mit dem normativen Ideal emanzipatorischer Demokratie unvereinbar. Aus feministisch/geschlechtertheoretischer Perspektive folgt daraus die Absicht, den Staat als ein patriarchales Herrschaftsinstrument und Gewaltverhältnis zu entlarven, das der einseitigen Interessendurchsetzung dient und auf der privaten Herrschaftszuschreibung von freien und gleichen männlichen Bürgern beruht.16 Selbst wenn Patemans grundsätzliche Ablehnung liberaler Staatlichkeit und ihr Eintreten für eine geschlechtsspezifisch differenzierte Form von StaatsbürgerInnenschaft innerhalb der feministischen Forschung keineswegs auf einhellige Zustimmung gestoßen sind, so hat ihre These von der spezifisch patriarchalen Form moderner Staatlichkeit eine ganze Reihe weiterer Forschungen zur neuzeitlichen Staatlichkeit und der ihr immanenten androzentrischen Struktur nachhaltig inspiriert. Im deutschsprachigen Raum zu erwähnen sind sicherlich die breit rezipierten Thesen der österreichischen Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky zum Staat als „Männerbund“, dessen „vergeschlechtlichte Grammatik“ die Inklusion von Frauen grundsätzlich verhindere. „Unsere staatlichen Institutionen“, so Kreisky 1994 in der politikwissenschaftlichen Einführung von Claus Leggewie, 13 14 15 16

Ebd., S. 4 f. Ebd., S. 47 ff. Ebd., S. 87 ff. Ebd., S. 220 ff.

Staatlichkeit und Partizipation aus feministischer Sicht

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„sind also ihrer Provenienz nach nichts anderes als sedimentierte männliche Interessen und männliche Lebenserfahrungen. (…) Der Staat und sein Apparat kann demnach gar nicht anders als ein direkter und offener Ausdruck von Männlichkeit gedeutet werden.“17

Die männerbündische Struktur verortet Kreisky nicht nur in der Institution des Militärs, sondern auch in Staatsbürokratien, öffentlichen Verwaltungen und politischen Seilschaften. Das „ewig Männerbündische“, so Kreisky, überdauert auch „unter dem Schutzmantel parademokratischer Normen“.18 Der Staat hat demzufolge nicht nur ein eindeutig männliches Geschlecht, sondern er wirkt durch seine männerbündische Verfasstheit einseitig vergeschlechtlichend. Fasst man die hier exemplarisch vorgestellte frühe feministische Staatskritik zusammen, so gewinnt der liberale Staat seinen Akteursstatus im Wesentlichen durch die Fortschreibung bestehender Geschlechterverhältnisse und in der Aufrechterhaltung sozial selektiver und exklusiv-männlicher Interessensdurchsetzung. Die Kritik an dieser essentialisierenden Bestimmung des Staates als patriarchal ist leicht zu formulieren und von feministischer Seite seit den 1990er Jahren umfassend erfolgt. Der Staat kann nicht angemessen als ein einheitlicher, widerspruchsfreier Akteur beschrieben werden, so lautet der Haupteinwand. Mit der feministischen Deutung des Staates als einer patriarchalen Struktur und Institution werden bestehende Ungleichheitsstrukturen fortgeschrieben, der Staat gleichsam homogenisiert und in seiner Maskulinität reifiziert. Der Staat kann, so Wendy Brown, weder als eine monolithisch geschlossene Struktur, Institution oder ein ebensolcher Akteur erfasst, sondern muss vielmehr als eine Vielzahl von konfliktiven diskursiven Machtordnungen und -strategien begriffen werden.19 Die enge Verbindung von Frauenbewegung und anfänglicher feministischer Staatskritik zeigt sich nicht nur in der grundlegenden Staatsskepsis, sondern auch in der normativen Reformulierung eines emanzipatorischen Demokratieverständnisses, dessen Verwirklichung nur jenseits des Staates in gesellschaftlichem Protest und der Konstituierung neuer öffentlicher Räume wirksam werden kann. Durch die darin zum Ausdruck kommende Entgegensetzung von (tradierter) Staatlichkeit und der Notwendigkeit (neuer) gesellschaftlicher Protestkultur wurde die Machtfrage innerhalb des Staates zunächst nur unzureichend gestellt. Feministische Politik konstituierte sich nicht nur überwiegend in Opposition zu den etablierten Strukturen politischer Entscheidungsfindung und staatlicher Politik, sondern auch durch die Einführung neuer Protestformen und die Ausgestaltung staats- und (teilweise auch männer-)freier Räume feministischer Emanzipation. Trotz aller berechtigten Kritik an den identitätspolitischen Engführungen bleibt es ein Verdienst der anfänglichen feministischen Staatskritik, auf die historische Bedingtheit und androzentrische Begründung der modernen Staatlichkeit eindrücklich aufmerksam gemacht zu haben. Auch wenn es notwendig ist, den Staatsbegriff zu differenzieren und die Arenen staatlicher Entscheidung zu pluralisieren, so heißt das nicht, dass damit die feministische Staatskritik heute gänzlich 17 Kreisky 1994, S. 193, vgl. auch Kreisky 1997, S. 163 ff. 18 Kreisky 1994, S. 206. 19 Vgl. Brown 1992, S. 12 ff., vgl. auch Kreisky/Löffler 2009, S. 81 ff.

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obsolet geworden wäre. Wie lang der Atem einer maskulinistischen Ausdeutung staatlicher und politischer Räume immer noch ist, belegen nicht zuletzt die aktuellen Ergebnisse zur nach wie vor geringen Repräsentanz von Frauen und sozial benachteiligten Gruppen von Männern in politischen und exekutiven Führungspositionen. Die anfängliche feministische Staatskritik lässt sich damit nicht nur als Herrschafts- und Ideologiekritik charakterisieren. Sie stellte zudem auch die notwendige Voraussetzung für eine weitreichende feministische Bewusstseinsbildungs- und Mobilisierungspolitik dar, durch welche veränderte Formen von Staatlichkeit überhaupt erst denkbar wurden. Der, so von Nancy Fraser zugespitzt ausgedrückt, „pervasive androcentrism of state-led capitalist societies“20 markierte nicht nur den Ausgangspunkt, sondern stellte eine zentrale Ermöglichungsbedingung für eine feministische Identitätspolitik dar. In Opposition gegen den Staat bzw. gegen staatliche Politiken wie den Paragraph 218 oder durch die Kritik am uneingelösten Gleichheitsversprechen des modernen demokratischen Rechtsstaates formierte sich ein breites frauenpolitisches Bündnis, welches wiederum die Grundvoraussetzung für Bewegung innerhalb der staatlichen Institutionen schaffte. Feministische Politik jenseits des Staates und der staatlichen Institutionen war damit keineswegs staatsautonom, sondern stand in enger Relation zum Staat und konstituierte sich durch die identitätsstiftende Politik der Staatskritik.21 Die hiermit einhergehende Essentialisierung des Staates diente einer (notwendigerweise temporären) diskursiven Vereinheitlichung der feministischen Bewegung. Damit ist zugleich eine grundlegende Konstitutionsbedingung sozialer Protestbewegungen bezeichnet: Ihre politische Mobilisierungskraft gewinnen diese vor allem aus der einheitsstiftenden Opposition gegen die kritisierten, herrschenden Zustände und die Homogenisierung des Adressaten der Kritik. Mit Mouffe gesprochen gründet jede politische (Protest-)Bewegung auf einer diskursiven Formation hegemonialer Identitätsbildung, die immer auf dem Ausschluss innerer Differenzen und durch die Abgrenzung von einem konstitutiven Außen beruht (vgl. auch Sigglow in diesem Band).22 Für eine transformative Perspektive, das heißt für die Frage einer demokratischen Umgestaltung bzw. institutionellen Veränderung des Staates, seiner Entscheidungsarenen und Politiken reicht diese artikulatorische Abgrenzungsstrategie, wie die Entwicklung der feministischen Bewegung eindrücklich zeigt, jedoch nicht aus. Ihre weiterführende Dynamik gewann diese gerade durch die stärkere Wahrnehmung der Pluralität frauenpolitischer Ansätze und durch die Differenzierung des Staates als einer veränderbaren Arena politischer Auseinandersetzung.23

20 Fraser 2009, S. 97. 21 Für die US-amerikanische feministische Bewegung hat Lee Ann Banaszak schon für die 60er Jahre nachgewiesen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl Aktivistinnen aus der staatsskeptisch auftretenden Frauenbewegung in staatliche Institutionen integriert war, vgl. Banaszak 2010. S. 6 f. 22 Vgl. Mouffe 2008, S. 33 ff. 23 Ludwig/Sauer/Wöhl 2009, S. 17.

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2. „FEMINISM WITHIN THE STATE“ STAATSFEMINISMUS UND BEGRENZTE INKLUSIVITÄT Das Verhältnis feministischer Bewegung und Theorie zum Staat ist differenzierter geworden, seit Frauen in den 1980er Jahren verstärkt in politischen Institutionen repräsentiert und integriert sind, Gleichstellung und Frauenförderung in Behörden institutionalisiert wurden und individualisierende Umgestaltungen eines als besonders „ernährerfreundlich“ kritisierten Wohlfahrtsstaates, dessen Segnungen vor allem auf Alleinverdiener-Familien mit männlichem Haushaltsvorstand zugeschnitten waren, erkennbar sind. Der Staat wird dadurch notwendigerweise nicht mehr als monolithisch, als ausschließlich patriarchale Struktur wahrgenommen. Die differenziertere Betrachtung folgt aus der Wahrnehmung verschiedener Arenen und Politikfelder: Der (in Grenzen) verstärkte Zugang von Frauen zu Institutionen staatlicher Politik führt zu neuen Bündnis- und Allianzstrategien, Gleichstellungspolitik stärkt die Wahrnehmung staatlicher Akteursqualität. Die kritischanalytische Betrachtung sozialpolitischer Anreizstrukturen und Reaktionen auf geschlechterkulturelle Entwicklungen hat aus feministischer Sicht politischen Nachhall gefunden. Begriffe wie „embedded feminism“24 oder „Staatsfeminismus“25 machen deutlich, dass Durchsetzungserfolge erkennbar sind, dass aber zugleich die institutionell-politische Vereinnahmung feministischer Anliegen von Teilen der Frauenbewegung kritisiert wurde. Was die Inklusion von Frauen in staatlichen Institutionen anbelangt, so ist nicht zuletzt aufgrund von Frauenquoten und -quoren26 die politische Repräsentanz von Frauen in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen, seit etwa dem Jahr 2000 stagniert sie. Frauenanteile von um die 30% in parlamentarischen Gremien27 und in Kabinetten in der Bundesrepublik Deutschland werden wahlweise als „kritische Masse“ für substanzielle Einflussmöglichkeiten von Frauen in politischen Gremien oder als „gläserne Decke“28 interpretiert. In parlamentarischen Führungspositionen ebenso wie in Spitzenpositionen der kommunalen und Landesverwaltungen sind allerdings die Frauenantei24 In Anlehnung an Sylvia Walby (2011, S. 6–7, S. 54–55) verwenden wir den Begriff, um die Ambiguität von Durchsetzungserfolgen, Anpassungsphänomenen und Kompromissen zu illustrieren, die die feministische Politik und Theorie dieser Institutionalisierungs- und Professionalisierungsphase kennzeichnen. Polemisch wurde der Begriff zuerst verwendet von Hunt (2006) in Analogie zum „embedded journalism“ des Irakkrieges. 25 McBride Stetson/Mazur 1995. In antifeministischen Blogs und Internetforen für Männerrechte taucht der Begriff selbstverständlich auch polemisch verwendet auf. Vgl. bspw. http://www.antifeminism-worldwide.org/?page_id=57. 26 Da die Parteien die selbst gesetzten Quoten jedoch nicht immer erreichen, wird in der Forschung diskutiert, ob gesetzliche Quoten, mehr Frauen in der Parteiführung oder transparentere Nominierungsverfahren die Verbindlichkeit erhöhen und das Ziel der Parität erreichen helfen würden. Bothfeld/Fuchs 2011, S. 10, Hoecker 2008, S. 15–17, Davidson-Schmich/Kürschner 2011, S. 34. 27 „[…] gilt eine 30%ige Mitgliedschaft in politischen Institutionen als die kritische Masse, die es Frauen ermöglicht, bedeutsamen Einfluss auf Politik zu nehmen.“ UN Economic and Social Council Resolution 1990, s. a. European Commission 2008. 28 Davidson-Schmich/Kürschner 2011, S. 25–34, S. 35–49.

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le noch deutlich niedriger.29 Deutsche und internationale Studien zeigen trotz einiger Skepsis gegenüber Konzepten der identitären Repräsentation, dass erhöhte Präsenz von Frauen auch zu einer Stärkung gleichstellungspolitischer Inhalte im politischen Prozess führt, wie Sandra Brunsbach für die Bundestagsabgeordneten erst 2011 erneut bestätigt hat.30 Von diesen Befunden ausgehend wird seit den 1990er Jahren kontrovers diskutiert, welche Handlungsstrategie erfolgversprechender wäre: die fortgeführte Skepsis gegenüber der „Realdemokratie“, die Praktizierung staatsferner, wenig institutionalisierter Basisdemokratie innerhalb der Bewegung und die Betonung besserer Beteiligung von Frauen im Bereich unkonventioneller Partizipation31 einerseits oder ein „engendering“ der liberalen Demokratie andererseits. Während sich bewegungsorientierte Theoretikerinnen darum bemühen, basisdemokratische Traditionen in Form von Gruppenrepräsentation und deliberativen Verfahren an die staatliche Sphäre heranzutragen,32 begrüßt beispielsweise die pragmatische Politikwissenschaftlerin Anne Phillips ausdrücklich, dass sich der „Antietatismus, der die früheren Jahre der Frauenbewegung (…) geprägt hat, nun verflüchtigt“.33 Sie sieht formelle politische Gleichheit innerhalb der repräsentativen Strukturen des liberalen demokratischen Staates als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für eine substantiellere Gleichheit der Geschlechter.34 Phillips betrachtet es als Fehler der Frauenbewegung, dass sie die „Politik der Präsenz“, die darstellende Repräsentation von Identitäten, zu stark berücksichtigt – aus Sorge um die Reifizierung und Homogenisierung von Identitäten und die übertriebene Legitimierung von Partikularismen. Ohne diesen Ausgleich aber sei die „Politik der Ideen“, also die Vertretung von Interessen im liberalen Repräsentativsystem, ebenfalls defizitär. Phillips steht damit für eine Reihe von Feministinnen, die Repräsentation zu einem „fundamental feminist concern“35 machten und deren Auseinandersetzung schließlich zentrale Impulse für die neuere politische Theorie der demokratischen Repräsentation brachte. Die pragmatische, staatsfreundliche Zuwendung zur liberaldemokratischen Repräsentation ging auch mit der konstruktivistischen Wende in der feministischen Theorie (also der Idee, dass auch Männer Fraueninteressen vertreten können) einher.36 Wenn Birgit Sauer mit Recht konstatiert, dass gesellschaftliche Debatten durch Repräsentation in gewisser Weise substituiert und politische Gleichheit auf der Basis sozialer Ungleichheit für die Gleichstellung nur unbefriedigende

29 Vgl. Hoecker 2008, Bothfeld/Fuchs 2011. 30 Brunsbach 2011, S. 3–24, Holtkamp/Schnittke/Wiechmann 2011, s. Lovenduski/Guadagnini 2010, S. 166 für die Diskussion, ob inhaltliche Positionierungen den Interessen von Frauen stärker nützen als quantitative Repräsentanz. 31 Marien/Hooghe/Quintelier 2010, S. 141. 32 Holland-Cunz 1998, Young 1990, Geißel 2008, S. 15–36. 33 Phillips 1993, S. 86 [eig. Übers.]. 34 Phillips 1995, S. 210. 35 Lovenduski 2005, S. 1. 36 Sauer 2011, S. 134.

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Ergebnisse bringt,37 so ist gleichzeitig hervorzuheben, dass ohne Inklusion von Frauen in repräsentative staatliche Gremien Veränderung kaum denkbar ist. Darüber hinaus ist auf die gegenwärtige Diskussion um eine Neubewertung von Repräsentation hinzuweisen (vgl. Thaa in diesem Band). Repräsentation, gedeutet als Repräsentation der Ideen und Interessen, wird also für die feministische Theorie und Bewegung vor allem deshalb attraktiver, weil durch die Erfolge der Quoten die Repräsentanz von Frauen steigt und zudem der Essentialismusverdacht auf identitäre bzw. Spiegel-Repräsentation von Frauen durch Frauen fällt. Einhergehend mit der zunehmenden Repräsentanz von Frauen in politischen Entscheidungsgremien entwickelte sich seit den 1980er Jahren der sogenannte „Staatsfeminismus“, also die inhaltliche Einbettung feministischer Politik in politische Institutionen der Verwaltung und der damit verbundene institutionelle Wandel. Frauenbewegungen in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern begannen, verstärkt Erfolge aus den Protesten in Kooperation mit staatlichen Institutionen umzusetzen:38 Ursprünglich staatsskeptische, autonome Initiativen wandten sich nun dem Staat als Bündnispartner zu. Frauenbeauftragte waren maßgeblich an der Umsetzung von Frauenförderungs-, Gleichstellungsprogrammen und schließlich umfassenden Gender-Mainstreaming-Konzepten beteiligt, während das zuständige Ministerium auf der Bundesebene im internationalen Vergleich eher schwach blieb.39 Ein internationales Forschungsprojekt um Dorothy McBride Stetson und Amy Mazur hat unter dem Titel „State Feminism“ die Beziehungen zwischen Staat und Frauenbewegungen auf Bedingungen für gleichstellungspolitische Erfolge hin untersucht. Ergebnis dieser Untersuchungen in 14 westlichen Demokratien war, dass Forderungen von Frauenbewegungen dann erfolgreich in Policies umgesetzt werden konnten, wenn das Policy-Umfeld offen dafür war und es keine starke Gegenbewegung gab.40 Weder die Mitgliederstärke oder Ressourcen der Frauenbewegung noch ihre politische Ausrichtung oder Verankerung in der Linken, aber auch nicht ihre konkreten Verbindungen in staatliche Organisationen hinein zeigten hingegen eine signifikante Verbindung mit gleichstellungspolitischem Erfolg. Der demokratisch legitimierte Staat erscheint vor diesem Hintergrund als eigenständiger gleichstellungspolitischer Akteur, dessen institutionelle Durchsetzung von Gleichstellungspolitiken durch die Frauenbewegung zumindest bescheidene Erfolge zu verzeichnen hat. Insbesondere die aktuell vorherrschende institutionell verankerte Strategie des Gender Mainstreaming wird jedoch kontrovers diskutiert, und diese Diskussion ist symptomatisch für die fortgesetzte Gespaltenheit der Bewegung und Theorie zwischen Staatsskepsis und Inklusion in den Staat. Geschlechteraspekte werden dadurch inzwischen in alle Politikbereiche hineingetragen. Das im Rahmen der EU 37 Ebd., vgl. auch Fraser 2005a, S. 295–307, Young 1993, S. 279. 38 Walby 2011, S. 56, McBride Stetson/Mazur 1995. 39 Sie halfen bspw. Antidiskriminierungsgesetze auf den Weg zu bringen, Frauen- und Geschlechterforschung zu fördern und Kinderbetreuungsinstitutionen zu gründen oder aufrechtzuerhalten. Marx Ferree 1995, S. 96, s.a. Wilken 1992. 40 Lovenduski 2008, S. 186.

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ausgehandelte Verfahren führte nicht nur zu einer verstärkten Institutionalisierung, Professionalisierung und Formalisierung von Geschlechterpolitik, sondern erwies sich in der Praxis nur allzu oft als eine politisch inhaltsleere Strategie, die sich in der empirischen Erhebung und Deskription quantitativer Daten erschöpft. Wenn eine von oben verordnete bürokratische Vorschrift ohne die nötige Bewusstseinsbildung umgesetzt wird, kann Verdrossenheit gegenüber dem Thema entstehen. Außerdem können Stereotypisierungen die Folge sein und Verknüpfungen mit anderen Ungleichheitsverhältnissen aus dem Blick geraten.41 Schließlich wird angesichts einer durch Individualisierung zunehmend gleichgestellten Wohlfahrtsstaatspolitik grundsätzlich die Frage gestellt, ob das feministische Projekt durch die Institutionalisierung den gesellschaftspolitischen status quo eher affirmiert als ihn zu verändern. Interessenkoalitionen mit staatlichen Eliten werden in jüngster Zeit als Anpassung an neoliberale Strategien kritisiert.42 Strategien zur Besetzung von Stellen oder Gremien, die eine Diversität von Geschlecht, Ethnizität und Klasse berücksichtigen, werden beispielsweise häufig weniger gesellschaftspolitisch denn aus der Perspektive der Effizienz begründet. Glaubt man Nancy Fraser, so wird der Feminismus vom Neoliberalismus vereinnahmt. Er habe – unabsichtlich – mit seiner Kritik des Ernährermodells als Kennzeichen des paternalistischen Wohlfahrtsstaats die Idee des flexiblen und ungebundenen Arbeitnehmers noch befördert, die Individualisierung im Sinne der Eigenverantwortlichkeit gestärkt und für Privatisierungen, die mit Kürzungen staatlicher Sozialpolitik einhergehen, Schützenhilfe geleistet.43 Fraser untermauert damit nicht nur die Notwendigkeit feministischer Staatskritik, sondern auch einer sozialen Protestbewegung jenseits des Staates. In den Bereichen der Repräsentanz und der Gleichstellungspolitik sind also aus Sicht der feministischen und Frauenbewegungen Erfolge zu verzeichnen. Gleichzeitig wurden staatliche Politiken zunehmend zum Gegenstand der Geschlechterforschung, insbesondere die Politik des Wohlfahrtsstaats. Die Forderungen von Geschlechterforscherinnen nach einem geschlechtergerechten Wohlfahrtsstaat beschränkten sich nicht selten auf Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und konnten dadurch leicht als geschlechtsneutrale Forderungen nach Individualisierung im Sinne des Neoliberalismus instrumentalisiert werden. Diese Gefahr der Vereinnahmung schwächt die Mobilisierung von AkteurInnen für die Bewegung ebenso wie die hohen Anforderungen an Repräsentation von interner Diversität und die Abstumpfung der Bewusstseinsbildung durch die Errungenschaften rechtlicher Gleichstellung und das Phänomen der „rhetorischen Modernisierung“.44 Die nunmehr differenzierten Zugänge feministischer Theorie 41 42 43 44

Zu dieser Debatte: Hoskyns 2008, Wöhl 2007, Squires 2007. Fraser 2009, S. 108, Fraser 1995. Sauer 2011, Fraser 2009, S. 109 f. Als „rhetorische Modernisierung“ hat Angelika Wetterer ihre Beobachtung bezeichnet, dass latent vorhandene, inkorporierte Wissensbestände traditioneller Geschlechterordnungen das vorhandene explizite und diskursfähige Geschlechterwissen über Emanzipation und Individualisierung in der Praxis oft überlagern. Beispiel ist die in Umfragen regelmäßig euphemistische Selbstdarstellung von Paaren bezüglich der partnerschaftlichen Arbeitsteilung, die re-

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und Bewegung zum Staat als Akteur und Bündnispartner – in Fragen des Zugangs zu politisch einflussreichen Positionen, zur Gleichstellungspolitik im Allgemeinen und zur Sozialpolitik – stellen aus dieser Sicht mitnichten eine reine Erfolgs- bzw. Fortschrittsgeschichte dar. Feministische Staats-„Insider“ und „Outsider“, also politisch pragmatische AktivistInnen im System und staatskritische Stimmen bilden ein prekäres Bündnis. Wenn Insider in Zahl und Gewicht zunehmen, dann können Konflikte die Einheit der Bewegung schwächen und sie im Ernstfall sprengen – auch oder gerade, wenn die pragmatische Inklusion Erfolge aufweist. Staatskritische Positionen verlieren damit auch innerhalb einer gemeinsamen Bewegung ganz offensichtlich nicht ihre Berechtigung, aber es wird für sie schwieriger, identitätsstiftende Oppositionsstrategien zu vertreten. Die Geschichte der feministischen und Frauenbewegung zeigt aber, dass ein strategischer Pragmatismus nicht nur sinnvoll ist, um die Bewegung zusammenzuhalten, sondern auch um eine gewisse Durchsetzungsstärke zu erreichen und sich dabei gleichzeitig grundsätzlicher Systemkritik, kritischer Selbstreflexion und potenziellen Vereinnahmungen zu stellen. Die Frauen- und feministischen Bewegungen haben zwar an Einheit und auch Mitgliederstärke eingebüßt, aber dafür einfache Formen von Identitätspolitik überwunden.45 Dadurch wurde eine Demokratisierung und Pluralisierung der Bewegung außerhalb und in staatliche Institutionen hinein ermöglicht. Auch im Hinblick auf die Occupy-Bewegung könnte die Gleichzeitigkeit eines pragmatischen Dialogs mit staatlichen Institutionen und einer staatskritischen, distanzierten Protestbewegung möglicherweise trotz aller internen Widersprüche erfolgversprechend sein. In den Auseinandersetzungen um Strategien der Occupy-Bewegung haben PragmatikerInnen (genannt „SozialdemokratInnen“) die Position vertreten, dass die Aufstellung konkreter Forderungen vonnöten sei, um sichtbar zu bleiben, während die so genannten „AnarchistInnen“ als VertreterInnen „befreiter Subjektivitäten“ dies ablehnten.46 Der Anthropologe David Graeber begründet ihre Position mit u. a. folgendem „anarchistischen Prinzip“: „One reason for the much-discussed refusal to issue demands is because issuing demands means recognising the legitimacy – or at least, the power – of those of whom the demands are made. Anarchists often note that this is the difference between protest and direct action: Protest, however militant, is an appeal to the authorities to behave differently; direct action, [...] is a matter of acting as if the existing structure of power does not even exist. Direct action is, ultimately, the defiant insistence on acting as if one is already free.“47

Eine Erfahrung mit der feministischen Bewegung ist, dass die Simulation einer machtfreien Bewegung wenig Erfolg verheißt, weil Machtstrukturen und Ungleichheiten ihren Weg auch durch basisdemokratische Verfahren finden. Ihre Bearbeitung führt an Konflikten nicht vorbei. Während also auch jenseits der Fragelmäßig eher einem Anspruch der Geschlechtergleichstellung als der realen Praxis angepasst wird und damit eine „Illusion der Emanzipation“ etabliert, deren Widerspruch zur Praxis den Beteiligten oft nicht erkennbar wird. Wetterer 2008, S. 44, s. a. Koppetsch/Burkart 1999. 45 Walby 2011, S. 63. 46 Graeber 2011. 47 Ebd.

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ge der nachhaltigen Öffentlichkeitswirksamkeit zweifelhaft erscheint, ob ohne Repräsentation und die Formulierung konkreter Positionen die Verfestigung von Machtstrukturen und Konflikte innerhalb der Bewegung vermieden werden können, stellt sich außerdem die Frage, ob eine solche Strategie dauerhaft die Pluralität innerhalb der Bewegung sichtbar machen kann. 3. „FEMINISM IN A DIVERSE STATE“ STAATLICHKEIT UND STRATEGISCHE BÜNDNISPOLITIK Fragt man vor dem Hintergrund der beiden dargestellten Wellen feministischer Auseinandersetzung mit dem Staat und Staatlichkeit nach den zentralen aktuellen Herausforderungen, so lassen sich unserer Beobachtung nach aus geschlechtertheoretischer Perspektive zwei zentrale Problembereiche herausstellen: die Frage nach der zukünftigen Rolle des Staates im Rahmen von globaler Mehrebenenpolitik und der Herausbildung von transnationalen Governance-Strukturen einerseits sowie nach der unter poststrukturalistischer und intersektionalitätstheoretischer Perspektive neu zu akzentuierenden Bestimmung des Verhältnisses von Staat, Repräsentation und zivilgesellschaftlicher Beteiligung andererseits. Das komplexe Phänomen der „Governance“, also des nicht-hierarchischen und privatwirtschaftlich wie zivilgesellschaftlich unterstützten Regierens über nationale und institutionelle Grenzen hinweg, scheint aus Sicht der Geschlechterforschung mehr Gefahren als Chancen zu bergen, auch wenn das Konzept einen stärkeren Einbezug zivilgesellschaftlicher AkteurInnen begründet. Gerade in transnationalen Kontexten stellen sich, so zeigen beispielsweise Birgit Sauer und Sybille Hardmeier, Herausforderungen an die Demokratie durch die Informalisierung der Politik, die mangelnde Transparenz und die Schwierigkeit der Institutionalisierung von Input-Legitimation durch Partizipation und öffentliche Diskussion.48 Durch die Flexibilisierung der Beteiligung einer Vielzahl von AkteurInnen auf verschiedenen Ebenen wird die Zurechenbarkeit von Verantwortlichkeit erschwert, die Landschaft politisch Handelnder, aber auch der Kompetenzen und Machtverhältnisse wird unübersichtlicher. Für Nichtregierungsorganisationen eröffnen sich zwar neue Bündnis-Strategien des „forum shifting“ und „forum shopping“ zwischen verschiedenen organisatorischen Ebenen und Rechts- bzw. Normsystemen, aber es hat sich auch gezeigt, dass die parlamentarische Verantwortlichkeit des Nationalstaats weiterhin eine wichtige politische Ressource ist. Shalini Randeria hat für das Beispiel indischer NGOs eindrücklich nachgewiesen, dass die erweiterten Optionen staatlicher Politik im Umfeld pluraler Rechtssysteme und sich überschneidender Souveränitäten auf zivilgesellschaftlicher Seite auch genutzt werden, nicht zuletzt, um das strategische Umgehen parlamentarischer Legitimation und Verantwortlichkeit zu offenbaren und diese immer wieder

48 Sauer 2009, Hardmeier 2007, S. 111–127.

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einzufordern.49 Ihre anfängliche Staatsskepsis haben sie vor diesem Hintergrund zugunsten einer ambivalent-strategischen Bündnispolitik aufgegeben. Die Informalisierung des Politischen im Rahmen der Governance-Prozesse bringt allerdings gleichzeitig eine Entöffentlichung bzw. Schließung von Entscheidungsräumen mit sich. Selbst wenn beispielsweise deliberativ unter Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Gruppen entschieden wird, so geschieht dies oftmals weit entfernt von der gesellschaftlichen Basis. Dabei wird gerade in der Demokratietheorie nicht durchgängig die „dunkle Seite der Zivilgesellschaft“ problematisiert, die auch in der Frauen- und feministischen Bewegung nicht notwendigerweise demokratisch, tolerant und egalitär ist, sondern auch elitär, reaktionär, antidemokratisch, ethnozentrisch oder sehr interessenbasiert sein kann.50 Aufgrund der fehlenden oder kaum identifizierbaren Demoi ergibt sich im Kontext internationaler und supranationaler Organisationen die Schwierigkeit der Institutionalisierung von Inputlegitimation. Gegenwärtig in der Diskussion sind beispielsweise deliberative „opinion polls“,51 auf EU-Ebene Vetorechte über fakultative Referenden nach dem Vorschlag von Abromeit52 oder Verfahren mit zufällig ausgewählten Repräsentanten für Internationale Organisationen.53 Angesichts der Flexibilisierung des Regierens verlieren die Repräsentativorgane an Gewicht – und in Governance-Strukturen droht gegenüber formaler Beteiligung parlamentarischer Art der Verlust des formal gesicherten Anspruchs auf Beteiligung. Viele Geschlechterforscherinnen sehen die Chancen neuer Regierungsstrukturen vor allem in neuen Bündnissen und einer neuen Pluralität der Perspektiven und Sichtweisen.54 Zunehmende globale Verflechtung kann demnach dazu anregen und auch für soziale Bewegungen Möglichkeiten eröffnen, über universalistische Vorstellungen von menschlicher Würde, von Menschenrechten zu diskutieren und dabei gleichzeitig Homogenisierungsgefahren durch die Integration von Differenzen auf globaler Ebene zu begegnen. Hegemoniale Identitätsbildung, also die Frage, welche Interessen von wem wahrgenommen und durch wen repräsentiert werden, wird im Sinne der postkolonialen Kritik möglicherweise in einem globalen Kontext besonders gut thematisierbar, jedoch hängt dies von der Zusammensetzung von Akteursgruppen und den Repräsentationsverhältnissen zu ihrer Basis ab. Hierarchisierungen von Differenzen innerhalb der Frauenbewegung und in der Repräsentation nach außen sind spätestens seit Anfang der 1990er Jahre verstärkt kritisiert worden. Die grundlegende Kritik an hegemonialer Identitätsbildung und eines damit verbundenen Anspruches universeller Repräsentation (im Sinne eines „all the women are white, all the blacks are men“55) hat zu einer begrifflichen Neuakzentuierung des Konzeptes der demokratischen Repräsentation 49 50 51 52 53 54 55

Randeria 2007. Roth 2004. Vgl. Fishkin/Luskin 2000, S. 24, Buchstein 2009, S. 336 ff., s. a. Buchstein in diesem Band. Abromeit 2002. Frey/Stutzer 2005. Walby 2011, S. 150 f., Sauer 2009, S. 116, Holland-Cunz/Ruppert 2000, S. 16. So der Titel von Hull/Scott/Smith 1982.

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und zu einer systematischeren Reflexion von jeweils kontextuell spezifischen Formen von Ungleichheit und Unterdrückung beigetragen. Demnach kann weder von einer weitgehenden Identität von Repräsentanten und Repräsentierten ausgegangen werden noch von einer vorpolitischen oder vordiskursiven Gruppenidentität, die es im repräsentativen Prozess nur noch möglichst mimetisch abzubilden gelte.56 Jede Form von kollektiver Identität, ob auf der Ebene der Repräsentierten oder Repräsentanten, muss damit als diskursive Konstruktion gelten, die notwendigerweise auf dem Ausschluss marginalisierter, nicht artikulierter oder artikulierbarer Interessen beruht. Das eigentlich demokratische, so Iris Marion Young, liegt nicht in der ohnehin unmöglichen Annahme einer möglichst ungestörten Interessenidentität, sondern im Gegenteil in der Anerkennung von Differenz und Pluralität.57 Politische Auseinandersetzungen um ungleiche Verteilungen von Ressourcen und politische Handlungs- und Einflussmöglichkeiten bedingen demzufolge jeweils neue Bündnisse und flexible Gruppenzugehörigkeiten, weil sie auf spezifischen strukturellen Machtbeziehungen und veränderbaren sozialen Positionen beruhen. Erfahrungen von geschlechtsspezifischen, sozialen und ethnischen Diskriminierungen sind es, die nach Young die Identitäten für Gruppenzugehörigkeiten stiften und die Kommunikation um soziale Gerechtigkeit voranbringen58 – in einer für Machtrelationen sensiblen Demokratie der inklusiven Kommunikation mit pluralisierten, heterogenen Öffentlichkeiten. In ganz ähnlicher Weise argumentiert auch Nancy Fraser, wenn sie mit dem Begriff der „partizipatorischen Parität“ politische Kämpfe um kulturelle Anerkennung und ökonomische Umverteilung als gleichursprüngliche Bedingungen einer gerechten, demokratischen Politik ausweist. Nicht die in der feministischen Bewegung lange geführte Debatte um die adäquate politische Handlungsstrategie, sondern vielmehr die grundsätzliche Problematik, wer jeweils von wem in welchem Kontext inkludiert bzw. exkludiert wird bzw. wer an den Prozeduren der politischen Entscheidungsfindung beteiligt ist oder nicht, steht damit im Zentrum emanzipatorischer Politik.59 FAZIT: REFLEXIVE DIFFERENZIERUNG UND STRATEGISCHE BÜNDNISPOLITIK Welche verallgemeinerbaren Schlussfolgerungen sich aus der dargestellten Entwicklung der feministischen Bewegung, der verstärkten Repräsentation von Frauen und der zumindest teilweisen Inklusion gleichstellungspolitischer Forderungen in staatliche Politiken ziehen lassen, wollen wir abschließend noch einmal im Rückgriff auf die eingangs zitierte Rede von Judith Butler im Kontext der Occupy-Bewegung veranschaulichen. Wenn Judith Butler von einer durchgehenden Gegenüberstellung von „We (the 99%) and they (the 1%)“ ausgeht, so überrascht 56 57 58 59

Vgl. Thaa 2008, S. 628 ff. Young 2000, S. 5 f., 115 f., Crenshaw 1989, Winker/Degele 2009. Young 2000, S. 115. Vgl. Fraser 2005b, S. 15 ff.

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dies zunächst gerade von einer Autorin, die sich gegen jede Form einer vereinheitlichenden Identitätskategorie Frau ausgesprochen hat und auf den damit verbundenen Ausschluss marginalisierter Weiblichkeit beredt hingewiesen hat. Offensichtlich besteht eine grundlegende Differenz zwischen geschlechtertheoretischer Reflexion und praktischer Politik. Die Vermutung liegt nahe, dass die hier verwendete dichotome Gegenüberstellung als rhetorische Strategie allein der Legitimation der Protestbewegung dient. Dennoch, auch in strategisch-diskursiver Absicht greift diese Gegenüberstellung zu kurz, stellt sie doch den ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuch einer hegemonialen Schließung dar, der die inneren Differenzen innerhalb der Gruppe der Protestierenden und die auch für sie prägenden sozialen, geschlechtlichen und ethnischen Unterordnungsbeziehungen negiert. Darüber hinaus beruht die zumindest rhetorische Identitätsbildung der Protestbewegung auch auf einer identitätslogischen Verkürzung und Homogenisierung der politischen und gesellschaftlichen Eliten als eines einheitlichen Gegenübers des nicht repräsentierten Volkes. Nimmt man hingegen die poststrukturalistische Kritik ernst, so kann auch die Occupy-Bewegung nicht für sich beanspruchen, alle marginalisierten Interessen gleichermaßen zu vertreten. Die Vereinheitlichung der Interessen erscheint allenfalls in der diskursiven Abgrenzung gegenüber den etablierten Politik- und Repräsentationsstrukturen möglich. Ihre Bedeutung gewinnt die Protestbewegung bislang jedenfalls nicht durch konkrete politische Zielsetzungen, sondern vor allem durch die Re-Politisierung des öffentlichen Raumes. Die Frage nach einem konkreten Forderungskatalog und nach Interessenbündelung bzw. Repräsentanz ist bis heute unbeantwortet und wird von Teilen der Bewegung auch nicht befürwortet. Die (partiellen) Erfolge der Frauenbewegungen legen jedenfalls nahe, dass politische Forderungen vor allem dann wirksam werden, wenn es BündnispartnerInnen innerhalb der Institutionen gibt und die staatlichen Institutionen auf die Notwendigkeit advokatorischer Interessendurchsetzung verpflichtet werden. Die soziale Selektivität politischer Beteiligung und die Marginalisierung sozial benachteiligter Interessen im politischen Prozess kann nicht allein durch den Verweis auf gleiche Partizipationsrechte oder die Ungerechtigkeit bestehender Verhältnisse aufgebrochen werden. Selbst partizipatorische Ergänzungen repräsentativer Verfahren zeitigen hier nur geringe Erfolge. Geboten ist vielmehr der politische Wille zur staatlichen Bereitstellung und Umverteilung von Ressourcen. Um dies zu erreichen, ist eine breite Bündnis- und Koalitionsstrategie notwendig, die sich aus einem „strategischen Essentialismus“ speist und dabei gleichzeitig die Pluralität von politischen Standpunkten und Allianzen anerkennt. Demokratische Protestformen und die fortgesetzte Infragestellung der Inklusivität staatlicher Entscheidung sind damit ein notwendiges Korrektiv, um das (uneinlösbare) Versprechen der Demokratie nach substanziell gleicher Beteiligung immer wieder neu als den normativen Maßstab des Politischen zu artikulieren. Für die notwendige Umsetzung politischer Forderungen jedoch erscheint die identitäre Vereinheitlichung der RepräsentantInnen und des Staates wenig erfolgversprechend. Angemessener erscheint die Annahme von Interessenpluralität und -divergenz auch in den Reihen der RepräsentantInnen und innerhalb der staatlichen Institutionen. Die viel-

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fach konstatierte gegenwärtige Schwächung gleichstellungspolitischer Erfolge bzw. von Institutionen im Bereich der Antidiskriminierung liegt nicht allein in der bequemen Anpassung an die bestehenden Strukturen, sondern auch daran, dass der Differenz zwischen zivilgesellschaftlichen Forderungen und den Interessen der institutionellen AkteurInnen oftmals unzureichend öffentlich Nachdruck verliehen wird. Hier liegt das notwendige Korrektiv des gesellschaftlichen Protestes auch darin, die Beziehung zu den RepräsentantInnen fortgesetzt zu hinterfragen und zu artikulieren. Der Staat, so lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen, bleibt nicht nur ein notwendiger und zentraler Akteur demokratischen Regierens, sondern es gilt auch weiterhin die Machtfrage innerhalb der staatlichen Institutionen zu stellen und das Veränderungspotenzial staatlicher Institutionen durch zivilgesellschaftliche Praxis und öffentlichen Protest zu betonen. Die lange Geschichte der feministischen Bewegung zeigt, dass temporärer gesellschaftlicher Protest durchaus Veränderung anstoßen kann, nachhaltige Veränderungen allerdings einer fortgesetzten reflexiven Vermittlung zwischen gesellschaftlicher Basis und institutionalisierten Arenen und AkteurInnen politischer Entscheidung bedürfen. Weder kann die bisherige Erfolgsgeschichte der Frauenbewegung als gesetzt betrachtet werden, noch hat sie ihr Ziel gleicher Teilhabechancen für Frauen und sozial marginalisierte Gruppen annähernd erreicht. Eine Erfolgsgarantie ist also mit der politischen Institutionalisierung politischen Protestes nicht verbunden. Ob die partiellen Erfolge der Frauenbewegung in eine nachhaltige Demokratisierungspolitik münden oder ob die begrenzte institutionelle Inklusivität lediglich als bequeme Anpassungsstrategie dient, die weitere Problematisierungen des Geschlechterverhältnisses hemmt und die Ursachen ungleicher Partizipationschancen ausschließlich im Privaten bzw. Individuellen zu verorten sucht, bleibt abzuwarten. In diesem Sinne stellt sich auch für die Occupy-Bewegung die Problematik jeder sozialen Protestbewegung: Kann ihre berechtigte Kritik in wirksame politische Veränderung überführt werden? Für die politische Handlungsfähigkeit jedenfalls reicht die Betonung von Gemeinsamkeit nicht aus, hier geht es darum, Differenzen auch innerhalb der Bewegung auszuhandeln und die Möglichkeit der Repräsentation in Betracht zu ziehen – mit allen damit notwendigerweise einhergehenden demokratischen Desillusionierungen. Das Beispiel der Frauenbewegung zeigt, dass die Identitätspolitik einer sozialen Bewegung im Sinne eines „Wir sind die andere Hälfte“ oder bei der Occupy-Bewegung eines „We are the 99%“ allenfalls als rhetorisches Mobilisierungsinstrument zeitweilige politische Bedeutung erlangt. Für die demokratische Umsetzung einer emanzipatorisch-transformativen Politik kommt es aber vor allem darauf an, Koalitionen unter Beachtung bestehender Differenzen zu realisieren und deren politische Zielsetzung fortgesetzter Reflexion auszusetzen. Ohne eine breite gesellschaftliche Protestbewegung, die in notwendigerweise vereinheitlichender Form politischen Forderungen nach gleicher Teilhabe Ausdruck verleiht, sind staatliche Politiken, trotz ihrer demokratisch-repräsentativen Legitimation, der ständigen Gefahr einer Marginalisierung von Ausgeschlossenen bzw. der Fortschreibung machtvoller Interessendurchsetzung ausgesetzt. Ohne ein breites, stets neu auszuhandelndes Bündnis zwischen

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institutionellen Opportunitätsstrukturen bzw. inkludierten AkteurInnen, einer Vielfalt von gesellschaftlichen Gruppen und engagierten BürgerInnen ist indes jede Artikulation von politischem Protest der potenziellen Bedrohung ausgesetzt, weitgehend wirkungslos zu bleiben. Die Entwicklung der feministischen Bewegung zeigt die unauflösbare Verbindung von demokratischer Partizipation und Staatlichkeit. Auf eine einfache Formel gebracht: Ohne politischen Protest ist kein demokratischer Staat zu machen und ohne eine fortgesetzte Demokratisierung von Staatlichkeit kein Mehr an partizipatorischer Inklusivität zu erreichen. LITERATUR Abromeit, Heidrun, 2002: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen. Banaszak, Lee Ann, 2010: Women’s Movements Inside and Outside the State, New York. Bothfeld, Silke/Fuchs, Gesine, 2011: Gleichstellung in Deutschland im europäischen Vergleich. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, H.37-38, S. 7–18. Brown, Wendy, 1992: Finding the Man in the State. In: Feminist Studies, H.1, S. 7–34. Brunsbach, Sandra, 2011: Machen Frauen den Unterschied? Parlamentarierinnen als Repräsentantinnen frauenspezifischer Interessen im Deutschen Bundestag. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H.1, S. 3–24. Buchstein, Hubertus, 2009: Bausteine für eine aleatorische Demokratietheorie. In: Leviathan, H.3, S. 327–352. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), 2010: Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in Deutschland, Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), 2011: Erster Gleichstellungsbericht – Neue Wege-Gleiche Chancen – Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf, Berlin. Butler, Judith, 2011: Rede im Washington Square Park am 23. Oktober 2011 mittels „human microphone“. http://occupywriters.com/works/by-judith-butler, abgerufen am 20.04.2011. Crenshaw, Kimberlé, 1989: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. In: The University of Chicago Legal Forum, S. 139– 167. Davidson-Schmich, Louise K./Kürschner, Isabelle, 2011: Stößt die Frauenquote an ihre Grenzen? Die Stagnation der parlamentarischen Frauenrepräsentanz – Erklärungsansätze am Beispiel deutscher Großstädte. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H.1, S. 25–34. European Commission, 2008: Women and Men in Decision Making 2007, Luxemburg. http://www.etuf-tcl.org/www_equality/docs/reports/ge_080619.pdf. Fishkin, James S./Luskin, Robert C., 2000: The quest for deliberative democracy. In: Saward, Michael (Hrsg.): Democratic innovation. Deliberation, representation and association, London/New York, S. 17–28. Fraser, Nancy, 1995: From Redistribution to Recognition. In: New Left Review 212, S. 68–93. Fraser, Nancy, 2005a: Mapping the Feminist Imagination: From Redistribution to Recognition to Representation. In: Constellations, H.3, S. 295–307. Fraser, Nancy, 2005b: Reframing Justice in a Globalizing World. In: New Left Review 36, S. 1– 19. Fraser, Nancy, 2009: Feminism, Capitalism and the Cunning of History. In: New Left Review, H. 3-4, S. 97–117. Frey, Bruno S./Stutzer, Alois, 2005: Ein Vorschlag zu mehr Demokratie in Internationalen Organisationen. In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, H.3, S. 344–361.

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PARTIZIPATION UND SELBSTEXKLUSION Partizipatorische Politik aus poststrukturalistischer Perspektive Astrid Sigglow EINLEITUNG Als die Stuttgarter Bürger im Sommer 2010 gegen den Umbau ihres Bahnhofs demonstrierten, diskutierten die Beobachter, ob der Protest ein weiteres Symptom von Politik- und Parteienverdrossenheit oder die Morgendämmerung einer repolitisierten Bürgerschaft sei.1 Da sich der Protest gegen legal getroffene Entscheidungen von Institutionen der repräsentativen Demokratie richtete, verstieg sich der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel zu der These: „Der alte Satz, nach dem die Politik Legitimation durch Verfahren erreicht, ist eben nicht mehr ausreichend. Das sieht man auch hier an Stuttgart 21.“2 Gabriel und die medial inszenierten Stimmen des Protests zeichnen das (Zerr-)Bild eines Bürgers, der sich selbst als ohnmächtig gegenüber den technokratischen Verfahren der repräsentativen Demokratie erlebt. Der Bürger erscheint als ein Betroffener nicht mehr revisionsfähiger Entscheidungen, die eine selbstreferenzielle, von der Wählerschaft entfremdete Politikerkaste getroffen habe. Statt des Volkes herrsche eine weniger sachkompetente als kommunikationsinkompetente Bürokratie. Die protestierenden Stuttgarter beschimpfen Politiker und den Vorstand der Deutschen Bahn als „Lügenpack“ und skandieren „Wir sind das Volk“.3 Sie fordern mehr Demokratie und Beteiligung. Der hier strategisch platzierte Signifikant „Volk“ wirft zunächst die Frage auf, aus welchem Grund selbst lokale und partikulare Bewegungen wie die Stuttgarter 1

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Der Umbau des Bahnhofs sollte einer Untertunnelung der Stadt dienen, um den Kopfbahnhof durch einen durchgängigen Schienenverlauf zu ersetzen und bebauungsfähige Fläche in dem beengten Talkessel der Stadt zu gewinnen. Dem milliardenteuren Projekt der Deutschen Bahn wurde bereits von Bund, Land und Stadt zugestimmt, als dann jedoch die Bauarbeiten 2010 begannen, erfasste eine Protestwelle die Stadt. Zitiert nach Bahners 2010. Niklas Luhmann würde die Kritik Gabriels nicht teilen, denn für Luhmann werden in einer parlamentarischen Demokratie Entscheidungen in zwei Verfahrensarten getroffen: durch periodisch stattfindende Wahlen und durch permanente Gesetzgebung. Da der Bürger in einem Gesetzgebungsverfahren nicht beteiligt, sondern betroffen ist, darf er zu Recht gegen eine bestimmte Entscheidung protestieren. Seine Stimmabgabe bei der Wahl stellt keine sachliche Bindung her. Folglich gehört Protest, genau wie das institutionelle Verfahren, zur politischen Wirklichkeit und hat eine wichtige funktionale Bedeutung: Protest thematisiert Störungen und Anfälligkeiten des Systems. Vgl. Luhmann 1969, 1996. Vgl. Dingler 2010.

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Protestbewegung gegen ein Infrastrukturprojekt im Namen des Volkes sprechen. Die Antwort liegt nahe: Der Protest versucht, seine politische Forderung als die des Volkes zu hegemonialisieren und sich durch diese Universalisierung zu legitimieren. Doch was geht dieser Selbstdeklaration voraus? Es gilt, die Mechanismen der diskursiven Konstruktion einer politischen Gruppe zu analysieren und zu zeigen, dass partizipatorische Initiativen nicht frei von Macht und sozialen Ausschlüssen gedacht werden können.4 Zudem wirft die Persistenz des Protests trotz eines Schlichterspruchs die Frage nach den Idealen von Rationalität und Konfliktlösung im politischen Handeln auf. Wie reagiert Politik auf Protest, der ihrem (formalistischen) Verständnis von Legalität und Legitimität politischer Entscheidungen zuwider läuft, und wie können wir einen solchen Streit in unser Demokratieverständnis integrieren? Diese Fragen sollen im Folgenden probehalber aus der Perspektive der poststrukturalistischen Diskurs- und Hegemonietheorie Chantal Mouffes und Ernesto Laclaus beantwortet werden. Mouffe und Laclau untersuchen die Logik politischer Subjektivierung und formulieren unter dem programmatischen Titel „radikale und plurale Demokratie“ ein emanzipatorisches politisches Projekt.5 Um das Problem der Partizipation aus dieser Perspektive zu profilieren, werden (1.) die Grundlinien des poststrukturalistischen Theorieprogramms bei Laclau und Mouffe erarbeitet, (2.) das darauf aufbauende Modell agonaler Demokratie bei Mouffe sowie (3.) die Konzeption radikaldemokratischer Staatsbürgerschaft vorgestellt. Hierbei werden (3.1) ein Modell politischer Kollektivität zwischen liberalen und zivil-republikanischen Konzeptionen von Staatsbürgerschaft und Partizipation skizziert und (3.2) die Konsequenzen für Partizipation und Beteiligung diskutiert. Anschließend wird ein Resümee für ein poststrukturalistisch informiertes Demokratieverständnis formuliert. 1. LACLAUS UND MOUFFES POSTSTRUKTURALISTISCHE THEORIE HEGEMONIALER POLITIK Der Begriff Poststrukturalismus verweist auf „ein Durcharbeiten und eine Radikalisierung strukturalistischen Denkens“,6 das mit der Zeichentheorie Ferdinand de Saussures einsetzt. Nach Saussure wird die Bedeutung eines Zeichens durch seine Differenz zu anderen Zeichen erklärt – Sinn und Bedeutung sind relational. Der Poststrukturalismus greift diese zeichenimmanente Begründung von Sinn auf und radikalisiert die Blickrichtung: Differenzen werden nicht nur als konstitutiv für 4

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Dabei unterscheidet sich die folgende Argumentation von empirisch orientierten Analysen, die das politische und soziale Milieu von Protesten strukturell untersuchen und dabei eine exklusive partizipatorische Elite erkennen. Vgl. statt vieler Lijphart 1997; Merkel 2011. Zu einer Untersuchung der Sozialstruktur der Protestierenden vgl. die Dokumentation der Befragung zu Stuttgart 21 durch das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin in Baumgarten 2010. Vgl. Laclau/Mouffe 2000. Moebius/Reckwitz 2008, S. 10.

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Bedeutung gesehen, sondern auch als komplexe Ausschließungsmechanismen. Geht das strukturalistische Denken noch von einer zwar willkürlich entstandenen, aber daraufhin festen Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat aus, lehnen Poststrukturalisten im Anschluss an Jacques Derrida diese Stabilitätsannahme ab und brechen mit dem Konzept eines geschlossenen Differenzsystems.7 Relationale Bedeutung meint, dass ein Zeichen immer ex negativo seinen Sinn erhält und alle anderen Zeichen als ein konstitutives Anderes ausschließen muss. In einem dynamischen „Spiel der Zeichen“8 entfaltet sich eine Instabilität von Bedeutungsrelationen, sodass die als kontextual und kontingent begriffenen Bedeutungen die Notwendigkeit diskursiver Sinnstabilisierung bedingen. Um Verständigung zu ermöglichen, bedarf es Diskursen, welche Bedeutung und Identität zumindest auf Zeit fixieren. In ihrer Diskurstheorie entwerfen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe eine Politiktheorie, die dieses poststrukturalistische Programm formalisiert und mit dem Kulturmarxismus Antonio Gramscis zusammenführt. Die Autoren negieren einen außer-diskursiven Referenzpunkt als Fundament oder Grund des Sozialen und Politischen. Das Diskursive ist gleichursprünglich mit dem Sein eines Objekts, denn die Bedeutung eines Phänomens konstituiert sich durch eine diskursive Artikulation. Sie entsteht dadurch, dass es ‚besprochen‘ wird.9 Diskurs ist sodann eine Semiosis, ein „meaning-making“10 mit einem Ensemble von Praktiken, die die Identitäten von Subjekten und Objekten formen. Im Anschluss an diesen Diskursbegriff untersuchen beide Autoren, wie Bedeutungen und soziale und kulturelle Identitäten geschaffen werden, wie aus ihnen politische Forderungen entstehen und welcher Diskurs- bzw. Signifikationslogik diese folgen. Dabei treffen sich Zeichentheorie und politische Theorie in der Vorstellung, dass sich die diskursiv konstruierte Wirklichkeit durch Ausschlüsse konstituiert. Jede Gesellschaftsform resultiert aus Verfahren, die Ordnung im Kontext von Kontingenz zu schaffen versuchen, und Ordnung beruht auf Entscheidungen als Akten sozialer und politischer Macht. Macht bezeichnet dabei kein Verhältnis zwischen bereits festen Identitäten, sondern konstituiert diese erst.11 Politische Praxis fällt mit Identitätsbildung und diese wiederum mit Macht zusammen.12 So manifestiert sich Macht als Modus von Sinnstiftung und Vergesellschaftung. 7

So besagen Derridas Dekonstruktion der Präsenz eines Zeichens und der Begriff der différance, dass das Sein einem Prozess des Ausschließens und der Setzung folgt. Vgl. Derrida 1974. 8 Moebius/Reckwitz 2008, S. 13. 9 Schnell wird deutlich, dass sich Diskurs- und Argumentationsbegriff in der poststrukturalistischen Theorie von der Diskurstheorie Jürgen Habermas’ unterscheiden. Habermas erkennt im Diskurs die Möglichkeit, Vernunft und Wahrheit intersubjektiv zu entdecken, weil jeder Sprecher einen Bezugspunkt postuliere, an dem sich die Geltungsansprüche bemessen ließen. Deliberation besteht also aus „argument[s] as discovery“, da sie von einem zu entdeckenden Grund ausgeht. Für Laclau und Mouffe fungiert ein Argument jedoch als „social construction“. Laclau 1989, S. 79. 10 Fairclough 2007, S. 10. 11 Laclau/Mouffe 2000, S. 27. 12 Auch politische Praxis versucht, Identitäten „[…] in einem prekären und jederzeit anfechtbaren Terrain zu konstituieren.“ Ebd., S. 26.

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Laclaus und Mouffes Machtbegriff ist ein quasi-ontologischer, kein empirisch gewonnener Begriff und ergibt sich aus der Dekonstruktion der scheinbaren sozialen Objektivität. Damit meint Macht mehr als eine an Max Weber anschließende Durchsetzung eines prädiskursiven Willens und einer Einschränkung des Handlungsspielraums anderer; sie meint das generelle Vermögen, soziale Strukturen zu erschaffen. Macht ist jedoch keine außerdiskursive Kategorie, sondern nur innerhalb eines Diskurses denk- und erfahrbar. Laclau und Mouffe schlussfolgern, „[…] dass jede soziale Objektivität letztlich politisch ist und die Spuren der Akte der Ausschließung, die ihre Konstitution regiert, zeigen muss […]“.13 Im Rückgriff auf Gramsci führen Laclau und Mouffe hier den Begriff der Hegemonie ein.14 Hegemonie ist als artikulatorische Praxis ein Typ politisch gewordener Differenzbeziehungen, sie entsteht durch diskursive Knotenpunkte, die Institutionen und sozialen Praktiken eine bestimmte Bedeutung einschreiben, „[…] wodurch eine bestimme Konzeption von Realität begründet wird.“15 „Begründen“ verweist auf den Versuch jeder Hegemonie, vermeintliche Gründe und Kausalitäten zu etablieren. Eine erfolgreiche Hegemonie ist daher ein sedimentiertes Wahrheitsund Begründungsregime, in dem sich verschiedene Positionen zu einer dominanten, temporären und prekären Bedeutungsstabilisierung im Diskurs formieren.16 In jeder hegemonialen Formation wird eine politische Forderung formuliert, die eine Vormachtstellung im jeweiligen Diskurs einzunehmen und sich als alternativlos und universal zu präsentieren versucht. Hegemoniale Politik meint folglich nichts anderes als den Versuch der Objektivierung partikularer Positionen durch Macht. Für die Diskussion um Partizipation und Demokratie ist nun folgende Konsequenz zentral: Um aus verschiedenen Momenten eine politische Forderung und eine diskursive Formation zu artikulieren, muss ein hegemoniales Projekt ein Außen ausschließen. Nur so kann es sich als Einheit repräsentieren. Nur durch die Konstruktion eines Antagonismus‘ kann eine politische Bindung über konstitutive Differenzen hinaus erfolgen – erst durch ein Außen entsteht Kohäsion. Angesichts des äußeren Anderen nehmen Diskurse und die in ihnen artikulierten Positionen und Identitäten ihre eigenen Grenzen wahr und erkennen sich innerhalb dieser als äquivalent. Das Außen wird somit zur Bedingung von Äquivalenz und Differenz und zur Bedingung politischen Handelns.

13 Ebd., S. 26 f. 14 Bei Gramsci wird Hegemonie als eine Ausübung von Führen und Unterwerfen verstanden; in der Zweiten marxistischen Internationalen wird hiermit das Verhältnis zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie beschrieben. Laclau und Mouffe integrieren den Begriff der Hegemonie in ihre Diskurstheorie und behalten Gramscis Verständnis von Hegemonie als ethische, moralische und politische Führung bei. Sie entbinden diese aber von einer ökonomischen Klasse, da sie den ‚Klassismus‘ des Marxismus kritisieren. Vgl. Neubert 2001, S. 66 f.; Laclau/Mouffe 2000, S. 112 f. 15 Mouffe o. J. [12.9.2009]. Meine Hervorhebung. 16 Vgl. Laclau/Mouffe 2000, S. 27.

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2. AGONALE DEMOKRATIE – EIN DEMOKRATIEMODELL ZWISCHEN POSTSTRUKTURALISMUS UND LINKS-SCHMITTIANISMUS Mouffe verknüpft in ihrer Demokratietheorie das Denken des konstitutiven Außen mit dem Politikbegriff Carl Schmitts. Ihr Konzept agonaler Demokratie nimmt dessen Freund-Feind-Denken auf und postuliert, dass Politik auf einem Modell der Gegnerschaft, auf konflikthaften Auseinandersetzungen basieren müsse.17 Das schwere Erbe ihres Wahlverwandten Schmitt zeigt sich jedoch mitunter in dessen identitärem Demokratiebegriff, denn Demokratie beruhe als das Versprechen von Gleichheit „[…] darauf, dass nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nicht-Gleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung dieses Heterogenen.“18

Homogenität wird zu einem Schlüsselbegriff seiner politischen Theorie. Für Schmitt kann eine politische Gesellschaft entweder liberal und plural oder demokratisch und homogen sein. Das Außen wird zu einem existenziell Anderen, zu einem Fremden, welches das demokratische Wir potenziell bedroht. Statt eines diskursiven, flexiblen Antagonismus‘ zwischen Innen und Außen handelt es sich für Schmitt „[b]ei der Frage der Gleichheit […] nicht um abstrakte, logischarithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit. Sie kann in bestimmten physischen und moralischen Qualitäten gefunden werden, z. B. in der staatsbürgerlichen Tüchtigkeit […]“.19

Für Schmitt folgt die Identifikation eines demos aus einer Dissoziation bzw. einem Antagonismus zwischen ungleichen, entgegengesetzten Polen. Um an Schmitt anzuknüpfen, besteht die Herausforderung an Mouffes Theorie darin, Schmitts Begriff des demokratischen Volkes als ein entsubstanzialisiertes, diskursiv konstruiertes ‚Wir‘ zu denken. Um demokratische Identitäten und Gesellschaften zu beschreiben, muss sie die Freund-Feind-Unterscheidung derart reformulieren, dass sie sowohl mit ihrer antiessentialistischen Epistemologie als auch mit liberal-demokratischen Prinzipien vereinbar ist. Mouffe erkennt, dass sie „[…] eine Form von Kommunalität ins Auge fassen [muss], die stark genug wäre, einen ‚Demos‘ zu instituieren, und dennoch mit gewissen Formen des Pluralismus […] kompatibel wäre“.20 Es gilt, den für sie konstitutiven, aber potenziell bellizistischen Antagonismus zwischen Freund und Feind zu „entschärfen“, um eine demokratische Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.21

17 Für Schmitt ist Politik „[d]ie spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, […] die Unterscheidung von Freund und Feind.“ Schmitt 2009, S. 25. 18 Schmitt 1979, S. 14. 19 Ebd. Meine Hervorhebung. 20 Mouffe 2008, S. 65. 21 Vgl. ebd., S. 103.

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Für Mouffes Demokratieverständnis bedeutet dies nun, dass aufgrund faktisch gegebener konfligierender Ansichten in pluralistischen Gesellschaften die Aufgabe der Demokratie darin besteht, eine existenzielle Freund-Feind-Beziehung in ein Modell legitimer Gegnerschaft – in einen Agonismus – zu verwandeln. Gegner vertreten andere politische Positionen und versuchen, andere Partikularismen zu hegemonialisieren, da sie über andere Konzeptionen des Guten und Richtigen verfügen und somit andere gesellschaftliche Objektivitäten herstellen wollen. In agonalen Demokratien wird das Recht des politischen Widersachers, für seine partikulare Konzeption zu kämpfen, anerkannt. Agonismus ist damit eine „politisch gezähmte“ Variante des Antagonismus, bei dem aus Feinden Widersacher geworden sind, die sich nicht vernichten wollen, sondern die Legitimität ihrer Unterschiede anerkennen und die Affirmation der grundlegenden liberaldemokratischen Prinzipien, Freiheit und Gleichheit, teilen.22 Demokratische Gesellschaften müssen dafür Sorge tragen, dass sich politisch legitime Meinungsverschiedenheiten und darauf basierende Konfliktlinien nicht verhärten. Da im Sinne Laclaus und Mouffes partikulare politische Projekte nicht miteinander ausgesöhnt werden können, sondern in hegemonialen Dominanzverhältnissen enden, vollzieht sich demokratische Politik als ein Streit um jene Verhältnisse. Dazu bedarf es der Anerkennung einer echten politischen Alternative, die sich mitunter entlang des binären Schemas Links-Rechts orientieren soll.23 Es kann also festgehalten werden: Das Konzept des agonistischen Pluralismus affirmiert heterogene Gesellschaften. Mouffe übernimmt das Moment der Agonalität von Schmitt bei gleichzeitiger Ablehnung seiner Pluralismuskritik – sie argumentiert ‚mit Schmitt gegen Schmitt‘:24 Für den Staatsrechtler besteht „[d]ie politische Kraft einer Demokratie […] darin, dass sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß“;25 für Mouffe entsteht Demokratie gerade durch das Austragen von Konflikten, durch Dissens, Ungleichheit und Pluralismus innerhalb der demokratischen Gemeinschaft. Politische Gruppen, die die Prinzipien der liberalen Demokratie verneinen, müssen als Antagonisten oder Feinde ausgeschlossen werden.26 Politische Gegnerschaft steht somit auf dem Fundament eines ethisch-politischen Gemeinsamen – sie vollzieht sich im Rahmen einer demokratischen Kommunalität, die „[…] einen Konsens über die ethisch-politischen Werte der Freiheit und der Gleichheit aller, einen Dissens aber über die Interpretation dieser Werte […]“27 zur Grundla22 Vgl. Nonhoff 2007, S. 11. 23 Mouffes Links-Rechts Schema bleibt allerdings – theoriebedingt – nebulös; ihr Ziel ist es vor allem, sich damit kritisch von Anthony Giddens’ Modell des Dritten Wegs zu distanzieren. Vgl. Giddens 1997. 24 Mouffe 2008, S. 64. 25 Schmitt 1979, S. 14. 26 Mouffe fordert einen Pluralismus, der innerhalb des symbolischen Raums der Demokratie begrenzt werden muss auf Positionen, welche die grundlegenden Institutionen anerkennen; ihr Demokratieverständnis entspricht dem einer „wehrhaften Demokratie“. Vgl. von Beyme 1996, S. 194. 27 Mouffe 2007, S. 158.

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ge hat. Dieser grundlegende Konsens ist konfliktiver Natur, da die Bedeutung von ordnungsstiftenden Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit selbst Gegenstand diskursiver Auseinandersetzungen ist. Vor diesem gemeinsamen Horizont finden Konflikte statt. Eine plurale Demokratie erfordert ein Bekenntnis zu ihren Institutionen und Prinzipien. So steht Mouffes Theorie der agonalen Demokratie, weit entfernt von ihrem Wahlverwandten Carl Schmitt, zwischen Liberalismus und Zivilrepublikanismus, weil sie zum einen die Wiedereinführung eines substanziellen Begriffs des Gemeinwohls ablehnt und zum anderen den liberalen Schachzug einer strikten Trennung von privat und öffentlich, auf dessen Grundlage konfligierende Konzeptionen des guten Lebens ins Private verschoben werden können, vehement kritisiert. Auf diesem Mittelweg müssen politische Partizipation und Identitätsbildung so konzeptualisiert werden, dass eine mit modernen und pluralen Gesellschaften kompatible Form einer emanzipatorischen Kollektivität gedacht werden kann. 3. STAATSBÜRGERSCHAFT UND PARTIZIPATION 3.1. Eine radikaldemokratische Äquivalenzkette als emanzipatorische Aufgabe Die Idee politischer Beteiligung setzt politische Subjekte bzw. Akteure voraus. Aus hegemonietheoretischer Perspektive identifizieren sich diese mittels Wir-IhrRelationen und nehmen je nach Antagonismus verschiedene Positionen ein.28 Subjekte multiplizieren somit diverse, in unterschiedlichen Abgrenzungen entstandene Subjektpositionen, die sich durch vermachtete Artikulationsprozesse konstituieren. Folglich hat ein Subjekt keine Essenz, sondern mehrere diskursivpolitisch konstruierte Identitäten. Subjektpositionen können also nicht von einem positiven, einheitlichen Grundprinzip abgeleitet werden, da es bei einer Identifizierung nicht nur einen Bruch zwischen Innen und Außen gibt, sondern multiple Brüche und Risse, die jeweils zu unterschiedlichen Identifizierungen und Sinnfixierungen führen. Dieses radikal antiessentialistische Verständnis des Subjekts hat unter anderem zur Folge, dass sich ein unterdrücktes Subjekt nur als solches empfinden und für seine Rechte kämpfen kann, wenn der Diskurs eine solche Identifizierung zulässt. Es gibt keine manifeste, materiale Unterdrückung oder Ungerechtigkeit, wenn sie nicht diskursiv konstruiert wird. So sind auch Menschenrechte nur in einem Diskurs über den Menschen gültig. Es gibt daher auch keine Essenz des Weiblichen in der feministischen Bewegung,29 ebenso wenig kann der politische Bürger eines demokratischen Gemein28 Zugleich verhindern Antagonismen eine vollständige Identität. Vgl. Laclau 2007b, S. 28. 29 Eine arbeitende Frau kann sich in einem bestimmten Diskurs als Frau wahrnehmen und für die Gleichberechtigung ihres Geschlechts kämpfen, während sie sich in einer anderen diskursiven Situation als Arbeiterin für Arbeitnehmerrechte jenseits von Geschlechtergrenzen einsetzt. Dass sie sich überhaupt als Frau oder Arbeiterin wahrnehmen kann, folgt aus dem jeweiligen Diskurs, in dem sie sich gegenüber anderen Subjektpositionen wie z. B. dem Mann, dem Arbeitgeber subjektiviert. So ist Forderung nach Gleichberechtigung nicht zwingend

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wesens oder das Volk eines Staates durch vordiskursive Zugehörigkeit bestimmt werden. Staatsbürgerschaft wird zu einem „Artikulationsprinzip, das die verschiedenen Subjektpositionen sozial Handelnder berührt“.30 Sie ist weder „eine Identität unter vielen“ wie in liberalen Theorien noch eine prinzipiell übergeordnete Identität wie in zivilrepublikanischen und stark partizipatorisch angelegten Theorien.31 Für den klassischen Liberalismus konstatiert Mouffe, dass hier der Bürger nicht handle, um zu partizipieren, sondern lediglich um seine Rechte zu verteidigen. Aber bürgerschaftliche Beteiligung beschränkt sich nicht auf den Gebrauch negativer Abwehrrechte. Sie beruht auch nicht, wie im kommunitaristischen bzw. zivilrepublikanischen Denken, auf der Verwirklichung eines bestimmbaren Gemeinwohls durch einen notwendigen, bürgerschaftlichen Gemeinsinn. Worauf es ankommt, ist die „Identifikation mit einer radikal-demokratischen Interpretation der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit“32 und mit den „Regeln staatsbürgerlicher Umgangsweise“.33 Dieser Prozess der Identifikation schaffe eine kollektive Identität zwischen divergenten Subjektpositionen. Folglich besteht „[p]olitische Praxis in einer demokratischen Gesellschaft […] nicht in der Verteidigung der Rechte von im Voraus bestehenden Identitäten, sondern darin, diese Identitäten in einem prekären Terrain […] hervorzubringen“.34

Im Anschluss stellt sich die zentrale Frage für die hegemonietheoretische Profilierung von Partizipation und Staatlichkeit: Wie kann Kollektivität als „wesentlichste[s] Kriterium radikaler Politik“35 gedacht werden, ohne entweder den Antiessentialismus aufzugeben oder in einen politisch wirkungslosen Fragmentarismus zu verfallen? Wie kann eine politische, hegemoniale Bewegung entstehen, ohne stets den Mythos einer homogenen Akteurseinheit zu beschwören?36 Der Begriff der Äquivalenzkette versinnbildlicht nun das antiessentialistische Modell von Kollektivität, das Gruppenbewegungen möglich macht, ohne den Pluralismus der Akteure in homogenen, identitären Formationen verschwinden zu lassen. Die semantische Differenz zwischen Äquivalenz und Identität ist von fundamentaler Bedeutung: Subjekte gehen nicht konturlos in solchen Ketten auf,

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weiblich, nicht jede ‚Frau‘ grenzt sich im Diskurs vom ‚Mann‘ ab oder empfindet sich als ungleich behandelt. Mouffe nimmt somit eine antiessentialistische Feminismus-Perspektive ein. Vgl. Mouffe 1992, S. 373. Mouffe 1993, S. 13. Ebd. Mouffe 1993, S. 14. Ebd., S. 10. Diese doppelte Kritik an einem minimalistischen Konzept der liberalen Demokratie, das Eigeninteressen und individuelle Kosten-Nutzen-Kalküle in den Vordergrund stellt, sowie an der kommunitaristischen Vorstellung homogener Gemeinschaftskulturen verbindet Mouffe mit Benjamin Barbers „Strong Democracy“. Vgl. Barber 1984. Mouffe 2007, S. 43. Marchart 2009, S. 16. Laclaus Perspektive weicht hier ab, denn für Laclau nimmt dieser Mythos eine Schlüsselfunktion in der Konstruktion von Kollektivität ein, da er ein soziales Imaginäres instituiert und damit ein Synonym eines hegemonialen Projekts ist. Vgl. Laclau 1990, S. 64 f.

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sondern behalten ihre Differenzen durch ihre multiplen Subjektpositionen. Gemeinsames Handeln wird nicht in identitären, konsensualen Verfahren, sondern in pluralistischen und offenen Formationen ohne einen zentralen, privilegierten sozialen Akteur konzipiert. Je länger eine Äquivalenzkette ist, desto größer ist der Einfluss solcher pluralen und heterogenen Bewegungen. Ziel der emanzipatorisch angelegten Hegemonietheorie ist daher die Bildung einer möglichst langen Äquivalenzkette. Mit Laclau und Mouffe wären konsequenterweise die Bestrebungen der sogenannten „single issue groups“ kritisch zu hinterfragen: Ohne eine Anbindung an andere Interessengruppen verfügen diese über keine große politische Wirkungsmacht, denn sie bilden einfach weitere politische Differenzen im politisch vielfach gekerbten Raum und drohen nach der Differenzlogik absorbiert zu werden. Es gilt stattdessen, die Narrative eines politischen Projekts so zu reformulieren, dass sich möglichst viele Gruppen damit identifizieren und Bewegungen entstehen können. Ziel ist es, „leere Signifikanten“37 politisch zu usurpieren, sodass sie mit den Zielen der politischen Formation gleichgesetzt werden und dabei anschlussfähig für andere, Hand in Hand gehende Forderungen bleiben. Eine radikaldemokratische Äquivalenzkette soll schließlich eine Vertiefung und Ausweitung der demokratischen Prinzipien verfolgen: „Eine radikal-demokratische Interpretation wird zum Beispiel die zahlreichen sozialen Beziehungen hervorheben, in denen Herrschaftsverhältnisse existieren und die angefochten werden müssen, wenn die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit angewandt werden sollen. Sie sollte zu einer den verschiedenen, für eine Ausdehnung und Radikalisierung der Demokratie kämpfenden Gruppen gemeinsamen Erkenntnis führen, dass sie ein gemeinsames Interesse haben und dass sie in der Wahl ihrer Handlungen gewissen Verhaltensregeln zustimmen sollten.“38

Radikaldemokratische Staatsbürgerschaft meint daher eine Subjektivierung, die trotz der Vielfalt des politischen Raumes eine gemeinsame ‚Betroffenheit‘ von Rassismus, geschlechtsspezifischer Diskriminierung, ökonomischer Ausbeutung etc. artikulieren kann. Der Logik einer Äquivalenzkette zufolge muss ein gemeinsames Imaginäres geschaffen werden, das anknüpfungsfähig für unterschiedliche Bewegungen und partizipatorische Beteiligungsforderungen ist. In der Forderung nach gesellschaftlicher Transformation durch eine „kollektive Form der Identifikation“ liegt dann das emanzipatorische Potenzial der Theorie.39 Folglich können wir die poststrukturalistische Hegemonietheorie nicht nur als eine Kritik essentialistischer Identitätspolitk begreifen, sondern auch als eine Chance, traditionelle Identitätspolitiken mit Hilfe von Äquivalenzketten offensiv zu erweitern. Vor diesem Hintergrund wird der zu Beginn genannte strategische Einsatz des Signifikanten „Volk“ und die Forderung nach „mehr Demokratie“ im Protest gegen „Stuttgart 21“ beispielhaft: Eine lokale Bewegung wird derart diskursiv eingebettet, dass ihr partikulares Ziel – die Verhinderung eines Infrastrukturprojekts 37 Ein „leerer Signifikant“ wird mit differenten Geltungsansprüchen aufgeladen und beansprucht eine übergreifende Bedeutung als ‚Oberbegriff‘. Er hat den Effekt einer diskursiven Totalisierung, da er hegemoniale Äquivalenzketten vereinheitlicht. Vgl. Laclau 2002, S. 55, 65, 74. 38 Mouffe 1993, S. 13. 39 Ebd.

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in einer Landeshauptstadt – für weitere partizipatorische Initiativen, die sich ebenfalls mit der Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung identifizieren, anschlussfähig werden kann. Sowohl der ostentative Rückbezug auf den Ruf „Wir sind das Volk!“ bei den Demonstrationen gegen das SED-Regime der DDR als auch die wöchentliche Montagskundgebung verdeutlichen, dass die protestierenden Stuttgarter sich in Kontinuität zu demokratischen Bewegungen gegen einen intransparenten Obrigkeitsstaat artikulieren wollen. Der Protest wird aus seinem lokalen und zeitlichen Bezug herausgelöst, indem dessen Partikularität verschleiert wird. Dabei zeigt der Fall Stuttgart auch, dass die von Mouffe mit Verve eingeforderte Rückbesinnung auf die agonale Konfliktlinie zwischen links/rechts, konservativ/progressiv als Komplexitätsreduktion zu eindimensional ist. Eine Einordnung des Protestdiskurses im politischen Spektrum muss berücksichtigen, dass „Volk“ zunächst das agonale Wir, das sich gegen Politiker, Deutsche Bahn und Befürworter des Projekts wendet und diese in der Reartikulation von „Volk“ ausschließt, signifiziert. Dabei wird dieses „Wir“ mit „Tradition“, „Naturschutz“, „Heimat“ und „Nachhaltigkeit“ diskursiv verknüpft. Der Gegendiskurs pro Stuttgart 21 wird wiederum von den Gegnern mit „Bürokratie“, „Planfeststellungsverfahren“ assoziiert, während er sich selbst mit „Fortschritt“ und „Zukunft“ verbindet. Darüber hinaus wirft die Selbstdeklaration ‚Volk‘, die bewusst als Gegensatz zum ‚Lügenpack‘ konstruiert wird, die Frage nach einer Nähe zwischen partizipatorischen und populistischen Initiativen auf. Der Vorwurf des „Lügenpacks“ verweist auf ein charakteristisches Merkmal populistischer Bewegungen, die eine Opposition zwischen Volk und Politik artikulieren. Vor allem bei Laclau wird der Zusammenhang von Demokratie und Populismus deutlich:40 Als Politikmodell ist Populismus eine Realisierung des hegemonietheoretischen Universalisierungstheorems; der Signifikant ‚Volk‘ wird generalisiert, eine spezifische politische Ideologie mit dem Willen eines imaginären Allgemeinen identifiziert und damit hegemonial. Für Laclau steht Populismus folglich in keinem gegensätzlichen Verhältnis zu Demokratie, sondern ist eine politische Überdeterminierung durch einen einzigen, ‚popularen Bruch‘, der statt vielfacher Agonismen das politische Feld bipolar organisiert.41 Als Konsequenz dieser Perspektive bleibt die Feststellung, dass es nicht vermessen, sondern aus der demokratischen Logik folgerichtig ist, lokale Proteste diskursiv zu vergrößern, um Teil einer plebiszitär orientierten Äquivalenzkette zu werden. Somit mögen die Stuttgarter Proteste als eine potenzielle Geburtsstunde einer möglicherweise langfristigen politischen Formation erscheinen, der es gelingen könnte, unterschiedliche Forderungen zu absorbieren, indem sie sie gegen „das System“ (wenn auch innerhalb desselben) artikulieren. 40 Laclau deutet Populismus als das politische Projekt par excellence und erkennt in seinen Artikulationslogiken „[…] the royal road to understanding something about the ontological constitution of the political as such.“ Laclau 2007a, S. 67. Auch für Mouffe stellt Populismus prinzipiell kein Problem, sondern eine Chance dar, sofern er für eine linke, gegen das neoliberale Paradigma gerichtete Politik mobil macht. 41 Vgl. Laclau 2007a; Panizza 2005.

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3.2. Partizipation durch Agonismus und Stellungskrieg? Angesichts der gegenwärtig modischen Protesttheorien von Hardt und Negri,42 Stéphane Hessel43 und des vielfach diskutierten Manifests des „kommenden Aufstands“44 verschärft sich die Frage, ob sich ehedem plebiszitäre Bewegungen einer „Selbstexklusion“ aus dem politischen Feld zu unterziehen oder in Gewalt und Sabotage zu kippen drohen. In jenen gegenwärtigen Theorien spiegelt sich ein Individualismus, der kollektivierende Äquivalenz zugunsten von Differenz und Singularität aufgibt. Autonomie wird in einen Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit und in einen Privatismus überführt.45 Dabei verweist dieses Denken auf eine Ablehnung staatlicher Strukturen und Institutionen. Wenn politischer Widerstand als ein Teil der Ordnung, gegen die er sich richtet und innerhalb derer er sich formiert, begriffen wird, dann drohe Kooptation, wobei die Ambivalenz von Kooptation und Verhaftetsein sich schon bei Foucaults Diktum angelegt findet: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“46 Mouffe setzt dagegen auf „Föderalismus von unten“:47 Regionalisierung und zunehmende Föderalisierung in Europa würden Beteiligung durch die lokale und regionale Identifikation erleichtern, die Partizipationschancen erhöhen und so einen möglichen Lösungsweg aus der partizipatorischen Sackgasse weisen. Doch reflektiert sie in ihrer Forderung nach einer Strukturänderung ein demokratietheoretisches Paradox der Partizipation nicht: Je mehr sich Bürger beteiligen, je mehr Beteiligungsforen multipliziert, ausdifferenziert und situativ angepasst werden, desto höher wird dadurch die Intransparenz von Politik und desto komplexer wird Zurechenbarkeit. Mouffes Fokus liegt andernorts: Vor allem die politische Kultur einer agonalen Demokratie könne das Interesse der Bürger an Beteiligung mobilisieren. Schließlich sei die gegenwärtige Politik- und Parteienverdrossenheit damit zu erklären, dass die derzeitige Politik ohne politische Herausforderung sei, weil keine wirkliche Alternative zur Hegemonie des Neoliberalismus und einer Politik der Mitte formuliert werde. Die von Gramsci entliehene Metapher des Stellungskrieges betont hierbei die Aufgabe, sich an verschiedenen Positionen für Demokratie, gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Desinteresse einzusetzen. Mouffes Verdienst liegt in ihrer Kritik der Tendenz, der Parteipolitik überdrüssig zu sein, 42 Vgl. Hardt/Negri 2003, 2010. 43 Vgl. Hessel 2010. Im Sommer 2011 wird Empörung als politischer Affekt sichtbar artikuliert und diskursiv aufgewertet; Spanien wird von einer Protestwelle vornehmlich junger Bürger erfasst, die sich selbst als „Indignados“ beschreiben und damit an die Streitschrift des französischen Doyen anknüpfen. 44 Unsichtbares Komitee, 2010. 45 Die Forderung des Unsichtbaren Komitees, durch Sabotageakte das ökonomische und politische System zu stören, wirft die Frage auf, ob die Orte politischen Widerstands und des Einforderns von Mitbestimmung und Teilhabe heute Arbeitsplatz und Supermarkt sind, wenn politischer Druck auf nationale Parlamente an deren Entmachtung sinnlos zu werden droht. Eine sich hieran anschließende Aufgabe wäre es zum Beispiel, ‚ethischen Konsum‘ politikwissenschaftlich zu analysieren. 46 Foucault 1977, S. 116. 47 Vgl. Mouffe 2007, S. 50 f.

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sich der Politik zu entziehen und Streit als Hindernis auf dem Weg zu einer harmonischen, mit sich versöhnten Gesellschaft zu begreifen. Schließlich entlässt die Theorie auch den der politischen Polemik Zugeneigten mit einem Unbehagen an der Forderung nach mehr Auseinandersetzungen, Affekten und Leidenschaften. Die demokratietheoretische Reflexion partizipatorischer Politik befasst sich vor allem mit Möglichkeiten transparenter Mitbestimmungsverfahren und mit Chancen politischer Rationalität. Leidenschaften und Affekte wie Empörung sind hierbei als Mobilisierungsfunktion integrierbar, werfen aber gleichzeitig die Frage nach Mitteln der Konfliktlösung auf. Einerseits ist das Argument, dass bestimmte Konflikte nicht rational entschieden werden könnten, mehr als stichhaltig. Folgt man dieser Argumentation, können rationale Verfahren wie das Schlichtungsverfahren in Stuttgart eine fatale Signalwirkung erzielen, indem sie als eine Diskreditierung leidenschaftlicher demokratischer Partizipation zugunsten von Wissenschaftlichkeit und rationaler, neutraler Schlichtung verstanden werden. Andererseits offenbart sich für die poststrukturalistische Reformulierung des Partizipationsgedankens ein Problem angesichts der Schmitt’schen Wendung bei Mouffe. Wie kann die demokratische Differenzierung zwischen Feind und Gegner aufrechterhalten werden? Diese Unterscheidung steht auf einem schwachen Fundament, denn Mouffe kann mit ihrer Theorie die Frage nach der Legitimität bzw. Illegitimität von Gewalt nicht beantworten. Auch die liberaldemokratische Ordnung können wir als ein Gewaltregime deuten, das auf Bedrohungen von Menschenrechten und Demokratie mit Gewalt reagiert. Zur Erinnerung: Die Affirmation liberal-demokratischer Institutionen wird von Mouffe zum Kriterium der Unterscheidung Feind/Gegner erhoben, wobei „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Demokratie“ leere Signifikanten sind, die differente und zahlreiche Interpretationsspielräume öffnen. Folglich müssen jene Interpretationen auf ihre radikaldemokratische Äquivalenz geprüft werden. Hier droht jedoch ein formalistischer Zirkelschluss: Radikaldemokratisch äquivalent ist, was für den radikaldemokratischen Diskurs anschlussfähig ist. Dieses Problem resultiert aus der Ablehnung präskriptiver, normativer Demokratiemodelle und einer universalen Ethik der Demokratie bei Laclau und Mouffe. Lösbar wird es nur durch die Rückbindung an politische Traditionen und Institutionen wie beispielsweise Verfassung und Parlament, die nichts anderes sind als Sedimentierungen demokratischer Diskurse und somit Wahrheits- und Begründungsregime. Sie bieten den Rahmen zur Überprüfung demokratischer Kommunalität. Folgerichtig hat Mouffes Plädoyer für die Institutionen der repräsentativen Demokratie ein Janusgesicht: Nach vorne dient es der pragmatischen Erweiterung der Machtperspektive eines gegen-hegemonialen (linken) Projekts und wendet sich gegen eine Tendenz der Selbstexklusion aus radikaler Systemopposition oder aus politischem Fatalismus. Nach hinten ist es Ausdruck eines Bewusstseins für die demokratiegefährdende Potenz antagonistischer Konflikte und Essentialisierungstendenzen. Mouffe fordert eine Vervielfältigung und Vertiefung demokratischer Institutionen; sie betont die Bedeutung von Parlamenten für die Austragung

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politischer Debatten.48 Denn um Kanäle agonaler Konfliktführung zu gewährleisten, muss Demokratie ein Set an Institutionen, die Konflikte ermöglichen und in Verfahren überführen, bereitstellen sowie die Rechtsgrundlagen und Möglichkeiten der legitimen Artikulation hegemonialer Projekte gewähren. Dennoch steht eine Frage im Raum: Kann man Agonismus „[…] tatsächlich theoretisch so denken, dass er als alteritätseingedenkender Impuls wirkt und nicht zur Sprengung der ‚politischen Differenz‘ führt?“49 Brisant wird diese Frage, weil die Unterscheidung zwischen Gegner und Feind gerade den Unterschied zwischen Mouffes emanzipatorischer und Schmitts im Totalitären endenden dissoziativen Theorie des Politischen ausmacht. Was ist also die differentia specifica der politischen Theorien, oder anders: Argumentiert Mouffe tatsächlich gegen Schmitt oder handelt es sich lediglich um einen Taschenspielertrick, mit dem sie Antagonismus in Agonismus zu verwandeln glaubt? Letztere Kritik kann darauf verweisen, dass auch Schmitt die physische Vernichtung nur als einen Horizont, als eine letzte Konsequenz des Antagonismus denkt.50 Für den Juristen wäre eine Einhegung der antagonistischen Auseinandersetzung durch beidseitig anerkanntes Recht und Gesetz möglich, denn: „Es genügt zu seinem Wesen [des Antagonisten, A.S.], dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, sodass im extremen Fall mit ihm Konflikte möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung noch durch den Spruch eines ‚unbeteiligten‘ und daher ‚unparteiischen‘ Dritten entschieden werden können.“51

Die Einhegung des Antagonismus ist also im Normalfall möglich. Auch entscheiden bei Schmitt die Beteiligten über den extremen Konfliktfall, über Kampf bzw. Krieg – die Verschiebung zum existenziellen Antagonismus wäre somit an politische Entscheidungen und nicht an eine vorgegebene Substanz gebunden.52 Diese Spannung in der Schmitt-Interpretation wirft die Frage auf, ob das Fremde bzw. der Feind einen durch Dritte feststellbaren „Wahrheitswert“53 hat oder im Sinne Mouffes diskursive Setzung ist.54 Trotz ihrer Treffsicherheit unterschätzt jene Kritik die fundamentale poststrukturalistische, diskurstheoretische Verschiebung: Antagonismen und Agonismen beruhen auf fluiden Diskursformationen und werden in einer Demokratie mehrfach gebrochen.55 Mouffes epistemologische Entscheidung für den Poststrukturalismus ist die Grundlage ihrer Reartikulation Schmitts – die Substanz der Gleichheit diffundiert im Antiessentialismus. Zugleich weist Mouffe mit ihrer agonalen Demokratie auf einen blinden Fleck Schmitts hin. Dieser marginalisiert die Probleme der Konstruktion und Bewah48 49 50 51 52 53 54 55

Vgl. zum Parlament als Kanal der Konfliktaustragung auch Weber 1918. Klass 2010, S. 316. Ebd. Schmitt 2009, S. 26. Meine Hervorhebung. Vgl. Ladwig 2003, S. 55. Ebd. Vgl. Derrida 2000. Vgl. zur Kritik: Klass 2010, S. 316.

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rung politischer Einheiten, indem er Konflikte an die Grenzen schiebt und das Innen einer Gemeinschaft an einem Konsens ausrichtet.56 Aber demokratisch gehegte Konflikte haben eine integrative Wirkung, da sie das Selbstverständnis und den Zusammenhalt einer politischen Gemeinschaft thematisieren. Die Pointe der Mouffe’schen Schmitt-Rezeption liegt somit in der Verschiebung der rousseauistischen Idee einer Notwendigkeit von Homogenität hin zu einem Heterogenitätskriterium der Demokratie – aus rechter Theorie wird linkes Ansinnen. RESÜMEE: DEMOKRATISCHE PARTIZIPATION ODER: „IRGENDWIE MÜSSEN WIR LERNEN, MIT DIESER GESELLSCHAFT ZURECHTZUKOMMEN. ES IST KEINE ANDERE IN SICHT.“57 Radikale plurale Demokratie ist als emanzipatorisches Projekt angelegt und fordert, „die demokratische Revolution“58 fortzuführen und zu vertiefen. Gerade weil Protest als demokratische Partizipation in das System eingebaut und eine Revolution damit in der modernen Demokratie unwahrscheinlich wird, muss sich stets aufs Neue mit präsenten Herrschaftsverhältnissen auseinandergesetzt werden. Die Sensibilisierung für Kontingenz und Machtverhältnisse in der Gesellschaft bildet den Hintergrund, unterschiedliche Unterdrückungsverhältnisse zu thematisieren und Emanzipation weiterzutreiben. Gleichheit und Freiheit als politische Ziele können verfolgt werden, allerdings bleiben sie Teil eines stets in die Zukunft gerückten Horizonts und bezeichnen somit die Unmöglichkeit ihrer vollen Verwirklichung. In diesem Sinne wird mit Leforts „leerem Ort der Macht“59 und/oder – institutionalistisch – mit dem Faktum periodischer Wahlen deutlich, dass die im Zuge der Proteste gegen Stuttgart 21 aktuelle Frage nach der Revisionsfähigkeit einmal getroffener politischer Entscheidungen zu einem modernen Demokratiebegriff führt, der den reversiblen Charakter und die Kontingenz demokratischer Herrschaft unterstreicht. Abschließend gewinnt die Frage nach Partizipation aus der Perspektive von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Profil: Es gilt die „einschließenden Ausschlüsse“ in partizipatorischen Bewegungen bereits in der Demokratietheorie zu reflektieren. Politische Bewegungen, Protestgruppen und partizipatorische Initiativen müssen stets als Ort von Machtverhältnissen und inhärenten Ausschlüssen gedacht werden. Dies gilt auch für Bewegungen, die eine Vertiefung der Inklusion und Integration erstreben. Damit wohnt jedem vermeintlich herrschaftsfrei zustandegekommenen Konsens und Kompromiss ein konstitutiver Ausschluss inne. Normative Demokratietheorien, die deliberative Verfahren als Orte von Partizipation fokussieren, müssen anerkennen, dass demokratischen Willensbildungspro56 Dies kritisierte schon Schmitts agonaler Gegenspieler Hermann Heller. Vgl. Heller 1928, S. 421 ff. 57 Luhmann 1985, S. 52. 58 Vgl. Lefort 1990. 59 Vgl. ebd.

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zessen und konsensual angelegten Verfahren die Spaltung zwischen den teilhabenden und den ausgeschlossenen Bürgern einer Demokratie zugrunde liegt. Bereits die Konstruktion eines demokratischen demos sowie seine Reartikulation als protestierendes Volk in Stuttgart ist ein exklusiver Akt. Das partizipatorische Ideal „teilhabender Bürger“ verkennt, dass genau diese Akteure ein gemeinsames Äußeres konstruieren und so den Diskurs äquivalent formieren – ‚Bürger sein‘ ist bereits ein voraussetzungsvoller Diskurs. Macht und Exklusion dürfen kein blinder Fleck in der theoretischen Analyse plebiszitärer, bürgerschaftlich organisierter Initiativen sein. Trotz und gerade wegen der – banal anmutenden – Allgegenwart von Machtverhältnissen gilt es, Partizipation und Exklusion als zwei sich bedingende und konstituierende Seiten zu verstehen. Es ist letztlich das Anliegen der poststrukturalistischen Theorie, Partizipation nicht als eine einfache Akklamation politischer Entscheidungen zu denken, sondern ihr eine transformatorische Perspektive zuzuschreiben. LITERATUR Bahners, Patrick, 2010: Was heißt Legitimation durch Verfahren? In: FAZ, http://193.227.146.1/ artikel/C30021/stuttgart-21-was-heisst-legitimation-durch-verfahren-30314299.html, download am 20.7.2011. Barber, Benjamin R., 1984: Strong democracy. Participatory Politics for a New Age, Berkeley, CA. Baumgarten, Britta, 2010: Die neue alte Bürgerbewegung. SozialforscherInnen haben untersucht, wer gegen das Großprojekt Stuttgart 21 protestiert und warum. In: Umwelt aktuell, H. 12/01, S. 2–3. Beyme, Klaus von, 1996: Theorie der Politik im 20. Jahrhundert. Von der Moderne zur Postmoderne, 3. Aufl., Frankfurt a. M. Derrida, Jacques, 1974: Grammatologie, Frankfurt a. M. Derrida, Jacques, 2000: Politik der Freundschaft, Frankfurt a. M. Dingler, Catrin, 2010: „Stuttgart 21“ und andere Bürgerproteste. In: Jungle World, Nr. 41, 14. 10.2010. Fairclough, Norman, 2007: Introduction. In: Ders. et al. (Hrsg.): Discourse and Contemporary Social Change, Bern u. a, S. 9–24. Foucault, Michel, 1977: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. I, Frankfurt a. M. Giddens, Anthony, 1997: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie, Frankfurt a. M. Hardt, Michael/Negri, Antonio, 2003: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. Hardt, Michael/Negri, Antonio, 2010: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a. M. Heller, Hermann, 1928: Politische Demokratie und soziale Homogenität. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Christoph Müller, 2. Aufl., Tübingen 1992. Hessel, Stéphane, 2010: Indignez-Vous!, Montpellier. Klass, Tobias Nikolaus, 2010: Das Gespenst des Politischen. Anmerkungen zur ‚politischen Differenz‘. In: Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hrsg.): Das Politische und die Politik, Frankfurt a. M., S. 303–334. Laclau, Ernesto, 1989: Politics and the Limits of Modernity. In: Ross, Andrew: Universal Abandon? The Politics of Postmodernism, Edinburgh, S. 63–82. Laclau, Ernesto, 1990: New Reflections on the Revolution of our Time, London. Laclau, Ernesto, 2002: Emanzipation und Differenz, Wien.

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III. NEUE FORMEN DER PARTIZIPATION

PARTIZIPATION JENSEITS DES STAATES? Eine Herausforderung für die Demokratietheorie Anna Meine „Ist Demokratie jenseits des Staates möglich?“ Diese Frage ruft oft Skepsis, wenn nicht gar Pessimismus oder Ablehnung hervor – auch wenn die Zahl akademischer Publikationen zum Thema in den letzten Jahren stark zugenommen hat.1 Immer wieder wird Dahls Feststellung eines „demokratischen Dilemmas“ als Kennzeichen der dritten Transformation der Demokratie zitiert: Angesichts der Ausweitung politischer Probleme und Prozesse über den Nationalstaat hinaus konstatiert er ein Nullsummenspiel zwischen effektiver Problemlösung und demokratischer Kontrolle politischer Entscheidungen.2 Auch der Hinweis auf einen fehlenden demos wird von Skeptikern regelmäßig ins Feld geführt.3 Dennoch verhandeln Internationale Beziehungen und Politische Theorie in den letzten Jahren neben Fragen transnationaler oder gar globaler Gerechtigkeit zunehmend die demokratische Legitimität inter-, trans- und supranationalen Regierens bzw. die Frage legitimer und auch demokratischer Ordnungsbildung jenseits des Staates.4 Zusätzliche Relevanz erlangen diese Fragen durch die anhaltende öffentliche Debatte über demokratische Reformen der Europäischen Union (EU) und anderer internationaler Organisationen. Die zunehmende Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure in formellen politischen Prozessen wie an unkonventionellen Formen von Partizipation wird aufmerksam wahrgenommen und breit diskutiert. Das derzeit markanteste und aufgrund der Transnationalität der Bewegung wohl eindrücklichste Beispiel stellt die Occupy-Bewegung dar, die in jüngster Zeit durch 1 2

3 4

Vgl. beispielsweise Archibugi/Held/Köhler 1998; Dahl 1999; Abromeit 2002; Brunkhorst 2009 und jüngst Forst/Schmalz-Bruns 2011, darin skeptisch z. B. Neyer 2011; vgl. darüber hinaus die skeptischen Bemerkungen von Rosenzweig/Degener in diesem Band. Vgl. Dahl 1994, S. 32 ff. Die erste Transformation betrifft die Demokratisierung von Stadtstaaten, die zweite die Einrichtung repräsentativer Demokratie in Nationalstaaten und die dritte Transformation die Veränderung von Demokratie vor dem Hintergrund transnationaler Herrschaft (vgl. Dahl 1994, S. 25 ff.). Vgl. Scharpf 1998, S. 154; Neyer 2011, S. 16 f. Zur Einordnung dieser Fragen zwischen Internationalen Beziehungen und Politischer Theorie vgl. Niesen 2010 sowie Deitelhoff 2010. Die Frage der Legitimität internationaler Politik impliziert dabei einen Perspektivenwechsel, insbesondere in den IB, da Legitimität in der Gegenwart die Beziehung zwischen Individuen und Herrschaftsordnung betrachtet. Der Staat ist nicht die zu betrachtende Grundeinheit. Zugleich bedeutet Legitimität die Anerkennungswürdigkeit einer Ordnung auf Grundlage geteilter Normen, sodass die Geltung von Werten und Normen auch im internationalen Raum angenommen werden muss (vgl. Meine i. E.).

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erfolgreiche Mobilisierung große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Insgesamt beobachten Zürn et al. eine zunehmende Politisierung der Legitimationsproblematik, die sie der zunehmenden Eingriffstiefe trans- und supranationaler Steuerung als nichtintendierte Nebenfolge zuschreiben.5 Beabsichtigt oder nicht: Forderungen nach mehr demokratischer Mitbestimmung im überstaatlichen Raum stehen auf der Agenda.6 Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Positionen scheint es aus demokratietheoretischer Perspektive zunächst geboten, prominente Positionen der derzeitigen Debatte zu ordnen und an eine Analyse der Herausforderungen zurückzubinden, vor denen die politische Theorie in Zeiten der Globalisierung steht. Die Problematik der Partizipation jenseits des Staates bietet dabei eine Perspektive, die einerseits den Kern der Demokratie, das „Beteiligungsversprechen“,7 auch jenseits des Staates ins Zentrum stellt, um die demokratische Legitimität auch neuer Herrschaftsformen zu gewährleisten. Andererseits aber hat partizipative Demokratie im Raum jenseits des Staates mit sehr grundlegenden Spannungsverhältnissen zu kämpfen und eröffnet deshalb den Blick darauf, dass eine Thematisierung und vertiefte Verständigung über die grundlegenden Voraussetzungen, über Annahmen, die die Demokratietheorie selbst macht, erforderlich wird. Neben der schon angeklungenen Differenz zwischen Optimisten und Skeptikern zeigt sich, dass die bisherigen Antwortversuche der Demokratietheorie auf die Herausforderungen der Globalisierung insbesondere mit der Differenz von territorialen und funktionalen Logiken in Politik und Wirtschaft konfrontiert sind. Diese prägt den Raum jenseits des Staates auf besondere Weise und verstärkt das Auseinandertreten der Kongruenz zwischen Regierenden und Regierten (1.). Dieser Spannung begegnen Vertreter instrumenteller Partizipationsbegriffe, die Beteiligung als Mittel zum Zweck betrachten, auf andere Art als Vertreter eines normativen Verständnisses von Partizipation als Ziel und Zweck an sich. Alternativen zu Partizipation, die nur vor dem Hintergrund instrumenteller Konzepte möglich sind, bieten der Governance-Diskurs und insbesondere Scharpfs Konzept outputorientierter Legitimation, die auf eine Anpassung an die funktionale Differenzierung jenseits des Staates abzielen (2.). Demokratietheoretische Alternativen zwischen Deliberation und institutionellen Formen repräsentativer Demokratie, insbesondere auch Habermas’ Entwurf einer Weltinnenpolitik, versuchen dagegen Partizipation, verstanden als Ziel und Zweck an sich, stärker zu berücksichtigen (3.). Dabei schlagen sich die unterschiedlichen Logiken funktionaler bzw. territorialer Differenzierung jedoch im Spannungsverhältnis zwischen Inklusivität der Verfahren nach dem Kriterium der 5 6

7

Vgl. Zürn et al. 2007. Damit wird der Bedeutung demokratischer Kriterien im alltäglichen Sprachgebrauch Relevanz für die Demokratietheorie beigemessen – eine Position, die u. a. von Buchstein und Jörke vertreten wird. Die Bedeutung von Demokratie ist ihnen zufolge für akademische Umdeutungsversuche nur begrenzt verfügbar: Das „Beteiligungsversprechen“ bleibt dem Demokratiebegriff auch gegen Rationalisierungs- oder Radikalisierungstendenzen inhärent (vgl. Buchstein/Jörke 2003; Jörke 2006; Buchstein 2011, S. 58). Vgl. Buchstein/Jörke 2003, S. 488.

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Betroffenheit einerseits und kollektiven Identitäten bzw. normativ geteilten Selbstverständnissen andererseits nieder. Obwohl unterschiedliche Arten und Formen von Beteiligung mit dieser Herausforderung auf verschiedene Weise umzugehen versuchen, bleiben diese Spannungsverhältnisse in der Debatte bisher meist implizit und werden kaum thematisiert oder explizit diskutiert (4.). Diese ungelösten und sehr grundlegenden Spannungen drängen dann aber viele demokratietheoretische, insbesondere partizipativ-orientierte Argumentationen in die Defensive. Dabei könnte ihre offensive Thematisierung helfen, der oft pauschalen Kritik mit differenzierten Argumentationen und tragfähigen Entwicklungsperspektiven zu begegnen und die Bedeutung von Beteiligung im gegenwärtigen Verständnis demokratischer Legitimität auch jenseits des Staates zum Tragen zu bringen. Zugleich zeigen sich in ersten Ansätzen, die versuchen mit diesen Spannungen umzugehen, zusätzliche Potenziale des Partizipationsbegriffs jenseits des Staates (5.). 1. GLOBALISIERUNG ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE DEMOKRATIETHEORIE Definitionen von Globalisierung sind vielfältig und facettenreich. Dem Globalisierungsbegriff, wie z. B. Held ihn konzipiert,8 steht eine Reihe von Alternativbegriffen gegenüber, die konkrete Prozesse in den Vordergrund rücken. So verweist der Begriff der Denationalisierung auf Grenzverschiebungen über nationale Gemeinschaften hinaus, ohne diesen globales Ausmaß beizumessen.9 Albert wiederum nutzt den Begriff der Entgrenzung und die Konzepte von Glokalisierung und Deterritorialisierung, um insbesondere die komplexen und räumlich oft gegenläufigen Dimensionen der Veränderungen zu berücksichtigen.10 ‚‘Entscheidend für die politische Theorie, insbesondere die Demokratietheorie, sind allerdings nicht vorrangig die von diesen Begriffen beschriebenen Prozesse selbst, sondern ihre Folgen: Die Kongruenz zwischen sozialen und politischen Räumen, zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Kommunikation und Technik einerseits und dem Staat andererseits löst sich auf. Nationalstaatliches Regieren wird ineffektiv, insofern z. B. wirtschaftliche Zusammenhänge nicht mehr staatlich organisiert und somit auch immer weniger staatlich zu steuern sind.11 Geht man daran anschließend gedanklich noch einen für die Demokratietheorie entscheidenden Schritt weiter, kann man zudem die Auflösung der Kongruenz zwischen Entscheidenden und Betroffenen, zwischen Regierenden und dem (Staats)Volk der Regierten, zwischen Rechtsautoren und Rechtsadressaten beobachten: 8

„Globalization can best be understood if it is conceived as a spatial phenomenon, lying on a continuum with ‚the local‘ at the one end and ‚the global‘ at the other. It implies a shift in the spatial form of human organization and activity to transcontinental or interregional patterns of activity, interaction and the exercise of power.“ (Held 2010, S. 28 f.) 9 Vgl. Zürn 1998, S. 63. 10 Vgl. Albert 1998, S. 51 ff. 11 Vgl. Zürn 1998, S. 10 und 17 ff.

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Politische Entscheidungen betreffen immer häufiger einen Kreis von Menschen, der nicht mit demjenigen identisch ist, der diese Entscheidungen beeinflusst, kontrolliert und legitimiert.12 Als Beschreibung dieser Herausforderung berücksichtigt die politische Theorie insbesondere Habermas’ Konzept der „postnationalen Konstellation“: „Obwohl Souveränität und Gewaltmonopol der Staatsgewalt formal intakt geblieben sind, stellen die wachsenden Interdependenzen der Weltgesellschaft die Prämisse in Frage, daß die nationale Politik überhaupt noch territorial, in den Grenzen des Staatsgebiets, mit dem tatsächlichen Schicksal der nationalen Gesellschaft zur Deckung gebracht werden kann.“13

Diese Auflösung der Kongruenz als Herausforderung der Demokratietheorie stellt sich als noch tiefgreifender dar, berücksichtigt man Analysen, die für den globalen Rahmen statt eines territorialen einen funktionalen Differenzierungsmodus in den Vordergrund stellen. Dieser Argumentation liegt eine konzeptuelle Unterscheidung zugrunde, die Luhmann in seiner Analyse der Weltgesellschaft als einen weltweiten, durch funktionale Differenzierung geprägten Möglichkeitshorizont darlegt: „Funktionale Differenzierung besagt, dass Teilsysteme ihre Identität aus spezifischen Funktionen für das Gesamtsystem gewinnen – und nicht etwa [wie im Fall segmentärer, d. h. räumlicher Differenzierung, A.M.] als verkleinerte, unter sich gleiche Kopien des Gesamtsystems.“14 Die Möglichkeitshorizonte unterschiedlicher Teilsysteme, wie z. B. Wirtschaft, Recht oder Wissenschaft, verändern sich nach jeweils eigenen Kriterien, sodass einheitliche, territoriale Gesellschaftsgrenzen für alle Teilsysteme nicht mehr institutionalisierbar sind.15 In Martinsens Worten: „Social differentiation increasingly takes place under conditions lacking a territorial index.“16 Die folgenden Überlegungen werden zeigen, dass man Luhmanns Schlussfolgerung einer „Aufgabe des Raumprinzips“17 gerade aufgrund der normativen Voraussetzungen von Demokratie, die immer noch territorial verortet werden, nicht zustimmen muss. Seine konzeptuelle Unterscheidung zwischen territorialer und funktionaler Differenzierung kann jedoch helfen, die unterliegenden Spannungen, mit denen die Demokratietheorie und insbesondere Befürworter partizipativer Demokratie jenseits des Staates zu kämpfen haben, besser zu verstehen. Für die Kongruenzproblematik bedeutet die Feststellung zunehmender funktionaler Differenzierung zunächst, dass eine Übereinstimmung zwischen Regierenden und Regierten durch reine Ausweitung politischer Räume nicht notwendig erreicht wird. Exemplarisch zeigt sich dies an der Auflösung der Kongruenz zwischen Staat und Wirtschaft. Während eine zunehmende Integration die Prinzipien des sogenannten ‚embedded liberalism‘ aushöhlt, das heißt, die einzelstaatlich organisierte soziale Sicherung, die den internationalen Freihandel unterfüttert und abfedert, 12 13 14 15 16 17

Vgl. z. B. Scharpf 2010, S. 155. Habermas 1998, S. 107 f. Luhmann 1991, S. 60. Vgl. ebd., S. 60. Martinsen 2008, S. 11. Luhmann 1991, S. 61.

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unter Druck gerät,18 kommt es gerade in ökonomischen Fragen zu der von Zürn et al. beobachteten zunehmenden gesellschaftlichen Politisierung. Normative Kriterien werden dadurch bei der Bewertung internationaler Politik auch jenseits territorialer Grenzen relevant:19 Die Auflösung der Kongruenzbedingung wird zum Politikum, Forderungen nach demokratischen Mitbestimmungsformen, die darauf reagieren, werden laut – „Occupy“ zeugt gerade von dieser Inkongruenz.20 Im nächsten Abschnitt ist jedoch zunächst ein Blick auf die Argumente zu werfen, die gerade nicht ein Mehr an Demokratie und Partizipation als Antwort betrachten. Denn die in der Literatur vorherrschenden Reaktionen auf die Problematik der sich auflösenden Kongruenz richten den Fokus auf Steuerungs- und Koordinationsmechanismen und entsprechend auf die Qualität der Politikergebnisse. Im Anschluss an Scharpf rückt output-Orientierung ins Zentrum. 2. OUTPUT ALS LEGITIMATIONSGRUNDLAGE Unter den Diskursen, die das Forschungsfeld überstaatlicher Politik prägen, sticht die Debatte um (Global) Governance heraus. Martinsen sieht hier sogar den gegenwärtig entscheidenden Paradigmenwechsel in der Politikwissenschaft.21 Governance wird dabei oft in Abgrenzung zu staatlichen bzw. hierarchischen Formen von Politik konzeptualisiert: Kooimann versteht sie als in Methoden und Arrangements neuartiges, aber dennoch geregeltes System der Kooperation und Interaktion öffentlicher und privater Akteure zum Ziel der Effektivitäts- und auch Legitimitätssteigerung.22 Ostlinning und Freise legen den Fokus auf den Netzwerkcharakter, den die konsensorientierte Interaktion und Koordination staatlicher und nicht-staatlicher Akteure habe, und stellen Unterschiede zwischen politikfeldspezifischen Governance-Modi heraus.23 Die Stärken des Begriffs, seine Offenheit und seine Vieldeutigkeit, mit denen er vielfältigen Positionen und Untersuchungen Anknüpfungspunkte bietet, gehen allerdings – so zeigen auch diese Definitionen – einher mit einer gewissen Unschärfe. Gleichzeitig wird der GovernanceForschung ein „Selbstregelungsoptimismus“ vorgeworfen, der Fragen von Dominanz, Unterwerfung und Ausbeutung und damit das Verhältnis von Governance und Herrschaft ausblende.24 Die Frage der Rechtfertigung von Governance-Institutionen und -Entscheidungen drängt sich auf. Besonders einflussreich ist dabei das von Scharpf entwickelte Konzept output-orientierter Legitimität, das sich in die grundlegende Dichotomie Dahls zwischen effektiver Problemlösung und demokratischer Mitbe-

18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Scharpf 2010, S. 154 ff. Vgl. Zürn et al. 2007, S. 131 ff. und 149 f. Vgl. Barber 2011. Martinsen 2008, S. 13. Vgl. Kooimann 2002, S. 73. Vgl. Ostlinning/Freise 2011, S. 178 und 186 ff. Vgl. Mayntz 2001, S. 41 ff.

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stimmung auf Seiten der Problemlösung einfügt und daher hier als partizipationsskeptischer Beitrag gilt. Im Gegensatz zu der im Sinne des „government by the people“ auf den Willensäußerungen und der Partizipation der Bürger basierenden input-Legitimität besteht output-orientierte Legitimität im Sinne des „government for the people“ in der effektiven Lösung kollektiver Probleme entsprechend geteilter Interessen der Bürger.25 Um diese Qualität der Politikergebnisse zu sichern, weist Scharpf der Abhängigkeit der Regierenden von den Wählern, der Institutionalisierung von Vetopositionen z. B. durch korporatistische Systeme, aber auch Kriterien des objektiv Richtigen, gestützt auf eine unabhängige Expertokratie, besondere Bedeutung zu.26 Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die beiden Konzepte als zwei Dimensionen demokratischer Legitimität im staatlichen Normalfall gegenseitig „verstärken, ergänzen und ersetzen“27 und ihre Unterscheidung dort eher eine analytische als eine faktische Trennung markiert. In den Arbeiten zum europäischen Mehrebenensystem verneint Scharpf allerdings die Möglichkeit von inputLegitimität auf der überstaatlichen Ebene.28 Die analytische Trennung wird für die europäische Ebene Realität. Begründet wird dies aufgrund eines dreifachen Defizits: „de[m] Mangel einer präexistenten kollektiven Identität, d[em] Fehlen europaweiter politischer Diskurse und d[er] Abwesenheit einer europaweiten institutionellen Infrastruktur politischer Parteien und gemeinsamer Medien, welche die politische Verantwortlichkeit von Amtsinhabern gegenüber einer europäischen Wählerschaft sicherstellen könnte.“29

Hier spiegelt sich zunächst die schon grundbegrifflich verankerte Problematik der input-Legitimität von Mehrheitsentscheidungen wider, die, so Scharpf, für rationale Individuen normativ nur zwingend seien, wenn eine Wir-Identität, ein „legitimierender Gemeinsamkeitsglaube[]“ solidarische Präferenzen begründe und somit das Risiko, von der Mehrheit überstimmt zu werden, gerade in zentralen Fragen reduziere.30 Darüber hinaus fehlen die für die input-Legitimität konstitutiven Diskurse in einer (europäischen) Öffentlichkeit sowie die formale Infrastruktur, die den Einfluss der Bürger über Wahlen zwischen konkurrierenden Parteien sowie die sich daran anschließende Parlaments- und Regierungsbildung ermöglichen. Für Scharpf birgt diese Trennung keine Gefahr, weil internationale Organisationen, insbesondere die EU, im Mehrebenensystem als Regierung von Regierungen nicht nach den für die Einzelstaaten geltenden Maßstäben zu bewerten seien, vielmehr ihrerseits von einzelstaatlichen Legitimitätsressourcen zehren 25 26 27 28

Vgl. Scharpf 1997. Vgl. ebd. sowie Scharpf 1999, S. 22 ff. Scharpf 1999, S. 21. Vgl. Scharpf 1997. Die folgenden Ausführungen Scharpfs beziehen sich in der Regel auf die EU. Es wird – auch aufgrund der von Scharpf in Ansätzen selbst vorgenommenen Versuche (vgl. Scharpf 2004) – angenommen, dass sich seine zentralen Argumente auch auf andere Organisationen übertragen lassen. 29 Scharpf 1999, S. 167. 30 Vgl. Scharpf 1997.

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könnten. Aus dieser Einstellung folgen allerdings entschiedene Bedenken gegenüber Integrationsschritten, die über den intergouvernementalen Entscheidungsmodus hinausgehen.31 Die von Scharpf angestrebte Balance zwischen einzelstaatlicher inputLegitimation und output-orientierter Eigenlegitimität überstaatlicher Organisationen, die durch Konsens und Expertengremien garantiert werden soll, findet sich an vielen Stellen der Debatte um Global Governance wieder: So bildet in Buchanans und Keohanes Legitimationsstandard für Global Governance-Institutionen der relative Nutzen der Institution neben der Achtung der Menschenrechte sowie neben Rechenschaftspflicht und Transparenz den entscheidenden Maßstab, während demokratische Legitimität über die beteiligten Einzelstaaten vermittelt bleibt.32 Und auch Neyers – obwohl normativ angereichertes – Plädoyer für “Justice, not democracy” auf EU-Ebene, das nicht Demokratie, sondern die Förderung transnationaler Gerechtigkeit zum Maßstab für die Legitimität der EU macht,33 entspricht einem ergebnisorientierten Legitimitätsverständnis. Die skizzierten Konzeptionen haben vor dem Hintergrund des demokratietheoretischen Grundproblems der Auflösung der Kongruenz zwischen Regierenden und Regierten den Vorteil, dass sich das Kriterium der output-Legitimität an die spezifischen Gegebenheiten einzelner Politikfelder, an über einzelne Nationalstaaten hinausgehende Gruppen von Betroffenen und sogar an die oft funktionale Differenzierungslogik in den Bereichen von Wirtschaft und Wissenschaft anpassen lässt. Der Verzicht auf überstaatliche input-Legitimität bzw. die Annahme, output-Legitimität sei jenseits von Partizipation auf überstaatlicher Ebene zu generieren, impliziert dabei notwendig ein instrumentelles Verständnis von Partizipation, das Beteiligung als Mittel zur Beeinflussung von Politikergebnissen und nicht als Ziel und Wert an sich betrachtet. Die nun zu berücksichtigende Kritik konzentriert sich deshalb auf Punkte, die auch innerhalb dieses Verständnisses Relevanz erlangen, da die Argumentation aus Sicht eines normativen Partizipationsbegriffs grundsätzlich nicht haltbar ist. Doch auch wenn man den instrumentellen Partizipationsbegriff Scharpfs teilt, stellt sich die Frage, ob bzw. wie output-Legitimität ohne Rückbindung an die Willensbildung der Bürger zu gewährleisten ist. So argumentiert Kraus: „Wo sich die demokratische Rückbindung regulativer Autorität nicht mehr nachvollziehen lässt, geraten wir in eine normative Grauzone, in der die Übergänge zwischen politisch legitimierter Expertentätigkeit und technokratischer Selbstermächtigung fließend sind.“34

Neben der Frage nach Ursprung und Bildung der Maßstäbe für die Qualität der Politikergebnisse steht somit zugleich in Frage, ob output-Legitimität allein noch demokratischen Charakter beanspruchen kann. Sofern man Demokratie als Prozess der Beteiligung versteht, wird man letztere Zweifel teilen und der Suche nach

31 32 33 34

Vgl. Scharpf 2004. Vgl. Buchanan/Keohane 2006. Vgl. Neyer 2011, S. 30. Kraus 2004, S. 562.

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„funktionale[n] Äquivalente[n] zum partizipativen Legitimationsmodus“ kritisch gegenüberstehen.35 Diese Kritik betrifft aus demokratietheoretischer Sicht auch das Konzept der Governance: Obwohl eine Zunahme von Beteiligung auch nicht-staatlicher Akteure dem Begriff inhärent ist, erschweren die Intransparenz der Prozesse und die Schwierigkeiten der Institutionalisierung von Input-Legitimation die Zurechenbarkeit von Verantwortlichkeit und die Inklusivität der Prozesse.36 Insofern lenken Befürworter einer partizipativen Governance den Fokus weniger auf Implementierung und Problemlösungen als auf Bürgerbeteiligung und inklusive Willensbildungsprozesse. Die bisherigen auch empirischen Forschungen zeichnen allerdings aus partizipativer Sicht für die überstaatlichen Ebenen ein ernüchterndes Bild.37 Die vorherrschende output-Orientierung zeigt also auch im Rahmen eines instrumentellen Begriffs von Partizipation Schwächen. Einige Demokratietheoretiker versuchen deshalb – sowohl innerhalb als auch außerhalb des GovernanceDiskurses – Konzepte für Demokratie und Partizipation jenseits des Staates zu entwickeln. Dabei erfreut sich insbesondere das Konzept transnationaler Öffentlichkeiten großer Beliebtheit. Wie im weiteren Verlauf der Argumentation deutlich wird, ist allerdings umstritten, ob Öffentlichkeit und Deliberation allein Demokratisierung und Partizipation garantieren oder ob nicht (zusätzlich) konventionelle und verfasste Formen von Partizipation zu institutionalisieren sind. 3. DEMOKRATISCHE ALTERNATIVEN ZWISCHEN ÖFFENTLICHKEIT UND WELTREGIEREN Trotz aller Skepsis stellt Deliberation in transnationalen oder sogar globalen Öffentlichkeiten einen in der Diskussion fest etablierten und von vielen Seiten favorisierten Lösungsvorschlag dar.38 Zum jetzigen Stand der Diskussion verspricht Deliberation für die Herausforderungen, vor denen die Demokratie steht, gleich zwei Vorteile: Gegenüber dem Konzept der output-Legitimität scheinen delibera35 Vgl. Buchstein 2011, S. 57. Auch aus legitimitätstheoretischer Sicht hat das Konzept der output-Legitimität Schwächen: Legitimität und Stabilität einer Herrschaft stehen in enger Beziehung. Die Stabilität von Herrschaft wird aber brüchig, wenn sie von konkreten Politikergebnissen abhängt. Versteht man Legitimität darüber hinaus als immer auch normative Eigenschaft politischer Herrschaft, die diese in Beziehung setzt zu den ihr untergeordneten Individuen, und als vom Volk (vorläufig) bestätigte Anerkennungswürdigkeit entsprechend der normativen Grundüberzeugungen der Bürgerinnen und Bürger, so zeigen sich weitere Schwachstellen: Erstens ist die Legitimitätsbeziehung zwischen Individuen und Herrschaft verkehrt und zweitens fehlt die Rückbindung an (geteilte) Normen und Werte, mithin der Maßstab zur Unterscheidung zwischen Legitimität und Illegitimität. Gerade die Richtung der Legitimitätsbeziehung und die Bindung an die Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger verweisen wiederum auf die Notwendigkeit demokratischer Beteiligung. Zu einer detaillierten Diskussion der Legitimitätsbegriffe Scharpfs (und auch Habermas’) siehe Meine i. E. 36 Vgl. Degener/Rosenzweig in diesem Band, Kap. 3. 37 Vgl. Walk 2011, S. 135 und 143. 38 Vgl. allerdings skeptisch Peters 2007; optimistisch dagegen Brunkhorst 2007.

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tive Formen die vermisste Rückbindung der Bewertungskriterien von Herrschaft an die Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, ohne die Qualität der Politikergebnisse zu vernachlässigen. Entscheidend ist darüber hinaus, dass auch dieses Konzept – vergleichbar dem Konzept der output-Legitimität – die Möglichkeit der Anwendung in variablen Kontexten und Gruppen bietet: „Deliberation and communication […] can cope with fluid boundaries, and the production of outcomes across boundaries. For we can now look for democracy in the character of political interaction, without worrying about whether or not it is confined to particular territorial entities.“39

In der Konsequenz scheint trotz zunehmend funktionaler Differenzierung die Wiederherstellung der Kongruenz zwischen Entscheidenden und Betroffenen machbar. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Studien zu deliberativer Diplomatie oder deliberativen Foren, die vor allem auf die Auswirkungen von Deliberation in kleinen Gruppen und auf die Qualität von Entscheidungen fokussieren,40 und auch normativ ausgerichteten Beiträgen, die allgemein zugängliche Öffentlichkeiten in transnationaler oder globaler Form als notwendige Stütze oder sogar adäquate Form von Demokratie jenseits des Staates betrachten. Zugrunde liegen gerade letzteren Ansätzen meist die Ausführungen Habermas’ zur deliberativen Demokratie, die eine Ergänzung liberaldemokratischer Institutionen wie Wahl und Repräsentation durch diskursive Meinungs- und Willensbildung in der Öffentlichkeit und im parlamentarisch-repräsentativen Bereich vorsehen, um über institutionelle Schleusen die Rückbindung des politischen Systems an die kommunikative Macht und die Lebenswelt der Bürger zu gewährleisten.41 Der Öffentlichkeit als eines „Netzwerk[s] für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen“ unter potenziell Betroffenen kommen in diesem Zusammenhang eine Reihe von Aufgaben zu: Sie ist „Resonanzboden für Probleme“, muss diese Probleme einflussreich thematisieren und die weitere Problembehandlung zwar nicht selbst vornehmen, aber kontrollieren.42 An Habermas anschließend versuchen beispielsweise Nanz und Steffek, deliberative Demokratie – trotz teils durchwachsener, teils ernüchternder empirischer Ergebnisse43 – als vielversprechendes Modell demokratischer Politik jenseits des Staates zu plausibilisieren:

39 Dryzek 1999, S. 44. 40 Deitelhoff spricht von „Inseln der Überzeugung“, vgl. Deitelhoff 2007, S. 54. In der ZIBDebatte, die im Anschluss an Habermas den Unterschied zwischen Arguing und Bargaining für die IB fruchtbar macht, ist Deliberation empirisch insbesondere in kleinen, geschlossenen Gruppen dokumentiert (vgl. insb. Deitelhoff 2007 sowie weitere Beiträge in Niesen/Herborth 2007). 41 Vgl. Habermas 2006, S. 434. 42 Vgl. ebd., S. 435 ff., Zitate S. 436 und 435. 43 Vgl. Nanz/Steffek 2007, S. 97 ff.

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Anna Meine „In our view, any bestowal of democratic legitimacy on global governance must ultimately depend on the creation of an appropriate public sphere, i. e., an institutionalized arena for (deliberative) political participation beyond the limits of national boundaries.“44

Eine Fokussierung auf Deliberation unter Experten lehnen sie explizit ab. Deliberative Demokratie müsse die Berücksichtigung der Meinungen und Positionen der Bürger garantieren und Partizipation zur Gültigkeitsbedingung von verbindlichen Regeln machen.45 Dryzek geht über diese Einschätzungen hinaus und entwirft das Modell eines unabhängig von konkreten Institutionen funktionierenden „deliberativen Systems“.46 Damit weist er der Deliberation eine herausragende und von Institutionen unabhängige Bedeutung zu: Er betrachtet die Anwendungsmöglichkeiten des Modells in jeglichem politischen Umfeld als gegeben und lehnt es ab, die Existenz von Deliberation an der Existenz bestimmter Institutionengefüge zu messen: „[W]e should not assume that any formal institutional architecture actually describes the deliberative reality of any part of a system, because so much depends on what is happening informally as well as formally.“47

Dryzek löst sich also von institutionalisierten (demokratischen) Formen und konzentriert sich auf den Deliberationsprozess selbst. Wie Fraser in einer überzeugenden Analyse darlegt, ohne die Existenz transnationaler Öffentlichkeiten und ohne die Unverzichtbarkeit des Konzeptes selbst „für den Versuch einer Rekonstruktion der Demokratie in der gegenwärtigen ‚postnationalen Konstellation‘“ zu bezweifeln, impliziert jedoch gerade das Konzept der Öffentlichkeit eine Reihe von Bedingungen und bedarf deshalb jenseits des Staates der Problematisierung bzw. Repolitisierung.48 Zunächst stellt sie fest, dass zentrale Grundlagen von Habermas’ Konzept der Öffentlichkeit, insbesondere seine territoriale Bindung, nicht mehr gelten.49 Diese Veränderungen verursachen Probleme für die Legitimität und Effektivität von Öffentlichkeiten, die über die Kritik hinausgehen, die traditionell – im nationalen bzw. westfälischen Rah44 Nanz/Steffek 2004, S. 315. 45 Vgl. ebd., S. 319 f. 46 Vgl. Dryzek 2011, S. 25 ff. Dieses deliberative System setzt sich aus einem öffentlichen Raum (‚public space‘) und einem ‚ermächtigten‘ Raum (‚empowered space‘) zusammen und garantiert die Beeinflussung (‚transmission‘) des Entscheidungsraumes durch die Öffentlichkeit, die Verantwortung (‚accountability‘) des Entscheidungsraumes gegenüber der Öffentlichkeit sowie eine Reflexion (‚meta-deliberation‘) auf das System. 47 Ebd., S. 228. 48 Vgl. Fraser 2007, S. 227 und 245, Zitat S. 225. 49 In der nationalen Konstellation war ein nationaler Subtext – ein Staatsapparat, ein demos, eine staatlich organisierte Wirtschaft, nationale Medien, eine Nationalsprache sowie landessprachliche Literatur und Kunst, die eine gemeinsame Identität formen – gegeben. In der Gegenwart beobachtet Fraser allerdings desaggregierte Souveränitäten, die Auflösung der Übereinstimmung zwischen Öffentlichkeit und Bürgerschaft/Volk, eine globalisierte, staatlich nicht bzw. schwer steuerbare Wirtschaft, die Denationalisierung der kommunikativen Infrastruktur ohne gleichzeitigen Aufbau transnationaler Medien sowie den Mangel einer gemeinsamen Sprache und gemeinsamer kultureller Grundlagen für umfassende Solidarität (vgl. Fraser 2007, S. 228 f. und S. 238 ff.).

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men – artikuliert wird: So müsse die Kritik an der Legitimität von Öffentlichkeit, die innerstaatlich insbesondere auf die partizipatorische Parität, auf die gleichen Zugangsmöglichkeiten ausgerichtet sei, im post-westfälischen Rahmen besonders das Kriterium der Inklusivität thematisieren und problematisieren.50 In Fragen der Effektivität, Fragen nach dem Einfluss der Öffentlichkeit auf das politische Zentrum und die Verwaltung möchte Fraser neben der Übersetzung von öffentlich artikulierten Positionen in politische Entscheidungen insbesondere auch die Leistungsfähigkeit des politischen Zentrums (Staaten und internationale Institutionen) diskutieren. Sie stellt die Frage, ob und wie die Eingaben einer transnationalen Öffentlichkeit bearbeitet werden können.51 Es entstehen also, gerade auch im Rahmen der transnationalen Öffentlichkeit, neue Herausforderungen für die Demokratietheorie. Öffentliche Deliberation bietet Chancen, die auch Fraser anerkennt und nutzen will. Doch zugleich ist dieser Prozess sehr voraussetzungsreich. Gerade Frasers Frage nach den Institutionen, die die Impulse der Öffentlichkeit verarbeiten, weisen dabei schon auf Grenzen hin, die ein rein oder vorrangig deliberativ ausgerichtetes Konzept für den transnationalen Raum, wie es z. B. Dryzek vorschlägt, erst noch konfrontieren muss. Niesen konkretisiert diese Bedenken gegenüber dem Deliberationsfokus der aktuellen Debatte. Er beklagt bei deliberativer Diplomatie, deliberativem Supranationalismus oder deliberativer globaler Governance eine „Verselbständigung des deliberativen Moments auf Kosten demokratischer Koordination“, weil „sich das flexiblere Deliberationsmedium im Vergleich zum insgesamt sperrigeren und institutionell voraussetzungsreicheren Demokratiekonzept als anpassungsfähiger erwiesen [hat]“:52 Dagegen wendet er ein, dass deliberative Demokratie immer durch zwei Elemente, durch rationalitätsorientiertes Streben nach begründeten Einverständnissen, zugleich aber auch durch Bindung politischer Entscheidungen an die gleiche Teilhabe, eben an die Partizipation der Bürger, geprägt sei: „Eine Konzeption politischer Demokratie beschränkt sich nicht auf das Erzielen freier und begründeter Einverständnisse; sie verlangt, dass diese mit der Ausübung öffentlicher Macht verbunden werden.“53

Er fordert aus demokratietheoretischen Gründen eine stärkere Konstitutionalisierung der Öffentlichkeitsstrukturen bzw. ihrer Autorisierung und die Einrichtung von Mechanismen und demokratischen Institutionen, die die Inklusivität der Deliberationen, die Disziplinierung der Entscheidungsträger und die faire und gleich50 51 52 53

Vgl. Fraser 2007, S. 246 ff. Vgl. ebd., S. 251 f. Vgl. Niesen 2008, Zitate S. 241 bzw. 245. Ebd., S. 242 (Hervorhebung im Original, A.M.). Hier wird das Spannungsverhältnis deutlich, in dem partizipative Demokratie und Deliberation stehen können. Aus demokratietheoretischer Perspektive muss Deliberation, um demokratisch zu sein, nicht nur auf rationale Entscheidungsfindung zielen, sondern zugleich auch die Bedingung der Beteiligung aller Betroffenen und die Berücksichtigung aller Positionen gewährleisten. Gerade die Vernunftvermutung Habermas’ für öffentliche Diskurse beruht immer schon auf diesen demokratischen Kriterien, die er ihnen als notwendige, implizit immer schon angenommene Voraussetzung einschreibt.

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berechtigte Berücksichtigung aller Positionen zu gewährleisten vermögen.54 In Bezug auf die Realisierung dieser Forderung in Governance-Zusammenhängen ist er jedoch skeptisch, weil die Unterstützung insbesondere privater Akteure fraglich bleibt.55 Vor dem Hintergrund von Niesens Bedenken wird Abromeits Insistieren auf institutionalisierten Widerspruchsmöglichkeiten – z. B. in Referenden – als unhintergehbare Minimalanforderung demokratischer Systeme verständlich. Zugleich betrachtet auch sie selbst dies nur als Auffangposition.56 Positive Selbstbestimmung, wie sie auch ihrem Demokratieverständnis entspricht, braucht darüber hinausgehende Möglichkeiten.57 An diesem Punkt der Argumentation bleibt nun festzuhalten, dass die bisherigen Überlegungen von Vertretern instrumenteller wie normativer Partizipationskonzepte geteilt werden können. Die Entschiedenheit der Forderung nach Beteiligung, wie sie z. B. bei Abromeit zu beobachten ist, steigt allerdings, je deutlicher die normative Dimension des Partizipationsbegriffs argumentativ genutzt wird. Diese Beobachtung bestätigt sich auch beim Blick auf das Modell Habermas’, dessen Entwurf einer demokratischen Ordnung jenseits des Staates an dieser Stelle zu berücksichtigen ist, weil er Deliberation mit repräsentativen Institutionen zu verbinden sucht. Es ist bezeichnend, dass gerade der Theoretiker, auf den sich Vertreter deliberativer Verfahren auch jenseits des Staates immer wieder berufen, gegenüber Tendenzen, durch Deliberation andere demokratische Mechanismen ersetzen zu wollen, auf dem Element der Wahl beharrt und betont: Erst das Wahlrecht verleihe den politischen Meinungen der Bürger die entscheidende Kraft.58 In seinem Modell eines dreigliedrigen Mehrebenensystems als äußere Form der Weltinnenpolitik ohne Weltregierung59 schlägt sich seine Wertschätzung des Wahlmechanismus 54 Institutionelle Arrangements tauchen in vergleichbaren Kontexten in der Literatur zu transnationalen Öffentlichkeiten immer wieder auf – Vorschläge reichen von informellen bis zu unterschiedlichen formellen Institutionen, bleiben aber oft vage. Auch Kreide erkennt das Problem und fordert eine Verbindung von deliberativen Verfahren sowie von Öffentlichkeiten mit demokratischen Elementen wie Partizipation der Bürgerinnen und Bürger, Rechtsbindung der Exekutive und Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeiten (vgl. Kreide 2008, S. 278 ff.). Gerade die partizipative Dimension bleibt jedoch auch hier unterbestimmt. 55 Vgl. Niesen 2008, S. 256 f. 56 Vgl. Abromeit 2002, S. 168. 57 Abromeit wendet sich entschieden gegen Formen von output-Legitimität sowie gegen ein Verständnis von Demokratietheorie als Regierungslehre. Mit der Aussage „Demokratie ist essentiell Beteiligung und insofern essentiell prozedural“ (Abromeit 2002, S. 173) zeigt sie den Kern ihres Denkens auf. Dieser dient ihr auch für die Bearbeitung der gegenwärtigen Fragen nach Demokratie jenseits des Staates als Leitfaden: „Erst wenn man Demokratie von ihrem Zweck her denkt, sich auf das Postulat individueller Selbstbestimmung besinnt, statt von vornherein in Regierungsformen und überkommenen Institutionalisierungen zu denken, ist man in der Lage, der postnationalen Herausforderung der Demokratietheorie zu begegnen.“ (Abromeit 2002, S. 205) 58 Vgl. Habermas 2007, S. 435. 59 Eine Weltorganisation mit der Generalversammlung als Vertretung der Staaten und Bürger sichert auf supranationaler Ebene den Frieden und die Menschenrechte. Weltinnenpolitik, die auch verteilungsrelevante Fragen und kollektive Gefährdungen betrifft, findet auf transnatio-

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in der Konstruktion einer doppelten Legitimationskette nieder. Eine dieser Ketten hat den Bürger als Weltbürger zum Ausgangspunkt und – über die Wahl der Generalversammlung – die supranationale, zugleich aber für die politische Ordnung im Ganzen verbindliche Friedens- und Menschenrechtspolitik zum Gegenstand. Die zweite geht vom Bürger als Staatsbürger aus und führt (vorerst noch) über den Staat bzw. die Wahl staatlicher Repräsentanten zum Regionalregime und von dort weiter zur Generalversammlung.60 Entsprechend seiner Demokratietheorie ergänzt Habermas dieses auf Wahl beruhende Konzept der Legitimationskette in seinem Modell dann deliberativ, indem er – wie für den Staat – auch für die Weltorganisation und die Weltinnenpolitik ein jeweils zu spezifizierendes Zusammenwirken von Wahlen und (Welt-)Öffentlichkeit konzipiert. Denn Habermas betrachtet deliberative Prozesse nicht als eigenständige Elemente demokratischer Legitimation, sieht in ihnen jedoch Ansatzpunkte, um die Verklammerung von demokratischer Legitimation und staatlichen Organisationsformen zu lockern.61 Partizipationsmöglichkeiten ergeben sich für die transnationale Ebene zum einen durch den geforderten repräsentativen und demokratischen Charakter der Regionalregime selbst. Habermas fordert eine Verlängerung der Legitimationskette über die nationalen Grenzen hinaus. Da er zugleich feststellt, dass ein „institutionelle[r] Rahmen für gesetzgeberische Kompetenzen und entsprechende politische Willensbildungsprozesse“ noch nicht existiert, impliziert diese Verlängerung nur vorläufig das Hinzufügen eines Gliedes – etwa durch Wahlen unter staatlichen Repräsentanten –, langfristig lässt dies auf direkte Wahlen der Repräsentanten oder Parlamentarier auf transnationaler Ebene schließen. Die notwendige ergänzende Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander schafft dann Transparenz und garantiert Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die der politischen Tragweite der auf transnationaler Ebene verhandelten und entschiedenen Probleme entsprechen.62 Wie oben schon angedeutet ist im Rahmen des von Habermas konzipierten Verständnisses von deliberativer Öffentlichkeit eine Partizipation aller Betroffenen der Maßstab gültiger Diskurse, sodass Deliberation und partizipative Demokratie an dieser Stelle nicht in dem von Niesen beobachteten Spannungsverhältnis stehen. Es ist zu beachten, dass diese Konzeption auch jenseits des Staates auf geteilten ethisch-politischen Selbstverständnissen ruht, die die notwendige Grundlage der Legitimität von Regionalregimen bildet, da diese Selbstverständnisse die Bezugnahme auf gemeinsame Wertorientierungen und Gerechtigkeitsvorstellungen ermöglichen (s. unten). Der Konzeption der supranationalen Ebene liegt dagegen eine andere Kategorie normativer Selbstverständnisse zugrunde. naler Ebene zwischen regional ausgedehnten, repräsentativen und demokratischen, durchsetzungsfähigen Regimen statt. Auf nationaler Ebene bleiben demokratische Staaten – Habermas vereinfacht hier – (zunächst) zentrale Akteure und die einzigen Inhaber legitimer Gewaltsamkeit, deren Sanktionspotenzial sich die Weltorganisation quasi ausleihen muss (vgl. zu diesem Entwurf z. B. Habermas 2007, S. 444 ff. und 451 ff., Hervorhebungen A.M.). 60 Vgl. Habermas 2007, S. 448. 61 Vgl. ebd., S. 436. 62 Vgl. ebd., S. 445 und 455, Zitat S. 445.

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Da im Gegensatz zu den übrigen Organen der Weltorganisation allein die Generalversammlung durch Wahl legitimiert ist,63 kommt der Weltöffentlichkeit hier eine – wenn auch auf den Bereich moralisch-rechtlicher Fragen begrenzte – bedeutende Rolle, eine kritische Funktion zu. Möglich ist dies, weil Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz sich nicht notwendig aus ethisch-politischen, sondern aus geteilten moralisch-rechtlichen Selbstverständnissen, die den negativen Pflichten der Gerechtigkeitsmoral entsprechen, begründen lassen und somit universelle Gültigkeit haben. Habermas vertraut darauf, dass die zerstreute Weltöffentlichkeit sich in entscheidenden Momenten auf diese Werte beruft, sich dann „über die spontanen Reaktionen auf diese Entscheidungen [großer Tragweite, A.M.]“ von Fall zu Fall integriert und als „erregte Weltmeinung“ politische Wirkung entfalten kann:64 „Aus dem Gleichklang der moralischen Entrüstung über massive Menschenrechtsverletzungen und evidente Verstöße gegen das Gewaltverbot, auch aus dem Mitgefühl mit den Opfern humanitärer und natürlicher Katastrophen entsteht – über die großen Distanzen zwischen Kulturen, Lebensformen und Religionen hinweg – allmählich ein Hauch weltbürgerlicher Solidarität.“65

Die normativen Voraussetzungen dieses Konzepts werden im nächsten Kapitel zu diskutieren sein. An dieser Stelle ist jedoch zunächst festzuhalten, dass die aus Habermas’ Arbeiten zum Nationalstaat bekannten demokratischen Partizipationsformen auch auf den überstaatlichen Ebenen eingefordert und für ein demokratietheoretisch tragfähiges Konzept globalen Regierens genutzt werden. Dabei sind verfasste Formen der Partizipation wie das Element der Wahl genauso unverzichtbar wie die Teilnahme an öffentlichen Diskursen. Zugleich scheint aber gerade die von Habermas geschilderte Entrüstung der Weltöffentlichkeit darüber hinaus auch auf nicht-verfasste, unkonventionelle Formen der Partizipation zu verweisen, sodass z. B. die Occupy-Bewegung in diesem Sinne als Bewegung eines ‚Gleichklangs der Entrüstung‘ zu verstehen wäre. Trotz dieser Differenzierungen bleiben natürlich viele Fragen offen, wenn man Habermas’ Modell mit der politischen Realität konfrontiert. Neben Fragen der Umsetzung und Institutionalisierung, die hier nicht thematisiert werden können, sind diese, so wird nun zu zeigen sein, oft in grundlegenden Spannungen begründet, mit denen nicht nur Habermas, sondern die Demokratietheorie insgesamt im Raum jenseits des Staates zu kämpfen hat.

63 Vgl. ebd., S. 453 f. 64 Vgl. insbesondere Habermas 2007, S. 453 f., Zitate Habermas 2005, S. 357 und Habermas 2007, S. 454. 65 Habermas 2005, S. 457 f.

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4. NEUE FRAGEN? BETROFFENHEITEN ODER KOLLEKTIVE IDENTITÄT „Die Globalisierung treibt einen immer größeren Keil zwischen Betroffenheit und politische Mitgliedschaft.“66 Mit dieser Aussage fasst Fraser ein Spannungsverhältnis, das nun – im Hinblick auf die diesen Ausführungen zugrunde liegende Unterscheidung zwischen funktionaler und territorialer Differenzierung – zu diskutieren ist. Es wird sich dabei zeigen, dass Versuche, Demokratie jenseits des Staates zu verwirklichen, entweder die Herausforderung der funktionalen Differenzierung in den Blick nehmen und auf dieser Grundlage die Kongruenz zwischen Regierenden und Regierten wiederherstellen wollen oder die immer noch territorial gedachten normativen Grundlagen demokratischen Entscheidens und damit auch demokratischer Partizipation betrachten. Eine spannungsfreie Versöhnung beider Elemente gelingt aber bisher nicht. Das Kriterium der Inklusivität und damit verbunden der Maßstab der Betroffenheit spielen – wie auch der bisherige Verlauf der Argumentation zeigt – in den Überlegungen zu Demokratie und Partizipation jenseits des Staates eine zentrale Rolle, die u. a. auf die Prominenz des Betroffenheitsprinzips in Habermas’ Diskursprinzip zurückzuführen sein mag. Dabei erfüllt das Prinzip unterschiedliche Funktionen: Zum einen dient es dazu, Probleme, die infolge der Auflösung der Kongruenz zwischen Regierenden und Regierten entstehen, erst zu benennen. Im Zusammenhang mit den hier verhandelten Fragen wird es aber zum anderen gleichzeitig als Lösungsansatz genutzt:67 So problematisiert Fraser den Zusammenhang zwischen dem westfälischen Rahmen staatlich-territorialen politischen Denkens und dem Maßstab der Betroffenheit und fordert daran anschließend die erneute Thematisierung der Inklusivität von transnationalen Öffentlichkeiten,68 sodass sich die Aufgabe stellt, neue Grenzen entsprechend der Betroffenheit der Menschen zu ziehen.69 Auf die Problematik der Grenzziehung ist noch zurückzukommen. Zunächst ist jedoch festzustellen, dass dieser Argumentationsstrang fordert und auch versucht, der Auflösung der Kongruenz zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Entscheidenden und Betroffenen zu begegnen. Insofern erfolgt hier auf theoretischer Ebene eine Anpassung an die Herausforderung der funktionalen Differenzierung, wie sie sich in wirtschaftlichen und technischen Zusammenhängen präsentiert, der die Flexibilität von Deliberation entgegenkommt. Mit den Vorteilen verbinden sich allerdings Bedenken aus der Perspektive derjenigen demokratietheoretischen Beiträge, die Beteiligung bzw. die formale Rückbindung politi-

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Fraser 2007, S. 249. Vgl. zu den Funktionen des Betroffenheitsprinzips Näsström 2011, S. 123 f. Vgl. Fraser 2007, S. 247 f. Vgl. Fraser 2005, S. 81 f. Fraser stellt also insbesondere in ihren gerechtigkeitstheoretischen Schriften neben Verteilungsfragen die Frage nach dem Kreis der von einer Entscheidung Betroffenen und an ihr Beteiligten sowie, drittens, die Frage nach der Art und Weise der Entscheidung in diesen Fragen (vgl. Fraser 2005, S. 84 ff.).

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scher Entscheidungen an den Willen der Betroffenen einfordern, um die gleiche Beteiligung aller zu garantieren. Modelle, die auf diese Bedenken reagieren und für die Habermas’ Entwurf hier beispielhaft steht, beruhen jedoch ihrerseits auf geteilten normativen Selbstverständnissen als Voraussetzungen klassisch demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Damit wird dieser Argumentationsstrang wiederum angreifbar für eine Kritik, die sich schon bei Scharpf findet (s. 2.), die im überstaatlichen Raum aber auch von kommunitaristischer Seite stark gemacht wird: „Put simply, democratic politics is politics in the vernacular“70 schreibt Kymlicka und bringt damit seine Kritik an Helds Entwurf einer Cosmopolitan Democracy auf den Punkt, die zugleich auch auf viele anderen Entwürfe von Demokratie jenseits des Staates anwendbar ist. Gerade partizipative Demokratieformen basierten auf einer geteilten Identität und setzten Gemeinschaftssinn voraus – beides ausgedrückt nicht zuletzt durch eine gemeinsame Sprache. Ein demokratisches globales Mehrebenensystem, in dem die Entscheidungsgewalt über die Verteilung von Kompetenzen nicht im Nationalstaat verbleibe, werde dem nicht gerecht, sei vielmehr als elitär zu betrachten.71 Gerade in Habermas’ Modell der deliberativen Demokratietheorie kommt den normativen lebensweltlichen Quellen, die die Verständigungsprozesse speisen, eine große Bedeutung zu: formale Mehrheitsentscheide machen sie notwendiger, doch auch deliberative Verfahren nutzen geteilte normative Grundannahmen, bedürfen sogar explizit der lebensweltlichen Rückbindung. Somit scheint gerade dieses Modell der Weltinnenpolitik sehr voraussetzungsreich und zugleich leicht angreifbar. Es zeigt sich allerdings, dass gerade Habermas durchaus sensibel für diese Problematik ist und versucht, den Herausforderungen jenseits des Staates zu begegnen. Um seine schon angerissene Unterscheidung zwischen ethischpolitischen und moralisch-rechtlichen Selbstverständnissen, die von den Bürgern geteilt werden, zu verstehen, erscheint seine Ausdifferenzierung des Diskursprinzips in Moral- und Demokratieprinzip als zentral: Menschenrechte und Friedensschutz sind moralische Normen. Sie müssen den Anforderungen des Moralprinzips nach einer gleichmäßigen Interessenberücksichtigung aller genügen. Geteilte moralisch-rechtliche Selbstverständnisse sind insofern allgemeiner und zugleich weniger tiefgreifend als ethisch-politische Selbstverständnisse. Die staatlichen, aber auch die regionalen Handlungsnormen sind am Demokratie-, nicht aber am Moralprinzip zu orientieren. Das heißt, sie werden in einem legitimen Verfahren als Recht gesetzt, in dem nicht nur moralisch-universelle Gründe gültig sind. Deshalb setzen sie grundlegende Normen und Werte, geteilte ethisch-politische Selbstverständnisse, als Basis ihrer Legitimität voraus. Sie sind also konkreter als moralische Normen und implizieren zusätzlich immer die Abgrenzung von einem Außen, weshalb Habermas davon ausgeht, dass sie nicht global zu erweitern sind.72 Aus diesem Verständnis heraus 70 Kymlicka 1999, S. 121. 71 Vgl. ebd., S. 121 ff. 72 Vgl. Habermas 1998, S. 161 ff.

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erklärt sich das abgestufte Modell der Weltinnenpolitik ohne Weltregierung, das differenzierte Voraussetzungen unterschiedlicher Arten von Politik berücksichtigt und dem ein Element von Hierarchie und Staatlichkeit auf globaler Ebene fehlt. Kritik erntet Habermas allerdings in Fragen der Beziehung zwischen ethischpolitischen und moralisch-rechtlichen Selbstverständnissen. Es scheint fraglich, ob der Universalismus der moralisch-rechtlichen mit dem Partikularismus der ethisch-politischen Selbstverständnisse vereinbar ist. Lupel fasst das Problem zusammen: „The project of cosmopolitan democracy is subject to a serious conceptual problem: democratic legitimacy depends upon the cultivation of a common political culture and the solidarity that arises from it. Yet the conditions for the constitution of such a culture are incompatible with a global domain of cosmopolitan governance. The historic tension between the ideal of universal citizenship and the necessarily particular contexts in which it becomes situated is only exacerbated when extended to the transnational sphere.“73

Diese Fragen betreffen zunächst weder Partizipationsformen noch deren Institutionalisierung. Sie unterstreichen allerdings die Brisanz der Frage nach geteilten Selbstverständnissen und kollektiven Identitäten und problematisieren somit die Vorannahmen demokratischer Partizipation jenseits des Staates – auch bei Habermas. Zusätzliche Bedeutung erhalten diese Fragen, wenn man mit einigen Kritikern argumentiert, dass selbst die Friedens- und Menschenrechtspolitik auf globaler Ebene staatlich-hierarchische Züge nicht vermeiden kann74 und somit die Rechtfertigungslast auch der moralisch-rechtlichen Selbstverständnisse steigt. Betrachtet man nun geteilte ethisch-politische Selbstverständnisse bzw. kollektive Identitäten als notwendige Voraussetzungen demokratischer Politik, erhält die Frage nach dem Kreis der Entscheidenden eine zweite Dimension. Neben das Betroffenheitskriterium tritt das Kriterium der geteilten Selbstverständnisse als zweite entscheidende Herausforderung der Demokratie. Eine Übereinstimmung zwischen diesen beiden Größen ist aber derzeit wohl kaum anzunehmen, entspricht doch der Maßstab der Betroffenheit heute zunehmend der funktionalen Differenzierung, während kollektive Identitäten weiterhin territorial verortet bleiben. Nicht zuletzt die Institutionalisierungsvorschläge von Demokratie jenseits des Staates, z. B. in Mehrebenensystemen Habermas’scher Prägung, spiegeln diese territoriale Bindung kollektiver Identitäten implizit wieder und nehmen damit eine Verletzung des Betroffenheitskriteriums in Kauf. Die Demokratietheorie steht vor einem Dilemma: Einerseits gilt es im Angesicht der sich auflösenden Kongruenz zwischen Regierenden und Regierten die Inklusivität politischer Meinungs- und Willensbildung zu garantieren. Andererseits schneiden Schritte in diese Richtung die Demokratie von ihren normativen Grundlagen, den kollektiven Identitäten ab. Vor diesen Hintergrund wird noch einmal deutlich, dass die Attraktivität des Konzeptes transnationaler Öffentlichkeiten in der Vereinbarkeit mit dem Betroffenheitsprinzip liegt. Die aus Sicht vieler Demokratietheoretiker (nicht zuletzt Niesen, Habermas und Abromeit) not73 Lupel 2008, S. 126. 74 Vgl. z. B. Schmalz-Bruns 2007, S. 291 f.

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wendige formale und demokratische Rückbindung politischer Entscheidungen an den Willen der Betroffenen zerstört diese Hoffnung, insofern die von ihr vorausgesetzten kollektiven Identitäten territorial verortet werden. Die Spannung zwischen territorialer und funktionaler Differenzierung lässt sich aus Sicht vor allem normativer Partizipationsbegriffe nicht einfach unter Berufung auf die flexible Form deliberativer Prozesse auflösen. Es drängt sich die Frage auf, ob ein territorial organisiertes Mehrebenensystem die derzeit beste tragfähige Ordnung ist. Zugleich ist aber die Frage der Festlegung und Legitimation neuer Grenzen noch offen und in Fragen legitimer demokratischer Ordnungsbildung nicht zu vernachlässigen. Näsström formuliert diese Frage der „Legitimität des Volkes“ als Paradox: „The claim is that in order for the people to be legitimate, political authority must be prior to the citizens and simultaneous with the citizens at the same time.“75 Weder Habermas’ Versuch der regionalen, aber eben nicht globalen Ausdehnung ethisch-politischer Selbstverständnisse noch die von Fraser oder Held angestrebte Anwendung des Betroffenheitsprinzips bietet letztlich eine Lösung dieses Paradoxes. Es ist eben nicht nur schwer zu erkennen, wer betroffen ist bzw. wer ein ethisch-politisches Selbstverständnis teilt, sondern auf einer grundlegenderen Ebene zugleich fraglich, wer diese Entscheidung trifft.76 Näsström stellt die Frage der Legitimität eines Volkes, die Frage der Grenzen politischer Gemeinschaften und ihrer Legitimation in den Fokus der Debatte. Die Entscheidung über die Legitimität eines Volkes sei nicht ein für allemal zu treffen, eine Lücke in der demokratischen Legitimation bleibe immer bestehen, doch lasse sich das Paradoxon durch Prozeduralisierung lösen: Die Konstitution eines legitimen Volkes sei zu verstehen als wiederkehrendes und zugleich immer nur vorläufiges Ereignis.77 An dieser Idee setzt auch Frasers Konzept einer kontinuierlichen dialogischen Reflexion der Grenzziehung um relevante Gemeinschaften an.78 Von hier ausgehend können nun bisherige Lösungsversuche für die Probleme demokratischen Regierens jenseits des Staates betrachtet werden, die zugleich auf ein zusätzliches Potenzial von Partizipation jenseits des Staates verweisen. 5. PROZEDURALISMUS ALS LÖSUNG, PARTIZIPATION ALS CHANCE? Der bisherige Verlauf der Argumentation kann die von Luhmann anvisierte „Aufgabe des Raumprinzips“79 für die nächste Zukunft nicht bestätigen. Vielmehr stehen sich territoriale und funktionale Differenzierungsmodi in einem Spannungsverhältnis gegenüber, das auch Auswirkungen auf die Demokratietheorie hat. Je stärker das Betroffenheitsprinzip und das Kriterium der Inklusivität gemacht werden, desto weniger sind klassisch demokratische Elemente in den Konzepten für 75 76 77 78 79

Näsström 2007, S. 641 (Hervorhebung im Original, A.M.). Vgl. Näsström 2011, S. 126. Vgl. Näsström 2007, S. 644 f. Vgl. Fraser 2005, S. 86 ff. Luhmann 1991, S. 61.

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Regieren jenseits des Staates zu integrieren; je stärker (normative) demokratietheoretische Argumente und ein normativer Partizipationsbegriff vertreten werden, desto stärker sind die Konzepte territorial gebunden und müssen eine Verletzung des Inklusivitätskriteriums in Kauf nehmen. Da die grundlegenden Annahmen demokratietheoretischer Konzepte somit immense Auswirkungen haben, bedarf es einer erneuten Selbstverständigung gerade über das Verständnis von Betroffenheit und Inklusivität wie auch über notwendige normative Voraussetzungen von Demokratie jenseits des Staates. Nun bleibt die politische Theorie an diesem Punkt nicht stehen. Wie in den Argumentationen von Fraser und Näsström schon angedeutet ist Prozeduralisierung für die Lösung von Paradoxa ein probates Mittel. Implizit lässt sich eine solche Argumentation in einigen Stellungnahmen zu Fragen von Öffentlichkeit und Demokratie jenseits des Staates finden: Nanz und Steffek zum Beispiel betrachten zivilgesellschaftliche Organisationen nicht nur in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Bürgerinteressen und internationalen Organisationen, sondern insbesondere auch als öffentlichkeitsgenerierende Akteure.80 Sie verweisen also auf einen Prozess, der die bestehenden Unzulänglichkeiten ausgleichen soll. Eine ähnliche Logik liegt auch in Verweisen auf potenzielle Lernprozesse und das Entstehen kollektiver Identitäten in demokratischen Prozessen: So argumentiert Kraus, dass kollektive Identitäten nicht nur Voraussetzung, sondern auch Resultat von Demokratie sind: „Input-Legitimität kann sich also nie bloß darauf beschränken, vorgegebene Identitätsressourcen „abzuschöpfen“, sondern ist unter demokratischen Bedingungen immer auch reflexive Selbstbestimmung.“81 Kollektive Identitäten werden also gerade auf Partizipationszusammenhänge zurückgeführt. Und auch Lupel verweist auf eine potenzielle Entwicklung kollektiv geteilter Normen und Werte im Zeitverlauf: „If we can understand the constitution of transnational democracy as an ongoing, traditionbuilding process based in local, national and regional democratic projects, perhaps over time the tension between the particularity of democratic legitimacy and the universality of cosmopolitanism could be reconciled. Yet again this depends upon a growing awareness of global interdependence, the cultivation of the perception that we are in effect all ‚in the same boat.‘“82

Die im letzten Satz aufgerufene Schiffsmetapher, „the ship at sea, still under construction“, kann für eine Reihe von Institutionen stehen – Lupel nutzt sie im Zusammenhang mit der globalen Zivilgesellschaft83 – und bringt die Tragweite der noch zu bearbeitenden Herausforderungen zum Ausdruck. Über diese vagen Hoffnungen hinaus gehen Konzeptionen, die sich mehr oder weniger explizit mit der analysierten Spannung auseinandersetzen und auch für Frasers Frage der Grenzziehung demokratischer Politik Ansätze bieten. Habermas untersucht in diesem Zusammenhang die Konkurrenz zwischen funktionaler und 80 81 82 83

Vgl. Nanz/Steffek 2007, S. 95 f. Kraus 2004, S. 565. Lupel 2008, S. 131. Vgl. ebd., S. 130, Zitat S. 130.

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sozialer Integration von Kollektiven in der postnationalen Konstellation. Neue Märkte und Kommunikationsformen – in unserem Sinn funktionale Imperative – geben Öffnungsimpulse an intersubjektiv geteilte Lebenswelten, die eine gesteigerte Kontingenz nötig machen und erweiterte Optionsspielräume eröffnen. Um jedoch die soziale Integration zu erhalten, muss sich, so Habermas, die Lebenswelt durch einen Prozess der Selbstbestimmung „in erweiterten Horizonten“ reorganisieren und erneut schließen.84 Es ist nun möglich, diesen Mechanismus als Verständigungsprozess über die Kriterien der Inklusivität der Betroffenen einerseits und der kollektiven Selbstverständnisse andererseits zu verstehen, in dem die Grenzen politischer Gemeinschaften verhandelt werden. Mit Habermas ist allerdings weiter davon auszugehen, dass die territoriale Dimension für die nähere Zukunft überwiegt, ohne dass das Ergebnis dieser Prozesse schon abzusehen wäre: „Wenn die erneute Schließung ohne sozialpathologische Nebenfolgen gelingen soll, darf sich eine Politik, die den globalisierten Märkten nachwächst, nur in institutionellen Formen vollziehen, die nicht hinter die Legitimitätsbedingungen demokratischer Selbstbestimmung zurückfallen.“85

Einen ähnlich gelagerten Vorschlag unterbreitet Benhabib. Als Vertreterin eines republikanischen Föderalismus verteidigt sie einerseits den Nationalstaat bzw. sogenannte „nation-state centered forms of closure“86 als repräsentative Körperschaften und steht damit eher auf der Seite territorial differenzierter demokratischer Mitbestimmung. Komplementär dazu agiert allerdings auch bei ihr eine entstehende globale Zivilgesellschaft: „This emergent global civil society is quite complementary to republican federalism which in my opinion constitutes the only viable response to the contemporary crisis of sovereignty.“87 Mit dem Konzept demokratischer Iterationen, die eine Vermittlung zwischen den Institutionen des Nationalstaats und den universalen Ansprüchen des Menschenrechts- oder Gerechtigkeitsdenkens ermöglichen, fasst sie diese Spannung prozedural und kann so auch eine Möglichkeit demokratischer Reformen der Grenzen von Nationalstaaten denken: „Such democratic iterations are processes through which the demos reconstitutes itself.“88 Damit präsentiert sie eine vorsichtige Reformperspektive, die zwar in der territorialen Logik der Differenzierung verankert bleibt, aber dennoch gegenüber statischen Identitäten kritisch und gegenüber funktionalen Logiken zu einem gewissen Grad offen ist, sodass die Grenzen der Mitgliedschaft in einer politischen Ordnung veränderbar werden. Natürlich ergeben sich zugleich weitergehende Fragen. So ist grundlegend sowohl mit Benhabib als auch mit Fraser zu klären, wie die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und legitimer Ordnungsbildung jenseits des Staates zu konzeptualisieren ist und welche Bedeutung den Kriterien

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Vgl. Habermas 1998, S. 126 f., Zitat S. 127 (Hervorhebung im Original, A.M.). Vgl. ebd., S. 128. Vgl. Benhabib 2011, S. 154, Zitat S. 154. Ebd., S. 111 f. Benhabib 2011, S. 164.

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der Betroffenheit bzw. Inklusivität und den kollektiven Identitäten dabei jeweils zukommt. Für die Frage der Partizipation, deren Herausforderungen und Problematiken im Zentrum der Analyse gestanden haben, bieten sich in diesen Prozessen möglicherweise zugleich neue Perspektiven. Auf Grundlage der Bemerkungen von Kraus, vor dem Hintergrund der demokratischen Iterationen Benhabibs und im Angesicht der Proteste der Occupy-Bewegung klingt immer wieder an, dass gerade Partizipation jenseits des Staates Möglichkeiten bietet, nicht nur aus normativen Grundlagen der Demokratie zu schöpfen, sondern die Voraussetzungen für legitime politische Ordnungsbildung, insbesondere in Form geteilter Normen und Werte zu schaffen. Die intuitive Annahme des Voraussetzungsreichtums demokratischer Partizipation wird hier in ihr Gegenteil verkehrt. Interaktion und Partizipation werden zu potenziellen Lösungen für die demokratischen Dilemmata. Dabei bleibt, auch wenn Interaktion und Partizipation sich in diesem Sinne als wirkungsvoll erweisen, die Frage offen, ob Partizipation dauerhaft und konstruktiv nicht-territorial gebunden funktionieren kann. Geht man davon aus, dass die Spannung zwischen territorialer und funktionaler Differenzierung ihre Wirksamkeit noch nicht eingebüßt hat, dann ist partizipative Demokratie im Sinne des Mitentscheidens jenseits des Staates immer wieder auf einen Reflexionsprozess angewiesen, der funktionale Logiken einbezieht, ohne die territoriale Bindung demokratischer Selbstverständnisse zu vernachlässigen. Die Bedeutung einer entrüsteten Weltöffentlichkeit – wie wir sie derzeit möglicherweise in der OccupyBewegung beobachten – als eines Korrektivs, das Öffentlichkeit und Problembewusstsein erst herstellt und zugleich kollektive Identitäten oder bestehende Ordnungen hinterfragen kann, schmälert dies nicht, setzt sie aber in Beziehung zur entstehenden politischen Ordnung im Ganzen. LITERATUR Abromeit, Heidrun, 2002: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen. Albert, Mathias, 1998: Entgrenzung und Formierung neuer politischer Räume. In: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.): Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen, S. 49–75. Archibugi, Daniele/Held, David/Köhler, Martin (Hrsg.), 1998: Re-imagining Political Community. Studies in Cosmopolitan Democracy, Cambridge. Barber, Benjamin, 2011: Occupy Wall Street – „We Are What Democracy Looks Like!“, Blogbeitrag. Unter http://www.huffingtonpost.com/benjamin-r-barber/occupy-wall-street---wea_b_1079723.html, download am 14.06.2012. Benhabib, Seyla, 2011: Dignity in Adversity. Human Rights in Troubled Times, Cambridge. Brunkhorst, Hauke, 2007: Zwischen transnationaler Klassenherrschaft und egalitärer Konstitutionalisierung. Europas zweite Chance. In: Niesen, Peter/Herborth, Benjamin (Hrsg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt am Main, S. 321–349. Brunkhorst, Hauke (Hrsg.), 2009: Demokratie in der Weltgesellschaft, Baden-Baden. Buchanan, Allen/Keohane, Robert O., 2006: The Legitimacy of Global Governance Institutions. In: Ethics and International Affairs, Jg.20, H.4, S. 405–437.

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E-GOVERNANCE – EINE PARTIZIPATIONSFORM DER ZUKUNFT? Steffen Albrecht EINLEITUNG Die Diskussion um den sogenannten „Staatstrojaner“ (Schirrmacher 2011), den Einfluss von Wikileaks (Benkler 2011), die Organisation von Wahlkampagnen über Youtube und Twitter (Schweitzer/Albrecht 2011), Open GovernmentInitiativen (www.opengovpartnership.org, 23.11.2011) – all diese Beispiele belegen, dass die Politik und das Regieren um die Neuen Medien nicht herumkommen. Seit dem Beginn der Digitalisierung immer weiterer Bereiche der Gesellschaft in den 1960er Jahren haben digitale und vernetzte Medien das staatliche Handeln beeinflusst, sei es direkt in Form der Veränderung staatlichen Handelns, sei es indirekt in Form von außerstaatlichen Entwicklungen, die eine Veränderung im staatlichen Handeln auslösten. Im Zuge dieser Veränderungen hat sich nicht nur die Art und Weise des Regierens verändert, sondern auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern.1 Denn mit der Digitalisierung und Vernetzung einher gehen weitreichende Veränderungen fast aller Bereiche gesellschaftlicher Kommunikation und insbesondere auch der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen: „(…) digital technologies have modified the communicative balance of power by reconfiguring ‚access to people, services, information and technology in ways that substantially alter social, organizational and economic relationships across geographical and time boundaries‘“ (Gurevitch et al. 2009, S. 168, unter Rückgriff auf ein Zitat von Dutton et al. 2004, S. 29).

Im Bereich der Wirtschaft lässt sich beobachten, dass die Unternehmen ihre Konsumenten und deren Präferenzen stärker beobachten und sie in die Planung und z. T. sogar Herstellung neuer Produkte einbeziehen. Im Gesundheitsbereich stehen den früher zuweilen als „Götter in Weiß“ betrachteten Ärzten zunehmend gut informierte Patienten gegenüber, die sich eigenständig über ihre Symptome und deren mögliche Ursachen informiert haben. Welche Veränderungen in der Politik und gerade im Verhältnis der Politik zur Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft zu beobachten sind, soll in diesem Beitrag untersucht und mit Blick auf Formen der Partizipation diskutiert werden. 1

Im Folgenden wird aus Gründen der Vereinfachung die männliche Form verwendet, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind.

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Dabei kann es zunächst unerheblich sein, inwiefern die technologische Entwicklung zu diesem Wandel tatsächlich kausal beigetragen hat. Entsprechende Überlegungen scheitern zum einen leicht an den Fallen des technologischen Determinismus, also der Vorstellung, die technische Entwicklung allein könne gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Dass dies nicht der Fall ist und es immer um komplexere Wandlungsprozesse von sowohl sozialen Institutionen als auch Technologien geht, haben Studien im Bereich „Science, Technology and Society“ hinlänglich deutlich gemacht. Zum anderen erfolgt die Einführung von Technologien aus ganz bestimmten politischen bzw. gesellschaftlichen Entwicklungen heraus, die ihrerseits wiederum durch technische Entwicklungen möglich wurden. So stand die Einführung von Computertechnologien im bundesdeutschen Regierungsapparat in den 1960er Jahren ebenso im Zeichen einer Modernisierung des politischen Denkens wie die aktuellen Entwicklungen der E-Governance im Zuge einer umfassenderen Verwaltungsmodernisierung zu sehen sind. Beiden Entwicklungen liegt zudem der Megatrend der Entwicklung hin zur postindustriellen bzw. Informationsgesellschaft zugrunde, so dass die Frage nach kausaler Zuschreibung kaum sinnvoll gestellt werden kann. Im Folgenden soll zunächst die Begrifflichkeit und die bisherige Entwicklung von E-Governance betrachtet werden. Darauf aufbauend wird der aktuelle Stand von E-Governance beschrieben und es wird versucht, deren Bedeutung für demokratisches Regieren und für Partizipation zu ermessen. Der Fokus liegt dabei auf Beispielen aus der Bundesrepublik Deutschland und der Entwicklung in den westlichen Demokratien.2 Im globalen Kontext stellen sich Fragen der Partizipation und Staatlichkeit unter dem Einfluss digitaler vernetzter Medien zum Teil ganz anders, was an dieser Stelle aus Gründen der Fokussierung ausgeblendet bleiben muss. Im Schlussteil, in dem ein Ausblick auf die zu erwartenden Entwicklungen gewagt wird, werden allerdings Ansätze aus der internationalen E-Gouvernanten-Diskussion thematisiert. 1. BEGRIFFLICHE EINORDNUNG Die verwendeten Begriffe – „E-Governance“, „Open Government“, „Informationsgesellschaft“, „Zivilgesellschaft“, „Partizipation“ – werfen zunächst mehr Fragen auf als sie beantworten. Daher soll in einem ersten Schritt das begriffliche Instrumentarium geordnet werden, mit dessen Hilfe das empirische Feld erfasst werden soll.

2

Für eine europäische Perspektive sei auf die Studie der European Technology Assessment Group zum Thema „E-Democracy in Europe“ verwiesen (Beckert et al. 2010).

E-Governance – Partizipationsform der Zukunft?

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1.1 Demokratietheoretischer Ausgangspunkt Dieser erste Schritt nimmt seinen Ausgang in der demokratietheoretischen Frage, wie sich die Gesellschaft als Akteur und Gegenstand politischer Herrschaft konstituieren kann und welche Verfahren der Vorbereitung, Findung und Durchsetzung von politischen Entscheidungen dem entsprechen. Habermas hat vorgeschlagen, dabei drei Modelle der Demokratie zu unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Antworten auf diese Frage anbieten (vgl. Habermas 1992): das liberale Modell, das republikanische Modell und das von Habermas selbst entwickelte Modell der deliberativen Demokratie. Nach dem Modell der liberalen Demokratie stellt sich Gesellschaft als eine Aggregation individueller Akteure dar, die ihre Interessen verfolgen, typisch also als Wirtschaftsgemeinschaft. Das Politische ist als öffentliche Angelegenheit getrennt vom Bereich des Privaten, sodass der Staat der Gesellschaft als etwas Äußeres entgegentritt. Staatliche Gewalt muss sich für alle Eingriffe in die Gesellschaft rechtfertigen und kann dies nur insoweit, als sie dafür die Zustimmung der Bürger erhält. Entsprechend kommt dem politischen Prozess vor allem die Aufgabe der Entscheidungsfindung und der anschließenden Kontrolle der politischen Entscheidungen zu. Das liberale Modell geht diesbezüglich von der Vorstellung aus, dass die Akteure ihre jeweiligen Interessen selbständig ausbilden und es im politischen Prozess vor allem darum geht, eine Abstimmung über diese zu erreichen. Der Staat kann daher als von der Gesellschaft klar getrenntes System vorgestellt werden, dem die politischen Funktionen übertragen sind und das durch die Verfassung in seiner Reichweite begrenzt wird. Formen der politischen Beteiligung sind auf Wahlen begrenzt, andere Formen, etwa Diskussionen, dienen vor allem der Information der Akteure über die verfügbaren Optionen und die jeweils daraus resultierenden Konsequenzen. Hier ist auch die Rolle der Öffentlichkeit zu sehen, der insgesamt eine große Bedeutung für die Demokratie zugewiesen wird. Im republikanischen Modell ist die Konstitution des Politischen dagegen eine unmittelbare Leistung der Gesellschaft. Der Staat ist Ausdruck des allgemeinen Willens des Volkes und geht in diesem auf. Umgekehrt kann er nur dann legitime Macht beanspruchen, wenn er in seinen Entscheidungen ersichtlich dem allgemeinen Willen zur Durchsetzung verhilft. In dieser Sichtweise besteht keine Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, vielmehr wird der Einzelne als politisches Subjekt betrachtet, das teilhat am gemeinsamen Ganzen. Die Öffentlichkeit spielt vor allem als Ort der Selbstverständigung der Gesellschaft eine Rolle. Da das Volk selbst der Souverän ist, besteht die Aufgabe des politisch-administrativen Systems vor allem in der Formulierung und Umsetzung von Entscheidungen, die aus dem Volk als allgemeiner Wille hervorgehen. Der Staat als bürokratisch verselbständigter Apparat wird jedoch als Fremdkörper in einer bereits politisch konstituierten Gesellschaft angesehen. Öffentlichkeit ist auch hier nicht die Sphäre, in der Konflikte zwischen Interessen und Sichtweisen ausgetragen werden, sondern dient zum einen – mit Wirkung auf die Entscheidungsträger – der Bekanntgabe des politisch Gewollten, zum anderen – mit Wir-

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kung zurück auf das Volk – der rituellen Selbstvergewisserung auf dem Weg der Inszenierung der eigenen Souveränität. Die Aufgabe von politischer Beteiligung ist nicht die Diskussion, sondern die (Selbst-)Darstellung von politischen Handlungen. Das Modell der deliberativen Demokratie schließlich steht in verschiedener Hinsicht zwischen diesen beiden Modellen. Gesellschaft ist nicht als unpolitisch konzipiert wie im liberalen Modell, auch nicht als durchgängig politisch wie im republikanischen. Vielmehr konstituiert sich die Gesellschaft zum Teil als politische, und zwar in der Zivilgesellschaft, also in Vereinen, Verbänden, Gemeinschaften, die politische Interessen und Handlungsoptionen artikulieren. Diese Artikulation erfolgt in der politischen Öffentlichkeit, einer „Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung gesamtgesellschaftlicher Probleme“, die durch die als „dezentral“ vorgestellte Gesellschaft ausdifferenziert wird (Habermas 1996, S. 291). Der Staat ist relativ autonom von der Gesellschaft, was sich etwa im Modus der Entscheidung zeigt, die im politischen System nach dessen eigener Logik getroffen wird, aber weit darüber hinaus Geltung erlangt. Zugleich ist der Staat, sind politische Entscheidungen aber inhaltlich bzw. programmatisch insofern an die Gesellschaft rückgebunden, als sie nur die Institutionalisierung einer politischen Meinungs- und Willensbildung darstellen, die grundlegend in der Gesellschaft verankert ist. Dem Staat kommt die Rolle eines Vermittlers zu, der die kommunikativ erzeugte Macht der Öffentlichkeit in administrative Macht umwandelt. 1.2 Partizipationsformen So abstrakt die Modelle zunächst angelegt scheinen, erlauben sie doch Rückschlüsse auf die Rolle, die der Einbindung der Bürger in den politischen Prozess jeweils zukommt. Alle Modelle sehen eine Repräsentation der Bürger durch Politiker vor. In der Umsetzung lassen sich die drei Modelle aber – idealtypisch – unterschiedlichen Verfahrenstypen zuordnen, die Partizipation gewährleisten und somit eine Schnittstelle zwischen Politik und Zivilgesellschaft bilden. Dem liberalen Modell mit seiner starken Trennung zwischen Politik und Privatsphäre entspricht das Verfahren der Wahl, das in regelmäßigen Abständen, insgesamt aber vergleichsweise selten, die Legitimation der Repräsentanten und ihrer Entscheidungen besorgt. Dem republikanischen Modell entspricht die Abstimmung, bei der fallbezogen und insofern unregelmäßig, aber insgesamt häufig, die Bürger unmittelbar über Sachfragen abstimmen und staatliche Entscheidungen herstellen. Deliberative Demokratie schließlich beruht wesentlich auf Deliberation, also Diskussionen über politische Themen innerhalb der Öffentlichkeit, durch die Entscheidungen sowie die politische Agenda inhaltlich erörtert und abgestimmt werden.

E-Governance – Partizipationsform der Zukunft?

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1.3 E-Governance als Oberbegriff von E-Government und E-Demokratie Der Begriff der Governance versucht, quer zu solchen normativ-demokratietheoretischen Erwägungen und möglichst unabhängig von konkreten staatlichen Institutionen und Organisationen, das politisch-administrative Handeln zu erfassen. Aus einer top-down Perspektive, die auch im E-Governance-Diskurs prominent vertreten ist, fragt er nach den Steuerungsmöglichkeiten und -formen kollektiven Handelns. Demnach gehen die meisten Governance-Aktivitäten von der Seite des Staates aus und beziehen sich auf die Zivilgesellschaft bzw. die private Wirtschaft. Davon unbeschadet lässt sich Governance auch als Selbstregulierung und als Einbeziehung von Betroffenen in die Entscheidungen vorstellen, umfasst also auch die für Partizipation relevanten Prozesse der bürgerlichen Mitwirkung. In diesem Sinn definiert die UNESCO E-Governance unter Rekurs auf den Governance-Begriff wie folgt: „Governance refers to the exercise of political, economic and administrative authority in the management of a country’s affairs, including citizens articulation of their interests and exercise of their legal rights and obligations. E-governance may be understood as the performance of this governance via the electronic medium in order to facilitate an efficient, speedy and transparent process of disseminating information to the public, and other agencies, and for performing government administration activities.“3

Wie der Governance-Begriff im Allgemeinen baut auch der Begriff E-Governance auf den Vorgänger-Begriff (E-)Government auf, setzt sich aber zugleich von diesem ab. Gegenüber dem E-Government, das sich als Regieren und Verwalten unter Nutzung des Internets verstehen lässt (und die Bereitstellung von Informationen, den Austausch von Informationen, also Kommunikation und Dialog sowie die Abwicklung von Verwaltungsvorgängen, Transaktion genannt, umfasst – vgl. Krems 2011), geht E-Governance weiter und umfasst neben der Bereitstellung von Diensten durch den Staat auch das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern und die Interaktion zwischen beiden Bereichen (vgl. zur Abgrenzung Cullen 2010, S. 58). Letzteres wird auch als E-Demokratie bezeichnet, als Versuch, die Ausübung repräsentativer Demokratie mit Hilfe der Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) zu erleichtern, zu verbessern und zu erweitern (Fühles-Ubach 2005). E-Demokratie ist dabei nicht auf repräsentative Institutionen beschränkt, sondern bezieht alle Bereiche der Gesellschaft mit ein und kann (und nach Meinung einiger Akteure: soll) sich auch transformierend auf die etablierten Institutionen auswirken: „Vision der elektronischen Demokratie ist es also, durch neue Kommunikationsplattformen neue Formen des bürgerlichen Engagements zu ermöglichen, sichtbar zu machen und im Idealfall auch in den Prozess der politischen Planung und Gestaltung zu integrieren, um so in politische Entscheidungswege größere Transparenz zu bringen.“4

3 4

UNESCO 2005. Fühles-Ubach 2005, S. 75.

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Damit ist E-Demokratie als grundlegend partizipativ ausgerichtet beschrieben, wobei der Grad der Einbeziehung durchaus offen ist: Er reicht von sporadischen Wahlen, die durch die neuen Technologien unterstützt werden (E-Voting, vgl. das liberale Modell) über Deliberation und die Unterstützung der bottom upGenerierung von Agenden und Meinungen (E-Konsultation, vgl. das deliberative Modell) bis zur stärkeren Einbeziehung der Bürger nicht nur in staatliche Entscheidungen, sondern in staatliches Handeln insgesamt (E-Society, vgl. das republikanische Modell). Im Folgenden wird daher der Begriff E-Partizipation verwendet, um alle Formen der Beteiligung mithilfe von IuK-Technologien zu bezeichnen, also alle partizipativen Formen von E-Governance. E-Government und E-Demokratie unterscheiden sich vor allem durch ihre Ziele. Einerseits geht es darum, Transaktionen abzuwickeln, andererseits darum, Partizipation zu ermöglichen. In beiden Bereichen spielen IuK-Technologien eine wesentliche Rolle, beide Bereiche beruhen auf Information und Kommunikation zwischen Staat und Bürgerschaft. Insofern kann E-Governance als Oberbegriff für E-Government und E-Demokratie angesehen werden, bringt aber auch eine transformative Perspektive mit sich: „E-governance can bring forth new concepts of citizenship, both in terms of citizen needs and responsibilities. Its objective is to engage, enable and empower the citizen.“ (UNESCO 2005)5 Diese Transformation greift zwei der E-Governance zugrunde liegende gesellschaftliche Trends auf. Dies ist zum einen die Modernisierung der Verwaltung, die seit den 1980er Jahren unter Stichworten wie New Public Management oder auch der Modernen Verwaltung bzw. Good Governance vorangetrieben wird. Auch wenn innerhalb dieser Entwicklung ganz unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, von der Ökonomisierung öffentlicher Leistungen über die Koproduktion von Diensten durch die Bürger bis zur Ausweitung staatlicher Aktivitäten (Oakley 2003), lassen sich dabei eine Wende hin zur Bürgerorientierung der Verwaltung, eine stärkere Nutzung von elektronischen Daten, Einsparungen bei den Kosten und eine stärkere Öffnung in der Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Wirtschaft als Charakteristika festmachen (vgl. OECD 2001; Weltbank 2007; Navarra/Cornford 2012). Der zweite gesellschaftliche Trend ist der Wandel hin zur Informationsgesellschaft und die sich immer stärker in der gesamten Gesellschaft ausbreitende Nutzung digitaler und vernetzter Medien (s. z. B. Eimeren/Frees 2011; Geese et al. 2009, S. 638). Die Auswirkungen reichen von der zunehmenden globalen Vernetzung und Beschleunigung der Wirtschaft über die Veränderung von Konsumgewohnheiten und den Umgang mit Wissen bis hin zum staatlichen Handeln und der Politik, wo die Folgen noch nicht absehbar sind (Castells 2001). Dieser Wandlungsprozess macht sich allerdings empirisch erst allmählich bemerkbar, da er langfristig verläuft und die Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens betrifft. 5

S. auch Oakley 2003, S. 49: „E-governance means not just putting public services online, but a set of technology-mediated processes that could change both the delivery of public services and the broader interactions between citizens and government“.

E-Governance – Partizipationsform der Zukunft?

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2. HISTORISCHE ENTWICKLUNG DER E-GOVERNANCE Sowohl das Forschungsfeld als auch das Praxisfeld der E-Governance sind ausgesprochen dynamisch und unterliegen selbst kontinuierlichem Wandel. Während zunächst offen bleiben kann, ob E-Governance eine Partizipationsform der Zukunft ist, zeigt der Blick auf die letzten Jahrzehnte, dass sie durchaus eine mit – wenn auch junger – Vergangenheit ist. Zumindest gilt dies für den Diskurs über E-Governance, in dem zwar lange Zeit der Schwerpunkt auf E-Government, also der Organisation der Verwaltung lag, der aber bereits erstaunlich früh auch partizipative Aspekte thematisierte. Im Folgenden sollen vor allem letztere im Vordergrund stehen, für einen Überblick zu E-Government sei auf die entsprechende Literatur verwiesen (s. z. B. Dunleavy 2007; Margetts 2009). In den 1950er Jahren begannen Regierungen, den Einsatz von IuK-Technologien zu Regierungszwecken zu planen (Oakley 2003). Mit der rapiden Entwicklung der Technologie erweiterten sich entsprechende Szenarien entlang der Veränderungen der Planungsvorstellungen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Einsatz von IuK-Technologien in der Verwaltung in den 1960er Jahren im Zuge einer zunehmenden Planungseuphorie forciert. Eine besondere Rolle spielte hier die Heidelberger Studiengruppe für Systemforschung, die politische Planung nicht nur theoretisch analysierte, sondern auch praktisch-beratend für die Bundesregierung tätig wurde und die stärkere Nutzung von Datenverarbeitung in der politischen Planung empfahl (Lenz 2002). Die Zuversicht in die Möglichkeiten staatlicher Planung paarte sich allerdings mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Einbeziehung breiter Schichten der Bevölkerung in die Entscheidungsfindung. Dies reichte von der Identifikation von Planungsproblemen als „wicked problems“, die sich nicht nur nicht einfach lösen lassen, sondern deren Definition bereits umstritten ist (Rittel/Webber 1973), bis zu Experimenten der Bürgerbeteiligung über das Fernsehen, bei denen das Telefon als Rückkanal genutzt wurde und Sachinformationen datenbankgestützt beigesteuert wurden (das sogenannte „ORAKEL“-System, Krauch 1972). Ganz ähnliche Konzepte wurden zur gleichen Zeit auch in den USA für das „MINERVA“System elektronischer Bürgerversammlungen entwickelt (Etzioni 1972). Die IuKTechnologien sollten nicht allein die Ausübung von Herrschaft erleichtern, sondern ebenso ihre Kontrolle durch Unterstützung der Partizipation von Bürgern in Form sachbezogener Deliberation und durch eine damit verbundene Stärkung der politischen Öffentlichkeit und der Demokratie.6 Eine in dieser Form organisierte „Computer-Demokratie“ (Krauch 1972) blieb jedoch Vision, die entsprechenden Anwendungen auf einzelne Experimente beschränkt. Auch die allmähliche Verbreitung des Internets änderte daran lange Zeit nichts. Allerdings nahm die wissenschaftliche und politische Diskussion über die Folgen der Internetnutzung für staatliches Handeln und die Politik stark zu, in deren Rahmen die Frage der Partizipation prominent gestellt wurde, nicht zuletzt 6

Ähnliche emanzipatorische Funktionen der Kommunikationstechnologie hatte Bertolt Brecht bereits in seiner Radiotheorie in den 1930er Jahren vorgesehen (Brecht 1932).

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vor dem Hintergrund der inzwischen diagnostizierten Politikverdrossenheit (Hayward 1995). So sahen manche ein neues „athenisches Zeitalter“ heraufziehen (Gore 1994), während andere die Technologie eher mit der „Büchse der Pandora“ assoziierten (Barber 1998). Die Diskussion blieb in Ermangelung konkreter Angebote zur E-Partizipation abstrakt und verfangen in einem Dualismus von utopischen bzw. dystopischen Perspektiven, von der Hoffnung auf Revolution bzw. der Diagnose einer Normalisierung (Wright, i. E.). Auf der Ebene der Praxis staatlichen Handelns wurden in Deutschland Ende der 1990er Jahre erste Anwendungen des Internets für die Bürgerbeteiligung entwickelt und erprobt. Die Stadt Bonn nutzte im Jahr 1998 ein im Rahmen des Projekts „Geomed“ entwickeltes System (Ziegenhagen/Seelbach 1998), um Bürger über das Internet frühzeitig an einem Bebauungsplan für ein Neubaugebiet zu beteiligen (Märker 2007). Über einen Zeitraum von vier Wochen konnten die Bürger Planungsunterlagen im Internet einsehen und in einem Diskussionsforum Stellung nehmen. Das Nutzungsinteresse war allerdings noch bescheiden: gerade einmal drei Beiträge wurden über das Internet eingereicht. Ein frühes Experiment auf Bundesebene war das Pilotprojekt „Future of Food“ aus dem Jahr 2001. In einem länderübergreifenden Dialogprojekt zwischen Deutschland und den Niederlanden wurde auf Initiative der jeweiligen Agrarminister eine informelle Online-Konsultation zur Zukunft der Landwirtschaft angeboten (vgl. Deutscher Naturschutzring 2001). Die Beteiligung war mit 450 Diskussionsbeiträgen in einem Zeitraum von sechs Wochen beachtlich. Die sorgfältige und aufwändige Organisation des Verfahrens, die Einbindung von hochrangigen Politikern, die Anbindung an offline-Events sowie die Transparenz des Verfahrens und seine länderübergreifende Ausrichtung sind bis heute vorbildlich. 3. AKTUELLER STAND 3.1 Angebote zur Partizipation über das Internet Seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts wurden nicht nur von staatlicher Seite immer wieder und immer mehr Partizipationsmöglichkeiten wie Konsultationen, Diskussionen oder Eingabemöglichkeiten mit Hilfe von IuK-Technologien angeboten. Im Zuge der gesellschaftlichen Verbreitung und Veränderung der Internetnutzung haben sich auch neue Formen der politischen Internetnutzung durch zivilgesellschaftliche Akteure etabliert und wurden Technologien zur Marktreife entwickelt. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Institutionalisierung von gesetzlichen Beteiligungsmöglichkeiten über das Internet, etwa durch §4a des 2004 geänderten Baugesetzbuchs, der die ergänzende Nutzung elektronischer Informationstechnologien vorsieht, kann daher das Experimentierstadium der E-Partizipation als beendet angesehen werden.

E-Governance – Partizipationsform der Zukunft?

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Verwaltung, Politik Wahlen, Abstimmungen Kooperation Konsultation

Bürgerbegehren, Volksentscheide Eingaben, Beschwerden, Petitionen Aktivismus, Kampagnen, Lobbying Transparenz durch Dritte

Information

Bürger, NGOs, Wirtschaft

Abbildung 1: Formen der politischen Partizipation (nach Ifib/Zebralog 2008)

Aktuell stellt sich das Feld der E-Governance aus der Perspektive der Partizipation wie in Abbildung 1 gegliedert dar. Es lassen sich grundlegend zwei Formen von Partizipationsangeboten unterscheiden: Die Teilhabe kann (top down, linke Seite) vonseiten der Verwaltung initiiert sein, aber auch (bottom up, rechte Seite) von zivilgesellschaftlichen Personen oder Gruppierungen, zu denen Bürger, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Wirtschaftsorganisationen und andere zu zählen sind. Die Formen lassen sich außerdem danach unterscheiden, wie stark sie an den Kern des politischen Systems, also die staatlichen Institutionen und Verfahren, angebunden sind. Wahlen und Abstimmungen sowie Bürgerbegehren und Volksentscheiden kommt dabei eine Sonderrolle insofern zu, als sie nicht den Prozess der Meinungs- und Willensbildung umfassen, sondern lediglich der Entscheidung. Formen des bürgerschaftlichen Engagements, soweit es sich der IuKTechnologien bedient, sind zwar partizipativ, allerdings nicht auf staatliche oder politische Entscheidungen ausgerichtet und werden insofern nicht berücksichtigt. In systematischer Hinsicht lassen sich die folgenden sechs Formen unterscheiden, die nicht internetspezifisch sind, sondern auch offline vorkommen (vgl. Ifib/Zebralog 2008): Angebote zu Aktivitäten, die von Bürgern bzw. Organisationen ausgehen: -

Transparenz durch Dritte: Informelle Angebote, die über Handlungen von Institutionen der Legislative oder Exekutive informieren und damit öffentliche Kontrolle ermöglichen. Beispiele: Websites zur Dokumentation des Abstimmungsverhaltens von Abgeordneten (abgeordnetenwatch.de) bzw. der Verwendung von Steuereinnahmen (wheredoesmymoneygo.org).

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Aktivismus/Kampagnen/Lobbying: Beteiligungsformen, bei denen Einzelpersonen oder organisierte Akteure Maßnahmen durchführen, die darauf abzielen, Aufmerksamkeit und Unterstützung für Themen und Positionen, aber auch für partikulare Interessen zu erhalten und die damit einen Beitrag zur politischen Meinungs- und Willensbildung leisten. Beispiele: Webgestützte Kampagnen von NGOs (diegesellschafter.de). Eingaben/Beschwerden/Petitionen/Anfechtungen: Angebote, die es ermöglichen, Vorschläge oder Beschwerden an zur Entscheidung befugte Stellen und Behörden zu richten. Beispiele: Kommunale Online-Beschwerdesysteme für Hinweise auf Infrastrukturprobleme (maerker.brandenburg.de).

Angebote zu Aktivitäten, die von der Verwaltung bzw. Politik ausgehen: -

-

-

Information: Angebote, die hauptsächlich auf die Bereitstellung und Erschließung von Informationen abzielen und damit eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen von Partizipation spielen. Beispiele: Webseiten/-portale von Kommunen, Stadtwikis (sternenfels.org). Konsultation: Beteiligungsformen, die dazu dienen, von Bürgern, Interessengruppen und anderen Akteuren aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft zu bestimmten Themen deren Expertise sowie Voten und Meinungen zu Planungen und Entscheidungen einzuholen. Beispiele: moderierte Onlinediskurse in der Stadt- und Regionalplanung (vgl. den Überblick von Märker/Wehner 2008), Bürgerhaushalte (s. buergerhaushalt.org). Kooperation: Angebote, die über das Abfragen von Expertise, Präferenzen und Meinungen hinausgehen und auf engere und oft auch längere, auf Einvernehmen ausgerichtete Zusammenarbeit zwischen Verwaltung bzw. Politik und Bürgerschaft sowie den zu beteiligenden Gruppen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft abzielen. Beispiele: Mediationsverfahren, komplexe Formen der Online-Beteiligung mit Medienmix (Kubicek et al. 2009).

Die Vielfalt der Angebotsformen ergibt jedoch noch nicht unbedingt eine Vielzahl von Angeboten. Vielmehr kommt die Studie „E-Partizipation“ des Bundesinnenministeriums (Ifib/Zebralog 2008) zu dem Schluss, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch international E-Partizipation „noch lange nicht die Regel für die Bürgerbeteiligung, sondern eher noch die Ausnahme“ sei (Ifib/Zebralog 2008, S. 133). Dabei befindet sich Deutschland mit seinem Angebot unter den führenden Ländern im Bereich E-Partizipation (UN 2010). Wenn dennoch behauptet werden soll, das Experimentierstadium der E-Partizipation sei beendet, dann gründet diese Behauptung auf der Beobachtung, dass eine Institutionalisierung begonnen hat, aber noch am Anfang steht. Der Beginn einer Institutionalisierung lässt sich an der Regelmäßigkeit und stetigen Ausweitung von internetgestützten Beteiligungsangeboten in den meisten der beschriebenen Formen ebenso festmachen wie an deren Stützung durch gesetzliche, aber auch politisch-strategische Rahmenprogramme auf den unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung. Vor diesem Hintergrund ist auch nicht von einer zuweilen befürchteten Abtrennung der E-Partizipation von dem „realen“ politischen Prozess

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auszugehen (vgl. Beckert et al. 2010, S. 43). Nicht zuletzt hat sich auch die Forschung zur politischen Beteiligung über das Internet als ein wichtiger Bereich der sozialwissenschaftlichen Onlineforschung etabliert (vgl. entsprechende Veröffentlichungen in den Zeitschriften „New Media & Society“ bzw. „Information, Communication & Society“, um nur einige zu nennen). Die Umsetzung von Bürgerbeteiligung durch E-Governance ist von einer alltäglichen Praxis allerdings aktuell noch weit entfernt. 3.2 Nachfrage durch die Bevölkerung Die bisherige Darstellung des aktuellen Stands der partizipativen Nutzung von EGovernance bezog sich auf die Angebotsseite, also auf staatliche wie nichtstaatliche Institutionen, die Angebote im Internet bereitstellen, um Bürgern Möglichkeiten zur Mitbestimmung oder Mitgestaltung zu geben. Diese Darstellung sagt jedoch noch nichts über die tatsächliche Nutzung entsprechender Angebote, also die Nachfrage auf Seiten der Bürger aus. Während sich aus den Nutzungsdaten einzelner Angebote aufgrund deren selbstselektiven Charakters kaum Aufschluss über das Interesse an E-Partizipation gewinnen lässt, liegen mehrere Studien vor, die auf repräsentativen Bevölkerungsumfragen beruhen und eine übergreifende Einschätzung erlauben. Westholm (2009) stellt auf Basis einer Repräsentativbefragung der deutschen Wahlbevölkerung im Jahr 2007 fest, dass knapp 30% der Bundesbürger das Internet für politische Informationen nutzen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Ergebnisse für die Nutzung des Internets zur politischen Partizipation durchaus beachtlich: Bei den Formen der rezeptiven Partizipation (z. B. Abruf von Informationen von Webseiten der Regierung bzw. von Politikern, Bestellung von Informationen über das Internet, entsprechend den obigen Formen „Information“ bzw. „Transparenz durch Dritte“) geben zwischen 14 und 20 Prozent der Wahlbevölkerung eine Nutzung an, bei produktiven Formen (wie dem Versenden von e-Mails an Politiker oder Initiativen oder der Beteiligung in Diskussionsforen, entsprechend den obigen Formen „Konsultation“ bzw. „Aktivismus/Kampagnen/Lobbying“) sind es zwischen 6 und 8 Prozent. Nur etwa ein Prozent der Befragten betreibt eine eigene Webseite mit politischen Inhalten oder nutzt das Internet zur Einreichung von Petitionen oder um für politische Zwecke zu spenden (Westholm 2009, S. 8). Insgesamt geben 24% der Befragten an, schon einmal eine rezeptive Form der E-Partizipation genutzt zu haben, 14% haben sich schon mindestens einmal in produktiver Form über das Internet an der politischen Kommunikation oder an Aktivitäten beteiligt. Traditionelle Formen der politischen Partizipation wie die Teilnahme an Unterschriftensammlungen oder Demonstrationen sind mit Werten von über 60% bzw. knapp unter 30% dagegen deutlich verbreiteter (Westholm 2009, S. 8). Dabei gibt es eine starke Überlappung von online und offline Partizipationsformen, allerdings auch eine kleine Gruppe von Personen, die ausschließ-

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lich über das Internet partizipiert und immerhin 2% der Wahlbevölkerung ausmacht (Westholm 2009, S. 9). Westholms Untersuchung gibt auch Hinweise auf die soziodemographischen Merkmale derjenigen, die das Internet zur politischen Partizipation nutzen. Hinsichtlich Bildung und Geschlecht lassen sich dabei die gleichen Verzerrungen feststellen, die auch für das politische Interesse und die Internetnutzung bestehen: Bei Männern sind entsprechende Aktivitäten häufiger verbreitet, ebenso bei Personen mit höherem Bildungsstand. Beim Alter zeigt sich offenbar ein kombinierter Effekt aus Internetnutzung und politischem Interesse: Bei den Älteren, insbesondere den über 60-Jährigen, sinkt das Interesse an E-Partizipation deutlich (entsprechend einem geringeren Grad der Internetnutzung), bei der jüngsten Altersgruppe bis 24 Jahre wirkt sich das geringere politische Interesse hemmend aus, so dass die Altergruppe der 25- bis 29-Jährigen die stärkste Nutzung von EPartizipation aufweist (Westholm 2009, S. 11 ff.). Während diese Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Partizipationsverhalten und soziodemographischer Faktoren auf bivariate Zusammenhänge begrenzt ist, gibt eine im Kontext des Bundestagswahlkampfs 2009 durchgeführte repräsentative Studie mithilfe multivariater Verfahren Aufschluss über diese Zusammenhänge unter Berücksichtigung wechselseitiger Einflüsse. Zittel und Freund (2011) untersuchen am Beispiel des Informationsverhaltens der Bürger im Wahlkampf, inwiefern die Angebote im Internet zu einer stärkeren Angleichung im Partizipationsverhalten von unterschiedlichen sozialen Gruppen führen, wie dies von manchen Beobachtern vermutet wird. Das allgemeine Niveau der Internetnutzung zum Zwecke der Information über den Wahlkampf liegt nach dieser Studie bei 21% der Wahlbevölkerung (Zittel/Freund 2011, S. 16).7 Während die deskriptive, bivariate Analyse ähnliche Ergebnisse wie bei Westholm ergibt, erweisen sich die Faktoren Alter und Bildung in der multivariaten Analyse als nicht signifikant für die Nutzung des Internets zur Information über den Wahlkampf. Allerdings bleiben das Einkommen, die Wahrnehmung politischer Selbstwirksamkeit (political efficacy) und der versierte Umgang mit dem Internet mit bestimmend für die Nutzung politischer Informationen im Internet (Zittel/Freund 2011, S. 22). Daher folgern die Autoren, dass die Möglichkeiten des Internets wenig dazu beitragen, die etablierten Muster aufzubrechen, nach denen sozial etablierte Akteure besonders stark politisch partizipieren, sondern womöglich noch zu einer Verstärkung der Ungleichheit im Partizipationsverhalten beitragen (Zittel/Freund 2011, S. 24). Doch auch bei dieser Studie bleibt ein methodologisches Problem, nämlich dass Korrelationen analysiert werden, aus denen sich nicht unbedingt auf Kausalität rückschließen lässt. An diesem Punkt setzt eine weitere repräsentative Studie 7

Während der Vergleich mit Westholms Untersuchung aufgrund des Zeitunterschieds nicht möglich ist, zeigen die Ergebnisse zweier ebenfalls zur Bundestagswahl durchgeführten Repräsentativbefragungen, dass offenbar eine große Spannweite bei der Messung dieses Wertes besteht: Geese et al. (2009, S. 638) gehen von 18%, von Pape/Quandt (2010, S. 391) von 36% der Wahlberechtigten aus, die politische Informationen im Internet nachfragen.

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an, die durch ihr Längsschnittdesign beanspruchen kann, die Frage des kausalen Einflusses der soziodemographischen Faktoren auf die Nutzung des Internets zur politischen Partizipation zu beantworten. Emmer und Kollegen haben in sieben Befragungswellen zwischen 2002 und 2009 ganz unterschiedliche Aspekte der politischen Internetnutzung untersucht (Emmer et al. 2011), hier sollen vor allem die Ergebnisse zur Nutzung des Internets als Quelle politischer Informationen und als Kanal für die Kommunikation interessieren. Nach Emmer et al. geben knapp 50% der im Jahr 2009 Befragten an, im Internet politische Informationen zu lesen (Emmer et al. 2011, S. 117).8 Im Jahr 2002 lag der Anteil noch bei 28%. Der Anstieg ist allerdings vor allem auf eine Ausweitung der Internetnutzung in der Bevölkerung zurückzuführen, denn bereits damals nutzten 67% derjenigen, die das Internet überhaupt nutzten, dieses auch zu Zwecken der politischen Information, im Jahr 2009 waren es 77% der Internetnutzer. Deutlich geringer verbreitet sind Nutzungen des Internets im Bereich Kommunikation, also etwa Gespräche mit anderen über Politik in Chaträumen oder Foren (5% der Befragten in 2009), direkter Kontakt zu Politikern (6%), das Schreiben von Leserbriefen (7%), die Teilnahme an Unterschriftensammlungen über das Internet (6%) oder die Nutzung von Social Networking Sites (wie z. B. Facebook) zu politischen Zwecken (7%, vgl. Emmer et al. 2011, S. 143 ff.). Bei diesen Aktivitäten kommt es zu ähnlichen Aufteilungen entlang der soziodemographischen Faktoren Geschlecht, Bildung und Alter, wobei in allen Fällen Männer stärker vertreten sind als Frauen, höhere Bildung mit höherer Nutzung einhergeht und die Aktivität mit höherem Alter zurückgeht – eine Ausnahme in Bezug auf das Alter stellen allerdings die Kontaktaufnahme mit Politikern über das Internet und die Teilnahme an Online-Unterschriftensammlungen dar, bei denen jeweils die mittlere Altersgruppe (30–59 Jahre) die höchsten Nutzungsgrade aufweist. Ebenfalls über alle diese Aktivitäten hinweg findet sich das Bild bestätigt, dass vor allem diejenigen online partizipieren, die dies auch bereits offline tun. Bei insgesamt im Vergleich zu traditionellen Partizipationsformen deutlich niedrigerem Niveau der Nutzung von E-Partizipationsformen zeigt sich kaum eine Ausweitung des Kreises der Partizipierenden durch die Internetnutzung. Zum Teil sind Unterschiede im Partizipationsverhalten bei den Online-Formen ausgeprägter als bei den traditionellen, zum Teil lässt sich eine besondere Aktivierung der Jüngeren erkennen, bei denen die Gruppe der ausschließlich online partizipierenden nennenswert ausgeprägt ist, allerdings auf sehr niedrigem Niveau.9 Mit Blick auf den Längsschnittvergleich schließen die Autoren auf der Basis von Pfadanalysen, 8 9

Der im Vergleich zu den vorgenannten Studien höhere Wert erklärt sich möglicherweise dadurch, dass die Grundgesamtheit der Studie die deutschsprachige Bevölkerung ab 16 Jahren und nicht die deutsche Wahlbevölkerung ist. Ähnlich stellt Marschall eine mobilisierende Wirkung der Nutzung des Online-Wählerinformationssystems „Wahl-O-Mat“ auf die als politikfern eingeschätzten Nutzer fest, die allerdings aufgrund des insgesamt niedrigen Niveaus der Nutzung in dieser Gruppe zunächst nicht auffällt (Marschall 2011, S. 150 f.).

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dass sich die Nutzung des Internets nicht negativ, sondern leicht positiv auf die politische Kommunikation auswirkt und dabei vor allem das Informationsverhalten betroffen ist, dadurch vermittelt aber auch stärker produktive Formen der Partizipation. Besonders mobilisierend wirkt sich die Internetnutzung dabei in der Altersgruppe der Jüngeren aus (Emmer et al. 2011, S. 217 f.). Zusammengefasst ergeben die diskutierten Studien das Bild einer zwar auf eine Minderheit der Bevölkerung begrenzten, aber doch fest etablierten Nutzung des Internets für die Beteiligung am politischen Prozess. Das Internet hat einen Platz vor allem als Medium der Information über politische Themen. Die Nutzung als Mittel der aktiven Partizipation fällt dagegen in quantitativer Hinsicht deutlich hinter traditionelle Formen der Beteiligung zurück und bleibt dabei ähnlichen sozialstrukturellen Bedingungsfaktoren verhaftet wie diese. Auf sehr niedrigem Niveau zeigen sich allerdings durchaus Momente der Mobilisierung durch das Internet, zum einen, wenn einzelne Akteure durch diese neuen Partizipationsformen überhaupt erst an die politische Beteiligung herangeführt werden (vgl. die Studie von Emmer et al. 2011), zum anderen, wenn sich bei denjenigen, die ein Beteiligungsangebot nutzen, gerade für politikferne Akteure besonders starke Einflüsse ergeben (vgl. die Studie von Marschall 2011). Diese Ergebnisse zur Nachfrageseite der politischen Beteiligung über das Internet entsprechen dem Befund zur Angebotsseite, dass eine Institutionalisierung von Online-Beteiligungsangeboten begonnen hat, die Angebote insgesamt aber noch wenig verbreitet sind. Allerdings lässt sich auf Basis der bisherigen Untersuchungen kein direkter Zusammenhang zwischen Angebots- und Nachfrageseite herstellen. Entsprechende Studien stellen ein Desiderat der E-GovernanceForschung dar. 4. DISKUSSION Die Forschung zu E-Governance begleitet einerseits den Wandel der Staatlichkeit unter dem Einfluss neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, sie unterliegt dabei aber selbst der Veränderung, nicht zuletzt in Reaktion auf den Wandel des Beobachtungsgegenstands. Die zum Stand der E-Partizipation vorgestellten Studien zeigen bereits eine gewisse theoretische Konsolidierung, vor allem aber eine empirische Ausrichtung auf, mit der der Wandel systematisch erfasst und beschrieben werden soll. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Bedeutung der neuen Medien für die politische Partizipation nüchtern einordnen als ein neuer Weg, Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen, zu nutzen und diese potenziell zu verändern, der letztlich aber vor allem eine Ergänzung bereits bestehender Möglichkeiten darstellt und auch als solche genutzt wird. Damit ist ein Schisma überwunden, das die Diskussion über den Einfluss des Internets auf die Politik lange Zeit negativ beeinflusst hat (Wright, i. E., S. 2). Dieses Schisma bestand zwischen utopischen und dystopischen Bewertungen bzw. zwischen Bewertungen als mobilisierend und verfestigend (Albrecht 2006; Zimmermann 2007), mit denen die Auswirkungen der Internetnutzung auf den

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politischen Bereich belegt wurden. Gemeinsam war den Ansätzen bei aller Gegensätzlichkeit der Ergebnisse, dass sie von einer mehr oder weniger unmittelbaren Wirkung des Internets auf die Politik ausgingen und damit unter dem Verdacht des technologischen Determinismus fielen und dass sie die Auswirkungen und Veränderungen an sehr abstrakten, häufig normativ ausgerichteten Maßstäben beurteilten, die den realen Gegebenheiten des politischen Prozesses nicht gerecht werden und daher zu einer sehr polar ausgeprägten Bewertung führten. Die normativen Maßstäbe sind durchaus hilfreich für die Orientierung der Fragestellungen der Forschung, wie das Beispiel der inzwischen umfangreichen Untersuchungen zur diskursiven Qualität von Onlineforen zeigt, die sich wesentlich der theoretischen Vorlage der Habermas’schen Diskurstheorie und ihrer normativen Ausrichtung verdanken. Allerdings darf nicht vergessen werden, den Maßstab selbst auf seine Angemessenheit in Anbetracht der veränderten Rahmenbedingungen durch die neuen Technologien zu hinterfragen. So werden durch Onlineforen neue, asynchrone Kommunikationsformen möglich, die keine Entsprechung in der bisherigen Kommunikation aufweisen und entsprechend nicht unbedingt von Kommunikationstheorien erfasst werden, die sich am Vorbild der face-to-face-Kommunikation orientieren. Eine Vielzahl von Foren für politische Debatten und deliberative Konsultationen entspricht ganz offensichtlich nicht den normativen Idealen der Ausgewogenheit der Beteiligung, der Argumentativität und der Ernsthaftigkeit und Authentizität der Kommunikation (Schneider 1997; Wilhelm 1998; Jankowski & van Selm 2000; Davis 2005). Allerdings zeigt ein Vergleich unterschiedlicher politischer Onlineforen, dass die Kommunikation in ihnen durchaus zur demokratischen Meinungsbildung und sachlichen Diskussion beiträgt (Albrecht 2010): Die Teilnehmer nutzen spielerisch die Möglichkeiten des neuen Mediums der Onlineforen aus, wodurch die Kommunikation zwar gegen bestimmte Anforderungen an die Kommunikation wie den Gleichheitsgrundsatz verstößt, andererseits aber gerade dadurch die Reflexivität und Reziprozität der Diskussion fördert. Die in den Foren entwickelten und praktizierten Formen der Kommunikation stellen eine Innovation dar und können durch an traditioneller Kommunikation entwickelte Maßstäbe nur bedingt erfasst werden, sondern erfordern neue theoretische Beschreibungen. Aus einer solchen Perspektive lässt sich auch die scheinbare Widersprüchlichkeit der empirischen Beurteilung der Qualität von Online-Deliberationen auflösen, die in der Literatur besteht. So weisen – gegen die erwähnten pessimistischen Befunde – mehrere empirische Studien von Onlinediskursen eine hohe Diskursqualität nach (vgl. Largier 2002; Winkler/Kozeluh 2005; Wright 2006). Sie gehen einher mit einer differenzierten Betrachtung der Rahmenbedingungen und institutionellen Kontexte, in denen die Diskurse stattfinden (z. B. der Rolle und Ausgestaltung der Moderation von Onlinediskussionen). Demnach ist nicht so sehr die Frage des Mediums entscheidend für eine bestimmte Qualität des Diskurses, sondern vielmehr – als ein Faktor unter anderen – die konkrete Gestaltung des Verfahrens bis hin zum Design der Webseiten (Wright/Street 2007). Der Verweis auf die institutionellen Rahmenbedingungen erweist sich auch für die Bewertung des Wandels bzw. der Verfestigung von soziodemographischen

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Strukturen der Partizipation als hilfreich. So belegen die Studien zur individuellen Nachfrage nach Partizipationsmöglichkeiten im Internet zwar keinen grundlegenden Wandel des politischen Verhaltens. Doch diese Studien sind zum einen im Licht des bisherigen, noch keineswegs zur Reife gelangten Angebots zu sehen. Auch zeigt das – verglichen mit traditionellen Mitteln – höhere Interesse der jungen Bevölkerung für E-Partizipation ein Potenzial für zukünftige Veränderungen auf, sofern die Erfahrungen mit den neuen Formen der Partizipation sich sozialisatorisch bemerkbar machen und das Verhalten in späteren Phasen der Biographie prägen. Schließlich ist vielen vorliegenden Studien vorzuhalten, dass sie politische Partizipation zu stark am Status quo, an den bereits etablierten Formen messen und dabei dem grundlegenden Wandel, den die Nutzung der IuK-Technologien vielfach mit sich bringt, nicht gerecht werden. E-Petitionen, die Möglichkeit der Einreichung und Mitzeichnung von Petitionen über das Internet, haben beispielsweise in Deutschland nicht allein einen neuen Kanal der Nutzung einer bewährten Partizipationsform eröffnet, sondern zugleich das Petitionsverfahren durch die Einführung sogenannter „öffentlicher Petitionen“ grundlegend verändert und ein neues, stärker an Kampagnen orientiertes Format geschaffen (Deutscher Bundestag 2012). Chadwick verweist außerdem darauf, dass Social Networking Sites politische Bedeutung gewinnen als neue Form von „third places“, also Räumen der Begegnung mit anderen Menschen und deren Interessen, die zwar nicht direkt, wohl aber indirekt als politische Erfahrung zu werten ist (Chadwick 2009, S. 30). Vor dem Hintergrund dieser Argumente muss die Frage der Veränderung individueller politischer Partizipation durch die neuen Medien aktuell offengehalten und perspektivisch weiter gefasst werden als dies in bisherigen Studien der Fall ist. Die Frage nach den eher grundlegenden institutionellen Auswirkungen der neuen Medien auf die Politik führt zurück zu der einleitend aufgespannten demokratietheoretischen Verortung. Vergegenwärtigt man sich vor dem Hintergrund der drei Modelle der Demokratie die Entwicklung der E-Governance, so zeigt sich eine Verschiebung vom liberalen über das deliberative hin zum republikanischen Modell – zumindest was die Aufmerksamkeit im Diskurs über E-Governance angeht. Unter dem Begriff des „E-Government“ standen zunächst die administrativen Leistungen eines von der Zivilgesellschaft getrennten politischen Systems im Vordergrund. Partizipation war in Form elektronischer Wahlen streng an das Prinzip der Repräsentation angelehnt (auch wenn diese bis heute keine weite Verbreitung gefunden haben), die sonstigen Beziehungen zwischen Staat und Bürgern über elektronische Medien waren als Kundenbeziehungen angelegt. Diese Perspektive entspricht dem liberalen Modell der Demokratie mit seiner starken Trennung von privatem und politischem Bereich und der vergleichsweise eng konzipierten Beziehung zwischen beiden Bereichen. Im Zuge der Wende hin zur Bürgerorientierung der Verwaltung erfolgte eine deliberative Wende der E-Governance, die die Kommunikation zwischen Staat und Bürgern in den Vordergrund stellte und dabei den elektronischen Medien eine besondere Bedeutung zuwies bzw. durch diese begünstigt wurde (vgl. Europä-

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ische Kommission 2001; OECD 2001). Entsprechend dem deliberativen Modell der Demokratie (und parallel zur deliberativen Wende der Demokratietheorie) bleibt die Nutzung des Internets dem Repräsentationsprinzip treu, sieht aber stärkere Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger an der Meinungsbildung vor. In diesem Zuge werden Angebote der E-Partizipation wie Online-Konsultationen entwickelt und erprobt. Schließlich kann die aktuelle Ausweitung des Blicks auf politische Nutzungen des Internets jenseits etablierter politischer Institutionen als Wendung hin zum republikanischen Modell der Demokratie gelesen werden, bei dem die Trennung zwischen Zivilgesellschaft und politischem System schwächer ist als bei den anderen beiden Modellen, und bei dem Öffentlichkeit in erster Linie der Selbstverständigung der Gesellschaft dient (vgl. Dahlberg 2001). Die Nutzung der neuen Medien ist stärker ins Alltagsleben integriert, entsprechend werden politische Artikulationsprozesse in Soziale Medien verlagert, die zunehmend, etwa im Rahmen von Protestkampagnen in Social Networking Sites, auch Aggregationsfunktionen erfüllen. Diese zeitgeschichtliche Lesart fällt zugegebenermaßen recht schematisch und abstrakt aus. Sie soll weniger eine bestimmte Zielrichtung der Entwicklung der E-Governance behaupten als vielmehr auf die Einbettung dieser Entwicklung in übergreifende Entwicklungen der Verwaltungsmodernisierung und der Veränderung der Demokratie hinweisen. Auf diese Weise kann eine zu eng geführte Betrachtung des Wandels von Staatlichkeit im Zuge der Nutzung von IuK-Technologien vermieden werden und der Blick für zunächst verborgene, grundlegende bzw. indirekte Veränderungen des Verhältnisses zwischen Staat und Bürgern geschärft werden. Die Abstraktion von bestimmten demokratietheoretischen Annahmen mag zudem dabei helfen, eine kritische Perspektive auf E-Governance und die mit ihr einhergehenden Partizipationsformen einzunehmen, die kritisch auch gegenüber ihren theoretischen Grundlagen bleibt. 5. AUSBLICK AUF DIE WEITERE ENTWICKLUNG Der vorliegende Beitrag unterliegt mit dem Blick auf die Veränderungen, die sich im Zuge der Nutzung von digitalen, vernetzten Medien für das Verhältnis von Staat und Bürgern ergeben, einer „moving target“-Problematik (McMillan 2000). Der Beobachtungsgegenstand verändert sich selbst in einem Tempo, das nur eine nachfolgende Beobachtung erlaubt. Zugleich besteht noch kein gesichertes theoretisches Wissensfundament, von dem aus sich die Beobachtungen bewerten ließen. Schließlich befindet sich die Entwicklung trotz ihrer mittlerweile gut 50jährigen Dauer in vielen Bereichen noch in einem Anfangsstadium, das die Abschätzung der langfristigen Entwicklungsrichtung erschwert. Nichtsdestotrotz soll abschließend anstelle eines Fazits ein Ausblick auf zukünftige Entwicklungen der E-Governance gegeben werden, der einige der aktuell diskutierten und besonders für das Verhältnis von Staat und Bürgern relevanten Themen berücksichtigt.

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Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass E-Governance nicht lediglich ein Schlagwort ist, sondern dass mit der Nutzung von digitalen und vernetzten Medien durch politische Akteure ebenso wie durch die Zivilgesellschaft Veränderungen einhergehen. Inwiefern es sich dabei um eine Anpassung an neue technologische Möglichkeiten ohne tiefgreifenderen Wandel der Strukturen des politischen Systems handelt oder aber um grundlegenderen Wandel, muss in Anbetracht des bisherigen Forschungsstandes offen bleiben. Zwar fügt sich insbesondere die Nutzung von E-Governance durch politische Institutionen offenbar weitgehend nahtlos in übergreifende, von medialen Aspekten unabhängige Governance-Diskussionen wie das New Public Management oder die deliberative Demokratie ein. Einiges spricht allerdings dafür, dass sich disruptive Veränderungen einstellen, die erst langfristig, dabei aber auf einer für die Politik und das Politische konstitutiven Ebene wirksam werden. Solche Veränderungen werden durch drei aktuelle Diskussionen umrissen, die abschließend vorgestellt werden sollen und eine Perspektive auf die zukünftige Entwicklung der E-Governance geben: die Entstehung eines neuen Politikfeldes, der Netzpolitik, damit verbunden das Aufkeimen neuer Intermediäre als sogenannter „fünfter Stand“ und schließlich die Transformation von E-Governance hin zu „Open Government“. Die „Netzpolitik“ als neues Politikfeld geht auf den Regulierungsbedarf zurück, der im Zuge der Ausbreitung von IuK-Technologien diskutiert wird und von Neufassungen der Medien- und Kommunikationsgesetze über das Daten- und Urheberrecht bis hin zu Fragen der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik reicht. Damit verbunden stellen sich neue politische Fragen des Schutzes der betroffenen Rechte und Rechtsinhaber, die unter dem Begriff der „Netzpolitik“ gebündelt und zunehmend auch institutionell abgesichert werden (vgl. Fraas et al. 2012, S. 128 ff.; Roleff 2012, S. 19). Mit der Piraten-Partei als neuem politischem Akteur, einer Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ als Institution auf Bundesebene (www.bundestag.de/internetenquete, 21.2.2012) und der Verankerung der Netzpolitik in einem eigenen Ressort auf Landesebene (wie im Koalitionsvertrag der SPD und CDU für die Periode 2011-2016 geplant, s. SPD Landesverband Berlin/CDU Landesverband Berlin 2011, S. 93 f.) sowie einem immer wieder auch öffentlich breit wahrgenommenen zivilgesellschaftlichen Interesse (Amann/ Ankenbrand 2012) zeichnet sich die Konsolidierung von Netzpolitik als eigenständiges Politikfeld ab, nachdem die entsprechenden Fragen zuvor als Querschnittsthema in ganz unterschiedlichen Feldern behandelt wurden. Referenzbeispiel für die Etablierung als neues Politikfeld ist dabei die Umweltpolitik. Auch hier bildeten sich spezialisierte Institutionen erst allmählich nach dem Auftreten entsprechender Problemstellungen und zivilgesellschaftlicher und schließlich politischer Akteure heraus. Inzwischen hat der Schutz der Umwelt Verfassungsrang. Entsprechende Überlegungen werden auch für die Netzdiskussion durchgeführt, wenn auch aktuell kein Bedarf dafür gesehen wird (vgl. Baer 2011). Schon die Diskussion darüber kann aber als Indikator für die Bedeutung der Netzpolitik als Politikfeld angesehen werden.

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Neben den politischen Akteuren der Netzpolitik prägen auch andere neue Akteure die aktuelle Entwicklung der E-Governance. Dutton sieht in der Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren einen neuen „fünften Stand“ entstehen, der eine der Presse ähnliche Rolle in der staatlichen Gewaltenteilung übernimmt (Dutton 2007). Die entstehenden Netzwerke orientieren sich an übergreifenden gesellschaftlichen Fragen, sind unabhängig von bestehenden zivilgesellschaftlichen Netzwerken und statten die in ihnen agierenden Individuen mit kommunikativer Macht aus, die sich einer durch die neuen Medien gesteigerten Informiertheit und öffentlichen Meinungsverbreitung verdankt. Die Bedeutung entsprechender Akteure als neue Intermediäre zwischen Zivilgesellschaft und politischem System ist in mehreren Studien beschrieben worden. So zeigen Mayer-Schönberger und Zappia, dass sich in den Bereichen der onlinegestützten Gesetzgebung (E-Rulemaking), der Open Source-Bewegung sowie der Blogosphäre neue Intermediäre herausgebildet haben, die traditionelle Gatekeeper des Informationsflusses ablösen (Mayer-Schönberger/Zappia 2011). Eine Beobachtung der Weblogs zur Bundestagswahl 2009 belegt, dass sich an der Schnittstelle zwischen Politik und Gesellschaft unabhängige, zentral vernetzte Weblogs neuer Akteure etabliert haben (Albrecht 2011, S. 198). Plattformen wie das Informations- und Dialogsystem für Abgeordnete „abgeordnetenwatch.de“ können ebenfalls als neue Mittler zwischen Bürgern und Repräsentanten angesehen werden (Albrecht/Trénel 2008). Schließlich zeigen die Diskussionen über den „Staatstrojaner“, eine Software zur heimlichen Ausspähung von Computern, die von Hackern des Chaos Computer Clubs enttarnt und ob ihres Eingriffs in Grundrechte kritisiert wurde (Schirrmacher 2011) sowie über die Rolle von Wikileaks (Benkler 2011), welche Macht Hacker als neue Intermediäre erlangt haben und welche Probleme die Kontrolle dieser neuen Kontrollinstanzen bedeuten kann. Mit dem Begriff „Open Government“ ist schließlich eine Entwicklung thematisiert, die die einleitend angesprochene Ausdifferenzierung von E-Governance wieder zu bündeln beansprucht und aus der Perspektive staatlicher Institutionen die Nutzung der digitalen und vernetzten Medien unter den Begriffen Transparenz, Partizipation und Kollaboration beschreibt (Obama 2009). Open Government stellt ein Programm zur Verwaltungsmodernisierung dar, mit dem Regierungen gegenüber den Bürgern geöffnet werden sollen. Dies soll durch umfassende Transparenz von Entscheidungen, aber auch etwa von Verwaltungsdaten erreicht werden, durch die Stärkung des Dialogs mit der Bevölkerung über ganz unterschiedliche Wege und durch eine stärkere Einbindung der Bürger in die Abläufe der Verwaltung (vgl. von Lucke 2010). Auch wenn die einzelnen Programmpunkte nicht unbedingt die Nutzung von IuK-Technologien bedingen, beruht das Programm doch sowohl durch seine Entstehungsgeschichte als auch durch die zur Umsetzung anvisierten Maßnahmen wie etwa Open Data-Plattformen sehr stark auf dem Einsatz von Technologien und kann als umfassendes E-GovernanceProgramm angesehen werden (Harrison et al. 2011). Auch wenn sich erst herausstellen muss, ob, und wenn ja, welche neuen Praktiken der E-Governance sich sowohl auf Seiten der Verwaltung als auch auf Seiten der Bürger durch Open Government etablieren werden, ist das Programm

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interessant aufgrund seiner Kopplung von partizipativen Elementen mit solchen der Transparenz und Kollaboration. Es geht über den konsultativen Ansatz hinaus, indem es den Bürgern nicht nur eine einseitig offene Schnittstelle für Eingaben anbietet, sondern diese Schnittstelle qua Transparenzgebot und Rechenschaftspflicht auch in die andere Richtung öffnet und außerdem zu Eigenaktivitäten nicht nur auffordert, sondern diese mithilfe der Öffnung von Datenbeständen für die Weiternutzung auch ermöglicht. Damit und mit der 2011 initiierten globalen „Open Government Partnership“ (www.opengovpartnership.org, 23.11.2011) stellt Open Government ein großes Potenzial für Veränderungen des Verhältnisses von Staat und Bürgern dar. Die Erfahrungen lehren allerdings, dieses nicht aus der Perspektive von Revolution oder Normalisierung zu betrachten, sondern die institutionellen Designs und praktischen Durchsetzungsstrategien zu analysieren, um Aufschluss über die Bedeutung der neuen Technologien für zukünftige Formen von Partizipation und Staatlichkeit zu gewinnen. LITERATUR Albrecht, Steffen, 2006: Whose Voice is Heard in Online Deliberation? A Study of Participation and Representation in Political Debates on the Internet. In: Information, Communication & Society 9, H. 1, S. 62–82. Albrecht, Steffen, 2010: Reflexionsspiele. Deliberative Demokratie und die Wirklichkeit politischer Diskurse im Internet, Bielefeld. Albrecht, Steffen, 2011: Wahlblogs revisited: Nutzung von Weblogs im Bundestagswahlkampf 2009. In: Schweitzer, Eva J./Albrecht, Steffen (Hrsg): Das Internet im Wahlkampf: Analysen zur Bundestagswahl 2009, Wiesbaden, S. 181–200. Albrecht, Steffen/Trénel, Matthias, 2008: „abgeordnetenwatch.de“ – Mittler zwischen Bürgern und Abgeordneten? In: TAB-Brief, Nr. 34, S. 9–13. Amann, Melanie/Ankenbrand, Hendrik, 2012: Aufstand der Generation Internet. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12.2.2012, S. 33. Baer, Susanne, 2011: Braucht das Grundgesetz ein Update? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 1, S. 90–100. Barber, Benjamin R., 1998: Pangloss, Pandora, or Jefferson? Three Scenarios for the Future of Technology and Democracy. In: Ders.: A Passion for Democracy. American Essays, Princeton, S. 245–257. Beckert, Bernd/Lindner, Ralf/Goos, Kerstin/Hennen, Leonhard/Aichholzer, Georg/Strauß, Stefan, 2010: E-Democracy in Europe – Prospects of Internet-based Political Participation. Theoretical Framework and Overview. In-depth Examination of Three Selected Areas – Phase II, Brussels/Strasbourg. Benkler, Yochai, 2011: A Free Irresponsible Press: Wikileaks and the Battle over the Soul of the Networked Fourth Estate. In: Harvard Civil Rights-Civil Liberties Law Review 46, H. 2, S. 311–397. Brecht, Bertolt, 1932: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks. In: Ders.: Werke, Bd. 21. Schriften I, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1992, S. 552–557. Castells, Manuel, 2001: Das Informationszeitalter. Band 1: Die Netzwerkgesellschaft, Leverkusen. Chadwick, Andrew, 2009: Web 2.0: New Challenges for the Study of E-Democracy in an Era of Informational Exuberance. In: I/S: A Journal of Law and Policy for the Information Society 5, H. 1, S. 9–41.

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DER ZUFALL ALS MITTEL DER POLITIK Zur Erweiterung demokratischer Partizipationsformen durch Losverfahren Hubertus Buchstein 1. EINLEITUNG: DIE AGENDA DER ALEATORISCHEN DEMOKRATIETHEORIE Losverfahren hatten in den Aristokratien und Demokratien der griechischen Antike zum festen Repertoire politischer Verfahren gehört, sind aber nach einer Phase der Wiederentdeckung in den oberitalienischen Republiken der Renaissance seit Ende des 18. Jahrhunderts für längere Zeit aus dem politischen Instrumentenkasten verschwunden. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wird das Losen in der Politik allmählich wiederentdeckt und findet auch in der politischen Berichterstattung größere Resonanz – sei es über den Grünen Parteitag im Juni 2011 (bei dem die Reihenfolge der Rednerinnen und Redner zur energiepolitischen Hauptdebatte ausgelost wurde), über die Protestveranstaltungen gegen die Sparpolitik der griechischen Regierung (bei denen Kundgebungsredner ausgelost wurden) oder über den Parteitag der Piraten-Partei im Dezember 2011 (bei dem zunächst erwogen worden war, die Reihenfolge der Tagesordnungspunkte per Los festzulegen).1 Die Wiederentdeckung des Losverfahrens in der praktischen Politik hinterlässt seit einiger Zeit auch in der Politischen Theorie und in der Demokratieforschung neue Spuren. Mittlerweile ist es sogar zu einem regelrechten Boom an Arbeiten zum Thema ‚Losen‘ und zufallsgeleiteten Entscheidungen gekommen; allein in den vergangenen fünf Jahren sind mehrere umfangreiche Monographien erschienen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Akzentuierungen mit dem Status von Zufallsentscheidungen in Politik und Gesellschaft befassen.2 Diese Literatur – zusammen mit einer ganzen Reihe an Aufsätzen – bietet eine bunte Palette, die von der Ideengeschichte über die Entscheidungs-, Demokratie- und Gerechtigkeitstheorie bis zu explizit reformpolitischen Arbeiten reicht.3 Ihren gemeinsamen Nenner hat sie darin, dass sie das Rationali1 2 3

Vgl. die entsprechenden Berichte in der FAZ vom 27. Juni 2011, S. 3, der TAZ vom 11. Juni 2011, S. 10 und der FAZ vom 5. Dezember 2011, S. 27. Vgl. Taleb 2007, Dowlen 2008, Buchstein 2009, Delannoi/Dowlen 2010, Stone 2011a und b, Brunold 2011, Vogt 2011 sowie Vergne 2011. Die derzeit umfassendste Auflistung der Literatur und deren szientometrische Analyse findet sich in Vergne 2010.

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tätspotenzial von zufallsgeleiteten Entscheidungen betont und dadurch den Zufall nicht mehr nur als Antipode zur Rationalität sieht, sondern zu deren Instrument zu machen sucht. Als Obertitel für dieses Ansinnen bietet sich das Etikett der ‚aleatorischen‘ Demokratietheorie an. Etymologisch leitet sich das Wort vom Lateinischen ‚alea‘ (der Würfel, aber auch: das Wagnis) ab und findet schon seit längerem im Bereich der Musik, der Poesie und im Aktienrecht Verwendung, wo es auf den absichtsvollen Einbezug von Zufallsmomenten abzielt.4 Zur aleatorischen Demokratietheorie in diesem Sinne zähle ich alle demokratietheoretischen Ansätze, bei denen das ungewisse Moment des Zufalls in systematischer und produktiver Weise als Verfahrenskomponente für Entscheidungen über die Vergabe politischer Positionen oder sozialer Güter Anwendung findet. Ist man erst einmal zu der Überzeugung gelangt, dass der Zufall nicht nur Kritik verdient, sondern dass sich ihm zuweilen auch Positives abgewinnen lässt, dann besteht der nächste Schritt darin, Zufallsentscheidungen künstlich herzustellen. Solche künstlich herbeigeführten Zufallsentscheidungen lassen sich als ‚Lotterie‘ bezeichnen.5 In Alltagssituationen geschieht dies beispielsweise durch das Werfen einer Münze oder das Ziehen von Hölzchen. In der langen Entwicklungsgeschichte von Lotterietechniken finden wir darüber hinaus markierte Holzstäbe, präparierte Steine, Loszettel, Kugeln bis hin zu speziellen Apparaturen, Maschinen und Computersysteme und viele weitere technische Hilfsinstrumente. Im Folgenden soll zunächst mit einem sortierenden Blick auf die grundlegenden fünf Argumentationsfiguren, welche sich zur Begründung von Entscheidungen durch das Los im politischen Bereich vorbringen lassen, begonnen werden. Die Verbesserung der Demokratie und die Erhöhung von Partizipationsmöglichkeiten ist dabei nur eine von mehreren möglichen Zielsetzungen für den Einbau von Losverfahren in der Politik (2). In einem zweiten Schritt werden in einem Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur verschiedene praktische Einsatzmöglichkeiten von Losverfahren, die auf eine Erweiterung von Partizipationsformen zielen, vorgestellt und diskutiert (3). Abschließend werden in einem dritten Schritt zwei Vorschläge für eine Reform des politischen Systems der EU vorgestellt, bei denen das Losverfahren an unterschiedlichen Stellen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen zur Geltung kommen soll (4).

4

5

Beispiele aus der Musik finden sich in den für die Improvisation freigegebenen Partiturpassagen bei Mozart, John Cage oder Stockhausen, aus der Literatur in Gedichtpassagen von Novalis oder der DADA-Bewegung sowie an der Börse in den als hoch spekulativ geltenden ‚aleatorischen Verträgen‘. Zu den formalen Eigenschaften einer Lotterie und ihren Fairnessbedingungen vgl. Saunders 2008 und Stone 2011a, S. 19–45.

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2. FÜNF ARGUMENTE FÜR LOSVERFAHREN Im Vergleich mit allen Verfahrensrivalen verfügt das Los über den Vorzug des höchsten Grades an „Verfahrensautonomie“, wie Niklas Luhmann in einer frühen Schrift die Abschottung von Verfahren gegenüber den Strukturen der sie umgebenden Umwelt bezeichnet hat.6 Verfahrensautonomie basiert auf mehreren Voraussetzungen: der Teilnehmerkreis muss klar abgegrenzt sein, es bedarf spezifischer Rollenzuschreibungen und das Verfahren muss sich vor externen Einflüssen während des Entscheidungsgangs abschotten können. Das Rotationsverfahren beispielsweise verfügt über eine höhere Verfahrensautonomie als die Vergabe von Ämtern nach besonderen Eignungen einer Person, weil es strikter ist und ohne Interpretationsbedarf, der für Einflüsse von außen offen ist, auskommt. Ebenso haben geheime Wahlen eine höhere Verfahrensautonomie als öffentliche Stimmabgaben, die zu externen Einflussnahmen (Stimmenkauf oder Erpressung) einladen. Aber auch geheime Wahlen bleiben natürlich manipulationsanfällig – die unterschiedlichen Methoden der Auszählung (einfache Mehrheit, relative Mehrheit, Condorcet-Regel, die de Hond’sche Sitzvergabe etc.) führen bei gleichen Präferenzverteilungen zu unterschiedlichen Wahlergebnissen und sind somit ein Einfallstor für manipulative Zugriffe (vgl. Poundstone 2008). Fehlerfrei durchgeführte Losverfahren haben demgegenüber die Eigenschaft, absolut verfahrensautonom und damit im höchsten Grade neutral zu sein. Weder gute Gründe noch intensive Präferenzen oder starke Interessen können bei einem Losverfahren den Ausschlag geben. Will man ein Verfahren finden, das gegenüber diesen klassischen Entscheidungsfaktoren absolut neutral ist, so bietet sich die Lotterie als bestes Verfahren an. Aus der reichhaltigen neueren Literatur zum Losverfahren lassen sich insgesamt fünf zentrale Argumentationsfiguren herausdestillieren, mit denen dessen Einsatz legitimiert werden kann. 2.1. Das Dezisions-Argument Im heutigen politischen Betrieb fungiert das Los seit langem vielfach und unbestritten als vorsorgliches Instrument eines ‚tie-breakers‘. Vor allem in Parlamenten stoßen wir auf verschiedene Situationen, in denen der Losentscheid vorgesehen ist – häufig rein vorsorglich, ohne tatsächlich zum Einsatz zu kommen. In der Bundesrepublik entscheidet ein vom Kreiswahlleiter zu ziehendes Los in Bundestagswahlen bei Stimmengleichheit der Erststimmen über den Gewinner des Direktmandates in einem Wahlkreis (was jedoch noch nie der Fall war). Dass solche vorsorglichen Regelungen hilfreich sind, illustrieren Beispiele aus der kommunalen Politik. In mehreren Gemeinden in der Bundesrepublik sind derzeit Bürgermeister und Landräte im Amt, die nach einem Stimmenpatt im Losverfahren ge-

6

Zum Konzept der Verfahrensautonomie (hier bezogen auf Gerichtsverfahren) vgl. Luhmann 1969, S. 69–75 sowie (bezogen auf Wahlen) Stollberg-Rilinger 2001, S. 15–19.

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gen ihre Mitbewerber gewannen (als Instrument dienen gern Zettel, die in Plastikhüllen aus ‚Überraschungs-Eiern‘ gesteckt werden).7 Weitere ‚Tie-Breaker‘-Funktionen kommen dem Los im politischen System der Bundesrepublik in der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, zu. Hier wird das Los dann relevant, wenn Parteien wegen gleicher Stärke in einem Landesparlament Anspruch auf denselben Sitz in der Versammlung erheben können. Bei knappen Konstellationen in der Bundesversammlung kann das Los also durchaus die Wahl mitentscheiden. Auch der Bundestag kennt in seiner Geschäftsordnung die Lotterie. Bei der Wahl des Bundestagspräsidenten fällt das „Los durch die Hand des amtierenden Präsidenten“8 die Entscheidung, wenn nach drei Wahlgängen kein Kandidat die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen sollte. Auch die Reihenfolge der Fraktionen, die bei der Vergabe der Ausschussvorsitze entscheidend ist, wird bei gleicher Fraktionsstärke per Los festgelegt.9 Die gleiche Regelung findet sich weiterhin in den meisten Geschäftsordnungen der Landtage, wobei in Bayern bei allen Wahlen – also auch der des bayrischen Ministerpräsidenten – im Falle eines Patts bei Stichwahlen das Los eingesetzt wird.10 In allen diesen Fällen übt das Los die Funktion eines Indifferenzregulationsinstrumentes aus, dient also als Entscheidungshilfe zwischen zwei Möglichkeiten, die jede für sich gleich gute Gründe oder gleich viele Stimmen auf sich vereinigen kann. Es ist eine der seltenen Konstellationen im Bereich der Politik, die sich mit Jon Elster als Fälle von ‚indifference‘ (vgl. Elster 1989, S. 116 f.) rubrizieren lassen und bei denen die Option für das Los Ausdruck einer politischen ‚Rationalität zweiter Ordnung‘ ist. Das Los kommt in diesen Fällen erst dann zum Zuge, wenn andere Verfahren wie die Wahl, die Abstimmung oder die Beratung zu keinem Ergebnis geführt haben, auf eine Entscheidung aber nicht verzichtet werden soll oder kann. 2.2. Das Egalitäts-Argument Diesem Argument zufolge symbolisieren Lotterien nicht nur, sondern realisieren auch in unübertreffbarer Weise die Gleichheit aller an dem Verfahren Beteiligten. Da Lotterien neutral und verfahrensautonom sind, sind vor ihr alle, die sich daran beteiligen, absolut gleich in dem Sinne, dass für alle die gleiche Wahrscheinlichkeit gilt, dass das Los auf sie fällt. Bei diesem Argument wird vorausgesetzt, dass sämtliche Teilnehmer an der Lotterie über die gleiche Anzahl an Losen verfügen (bei einer ungleichen Anzahl würde es sich um eine gewichtete Lotterie handeln). 7

Vgl. ‚Bürgermeister-Lotterie‘. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. April 2008, S. 1. Das Oberlandesgericht Thüringen hat diese Praxis zuvor ausdrücklich für rechtens erklärt (vgl. Urteil des OVG Thüringen vom 27. Mai 2007). 8 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 26. September 2006, § 2 (2). 9 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 26. September 2006, § 11 (2). 10 Geschäftsordnung für den Bayrischen Landtag vom 9. Juli 2003, § 45.

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Das Losverfahren ist dann für Entscheidungen angebracht, wenn deren Ziel darin besteht, an keiner Stufe des Verfahrens die Gleichheit unter den Beteiligten zu verletzen. Das historische Paradigma für die egalitäre Nutzung von Lotterien in der Politik ist die Auslosung von Ämtern im antiken Griechenland. 2.3. Das Repräsentativitäts-Argument Ein drittes Argument setzt bei den spezifischen Repräsentationseffekten von Auslosungen für politische Ämter an. Als Vorzug der Auslosung von Positionen in Parlamenten und anderen größeren politischen Körperschaften wird in dieser Argumentationsfigur die damit erzeugbare faire Repräsentation reklamiert. Das Idealbild, das einer solchen Repräsentationsvorstellung zugrundeliegt, sind Gremien, in denen die in ihnen vertretenen Personen zum Vorteile der gemeinsamen Beratungen die soziale Heterogenität der gesamten Gesellschaft zum Ausdruck bringen (‚mirror representation‘, wie dieses Bild von Hannah Pitkin genannt wurde, vgl. Pitkin 1967, S. 71–75). 2.4. Das Effizienz-Argument Als vierter Vorzug lassen sich eine Reihe von Eigenschaften und potenziellen Konsequenzen von Losverfahren zusammenfassen, die in Hinblick auf die Steigerung von Effizienz legitimiert werden können. Dazu gehört zum einen der Hinweis darauf, (a) dass Lotterien absolut treffsicher sind und damit keine zusätzlichen Entscheidungskosten aufwerfen. Wie kompliziert das Thema auf der politischen Agenda auch immer sein mag – eine Entscheidung per Lotterie bedarf keines nachgeordneten Entscheidungsverfahrens. Würfel kennen nur die Zahlen 1 bis 6 und die damit vorher vereinbarten Optionen; ungleich lange Hölzchen verändern ihre Länge während der Ziehung nicht; die Münze fällt immer auf eine von zwei Seiten und steht niemals hochkant. Das Ergebnis einer Lotterie ist eindeutig und bedarf keiner weiteren Interpretationsleistung. Lotterien kennen kein ‚Patt‘ und somit auch keine aufwändigen Wiederholungen der gesamten Entscheidungsprozedur. Zur Effizienz-Legitimation gehört des Weiteren (b), dass eine Lotterie ein in der Regel kostengünstiges Verfahren ist. Verglichen mit den meisten anderen politischen Prozeduren kommen Lotterien mit einem geringen Aufwand an Zeit und anderen Ressourcen aus. Schon im antiken Athen wurden die technischen Vorteile von Lotterien mit imposanten technischen Apparaturen so weit perfektioniert, bis es möglich war, innerhalb weniger Minuten aus tausenden der anwesenden Bürger kleine und große Richtergruppen auszulosen. Aber auch Situationen von ‚indeterminancy within limits‘ (Jon Elster) gehören zu dieser Gruppe. Das sind Situationen, in denen beispielsweise mehrere Bewerber für eine bestimmte Tätigkeit in allen relevanten Hinsichten sehr gut geeignet sind und es erhebliche Kosten verursacht, weitere Qualitätsunterschiede zwischen ihnen herauszufinden. Wenn die Kosten der Qualitätsermittlung höher sind als der Ge-

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winn, den man davon hat, den Allerbesten eingestellt zu haben, kann es als vernünftiger erscheinen, den Zufall entscheiden zu lassen. 2.5. Das Produktivitäts-Argument Komplementär zum Kostensenkungsargument lassen sich Losverfahren auch mit der Vermutung begründen, dass sie in bestimmten Situationen zusätzliche produktive Effekte zur Konsequenz haben. Dies sind in der Regel indirekte Effekte. So hat beispielsweise der Rückgriff auf das Los bei der Festlegung von Kontrollstichproben eine lang zurückreichende Praxis. Seit dem 13. Jahrhundert wurden in der englischen Finanzpolitik auf Märkten mit Zufallsstichproben Münzen daraufhin untersucht, ob sie den Vorgaben der Krone entsprachen.11 Heute ist diese Form der Erzeugung von Unsicherheit bei der Auswahl von Stichprobenkontrollen weltweit verbreitet. Wir kennen Zufallsauswahlen bei so unterschiedlichen Materien wie Steuererklärungen, Betriebsprüfungen, Dopingtests, Hygieneuntersuchungen oder Nahrungsmittelkontrollen. Der Grundgedanke ist in allen Fällen identisch: Alle den Regeln Unterworfene werden in Unsicherheit darüber gelassen, ob und wann eine gründlichere Kontrolle vorgenommen wird und werden dadurch angehalten, sich permanent an das Regelwerk zu halten. Mit derselben Funktionslogik arbeitet die Behauptung, dass Losverfahren eine Art Korruptionsvorbeugung bieten. Schon in der älteren politischen Ideengeschichte stoßen wir auf die Beobachtung dieses Effekts, etwa wenn Aristoteles über die Polis Heraia berichtet, dass dort das Wahlverfahren wegen Stimmenkäufen durch das Losverfahren ersetzt worden war.12 Der daraus zu gewinnende Grundgedanke lautet: Tätigkeiten, die anfällig für Korrumpierungsversuche sind, werden dadurch in ihrer Integrität geschützt, dass mittels des Losverfahrens ein hohes Maß an Unsicherheit und Unplanbarkeit produziert wird. Das Los fungiert auf diese Weise gleichsam als ‚Anti-Korruptivum‘. Auf diesem Grundgedanken basieren die heutigen Praktiken in einigen Ländern, Polizeiteams regelmäßig per Los neu zusammenzustellen oder in staatlichen Bürokratien die Mitarbeitergruppen nach dem Zufallsprinzip regelmäßig neu zu mischen (vgl. Hood 1995, S. 214–217).

11 Vgl. zu diesem und den anderen Beispielen die Hinweise in Duxbury 1999, S. 81 ff. 12 Aristoteles, Politik, 1303a17. Ein anderes Beispiel aus dem antiken Athen sind die Beamtenkommissionen, die für den Bau und für den Erhalt der Kriegsflotte in Piräus zuständig waren; sie wurden per Losverfahren für ein Jahr ermittelt und machten es Schiffbauern und anderen interessierten Kreisen dadurch schwer, die kommenden Mitglieder im Vorfeld zu erpressen oder anderweitig zu korrumpieren.

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2.6. Die Unabhängigkeit der Begründungen Jede der fünf Argumentationsfiguren setzt bei einem konkreten Problem an und behauptet, dass die Lotterie ein geeignetes Verfahren anbietet, um dieses Problem zu lösen. In keiner der fünf Argumentationsfiguren wird das Los als genereller Ersatz für alle anderen praktizierten politischen Entscheidungsverfahren ins Spiel gebracht, sondern immer nur als eine sinnvolle Ergänzungsoption. Zu jedem der fünf Argumente lassen sich kontextspezifische Gegenargumente anführen: So lässt sich einwenden, dass Lotterieentscheidungen es erleichtern, sich vor schwierigen Entscheidungen ‚zu drücken‘; dass sich Lotterien leicht manipulieren lassen; dass ausgeloste Amtsträger keinen Anlass für die Vermutung bieten, ihr Amt kompetent und verantwortungsvoll auszuüben; oder dass sich politische Akteure durch die Irrationalität des Losens nicht binden lassen – diese und andere Bedenken und Einwände13 gilt es jeweils sehr genau gegenüber den Vorteilen von Losentscheidungen abzuwägen. Häufig erweisen sich Losverfahren dann gegenüber anderen Verfahren als unterlegen und sollten nicht zur Anwendung gebracht werden. Manchmal allerdings überwiegen deren Vorteile. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang aber eine andere Feststellung: Die fünf Pro-Argumentationsfiguren lassen sich vollständig voneinander isolieren und beanspruchen unabhängig voneinander Geltung. Mit anderen Worten: Der Einsatz des Loses muss nicht der Erweiterung von Partizipationschancen dienen und muss auch nicht darauf abzielen, ein anderes Repräsentativitätsdogma durchzusetzen, sondern kann auch darauf zielen, die Effizienz einer politischen Institution zu erhöhen. Die verschiedenen Richtungen und Strömungen der aleatorischen Demokratietheorie bilden also keine Einheit in dem Sinne, als dass man sie dem radikaldemokratischen oder partizipatorischen Lager zuschlagen könnte. Während einige Begründungen für Losverfahren damit eine Erhöhung der Input-Legitimität politischer Prozesse bezwecken, stellen andere die Output-Legitimität in den Vordergrund der Argumentation. 3. LOSVERFAHREN IN DER PRAXIS DER PARTIZIPATIVEN DEMOKRATIE Am Beginn des praktischen Einsatzes von Losverfahren für die Erweiterung demokratischer Partizipationsformen standen unabhängig voneinander in den 1970er Jahren in Deutschland Peter Dienel mit seiner ‚Planungszelle‘ (vgl. Dienel 2002) und in den USA Ned Crosby mit seiner ‚Citizen Jury‘ (vgl. Crosby/Nethercut 2004). Den großen Durchbruch hatte die Idee aber erst mit den seit Ende der 1980er Jahre von James S. Fishkin begonnenen ‚Deliberative Opinion Polls‘. Im Folgenden möchte ich deshalb zunächst auf einige Befunde der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung zu den Pilotprojekten nach dem Muster von Fishkin 13 Für eine Übersicht der Gegenargumente mit weiteren Literaturhinweisen vgl. Buchstein 2009, S. 315–335.

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eingehen (3.1.). Anders als in den ‚Planungszellen‘, Citizen Juries‘ und ‚Deliberative Opinion Polls‘, bei denen die ausgelosten Bürger eine Beratungsfunktion für Politiker übernehmen sollen, hat es in der Vergangenheit auch eine Reihe an Vorhaben gegeben, bei denen den ausgelosten Bürgern auch politische Entscheidungskompetenzen zugemutet wurden. Drei solcher Beispiele möchte ich wenigstens kurz skizzieren, um die facettenreiche Funktion von Losgremien illustrieren zu können: zunächst die Arbeit eines reinen (quotierten) Losgremiums bei einem Reformvorhaben zum Wahlrecht in Kanada (3.2.), dann die Tätigkeit einer gemischt zusammengesetzten Kommission zur Festsetzung der Diäten im Staate Washington in den USA (3.3.) sowie zuletzt den Einsatz von lokalen Losgremien auf kommunaler Ebene in einem autoritären politischen System (3.4.). 3.1. James S. Fishkins ‚Deliberative Opinion Poll‘ James S. Fishkin und seine Mitarbeiter und ihnen nachfolgend diverse andere Projektgruppen haben in verschiedenen Ländern (neben den USA in Bulgarien, Kanada, Taiwan, Ungarn, Australien, Großbritannien, Dänemark und Deutschland) mehr als fünfzig von ihnen so bezeichnete ‚Deliberative Opinion Polls‘ durchgeführt,14 sozialwissenschaftlich begleitet und weiterentwickelt.15 Ungeachtet einiger Unterschiede im Detail folgen sie demselben Grundmuster: Zuerst wird aus einer Region (oder aus einem Land) eine repräsentative Gruppe an Bürgern eingeladen, sich gegen ein Salär über mehrere Tage zu treffen, um gemeinsam zu einem bestimmten, gerade aktuellen politischen Thema zu beraten, sich über unterschiedliche Optionen sachkundig zu machen und dann eine Entscheidungsempfehlung zu erarbeiten. Beispiele bisheriger Pilotprojekte waren familienpolitische Fragen (USA), die Steuerpolitik (England), die Einführung des Euro (Dänemark), die Abschaffung der Monarchie (Australien) oder die Verteilung von zusätzlichen Steuereinnahmen auf lokaler Ebene (China). Die Bezeichnung ‚Deliberative Opinion Poll‘ ist als Kontrastformel zur klassischen Meinungsumfrage (‚poll‘) gewählt worden. Bei Umfragen werden zumeist uninformierte Bürger über Fragen, die sie in der Regel bis dato nicht interessierten, mit Antwortoptionen konfrontiert und das aus ihren Reaktionen gebildete Umfrageergebnis wird von den fragenden Sozialwissenschaftlern als Ausdruck des ‚authentischen Bürgerwillens‘ präsentiert. Doch derlei Umfragebefunde, so die Kritik von Fishkin, sind keine echten politischen Willensäußerungen, sondern lediglich sozialwissenschaftliche Artefakte. Als „pseudo-opinions in 14 Vgl. die programmatische Schilderung des Ansatzes in Fishkin 1991, S. 81–103 und Fishkin 1995. 15 Vgl. die Übersicht über die bisherigen Erfahrungen auf Seiten der Projektinitiatoren bei McCombs/Reynolds 1999, Ackerman/Fishkin 2004, S. 44 f., Fishkin/Luskin 2005, Fishkin/Farrar 2005 und Font/Blanco 2007. Für eine generelle Einordnung der ‚Deliberative Opinion Polls‘ im Zusammenhang mit anderen Verfahren deliberativer Beteiligungsverfahren vgl. Feindt 2001, S. 345–349, Smith/Wales 2006, Goodin/Dryzek 2006, Brown 2006, Sintomer 2007 und 2010, Buchstein 2010, Gastil/Weiser 2010 sowie Dryzek/Hendriks 2012.

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the echo-chamber“ (Fishkin 1995, S. 80) sollten sie deshalb auch keine Bedeutung für politische Entscheidungen haben dürfen. Demgegenüber ist es das Ziel der Initiatoren des ‚Deliberative Opinion Poll‘, den politischen Willen von Bürgern zu ermitteln, nachdem sie sich informiert haben und über die zur Entscheidung stehende Frage haben nachdenken können. Dabei geht man davon aus, dass die politische Meinung der an deliberativen Prozessen Beteiligten qualitativ beeinflusst wird. Oder, wie Fishkin diese Erwartung formuliert: „The challenge for the experiment was whether the participants would change over the course of the weekend. If a deliberative poll gave results identical to an ordinary poll, it would not be worth investing in such an elaborate project again“.16

Um derartige Willensbildungsprozesse untersuchen zu können, muss eine Gruppe von Bürgern sich auf ein solches deliberatives Verfahren einlassen. In der Praxis heißt das zweierlei: Zum einen ist eine sozialstatistisch repräsentative Auswahl dieser Bürger notwendig (hierin unterscheidet sich der ‚Deliberative Opinion Poll‘ in keiner Hinsicht von der konventionellen Meinungsumfrage) und zum anderen müssen die deliberativen Prozesse so gestaltet sein, dass sie tatsächlich zu Informations- und Reflexionsgewinnen führen. Ich gehe im Folgenden etwas detaillierter auf die Arbeit in den bislang durchgeführten Projekten ein, um die Funktion des Losens dabei genauer markieren zu können. Das Erfordernis der sozialstatistischen Repräsentativität wird direkt durch den Rückgriff auf Auslosungssysteme erfüllt. In den bisherigen Projekten werden potenzielle Teilnehmer mit Hilfe von computergesteuerten Zufallsgeneratoren telefonisch kontaktiert und eingeladen.17 Das zweite Erfordernis der Bereitstellung einer möglichst konstruktiven Deliberationssituation wird durch eine ausgetüftelte inhaltliche Vorbereitung und durch die diskursive Choreographie der Treffen erfüllt. Auch dabei kommt das Los wieder zum Zuge. Die von Fishkin und seinem Team auf nationaler Ebene durchgeführten Pilotprojekte versammeln jeweils 300 bis 500 Teilnehmer für ein langes Wochenende an einem festen Ort. Die Teilnehmerzahl soll groß genug sein, um eine gewisse statistische Repräsentativität zu erhalten, aber klein genug, um diskursive Prozesse in Kleingruppen und in Plena mit der Unterstützung professioneller Moderatoren organisieren zu können. Mittlerweile sind zu einer Reihe von ‚Deliberative Opinion Polls‘ Ergebnisse der Begleitforschung publiziert worden und auf dieser Basis lässt sich eine erste Bilanz der Projektidee ziehen.18 Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich die mit dem Losverfahren intendierte sozialstatistische Repräsentativität der Beteilig16 Fishkin 1991, S. 167. 17 Zu den Rekrutierungsmethoden vgl. Fishkin/Farrar 2005, S. 74 f. und Fishkin/Luskin 2005, S. 288 f. 18 Neben der Auswertung der Befunde vonseiten ihrer Initiatoren (vgl. die Zusammenfassungen bei Ackerman/Fishkin 2004, S. 40–74, Fishkin/Farrar 2005, S. 75–85, Fishkin/Luskin 2005, S. 290–294) gibt es eine Reihe an Beiträgen, in denen diese Auswertungen weiter diskutiert werden. Zur Debatte über die Befunde vgl. als Überblicke Merkle 1996 und Schweitzer 2004, S. 83–105.

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ten vergleichsweise gut realisieren ließ. Die Zahlen variieren zwar zwischen einzelnen Projekten, insgesamt lagen die sozialstatistischen Verteilungen aber noch über denen konventioneller Meinungsumfragen.19 Auch wenn die zusammengekommenen Gruppen den sozialstatistischen Querschnitt nicht exakt erreichten,20 so verfügten sie doch über einen deutlich höheren Grad an sozialer Heterogenität als sämtliche Institutionen des regulären politischen Betriebes. Ein robuster Befund aus den bislang abgehaltenen ‚Deliberative Opinion Polls‘ ist, dass sich im Zuge der Beratungen auf der Aggregatdatenebene deutliche Veränderungen der Meinungen bei den Beteiligten ergeben haben (vgl. Merkle 1996, S. 612 f. und Carson/Martin 1999, S. 112 f.). Bei den individuellen Änderungen handelt es sich um einen Prozess von „political learning“ (Fishkin/Farrar 2005, S. 76) mit kognitiv ausgereifteren neuen Positionen. Sie basieren auf mehr Faktenwissen, sind logisch schlüssiger, tragen der Komplexität der Problemstellung Rechnung und sind auch bezüglich der eigenen Wertefundamente konsistent.21 Mit Blick auf die interne politische Kommunikation in solchen deliberativen Gremien ist ein weiterer empirischer Befund erwähnenswert. Cass Sunstein hatte in seiner einflussreichen Kritik das „law of group polarization“ (Sunstein 2003: S. 81) angeführt, wonach gemeinsame Diskussionen den Effekt haben, dass die gesamte Gruppe am Ende eine extremere Position einnimmt als zuvor. Sunstein hatte als Beleg für dieses angebliche ‚Gesetz‘ unter anderem Laborversuche mit Probanden erwähnt, die so tun sollten, als ob sie in einem Geschworenengericht diskutierten (und sich über die Simulation im Klaren waren). Die empirischen Befunde aus der wissenschaftlichen Begleitung der tatsächlichen Beratungen in den ‚Deliberative Opinion Polls‘ finden nicht nur keine Anhaltspunkte für die These von Sunstein, sondern widersprechen ihr sogar ausdrücklich (vgl. Ackerman/ Fishkin 2004, S. 63 f. und Fiskin/Luskin 2005, S. 292–294): Die Teilnehmer entwickeln ein signifikant messbar besseres Verständnis für die Positionen anderer und sind eher geneigt, von eigenen Überzeugungen Abstriche zu machen. Sunstein hat in seiner Reaktion auf diese Befunde fünf positive Eigenschaften im Arrangement der ‚Deliberative Opinion Polls‘ genannt (vgl. Sunstein 2003, S. 96–98). Zum einen stimmen die Projektteilnehmer nicht gemeinsam als Gruppe ab, sondern die Abstimmungen erfolgen einzeln und geheim. Dann lassen sich die Gruppen mit Experten konfrontieren, denen die Teilnehmer Fragen stellen können. Drittens werden die Beratungen in den ausgelosten Kleingruppen regelmäßig von Phasen unterbrochen, in denen die Gruppenangehörigen im Plenum oder zusammen mit Experten diskutieren, wodurch neue Gesichtspunkte hinzukommen. 19 Zum Vorwurf der mangelnden Repräsentativität vgl. Mitofsky 1996, vgl. dagegen aber Merkle 1996, S. 595–600, Schweitzer 2004, S. 54–56, Fishkin/Luskin 2005, S. 290 sowie aus demokratietheoretischer Sicht Brown 2006, S. 217–221. 20 Höhere Verzichtsraten auf das Teilnahmeangebot gab es in den USA vor allem bei überzeugt wirtschaftsliberal eingestellten Anhängern der Republikanischen Partei sowie bei Angesprochenen aus der Unterschicht. Zum Problem der Selektivitäten der freiwilligen Teilnahme vgl. Ackerman/Fishkin 2004, S. 48 f. 21 Vgl. zur Interpretation dieser Befunde auch Habermas 2008, S. 151–155.

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Viertens verhindert die Gesprächsführung in den Gruppen durch professionelle Moderatoren, dass eine Mehrheit der Gruppe gegenüber einzelnen Gruppenangehörigen polarisiert. Und fünftens schließlich sorgt die Rekrutierung der Beteiligten per Los dafür, dass in den Kleingruppen eine relativ bunte Palette an Positionen und gesprächskulturellen Praktiken aufeinandertrifft. In Verbindung mit den anderen moderierenden Faktoren erschwert die soziale Heterogenität das vorschnelle Durchsetzen von sich radikalisierenden Mehrheitspositionen und öffnet den Horizont für bislang ignorierte Ansichten. Dem Losen kommt in diesem Arrangement also eine durchaus nicht unwichtige Bedeutung für die „Beschaffenheit“ (Habermas) deliberativer Prozesse zu. Offenbar gilt das ‚law of group polarization‘ nur für Gruppen, die vergleichsweise homogen zusammengesetzt sind und in denen abweichende Positionen eine Außenseiterrolle einnehmen. Diese Vermutung lässt sich mit Befunden aus anderen empirischen Analysen von deliberativen Verfahren erhärten, zu denen David Ryfe und John Gastil im Rahmen ihrer vergleichenden qualitativen Forschungen gelangt sind. Sie stellten fest, dass homogene Gruppenzusammensetzungen eher radikalisierende Dynamiken freisetzen, während Gruppenheterogenität ein wichtiger Faktor für die von deliberativen Prozessen erhofften positiven Effekte ist (vgl. Ryfe 2002, S. 364 f. und Gastil/Weiser 2010). 3.2. Die (gescheiterte) Wahlrechtsreform in British Columbia Während bei den geschilderten ‚Deliberative Opinion Polls‘ die ausgelosten Bürger lediglich eine Beratungsfunktion für Politiker übernehmen sollen, gibt es seit einigen Jahren auch einige Beispiele für ausgeloste Gremien, deren Mitglieder politische Entscheidungskompetenz zugewiesen bekommen haben. Ein Beispiel ist die (gescheiterte) Wahlrechtsreform im kanadischen Bundesstaat British Columbia. Seit den 1980er Jahren gab es im kanadischen Bundesstaat British Columbia wiederholt Kritik an dem dort bestehenden Westminster-Wahlmodell und den Wunsch verschiedener politischer Kräfte, es durch ein proportionales Wahlrecht zu ersetzen. Die regierende konservative Partei, die gegen diese Änderung war, wurde 2001 abgewählt. Die neu an der Regierung stehenden Liberalen entschlossen sich, die im Wahlkampf angekündigte Reform in Angriff zu nehmen. Anstatt aber nun einen eigenen Wahlrechtsvorschlag zu erarbeiten und ihn mit ihrer Mehrheit durch die Parlamente zu bugsieren, entschloss sich die Regierung für ein anderes Vorgehen: Sie übertrug das Vorschlagsrecht für die Wahlrechtsneuerung einer ‚Citizen‘, die sich aus 160 Bürgern aus den achtzig Distrikten British Columbias zusammensetzte.22 Aus jedem Wahldistrikt wurden jeweils eine Frau und ein Mann ausgelost. Die Citizen Assembly traf sich an mehreren Wochenenden, lud Experten zur Beratung ein, hielt öffentliche Anhörungen ab und arbeitete sich durch mehrere hundert Einzelvorschläge, die nach einem öffentlichen Aufruf eingegangen waren. Nach knapp einem Jahr entschied sie sich mit 22 Vgl. zu diesem Fallbeispiel die Beiträge in Warren/Pearse 2008.

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großer Mehrheit für das ‚single transferable voting system‘ (bei dem die Wähler die Kandidaten in einer eigenen Präferenzreihenfolge auflisten können). Dieses Ergebnis wurde zum Vorschlag, der dann im Mai 2005 zu der von der Verfassung geforderten Volksabstimmung stand. In den folgenden Monaten geriet dieser Änderungsvorschlag dann allerdings doch noch zwischen die Fronten parteipolitischer Polarisierungen, weil zwei Parteien, die sich Verluste von der neuen Regelung ausrechneten, massiv Front gegen den Vorschlag machten. Am Tag der Abstimmung erhielt der Vorschlag zwar eine klare Zustimmung von 57 Prozent der abgegebenen Stimmen – für eine Änderung des bisherigen Wahlrechts reichte das allerdings nicht aus, weil laut kanadischer Verfassung für Wahlrechtsänderungen eine qualifizierte Mehrheit von 60 Prozent erforderlich ist. Auch ein zweiter Abstimmungsgang vier Jahre später scheiterte Ende 2009 an der 60-Prozent-Hürde. Angesichts des in der Verfassung festgelegten Abstimmungsquorums wirkt der Entschluss der Regierung von British Columbia, die Wahlrechtsreform an eine ausgeloste ‚Citizen Assembly‘ gleichsam auszulagern, aus legitimationspolitischer Perspektive weniger selbstlos, als es auf den ersten Blick anmuten könnte. Wahlrechtsfragen sind bekanntlich immer Machtfragen, weil ihre Entscheidungslogik auf dem Wissen basiert, dass diejenigen, die neue Wahlgesetze machen, auch diejenigen sein werden, die davon zukünftig Vor- oder Nachteile haben werden. Die Regierung von British Columbia musste, wenn sie ihr Versprechen einer Wahlrechtsänderung einlösen wollte, auf einen Weg sinnen, der sie möglichst nicht in den Verdacht bringen konnte, sie wolle das neue Wahlgesetz zum Zweck der Erhöhung ihrer eigenen Wiederwahlchancen durchsetzen. Eine Citizen Assembly, deren parteipolitische Neutralität durch die unbestechliche Neutralität des Auslosens verbürgt ist, versprach im Hinblick auf die für die Volksabstimmung notwendige qualifizierte Mehrheit noch die besten Erfolgschancen. Auf diese Weise wurde die Entscheidung über die Reform des Wahlrechts gleichsam legitimationspolitisch ‚outgesourct‘. Dass die Empfehlung der Kommission schließlich zweimal knapp am von der Verfassung geforderten 60-Prozent-Quorum scheiterte, kann man aus dieser Perspektive dann weniger als ein Scheitern der Arbeit der Citizen Assembly deuten, sondern als einen Hinweis dahingehend verstehen, es im erneuten Wiederholungsfall durch ein verfassungsänderndes Gesetz von vornherein mit noch größerer politischer Entscheidungskompetenz auszustatten. Diesen Weg hat man nach 2009 in Island weiter beschritten. In Island, dessen wirtschaftliches System unter dem Druck der Krise des Finanzmarktkapitalismus zusammengebrochen war, wurde eine Bürgerversammlung mit 950 ausgelosten Bürgern damit beauftragt, die Grundlinien einer neuen politischen Verfassung festzulegen und für ein Referendum im Sommer 2011 auszuarbeiten.23 Auch im Hinblick auf die prozedurale Sackgasse, in die die Bundesrepublik Deutschland nach dem am 3. Dezember 2011 novellierten Bundestagswahlgesetz in absehbarer Zeit geraten könnte, kann das Beispiel aus British Columbia Anre23 Vgl. Haroon Siddique: Mob Rule – Iceland Crowdsources its next Constitution. In: The Guardian, 9. Juni 2011.

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gungspotenzial bieten. Nachdem im Juli 2012 das Bundesverfassungsgericht die von der schwarz-gelben Bundesregierung verabschiedete Novellierung mit drastischen Worten verworfen hat, bedarf es angesichts der danach zwischen den politischen Parteien schon wieder heftig geführten Kontroversen über die genaue Zahl der zukünftigen Überhangsmandate eines prozeduralen Neuanfanges. Will man die Neuformulierung des Wahlrechts nicht gleich in die Hände des Verfassungsgerichts legen, dann bietet es sich an, dem kanadischen Modell insoweit zu folgen, dass die Ausarbeitung der Konturen eines revidierten Bundestagswahlrechts einer zu diesem Zwecke ausgelosten Kammer übertragen wird, die öffentliche Anhörungen durchführt und Experten hört und deren Beschluss als Empfehlung an den Bundestag weitergeleitet wird. Ich bin davon überzeugt, dass es auf diese Weise gelingen kann, zu einem fairen und verfassungskonformen Wahlrecht zu kommen, das zugleich auf größere Zustimmung stößt. 3.3. Die Diätenkommission in Washington State Auch bei dem zweiten Fallbeispiel handelt es sich um das ‚Outsourcen‘ einer politisch umstrittenen und damit besonders legitimationsbedürftigen Entscheidung an ein ausgelostes Gremium. Seit den 1970er Jahren hatte es im US-Bundesstaat Washington wachsenden Unmut über die Bezahlung von Politikern und Angehörigen des Öffentlichen Dienstes gegeben. Im Zuge der dadurch ausgelösten Reformdebatten einigten sich 1986 die beiden Parteien und die zwei Parlamentskammern in Washington State in einem verfassungsändernden Gesetz auf die Einsetzung einer neuen Kommission – der Washington Citizens Commission on Salaries for Elected Officials (WCCSEO) –, der zukünftig die Festlegung der Gehälter und Diäten aller gewählten Politiker in Legislative und Exekutive sowie der obersten Richter obliegen sollte. Seit 1987 werden nun die Diäten und Gehälter von dieser 16-köpfigen Kommission festgelegt. Die Kommission ist auf zwei Jahre im Amt und gemischt zusammengesetzt. Sieben ihrer Mitglieder werden von Senat und Repräsentantenhaus für eine Legislaturperiode ernannt und müssen über Expertise im Management-Bereich verfügen. Die anderen neun Mitglieder stammen aus den neun Kongressdistrikten von Washington State und werden dort unter allen wahlberechtigten Bürgern ausgelost. Die Ratio dieser gemischten Zusammenstellung war eine doppelte: Zum einen wollte man mit den sieben Ernannten nicht auf die fachliche Kompetenz von Experten für Gehaltsfragen in dem Gremium verzichten; zum anderen sollte über die Mehrheit der neun Zugelosten sichergestellt werden, dass die Entscheidungen nicht von den speziellen Interessen der Angehörigen des Öffentlichen Dienstes und der politischen Klasse dominiert werden. Seit mehr als 25 Jahren versieht die Kommission ihre Arbeit und legt alle zwei Jahre die Diäten für die gewählten Politiker und Angehörigen des Öffentlichen Dienstes neu fest. Aus Sicht der Initiatoren der Reformidee ist die Tätigkeit der Kommission in mehrfacher Hinsicht als Erfolg zu bewerten. Zum einen hat sich herausgestellt, dass die Gehälter in Washington State nicht markant von denen in anderen ver-

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gleichbaren Staaten der USA abweichen und es deshalb weiter gelingt, kompetentes Personal für Wahlämter zu gewinnen. Zum anderen ist das Thema Gehälter und Diäten in Washington State seit der Reform fast vollständig aus dem Fokus populistischer Hetze und Kritik verschwunden. Ihre erhöhte Legitimität haben die Entlohnungsfestsetzungen nicht auch zuletzt deshalb gewonnen, weil die WCCSEO öffentlich berät und nicht nur die Experten, sondern auch die per Los ermittelten Bürger ihre Entscheidungen gegenüber kritischen Nachfragen erläutern. Erst der Schleier der Neutralität, den die Gehaltsfestsetzung in Washington State seit 1987 durch die Beigabe des Losverfahrens umgibt, hat die Produktion von legitimen Entscheidungen ermöglicht, die in modernen Demokratien ansonsten als besonders prekär gelten.24 3.4. Kommunale Citizen Jurys in China Das dritte Fallbeispiel stammt aus der Volksrepublik China, also einem autoritären politischen Regime. Seit 2005 sind dort in Fortführung von James Fishkins ‚Deliberative Opinion Polls‘ und mit Unterstützung lokaler Eliten der Kommunistischen Partei (KP) in mehreren Kommunen des Landes Bürger ausgelost worden, die eine Einladung erhielten, um über die Verteilung lokaler Steuerüberschüsse in politische Projekte zu entscheiden. Mittlerweile konnte die Tätigkeit einiger dieser Losgremien auch von westlichen Beobachtern näher in Augenschein genommen werden.25 Zumindest in den untersuchten Fällen hielt sich die lokale Parteielite aus den Diskussions- und Entscheidungsprozessen bewusst heraus. Zugleich scheute sie nicht davor zurück, auch solche Entscheidungen dem Votum der ausgelosten Bürger vorzulegen, die von größerer Relevanz für die lokale Entwicklung sind. Die Beteiligungsraten unter den Ausgelosten waren mit 80–90 Prozent vergleichsweise hoch. Und trotz der konfuzianischen Tradition nach Harmoniesuche konnten unter den ausgelosten Bürgern sachlich kontroverse Debatten über die beste Verwendung der Steuermittel, sei es in konkrete Infrastrukturmaßnahmen, Umweltschutzbelange oder den Ausbau von Schulen und Kindergärten, beobachtet werden. Zudem ließ sich beobachten, dass die Ansichten vieler Teilnehmer im Zuge der Debatten aufgrund von neuen Informationen und Argumenten verändert wurden. Insgesamt ähneln die bisherigen Befunde aus China somit denen, die wir von den ‚Deliberative Opinion Polls‘ in westlichen Demokratien kennen. In legitimationspolitischer Hinsicht sind die chinesischen Fallbeispiele insofern bemerkenswert, als wir es hier mit dem Einsatz der unberechenbaren Lotterie in einem politischen System zu tun haben, bei dem die Grundlage aller politischen Berechnungen im autoritären Machterhalt der kommunistischen Einheitspartei 24 Zur Arbeit der Kommission vgl. WCCSEO 2007 sowie die aktualisierten Informationen auf deren Homepage. 25 Die folgenden Angaben basieren auf He 2006 und Fishkin/He/Siu 2006 sowie Gesprächen mit Gil Delannoi (Science Po, Paris), der aktuell zu diesem Thema vor Ort forscht.

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besteht. Wenn die Übertragung von politischer Entscheidungskompetenz an Losgremien aber sogar parteioffiziell zugelassen wird, dann wirft dies die Frage nach der Funktionalität einer solchen Institution für autoritäre Systeme auf. Meines Erachtens besteht die politische Funktion von Losgremien im autoritären Regime Chinas nicht zuletzt darin, dass sie den herrschenden politischen Eliten ermöglichen, den Willen der Bürger über konkrete politische Entscheidungen zu erfahren und ggf. zur Geltung zu bringen, ohne einen organisierten politischen Pluralismus zulassen und ohne vom System der Ein-Parteien-Herrschaft abweichen zu müssen. Jede andere Variante, den Interessen und Wünschen der Bürger mehr Geltung zu verschaffen (z. B. freie Medienöffentlichkeit, institutionalisierte Opposition, neue politische Parteibildungen), würde sofort die Grundlagen des politischen Systems der VR China angreifen. Vor diesem Hintergrund können sich Losgremien in autoritären Regimes durchaus als das System stabilisierende Elemente erweisen. Allerdings stehen sowohl die Praxis von Losgremien in China wie auch die sie begleitenden Forschungen ganz am Anfang, weshalb man über deren längerfristige legitimationspolitische Effekte bestenfalls spekulieren kann. Die Fragen, die sich am bisherigen Stand der Forschung entzünden, lauten unter anderem: Wird sich der Einsatz von Losgremien im autoritären China weiter ausbreiten? Einige Vertreter der Parteielite haben dieses Verfahren unlängst als „innovativ“ gelobt und dessen Ausweitung empfohlen. Aber wird dies geschehen oder werden diese Projekte wieder eingestellt? Dies rührt an weitere Fragen: Welche Nebenfolgen oder gar spill-over-Effekte hat die Einübung einer kontroversen Debattenkultur längerfristig für die politische Kultur in China? Wie steht es um die Qualität der Deliberation, wenn sich auf lokaler Ebene auch die Parteielite in die Debatte einmischt? Und schließlich auch mit Blick auf Demokratien gefragt: Sind solche lokalen Losgremien für ‚Sparpolitik‘ ebenso gut geeignet wie für die Entscheidung über überschüssige Steuermittel?

4. LOSVERFAHREN IN EINER REFORMIERTEN EUROPÄISCHEN UNION Sichtet man die boomende Literatur zum Thema Lotterie nach neuen Reformvorschlägen für den Loseinsatz in modernen Demokratien, so stellt man schnell fest, dass ein Mangel an Phantasie oder Originalität sicher nicht zu den hervorstechenden Eigenschaften dieses Genres zählt. Die Ideen reichen von Wahltermin- und Wahlbezirksauslosungen, der Auslosung von Gesetzen mittels gewichteter Lotterien in Parlamenten, der Abhaltung von Wahlbeteiligungslotterien, der Installation von ausgelosten Parlamenten, der Auswahl von Teilnehmern an Plebisziten per Los bis zur gestuften Mischung von Los- und Wahlmechanismen bei der Besetzung politischer Ämter. Leicht lässt sich dieser Katalog noch ergänzen, etwa um den Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung ‚Globale Umweltveränderungen‘, unter den Bürgern eine ‚Zukunftskammer‘ als eine dritte

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Säule der Demokratie auszulosen (vgl. WBGU 2011, S. 229–231 und Leggewie 2011). Und hält man sich den Wettstreit in den USA zu Beginn des Jahres 2008 und erneut wieder 2012 vor Augen, welcher Bundesstaat den Vorwahlmarathon für die Präsidentschaftskandidaten beginnen sollte (mit dem Ergebnis, dass der Beginn der Vorwahlen immer weiter nach vorn gerückt ist und die USA über ein Jahr im Vorwahlkampf stecken), so ließe sich dieses Problem ganz einfach dadurch bereinigen, dass man zuerst Zeitspanne und Termine der Vorwahlen gemeinsam festlegt und danach in einem zweiten Schritt die Reihenfolge der Vorwahltermine unter den Staaten auslost.26 Auch für eine Reform der im Zuge der gegenwärtigen Krise des Finanzkapitalismus gebeutelten Europäischen Union gibt es Vorschläge, die sich vom dosierten Einsatz des Loses entscheidende Verbesserungen des politischen Systems der EU erhoffen. Dabei müssen sich die Forderungen der ‚Zentristen‘ wie Herfried Münkler nach einer effizienteren EU und die der ‚Demokratisten‘ wie Jürgen Habermas nach einer Stärkung der demokratischen Legitimation der EU (vgl. Habermas 2011) nicht gegenseitig ausschließen. Beiden Zielen kann man mit punktgenauen Einbauten von Losverfahren in das politische System EU näherkommen. Michael Hein und ich haben an anderer Stelle einen solchen Vorschlag zur Diskussion gestellt.27 Er besteht aus mehreren Komponenten. Zum einen der Einrichtung einer gewichteten Lotterie für die Vergabe von EU-Kommissariaten unter den Mitgliedsländern (4.1.) und zum anderen der Einführung einer Loskammer auf EU-Ebene (4.2.). 4.1. Effizienz: Eine gewichtete Lotterie bei der EU-Kommission Beginnen wir mit dem Kriterium der Effizienzerhöhung. Michael Hein und ich haben vorgeschlagen, die EU-Kommission wieder auf 15 Mitglieder einschließlich des Kommissionspräsidenten zu verkleinern – so, wie es im Übrigen bereits der 2005 gescheiterte Verfassungsvertrag vorgesehen hatte. Die politische Ratio dieser Reduktion besteht darin, eine schlagkräftige und effiziente Kommission zu formieren. Die Kompetenzen ihrer Mitglieder hätten dann einen angemessenen Umfang und litten nicht mehr unter dem derzeitigen Regime der Zuständigkeitszersplitterung. Die alle fünf Jahre vorzunehmende Verteilung der 15 Kommissionsplätze auf die (27 oder mehr) Mitgliedsstaaten sollte jedoch nicht ausgehandelt, sondern durch eine gewichtete Lotterie entschieden werden. Mit diesem einfachen Verfahren würde allen Ländern Fairness garantiert. Als Kriterium für die Losgewichtung diente die Bevölkerungszahl der Staaten, wobei wir für die Berechnung der genauen Quoten vorschlagen, analog zum Europäischen Parlament das Prinzip der degressiven Proportionalität anzuwenden. Dieses durch den Lissa26 Zu den genannten und weiteren Reformvorschlägen vgl. Buchstein 2009, S. 397–427 und Stone 2011a, S. 5–14. 27 Die beiden nachfolgenden Vorschläge werden ausführlicher in Buchstein/Hein 2009 und 2011 erläutert.

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bonner Vertrag zur Verkleinerung des Parlaments eingeführte Prinzip sieht eine leichte Unterrepräsentation der großen Mitgliedsländer (um maximal 23 Prozent) und demgegenüber eine deutliche Überrepräsentation der kleinsten Mitglieder (um bis zu knapp 900 Prozent) vor. Damit wird erreicht, dass die kleinen und kleinsten Mitgliedsstaaten eine nennenswerte bzw. überhaupt eine Beteiligung am Parlament erhalten, während das Gewicht der sechs größten Mitglieder leicht abgeschwächt wird.28 Durch eine solcherart gewichtete Verlosung der 15 Plätze in der Kommission erhielte jeder Staat alle fünf Jahre die Chance, maximal ein Kommissionsmitglied zu stellen. Bei der jeweils direkt nach den Europawahlen stattfindenden Lotterie würde in einer öffentlichen Zeremonie ausgelost, welche Länder in der neuen Legislaturperiode in der Kommission vertreten wären. Am sonstigen Modus der Bestellung des Kommissionspräsidenten und der Kommissare änderte sich hingegen nichts. Das Los soll diesen Prozess also nicht etwa entpolitisieren. Der einzige Unterschied zu heute bestünde darin, dass nicht alle EU-Staaten, sondern nur ein Teil von ihnen je ein (und nur ein) Kommissionsmitglied vorschlagen könnten. Aufgrund der enormen Unterschiede der Losquoten wären zwar die großen Länder mit hoher Wahrscheinlichkeit in jeder Kommission vertreten. Demgegenüber hätten die kleinen Länder wohl nicht immer ein Mitglied in der Kommission, erhielten im positiven Fall jedoch ausschließlich einflussreiche Ämter und müssten sich nicht mehr mit einzelnen und für sich genommen eher unbedeutenden Zuständigkeiten wie der „Mehrsprachigkeit“ oder der „Digitalen Agenda“ zufrieden geben. Alle fünf Jahre wären wieder alle Mitgliedsstaaten im Lostopf, gegebenenfalls mit der Bevölkerungsentwicklung angepassten Losquoten. Durch das Gesetz der großen Zahl würde sich dadurch auf lange Sicht in etwa eine Verteilung entsprechend der degressiven Proportionalitätsquoten ergeben – es würde also ein mit dem Europäischen Parlament vergleichbares Maß an Repräsentativität erreicht. Zugleich wäre die vom Vertrag von Lissabon formulierte Anforderung für die Verkleinerung der Kommission erfüllt, „das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten“ zu berücksichtigen.29 Denn auch die jüngste Reform der Europäischen Verträge sieht wie der gescheiterte Verfassungsvertrag eine Verkleinerung der Kommission mittels eines strikt gleichberechtigten Rotationsverfahrens vor (wenn auch nur auf zwei Drittel der Mitgliedsstaaten). Doch diese Regelung wurde von den Staats- und Regierungschefs noch vor dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages ausgesetzt. Der große Vorteil der Auslosung bestünde mithin nicht allein darin, eine handlungsfähige und effiziente Kommission zu schaffen, sondern auch darin, die europäische Politik von den offenbar kaum erfolgreich zu gestaltenden Verhandlungen um den Start eines Rotationsverfahrens zu entlasten, das aufgrund der Gleichbehandlung zudem die großen Mitgliedsstaaten massiv benachteiligen würde. 28 Zur Verdeutlichung: Bei strikter Proportionalität stünde Malta und Luxemburg keines der aktuell 751 Mandate zu. 29 § 17, Abs. 5 EUV.

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4.2. Repräsentation: Ein „House of Lots“ als Zweite Kammer des Europäischen Parlaments Unser zweiter Vorschlag besteht in der Einführung einer gelosten Zweiten Kammer des Europäischen Parlaments. Mit einer solchen Einrichtung ließe sich das Demokratiedefizit der Europäischen Union wirksam reduzieren, denn ein solches „House of Lots“ trüge gleichzeitig zur Stärkung der Partizipation der Bürger als auch der deliberativen Qualität der politischen Entscheidungen der EU bei. Wie kann man sich diese europäische Loskammer konkret vorstellen? Sie sollte aus 200 Mitgliedern bestehen, die analog zu der (dann) Ersten Parlamentskammer nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität die Bürger der EUMitgliedsstaaten repräsentieren. Die Abgeordneten würden für jeweils zweieinhalb Jahre im Rhythmus der alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zur Ersten Kammer ausgelost, wobei jeder Bürger zeitlebens höchstens einmal ein Mandat erhalten dürfte. Die Teilnahme an der Lotterie sollte – analog zur Geschworenengerichtsbarkeit etwa in den USA – zu den obligatorischen Pflichten der EUBürger gehören.30 Im Sinne des Zieles einer statistischen Repräsentanz der Bevölkerung wären daher alle Wahlberechtigten zur Teilnahme an der Lotterie verpflichtet, die Gründe für die Ablehnung eines Mandats eng gefasst und die Abgeordnetentätigkeit finanziell und organisatorisch so attraktiv ausgestaltet, dass die denkbaren Benachteiligungen für die ausgelosten Bürger weitgehend ausgeräumt wären. Die Zuständigkeiten einer solchen Loskammer sollten ausschließlich auf Legislativakte bezogen sein. Die Kontrolle des Rates, der Kommission und der anderen europäischen Institutionen verbliebe in der Kompetenz der Ersten Kammer. Für eine Entscheidung benötigte das „House of Lots“ im Sinne einer möglichst hohen deliberativen Qualität jeweils eine Dreiviertelmehrheit aller Mitglieder. Für den Bereich der supranationalen Politikgestaltung schlagen wir folgende Zuständigkeiten vor: x x

x

Erstens sollte die Zweite Kammer in allen Gesetzgebungsfragen jederzeit Empfehlungen für die Erste Kammer, die Kommission und den Rat der EU beschließen können. Zweitens erhielte die Loskammer ein absolutes Vetorecht. Zwischen Beschluss und Erlass aller Legislativakte gälte eine 14-tägige Frist, in der die Kammer den betroffenen Akt zur Begutachtung einziehen könnte. Daraufhin verlängerte sich diese Einspruchsfrist auf 90 Tage, bis zu deren Ablauf die Loskammer den Rechtsakt ablehnen dürfte. Drittens sollte man dem „House of Lots“ ein Initiativrecht zubilligen. Machte es davon Gebrauch, gälte für die anderen EU-Organe aufgrund der Annahme der hohen deliberativen und partizipativen Qualität des Vorschlages ein verkürztes Gesetzgebungsverfahren mit niedrigeren Mehr-

30 Gegen ein reines Freiwilligenmodell, bei dem sich die Teilnehmer zur Loskammer-Lotterie erst anmelden müssten, spricht, dass dann politische Aktivisten überrepräsentiert wären.

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heitserfordernissen, in dem die Erste Parlamentskammer sowie der Rat der Union bereits mit absoluten Mehrheiten dem Vorschlag der Loskammer zustimmen könnten. Die Ratio dieser drei Befugnisse liegt darin, vor allem den Rat gleichsam unter „deliberativen Entscheidungsdruck“ zu setzen. Dabei blieben jedoch die integrativen und stabilisierenden Vorteile qualifizierter Mehrheits- und Einstimmigkeitserfordernisse erhalten, denn die Loskammer könnte diese in der Ersten Kammer sowie im Rat ihrerseits nur mit einer Dreiviertelmehrheit aufheben. Die beiden skizzierten Eingriffsmöglichkeiten des „House of Lots“ – nicht jedoch das Initiativrecht – sollten des Weiteren für diejenigen europäischen Politikbereiche eingeführt werden, in denen das Parlament bisher nicht oder nicht gleichberechtigt beteiligt ist und weitgehend intergouvernemental entschieden wird. Damit könnten diese einer demokratischen Kontrolle bisher weitgehend entzogenen Felder wie bspw. die Außen- und Sicherheitspolitik oder die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen einer wirksamen demokratischen Aufsicht unterstellt werden. Auch hier würde demnach ein „deliberativer Druck“ erzeugt, ohne die Vorzüge des Intergouvernementalismus aufzuheben. Nicht zuletzt sollten alle zukünftigen Änderungen der Europäischen Verträge sowie der Beitritt neuer Mitgliedsstaaten der Zustimmungspflicht der Loskammer unterliegen. Eventuell könnte ihr auch ein Initiativrecht für Vertragsänderungen zugebilligt werden, wobei das weitere Verfahren (vor allem: die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten) selbstverständlich nicht betroffen wäre. Damit würden zum einen alle Entscheidungen über die Grundlagen der Europäischen Integration erstmals wirksam demokratisiert und könnten nicht mehr ohne öffentliche Debatten getroffen werden. Zum anderen wäre die Union gezwungen, zukünftige Beitritte nicht nur rhetorisch, sondern auch faktisch an die Erfüllung klar definierter Kriterien zu binden und die Beitrittsverfahren von Beginn an entsprechend durchzuführen. Bei der Arbeitsorganisation des „House of Lots“ wären mehrere Aspekte zu beachten. Zunächst sollten die Themen in der Regel nicht vollständig im Plenum bearbeitet werden, sondern in ebenfalls durch Losentscheid gebildeten Arbeitsgruppen von beratungsfreundlicher Größe von 15 bis 30 Abgeordneten debattiert und Entscheidungsvorlagen für das Plenum erarbeitet werden. Sodann sollte die Kammer über eine große wissenschaftliche Abteilung verfügen – so groß und differenziert, dass die Abgeordneten sich jederzeit und unabhängig von Lobbyeinflüssen Zugang zu allen für relevant gehaltenen Informationen, Standpunkten, Werten und Interessen der jeweils betroffenen Bürger, Mitgliedsstaaten und Organisationen verschaffen könnten. Schließlich müsste die Kammer über eine ausreichend ausgestattete Petitionsabteilung verfügen, an die sich alle Bürger mit Vorschlägen wenden könnten. Die Finanzierung einer solchen Zweiten Parlamentskammer stellt im Übrigen kein ernsthaftes Problem dar. Es böte sich an, die beiden Kammern einfach auf die bereits bestehenden Parlamentssitze in Brüssel und Straßburg aufzuteilen und damit zudem die Unsinnigkeit der „Parlamentskarawane“ zu beenden. Allein dies

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würde voraussichtlich den Großteil der Kosten der neuen Kammer finanzieren. Sinnvollerweise sollte dabei die eng in den europäischen Politikbetrieb eingebundene Erste Kammer in Brüssel verbleiben, während die Zweite Kammer örtlich getrennt in Strassburg anzusiedeln wäre. Zur Präsentation des Vorschlags, die EU mit einer Art „Glücksrad“ auszustatten, gehört die Ehrlichkeit einzuräumen, dass man sich über dessen Realisierbarkeit keine Illusionen macht. Doch die gegenwärtige Krise – vor allem aber die Krise der Krisenbewältigung – sollte Anlass genug sein, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass die Erörterung unterschiedlicher Zukunftsszenarien für die politische Ordnung in Europa längst zu mehr geworden ist als einem akademischen Glasperlenspiel. 5. SCHLUSS Die aleatorische Demokratietheorie ist ein normatives Projekt mit dem Ziel, die Rationalitätspotenziale des Zufallsprinzips für moderne Demokratien nutzbar zu machen. Mit dem Instrument von klug eingesetzten Losverfahren lassen sich im Idealfall sowohl die partizipativen als auch die repräsentativen und die deliberativen Momente der modernen Demokratie gleichermaßen und simultan stärken. (1) Die sich um das partizipative Moment rankenden Aspekte lassen sich auf drei Annahmen zurückführen: Erstens, dass das Losverfahren als eine Art ‚Suchmaschine‘ für politische Argumente und Talente fungiert, denn es nimmt auch Personen, die sich der Konkurrenz einer Wahl nicht stellen können oder wollen, weil sie eine Ablehnung fürchten oder ihre Wahlchancen für zu gering erachten (und dies dem Los nicht anlasten können), mit in den Pool derjenigen auf, deren politisches Handeln gefragt ist. Zweitens ließe sich argumentieren, dass durch die Tatsache, dass aufgrund des Losverfahrens eine größere Zahl an Bürgern entscheidungsrelevante Einblicke in komplexe politische Materien gewinnt, Phänomene der politischen Entfremdung und Politikerverdrossenheit zurückgedrängt werden. Und drittens ist zu vermuten, dass die von ausgelosten Mandats- oder Amtsträgern getroffenen Sachentscheidungen einen höheren Verpflichtungsgrad hervorbringen, weil sie von den Problemen, Lebenserfahrungen und Werturteilen beteiligter Bürger geprägt sind. (2) Ein zweiter normativer Vorzug demokratischer Lotterien besteht in der damit erzeugbaren fairen Repräsentation. Das Idealbild, das einer solchen Repräsentationsvorstellung zugrunde liegt, sind Gremien, in denen die in ihnen vertretenen Personen zum Vorteile der gemeinsamen Beratungen die soziale Heterogenität der gesamten Gesellschaft zum Ausdruck bringen (‚mirror representation‘, vgl. Pitkin 1967, S. 71–75). Ich will auf die verschiedenen Begründungen für dieses Repräsentationspostulat im Kontext der aktuellen demokratietheoretischen Debatte nicht näher eingehen; selbst Hannah Pitkin, von der in den sechziger Jahren die fulminanteste Kritik an der ‚mirror representation‘ stammte, hat sich angesichts der empirisch evidenten sozialen Selektivitäten in den bestehenden Repräsentationsgremien westlicher Demokratien stärker an dieses Modell angenähert,

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weil sie nur so den Einbezug möglichst vieler relevanter Perspektiven in die politischen Beratungen gewährleistet sieht (vgl. Pitkin 2004).31 Freilich ist mit einem solchen Ideal allein wenig gewonnen. Denn für alle praktischen Umsetzungen der ‚mirror representation‘ anhand zuvor festgelegter Kriterien gilt der Satz von Alfred de Grazia: „representation under any system is biased“ (De Grazia 1951, S. 184). Die Debatte über die Umsetzung der Überlegungen von Iris M. Young zu Quotierungsmodellen hat die Richtigkeit dieser Aussage noch einmal vor Augen geführt: Denn alle praktischen Umsetzungskonzepte zur Herstellung einer in sozialer Hinsicht repräsentativen Demokratie mit den Mitteln von Quotierungen oder Minderheitenrechten kranken daran, dass im Vorfeld politisch entschieden worden sein muss, welche konkreten Merkmale (Geschlecht, Alter, Ethnie etc.) es sein sollen, in deren Hinsicht die soziale Repräsentativität erzeugt werden soll (vgl. Young 2000 und Brown 2006, S. 211 f.). Angesichts dieses mit Quotierungsmodellen niemals zur vollen Zufriedenheit lösbaren Problems kann man in der Lotterie gleichsam den Hieb durch einen gordisch anmutenden Knoten sehen. Denn Auslosungen umgehen das Gruppenidentifizierungsproblem. In größeren Körperschaften wie den genannten Foren der ‚Deliberative Opinion Polls‘ wird die Vielfalt der Gesellschaft zumindest annähernd repräsentiert; aber auch bei der Besetzung von Institutionen mit weniger Personal wie den Konsensus-Konferenzen werden aufgrund des Zufallsprinzips Bürger mit divergenten Gruppenmerkmalen einbezogen. In politischen Systemen, in denen mehrere Gremien per Los besetzt werden, ergibt sich wenigstens im Gesamtbild eine Annäherung an das Ideal der ‚mirror representation‘. (3) Ein dritter Vorzug kann in der Verbesserung der deliberativen Qualität politischer Gremien gesehen werden. Ohne die aus der Forschungsliteratur angeführten Effekte nochmals zu wiederholen, möchte ich in diesem Zusammenhang lediglich noch einmal auf die soziale Heterogenität aufmerksam machen. Für eine Steigerung der deliberativen Qualität von Gremien ist es offensichtlich weniger wichtig, ob die Gremien eine genaue statistische Repräsentanz der Gesellschaft ausweisen, sondern dass sie überhaupt sozial gemischt sind: „In the end, it is diversity that appears to matter most in these procedures. When a group of deliberators are heterogeneous, it is less likely that they will enter into enclave deliberation and reinforce their own positions“.32

Erfahrungen mit per Zufall ermittelten Gruppen haben Folgendes ergeben: Sie sind relativ unparteiisch, eher geneigt, in einen zum Konsens führenden Prozess einzutreten und sie sind weniger geneigt, gegeneinander strategisch zu verhandeln (vgl. Hendriks 2004, S. 29). Die aleatorische Agenda bietet somit eine ganze Reihe an bereits bewährten Formen, an Pilotprojekten und Experimenten sowie an noch der Erprobung harrender Vorschläge zur Erweiterung demokratischer Partizipationsformen. 31 Eine offensive Begründung dieses Repräsentationsideals im Kontext der ideengeschichtlichen Kontroversen über das Repräsentationsprinzip findet sich bei Urbinati 2007 und Thaa 2008. 32 Hendriks 2004, S. 97.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Steffen Albrecht, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medienzentrum der Technischen Universität Dresden und Projektleiter bei der Zebralog GmbH & Co. KG, Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Internetnutzung in Politik und Wissenschaft, Methoden der Onlineforschung. Veröffentlichungen u. a.: Das Internet im Wahlkampf. Analysen zur Bundestagswahl 2009 (hrsg. mit Eva J. Schweitzer), Wiesbaden 2011; Reflexionsspiele. Deliberative Demokratie und die Wirklichkeit politischer Diskurse im Internet, Bielefeld 2010. Martin Baesler, Politikwissenschaftler an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Demokratietheorie und Demokratisierung. Veröffentlichung: Die Freiheit des Individuums als Pointe der politischen Transformation. Eine Analyse des Demokratisierungsparadigmas mit John Dunn und Aristoteles, Würzburg i. E. Hubertus Buchstein, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorie, Geschichte der Politikwissenschaft, Politische Ideengeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Demokratiepolitik. Theoriebiografische Studien zu deutschen Nachkriegspolitologen, Baden-Baden 2011. Ursula Degener, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Wissenschaftliche Politik, Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: politikwissenschaftliche Geschlechterforschung und feministische Theorie, Demokratietheorie, Bürgerschaft und politische Partizipation, vergleichende Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit. Veröffentlichungen u. a.: Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit – feministische Analysen und Perspektiven (hrsg. mit Beate Rosenzweig), Wiesbaden 2006; Konvergenz der Geschlechter- und Generationenverträge: Alterssicherung und Geschlechterregime in Schweden und Deutschland im Vergleich, Freiburg 2007, http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/7646/. Jürgen Gebhardt, Professor emeritus für politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, Vorstandsvorsitzender des Bayerisch-Amerikanischen Zentrums in München. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Vergleichende Politik. Veröffentlichungen u. a.: Americanism, Baton Rouge 1993; Politik, Hermeneutik, Humanität, Berlin 2004; Hrsg., Religious Cultures - Communities of Belief, Heidelberg 2009; Hrsg., Political Cultures and the Culture of Politics, Heidelberg 2010.

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Autorinnen und Autoren

Anna Meine, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Moderne politische Theorie, insb. Demokratietheorie; Regieren jenseits des Nationalstaats. Veröffentlichung: Legitimität weiter denken, Würzburg i. E. Gisela Riescher, Professorin für Politische Philosophie, Theorie und Ideengeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Ideengeschichte, Systemvergleich. Veröffentlichungen u. a.: Politische Theorie der Gegenwart in Einzeldarstellungen von Adorno bis Young (Hrsg.), Stuttgart 2004; Hauptwerke der politischen Theorie (hrsg. mit Theo Stammen und Wilhelm Hofmann), Stuttgart 2007; Freiheit und Sicherheit statt Terror und Angst (Hrsg.), Baden-Baden 2010; Theorien der Vergleichenden Regierungslehre (mit Tobias Haas und Marcus Obrecht), München 2011. Claudia Ritzi, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Postdemokratie, Deliberative Demokratietheorie und empirische Deliberationsforschung, Partizipationsforschung und feministische Demokratietheorie. Veröffentlichungen u. a.: Empirische Deliberationsforschung. MPIfG Working Paper 09/9, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2009 (mit Gary S. Schaal); A second stage. The revitalization of democratic legitimacy with the help of deliberative forums. In: Roemmele, Andrea (Hrsg.): The Governance of Large-Scale Products, Baden-Baden i. E. Beate Rosenzweig, Lehrbeauftragte am Seminar für Wissenschaftliche Politik, Universität Freiburg; stellvertretende Institutsleiterin des Studienhaus Wiesneck, Buchenbach. Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte, Demokratietheorie, Geschlechtertheorien. Veröffentlichungen u. a.: John Locke: Zwischen kontraktualistischer Gleichheit und residualem Patriarchalismus. In: Heinz, Marion/Doyé, Sabine (Hrsg.): Geschlechterordnung und Staat. Legitimationsfiguren der politischen Philosophie (1600–1850), Berlin 2012, S. 119–137; Von der Bedeutung des Privaten für die Politik – Grenzziehungen zwischen oikos und polis bei Platon und Aristoteles. In: Seubert, Sandra/Niesen, Peter (Hrsg.): Grenzen des Privaten, Baden-Baden 2010, S. 25–40. Samuel Salzborn, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Politische Kultur- und Demokratieforschung. Veröffentlichungen u. a.: Demokratie. Theorien – Formen – Entwicklungen, Baden-Baden 2012; Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt/New York 2010.

Autorinnen und Autoren

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Gary S. Schaal, Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Zeitgenössische Politische Theorie, empirische Deliberations- und Demokratieforschung, Methoden der eHumanities und Textmining. Veröffentlichungen u. a.: Introduction to Modern Political Theory, Farmington Hills 2012 (mit Felix Heidenreich); Zeitgenössische Demokratietheorie. Band 1: Normative Demokratietheorien, Wiesbaden 2012 (hrsg. mit Oliver Lembcke und Claudia Ritzi). Mitherausgeber der Zeitschrift für Politische Theorie. Astrid Sigglow, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie, Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dissertationsvorhaben zu Sachzwang und Alternativlosigkeit in politischen Diskursen. Winfried Thaa, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Demokratietheorie, Politische Repräsentation. Veröffentlichungen u. a.: Politisches Handeln. Demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Hannah Arendt, Baden-Baden 2011; Kritik und Neubewertung politischer Repräsentation. In: Politische Vierteljahresschrift 49 (4), 2008, 618–640.

STAATSDISKURSE Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Manuel Knoll, Eun-Jeung Lee, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Gary S. Schaal, Peter Schröder, Virgilio Alfonso da Silva. Franz Steiner Verlag

ISSN 1865–2581

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Reinhard Dorn Verfassungssoziologie Zum Staats- und Verfassungsverständnis von Ernst Fraenkel 2010. 193 S., kt. ISBN 978-3-515-09793-2 10. Samuel Salzborn / Rüdiger Voigt (Hg.) Souveränität Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen 2010. 200 S., kt. ISBN 978-3-515-09735-2 11. Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.) Niccolò Machiavelli Die Geburt des Staates 2010. 235 S., kt. ISBN 978-3-515-09797-0 12. Rüdiger Voigt Staatskrise Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? 2010. 206 S., kt. ISBN 978-3-515-09800-7 13. Salzborn Samuel (Hg.) Staat und Nation Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion 2011. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-09806-9 14. Oliver Eberl (Hg.) Transnationalisierung der Volkssouveränität Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates 2011. 354 S., kt. ISBN 978-3-515-09830-4 15. Rüdiger Voigt (Hg.) Freund-Feind-Denken Carl Schmitts Kategorie des Politischen 2011. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09877-9 16. Tobias ten Brink (Hg.) Globale Rivalitäten Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus

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2011. 225 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09905-9 Andreas Herberg-Rothe / Jan Willem Honig / Daniel Moran (Hg.) Clausewitz The State and War 2011. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-09912-7 Frauke Höntzsch (Hg.) John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff 2011. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-09923-3 Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 2012. 242 S., kt. ISBN 978-3-515-10117-2 Matthias Lemke (Hg.) Die gerechte Stadt Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume 2012. 208 S., kt. ISBN 978-3-515-10148-6 Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.) Tropen des Staates Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938 2012. 208 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10170-7 Tobias Bevc / Matthias Oppermann (Hg.) Der souveräne Nationalstaat Das politische Denken Raymond Arons 2012. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-10179-0 Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.) Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse 2012. 267 S. mit 1 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10281-0

Die westlich-repräsentative Demokratie befindet sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer tiefgreifenden Legitimationskrise. Damit erscheint die Zukunftsfähigkeit demokratischen Regierens angesichts der komplexen inneren und äußeren Herausforderungen keineswegs als ausgemacht. Forderungen nach mehr demokratischer Beteiligung und Transparenz demokratischer Entscheidungsfindung einen die aktuellen bürgerschaftlichen Protestbewegungen von der lokalen bis zur globalen Ebene.

Führt mehr direkte Partizipation zu einer nachhaltigen Demokratisierung des politischen Systems? Und welche Formen demokratischer Partizipation erweisen sich im Rahmen der sich verändernden staatlichen Handlungsmacht als Erfolg versprechend? Ein analytischer Blick auf die Geschichte der politischen Ideen und die aktuellen politischen Theoriediskussionen – wie er hier vorgenommen wird – zeigt mögliche Lösungsansätze, die richtungsweisend sein können für eine neue Verhältnisbestimmung von demokratischer Partizipation und Staatlichkeit.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10281-0