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German Pages 626 [628] Year 1996
Parlamentslehre Das parlamentarische Regierungssystem im technischen Zeitalter
Von Prof. Dr. Jürgen Bellers Dr. Dieter Engels Prof. Dr. Oscar W Gabriel Prof. Dr. Klaus Grimmer Prof. Dr. Everhard Holtmann Uwe Jun Prof. Dr. Dr. Leo Kißler Prof. Dr. Alexander Roßnagel Dipl.-Pol. Gerlinde Sommer Dr. Wolfgang Ulimann MdB Prof. Dr. Raban Graf von Westphalen (Hg.)
Zweite, durchgesehene Auflage
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Die Erarbeitung des Manuskripts wurde von der Gottlieb-Daimler- und Karl-Benz-Stiftung gefordert.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Parlamentslehre : das parlamentarische Regierungssystem im technischen Zeitalter / von Jürgen Bellers... Raban Graf von Westphalen (Hg.). - 2., durchges. Aufl. - Mönchen ; Wien : Oldenbourg, 1996 ISBN 3-486-23810-8 NE: Bellers, Jürgen; Westphalen, Raban Graf von [Hrsg.]
© 1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist uiiieberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmimg des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Falkner GmbH, Inning/A. Druck und Bindung: R Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-23810-8
Inhaltsübersicht Tiefengliederung Vorbemerkung: Hinweise für die Leser Einleitung Abkürzungen
VII XXI XXIII XXV
1. Kapitel: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
1
§ 1 Verantwortung als demokratischer Verfassungsgrundsatz : Grundrechte, Repräsentation, Volkssouveränität und Gewaltenteilung § 2 Parlamentsentwicklung in Deutschland: Von der konstitutionellen Repräsentation zur verantwortlichen Volksvertretung §3 Konstituierung /Wahl und Ende des Parlaments §4 Abgeordneter und Fraktion § 5 Organisation der Parlamente - historische Grundlagen und aktuelle Ausformungen
4 26 43 62 81
2. Kapitel: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland
113
§6 §7 §8
115 135 143
Verfassungsrechtliche Grundlagen Staatsaufgaben und Finanzverfassung Parlamentarisches Regierungssystem
3. Kapitel: Der Deutsche Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem
167
§9 § 10 §11 § 12
171 208 253 302
Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages Verfahren des Deutschen Bundestages Exekutive Berichtspflicht in der Technikfolgen-Abschätzung
. . . .
4. Kapitel: Parlament und Gesellschaft
311
§13 § 14 § 15 §16
314 347 388 405
Parlament und gesellschaftliche Interessen Bürgerbewegungen und Parlament Bundestag, Medien und Öffentlichkeit Parlament und Technik
VI
Inhaltsübersicht
5. Kapitel: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung §17 § 18 § 19 §20
Parlament und technische Entwicklung Rechtsetzung und technische Entwicklung Technische Beratung und Normung Technik und parlamentarische Souveränität
. . . .
429 431 437 450 460
6. Kapitel: Die Parlamente in Kommunen und Ländern und das Europäische Parlament
469
§21 Kommunale Demokratie §22 Landesparlamente §23 Parlamentarische Souveränität und europäische Integration
471 489 514
Perspektiven: Problemstellungen der Industriegesellschaft
529
Autorenverzeichnis Hilfsmittel Gesamtbibliographie Stichwortregister
535 537 555 593
Tiefengliederung 1. Kapitel: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
1
§ 1 Verantwortung als demokratischer Verfassungsgrundsatz: Grundrechte, Repräsentation, Volkssouveränität und Gewaltenteilung
4
Gerlinde Sommer Einleitung
4
I. Menschenwürde und Grundrechte: Norm und Fürsorgepflicht im demokratischen Verfassungsstaat 1. Naturrecht und Treuhänderschaft 2. Grundrechte und -pflichten als konstitutive Elemente politischer Verantwortung 3. Menschenwürde als Konstitutionsprinzip des GG 4. Verantwortungspflicht nach der Präambel des GG II. 1. 2. 3.
5 5 7 7 9
Repräsentation und Volkssouveränität Amt und Treuhänderschaft Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie Repräsentation und industrielle Gesellschaft a) Plebiszitäre Ergänzung der Verfassung b) Verantwortbare Herrschaft in der Industriegesellschaft
III. Gewaltenteilung 1. Gewaltenteilung als Kompetenzlehre 2. Politische Verantwortung in der Gewaltenordnung des GG a) Verantwortung in den Grundgesetzartikeln b) Gegenwärtige Anforderungen an den GewaltenteilungsGrundsatz und die parlamentarische Regierungsverantwortung § 2 Parlamentsentwicklung in Deutschland: Von der konstitutionellen Repräsentation zur verantwortlichen Volksvertretung
10 10 11 15 16 16 18 19 22 22 . .
23
26
Raban Graf von Westphalen I. Die Struktur konstitutioneller Verfassungen
26
II. Konstitutionelle Verantwortung
28
III. Der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem
31
IV. Gesetz und Gesetzgebung
39
§ 3 Konstituierung /Wahl und Ende des Parlaments
43
Raban Graf von Westphalen I. 1. 2. 3. 4.
Wahlen: Die Entwicklung der Wahlrechtsgrundsätze Allgemeine Wahl Mittel-und unmittelbare Wahl Geheime und öffentliche Wahl Gleiche Wahl
43 44 46 47 47
VIII
Tiefengliederung
5. Freie Wahl
49
II. Wahlsysteme 1. Mehrheitswahl 2. Verhältniswahl
50 50 51
III. Ende der Wahlperiode und Auflösung des Parlaments 1. Ablauf der Wahlperiode 2. Wahlperiode und Sitzungsperiode 3. Selbstversammlungs-und Auflösungsrecht 4. Vertrauenserfordernis, Verantwortlichkeit und vorzeitige Beendigung der Wahlperiode
53 53 55 55
§ 4 Abgeordneter und Fraktion
62
58
Raban Graf von Westphalen I. Repräsentierte und Abgeordnete: Vertrauen und Verantwortung II. 1. 2. 3. 4. 5.
...
Pflichten und Rechte Mitwirkung und Verhalten Indemnität Immunität Entschädigung Zeugnisverweigerungsrecht
62 66 66 67 68 69 70
III. Fraktionen 1. Zum Begriff der „Fraktion" 2. Fraktionen im angelsächsischen System 3. Fraktionen in Deutschland
71 71 72 76
§ 5 Organisation der Parlamente-historische Grundlagen und aktuelle Ausformungen
81
Gerlinde Sommer / Raban Graf von Westphalen Einleitung
81
I. Rechtsquellen für die Parlamentsorganisation 1. Die Verfassung 2. Die Geschäftsordnung 3. Einfache Gesetze II. Der Vorsitz im Parlament 1. Der Alterspräsident 2. Der Parlamentsvorsitzende 3. Stellvertretung des Parlamentsvorsitzenden Präsidium-Vorstand-Schriftführer
83 84 86 88 88 89 89 93
III. Seniorenkonvent und Ältestenrat
93
IV. Plenum und Ausschüsse 1. Die alleinige Beschlußfähigkeit des Plenums 2. Vom vorbereitenden zum vorberatenden Parlamentsorgan 3. Großbritannien : Die beherrschende Rolle des Plenums gegenüber den Ausschüssen
96 97 98 99
Tiefengliederung
4. USA und Bundesrepublik: Die beherrschende Rolle der Ausschüsse gegenüber dem Plenum 5. Zu den geschichtlichen Grundlagen der Ausschußorganisation in Deutschland V. Parlamentarische Dienste
IX
102 104 107
2. Kapitel: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland
113
Klaus Grimmer § 6 Verfassungsrechtliche Grundlagen I. Funktion der Verfassung II. Volkssouveränität III. Grundrechte, Sozialstaat, Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen 1. Grundrechte als Freiheitsrechte 2. Grundrechte als Öffentlichkeitsrechte 3. Sozialbindung des Eigentums 4. Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot 5. Grundrechte als Teilhaberechte und das Sozialstaatsprinzip 6. Grundrechte, Grundpflichten und die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers 7. Legitimationsfunktion der Grundrechte und ihr Wertgehalt
115 115 117 118 119 119 120 120 121 122 123
IV. Republik und Demokratie 1. Republik 2. Demokratie a) Demokratieprinzip als Formprinzip b) Demokratie und Grundrechte c) Mehrheitsprinzip und Konsensprinzip
124 124 124 125 125 126
V. 1. 2. 3. 4.
127 127 129 130 131
Institutionelle Differenzierung Gewaltenteilung Föderaler Bundesstaat Bundespräsident Organe der Rechtsprechung
VI. Rechtsstaat 1. Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns 2. Verfassungswirksamkeit und Bundesverfassungsgericht 3. Verfassungsgarantie 4. Notstandsverfassung
132 132 132 133 133
VII. Systembildende und systemstabilisierende Funktion von Verfassungsnormen
134
§ 7 Staatsaufgaben und Finanzverfassung
136
I. Staatszweck und Staatsaufgaben 1. Verfassungsrechtlicher Rahmen
136 137
X
Tiefengliederung
2. Grundrechtliche Bindungen 3. Neue Staatsaufgaben und begrenzte Handlungsmöglichkeiten
139 140
II. Finanzverfassung 1. „Magie" staatlicher Finanzpolitik 2. Neue Staatsaufgaben-alte Haushaltsbindungen
141 141 142
§ 8 Parlamentarisches Regierungssystem
143
I. Parlament, Regierung und Verwaltung 1. Parlament a) Stellung der Abgeordneten b) Wahlsystem c) Wahlberechtigung-Wer ist das Volk d) Repräsentativprinzip e) Gemeinwohlbindung des einzelnen Abgeordneten 2. Regierung a) „Kanzlerdemokratie" b) Regierungsfunktion 3. Verwaltung a) Struktur des Verwaltungssystems b) Funktion öffentlicher Verwaltungen c) Verwaltungsverfahren
144 144 144 145 146 146 148 148 148 149 150 150 150 151
II. Mediatisierung politischer Meinungs-und Willensbildung 1. Politische Parteien 2. Verbände und andere Interessensorganisationen
152 152 154
III. Politische Öffentlichkeit 1. Institutionalisierte Formen der Rückbindung 2. Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, politische Demonstrationen 3. Außerparlamentarische Opposition, ziviler Ungehorsam, Widerstandsrecht
156 157
IV. Verfassungssystem und parlamentarische Demokratie 1. Spannungsverhältnisse 2. Aufgabenkomplexität und Politikverflechtung: Neue Anforderungen an den demokratischen Parlamentarismus . . . . 3. Politische Steuerung oder Regieren 4. Staat und politische Kultur
159 160
158 159
161 163 164
3. Kapitel: Der Deutsche Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem
167
§ 9 Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments
171
Klaus Grimmer I. Staatsleitende Funktionen des Parlaments 1. Aufgaben des Parlaments 2. Selbstbestimmungsrecht des Parlaments
171 172 173
Tiefengliederung
XI
II. Gesetzgebungsfunktion und Parlamentsvorbehalt 1. Gesetzgebung a) Gesetzesvorbehalt und Gesetzesvorrang b) Gesetzgebungskompetenz des Bundestages 2. Delegation von Staatsgewalt und Rechtsetzungskompetenz 3. Bereitstellung finanzieller Mittel, Finanz-und Haushaltsgesetze . . . . 4. Mitwirkung bei Planungsmaßnahmen 5. Parlamentsvorbehalt 6. Selbständigkeit des Parlaments?
174 174 175 176 177 178 179 180 182
III. Legitimations-und Wahlfunktion 1. Wahl des Bundespräsidenten 2. Wahl des Bundeskanzlers 3. Mitwirkung bei der Wahl von Bundesverfassungsrichtern und Bundesrichtern 4. Sonstige Wahlen und Delegationen 5. Wahl von Angehörigen internationaler und supranationaler Einrichtungen, Mitgliedschaft in solchen Einrichtungen 6. Permanenz parlamentarischer Legitimation staatlicher Macht und die begrenzte Macht des einzelnen Abgeordneten
183 183 184
IV. Das Parlament als Institution politischer Meinungs- und Willensbildung und zur Kontrolle der Regierungspolitik 1. Parlamentarische Entschließungen, schlichte Parlamentsbeschlüsse . . 2. Interpellationsrechte, Auskunftsverlangen über die Ausführung von Parlamentsbeschlüssen 3. Zustimmungsvorbehalte, Freigabe vorbehalte 4. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Kontrolle der Geheimdienste 5. Petitionen 6. Besondere Kontrollformen: Haushalts- und Finanzkontrolle, Kontrolle der Bundeswehr a) Haushalts-und Finanzkontrolle b) Kontrolle der Bundeswehr 7. Verwaltungskontrolle und Justizkontrolle durch das Parlament . . . . 8. Kontrolle durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts a) Organwalter-Anklage b) Organstreitigkeiten Abstrakte Normenkontrolle 9. Politische Wirkung parlamentarischer Kontrolle V. Integrationsfunktion und Öffentlichkeitsfunktion 1. Innerparlamentarische Ordnung und Verfahrensgestaltung a) Parlamentsorganisation und Verfahrensgestaltung b) Unterschiedliche Beschlußquoren 2. Sicherung parlamentarischer Opposition 3. Rückbindung zur Öffentlichkeit-identitàtsstiftende Funktion a) Rückbindung durch Petitionen b) Rückbindung zu organisierten Interessen, Hearings c) Sachverständige Problemerörterungen und begrenzte Handlungsfähigkeit des Parlaments-Enquete-Kommissionen . . .
184 185 185 186 187 188 189 190 190 191 191 191 192 193 193 194 194 195 196 197 197 197 199 200 201 202 203
XII
Tiefengliederung
VI. Parlamentarische Verantwortung und gesellschaftliche Entwicklung 1. Rechtlich strukturierter Parlamentarismus 2. Politikpräsentation oder Politikgestaltung durch das Parlament 3. Die Verantwortung des Parlaments § 10 Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages
. . . .
203 204 205 206 208
Dieter Engels I. 1. 2. 3.
Organisations-und Verfahrensregeln Rechtliche Regeln Verfahrensabsprachen; Parlamentsbrauch Informelle Regeln
209 209 209 209
II. 1. 2. 3.
Spezifika des parlamentarischen Verfahrens Rahmenbedingungen für die Verfahrensgestaltung Funktionen der parlamentarischen Verfahrensregeln Gliederung des Bundestages in Fraktionen und Ausschüsse
210 210 211 212
III. Zwecke der Verfahrensordnung und innerparlamentarische Strukturen 1. Plenum und Ausschüsse 2. Mehrheitsprinzip und Minderheitsschutz 3. Fraktionen und einzelnes Parlamentsmitglied
216 216 217 220
IV. Organe der Selbstverwaltung 1. Der Präsident 2. Das Präsidium 3. Der Ältestenrat
221 222 223 223
V. Ausschüsse 1. Fachausschüsse a) Zusammensetzung und Grundzüge der Organisation der Fachausschüsse b) Aufgaben der Fachausschüsse c) Grundzüge des Ausschußverfahrens 2. Gremien mit besonderen investigativen oder kontrollierenden Aufgaben 3. Sonstige Gremien
227 227 227 229 230 231 235
VI. Fraktionen 1. Arbeitsteilige Strukturen der Fraktionen 2. Prozesse der fraktionsinternen Willensbildung und Entscheidungsfindung 3. Fraktionsdisziplin
235 236 238 240
VII. Aspekte des strukturierten Parlamentarismus 1. Zur Rechtsstellung fraktionsangehöriger Abgeordneter 2. Zur Rechtsstellung fraktionsloser Abgeordneter 3. Gruppen i.S.v. § 10 Abs. 4 GO
241 241 244 245
VIII. Parlamentarische Hilfsdienste 1. Mitarbeiterinnen der Fraktionen und Abgeordneten
246 246
Tiefengliederung
2. Bundestagsverwaltung 3. Einführung neuer Informations-und Kommunikationstechniken
XIII
. . .
§ 11 Verfahren des Deutschen Bundestages
247 250 253
Dieter Engels I. 1. 2. 3.
Der Öffentlichkeitsgrundsatz und seine Einschränkungen Öffentlichkeit der Plenardebatten Grundsätzliche NichtÖffentlichkeit der Ausschußberatungen Maßnahmen des Diskretionsschutzes
254 255 256 257
II. Gesetzgebungsverfahren 1. Verfahren auf Initiative der Bundesregierung a) Zuleitung an den Bundesrat b) Verfahren im Bundestag (1) Die erste Lesung (2) Die Beratungen des federführenden Ausschusses (3) Die Beratungen des Haushaltsausschusses gemäß § 96 GO-BT . (4) Die zweite und dritte Lesung c) Der Abschluß des Verfahrens 2. Verfahren auf Initiative des Bundesrates 3. Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages
258 259 260 260 261 261 266 267 268 270 271
III. Verfahren der Haushaltsgesetzgebung und-kontrolle 1. Haushaltsgesetz a) Die Aufstellung des Bundeshaushaltes b) Die Beratungen des Bundestages (1) Die erste Lesung (2) Das Verfahren des Haushaltsausschusses (3) Die zweite und dritte Lesung c) Der Abschluß des Verfahrens 2. Verfahren der begleitenden Haushaltskontrolle a) Plenarverfahren b) Delegation von Rechten des Bundestages an den Haushaltsausschuß c) Sonstige Kontroll- und Informationsinstrumente des Haushaltsausschusses 3. Die nachträgliche Haushaltskontrolle
272 273 273 274 275 276 278 278 279 279
IV. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung . . . 1. Verfahren in Fachausschüssen 2. Zitierrecht, Berichte der Bundesregierung, Kleine und Große Anfragen, Fragestunden a) Zitierrecht b) Berichte und Unterrichtungen der Bundesregierung c) Kleine und Große Anfragen d) Fragestunde 3. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung . . . . a) Informationsrechte des Petitionsausschusses b) Kontrolle der Bundeswehr: Wehrbeauftragterund Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß c) Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 GG
283 283
280 281 282
284 284 284 285 286 287 288 289 290
XIV
Tiefengliederung
V. Stärkung der Kontroll- und Informationsmöglichkeiten als Reformaufgabe 1. Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform 2. Parlakom 3. Institutionalisierung einer Beratungskapazität für Technikfolgenabschätzung und -bewertung
291 292 294 296
§ 12 Exekutive Berichtspflicht in der Technikfolgenabschätzung
302
Raban Graf von Westphalen I. Rechtliche Steuerung der Forschungs-und Technologiepolitik?
. . . .
II. Die Verpflichtung der Exekutive zur Information des Parlaments über Technikfolgen-Analysen 1. Parlamentarisches Informationsrecht-exekutive Antwortpflicht . . . 2. Exekutive Publizitätspflicht und parlamentarische Opposition 3. Reform Vorschlag: Die Institutionalisierung exekutiver Publizitätspflicht im Gesetzesvorblatt
302 304 306 307 308
4. Kapitel: Parlament und Gesellschaft
311
§ 13 Parlament und Gesellschaftliche Interessen
314
Leo Kißler I. Gesellschaftliche Interessen in der parlamentarischen Demokratie . . . 1. Was heißt „gesellschaftliche" Interessen? Dimensionen des Interessenbegriffs 2. Interessenorganisationen und politische Repräsentation : Die parlamentsbezogene Interessenvermittlung 3. Interessenorganisation und Parlamentsöffentlichkeit: Die parlamentarische Politikvermittlung II. Die Organisation gesellschaftlicher Interessen im Deutschen Bundestag 1. Der Abgeordnete als Interessenvertreter: Die interne Lobby 2. Die Fraktion als parlamentarische Organisationsform von gesellschaftlichen Interessen 3. Das Sozialprofil des Bundestages als Abbild gesellschaftlicher Interessen III. Der Bundestag als Adressat von gesellschaftlichen Interessen 1. Interessenvermittlung durch Pressure-Strategien 2. Interessenvermittlung durch mittelbare Einflußnahme auf den parlamentarischen Prozeß 3. Interessen Vermittlung durch informelle Kommunikation 4. Interessenvermittlung als Einflußchance
315 315 319 324 326 326 329 331
. . . .
IV. Das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentsfunktionen und parlamentarischer Interessen-und Politikvermittlung . . . . . . . . 1. Die Repräsentationsfunktion: Aushöhlung der politischen Repräsentation durch ungleiche soziale Interessenrepräsentation? . . .
333 333 335 336 338 339 340
Tiefengliederung
XV
2. Die Öffentlichkeitsfunktion: Parlamentsöffentlichkeit versus neue „Arkanhaltung" 3. Strukturelle Entmachtung des Parlaments durch Gouvernementalisierung der Interessenvermittlung?
345
§ 14 Bürgerbewegungen und Parlament
347
342
Wolfgang Ulimann I. Grenzen der Repräsentation 1. Außerparlamentarische Artikulation gesellschaftlicher Selbstorganisation 2. Grenzen deg Wachstums und Determinismus der Akkumulation . . . . 3. Die Dynamisierung der sozialen Zeitparameter II. 1. 2. 3. 4.
Bürgerbewegungen: Begriff, Struktur, Praxis Begriff Bewegung als außerparlamentarische Machteroberung Demokratiekrise und Systemopposition Alternative Partei und Bürgerbewegungen als politische Vereinigungen
347 347 351 352 354 354 355 359 361
III. Wahlrecht und Wahlpraxis 1. Kommunale, territoriale und nationale Wahlteilnahme 2. Wahlrecht und Wahlgesetz 3. Finanzierung und Chancengleichheit
368 368 370 372
IV. Bürgerbewegungen und Parlament 1. Bürgerbewegungen im Rahmen parlamentarischer Geschäftsordnung . 2. Interfraktionelle Arbeitsweise 3. Fraktionen und Basisgruppen 4. Innerparlamentarische und außerparlamentarische Opposition . . . .
373 373 375 376 377
V. 1. 2. 3.
379 379 382
Bürgerbewegungen und Verfassung Verfassungsinitiativen von Bürgerbewegungen Basisdemokratische Partizipationsrechte Bürgerbewegungen als Politisierung gesellschaftlicher Selbstorganisation
§ 15 Bundestag, Medien und Öffentlichkeit
385
388
Jürgen Bellers I. Die Ursprungsidentität von Parlament und Öffentlichkeit
388
II. Die Differenzierung von politischem und medialem System als Ursache von Konflikten zwischen beiden Systemen
390
III. Die Differenzierung von politischem System und medialem System-Möglichkeiten der Kooperation 1. Die Ressourcenfunktion 2. Die Innovationsfunktion 3. Die operative Funktion
395 396 397 397
XVI
Tiefengliederung
IV. Wie Parlamentarier Journalisten sehen - u n d umgekehrt
398
V. Die interne Öffentlichkeit des Bundestages : Die „Neuen Medien" und das Parlament
400
VI. Wieviel Öffentlichkeit verträgt das Parlament, wieviel Öffentlichkeit braucht es?
402
§ 16 Parlament und Technik
405
Raban Graf von Westphalen I. Politik und Technik 1. Zur Tradition des Technokratiegedankens 2. Der „technische Staat" a) Helmut Schelsky: Demokratie und Technik b) Zur Legitimation des technischen Staates 3. Zwei Varianten der Technokratiediskussion a) Expertokratie b) Normativität technischer Möglichkeiten 4. Vorläufiges Fazit
405 405 407 407 409 410 411 413 414
II. Staat und Technik 1. Zum Begriff der Technik a) Gesellschaftsformierende Kraft der Technik b) Die Vernachlässigung der „Technik " in der deutschen humanistischen Bildungstradition c) Technik als soziotechnisches Handlungssystem 2. Politisches System und demokratische Techniksteuerung 3. Grundrechtsschutz und technische Entwicklung
415 415 416 417 419 420 423
III. Parlament und Technik
425
5. Kapitel: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung . . . .
429
§ 17 Parlament und technische Entwicklung
431
Alexander Roßnagel I. Wirkungen der Technik II. Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Einflußnahme § 18 Rechtsetzung und technische Entwicklung
431 . . . .
433 437
Alexander Roßnagel I. Staatliche Verantwortung für technische Risiken
438
II. Parlamentsvorbehalt im Technikrecht
439
III. Unbestimmte Rechtsbegriffe und die Regeln der Technik 1. Atomrecht 2. Immissionsschutzrecht 3. Gentechnikrecht
442 442 444 445
IV. Selbststeuerung der Technik
447
V. Technisches Risiko und Sicherheit
447
Tiefengliederung § 19 Technische Beratung und Normung
XVII 450
Alexander Roßnagel I. Zur Geschichte technischer Politikberatung und Normung
451
II. Technische Beratungsgremien
452
III. Öffentlichrechtliche Normungsausschüsse
454
IV. Private Normungsverbände 1. Nationale Normungsverbände 2. Internationale Normungsverbände
454 455 456
V. Rechtliche Geltung der Regeln der Technik
457
VI. Politische und verfassungsrechtliche Bewertung
458
§ 20 Technik und parlamentarische Souveränität
460
Alexander Roßnagel I. Wirkung der Technik im Grundrechtsbereich
461
II. Legislative Verantwortung für die Sicherung der Grundrechte
463
III. Parlamentarische Regulierung technischer Dynamik 1. Institutionen 2. Verfahren 3. Inhalte
465 465 466 467
6. Kapitel: Die Parlamente in Kommunen, Ländern und die Beziehungen zum Europäischen Parlament
469
§ 21 Kommunale Demokratie
471
Oscar W. Gabriel / Everhard Holtmann I. Kommunale Demokratie - Zum Wandel der Selbstverwaltungsdoktrin in Deutschland
471
II. Das Recht der kommunalen Selbstverwaltung nach dem Grundgesetz .
472
III. Die Organisation der kommunalen Ebene IV. Typen der Inneren Gemeindeverfassung in der Bundesrepublik Deutschland 1. Die Beteiligungsrechte der Bevölkerung 2. Die kommunalen Organe, ihre Aufgaben und Beziehungen
475 475 476 478
V. Zur Praxis politischer Willensbildung und Entscheidung auf der kommunalen Ebene 1. Systeminduzierte Politisierung: Machtverlust der Gemeindeparlamente 2. Probleminduzierte Politisierung: Parteienstaat statt Sachpolitik?
483
VI. Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung VII. Kommunale Selbstverwaltung im Bundesstaat
486 488
480 481
XVIII
Tiefengliederung
§ 22 Landesparlamente
489
Uwe Jun I. Föderalismus und Landesparlamente
489
II. Funktionen und Zuständigkeiten der Landesparlamente 1. Gesetzgebung: Kaum noch eigene Zuständigkeiten? a) Die Rolle der Landtage im Prozeß der europäischen Integration b) Weitgehender Verzicht auf Gesetzgebungskompetenzen . . . . 2. Wahl der Regierung 3. Kommunikation: Die Landtage stehen nur selten im öffentlichen Blickpunkt 4. Kontrolle der Regierung: Wichtigste Aufgabe der Landtage
491 492 495 498 499
III. Der Abgeordnete
506
IV. Das Verhältnis von Regierung und Opposition 1. Parteiendemokratie und Bundesstaatlichkeit 2. Der Bundesrat als ausschließliche Kammer der Länderexekutive 3. Die Rolle der Opposition
508 508 510 511
. . .
501 502
V. Aussichten: Die Landesparlamente nach der Deutschen Einigung . . .
512
§23 Parlamentarische Souveränität und europäische Integration
514
Jürgen Bellers I. Die „Geburt Europas" im Schöße der Parlamente
514
II. Der Zwang zur europäischen Einigung auf Kosten der nationalen Parlamente
515
III. Kurze Geschichte der europäischen Einigung
516
IV. Entscheidungsverfahren in den Europäischen Gemeinschaften (EWG, EURATOM, EGKS)
518
V. Die Antwort des Deutschen Bundestages auf die europäischen Entwicklungen 1. Das formale Verfahren 2. Fraktionelle und interfraktionelle Regelungen 3. Der neue EG-Ausschuß
521 521 522 525
VI. Resümee
526
Perspektiven: Problemstellungen der Industriegesellschaft
529
Autorenverzeichnis
535
Hilfsmittel A) Hilfsmittel zum Studium der Politik-und Staatswissenschaften . . . .
537 539
I. Einführungen
539
Tiefengliederung
XIX
1. Politikwissenschaft 2. Verfassungsrecht und Staatslehre 3. Vergleichende Parlamentslehre
539 539 540
II. Handbücher und Nachschlagewerke 1. Politikwissenschaft 2. Staatswissenschaften
540 540 540
III. Bibliographien und Dokumentation
541
IV. Fachzeitschriften
542
V. Periodika
542
B) Hilfsmittel zum Studium des Parlamentarismus und des Parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland
542
Zum 1. Kapitel I. Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland 1. Zur deutschen Verfassungs-und Parlamentsgeschichte allgemein a) Deutsche Verfassungsgeschichte b) Zu Einzelfragen der deutschen Verfassungs- und Parlamentsgeschichte c) Quellen und Dokumente 2. Zu einzelnen parlamentsgeschichtlichen Zeitabschnitten a) Paulskirchenparlament 1848/49 b) Parlamente 1867 bis 1917 c) Parlamente in der Weimarer Republik d) Zur Geschichte des Deutschen Bundestages
. . .
542 542 542 543 543 544 544 544 545 546
Zum 2. und 3 Kapitel II. Der Deutsche Bundestag im Parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland 1. Zur Einführung 2. Grundgesetz-Kommentare 3. Handbücher und Nachschlagewerke 4. Bibliographien und Dokumentation a) Fachbibliographien b) Forschungsberichte c) Zeitschriften III. Quellen zur parlamentarischen Arbeit 1. Rechtsquellen für die Arbeit des Deutschen Bundestages 2. Textsammlungen und Kommentare zur Arbeit des Deutschen Bundestages 3. Gesetze 4. Sonstige Publikationsverpflichtungen 5. Völkerrechtliche Verträge
546 546 547 547 547 547 548 548 549 549 550 550 551 551
Zum 4. Kapitel IV. Parlament und Gesellschaft
552
XX
Tiefengliederung
Zum 5. Kapitel V. 1. 2. 3.
Parlament, Rechtssetzung und technische Entwicklung Handbücher Gesetzessammlungen Periodika
552 553 553 553
Zum 6. Kapitel VI. Die Parlamente in Kommunen und Ländern und das Europäische Parlament 1. Kommunale Demokratie 2. Landesparlamente 3. Europäisches Parlament
554 554 554 554
Gesamtbibliographie
555
Stichwortregister
593
Vorbemerkung: Hinweise für die Leser Diese Parlamentslehre ist als Lehrbuch für Studenten der Politik- und Staatswissenschaften geschrieben. Geschichte, Aufbau und Arbeitsweise der Parlamente in Bund, Ländern und Kommunen bilden im Rahmen der Darstellung des Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland den Gegenstand der Arbeit. Im Mittelpunkt des Buches stehen normativ der Begriff der politischen Verantwortung und seine Interpretation unter dem Gesichtspunkt der institutionell- parlamentarischen Bewältigung, Steuerung und Gestaltung des technologisch hervorgerufenen Wandels der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse. Die Parlamentslehre gliedert sich in 6 Kapitel mit 23 Paragraphen: Kapitel 1 skizziert die historischen Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland, Kapitel 2 den Aufbau des parlamentarischen Regierungssystems. Kapitel 3 behandelt die Parlamentsfunktionen, Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages. Kapitel 4 gilt der Darstellung der Beziehungen des Parlaments zu den intermediären gesellschaftlichen Kräften. Kapitel 5 bezieht erstmalig für ein institutionenkundliches Lehrbuch den Zusammenhang von Parlament, technischer Entwicklung und ihrer rechtlicher Steuerung ein. Beiträge zu den Parlamenten in Kommunen und Ländern sowie Hinweise auf das Europäische Parlament schließen die Parlamentslehre in ihrem systematischen Teil ab. Die Paragraphen und Kapitel sind untereinander durch Querverweise verknüpft, wodurch den Lesern die Möglichkeit eröffnet wird, das Lehrbuch unter vielfältigen Fragestellungen zu nutzen. Die den Paragraphen jeweils vorangestellte Grundlagenliteratur wird durch die Gesamtbibliographie ergänzt und durch eine systematische Sammlung von Hilfsmitteln zum Studium der Politik- und Staatswissenschaften (Teil A) sowie des Parlamentarismus und des parlamentarischen Regierungssystems (Teil B) vertieft. Das sehr breit aufgefächerte und daher nicht immer trennscharfe Stichwortverzeichnis erschließt den Zugang zum Text und über ihn zur Literatur. In den Beiträgen werden bisweilen dieselben Quellen mit wechselnden Fundorten zitiert; beabsichtigt ist, die Leser auf die zur Verfügung stehenden und unterschiedlich leicht greifbaren Quellensammlungen aufmerksam zu machen. Dieses Lehrbuch trägt den Titel „Parlamentslehre". Er könnte die Vorstellung einer Behandlung der Parlamente auf vergleichender Grundlage, wie sie zuletzt von Philip Laundy „Parliaments in the modern world" 1989 versucht wurde, wekken. In Kapitel 1 findet der Leser parlamentshistorische, institutionell vergleichende Anmerkungen, so vor allem auf Großbritannien, die USA und Frankreich. Diese Hinweise dienen dem Versuch, parlamentsrechtliche und parlamentsgeschichtliche Entwicklungszusammenhänge darzustellen, aus denen das Verständnis für die gegenwärtige Form des deutschen parlamentarischen Regierungssystems und seiner Mitte, den Bundestag, nur erwachsen kann. Die Erstellung eines in sich möglichst geschlossenen Lehrbuches aus den Federn von 11 Autoren ist ein für Gemüt und Nerven strapaziöser Arbeitsprozeß; den Autoren danke ich für ihr Engagement und ihre teilnehmende Geduld. Besonders habe ich der Gottlieb-Daimler- und Karl-Benz-Stiftung, welche die Erarbeitung des Manuskripts in unbürokratischer Art und Weise förderte, hier Dank zu sagen. Prof. Dr. Ulrich Matz und Prof. Dr. Karl Schmitt (Köln) haben dem Projekt zeitweise räumliche Unterkunft gewährt; auch ihnen gilt wie Frau Elvira Löt-
XXII
Vorbemerkung: Hinweise für den Leser
tel, die mit Sorgfalt und persönlichem Einsatz große Teile meines Manuskripts und die Bibliographie geschrieben hat, mein Dank. Frau Gerlinde Sommer hat dieses Projekt seit Beginn der Arbeiten betreut; ihrer Unterstützung haben Autoren und Herausgeber viel zu verdanken. R.W.
Einleitung Die Wirkungen und Folgen neuer Technologien rufen einen grundlegenden Wandel der Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates hervor. Dies gilt auch für ihre Funktionen in der Gesellschaft wie für ihre innere Organisation und Arbeitsweise infolge der Implementation neuer Technologien. Die lehrbuchhafte Darstellung der geschichtlichen Grundlagen des deutschen Parlamentarismus (§§ 1 bis 5), der Aufgaben des Deutschen Bundestages wie seiner Organisation und gcschäftsordnungsrechtlichen Arbeitsweise (§§ 6 bis 11) soll ihren Bezug in der Problematik der parlamentarischen Verantwortung für den technikinduzierten Wandel der Gesellschaft haben (§§ 16 und 17). An dieses Verständnis der konstitutiven Herausforderungen unserer Zeit an Struktur und Funktion der Verfassungsinstitutionen knüpft die vorliegende Einführung in das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland an. Unter Rückgriff auf die normative Dimension institutioneller Verantwortung als Staatsprinzip soll das Institut der parlamentarischen Verantwortung im technischen Zeitalter erneut durchdacht und für Studenten der Fächer Politische Wissenschaften/Staatswissenschaften aufgearbeitet und dargestellt werden. Peter Saladins Aufforderung zur „Fortbildung der konstitutionellen Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit im Sinne der Verstärkung von staatlicher und individueller Verantwortung" fungiert als normative Leitidee dieses Lehrbuchs. Die Aufgaben, die sich aus der historisch veränderten Rolle von Wissenschaft und Technik in der industriellen Gesellschaft herleiten, fordern in unserer Zeit die Verfassungsinstitutionen als mitverantwortliche Träger gesellschaftlicher Formation heraus. Nicht zuletzt wird deshalb das staatsphilosophische und staatsrechtliche Interesse heute auf die Formulierung institutioneller Verantwortung unter der Prämisse gelenkt, daß sich Sittlichkeit eben nicht nur in personaler Praxis, sondern auch in der Struktur verfassungstragender Einrichtungen manifestiert. Mit Blick auf Wissenschaft und Technik sind dies der Staat und seine verfassungsmäßige Mitte: das Parlament. Wenn „Verantwortung" kein festgefügtes Rechtsinstitut im Grundgesetz bezeichnet, so steht dem nicht die Anschauung entgegen, daß Verantwortung zu den konstitutiven Prinzipien zeitgemäßer Staatlichkeit westlicher Demokratien gehört. Dieser Auffassung folgend wird Verantwortung als zentrales Strukturelement gesellschaftlicher Ordnung behandelt (§ 1). Erst mit Blick auf die konkreten technisch-sittlichen Herausforderungen, vor die sich die politische Gemeinschaft gestellt sieht, wird deutlich, daß der Verantwortung des Parlaments nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Aus dieser Perspektive gewinnt die Frage, welche wissenschaftlichen Aufgaben und technischen Zielsetzungen der parlamentarisch regierte Staat mit welchen Gründen zukünftig zu verfolgen hat, und welche er begründeterweise als Optionen ausschließt, eine grundlegende legitimatorische Dimension. Diese konkretisiert sich in der Darstellung der Verfahren, der Organisation und den Regeln, mittels derer die parlamentarischen Aufgaben bewältigt werden sollen (§§ 10 bis 12 und §§21 bis 23). Als Medium parlamentarischer Verantwortung gegenüber der Technik ist dem Recht, seiner Fortbildung und Erzeugung eine herausgehobene Bedeutung zuzumessen (§§ 17 bis 20).
XXIV
Einleitung
Wie die staatsrechtliche Diskussion und die Urteile des Bundesverfassungsgerichts nahelegen, kann sich das Parlament in „wesentlichen" Fragen der Technikentwicklung weder unter Hinweis auf Planungskompetenzen der Exekutive, die Entscheidungsfreiheit der Wirtschaft noch auf die Rechtssetzung der Gerichte von seiner Pflicht zur Verantwortung freimachen. Die Bedingung dazu ist geknüpft an die Wahrnehmung der dem Parlament nach unserem Verfassungsrecht und Demokratieverständnis zustehenden Handlungsmöglichkeiten (§§ 6 bis 9), welche wiederum abhängen von der Beziehung der Volksvertretung zu den gesellschaftlichen Kräften (§§ 13 bis 15). Die hier vorgelegte Parlamentslehre versucht, die skizzierte Fragestellung mit einer Einführung in das parlamentarische Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland zu verknüpfen.
Abkürzungen a.A. AbgG Abs. AfK AKW Anh. APuZ
am Anfang Abgeordneten-Gesetz Absatz Archiv für Kommunalwissenschaften Atomkraftwerk Anhang Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament" AöR Archiv des öffentlichen Rechts Art. Artikel Atom-Gesetz AtomG Ausgabe Ausg. Aktenzeichen Az Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts BAGE BAnz Bundesanzeiger Bd./Bde Band/Bände Bearb. Berarbeiter/in BGBl. (I) Bundesgesetzblatt (Teil 1,1951ff.) Bundeshaushaltsordnung BHO Bundesimmissionsschutz-Gesetz BImSchG Zentrales Dokumentationssystem des BundespresseBPA-DOK amtes Bundesrechnungshof-Gesetz BRHG Bundesrats-Drucksache(n) BR-Drs.(n) Bspl. Beispiel BT-Drs.(n) Bundestags-Drucksache(n) Bundesnaturschutz-Gesetz BundesnaturschutzG BundesraumordnungsG Bundesraumordnungs-Gesetz Bundesverfassungsgericht (Entscheidungen des) BVerfG(E) Bundesverwaltungsgericht (Entscheidungen des) BVerwG(E) circa ca. CEN Comitée Européen de Normalisation Comitée Européen de Normalisation ElectroCENELEC technique chap. chapter Co. Cooperation C&R Computer & Recht DBA Druckbehälterausschuß DDA Deutscher Dampfkesselausschuß DDR Deutsche Demokratische Republik der s./dies, derselbe/dieselbe(n) dgl. dergleichen d.h. das heißt d.i. das ist DIN Deutsches Institut für Normung DIP Dokumentations- und Informationszentrum für Parlamentsmaterialien Dissertation Diss.
XXVI DKE DÖV Dok. Drs. dt. DUZ DVB1 D VPW ebd. EDV EG EGKS EFTA EP erw. etc. ETSI EURATOM EuGRZ e.V. EWG Faks. f., ff. FR frz. FS Fußn. GATT GenTG GenTSV GESTA GeschORT GG ggf. GGO GMD GO-BT GO-RT GschOBRg GSO-BT Hg. Hess./hess. HZ i.d.F. i.d.R. i. d. S. i.e. IEC insbes.
Abkürzungen Deutsche Elektrotechnische Kommission Die öffentliche Verwaltung Dokumente Drucksache deutsch Deutsche Universitätszeitung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft ebenda Elektronische Datenverarbeitung Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Freihandelsassoziation Europäisches Parlament erweitert(e) et cetera Europäisches Institut für Telekommunikationstechnik Europäische Atomgemeinschaft Europäische Grundrechte Zeitschrift eingetragener Verein Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Faksimile fortfolgend, fortfolgende Frankfurter Rundschau französisch(e) Festschrift Fußnote General Aggreement on Tariffs and Trade Gentechnik-Gesetz Gentechnik-Sicherheits-Verordnung Auskunftssystem „Stand der Gesetzgebung des Bundes" Geschäftsordnung des Reichtstages (Weimar) Grundgesetz gegebenenfalls Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Gesellschaft für Mathematik und D atenverarbeitung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Geschäftsordnung des Reichstages (1871) Geschäftsordnung der Bundesregierung Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages Herausgeber Hessisch/hessisch Historische Zeitschrift in der Fassung in der Regel in diesem Sinne im einzelnen International Electrotechnical Commission insbesondere
Abkürzungen ISO IuK i.V.m. i.w. JA JfR Jhd. Jura JURIS JuS JZ Kap. KTA Lfg. LV m.a.W. MdB m.w.H. m.w.N. m.z.w.N. NATO neubearb. N.F. NJW NPL Nr. NRW NVwZ o.g. o.S. PartG PC PI.-Prot. PVS rd. rev. RGBl. RN RSK RuP RV S. s. See. sog. Sp. StörfallV StPO StrlSchV s.u. TA
International Organization for Standardization Informations- und Kommunikationstechnik in Verbindung mit im weiteren Juristische Amtsblätter Jahrbuch für Rechtspolitik Jahrhundert Juristische Ausbildung Juristisches Informationssystem Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kerntechnischer Ausschuß Lieferung Landesverfassung(en) mit anderen Worten Mitglied des Deutschen Bundestages mit weiteren Hinweisen mit weiteren Nachweisen mit North Atlantic Treaty Organization neubearbeitet(e) Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Neue politische Literatur Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oben genannt ohne Seite Parteiengesetz Personal Computer Plenar-Protokoll Politische Vierteljahresschrift rund revidiert(e) Reichsgesetzblatt Randnummer Reaktorsicherheitskommission Recht und Politik Reichsverfassung (1871) Seite siehe Section sogenannt Spalte Störfall-Verordnung Strafprozeßordnung Strahlenschutz-Verordnung siehe unten Technikfolgen-Abschätzung
XXVII
XXVIII Tit. TÜV u. u.a. Überarb. u.U. VDE VDI Verf. VerwArch VGH vgl. v.H. VOP VVDStRL VWD WbeauftrG. WRV z.B. ZfP ZgStW Ziff. ZKBS(V) ZParl ZRP z.T.
Abkürzungen Titel Technischer Überwachungsverein und unter anderem, und anderswo überarbeitet(e) unter Umständen Verein Deutscher Elektrotechniker Verein Deutscher Ingenieure Verfasser/in Verwaltungsarchiv Verwaltungsgerichtshof vergleiche vom Hundert Verwaltungsführung-Organisation-Personal Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Vereinigte Wirtschaftsdienste Wehrbeauftragten-Gesetz Weimarer Reichsverfassung zum Beispiel Zeitschrift für Politik Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft Ziffer Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit (Verordnung für die) Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil
1. Kapitel: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland § 1 Verantwortung als demokratischer Verfassungsgrundsatz: Grundrechte, Repräsentation, Volkssouveränität und Gewaltenteilung Gerlinde Sommer Einleitung
4
I. Menschenwürde und Grundrechte: Norm und Fürsorgepflicht im demokratischen Verfassungsstaat 1. Naturrecht und Treuhänderschaft 2. Grundrechte und -pflichten als konstitutive Elemente politischer Verantwortung 3. Menschenwürde als Konstitutionsprinzip des GG 4. Verantwortungspflicht nach der Präambel des GG II. 1. 2. 3.
5 5 7 7 9
Repräsentation und Volkssouveränität Amt und Treuhänderschaft Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie Repräsentation und industrielle Gesellschaft a) Plebiszitäre Ergänzung der Verfassung b) Verantwortbare Herrschaft in der Industriegesellschaft
III. Gewaltenteilung 1. Gewaltenteilung als Kompetenzlehre 2. Politische Verantwortung in der Gewaltenordnung des GG a) Verantwortung in den Grundgesetzartikeln b) Gegenwärtige Anforderungen an den GewaltenteilungsGrundsatz und die parlamentarische Regierungsverantwortung
10 10 11 15 16 16 18 19 22 22 . .
23
§ 2 Parlamentsentwicklung in Deutschland: Von der konstitutionellen Repräsentation zur verantwortlichen Volksvertretung Raban Graf von Westphalen I. Die Struktur konstitutioneller Verfassungen
26
II. Konstitutionelle Verantwortung
28
III. Der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem
31
IV. Gesetz und Gesetzgebung
39
2
l.Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
§ 3 Konstituierung / Wahl und Ende des Parlaments Raban Graf von Westphalen I. 1. 2. 3. 4. 5.
Wahlen: Die Entwicklung der Wahlrechtsgrundsätze Allgemeine Wahl Mittel-und unmittelbare Wahl Geheime und öffentliche Wahl Gleiche Wahl Freie Wahl
43 44 46 47 47 49
II. Wahlsysteme 1. Mehrheitswahl 2. Verhältniswahl
50 50 51
III. Ende der Wahlperiode und Auflösung des Parlaments 1. Ablauf der Wahlperiode 2. Wahlperiode und Sitzungsperiode 3. Selbstversammlungs-und Auflösungsrecht 4. Vertrauenserfordernis, Verantwortlichkeit und vorzeitige Beendigung der Wahlperiode
53 53 55 55 58
§ 4 Abgeordneter und Fraktion Raban Graf von Westphalen I. Repräsentierte und Abgeordnete: Vertrauen und Verantwortung II. 1. 2. 3. 4. 5.
Pflichten und Rechte Mitwirkung und Verhalten Indemnität Immunität Entschädigung Zeugnisverweigerungsrecht
III. Fraktionen 1. Zum Begriff der „Fraktion" 2. Fraktionen im angelsächsischen System 3. Fraktionen in Deutschland
...
62 66 66 67 68 69 70 71 71 72 76
§ 5 Organisation der Parlamente-historische Grundlagen und aktuelle Ausformungen Gerlinde Sommer / Raban Graf von Westphalen Einleitung
81
I. Rechtsquellen für die Parlamentsorganisation
83
1. Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
3
1. Die Verfassung 2. Die Geschäftsordnung 3. Einfache Gesetze
84 86 88
II. 1. 2. 3.
88 89 89
Der Vorsitz im Parlament Der Alterspräsident Der Parlamentsvorsitzende Stellvertretung des Parlamentsvorsitzenden Präsidium-Vorstand-Schriftführer
93
III. Seniorenkonvent und Ältestenrat
93
IV. Plenum und Ausschüsse 1. Die alleinige Beschlußfähigkeit des Plenums 2. Vom vorbereitenden zum vorberatenden Parlamentsorgan 3. Großbritannien: Die beherrschende Rolle des Plenums gegenüber den Ausschüssen 4. USA und Bundesrepublik: Die beherrschende Rolle der Ausschüsse gegenüber dem Plenum 5. Zu den geschichtlichen Grundlagen der Ausschußorganisation in Deutschland
96 97 98
V. Parlamentarische Dienste
99 102 104 107
4
1. Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
§ 1 Verantwortung als demokratischer Verfassungsgrundsatz: Grundrechte, Repräsentation, Yolkssouveränität und Gewaltenteilung Gerlinde Sommer Einleitung. - 1 . Menschenwürde und Grundrechte: Norm und Fürsorgepflicht im demokratischen Verfassungsstaat. - II. Repräsentation und Volkssouveränität. III. Gewaltenteilung. Grundlagenliteratur Hofmann, Hasso / Dreier, Horst (1989): „Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz". In: Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 165ff. Imboden, Max (1959): „Montesquieu und die Lehre der Gewaltenteilung". In: Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin, S. lff. Kielmannsegg, Peter Graf (1977): Volkssouveränität. Stuttgart. Landshut, Siegfried (1968): „Der politische Begriff der Repräsentation". In: Rausch, Heinz (Hg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung. Darmstadt, S. 482ff. Rausch, Heinz (Hg.) (1969): Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung. Darmstadt. Ders. (Hg.) (1980): Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Darmstadt, 2 Bde. Saladin, Peter (1984): Verantwortung als Staatsprinzip. Basel u.a. Scheuner, Ulrich (1970): „Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung". In: FS für Gebhard Müller. Tübingen, S. 379ff.
Einleitung Als zentraler Grundsatz der demokratischen Verfassung durchwirkt Verantwortung die tragenden Staatsprinzipien und nimmt institutionelle Gestalt an. Im Laufe der okzidentalen Rationalisierungs-Bewegung wurde das dem römischen Rechtskrcis zuzuordnende Verständnis von Verantwortung als individuell zurechenbares Handeln oder Unterlassen in den Prozeß der abendländischen Staatswerdung übernommen und auf die Funktionsbedingungen gesellschaftlicher wie politischer Institutionen übertragen. Die Differenzierung von Verantwortung in klar umgrenzte Verantwortlichkeiten hat diese Entwicklung ermöglicht. Indem Verantwortung in Zuständigkeitsbereichen mit Rechenschaftspflichten praktiziert werden kann, ist die Voraussetzung für kontrollier- und sanktionierbare Politik, für verantwortbare Herrschaft überhaupt gegeben, ohne daß damit das Prinzip personaler Verantwortung aufgehoben wäre (begriffsanalytisch: Schluß).
1. Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
5
Der hier angesprochene handlungs- und kompetenztheoretische Gehalt des Verantwortungsbegriffs hat mit der Begründung des modernen Verfassungsstaates Eingang in die Staatslehre und politische Philosophie gefunden. Das repräsentative Prinzip in Verbindung mit den Ideen der Volkssouveränität und Gewaltenteilung begründet die normative Anschauung, daß Herrschaftsausübung im demokratischen Verfassungsstaat dem Grundsatz politischer Verantwortung unterworfen ist. Aus diesem Blickwinkel lassen sich Repräsentation, Volkssouveränität und Gewaltenteilung verstehen (II. und III.). Die Wahrnehmung von Verantwortung ist nur auf der Basis einer Grundnorm möglich: Im demokratischen Verfassungsstaat sind dies die Fundamentalnorm der Menschenwürde und die sich aus ihr herleitenden, in den Grundrechten verbürgten Schutzgüter. Sie binden staatliche Herrschaft material und richten sie intentional aus. Der demokratische Verfassungsgrundsatz Verantwortung wurzelt somit in der Idee der treuhänderischen Wahrnehmung von Herrschaft im Dienste der an der Menschenwürde-Norm und den Grundrechten orientierten Staatszweck- und -Zielbestimmungen.
Die Aufmerksamkeit gilt zunächst der Menschenwürde und den Grundrechten.
I. Menschenwürde und Grundrechte: Norm und Fürsorgepflicht im demokratischen Verfassungsstaat Die fundamentale Verfassungsnorm der unantastbaren Menschenwürde und die Freiheits- und Grundrechte begründen eine staatliche Zuständigkeit und Fürsorgepflicht. So hat der Staatsrechtslehrer Konrad Hesse den demokratischen Verfassungsstaat auch als „Selbstorganisation der modernen Industriegesellschaft" ( 17 1990, S. 7ff.) charakterisiert, welche mithin die „Gesamtexistenz des Menschen in Gesellschaft" (Gebhardt: 1990, S. 331) umfaßt. Rechtfertigung und Integrationsleistung des demokratischen Verfassungsstaates gründen vordringlich in der Bindung der Staatsgewalt und ihrer Herrschaftsfunktionen durch die Verschränkung von Repräsentation, Gewaltenteilung und der Souveränität einer unveräußerliche Grund- und Freiheitsrechte innehabenden Volksgemeinschaft. 1. Naturrecht und Treuhänderschaft Die Entstehung legitimer Herrschaft wurde vor allem im 18. Jahrhundert durch die Figuren des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages, welche die nach der rationalistischen Naturrechtsphilosophie autonomen Individuen miteinander eingehen, begründet (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 99ff.; zu unterschiedlichen Vertragstheorien ediert von Voigt, A.: 1965,insbes. S. 169ff.). Besonders deutlich ist der Vertragstheorie John Lockes (1632-1704) zu entnehmen, daß die Garantie staatsbürgerlicher Freiheit, persönlicher Unversehrtheit und des Eigentums sowohl auf formal-institutionellen als auch vor allem auf materiellen Bindungen der Staatsgewalt zu beruhen habe. Politische Herrschaft sollte den im Naturrecht angelegten Zielen und Zwecken gemäß ausgerichtet sein: „So steht das Naturgesetz da als eine ewige Regel für alle Menschen, Gesetzgeber wie auch alle anderen. Die Vorschriften, die sie für die Handlungen anderer
6
1. Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
Menschen geben, müssen wie ihre eigenen Handlungen und die der anderen im Einklang mit dem Naturgesetz ... stehen ..., und da das allem zugrunde liegende Naturgesetz die Erhaltung der Menschheit ist, kann keine menschliche Zwangsmaßnahme, die dem Gesetz widerspricht, gut oder gültig sein" (Locke: 1689/ 1983, S. 104). Aus dieser Verpflichtung leitet Locke die Vorstellung her, daß Herrschaftsmacht von den zu Regierenden zur treuhänderischen Wahrnehmung verliehen wird: „Denn aller Gewalt, die im Vertrauen auf ein bestimmtes Ziel verliehen wird, sind durch jenes Ziel die Grenzen gesetzt, und immer wenn dieses Ziel offenkundig vernachlässigt oder Ihm zuwider gehandelt wird, ist dieses Vertrauen notwendigerweise verwirkt..." (Locke: 1689/1983, S. 114). Bindung und Ausrichtung staatlicher Gewalt wurzeln demnach zum einen in der materiell-normativen Intentionalität staatlichen Handelns und zum anderen in der Organisation treuhänderisch wahrzunehmender Handlungsmacht, welche auf Zustimmung und Vertrauen beruhen und Verantwortung voraussetzen. Die Ursprünge dieses Verständnisses reichen bereits bis ins 14. Jahrhundert zu Marsilius von Padua (1279/80-1342) zurück, der den Zweck von Herrschaft nicht mehr auf die Bewahrung einer gegebenen Ordnung, sondern zunächst auf die „Schaffung der materiellen Bedingungen der menschlichen Existenz" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 59ff.; auch Ostreich: 1968, S. 28f.) gerichtet sehen wollte. Zudem führte seine Vorstellung, daß Herrschaft an Konsens gebunden sein müßte, zu der Idee, daß die „Gesamtheit Trägerin von Herrschaftsgewalt" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 72; Ostreich: 1968, S. 29) sei, ohne dadurch jedoch die ständisch gegliederte Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Die konziliare Bewegung des 15. Jahrhunderts hat nicht nur gefordert, daß sich die kirchlichen Würdeträger als „Verwalter anvertrauter Macht" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 67f.) verstehen müßten, sondern daß kirchliche und weltliche Herrschaft „auf Grund der allen Menschen gemeinsamen, gleichen Geschöpflichkeit" nur durch „allgemeine Übereinstimmung" der „Gewaltunterworfenen" (von Cues: 1433/1965, S.75f.; Ostreich: 1968, S. 29f.) rechtfertigt ist. Auch privatrechtliche Entwicklungen haben die Lehre von den natürlichen Rechten jedes Menschen mit auf den Weg gebracht. Neben den grundrechtlichen Sicherungen der Magna Charta von 1215 und ihrer Gerichtspraxis des „judgement by the peers" (abgedruckt in Franz: 3 1975, S. 498ff.; Wieacker: 2 1967, S. 249ff.; Brühlmeier: 1981, S. 233ff.) sind vor allem die „Habeas-Corpus-Akte" von 1679 und die „Virginia bill of rights" (1776) zu nennen (abgedruckt in Franz: 3 1975, S. 510ff. bzw. S. 6ff.). Wenn auch den Menschen lange vor dem 18. Jahrhundert natürliche und gleiche Rechte zuerkannt wurden, so gewannen die Grundrechte erst mit der Emanzipationsbewegung der Aufklärung jene Geltungskraft, in deren Folge ständestaatliche und absolutistische Herrschaftsformen revolviert und in konstitutionelle, mithin demokratische Verfassungsordnungen überführt wurden (Grimm: 1988a, S. 13ff.).
1. Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
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2. Grundrechte und -pflichten als konstitutive Elemente politischer Verantwortung Der politische Verband geht nach Locke aus der freiwilligen Vereinbarung jedes Bürgers mit jedem hervor, „... gegenüber jedem einzelnen dieser Gesellschaft, sich dem Beschluß der Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm zu fügen" (Locke: 1689/1983; S. 74). Bei Rousseau (1712-1778) findet sich die Erkenntnis, „... daß der Akt des Zusammenschlusses eine gegenseitige Verpflichtung von Öffentlichkeit und Einzelnen enthält und daß jeder Einzelne, indem er sozusagen mit sich selbst einen Vertrag schließt, sich in doppelter Hinsicht verpflichtet findet, nämlich als Glied des Souveräns gegenüber den Einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän". (Rousseau: 1762/1986, S. 19). Der so geschlossene politische Verband gründet demnach auf Sozialität, Gegenseitigkeit und „Sozialpflichtigkeit" (Saladin: 1984, S. 72) aller Bürger. Daher bedeutet die Wahrnehmungsbefugnis von Rechten zugleich auch die Anerkenntnis von Pflichten. Im Spannungsfeld subjektiver Willens- und Handlungsfreiheit der verantwortlichen Person einerseits und normativer Vorgaben und Verantwortungs-Instanzen andererseits bewegt sich verantwortlich gebundene - politische Freiheit. Locke und Rousseau legen genau diesen gemeinschaftsbegründenden Gehalt des Verantwortungs-Prinzips ihren Vertragstheorien zugrunde, wobei die Gewährleistung politischer Freiheit zwingend mit der rechtlichen Verpflichtung der Bürger gegenüber und innerhalb des Gemeinwesens verbunden ist (Saladin: 1984, S. 70f., z.B. Art. 6 der französischen Verfassung von 1793, abgedruckt bei Franz: 3 1975,S. 375). Rousseau folgert: „So zwingen Pflicht und Vorteil die beiden Vertragsteile gleichermaßen zu gegenseitigem Beistand, und die gleichen Menschen müssen versuchen, in dieser Doppelbeziehung alle sich daraus ergebenden Vorteile zu vereinen" (Rousseau: 1762/1986, S. 20). Der politische Verband beruht also auf der Verpflichtung der Bürger gegenüber den Mitbürgern wie der wechselseitigen Verpflichtung zwischen Bürger und Gemeinwesen. Die regulative Bindung von Freiheit und Verantwortung nimmt in der rechtlichen Fixierung von Grundrechten und Grundpflichten Gestalt an (Saladin: 1984, S. 70f.). Der englische Publizist Thomas Paine (1737-1809) brachte diesen Konnex in einem Kommentar zur amerikanischen Verfassung auf den Punkt: „A Declaration of Rights is, by reciprocity, a Declaration of Duties also ... it becomes my duty to guarantee, as well as to possess" (Paine: 1791/1979, S. 136). Ebenso beruht die Maxime der französischen Revolution: .Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit' auf dieser Wechselbeziehung (Grimm: 1973, insbes. S. 38ff.), wie die katholische Soziallehre in Personalität, Subsidiarität und Solidarität gründet (dazu etwa Maihofer: 1968, S. 17ff.). Das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1) steht dazu erkennbar in einem wesenhaften Zusammenhang.
3. Menschenwürde als Konstitutionsprinzip des GG Verlangt die „Würde der menschlichen Natur" ... „ ,eine sittlich gebundene Freiheit'" (Saladin: 1984, S. 70), so beruhen die Grundpflichten auf der „Gemein-
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1. Kap. : Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
schaftsgebundenheit des Menschen in seiner W ü r d e " (Häberle: 1987, S. 831; auch Luchterhandt: 1988, S. 456f.; Götz/Hofmann: 1983, S. 7ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Würde des Menschen oberster W e r t der Staatsordnung, „Zweck allen R e c h t s " ( B V e r f G E 6, 32 (41) und B V e r f G E 3 0 , 1 7 3 (194), und die in A r t . 1 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich kodifizierte Unantastbarkeit der Menschenwürde fällt unter die Bestandsgarantie des A r t . 79 Abs. 3 G G (Steinacher-Geddert: 1990; G r a f Vitzthum: 1985b). D i e Menschenwürde verstanden als das R e c h t auf geistig-sittliches Streben nach eigenverantwortlicher Lebensgestaltung ist eine alle Rechtssubjekte durchwirkende Verhaltensnorm für jedermann (Häberle: 1987, S. 820ff.). D i e Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch „zum bloßen O b j e k t der Staatsgewalt herabgewürdigt" wird und eine Behandlung erfährt, „die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt" ( B V e r f G E 30, 2 5 ) . D i e menschliche Würde wird in den unveräußerlichen Freiheitsrechten manifest, welche als Schutzgüter in den Grundrechten der A r t . 2 bis 17 G G kodifiziert sind, jedoch auch unter bestimmten Bedingungen - etwa Verwirkung nach A r t . 18 G G , Gesetzesvorbehalt nach A r t . 17a und 19 Abs. 1 G G und grundsätzlich durch den für alle Grundrechte geltenden Art. 2 A b s . 1 G G eingeschränkt werden können. Die Grundrechte beschreiben verfassungsrechtliche Kompetenzen und Pflichten im Gemeinwesen und begründen das Verständnis von Verfassung als „Wertsystem" ( B V e r f G E 7 , 1 9 8 (205)). Sie avancieren zum Maßstab des politischen Verbandes und der ihm eignenden gesellschaftlichen Lebensformen, indem sie zum einen Schutzgüter präzisieren, auf die hin staatliches, soziales wie auch individuelles Handeln auszurichten sind, und zum anderen den innerstaatlichen Handlungsrahmen normativ begrenzen. Aus staatsrechtlicher Sicht wird demzufolge zwischen A b w e h r - , Teilhabe- und Leistungsrechten unterschieden (so Stern: 1988 III/l, S . 558ff. ). V o n staatsbürgerlicher Seite erscheint zudem eine Differenzierung in Handlungs-, Unterlassungs- und Duldungspflichten bedeutsam (Luchterhandt: 1988, S . 452ff. ; Murswiek: 1985, S. 108ff. ). Bislang hat das deutsche Staatsrechtsdenken - so eine Einschätzung (Luchterhandt: 1988, S. 33ff. ; Saladin: 1984, S. 212ff.; Häberle: 1987, S. 823f.) - die Pflichtendimension als der Grundrechtsdogmatik nachgeordnet vernachlässigt 1 . Die Menschenwürde-Norm und ihre Konkretion durch die Grundrechte gewinnen angesichts der modernen Problemherausforderungen und aus dem Blickwinkel der staatlichen Verantwortung für die Daseinsfürsorge herausragende B e deutung. Damit rückt auch die Pflichtendimension politischer Verantwortung in den Vordergrund, die bereits in der Präambel des Grundgesetzes umrissen ist.
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Als Indiz dafür spricht, daß das G G keinen systematischen Katalog von Grundpflichten enthält, wie er beispielsweise in kleinem Stil der Weimarer Reichsverfassung angehört hat (Hinweis bei Saladin: 1984, S. 7 3 ; vgl. Art. 1 0 9 , 1 3 2 bis 1 3 4 d e r W R V ) . Verstreut über das GG finden sich Staatsbürgerpflichten wie die elterliche Pflege- und Erziehungspflicht (Art. 6 Abs. 2 ) , Dienstleistungs-, Teilnahmepflicht einschließlich Wehrpflicht ( A r t . 12a), Eigentum verpflichtet (Art. 14 Abs. 2), Verfassungstreuepflicht (Art. 33 Abs. 1); nicht ausdrücklich im G G fixiert sind die Steuerpflicht und der Gesetzesgehorsam. In den Länderverfassungen ist die unter die Kulturhoheit fallende Schulpflicht verankert.
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4. Verantwortungspflicht nach der Präambel des GG Die Präambel des Grundgesetzes beginnt mit der Wendung: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen". Mit diesem Vorspruch wollten die Verfassungsgeber keine staatsrechtlich verifizierbare und rechtswirksame Verantwortlichkeit verankern, sondern das G G deklaratorisch und affirmativ in eine nicht eingrenzbare Verantwortungs- und Fürsorgepflicht gegenüber den Menschen stellen. Die in dieser Formel angezeigte „Allgemeingültigkeit von überstaatlichen Bindungen gibt Grenzen der Entscheidungsfunktionen der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes" an (Maunz/Dürig/Herzog/Scholz: 1989; RN 14 und 11) und verneint zugleich die rousseau'istische Vorstellung einer unbedingten Volks- und Staatssouveränität (näheres in II.). „Verantwortung vor Gott und den Menschen" greift in der Selbstbindung der Staatsgewalt und des menschlichen Vermögens auf ein ethisches Fundament dergestalt zurück, daß sie eine den positiven Rechtssätzen vorausliegende, mithin den Rechtsrahmen übergreifende Verpflichtung umfaßt (unterschiedliche Nuancierungen bei Häberle: 1982, S. 232f.; Apelt: 1949, S. 481; Wassermann: 2 1989, RN 21; Graf Vitzthum: 1985b). Verantwortung nach der Präambel des G G ist nur auf der Grundlage vorausgesetzter, allgemeinverbindlicher Wertentschcidungen praktikabel. Die rechtliche Bindungskraft der Präambel kann an dieser Stelle nicht eingehend behandelt werden (dazu: Lehmann-Brauns: 1964; Schoepke: 1965, S. 156ff.); es bleibt hier festzuhalten, daß ihre Inhalte bei Verfassungsauslegungen zu berücksichtigen sind (konkret Doehring: 1979, S. 633ff.). Dafür spricht auch der unmittelbare Bezug der Präambel zu Art. 1 Abs. 1 und 2 G G , wobei die Bekenntnisklausel des Art. 1 Abs. 2 G G die in der Präambel manifeste „Verantwortung vor Gott und den Menschen" als staatsbürgerliche Grundpflicht und Staatszielbestimmung konkretisiert (Maunz/Dürig/Herzog/Scholz: 1989, RN 8; von Mangoldt/Klein: 2 1985, S. 13ff.). Als „Chiffre für einen über alles Menschliche hinausgehenden Verpflichtungshorizont" (von Mangoldt/Klein: 2 1985, S. 15) mahnt die Formel auch an die Sorge um zukünftige Generationen, „denen die Lebenden keine Umwelt hinterlassen dürfen, in der Grundrechte nicht mehr zu verwirklichen sind" (von Mangoldt/ Klein: 2 1985, R N 22). Zusammenfassend ist in der Präambel des G G die Verantwortung für die Folgen staatlichen und staatsbürgerlichen Handelns verfassungsrechtlich festgeschrieben (Hoffmann: 1981, S. 272f.). Entlang der fundamentalen Menschenwürdenorm sind die Schutzpflichten des Staates zu entfalten, welche in besonderer Weise durch die Grundrechtseinwirkungen moderner Technologien gefordert sind (vertiefend Kap. 5, auch § 16 III.). Im Vorhergehenden sollte deutlich werden, daß der demokratische Verfassungsgrundsatz „Verantwortung" dem Konstitutionsprinzip der Menschenwürde und dem Grundrechtsgüterschutz verpflichtet ist. Der folgende Abschnitt geht davon aus, daß Verantwortung vor allem in ihrer Eigenschaft, teilbar zu sein, zur tragenden Grundlage demokratischer Herrschaft, ihrer institutionellen und organisationsrechtlichen Ausgestaltung, Funktionsweise und Legitimation geworden ist. Verantwortung als intentionaler Handlungsgrundsatz demokratischer Institutionen kommt in der Verschränkung der Verfassungsprinzipien der Repräsentation, der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung zur Geltung.
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II. Repräsentation und Volkssouveränität 1. Amt und Treuhänderschaft Die lange Tradition der Repräsentationsfigur läßt sich in der Kirchen- und Privatrechtsgeschichte zurückverfolgen (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 66ff.). Denn der Amtsgedanke und die privatrechtliche Vollmacht, anstelle des Beauftragenden dessen Interessen wahrzunehmen, sind aufs engste an den Repräsentationsgedanken geknüpft und sowohl im römischen als auch im kanonischen Recht gegenwärtig gewesen (zurBegriffsgeschichte: Hofmann: 21990). Derzentrale Gedanke der an das römisch-rechtliche Amtsverständnis geknüpften Repräsentationsidee verdient deswegen in besonderer Weise hervorgehoben zu werden, weil er in die Demokratietheorie eingegangen ist: Bedeutet Amtsführung die Wahrnehmung anvertrauter Macht, so setzt dies eine Ermächtigung dazu voraus. Ermächtigen heißt, die Zustimmung erteilen, daß ein anderer für einen selbst handelt. Hierzu ist eine Vereinbarung erforderlich, welche einerseits die bindende Verpflichtung zur Anerkennung der Handlungen des Beauftragten zur Folge hat und andererseits miteinschließt, daß der Bevollmächtigte bei Verstößen gegen den erteilten Auftrag innerhalb einer reglementierten Sanktionsordnung rechenschaftspflichtig wird. Mit der Erteilung der Vollmacht veräußert der Beauftragende jedoch nicht seine Handlungskompetenz. Er überträgt sie lediglich für die Erfüllung eines Auftrages an eine bestimmte Person und möglicherweise für befristete Zeit. Die Vollmacht erlischt demzufolge mit Erfüllung des Auftrages. Der Staatsrechtler Georg Jellinek hat Repräsentation im vorgestellten Sinne als Rechtsverhältnis charakterisiert: „Unter Repräsentation versteht man das Verhältnis einer Person zu einer oder mehreren anderen, kraft dessen der Wille der ersteren unmittelbar als Wille der letzteren angesehen wird, so daß beide rechtlich als eine Person zu betrachten sind" (Jellinek: 31990/1976, S. 566). Repräsentation ist demzufolge nicht mit Stellvertretung gleichzusetzen, sondern bezeichnet ein Rechtsverhältnis, bei dem in bezug auf den erteilten Auftrag eine Willenseinheit von Repräsentierten und Repräsentanten angenommen wird. Repräsentation hat in diesem Sinne der abendländischen privatrechtlichen, aber auch verfassungsgeschichtlichen Entwicklung als kontinuierliches Traditionselement angehört (Hennis: 1968a, S. 50; Jellinek: 31900/1976, S. 568ff.; Podlech: 1984 V.,S. 510f.). Auch Herrschaft wird nach dem repräsentativen Prinzip als Rechtsverhältnis konstituiert, wobei die treuhänderische Wahrnehmung der politischen Geschäfte über den formalrechtstechnischen Aspekt hinausgehend eine materiale Qualität beinhaltet (Böckenförde: 1983, S. 18ff.): Repräsentation bestimmt nicht nur in dem Moment der Beauftragung den Ursprung und die Legitimität von Herrschaft, sondern ist als intentionale Handlungsvollmacht der Wahrnehmung bestimmter Ziele und Zwecke verpflichtet. 2
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Bereits die altständische Repräsentation (16. bis 18. Jhd.) zielte auf die „Gewährleistung der Bindung des Herrschers an das objektive Recht" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 74): Repräsentiert wurde die ständisch gegliederte politische und gesellschaftliche Ordnung zu dem Zweck, die intentionale Ausrichtung von Herrschaft auf das Gemeinwohl zu wahren.
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2. Volkssouveränität in der repräsentativen Demokratie Die Demokratietheoretiker des neuzeitlichen Verfassungsstaates haben unter gewandelten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen (genauer § 2) das repräsentative Prinzip mit der Idee der Volkssouveränität verbunden. Sie knüpfen dabei an die naturrechtliche Vorstellung an, daß die individuelle Autonomie und Selbstbestimmung des kraft Geburt mit unveräußerlichen Rechten ausgestatteten Menschen jeder gesellschaftlichen und politischen Organisation vorausgehen . Der Staat wird in der Folge in einem rechtsschöpferischen Akt von den Individuen als Kreationssubjekt willentlich geschaffen. Daher erklärt sich die Souveränität des Volkes als logisches „Resultat der Herleitung gesellschaftlicher Verfügungsgewalt aus individueller Autonomie" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 234; Grimm: 1988a, S. 19ff.) und findet ihren stärksten Ausdruck in der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, im pouvoir constituant. War im Absolutismus der Monarch Repräsentant der Einheit des Staates und Verkörperung der Souveränität, so wechseln die in der Rousseau'schen Denktradition stehenden Volkssouveränitätstheorien zunächst den Träger der Souveränität aus: Die Fürstensouveränität wird auf den Volkssouverän übertragen, der Monarch durch das Volk ersetzt (Kriele: 41990, S. 226f.; Graf Kielmannsegg: 1977, S. 242). Rousseau hat nicht nur maßgeblich die Lehre von der Volksherrschaft geprägt, sondern auch das Unvereinbarkeitsdiktum von Volkssouveränität und Repräsentation aufgestellt, welches bis heute in demokratietheoretischen Diskussionen präsent ist (prominent Schmitt, C. : 1928, S. 204ff., Landshut: 1968, S. 484ff.). Indem Rousseau die monarchische Souveränität auf das Volk überträgt, zielt seine Idee der Volksherrschaft auf die unmittelbare und ständige politische Handlungsfähigkeit des Volkssouverän. Das Volk ist daher nur dann souverän, wenn es selbst Herrschaft ausübt, mithin keine Unterschiede zwischen Herrscher und Beherrschten, Innehabe und Ausübung der Staatsgewalt bestehen: Da Souveränität unveräußerlich, unteilbar und unverjährbar ist (Rousseau: 1762/1986, S. 27ff.), kann sie - so Rousseau - nicht auf andere übertragen oder durch sie vertreten werden, ohne daß sie selbst von ihrem Inhaber veräußert wird (Rousseau: 1762/1986, S. 102ff.; Podlech: 1984 V., S. 521). Wenn nur die Identität von Regierten und Regierenden Freiheit und Selbstbestimmung (Rousseau: 1762/1986, S. 16ff.) gewährleistet, schließen sich folglich Volkssouveränität und Demokratie einerseits, Gewaltenteilung und Repräsentation (Rousseau: 1762/1986, S. 28ff. und 102ff.), da sie in der Teilung der Staatsgewalt durch Beauftragung und Vollmacht ein Herrschaftsverhältnis konstituieren, andererseits aus. Entscheidend an dem vorgetragenen Gedankengang ist die Frage nach dem Ort der Souveränität. Das Rousseau'sche Volkssouveränitätsverständnis spricht dem Volkssouverän und jedem seiner Teile ein apriorisches und unmittelbares Herrschaftsrecht (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 244) zu. Die Konsequenz ist gravierend und m.E. nicht mit dem demokratischen Verfassungsstaat vereinbar: Indem nämlich die volonté générale, da sie stets gemäß dem Naturrecht handelt (Rousseau: 1762/1986, S. 30ff.), absolute Geltungskraft beansprucht, konstituiert sich rechtlich ungebundene Herrschaft, die nicht verantwortet werden muß (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 236; Scheuner: 1961, S. 232), da sie aus sich selbst geschöpft keiner höheren Verbindlichkeit verpflichtet scheint. Das so verstandene Volkssouveränitätsprinzip spricht jedem einzelnen Teil des Volkssouverän das
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apriorische Recht zu, „über die Belange aller mitzuentscheiden" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 236). Dieses Recht steht jedoch niemandem, auch nicht dem Volk apriorisch zu: Denn im „Gegensatz zu älteren Legitimitätsdoktrinen konstituiert die Demokratieprämisse gerade nicht unmittelbar ein Herrschaftsrecht, sondern gibt die Bedingungen an, denen rechtmäßige Herrschaft zu genügen hat" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 244). Daher reicht die Summe sich selbstbestimmender Individuen nicht aus, um „die Möglichkeit der verbindlichen Geltung von Entscheidungen in Kollektiven zu begründen" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 236). Das Rousseau'sche Verständnis von Volkssouveränität gerät selbst in einen Konflikt mit dem Demokratieprinzip, welches auf dem Grundsatz beruht, daß verbindliche Entscheidungsbefugnis als intentionale Handlungsvollmacht verantwortet werden muß (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 234; Scheuner: 1961, S. 232). Ein weiterer Einwand sei genannt: Schon anthropologisch verfehlt das vorgetragene Konzept die soziale Eingebundenheit menschlicher Existenz, aus der heraus fast jeder A k t der Selbstbestimmung Seinsweise und Interessen Dritter berührt, mithin einer Fremdbestimmung unterwirft und daher im Konflikt mit den Selbstbestimmungsrechten der Betroffenen nach einem Bewertungsmaßstab verantwortet werden muß. Keineswegs können daher die Selbstbestimmung jedes Einzelnen und die „Verfügungsgewalt aller über alle" in eins gesetzt werden, womit auch die Identität von Regierenden und Regierten - verstanden als die „Identität von individueller Selbstbestimmung und Souveränität des Kollektivs" nicht herstellbar ist (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 236 und 243). Das demokratische Amt hingegen bestätigt den Unterschied zwischen Beherrschten und Herrschenden, setzt Vollmacht, Zuständigkeit, Handlungszweck, Kontrolle, Rechenschaftsinstanz, mithin eine rechtsstaatliche Verfassung und eine verantwortliche Regierungvoraus. Eine andere Sichtweise findet sich bei Rousseaus Zeitgenossen Emmanuel Sieyes (1748-1836), dessen Flugschrift „Was ist der Dritte Stand" weit verbreitet und überaus einflußreich war. In den Schriften Sieyes stehen die Prinzipien der Volkssouveränität und der Repräsentation noch weitgehend unverbunden neben- oder sogar in einem Spannungsverhältnis zueinander. Denn einerseits spricht Sieyes dem Volk respektive der Nation die Staatsgewalt zu, andererseits kann sie die Souveränität nicht wie die natürliche Person eines absoluten Monarchen unmittelbar selbst ausüben, sondern bedarf zu deren Wahrnehmung einer organisatorischen Form. Sieyes unterscheidet drei „Epochen" (Sieyes: 1788-90/1975), S. 164ff.; weiterführend Schmitt, E.: 1969; Göhler/Klein: 1991, S. 374ff.) der Entstehung eines politischen Gemeinwesens: Der ersten Phase des Zusammenschlusses autonomer Individuen zu einer Gesellschaft aus dem „Spiel der Einzelwillen" folgt eine zweite Phase des Handelns eines „gemeinschaftlichen Willens", einer nationalen „Einheit des Willens". In dieser Phase ist der Souverän unmittelbar und permanent selbst handlungsfähig. Mit der Vergrößerung und räumlichen Ausdehnung des Verbandes kann dieser „gemeinschaftliche Wille" nicht mehr unmittelbar ausgeübt, sondern muß in eine institutionelle Form gebracht werden: Folglich fassen sie „alle Befugnisse zusammen, die erforderlich sind, um für die Bedürfnisse der Gesellschaft zu sorgen; und die Ausübung dieses Teils des Nationalwillens und somit der Nationalgewalt vertrauen sie einigen aus ihrer Mitte an". Das dritte „Zeitalter einer Regierung durch Vollmacht" unterscheidet sich von der zweiten Epoche dadurch, „daß nun nicht mehr der wirkliche gemeinschaftliche Wille han-
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delt, sondern ein stellvertretender gemeinschaftlicher Wille ... Die Abgeordneten üben diesen Willen nicht kraft eigenen Rechts aus, sondern als das Recht anderer; der gemeinschaftliche Wille existiert nur als Auftrag (commission)" (Sieyès: 1788-90/1975), S. 166 und 30). Nicht nur für die gesetzgebende, sondern auch für die verfassungsgebende Versammlung erkennt Sieyès das Repräsentativprinzip an (Schmitt, E.: 1969, S. 212f.). Die souveräne Nation verliert dadurch nicht ihre Souveränität, sondern überträgt lediglich die „Ausübung dieses Rechts" (Sieyès: 1788-90/1975, S. 168). Nach dem Ort der Souveränität gefragt, finden sich bei Sieyès zwei Bestimmungen: Z u m einen kann die Nation die Verfassung und die Gesetze jederzeit durchbrechen, da sie niemandem verantwortlich sein kann noch darf (Sieyès: 1788-90/ 1975, S. 169): „Eine Nation ist von jeder Form unabhängig; und auf welche Art und Weise sie auch will, die bloße Äußerung ihres Willens genügt, um gleichsam angesichts der Quelle und des obersten Herrn jedes positiven Rechts alles positive Recht außer Kraft zu setzen". Der Nationalsouverän bleibt in Anlehnung an Rousseau unmittelbar handlungsfähig und hat die „Kompetenz-Kompetenz" (zum Begriff: Kriele: 4 1990, S. 84ff.) zu beliebigen Entscheidungen inne, welche er jederzeit an sich ziehen kann. Zum anderen hebt Sieyès nicht nur hervor, daß Herrschaft durch Repräsentation eine Verfassung voraussetzt, welche Auftrag, Organisation, Verfahrensregeln etc. verbindlich regelt, sondern stellt fest, daß erst die Verfassung die repräsentierte Nation handlungsfähig macht: „Ohne solche Verfassungsbestimmungen ist sie nichts, nur durch sie kann sie handeln, lenken und befehlen" (Sieyès: 1788-90/ 1975, S. 166). Über die Verfassung wiederum hat das Volk resp. die „Nation" entschieden. Damit hat sie ihre pouvoir constituant wahrgenommen, welche bis zur erneuten Verfassungsgebung in der Verfassung ruht: pouvoir constitué. Bei Sieyès stehen zwei Souveränitätsbegriffe neben- oder gegeneinander: Souverän ist die Nation, wenn sie über die Verfassung entscheidet, über sie verfügt und sie zudem jederzeit durchbrechen kann. Solange die Verfassung in Kraft ist, macht der Nationalsouverän von seiner Souveränität keinen aktiven Gebrauch, sondern beauftragt mit der Wahrnehmung seiner Rechte innerhalb der Gesetzesordnung die Repräsentanten. In der Auseinandersetzung mit Rousseau wurde hervorgehoben, daß Demokratie kein unmittelbares Herrschaftsrecht, sondern normative Bedingungen begründet, denen legitime, d.h. verantwortbare Herrschaft genügen muß. Demokratie beruht nicht nur auf dem Prinzip der Volkssouveränität, sondern setzt auch den Verfassungsstaat voraus. Solange dieser jedoch besteht, handelt der Volkssouverän nach Sieyès nicht selbst, sondern durch seine Repräsentanten. Damit ist die Frage nach dem Ort der Souveränität im demokratischen Verfassungsstaat gestellt. Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen Volkssouverän und Volkssouveränität (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 241; Kriele: 4 1990, S. 224ff.). Der demokratische Verfassungsstaat kennt einen unmittelbar handlungsfähigen Volkssouverän, der sich über alle Verfassungsprinzipien hinwegsetzen kann, nicht. Statt dessen wird der „Gemeinschaftliche Wille" (Begriff von Sieyès: 1788-90/1975, S. 165f.) nach dem hierfür unerläßlichen repräsentativen Prinzip organisiert (dazu Heller: 1928/ 1971, S. 426), welches z u d e m - n a c h Sieyès (Schmitt, E.: 1969, S. 192; Hofmann/ Dreier: 1989, S. 170f.) - durch arbeitsteilige Stellvertretung eine höhere Rationalität und Effektivität des politischen Gemeinwesens bewirkt (Hofmann/Dreier: 1989, S. 170; Schmitt, E.: 1969, S. 193). Es ist daher der Auffassung zuzustim-
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men, daß Repräsentation „im demokratischen Verfassungsstaat" zum Transformationsbegriff souveräner Identität" (Dreier: 1986, S. 23) wird. Auch für Ernst Fraenkel ist das Herrschaftsmonopol in der Repräsentation aufgehoben und damit zugleich als zweck- und zielorientierte Treuhänderschaft praktikabel (Fraenkel: 5 1973, S. 113): „Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates oder sonstiger Träger öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen". Im demokratischen Verfassungsstaat ist die „Souveränität als Entscheidungsmonopol eines konsistenten Kompetenzsystems, nicht als Entscheidungsmonopol und schon gar nicht als Allkompetenz eines Souveräns" (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 240) organisiert. Kritisch zu bewerten ist hingegen Krieles Standpunkt, demzufolge im demokratischen Verfassungsstaat weder ein Volkssouverän noch Volkssouveränität - da diese mit der Ausübung des pouvoir constituant aufgegeben wurde-wirksam werden (Kriele: 4 1990, S. 225f.). Dieser Souveränitätsbegriff orientiert sich nicht an den Bedingungen des „normalen" Verfassungslebens, sondern geht idealtypisch von den Ausnahmesituationen zu Beginn und bei Zusammenbruch des Verfassungsstaates aus unter Vernachlässigung der normativen Maßgaben der in der Repräsentation transformierten Volkssouveränität. Folgendes Fazit sei gezogen: Der Volkssouverän hat seine Souveränität mit dem Akt der Verfassungsgebung an die konstituierte Ordnung gebunden. Ihm sind damit zugleich Rechte und Kompetenzen wie auch Pflichten zugewiesen. Der Volkswille nimmt folglich in den institutionellen Formen der Verfassung Gestalt an. Wenn auch die Besetzung der Verfassungsorgane unmittelbar durch das Volk geschieht oder mittelbar auf dieses rückführbar ist, so ergibt sich die demokratische Legitimität nicht nur aus der kausalen Herleitung politischer Herrschaft, sondern vor allem aus ihrer finalen Zweckdienlichkeit (Graf Kielmannsegg: 1977, S. 259). Denn nach dem Demokratiegebot ist jede politische Entscheidungsbefugnis als Amt zu verstehen, welches aufgrund einer verbindlichen Zielund Zwecksetzung zu Rechenschaft verpflichtet. Demokratische Herrschaft beruht demnach auf Beauftragung, anvertrauter Machtausübung und Verantwortung gegenüber den Autorisierenden. Sie begründet und bestätigt zunächst den Unterschied zwischen Regierten und Regierenden. Nach dem repräsentativen Prinzip werden im demokratischen Verfassungsstaat aus der Gesamtheit die politischen Entscheidungsträger ermittelt. Es ist über die Beziehung von Wählern und Abgeordneten hinaus von grundlegender Bedeutung im demokratischen Gemeinwesen. Denn die Delegation von Handlungskompetenz durch Beauftragung, die damit verbundene Begrenzung der Machtausübung gemäß dem erteilten Auftrag, eine folglich gegliederte Ordnung von Entscheidungs- und Zuständigkeitsbefugnissen und die Kontrolle der Amtsführung finden sich auf allen Ebenen der Staatsordnung wieder. Eingangs wurde erläutert, daß Repräsentation aus der Unterscheidung von Auftragenden und Ausführenden, Repräsentierten und Repräsentierenden lebt und politische Herrschaft als Rechtsverhältnis konstituiert. Hierzu bedürfen repräsentative Verfahren einer Rechtsordnung, welcher Beherrschte und Herrschende gleichermaßen unterworfen sind. Wenn das Volk im demokratischen Staat sei-
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ne Souveränität nur als Verfassungs- und Kreationsorgan ausüben kann (Art. 20 Abs. 2), so führt die in Wahlen erteilte zeitliche, sachliche und personelle Ermächtigung der Repräsentanten, für die Gesamtheit - und nicht nur für die Wähler - zu handeln, nicht zu einer Entäußerung der Souveränität, sondern ist der eigentlich souveräne Akt. Indem nämlich die Wahlberechtigten ihre Willen bilden und durch Delegation an die Repräsentanten für eine bestimmte und feststehende Zeit selbst binden, kann sich das konstituieren, was als institutionell verfaßter Staatswille die Grundlage politischen Handelns ausmacht (BVerfGE 20, 98 unter Hinweis auf BVerfGE 8, 113), durch welches das Volk „zum Subjekt der Souveränität werden kann" (Heller: 1927, S. 75). Es sei an dieser Stelle angefügt, daß das repräsentative Prinzip Gewaltenteilung schafft. Für den Verfassungsrechtler Loewenstein (: 31975, S. 36) geht die repräsentative Technik der Gewaltenteilung als Vorbedingung der Verteilung politischer Macht voraus: „Die Repräsentation ist eine Ordnung der Delegation vom Volk her, nicht der unmittelbaren Entscheidung durch das Volk" (Scheuner: 1961, S. 231). Das Prinzip der Verantwortung bringt diese Funktionsstruktur zum Ausdruck. Verantwortbare demokratische Herrschaft muß sich normativ an ihrer Zielsetzung und Zweckdienlichkeit messen lassen (zum Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz siehe § 10 III.). 3. Repräsentation und industrielle Gesellschaft Mit der zunehmenden Interessen- und Wertevielfalt der modernen Gesellschaft stellt sich das Problem, wie etwa der von Sieyes apostrophierte gemeinschaftliche Wille erwiesen und dargestellt werden kann, unbesehen der grundsätzlichen Reflexion , ob dies nicht selbst unter der Bedingung größtmöglicher sozialer und kultureller Homogenität Fiktion bleiben muß (Heller: 1928/1971, S. 428ff.). Wenn in der aktuellen Diskussion um die Leistungsfähigkeit demokratischer Repräsentation von dem angezeigten Sachverhalt gesellschaftlichen Werte- und Interessenpluralismusses auszugehen ist, so erweist es sich zunehmend als schwieriger, Repräsentation als existentialen Aufweis einer transzendenten Werthaftigkeit oder Volkseinheit zu verstehen, wie es für Carl Schmitt, den frühen Gerhard Leibholz und Siegfried Landshut gilt (Schmitt, C.: 1928; Leibholz: 1929/31966; Landshut: 1968). Beizupflichten ist daher wissenschaftlichen Positionen (Hofmann/Dreier: 1989, S. 173), die demokratische Repräsentation als parlamentsübergreifenden Gestaltungsprozeß verstehen, in welchem das Parlament zwar einen Repräsentationsvorrang, aber kein Repräsentationsmonopol genießt. Wenn auch im Staats- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik der institutionelle Staatswille von der Meinungs- und Willensbildung des Volkes unterschieden wird, so handelt es sich bei ihnen keinesfalls um unabhängig voneinander existierende Größen. Im Gegenteil sind in der modernen Gesellschaft beide außerhalb des Wahlaktes vielfältig ineinander verwoben und wechselseitig beeinflußt (Hofmann/Dreier: 1989, S. 175). An der politischen Willensbildung wirken nicht nur die Parteien und organisierten Interessen mit (weiterführend § 13). Vor allem die modernen Informations-
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und Kommunikationstechnologien eröffnen vielfältige Wege der Information und Rückkopplung. Neben der besonderen Bedeutung der Medien ist auch auf den zunehmenden Einfluß der Meinungsumfrage auf die Politik hinzuweisen (repräsentativ: Landshut: 1970; Hennis: 1968 b). Schließend seien zwei die heutige Demokratiediskussion prägende Repräsentationsprobleme aufgeworfen: a) Plebiszitäre Ergänzung der Verfassung Das System verantwortbarer Herrschaftsausübung durch Amtswalter mit Zurechnungs- und Zuständigkeitsbereichen, zu welchem das repräsentative Prinzip führt, birgt die Gefahr, daß das Volk als aktive politische Größe absorbiert wird (Wassermann: 1989a). Wenn auch die bundesdeutsche Verfassung von repräsentativen Elementen dominiert wird, was sich aus den historischen Entstehungszusammenhängen des Grundgesetzes erklären läßt, so verschließt sich das G G nicht grundsätzlich der Möglichkeit einer verfassungsmäßigen Ergänzung um direktdemokratische Partizipationsformen. Dafür spricht allein schon in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 die Formulierung, daß die Staatsgewalt „vom Volke in Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt wird. In Art. 20 Abs. 2 Satz 2 ist das Volk jedoch nicht als pouvoir constituant - wie in der Präambel und in Art. 146 G G - angesprochen, sondern als höchster pouvoir constitué, welcher zudem als Teil der Verfassung unter die Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 G G fällt. Direktdemokratische Entscheidungen und Volksgesetzgebungsverfahren könnten daher in die konstitutionelle Grundordnung nur als der Verfassung nachrangig eingebettet werden (weitere Nachweise bei Dreier: 1986, S. 37ff. ; auch § 14). Nicht zuzustimmen ist hingegen einer Auffassung, welche Formen der „Volksgesetzgebung" (Direkte Demokratie: 1991) und des Plebiszits als nicht vereinbar mit der verfassungsrechtlich begründeten Verantwortung der parlamentarischen Volksvertretung für die Gesetzgebung' hält (Badura: 1989a, S. 247). Direktdemokratische Partizipations- und Entscheidungsverfahren sind allerdings nicht als Alternative zur demokratischen Repräsentation zu werten, sondern haben, da an ihnen nur die Aktivbürgerschaft teilhaben kann, auch repräsentativen Charakter. Aus diesem Grunde und aus dem Umstand des Verfassungsvorranges hätten sie sich einer sachlich zwingenden Prüfung zu unterziehen, ob die jeweiligen Gesetzesentwürfe oder Sachentscheidungen den Bedingungen genügen, welche die Demokratieprämisse an verantwortbare Herrschaft stellt. Keinesfalls kommt ihnen allein deswegen eine höhere Legitimität zu, weil der Volkssouverän unmittelbar handlungsfähig wird. b) Verantwortbare Herrschaft in der Industriegesellschaft In der durch den Prozeß der deutschen Einigung erneut belebten Debatte einer Verfassungsergänzung um plebiszitäre Elemente (ausführlich § 14) darf nicht übersehen werden, daß die Frage nach dem Ort der Souveränität im demokratischen Verfassungsstaat längst neue Probleme aufgeworfen hat, denen mutmaßlich nur sehr beschränkt mit der Einführung direkter Demokratie wirksam begegnet werden kann: Die Souveränität - so eine Kernaussage des Vorhergehenden wird im demokratischen Verfassungsstaat durch Repräsentation als Entschei-
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dungsmonopol einer in sich konsistenten Kompetenzordnung, mithin als institutionelles Verantwortungssystem organisiert, welches der Menschenwürdenorm und der treuhänderischen Wahrnehmung der in den Grundrechten verbürgten Schutzgüter verpflichtet ist. In der modernen Industriegesellschaft mit ihren wissenschaftlich-technischen Potentialen und Risiken bezeichnet Souveränität jedoch „einen eher symbolischen Zurechnungspunkt für Entwicklungsprozesse, die im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich liegen" (Dreier: 1986, S. 42) und keineswegs der staatlichen Kompetenz wie den institutionellen Steuerungsund Problemlösungskapazitäten entsprechen. Steht somit die Souveränität innerstaatlicher Entscheidungs- und Handlungskompetenz angesichts der wissenschaftlich-technologischen Durchdringung von Gesellschaft und Staat in Frage, so erwachsen an die demokratische Repräsentation neue Anforderungen, die sich vordringlich aus dem Gestaltungs- und Handlungscharakter des repräsentativen Prinzips herleiten und auf seine Legitimationsleistungen rückwirken. Die Anschauung, daß Souveränität im modernen Industriestaat - unbesehen inter- und supranationaler Überformungen - nicht mehr allein die Entscheindungskonsistenz der Verfassungsordnung meinen kann, sondern zunächst einen „symbolischen" Verantwortungs-Träger als Fluchtpunkt markiert, entbindet nicht von der Aufgabe, die staatliche Verantwortungsfähigkeit und Möglichkeiten der Verantwortungsübernahme zu durchdenken. Als Herzstück repräsentativer Amtsherrschaft wurde stets die Gesetzgebung gesehen, denn das Gesetz stellt das wichtigste rechtsförmige Ordnungsinstrument eines politischen Verbandes dar. Folglich verweist eine besondere Verantwortung auf das „Gravitationszentrum" (Dreier: 1986, S. 43) des demokratischen Verfassungsstaates: die parlamentarische Volksvertretung (weiterführend §§ 11,12,16, 17 und 20). Repräsentation als treuhänderische Wahrnehmung der politischen Geschäfte nach Maßgabe fundamentaler Verfassungsnormen sollte der Idee nach dem Ziel (Sieyes: 1788-90/1975, S. 28ff. und S. 165f.; Locke: 1689/1983, S. 102ff. und S. 114f.) verpflichtet sein, das zu ermitteln, was von öffentlichem Interesse und dem Gemeinwohl dienlich ist. Die arbeitsteilige Delegation von Handlungskompetenz an unterschiedliche Repräsentationsorgane war und ist zudem mit einer Rationalitäts- und Effektivitätssteigerung politischer Herrschaft verbunden und nährte - getragen von dem Perfektibilitätsgedanken der Aufklärung - die Vorstellung eines Vorwärtsschreitens von Gesellschaft und Kultur wie ihrer sozioökonomischen Lebensweisen. Im Grunde trägt jede Maßnahme zur Gestaltung des öffentlichen Lebens dazu bei, eine soziale Wirklichkeit zu konstituieren, welche auf zukünftige Bedürfnisse und Interessen, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten vorgreift, auf diese erweiternd oder einschränkend wirken kann. Die Chance der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung künftiger Generationen steht in der modernen Industrie- und „Risikogesellschaft" (Begriff von Beck: 1986; weiterführend Beck: 1991), deren Handlungs- und Gestaltungspotentiale aufgrund ihrer häufigen zeitlichen Wirkung über den Verantwortungshorizont des zuständigen Entscheidungsträgers hinaus respektive ihrer möglichen Irreversibilität eine kaum noch abschätzbare Tragweite haben, in Frage. Diese neuartige zeitliche, sachliche und soziale Offenheit gesellschaftlicher und politischer Gestaltungskraft macht es unerläßlich, in den öffentlichen Diskurs die permanente Reflexion der Zulässigkeit staatlichen und gesellschaftlichen Handelns und Unterlassens sowie deren Zumutbarkeit verstärkt miteinzubeziehen.
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Politische Verantwortung als unabgrenzbare Fürsorgepflicht wird daher vermehrt im heuristischen Diskurs um die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens im Vordergrund stehen. In ähnlicher Form bemißt sich m . E . die Leistung demokratischer Repräsentation anhand des Kriteriums politischer Konsistenz. Dafür sprechen in besonderer Weise Vorschläge, welche die mandatarische Grundrechtswahrnehmung „zukünftiger Generationen" (Saladin: 1984, S. 206ff.; Saladin/Zenger: 1988, S. 87ff.; Birnbacher: 1988; Höhn: 1991) und der „Natur" (zusammenfassend Irrgang: 1991) als Mitgegenstand der Repräsentation betonen. Zwar können diese Rechte gegenwärtig nicht verletzt werden, dennoch rechtfertigt sich ihr treuhänderischer Schutz aus der bestehenden Möglichkeit einer irreversiblen Gefährdung. Für die Billigung einer solchen ist der Staat in die politische Verantwortung genommen, denn Menschenwürde und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1) verpflichten den Staat gemäß der Präambel des GG (siehe I.) zum sachlich, zeitlich und sozial offenen Rechtsgüterschutz vor den Folgen staatlichen und staatsbürgerlichen Handelns ( B V e r f G E 36, 321ff.; B V e r f G E 3 5 , 7 9 f . ; Hofmann: 1981, S. 281; weiteres § 20). Ob die demokratische Repräsentation den Anforderungen als Steuerungsinstanz der „durchaus breit vorhandenen Einsicht der Gesellschaft in ihre wohlverstandenen' Gegenwartsund Zukunftsinteressen" genügen und eine wirksame institutionelle „Reflexion der unmittelbaren Nutzenkalküle auf ihre Verträglichkeit mit den gleichen Entfaltungsrechten der Mitlebenden und der zukünftigen Generationen" (Preuß: 1990, S. 121) leisten kann, muß offen bleiben. Der Idee nach sollte sie diese Funktion auch im Konnex treuhänderischen Grundrechtsschutzes erfüllen.
III. Gewaltenteilung Begründet das repräsentative Prinzip im demokratischen Verfassungsstaat bereits durch Verteilung von Macht auf funktional differenzierte Repräsentationsorgane verantwortbare Herrschaftsausübung mit der Folge einer Steigerung von Effizienz und Rationalität, so hat das Prinzip der Gewaltenteilung maßgeblichen Anteil an der verfassungs- und staatsrechtlichen Ausgestaltung des Verantwortungs-Grundsatzes gewonnen. Das Gewaltenteilungsprinzip ist für die Kategorie der politischen Verantwortung deswegen tragend, weil diese Verknüpfung die Möglichkeit eröffnet hat, Verantwortung aus rechtsstaatlichen Elementen zu entwickeln. In diesem Sinne ist bis heute - wie auszuführen sein wird - auch die positivistische Anschauung, Verantwortung sei im Grunde eine Herrschaftstechnik, verbreitet. Der Schwerpunkt des folgenden Abschnittes zur Gewaltenteilung liegt weniger auf den ideengeschichtlichen Grundlagen als vielmehr auf der verfassungsrechtlichen Praxis. Die einleitende Deutung des Gewaltenteilungs-Prinzips als Kompetenzlehre stützt sich im wesentlichen auf Montesquieu (1689-1755). Das Hauptaugenmerk des daran anschließenden Abschnitts gilt der staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Wahrnehmung von Verantwortung im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik. Mit Überlegungen zu gegenwärtigen Anforderungen politischer Verantwortung in der Gewaltenordnung des G G endet dieser Abschnitt.
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1. Gewaltenteilung als Kompetenzlehre Das Gewaltenteilungs-Prinzip ist in der Mitte des 18. Jahrhunderts durch Montesquieus „Geist der Gesetze" prominent geworden und hat damals das politische Denken des .Federalist' und die amerikanische Verfassungsentwicklung mit ihrer Trennung legislativer und exekutiver Gewalten beeinflußt (Saladin: 1984, S. 45ff.). Aus der Anschauung der englischen Verfassungspraxis gewann Montesquieu die Erkenntnis, daß ihre besondere Zielsetzung darin bestand, ein Höchstmaß politischer Freiheitsrechte der Bürger zu sichern (Montesquieu: 1748/1965, S. 212). Im 6. Kapitel des 11. Buches vom „Geist der Gesetze" dringt Montesquieu in die englische Verfassungsordnung ein und beschreibt, wie politische Freiheit durch die Verteilung des staatlichen Herrschaftsmonopols auf verschiedene Gewalten gewahrt werden kann. Setzt politische Repräsentation ein verfaßtes Gemeinwesen voraus, so bringt der Gewaltenteilungs-Grundsatz durch funktionale Delegation staatlicher Kompetenzen und ihre Verteilung auf verschiedene Verfassungsorgane als Träger der Staatsgewalt gemäßigte Macht und damit Rechtssicherheit für die Bürger hervor (Montesquieu: 1748/1965, S. 211), Grundlage, Rahmen und zugleich Maßstab dieser Delegationsordnung ist die Verfassung als kodifizierte Rechtsordnung. Für Montesquieu setzt sich die Staatsgewalt gemäß dem GewaltenteilungsGrundsatz aus einer handelnden Gewalt (Exekutive) und einer über eigenständige Kompetenzen verfügenden kontrollierenden Gewalt (Legislative) zusammen 3 . Durch die Funktionsverteilung rechtsetzender und vollziehender Gewalt wird das staatliche Entscheidungsmonopol registriert und in einer Ordnung von Zuständigkeiten und Kontrollinstanzen aufgehoben. Die Verteilung der Staatsgewalt auf unterschiedliche Funktionsträger bedeutet jedoch nicht strikte Gewaltentrennung und statische Balance (so die Mißdeutung bei Sieyes; Schmitt, E.: 1969, S. 193f.), sondern erfordert im Gegenteil ständiges Zusammenwirken und gegenseitige Bindung: „Eigentlich müßten diese drei Befugnisse einen Stillstand oder eine Bewegungslosigkeit herbeiführen. Doch durch den notwendigen Fortgang der Dinge müssen sie notgedrungen fortschreiten und sind daher gezwungen, in gleichem Schritt zu marschieren". (Montesquieu: 1748/1965, S. 223). Montesquieu hat folglich nicht in erster Linie die Trennung der Gewalten, sondern ihr Zusammenwirken beschrieben (Drath: 1969, S. 32ff.; Riklin: 1989, S. 432; Imboden: 1959, S. lff.). Bedeutet Gewaltenteilung zunächst Differenzierung politischer Macht und Einflußgewichtung in festumrissenen Kompetenzen und Zuständigkeitsbereichen, so führt die Klassifikation von Staatsfunktionen zu einer funktional und institutionell, formell und material aufgefächerten Staatsgewalt.
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Montesquieu hat die Rechtsprechung aus dem „Gefüge der institutionalisierten Gewalten" gelöst. Sie sollte nach dem englischen Vorbild nicht in den Händen eines festen Trägers liegen, sondern von Geschworenengerichten mit rotierender Besetzung wahrgenommen werden: „Unter den drei von uns besprochenen Befugnissen ist die richterliche gewissermaßen gar keine. Nur zwei bleiben übrig". (Montesquieu: 1748/1965, S. 217; weitere Nachweise bei Drath: 1969, S. 26ff.)
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Die Teilbarkeit des staatlichen Entscheidungsmonopols in umgrenzte Zuständigkeitsbereiche bedingt die der Aufgabenstellung gemäße Kreation mehrerer, voneinander unabhängiger Subjekte institutionellen Handelns, welche als Verfassungsorgane oder Amtswalter oder auch als kollektive Verantwortungssubjekte in Form juristischer Personen konstituiert werden können. Um handlungsfähig zu sein, bedürfen sie verbindlicher Regelsetzungen, in denen interne Organisation und Arbeitsweisen wie Kompetenzen und Verfahren im Zusammenwirken mit anderen Trägern staatlicher Gewalt festgelegt sind. Diese können sowohl als Rechtsinstitute im Verfassungs- und Staatsrecht als auch in Form organisatorischer Verfahrensregeln und Vorschriften, z.B. in Geschäftsordnungen oder Verwaltungsvorschriften präzisiert sein oder als Gewohnheitsrecht ausgeübt werden. Gewaltenteilung ist daher zunächst als Kompetenzlehre (Saladin: 1984, S. 46ff.; Stettner: 1983) anzusprechen. Darüber hinaus gibt sie die Organisationstechnik an die Hand, mit der eine Verfassung als konsistentes Verantwortungssystem, vor allem aus rechtstaatlichen Elementen entwickelt werden kann. Kontrolle wird zum Korrelat politischer Verantwortung im Verfassungsstaat (Scheuner: 1970; Loewenstein: 3 1975). Muß ein Machtträger einem anderen gegenüber für die Erfüllung der ihm zugewiesenen bzw. anvertrauten Aufgabe Rechenschaft ablegen, so wird über das Instrument der Kontrolle Verantwortung geltend gemacht. Montesquieu hat als Maßstab die Rechtmäßigkeit angelegt; Herrschaft muß dem „Geist der Gesetze" entsprechen: „Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse. Ein Staat kann so aufgebaut werden, daß niemand gezwungen ist, etwas zu tun, wozu er nach dem Gesetz nicht verpflichtet ist, und niemand gezwungen ist, etwas zu unterlassen, was das Gesetz gestattet" (Montesquieu: 1748/1965, S. 211). Der Aufweis von Verantwortung ist wesentliches Strukturelement des Verfassungsstaates, in welchem die Ausübung politischer Macht auf mehrere sich wechselseitig kontrollierende Träger aufgeteilt und das Kontrollinstrumentarium als Ganzes in der Verfassung bzw. im Staatsrecht verbürgt ist. „Konstitutionalismus ist nicht nur eine Regierung auf rechtsstaatlicher Grundlage, sondern er bedeutet die verantwortliche Regierung.... Die Suprematie der Verfassung ist der Schlußstein eines integralen Systems der politischen Kontrolle (Loewenstein: 3 1975, S. 49)." Die konkrete verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gewaltenteilungs-Grundsatzes bedingt aufgrund der Variationsbreite im Kontrollinstrumentarium verschiedene Formen der Wahrnehmung und Wirkung politischer Verantwortung. Damit sind jedoch grundsätzliche Fragen der Staatsformenlehre berührt, die hier nicht im einzelnen verfolgt werden müssen. Herauszustellen ist an dieser Stelle das Spezifikum des parlamentarischen Regierungssystems, wie es auch in der Bundesrepublik Deutschland praktiziert wird. Die parlamentarische Regierungsweise zeichnet sich durch die Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber der legislativen Volksvertretungskörperschaft aus und beruht auf der parlamentarischen Befugnis, über Ernennung und Abberufung der Regierung zu entscheiden (Scheuner: 1927, S. 228ff.; weiterführend § 2 , 3 und 8). In England, wo sich die parlamentarische Regierungsform um die Mitte des 18. Jhds. durchsetzte, ist hierfür der Name „Responsible government" (Scheuner: 1970, S. 389) geläufig. „Responsible government" bezeichnet eine Herrschafts-
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weise, bei der die Regierung zu ihrer Amtsführung das Vertrauen des Parlaments benötigt und in ihrem Bestand von einer tragenden Mehrheit im Parlament abhängig ist. Demnach wird im parlamentarischen Regierungssystem die Vorstellung, daß demokratische Herrschaft an Zustimmung, Vertrauen und Verantwortung gebunden ist, auf Kreation und Bestand der Exekutive wie die Durchsetzung der Regierungspolitik angewandt. Eingangs wurde erwähnt, daß Montesquieu lediglich die institutionelle Organisation legislativer und exekutiver Staatsgewalt als notwendig erachtete. Diesen Gedanken hat Loewenstein (: 3 1975, S. 39ff.) aufgenommen und eine „neue Dreiteilung der Staatsfunktionen" formuliert, nach der das Element der Kontrolle, welches die innere Relation zwischen exekutivem und legislativem Handeln kennzeichnet, zu einer ihnen gleichwertigen Staatsfunktion aufzuwerten sei. Politische Kontrolle ist demnach das konkrete Instrument, mit welchem die gesamte exekutive Tätigkeit ausnahmslos der politischen Verantwortung unterstellt werden kann. Der Umstand, daß die beschriebene Wechselseitigkeit von Verantwortung und Kontrolle der Staatsgewalten als konkrete Wahrnehmungsbefugnisse und Verfahrensregeln im Verfassungs-, Staats- und Parlamentsrecht kodifiziert sind oder nach Gewohnheitsrecht praktiziert werden, hat zu der Anschauung beigetragen, politische Verantwortung habe „eine technische Bedeutung im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems" und meine die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament als „fest umrissenes Rechtsinstitut" (Badura: 1989a, S. 246). Als wesentliche Merkmale politischer Verantwortung im parlamentarischen Regierungssystem werden in diesem Sinne genannt (so Badura: 1980, S. 573ff.; Stern 19801., S. 988ff.; Scheuner: 1970, S. 393): • eine gewaltenteilig gegliederte Staatsordnung; • die verfassungsrechtliche Garantie eigenständiger Entscheidungs- und Handlungskompetenz verantwortlicher und verantwortungsinstanzlicher Staatsorgane; • folglich eine durch den Gewaltenteilungs-Grundsatz begründete Distanz zwischen den in einer Verantwortungs-Beziehung stehenden Trägern staatlicher Gewalt, mithin die Unterscheidung zwischen unmittelbarer Geschäftserledigung und Kontrolle der Geschäftserledigung; • ein. verpflichtender Beurteilungsmaßstab der Rechtmäßigkeit und sachlich-politischen Zweckdienlichkeit; • ein abgestuftes Sanktionssystem. Der Verantwortungs-Grundsatz wird demnach in erster Linie als Organisationstechnik einer funktional differenzierten staatlichen Kompetenzordnung mit Zuständigkeiten, Ämtern und Kontrollinstanzen begriffen und wird dadurch zugleich zu einem konstitutiven Element des Rechtsstaates. Allerdings wird hier ein Verantwortungs-Begriff unterlegt, der im Grunde nur die Teilbarkeit in voraussehbare, eingegrenzte Zuständigkeiten und Kontrollbereiche als organisatorische Bedingung politisch verantwortbaren Handelns betont und eine „politiktranszendente Rationalität" (Badura: 1989a, S. 252) in den Mittelpunkt rückt, so als könne diese losgelöst von konkreten Politikinhalten ermittelt werden. (Unten wird ein dazu gegenläufiger Standpunkt vertreten).
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Allein folgender Einwand steht dem schon entgegen: Stellt der demokratische Verfassungsstaat die „Selbstorganisation der modernen Industriegesellschaft" (Hesse, K.: 171990, S. 7ff.) dar, so sind die Rechtsordnung wie die politischen Institutionen als soziale Selbsteuerungsinstrumente aufzufassen. Sie können nur eine sehr begrenzte Eigenständigkeit gegenüber der Gesellschaft beanspruchen, da sie den normativen Gestaltungsaufgaben und Problemherausforderungen des Gemeinwesens material verpflichtet sind. Die Einhaltung der durch die Rechtsordnung auferlegten Normen und verfassungsrechtlichen Prinzipien sind zwar notwendige, aber für die Wahrnehmung politischer Verantwortung nicht hinreichende Kriterien. Denn aus den politischen Steuerungsaufgaben - vor allem unter den Bedingungen der modernen Industriegesellschaft - erwächst eine besondere Verantwortung für Politikinhalte und ihre Folgen, welche nach öffentlicher Zweckdienlichkeit und Konsensfähigkeit zu beurteilen sind.
2. Politische Verantwortung in der Gewaltenordnung des GG a) Verantwortung in den Grundgesetzartikeln Das Grundgesetz kennt den Begriff der Verantwortung in der Präambel im Sinne einer fundamentalen, normativen Zuständigkeitspflicht für die Folgen staatlichen und staatsbürgerlichen Handelns, welche in der Anerkenntnis vorkonstitutioneller ethischer Wertbindungen gründet. Alle Grundgesetz-Artikel, in denen sich der Begriff der Verantwortung findet, unterlegen ihm zunächst ein kompetenz- und amtsrechtliches Verständnis (Art. 28 Abs. 2, 34, 42 Abs. 3, 46 Abs. 1 und 2 sowie 65 GG; Graf von Westphalen: 1988b, S. 11). Das Grundgesetz gebraucht „Verantwortung" in zweifacher Bedeutung: Zum einen steht vornehmlich in der Präambel der normative Verpflichtungscharakter im Mittelpunkt; zum anderen heben die Artikel auf das institutionelle Verweisungsgefüge ab. So korrespondiert mit der Verantwortung des Bundeskanzlers für die staatsrichtungsbestimmende Politikgestaltung (Art. 65 Abs. 1 GG) die ministerielle Ressortverantwortung (Art. 65 Abs. 2). Entsprechend der Teilbarkeit von Verantwortung werden demnach Kompetenzen in alleiniger Zuständigkeit wahrgenommen, wobei gleichzeitig bei Amtspflichtverletzungen die Verantwortung auf die autorisierende Instanz zurückfällt. Die Verantwortung meint dabei nicht die konkrete und persönliche Zurechenbarkeit eines Fremdverschulden, sondern wird für die grundsätzliche Billigung der Amtspflichtverletzung innerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereichs geltend gemacht (bereits Bieberstein: 1930, S. 393). So erfolgt auch bei allen anderen Amtspflichtverletzungen nach Art. 34 G G die Zurechnung der Verantwortung auf die autorisierende Körperschaft oder auf den Staat grundsätzlich, unbelassen der Möglichkeit eines gesetzlichen Rückgriffs auf den tatsächlichen Verursacher. Folgendes sei allgemein gesagt: Verantwortung für die Verletzung einer Norm ohne persönliche Zurechenbarkeit wirkt nicht nur als Haftung des Einzelnen gegenüber der Institution bei Verletzung der institutionellen Integrität, sondern auch umgekehrt als Haftung der Institution für ein ihre Integrität beschädigendes Handeln und Unterlassen der verpflichteten Mitglieder.
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Dieser Verweisungszusammenhang politischer Verantwortung ist nur im Rahmen amtsrechtlicher oder institutioneller Verantwortung anzuerkennen, ohne daß damit die personale Verantwortung aufgegeben wäre.
b) Gegenwärtige Anforderungen an den Gewaltenteilungs-Grundsatz und die parlamentarische Regierungsverantwortung Der Umstand, daß Gestaltungspotentiale und Interaktionen der verschiedenen Akteure im politischen wie gesellschaftlichen Raum vor allem in Hinblick auf mittel- und langfristige Entscheidungen komplexer werden und zudem mit der Zunahme staatlicher Aufgaben eine vermehrte Gesetzgebungs- und Verordnungspraxis feststellbar ist, unterwirft auch die parlamentarische Verantwortung einem Verständniswandel: Nicht mehr die rekapitulierende Kontrolle vergangener Regierungstätigkeiten, die zumeist ohnehin nur einer verfahrenstechnischen Prüfung ihrer politischen Zweckdienlichkeit unterworfen werden können, scheint in erster Linie politische Verantwortung aufweisbar zu machen, sondern die kritisch-diskursive Begleitung politischer Entscheidungsfindung. Die dadurch berührten Fragen der Gewaltenteilungs-Interpretation beschäftigen die Verfassungsdiskussion seit langem: So kam 1976 die Enquete-Kommission „Verfassungsreform" zu einer kritischen Einschätzung der Gewaltenteilungspraxis nach dem G G , stellte die „originäre Beteiligung" des Parlaments an der Staatsleitung (BT-Drs. 7/5924, S. 177) über Art. 20 Abs. 2 Satz 2 fest und fügte verschärfend hinzu, daß exekutiv-administrative Politikplanung nicht mehr im Sinne einer verfahrenstechnischen Vorbereitung politischer Entscheidungen zu verstehen sei, sondern weit darüber hinausgehend den Charakter einer „Vorverfügung" über zu treffende Entscheidungen des Parlaments trage (BT-Drs. 7/ 5924, S. 177). Führt man diese verfassungspolitische Bestandsaufnahme fort, so ist Gewaltenteilung nicht nur als Prinzip der Machtverteilung und -kontrolle, sondern vorauslaufend als Organisationsprinzip einer funktional-konsistenten Kompetenzordnung zu befragen, welche den Aufweis parlamentarischer Regierungsverantwortung über ein angemessenes Kontrollinstrumentarium gewährleisten soll. Gewaltenteilung meint nach neuerer Auslegung des G G zunächst machtbegrenzendes Zusammenwirken kooperierender Verfassungsorgane im politischen Prozeß, deren Funktions- und Kompetenzbereiche bei aller Kohärenz eigenständig erhalten bleiben sollten (Hesse, K.: 171990, S. 187ff.; BVerfGE 34,52 (59), BVerfGE 68,1 (86)). Daran anknüpfend erfolgt der Aufweis politischer Verantwortung mittels „Kontrolle durch Mitwirkung" (Scheuner: 1970, S. 392), durch „Mitregierung" (Kewenig: 1970) oder durch „Zusammenwirken verschiedener Instanzen auf ein gemeinsames Ziel" (Bäumlin: 1966, S. 247). Diese Sichtweise gründet auf Ernst Friesenhahns einprägsamer Formel, daß die Staatsleitung als „kombinierte Gewalt" Parlament und Regierung „zur gemeinsamen Hand" zusteht (Friesenhahn: 1958, S. 38; weiterführend § 11IV.). Bei genauer Ausleuchtung der Kompetenzordnung des GG verbleibt außerhalb der gewaltenteiligen Kompetenzbereiche der Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung eine Fülle weiterer ,freier' Staatstätigkeiten, die durch die Rahmensetzung des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 G G keine eindeutige Zuordnung erfahren und sowohl dem exekutiv verfügbaren Rege-
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lungsbereich als auch dem gesetzgebenden Parlament zugesprochen werden können (Magiera: 1979, S. 61). Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner jüngeren Rechtsprechung verstärkt der Anschauung Rechnung getragen, daß im Parlamentsgesetz das Hauptinstrument politischer Führung beschlossen ist, und folglich den Vorrang der gesetzgebenden Gewalt und der parlamentarischen Entscheidungskompetenz unterstrichen. Dies verdient umso mehr Beachtung, als der Entwicklungstrend der bundesdeutschen Verfassungspolitik bislang auf Bundes- und Länderebene die exekutive Planungskompetenz stärkte - bei gleichzeitig rückläufiger parlamentarischer Staatsleitungsteilhabe und Regierungskontrolle. Belege hierfür sind die sich seit den 60er Jahren vollziehende Unitarisierung der Staatsgewalt (Hesse, K.: 1962, S.26ff.; Friedrich: 1989, S. 1710ff.; und § 22), die „doppelte Politikverflechtung" der Exekutiven auf Bundesländer- und Europaebene (Klatt: 1988; Hrbek: 1986; Friedrich: 1989, S. 1711f.; auch § 22,1.), schließlich die Entwicklung der Bundestagswahlen zu Kanzlerwahlen qua verbindlicher Vornormierung der Kanzlerkandidaten durch die Parteien, welche auch als Trend zur „Präsidentialisierung" charakterisiert wird, da die Bundestagswahl dem Kanzler eine „plebiszitäre" und „extrakonstitutionelle" Legitimation verschaffe (Thaysen/Davidson/Livingston: 1988, S. 561). Ausblickend auf die folgenden Kapitel sei auf die besondere politische Verantwortung des Gesetzgebers hingewiesen, wie sie angesichts der gegenwärtigen Problemherausforderungen und Risikodimensionen material vom Bundesverfassungsgericht begründet wird. Zunächst sei in diesem Zusammenhang an einen Gedanken des Repräsentationskapitals (oben II.) erinnert, von dem die folgenden Überlegungen ausgehen: Dort wurde als wesentliches Problem der modernen Industriegesellschaft aufgeworfen, daß die Souveränität innerstaatlicher Entscheidungs- und Handlungskonsistenz angesichts der wissenschaftlich-technologischen Durchdringung aller privater und öffentlicher Bereiche in Frage steht. Gerade deswegen ist die Verantwortungsfähigkeit politischer Institutionen zu durchdenken und nach Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung zu fragen. Seit Locke ist dem Staat primär die Aufgabe zuerkannt worden, Leben, Freiheit und Eigentum seiner Bürger zu schützen (Locke: 1689/1983, S. 94f.). Dieses Staatszweck- und -zielverständnis hat sich vordringlich im 19. Jahrhundert bewährt; damals galten noch öffentliche Staatsführung und sozial-privatwirtschaftliches Leben als weitgehend voneinander unabhängige Sphären (Bull: 2 1977; Magiera: 1979). Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß mit der wissenschaftlich-technologischen Moderne seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neuartige Problemqualität aus der Gleichsetzung der Risiken der Industriegesellschaft mit denen des Staates erwachsen ist, welche die Steuerungs- und Problemlösungskonzepte des demokratischen Verfassungsstaates vor neue Herausforderungen stellt. Gegenwärtig ist eine zunehmende Gefährdung der in den Grundrechten verbürgten Schutzgüter feststellbar: So wirken vor allem moderne Technologien wie Kernkraft (Roßnagel: 1984a), die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (RoßnagelAVedde/Hammer/Pordesch: 1990; Graf von Westphalen/Neubert: 1988b) in den Grundrechtsbereich hinein. Die Gentechnik birgt Gestaltungs- und Risikopotentiale, welche den an anderer Stelle (I.) umrissenen Kern der Menschenwürde wesenhaft verändern könnten (Graf Vitzthum: 1987; ders./Steinacher-Geddert: 1990; Vollmer: 1989; näheres § 16 und im 5. Kapitel).
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Ist der demokratische Verfassungsgrundsatz „Verantwortung" im wesentlichen bestimmt als treuhänderische Wahrnehmung von Herrschaft im Dienste der an der Menschenwürde-Norm und den Grundrechten orientierten Staatszweck- und -Zielbestimmungen, so ist die staatliche Zuständigkeit und Fürsorgepflicht gefordert, wenn die Grundrechte und mithin das Konstitutionsprinzip der Menschenwürde gefährdet sind. Da die Grundlagen demokratischer Staatlichkeit selbst betroffen sind, kann die Verantwortung hierfür nicht delegierbar sein. Das Herzstück repräsentativer Demokratie ist die parlamentarische Volksvertretung; das von ihr beschlossene Gesetz Hauptinstrument der politischen Führung. Folglich fallen Fragen, die das Konstitutionsprinzip der Menschenwürde und die Grundrechte berühren, in die Prärogative parlamentarischer Verantwortung.
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§ 2 Parlamentsentwicklung in Deutschland: Von der konstitutionellen Repräsentation zur verantwortlichen Volksvertretung Raban Graf von Westphalen I. Die Struktur konstitutioneller Verfassungen. - II. Konstitutionelle Verantwortung. - III. D e r Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem. - IV. Gesetz und Gesetzgebung. Grundlagenliteratur Bergsträsser, Ludwig (1954/ 5 1980): „Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland". In: Kluxen, Kurt (Hg.), Parlamentarismus. Königstein/Ts., S. 138ff. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1972a): „Die Einheit von nationaler und konstitutioneller politischer Bewegung im deutschen Frühliberalismus". In: Ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918). Köln, S. 27ff. Ders. (1972b): „Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert". In: Ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918). Köln, S.146ff. Botzenhart, Manfred (1977): Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850. Düsseldorf. Grimm, Dieter (1988a): Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866. Frankfurt/ M. Kröger, Klaus (1988): Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte (1806-1933). München. Kühne, Jörg-Detlef (1989): „Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus". In: Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 49ff. Obenaus, Herbert (1984): Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848. Düsseldorf. Rauh, Manfred (1977): Die Parlamentarisierung des Deutschen Rcichcs. Düsseldorf. siehe auch Hilfsmittel Teil B, I.
I. Die Struktur konstitutioneller Verfassungen Die Überlegungen des vorstehenden § 1 dienen dem Versuch, die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland wie Stellung und Funktion des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem (ausführlich §§ 8 und 9) auf drei ideengeschichtlich-institutionelle Grundprinzipien - Volkssouveränität, Repräsentation und Gewaltenteilung-zurückzuführen. Verfassungsrechtlich kodifiziert, die Menschen- und Bürgerrechte sichernd, finden sich die genannten Prinzipien im Titel III. der französischen Verfassung vom
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3.9.1791. Ihrer Bedeutung wegen seien sie hier zitiert (abgedruckt bei Franz: 3 1975, S. 315ff.): „Art. 1. Die Souveränität ist einheitlich, unteilbar, unveräußerlich und unverjährbar. Sie gehört der Nation. Kein Teil des Volkes und keine einzelne Person kann sich ihre Ausübung aneignen. Art. 2. Die Nation, von der allein alle Gewalten ihren Ursprung haben, kann sie nur durch Übertragung ausüben. Die französische Verfassung ist eine Repräsentativverfassung. Ihre Repräsentanten sind die gesetzgebende Körperschaft und der König. Art. 3. Die gesetzgebende Gewalt ist einer Nationalversammlung übertragen (...). Art. 4. Die Regierung ist monarchisch. Die ausführende Gewalt ist dem König übertragen (...)". Auf diesen Grundlagen sollte sich die staatsrechtliche Verschränkung von Monarchie und Volksvertretung in Deutschland vollziehen, als deren engeres Vorbild zu Beginn der frühkonstitutionellen Phase die monarchisch-restaurative Charte Constitutionelle von 1814 steht (Text bei Pölitz: 1833 II., S. 89ff.; Menger: 6 1988,S. 123). Zur Entwicklung im Einzelnen: Die auf staatliche und nationale Einheit drängende konstitutionelle Entwicklung (Obenaus: 1984; Böckenförde: 1972a, S. 27ff.) und der an Partizipation und Repräsentation orientierte, von den Reformbürokratien vorangebrachte Umbau der Gesellschaftsordnung in Form des allmählichen Übergangs von der Ständezur staatsbürgerlichen Gesellschaft fand ihre (vorübergehende) Staatsform im monarchischen Konstitutionalismus als Ausgleich zwischen rechtlich begrenzter monarchischer Herrschaftsgewalt („monarchisches Prinzip") und souveräner Volksvertretung. Im Verständnis dieser Staatsform blieb der Monarch Ursprung aller Staatsgewalt; er figurierte weiterhin als Souverän. In unversöhnlichem Gegensatz zum Gewaltenteilungsprinzip und zur Idee der Volkssouveränität (dazu § 1 II. und III.) gewährte der Souverän Volk und Ständen eine Verfassung, da allein er den pouvoir constituant verkörperte. Gegen jede Form des Verfassungsvertrages gewandt, beteiligte er andere, ihm nachgeordnete Staatsorgane an der Ausübung der Staatsgewalt, so die Volksvertretung (Mitwirkung), deren rechtliche Zuständigkeit durch ihn bestimmt (Staatswille ist allein monarchischer Wille) und begrenzt (Vetorecht) wurde (Kühne: 1989, S. 52ff.; Böckenförde: 1972b, S. 146ff.; Huber: 2 19901., S. 652ff.; Zoepfl: 1863 II./ 1975, S. 199ff.). Aus der Betrachtung dieser Grundlagen der Staatsform des monarchischen Konstitutionalismus leitet sich die Auffassung her, sie als eine Übergangsepoche zwischen absolutistischer Monarchie und parlamentarisch-demokratischem Staatswesen (Böckenförde: 1972b, S. 146; Rauh: 1977, S. 14) und nicht als eigenständiges Staatsmodell zu erklären. Eine daran anknüpfende Frage, „ob die modernen Parlamente ihre Grundlagen in den ständischen Verfassungen haben und der moderne Parlamentarismus auf der ständischen Repräsentation aufbaut oder nicht" (Rausch: 19801., S. 1), soll an dieser Stelle mit folgendem Hinweis beantwortet werden: Die Regelung in Art. 13 der Bundesakte vom 8. Juni 1815 (Text bei Franz: 31975, S. 121ff.), nach welcher „in allen Bundesstaaten (...) eine landständische Verfassung stattfinden" wird, verweist zunächst unverkennbar auf ältere Institutionen. So haben die Länderparlamente ursprünglich Verbindungen zu den landesherrlichen, beratenden Hoftagen der späteren Landstände, die ihre Bedeutung (z.B. Steuerbewilligung) erst mit der Konzentration fürstlicher Herrschaftsgewalt in der Epoche des Absolutismus verloren. Die „Hoftage" der deut-
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sehen Könige, die als beratende Einrichtungen die älteren Volksversammlungen ablösten - von hier deuten Entwicklungslinien auf den Repräsentativcharakter der kirchlichen Konzilien (siehe § 141.) stehen in einem traditionellen Zusammenhang mit dem Organ der Reichsstände, dem Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation als einem Teil der dualistischen, allerdings zur Regierung des Reiches nicht fähigen Reichsspitze (Conrad: 2 1962 I., S. 240ff.; Härtung: 9 1969, S. 148ff.; Bosl: 1977; Morraw: 1989, S. 3ff. m.w.N.). Eine kontinuierliche Entwicklung von den beratenden Versammlungen des Mittelalters zum modernen Parlament hat es weder in Frankreich noch in Deutschland gegeben. Der Mangel an „nationalstaatlicher Kontinuität in Deutschland war eine schwere Belastung für den Parlamentarismus" - urteilt Klaus von Beyme - , weil sich auf „nationalstaatlicher Ebene kein modernes parlamentarisches System aus dem vordemokratischen repräsentativen System entwickeln konnte. Es ist daher kein Zufall, daß Deutschland nach Schweden der am spätesten parlamentarisierte Staat West-und Mitteleuropas wurde" (Beymev.: 1989, S. 103). In diesem institutionellen Defizit liegen wesentliche Gründe für die deutsche Rezeption vor allem des englischen aber auch französischen Parlamentarismus und dessen Einfluß auf die deutsche Entwicklung. (Die nachfolgenden §§ 3-5 versuchen diese Zusammenhänge jeweils zu beleuchten.) Zunächst sei die parlamentsgeschichtliche Entwicklung in Deutschland anhand zweier Linien skizziert: dem Ubergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Regierungsverantwortung und der Ausweitung des Gesetzesvorbehalts.
II. Konstitutionelle Verantwortung Der französische Staatsdenker Montesquieu (weiteres § 1 III.) beschreibt im „Geist der Gesetze" (: 1748/1965, S. 212ff.; dazu Riklin: 1989, S. 436ff.) das Modell einer gemischten Verfassung, welches in der Tradition konstitutioneller Monarchien steht und zudem auf der Vorstellung einer ständischen Gesellschaftsordnung beruht, wie sie sich in der politischen Ordnung widerspiegelt. Die Legislative wird Montesquieu zufolge aus zwei voneinander unabhängig tagenden und beschließenden Körperschaften gebildet: Zum einen aus den gewählten Volksvertretern, zum anderen aus der erblichen Adelskörperschaft. Beide Körperschaften können sich weder selbst versammeln, noch dürfen sie permanent tagen, noch sich selbsttätig mit politischen Fragen befassen. Befugt, die legislativen Körperschaften zu einem bestimmten Zweck einzuberufen und danach wieder aufzulösen, ist der an der exekutiven Spitze stehende Erbmonarch, dem darüberhinaus bei Gesetzesbeschlüssen ein absolutes Veto eingeräumt ist. Die Legislative - autorisiert, die Anwendung ihrer Gesetze zu überwachen - kann jedoch nicht den Monarchen zur Verantwortung ziehen. Da seine Person sankrosankt ist, sind an seiner Stelle die Minister der strafrechtlich sanktionierenden Verantwortlichkeit unterstellt. Die Verantwortlichkeit der Minister steht in engem Zusammenhang mit der Unverantwortlichkeit der Krone und resultiert aus der Anschauung Montesquieus, der monarchischen Regierung eine starke Stellung zu sichern. In Ergänzung und Ausführung des oben bereits zitierten Art. 13 der Bundesakte gab Art. 57 der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820 (Text bei Franz: 3 1975, S. 138) diesem Verständnis verfassungsprogrammatisch Ausdruck, wenn dort beschlossen wurde: „Da der deutsche Bund, mit Ausnahme der freien Städte, aus souveränen Fürsten besteht, so muß, dem hierdurch gegebenen Grundbe-
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griffe zufolge, die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staates vereinigt bleiben, und der Souverän kann durch eine landständische Verfassung nur in Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden". Die Unbestimmtheit der staatsrechtlichen Terminologie dieses wie des Art. 13 der Bundesakte von 1815 führte vor allem in Ausdeutung der „landständischen" in Abgrenzung gegenüber den „repräsentativen" Elementen (Bluntschli: 5 1876 II., S. 49ff.) zu einer ganz von den Bemühungen restaurativer Beharrung und Reform, Fortschritt und Weiterentwicklung gekennzeichneten Auseinandersetzung. Ausgelöst wurde diese Auseinandersetzung vor allem durch ein Gutachten von Friedrich Gentz (1764-1832) - Berater des österreichischen Staatsministers Metternich - für die Karlsbader Konferenz (1819): „Über den Unterschied zwischen landständischen und Repräsentativ-Verfassungen". Landständische Verfassungen waren nach Gentz' Definition solche, „in welchen Mitglieder oder Abgeordnete durch sich selbst bestehende Körperschaften (z. B. Universitäten, Kirchen oder andere Körperschaften R.W.) ein Recht der Teilnahme an der Staatsgesetzgebung (...) ausüben". Repräsentativ-Verfassungen seien hingegen solche, „wo die zur unmittelbaren Teilnahme an der Gesetzgebung und zur unmittelbaren Teilnahme an den wichtigsten Geschäften der Staatsverwaltung bestimmten Personen (...) die Gesamtmasse des Volks vorzustellen berufen sind (Gentz: 1814/ 1844, S. 220ff.). Auf die folgende Entwicklung übten die Thesen erheblichen Einfluß aus (Godebauer: 1989, S. 40ff.; Huber: 2 1990I., S. 643ff.). Zwar gelang den restaurativen Kräften um Metternich eine bundesrechtlich verbindliche Interpretation und Festschreibung des altständischen Vertretungsmodells nicht; dennoch hatten sie mit der Statuierung des monarchischen Prinzips und der daraus resultierenden Einengung des „Funktionsbereichs der (...) repräsentativstaatlichstrukturierten Landtage" (Brandt, H.: 1968, S. 57) Erfolg, insbesondere mit der Absicht, eine Parlamentarisierung der Exekutive (vorläufig) zu verhindern. Auf der Grundlage des Art. 57 der Wiener Schlußakte als institutionelle Garantie des monarchischen Konstitutionalismus (zum Begriff Boldt, H.: 1978, S. 649ff.) erfolgte eine ihr entsprechende Verfassungsgewährung zunächst in den süddeutschen Staaten. Eine Begründung ist in der staatsrechtlichen Lage dieser Staaten nach der napoleonischen Rheinbundpolitik zu sehen; Säkularisierung, Mediatisierung und territoriale Neuordnung, vor allem aber auch verfassungspolitische Überlegungen, wie Revolutionen vorzubeugen sei, veranlaß ten die Monarchen zu verfassungsrechtlicher Konsolidierung (Botzenhart: 1982, S. 133). In unterschiedlichen Verfassungsgewährenden Verfahrensformen - notwendige, freiwillige oder oktroyierte Verfassungsgebung - fanden diese Staaten zu Repräsentativ-Verfassungen mit (alt)ständischen Elementen, welche, wenn auch zunächst nur bruchstückhaft, als Vorläufer des modernen deutschen Verfassungsstaates angesehen werden können. Unabhängig vom verfassungsgebenden Prozeß galt für alle, daß der Monarch durch die Verfassung an diese gebunden war; stellvertretend sei § 5 der Verfassungsurkunde für Baden vom 22. August 1818 zitiert: „Der Großherzog vereinigt in Sich alle Rechte der Staatsgewalt, und übt sie unter den in dieser Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus" (Text bei Zachariä: 1855, S. 331ff.; hier auch die übrigen deutschen Verfassungen; exemplarisch zudem Boldt, H.: 1987). Die Kompetenzregelungen für die Volksvertretungen waren unterschiedlich, aber ähnlich (Grimm: 1988a, S. llOff.): Alle beruhten auf dem monarchischen
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Prinzip mit starker exekutiver Prärogative - ihr war die Einberufung, Vertagung und Auflösung der Volksvertretung zugerechnet (ausführlich § 3 III.) - und den klassischen monarchischen Reservatzuständigkeiten (Armee, Verwaltung, Auswärtige Gewalt). Sie gewährten Bürger- und Freiheitsrechte und räumten den Landtagen - i.d.R. als Zweikammersysteme nach englischem Vorbild errichtet das Recht zur Mitwirkung an der Gesetzgebung und der Budgetbewilligung ein (Zoepfle: 5 1863/1975). Ein Gesetzesinitiativrecht besaßen die Volksvertretungen nicht, lediglich ein Gesetzespetitionsrecht, welches zu einem gestaltenden Einfluß auf Lenkung und Leitung des Staates nicht in der Lage war: Alle Mittel dazu lagen allein bei der Exekutive (Huber: 21990 I., S. 346ff.; für Württemberg Brandt, H.: 1987, S. 271ff.). Der Monarch wurde als „heilig und unverletzlich" (§ 5 Badische Verfassungsurkunde vom 22.8.1818, s.o.) angesehen, und deshalb konnte und durfte ihm eine persönliche Verantwortung für seine Handlungen nicht zugerechnet werden (dazu auch § 3 III.). Es entsprach gemeinsamer konstitutioneller Übung, daß die - wie es in Baden hieß - „großherzoglichen Staatsminister und sämtliche Staatsdiener (...) für die genaue Befolgung der Verfassung verantwortlich" sind (§ 7). Als Rechtsinstitut der zunächst strafrechtlich - nicht staatsrechtlich - bedeutsamen ministeriellen Verantwortungsübernahme führten die konstitutionellen Verfassungen die Gegenzeichnung (Kontrasignatur) aller vom Monarchen ausgehenden Verfügungen durch den „Departementsminister (...), welcher dadurch für ihren Inhalt verantwortlich wird", ein (§ 199 Verfassungsurkunde Württemberg; Tit. X, §§ 5,6 der Bayerischen Verfassungsurkunde vom 26.5.1818; Texte bei Zachariä: 1855, S. 104ff.). Die frühen deutschen Verfassungsregelungen enthielten mit diesem, dem französischen Verfassungsrecht unmittelbar entlehnten (Tit. III, Kap. II, Abschnitt IV, Art. 4 und 5 der Verfassung von 1791; Art. 13 der Charte Constitutionelle von 1814; Quellen s.o.), in der Tradition des englischen „Impeachment" stehenden Recht erste Elemente parlamentarischer Regierungskontrolle und verantwortlicher Regierung (Scheuner: 1970, S. 379ff.; Schambeck: 1971, S. 16ff.; von Bieberstein: 1930 I., S. 520ff.). War das absolutistische Regime charakterisiert durch den persönlich regierenden Monarchen, so überführte der Konstitutionalismus das Königtum als Folge verantwortlicher Ministerregierung in eine unverantwortliche, quasi „neutrale" Monarchie. Das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit ohne parlamentarisches Mißtrauensvotum mußte in seiner Konsequenz die Abhängigkeit der Minister vom Parlament stärken und gleichzeitig ihre Angewiesenheit auf das Vertrauen der Krone schwächen. Die von äußeren Ereignissen angestoßenen zweite und dritte großen Verfassungsbewegungen - 1830: Juli-Revolution in Frankreich; 1848: Sturz des Königs Louis Philippe (1773-1850) - hatten bereits im Vorfeld zur theoretischen Vertiefung der Staatslehre des Konstitutionalismus geführt, wobei stellvertretend für diese Bemühungen - neben Hegel - Friedrich Christoph Dahlmann (1785-1860), Lorenz von Stein (1815-1890) und Friedrich Julius Stahl (1802-1861) zu nennen sind. Vor allem auf die Staatslehre Stahls ist deshalb hinzuweisen, stellt sie 1845 erstmals mit Blick auf die Verantwortungsproblematik dem „monarchischen Prinzip" das parlamentarische entgegen: "Der eigentliche und spezifische Gegensatz gegen das monarchische Prinzip ist deshalb vielmehr das parlamentarische Prinzip, wie wir ihm diesem Namen geben wollen, d.i. die überwiegende Stellung des Parlaments gegenüber dem Könige, die sich in England ausgebildet hat und natürlich in den auf Volkssouveränität gegründeten Verfassungen nicht in Geringe-
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rem, sondern in höherem Grade angestrebt wird (: 1845, S. 2). A m englischen Beispiel orientiert, führt Stahl weiter aus, daß die parlamentarische Regierung sich dadurch definiert, daß die „Minister die gesamte Regierung in ihre H ä n d e gelegt bekommen (...) und diese mit unbedingter Rücksicht auf den Willen des Parlaments führen" (von Stahl: 1845, S. 7), solange sie das Vertrauen der Abgeordneten besitzen. Im Gegensatz dazu behalten in Deutschland die Minister im Anklagefall ihr Amt, solange sie das Vertrauen des Fürsten genießen. Die Ministerverantwortlichkeit sei hier Ausdruck des monarchischen Prinzips, wonach der Fürst das „Recht und die Macht habe, selbst zu regieren". Die Ministerverantwortlichkeit bestehe zum Zwecke der Verfassungsmäßigkeit und nicht - wie in England - „zum Zwecke der parlamentarischen Regierung" (von Stahl: 1845, S. 18; zu Stahl auch Goderbauer: 1989, S. 108ff.; Brandt, H.: 1967, S. 106). Der deutsche Konstitutionalismus ist über diese juristische Sichtweise der Ministerverantwortlichkeit im Sinne einer verfassungspositiven Regelung politischparlamentarischer Regierungsverantwortung nicht hinausgekommen, sieht man von § 186 Satz 2 der Paulskirchenverfassung vom 28.3.1849 ab, der besagt: „Die Minister sind der Volksvertretung verantwortlich (Text bei Boldt, H.: 1987, S. 391ff.; für die juristische Sichtweise von Mohl: 1837). Allerdings zeigte die Verfassungswirklichkeit sehr früh, daß monarchische Unverantwortlichkeit, ministerielle Verantwortungsübernahme und gesetzgebende Mitwirkung der Volksvertretung unter den Bedingungen der Bildung parteienorientierter Fraktionen im Parlament nicht vereinbar waren. Für die sechziger Jahre des letzten Jahrhundert faßte Brandt die Entwicklung dahingehend zusammen, daß die „Rechenschaftspflicht der Regierungen gegenüber den Landtagen, und das heißt: die Abhängigkeit der Regierungen von Landtagen (...) an Umfang und Intensität beständig" zunahmen (Brandt, H.: 1987, S. 543). Und 1869 urteilte der Historiker Heinrich von Treitschke bereits: Darüber ist kein Streit möglich, daß ein Ministerium auf die Unterstützung zählen muß, wenn es in der Gesetzgebung fruchtbar und segensreich wirken soll. Nur ein falscher bürokratischer Dünkel sträubt sich noch, diese längst zur Tatsache gewordene Macht unserer Parlamente anzuerkennen" (zitiert nach Brandt, H.: 1987, S. 453).
III. Der Übergang zum Parlamentarischen Regierungssystem Dieser Verfassungswirklichkeit trugen die Grundprinzipien der Konstitution des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 (RGBl, S. 63) nicht Rechnung. Sie blieb monarchisch-konstitutionell. Art. 17 RV regelte überkommenem Staatsrecht folgend, daß dem Kaiser die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Überwachung derselben zustehe. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers „werden im Namen des Reiches erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortung übernimmt". Dem Kaiser stand - konstitutionelle Übung - das alljährliche Einberufungsrecht des Reichstages zu, ebenso wie das Recht, diesen zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen; darauf ist bereits hingewiesen worden (näheres § 3 III.). In Reichskanzler Bismarck, als maßgeblichem Konstrukteur dieser bundesstaatlich-nationalen Verfassung, sah die Zeit vielfach den „Retter des deutschen Konstitutionalismus" und den „Bewahrer Preußens vor der Parlamentsherrschaft" (Boldt, H.: 1970, S. 119). In seiner Amtsführung als Reichskanzler, der vom Kaiser ernannt, den Vorsitz im Bundesrat führte und die „Leitung der Ge-
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schäfte" innehatte (Art. 15 RV), folgte Bismarck - wie die Reichskanzler nach ihm - den gewandelten Verfassungsbedingungen insofern, als er seine Politik auf wechselnde Mehrheiten im Reichstag stützte („Regierung über den Parteien"). Daß diese Politik der Absprachen, Kompromisse, Zugeständnisse und der Einmischung der Reichstagsparteien in Leitung und Verwaltung des Reiches im scharfen Gegensatz zur staatsrechtlichen Ignoranz der Parteien im konstitutionellen System stand, war wohl weniger entscheidend, als daß sich darin vielmehr die bedeutendste Veränderung im Verfassungssystem des Kaiserreiches in Form des zunehmenden Einflusses des Reichstages manifestierte. Die erstarkende Stellung des Reichstages war „Ausdruck grundlegender Wandlungen im Verhältnis der bürgerlichen Gesellschaft zu der bis dahin weitgehend von ständischen und anderen Eliten geprägten Staatlichkeit. Gegenüber dem bisher von Dynastie, Adel, Ministerialbürokratie und Offizierskorps getragenen Staat beanspruchten nunmehr die gesellschaftlichen Kräfte im Zeitalter der Industrialisierung, insbesondere die politischen Parteien und Verbände, am staatlichen Willensbildungsprozeß selbst teilzunehmen und ihn maßgeblich zu beeinflussen" (Kröger: 1988,S. 116f.), worauf unten zurückgekommen wird. Das erstarkende Selbstbewußtsein des Reichstages spiegelt sich nicht zuletzt in den seit der Jahrhundertwende immer wieder unternommenen Anläufen, eine judizielle Ministerverantwortlichkeit, welche Preußen, der Norddeutsche Bund und die Deutsche Reichsverfassung - im Unterschied zu den frühkonstitutionellen Verfassungen nicht gekannt haben - , zu kodifizieren. Wenn man einen historischen Versuch wagen will - schreibt Manfred Rauh angesichts dieser Bemühungen - wird man „vielleicht sagen können, daß der Vorgang der Parlamentarisierung, der als originäres Phänomen in England rund zwei Jahrhunderte benötigte, in Deutschland als sozusagen nachvollzogene Erscheinung in einigen Jahrzehnten vonstatten ging. Setzt man als Beginn der britischen Entwicklung die hauptsächlich in der Revolutionszeit während des 17. Jahrhunderts bedeutungsvollen Versuche der Ministeranklage (impeachment, unten § 3) an, die im 18. Jahrhundert zwar nicht ganz verschwanden, aber ungebräuchlich wurden, so wird eben dieses 18. Jahrhundert gekennzeichnet durch den vordringenden, politischen (nicht juristischen) Einfluß auf die Ministerabsetzung und Ministerernennung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festigte sich dann die (auch personelle) Abhängigkeit der Regierungen vom Parlament (...). In Analogie hierzu könnte man den Beginn der nachdrücklichen Emanzipation des Reichstages ungefähr auf die Jahrhundertwende legen (...). Tatsächlich beginnt auch genau im Jahre 1900 der Versuch des Reichsparlaments, das Problem der Ministeranklage wieder aufzunehmen. Später trat diese Frage zurück, und es wurden andere Wege des parlamentarischen Zugriffs auf die Reichsleitung beschritten" (: 1977, S. 174, Fußn. 94; zum Vergleich mit England: Ritter: 1962; 1972). Neuen Auftrieb erhielten die Initiativanträge der Parteien, die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und die Form der Anklage zu regeln in der „Daily-Telegraph-Affäre" von 1908 (Kröger: 1988, S. 123ff.; Text in: Hohlfeld: 21934, S. 426ff.), welche die konstitutionelle Monarchie dem Übergang zur parlamentarischen Regierungsform nahebrachte; den Schritt zur Parlamentarisierung der Reichsleitung wurde allerdings - wie die Verfassungsdebatte im Dezember 1908 (Schlegelmilch: 1936, S. 49ff.; Rauh: 1977, S. 181ff.) über die Anträge zur Verankerung der Ministerverantwortlichkeit zeigt - von den Parteien nicht vollzogen: Damit ist die Volksvertretung in jenen ersten Jahren der parlamentarischen Emanzipationsversuche zweifellos überfordert gewesen (Bermbach: 1967, S.
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18); ihr verfassungspolitisches Denken bewegte sich (noch) zu stark im Rahmen der konstitutionellen Verfassung (Pikart: 1962, S. 12ff.). Wenn diese Verfassungsdebatte im Dezember 1908 zusammenfiel mit den ihr entsprechenden Anträgen zur Änderung der Geschäftsordnung des Reichstages (GO-RT) (Schlegelmilch: 1936, S. 50ff.),so belegt dies den Zusammenhang zwischen parlamentarisch-politischem Bedeutungszuwachs und parlamentsrechtlicher, geschäftsordnungsmäßiger Kodifizierung, wie er in den nachfolgenden §§ 3-5 unter diesem Blickwinkel durchgängig thematisiert werden wird. Der Rücktritt des Reichskanzlers Fürst von Bülow im Juli 1909 signalisierte den Bedeutungszuwachs des Reichstages und seiner Parteien, wenn Bülow in einer Presseerklärung zu seiner Demission u.a. darauf hinwies, daß sich erstmals in dieser Form eine Regierungsmehrheit von einer oppositionellen Fraktionsminderheit unterscheiden ließe: „Es ist endlich irrig, unrichtig und es ist irreführend, die Sachen darzustellen, als hätte ich meine Entlassung lediglich aus dem Grunde genommen, weil die Erweiterung der Erbschaftssteuer nicht durchgegangen ist. Gewiß, das würde allen Traditionen widersprechen, wenn ein Minister ginge, weil eine von ihm vorgeschlagene Gesetzesvorlage vom Parlament abgelehnt wird. Das ist aber gar nicht der Grund meiner Entschließung. Ich habe mich zum Rücktritt entschlossen, weil durch die Haltung der konservativen Partei eine politische Konstellation herbeigeführt worden ist, die unter Trennung von den liberalen Parteien und sogar von den Waffenbrügern des alten Bismarckschen Kartells die Konservativen zum engsten Bunde mit dem Zentrum und den Polen geführt und dadurch das Zentrum wieder zur ausschlaggebenden Partei gemacht hat. Die Folge dieser Haltung der Konservativen und die hierdurch herbeigeführte Konstellation haben mein Verbleiben im A m t e unmöglich gemacht" (bei Hohlfeld: 2 1934, S. 446). Zwar war der Nachfolger Fürst von Bülows - von Bethmann-Hollweg - ohne Rücksicht auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichtstag ernannt, aber die Einsicht, ein „Reichskanzler, dessen Amtsführung nicht mehr das Vertrauen der Parlamentsmehrheit und der.Öffentlichkeit hat, wird sich nicht im Amte halten können und seine Demission nehmen müssen" (Denkschrift aus dem Reichsamt des I n n e r n - 1 9 0 9 - b e i Rauh: 1977, S. 180; Grosser: 1970, S. 51ff.) wuchs seither beständig. Ebenso klar wurde von Seiten der Reichsleitung gesehen, daß eine Ministeranklage vor einem Staatsgerichtshof - ihn gab es im Deutschen Reich nicht - der „Anfang des parlamentarischen Regimes" (Denkschrift aus dem Reichsamt des Inneren ca. 1912, bei Rauh: 1977, S. 181) sein würde. Es verwundert nicht, daß die Diskussion um ein „Ministerverantwortlichkeitsgesetz" nach dieser Affäre 1908 erneut breiten Raum einnahm. Auch galt die Frage, was die Sozialdemokraten unter „demokratischem Parlamentarismus" oder die Linksliberalen unter „parlamentarischem System" verstanden; es war auch keineswegs eindeutig zu sagen, was Teile der Nationalliberalen zur Ablehnung des „Systemwechsels" bewegte und welche staatsrechtlich-politische Anschauung mehrheitlich das Zentrum veranlaßte, diese Ablehnung in Teilen zu übernehmen (Grosser: 1970, S. 64ff.). War man im Kaiserreich der Auffassung, daß die konstitutionelle Monarchie eine vollendete Verbindung der beiden für die europäische Staatsentwicklung konstitutiven Prinzipien der monarchischen Obrigkeit und der parlamentarischen Selbstbestimmung des Volkes (von Gierke, bei Boldt, H.: S. 1990, S. 205) darstellte, so erwies sich die staatsrechtliche Konstruktion monarchischer Unverant-
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wortlichkeit im Kriegsfalle im Nachherein geradezu als Voraussetzung und Bedingung für die Parlamentarisierung der Reichsregierung. Ein formelles Zustimmungsrecht des Reichstages zur Kriegserklärung kannte die Reichsverfassung nicht - nach Art. 11 RV bedurfte sie nur der Zustimmung des Bundesrates - , aber es bestand kein Zweifel, daß eine wirksame Kriegsführung nur im Zeichen nationaler Einmütigkeit, d.h. nur unter Einbeziehung aller Parteien und ihrer Zustimmung zu den vorbereiteten Kriegsgesetzen (Kriegskredite) denkbar war. In seiner Thronrede zur Eröffnung des Reichstages am 4. Aug. 1914 - am 1. August hatte Deutschland Rußland, am 3. August Frankreich den Krieg erklärt (Huber: 31990 Dok. III., S. 128ff.) - forderte Wilhelm II. die Vorstände der Parteien auf, ihm in die Hand zu geloben, daß sie „ohne Parteiunterschiede" fest entschlossen seien, in „Not und Tod" durchzuhalten: „Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur noch Deutsche" - so der Kaiser; die Parteiführer folgten dieser Auffassung zum „Burgfrieden" unter „stürmischen andauerndem Bravo" (Verhandlungen des Reichstages bei Huber: 31990 Dok. III., S. 136f.). Von der oben skizzierten Gegenzeichnungspflicht durch den Reichskanzler waren Akte der Kommandogewalt des Kaisers über das Heer und die Flotte ausgenommen (Meyers: 71919, S. 275ff.; Laband: 51914 IV., S. 43ff. m.w.N.; Boldt, H.: 1990 II., S. 205ff.); gemäß Art. 68 Reichsverfassung besaß der Kaiser das Recht, den Ausnahmezustand zu verhängen - außer in Bayern - , mit der Folge, daß den Militärbefehlshabern mit Datum vom 31. Juli 1914 (Huber: 31990 Dok. III., S. 450) das Recht zufiel, ohne parlamentarische Kontrolle die notwendigen Schutzmaßnahmen anzuordnen, wie gesetzesvertretende Notverordnungen zu erlassen. Die vollziehende Gewalt lag damit faktisch in den Händen der politisch unverantwortlichen Generäle, da sie weder an Weisungen des Bundesrates noch an solche des Kanzlers gebunden waren: „Es galt als rechtens, daß der Kaiser und König sich von diesen (den Militärbefehlshabern, R.W.) direkt beraten ließ, ohne den ,Zivilkanzler' einzuschalten. Diese an Umfang und Tragweite nie ganz klar gestellte Verdrängung des verantwortlichen Staatsmannes von der Verantwortung" (Thoma: 1930, S. 76) verschärfte nach 1916 den Dualismus zwischen Reichsregierung und Oberster Heeresleitung und führte im Laufe der weiteren Entwicklung zur Diktatur der Generäle (Böckenförde: 1985, S. 7; Rauh: 1977, S. 325ff.). Auf ziviler Seite standen der durch Ermächtigungsgesetz vom 4.8.1914 (Huber: 3 1990, S. 457; Rauh: 1977, S. 295ff.) allein rechtsetzungsbefugte Bundesrat-der Reichstag hatte auf seine Mitwirkung an der Reichsgesetzgebung (Art. 5 RV) zugunsten der Exekutive auf der Grundlage und im Rahmen dieses Gesetzes verzichtet - und die Reichsleitung. Ernst-Rudolf Huber hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Bedeutung dieser im Gesetz vom 4.8.1914 vorgenommenen legislativen Delegation und die daraus resultierende vorübergehende Aussetzung des gewaltenteilenden Prinzips auch mit Blick auf die Ermächtigungsgesetze der Weimarer Zeit beurteilt werden müssen (Huber: 1978 V., S. 45ff.). Abgesehen von diesen Zusammenhängen ist darauf hinzuweisen, daß es für eine solche legislative Ermächtigung der Exekutive keine verfassungsrechtliche Grundlage gab. Es entsprach allerdings allgemein-verfassungsrechtlichem Denken der Zeit, daß in Situationen der Not des Gemeinwesens gewaltenvereinigende Regelungen erforderlich seien (z.B. Art. 63 Preußische Verfassungsurkunde von 1850 abgedruckt in Hildebrandt: 131985, S. 12ff.). Eine vor allem auf staats-
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bejahende Einbeziehung der Sozialdemokraten zielende innenpolitische Absicherung des „Burgfriedens" forderte aus der Sicht des Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg und seiner „Politik der Diagonale" folgerichtig eine nationale Integration möglichst aller Schichten der Bevölkerung und die programmatische Berücksichtigung ihrer Anschauungen und Interessen durch die Reichsleitung, wobei es die Erosion des monarchischen Konstitutionalismus kennzeichnete, daß es das Ziel dieser, im Grunde „parlamentarischen Regierungsweise" war, die Parlamentarisierung zurückzudrängen. Fragen der Reform des preußischen Drei-Klassenwahlrechts (siehe § 3 II.) im Sinne des Reichswahlgesetzes und das Verhältnis von Reichsleitung und Reichstag standen dabei im Vordergrund der verfassungspolitischen und -rechtlichen Erwägungen der Reichsleitung. Aktuell waren die älteren Gedanken des „sozialen Kaisertums" und des sich daran anknüpfenden Umbaus wie die Erweiterung der konstitutionellen Monarchie. Weiteren Auftrieb erhielt die Verfassungsdebatte infolge der Bildung der dritten „Obersten Heeresleitung" (von Hindcnburg/Ludendorff) im Herbst 1916. Im Reichstag verlangte der Sprecher der Sozialdemokraten - Scheidemann - erneut die Parlamentarisierung der Reichsleitung und forderte die „Sicherung des Grundsatzes", daß niemand „Reichskanzler sein kann, ohne das entsprechende Vertrauen des Reichstages zu besitzen, und damit Heranziehung der Volksvertretung zu den verantwortlichen Geschäften der Regierung selbst" (zitiert nach Huber: 1978 V., S. 134). In der Diskussion der Vorlagen des mit Reformvorschlägen betrauten „Verfassungsausschusses" (Vorsitz: Scheidemann) des Reichstages im Mai 1917 (Huber: 1978 V., S. 143ff.; S. 292ff.; Rauh: 1977, S. 374ff.) zeigte sich, daß Mehrheiten im Reichstag zur Einführung des parlamentarischen Regierungssystems, der Gegenzeichnungspflicht bei Ernennungen in Heer und Marine sowie zur Aufgabe der Inkompatibilität von Reichstags- und Bundesratsmandat (Art. 9 Satz 2 RV), welche ein zentrales Konstruktionsprinzip dieser Verfassung - die Verschränkung von Föderalismus und Antiparlamentarismus - (Rauh: 1973) aufgehoben hätte, nicht vorhanden waren. In der Arbeit dieses Ausschusses war aber den Fraktionen deutlich geworden, daß in zentralen verfassungspolitischen Fragen - Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, Einflußmöglichkeit des Parlaments auf die Regierungsbildung, insbesondere durch Berufung von Abgeordneten in politische Ämter, und parlamentarische Kontrolle des Heeres (Bermbach: 1967, S. 52f.) eine konsensfähige Meinung und weitergehende Gemeinsamkeiten unter den Parteien erkennbar wurden (Rauh: 1977, S. 365ff.). So rückten die Nationalliberalen und das Zentrum der Forderung nach Einführung des parlamentarischen Regierungssystems näher (Grosser: 1970, S. 112ff.), welche bisher im wesentlichen von der Sozialdemokratie getragen worden war. Wie stark die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers durch die Oberste Heeresleitung bereits unterlaufen war, dokumentiert sich nachhaltig in der Entscheidung über den uneingeschränkten U-Boot-Krieg vom 9. Januar 1917, in welcher der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg sich den militärischen Ratgebern des Kaisers nach schwachem Widerstand unterordnete, obwohl er die von ihm erkannten Folgen dieser Maßnahme - den Eintritt der Vereinigten Staaten von Nordamerika in den Weltkrieg (6.4.1917) - politisch nicht vertreten konnte, gleichwohl staatsrechtlich die Verantwortung für diesen Schritt zu tragen hatte. Unter dem Eindruck der russischen Revolution, dem gescheiterten U-BootKrieg, dem nicht absehbaren Kriegsende, der nebelhaften und diffusen Kriegspolitik und den nicht erfolgenden inneren Reformen formierte sich aus dem, an
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der politischen Reichsleitung nicht beteiligten Reichstag heraus eine parlamentarische Mehrheit, um angesichts der „gestörten Verantwortlichkeitsbeziehung" (Böckenförde: 1985, S. 7) auf die Reichsregierung Druck,auszuüben. Die Formulierung einer Friedensresolution (verabschiedet am 19. Juli 1917, Huber: 3 1990 Dok. III., S. 501), die Aktualisierung des Budgetrechts angesichts neuer Anträge auf Kreditbewilligung Ende Juni 1917 und vor allem die Bildung eines i n t e r f r a k tionellen Ausschußes' am 6. Juli 1917 indizierten die veränderten Verfassungsverhältnisse: „Unter dem Druck einer außerordentlichen Bedrängnis vollzog der Reichstag durch seine vier Parteien SPD, FVP, Zentrum und Nationalliberale jenen ersten Schritt zur kommenden, allmählichen Parlamentarisierung, der von allen Beteiligten zunächst in seiner verfassungspolitischen Tragweite nicht voll erkannt wurde. Erst als die Frage der Verfassungsreform die Diskussion der Mehrheitsparteien mehr und mehr zu beherrschen begann, stellte sich auch bei einzelnen Parlamentariern das Bewußtsein der institutionellen Bedeutung dieses Schrittes allmählich ein" (Bermbach: 1967, S. 62; Conze/MatthiasAVinter: 1959; zu dieser Quellensammlung Epstein: 1960, S. 562ff.). Mit Beginn seiner Arbeit widmete sich der interfraktionelle Ausschuß, in welchem sich die Parteien nicht weiter unversöhnlich gegenüberstanden, „sondern die fraktionellen Gruppierungen gelegentlich quer durch konventionelle Parteifronten gezogen wurden" - eines der „erstaunlichsten Phänomene des deutschen monarchisch konstitutionellen Vielparteiensystems" (Bermbach: 1967, S. 74), - der verfassungsrechtlichen Umgestaltung des konstitutionellen Regierungssystems und zunächst vor allem der erwähnten Inkompatibilitätsklausel des Art. 9 RV. Wie stark diese verfassungsrevidierenden Bemühungen unter außenpolitischem Primat standen, macht eine Bemerkung des SPD-Politikers David im Juli 1917 anschaulich: „Die Frage des parlamentarischen Regierungssystems, des Einflusses der Volksvertretung auf die Regierung, ist von größter Bedeutung für den Friedensschluß" (zitiert nach Bermbach: 1967, S. 87). In der Entlassung des Reichskanzlers v. Bethmann-Hollweg am 13. Juli 1917 auf zwingenden Wunsch der Heeresleitung (Abschiedsgesuch General Ludendorffs und Stellungnahme zur Friedensresolution v: Hindenburgs v. 12.7.1917, abgedruckt in Huber: 3 1990 Dok. III., S. 190), im Zusammenwirken mit der Mehrheitsfraktion des Reichstages, deren „Friedensresolution" vom 19. Juli 1917 (Huber: 31990 Dok. III., S. 191) den Anspruch des Reichstages auf Mitwirkung an und Kontrolle der Reichspolitik dokumentierte, und welcher in der Person des Kanzlers ein Hindernis sowohl für einen schnellen Friedensschluß wie für die Parlamentarisierung sah, konkretisierte sich der allmähliche Verfassungswandel. Die Teilnahme des Kronprinzen an der Besprechung der Parteiführer (Protokoll der Besprechung des Kronprinzen mit den Parteiführern vom 12. Juli 1917, abgedruckt bei Hohlfeld: 2 1934, S. 583ff.), die Nachfrage des Kaisers bei der Heeresleitung, wen sie als Nachfolger v. Bethmann-Hollwegs wünsche und ihr Plazet zur Ernennung des preußischen Staatssekretärs Georg Michaelis zum Kanzler (14. Juli 1917; Epstein: 1960, S. 574) machte deutlich, wie weit die verfassungsrechtliche Mitte des konstitutionellen Systems - die verantwortliche Amtsführung des Kanzlers auf dem alleinigen Vertrauen des selbst nicht verantwortlichen Monarchen-verfassungspolitisch bereits ausgehöhlt war, auch wenn Michaelis Ernennung die monarchische Prärogative noch einmal wahrte. Dies war nicht als Zeichen konstitutioneller Stärke zu deuten, sondern wurde ermöglicht durch die Schwäche der Parteien, die Parlamentarisierung konsequent zu verfolgen und einen dem Reichstag verantwortlichen Nachfolger vorzuschlagen (Grosser: 1970,
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S. 152ff.; Epstein: 1960, S. 574). Es bleibt, daß die „Beseitigung Bethmann-Hollwegs (...) nicht überschätzt werden kann", das „Bismarcksche System der konstitutionellen Monarchie gehörte der Vergangenheit an" (Frauendienst: 1957, S. 745). Mit der Amtsübernahme Georg Michaelis verbanden sich auch die Besetzung von Regierungsämtern durch führende Parteipolitiker (Paul von Krause; Peter Spahn) und der Umstand, daß der Kanzler mit dem interfraktionellen Ausschuß zusammenarbeiten mußte. Dieser verhandelte dann im Oktober bereits über den Chef des Zivilkabinetts (v. Valentini) mit dem Kaiser betreffend der Entlassung des Kanzlers (Huber: 3 1990 Dok. III., S. 202f.), welcher Michaelis durch Rücktritt (23. Okt. 1917) zuvorkam. Gleichzeitig hatte der Ausschuß in seiner Erklärung vom 23. Okt. 1917 den Anspruch an den Kaiser vorgetragen, daß er über die Nachfolge des Reichskanzlers mit dem Reichstag in Verhandlungen eintreten s o l l e - e i n „epochemachender Vorgang" (Frauendienst: 1957, S. 745). Graf Hertling als designierter Nachfolger akzeptierte diese Auflagen und verhandelte mit der Mehrheitsfraktion vor seiner Ernennung (1. Nov. 1917) über sein Sachprogramm; hiermit verband sich zugleich der „Höhepunkt des Einflusses des interfraktionellen Ausschusses" (Epstein: 1960, S. 582). Im Verfahren der Ernennung des Abgeordneten der FVP - F. v. Payer - zum Vizekanzler Graf Hertlings auf Verlangen der Mehrheitsfraktion läßt sich dann der faktische „Umschlag ins parlamentarische Regierungssystem" (Kröger: 1988, S. 126; Huber: 1978 V., S. 396f.) sehen. Staatsrechtlich wurde dieser Schritt ein knappes Jahr später angesichts der erkennbaren militärischen Niederlage im Zusammenhang mit den Forderungen des amerikanischen Präsidenten W. Wilson vollzogen (Rücktritt des Kaisers, eine vom Volk getragene Regierung als Verhandlungspartner; Noten zwischen 3. Okt. und 5. Nov. 1918, bei Huber: 31990 Dok. III., S. 281ff.). Die Einwilligung der Obersten Heeresleitung in die Bildung einer parlamentarischen Regierung als eine das Gesuch um Waffenstillstand an den amerikanischen Präsidenten unterstützende Maßnahme diente gleichzeitig dem Versuch, den Reichstag in die Verantwortung für die Kriegsniederlage einzubeziehen (Bökkenförde: 1985, S. 7). Im Rücktritt des Kanzlers Graf Hertling (30. Sept. 1917) vollzog sich der Verfassungsübergang zum parlamentarischen Regierungssystem, und es gehört zu den „Ironien der deutschen verfassungspolitischen Entwicklung, daß, nicht anders als bei dem Sturz Bethmann-Hollwegs, auch jetzt in der letzten Phase des Krieges ein Eingriff der Militärgewalt in das politische Geschehen den Mehrheitsparteien, die sonst solche Eingriffe so heftig verurteilten, den Durchbruch zur Macht verschaffte" (Huber: 1978 V., S. 530; Rauh: 1977, S. 426ff.). Mit Datum vom 30. Sept. 1917 machte Wilhelm II. im sog. „Parlamentarisierungserlaß" an Graf Hertling, mit welchem erdessen Rücktritt annahm, den Weg zur parlamentarischen Monarchie frei: Er wünsche, „daß das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschichte des Vaterlandes mitarbeitet. Es ist daher mein Wille, daß Männer, die vom Vertrauen des Volkes getragen sind, in weitem Umfang teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung" (Huber: 3 1990Dok. III., S. 253). A m 5. Okt. 1917 kam nach Besprechungen im interfraktionellen Ausschuß die erste vom parlamentarischen Vertrauen getragene und auf Parteienproporz beruhende Regierung unter Prinz Max v. Baden ins Amt, ohne daß dieser ein „Parlamentarier-Kanzler" war, d.h. aus der Mitte des Hauses stammte. Sein Kabinett
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vollzog die Verbindung von Regierung und Parlamentsmehrheit und übertrug die Verantwortung für die Regierung auf das Parlament. Durch das Gesetz zur Abänderung der R V vom 28. Okt. 1918 wurde die parlamentarische Regierungsform staatsrechtlich verankert: „2. Im Artikel 15 werden folgende Absätze hinzugefügt: Der Reichskanzler bedarf zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Der Reichskanzler trägt die Verantwortung für alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung der ihm nach der Reichsverfassung zustehenden Befugnisse vornimmt. Der Reichskanzler und seine Stellvertreter sind für ihre Amtsführung dem Bundesrat und dem Reichstag verantwortlich. 3. Im Artikel 17 werden die Worte gestrichen:,welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt'." (RGBl 1918, S. 1274; abgedruckt bei Huber: 3 1990 Dok. III., S. 278). Der vorgetragene Gedankengang, orientiert am konstitutiven Prinzip der politischen Verantwortung, sollte nicht zu dem Eindruck führen, als sei „das allmähliche Herauswachsen des parlamentarischen Regierungssystems aus der konstitutionellen Monarchie" (Rauh: 1977, S. 8) ein kontinuierlicher, quasi alternativloser verfassungsgeschichtlicher Prozeß gewesen. Es gab - so schreibt Kurt Kluxen m . E . zurecht - „schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen Kampf für eine Parlamentarisierung und Demokratisierung der Gesellschaft; aber von einem kontinuierlichen Entwicklungsprozeß bis zu der im Oktober 1918 erfolgenden Parlamentarisierung der Reichsregierung kann keine Rede sein (...)" (: 1983, S. 198). Ebenso ist es nicht unproblematisch, die Parlamentarisierung in Deutschland als einen Prozeß zu sehen, der „weniger aus eigener politischer Kraft als durch einen Anstoß von außen" (Böckenförde: 1985, S. 7) sich vollzog. Zum einen gilt, daß die Umbildung der Reichsverfassung im Sinne ihrer Parlamentarisierung erheblich weiter zurückreicht als die Vorschläge des interfraktionellen Ausschusses. Zum anderen hat der in einer Niederlage endende Krieg nicht ein „an sich funktionstüchtiges System zum Einsturz gebracht, sondern er hat die ihm inhärenten organisatorischen und funktionellen Schwächen lediglich offenbart (Boldt, H.: 1990, S. 215), von denen die staatsrechtliche Konstruktion konstitutioneller Verantwortlichkeit ein Teil war. In Verbindung mit Art. 53 führte Art. 54 der Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung) mit den Worten des Gesetzes vom 28. Okt. 1918 die parlamentarische Regierungsform in das Verfassungssystem der ersten deutschen Republik ein (Art. 1 W R V ) . Der Form nach wurde es als „hinkendes parlamentarisches Regierungssystem" (R. Thoma) begriffen: Reichskanzler und Reichsminister waren vom Vertrauen des Reichstages abhängig und durch ihn abrufbar, ernannt aber durch einen von diesem Parlament unabhängigen Reichspräsidenten mit weitreichenden Kompetenzen (ausführlicher § 3 III.). Die Gefährlichkeit dieser gewaltenhemmenden, dualistischen Verfassungskonstruktion sollte sich nur wenige Jahre, nachdem das konstitutionelle System in ein parlamentarisches überführt worden war, erweisen. Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (dazu § 1 III., § 8) hat angesichts der Erfahrungen von Weimar die Verantwortung des Parlaments für die Regierungsbildung dahingehend ausgebaut, daß es kein Verfahren für den Bundestag gibt, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Ein erhebliches Hindernis für den Übergang zur parlamentarischen Regierung von Weimar - urteilt Dieter Grosser - war die in allen „Parteien verbreitete Überzeugung, daß die Demokratisierung des englischen Parlamentarismus zur Ausbildung der Kabinettregierung und Entmachtung der Parlamente geführt ha-
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be" (: 1970, S. 209). Dieser Hinweis sei dahingehend verlängert, daß in der geistigen Auseinandersetzung der Zeit um die deutsche Form des parlamentarischen Regierungssystems der englische Parlamentarismus vielfach als maßgeblich angesehen wurde (Redslob: 1918; Preuß, H.: 1924). Andere Vorstellungen orientierten sich stärker an der deutschen Diskussion um die Mitte des 19. Jhds. - so an Robert von Mohl zu ihnen gehört beispielsweise der Soziologe Max Weber (1918/51988, S. 306ff.). Man kann die tiefen antiparlamentarischen Strömungen des Denkens nicht übersehen (Sontheimer: 1962 m.w.N.), für welche als einflußreiche Stimme Carl Schmitt zu nennen ist. Er konstatierte 1923 die völlige Entleerung der geistigen Grundlagen des Parlamentarismus und zielte mit seiner Kritik auf „den letzten Kern der Institution des Parlaments" (: 1923, S. 30; Auszüge bei Kluxen: 5 1981, S. 41ff.). Zu Recht stellte 1926 Hans Kelsen angesichts dieser kontroversen Kritik fest, daß die „sogenannte Krise des Parlamentarismus (...) nicht zuletzt hervorgerufen worden (ist) durch eine Kritik, die das Wesen dieser politischen Form unrichtig deutet" (: 1926, S. 5). Und er erinnert daran, daß die „Existenz der modernen Demokratie" davon abhängt, ob das „Parlament ein brauchbares Werkzeug ist, die sozialen Fragen unserer Zeit zu lösen" (Kelsen: 1926, S. 5; zur Parlamentarismuskritik Wasser: 1974).
IV. Gesetz und Gesetzgebung Im vorausgegangenen Abschnitt war verschiedentlich auf die wachsende Bedeutung des Reichstages im Wilhelminischen Reich hingewiesen worden, ohne bisher eine Begründung dafür im engeren Sinne geliefert zu haben. Eine, vielleicht die gewichtigste Ursache für die erstarkende Stellung der Volksvertretung im Spätkonstitutionalismus darf in der Konzentration der gesetzgebenden Gewalt beim Parlament und in der Unterwerfung umfangreicher Regelungstatbcständc unter das Gesetz (Gesetzesvorbehalt) gesehen werden (für die Gegenwart § 18 II.). So unbestimmt der Gesetzesbegriff im Konstitutionalismus auch war (Böckenförde: 2 1981, S. 74), so unterlag den Verfassungen die gemeinsame, ins 17. Jhd. zurückreichende Anschauung (John Locke), daß Entscheidungen, welche Freiheit und Eigentum betrafen, zwingend Gesetzescharakter haben mußten. Geschrieben oder ungeschrieben galt für das konstitutionelle Staatsrecht (v. Aretin/ Rotteck: 2 1838 II.), daß Gesetz jede allgemeine Norm sei, die in die persönliche Freiheit und das Eigentum des Einzelnen eingreife (Budgetrecht, Eingriffsverwaltung). Damit hing die Reichweite der legislativen Mitwirkung an der Gesetzgebung und die Abgrenzung zwischen monarchischer Gewalt und legislativer Zuständigkeit an der inhaltlichen Auffüllung des Gesetzesbegriffes und der thematischen Zurechnung zum Gesetz. Angemerkt sei, daß hier auch die Wurzeln für die Auffassung liegen, wonach ein Gesetz als gemeinsamer staatlicher (Monarch) und gesellschaftlicher (Volksvertretung) Willensakt in Form des Vertrages zwischen Staat und Gesellschaft zu verstehen ist; das Gesetz als Vertrag ist für das Staatsdenken des 19. Jhds. typisch. Unter diesem Blickwinkel werden frühkonstitutionelle Monarchien durch drei Merkmale gekennzeichnet:
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1. Die Gesetzesinitiative steht allein dem Monarchen zu: „§ 172. Gesetz-Entwürfe können nur vom König an die Stände, nicht von den Ständen an den König gebracht werden". 2. D e r König „sanctioniert und verkündet die Gesetze unter Anführung des Geheimen Raths und der erforderlichen Zustimmung der Stände". 3. Den „Ständen ist unbenommen, im Wege der Petition auf neue Gesetze sowohl, als auf Abänderung oder Aufhebung der bestehenden anzutragen" (§ 172 Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg v. 25. Sept. 1819, abgedruckt bei Boldt, H.: 1987, S. 326). In diesem Verständnis, in welchem die Kammern über den materiellen Gehalt des Gesetzes mit zu bestimmen hatten, nicht aber über den formellen Erlaß (Ausfertigung, Gesetzesbefehl), sind exekutive und legislative Gewalt im gesetzgebenden Akt verschränkt, die Legislative aber zugunsten der Exekutive vom Gesetzesiniativrecht ausgeschlossen und auf das Gesetzes-Petitionsrecht eingegrenzt. In dieser Struktur der Gesetzgebungskompetenz zeigt sich anschaulich, wie ausgeprägt das monarchische Prinzip gegen die Lehre vom gewaltenteilenden Staat gerichtet war und wie die staatsrechtliche Sicht vom gewaltenvereinigenden Souverän die Volksvertretung als nachgeordnetes, lediglich durch Gesetzesmitwirkung an der Ausübung der Staatsgewalt beteiligtes Organ verstand. Die Gleichheit der Rechtssätze „Gesetz" und „Recht" war für die konstitutionelle Staatsrechtslehre ein „Axiom" (Böckenförde: 2 1981, S. 219) mit der Folge, den Rechtssatz auf Eingriffsregelungen in Freiheit und Eigentum zu beschränken und anderes staatliches Handeln, vor allem im Bereich der Staatsorganisation, als „Sache des Monarchen" zu betrachten (Kröger: 1988, S. 41). Demnach wurde der letztgenannte Bereich durch „Nicht-Rechtssätze", also durch Verwaltungsvorschriften geregelt, die ihrerseits dem „Recht" nicht subsumiert wurden und dem selbständigen Verordnungsrecht der Krone zugeschlagen waren. Gestärkt wurde diese Staatspraxis durch die Übung, in Zweifelsfällen eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten des die organische Einheit der Staatsgewalt verkörpernden Souveräns anzunehmen. Eine erhebliche Erweiterung des konstitutionellen Gesetzesvorbehalts bewirkte seit den 70er Jahren die Staatsrechtslehre des „juristischen Positivismus". Mit ihm verbindet sich eine Wiederbelebung der dem römischen Recht geläufigen, bis heute nachwirkenden Lehre vom „doppelten" Gesetzesbegriff - einem formellen und einem materiellen. Einflußreich formuliert finden sich die grundlegenden Überlegungen dieser Staats- und Gesetzeslehre in einer Auseinandersetzung Paul Labands mit der preußischen Budgetrechtsregelung (Art. 99-104 Verfassung für den Preußischen Staat v. 31. Jan. 1851; Text bei Dürig/Rudolf: 2 1979, S. 135ff.) aus dem Jahre 1871 (Laband: 1871/1971, S. 3ff.; vertiefend ders.: 5 1911 II., S. 61ff.; 1907, S. 106ff.). Unter der hier interessierenden Fragestellung liegt die Bedeutung der Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Gesetz in der Bestimmung von Zuständigkeit und Abgrenzung legislativer und exekutiver Gewalt. Die Fassung des Art. 62 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1851 („Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt") - so argumentiert Laband in seiner epochemachenden Studie - unterstellt einen materiellen Gesetzesbegriff, welcher gleichbedeutend mit dem Begriff des Rechtssatzes sei und nach der jede Abänderung und Fortbildung der Rechtsordnung unter Mitwirkung der Volksvertretung erfolgen müsse (: 1871/1971, S. 10).
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Mit anderen Worten: Die gesetzgebende Gewalt erstrecke sich auf den Erlaß aller Anordnungen mit Rechtssatzcharakter, neben welcher es ein gesetzesunabhängiges Verordnungsrecht des Souveräns, wie es in Art. 45 dieser Verfassung vorgesehen war, und nach welchem der König die Verkündung der Gesetze und die zu deren Ausführung nötigen Verordnungen befahl, nicht geben konnte. In der Entwicklung Preußens, urteilt Ernst Rudolf Huber, bedeutet der „Ausschluß des selbständigen Verordnungsrechts der Krone einen entscheidenden Schritt. Die Mitbestimmungsgewalt der Kammern im Bereich der Gesetzgebung war erst gesichert, seit die Gesetzgebungskompetenz durch den materiellen ,Vorbehalt des Gesetzes' umfassend umschrieben war" (: 3 1988, S. 59f.). Die Ausdehnung des Gesetzesverständnisses auf staatliche Entscheidungen, die ihrem Wesen nach nicht Gesetz waren, sicherte und erweiterte die parlamentarische Mitbestimmung erheblich. Nach wie vor stellt das Haushaltsrecht das anschaulichste Beispiel für ein formelles, die parlamentarische Zuständigkeit erweiterndes Gesetz dar. War eine Materie durch Gesetz geregelt, so galt der staatspraktische Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes mit der Folge, daß diese nur durch ein neues Gesetz geändert oder aufgehoben werden konnte: Hierin offenbart sich die „unaufhaltsame Entwicklung vom monarchischen zum demokratischen Prinzip" (Kröger: 1988, S. 42), und hierin hat der angesprochene Bedeutungszuwachs des Parlaments in Form der Gesetzgebungsfunktion eine seiner wesentlichsten Grundlagen. Ein kennzeichnendes Merkmal spätkonstitutioneller Verfassungsformen liegt in der gesetzesbeschließenden und -initiierenden (Art. 23 RV) Funktion des Parlaments gegenüber der im Kern nur billigenden frühkonstitutionellen Parlamentskompetenz. Nach Art. 28 RV „beschließt" der Reichstag über die Gegenstände der Reichsgesetzgebung gemeinschaftlich mit dem Bundesrat, dem zugleich ein Bundesverordnungsrecht zugesprochen war (Art. 5 RV). Die erforderlichen Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen waren in dieser Hinsicht völlig gleichgewichtig und ausreichend; ein Mitwirkungsrecht im Beschluß hatte der Kaiser nicht. Der Gesetzgebung im Reich kam nicht nur deshalb zentrales Gewicht zu, weil dem Gesetzgebungsrecht keine inhaltlichen Schranken gezogen waren - die kaiserlichen Reservatrechte seien hier nicht betrachtet - , sondern vor allem auch, weil im Zuge der Reichsgründung die Rechtsvereinheitlichung im Deutschen Reich und die in Art. 4 RV enumerierten Gegenstände der Reichsgesetzgebung den gesetzgeberischen Gestaltungsraum sachlich erheblich ausweiteten (v. Rönne: 21876/1975 II., S. lff.; Laband: 5 1911 II., S. lff.). Überdies ist daran zu erinnern, daß es kein vorkonstitutionelles Reichsrecht, also keinen Bestand an Gesetzen gab, auf welchen sich die Reichsleitung und der Bundesrat hatten stützen können. Der Umfang der Reichsgesetzgebung wurde weiter durch die Tatsache bestimmt, daß das Reich auf den Vollzug der Gesetze durch die Behörden der Länder angewiesen war; zum Vollzug der Rechtssätze waren die Länder aber nur aufgrund des Gesetzescharakters der Maßnahmen verpflichtet. Letztlich sei angemerkt, daß die Zahl der sog. „Maßnahmegesetze", mit welchen auf kurzfristige Regelungsbedürfnisse reagiert wurde, seit Reichsgründung stieg (Huber: 3 1988, S. 919). Ein Grund für diese Entwicklung war, daß die Verfassung nur den Typus des Gesetzes kannte, wie er im Zusammenwirken von Reichstag und Bundesrat zustandekam; ein kaiserliches Verordnungsrecht kannte sie nicht
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mit der Folge, daß Maßnahmen wie etwa das Sozialistengesetz vom 21. Okt. 1878 (Stürmer: 1974, S. 231) in Form eines Gesetzes erlassen werden mußten. Stellt man diese unvollständigen Hinweise zu Umfang und Konzentration der Gesetzgebungskompetenz beim Parlament, traditionell ergänzt durch das jährlich zu beschließende Gesetz über den „Reichshaushalts-Etät" (Art. 69 RV), in den Prozeß der wirtschaftlichen, industriellen und sozialen Umwälzungen auf der Grundlage der Technik, so veranschaulicht sich, daß der skizzierten Parlamentarisierung der Reichsregierung die „Parlamentarisierung" der Innenpolitik des Deutschen Reiches als Konsequenz der Gesetzgebungszuständigkeit vorausging. Die allmähliche Monopolisierung der Gesetzgebung beim Parlament bildete ihrerseits die Grundlage für die wachsende Bedeutung des Reichstages im Verfassungsgefüge des Deutschen Reiches.
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§ 3 Konstituierung/Wahl und Ende des Parlaments Raban Graf von Westphalen I. Wahlen: Die Entwicklung der Wahlrechtsgrundsätze. - I I . Wahlsysteme.-III. Ende der Wahlperiode und Auflösung des Parlaments. Grundlagenliteratur Braunias, Karl (1932): Das parlamentarische Wahlrecht. Berlin u.a., 2. Bde. Frensdorff, Ferdinand (1892): „Die Aufnahme des allgemeinen Wahlrechts in das öffentliche Recht Deutschlands". In: Festgabe der Göttinger Juristen Fakultät für Rudolf von Ihering. Göttingen, S. 135ff. Jesse, Ekkehard (1985): Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Düsseldorf. Meyer, Georg (1901): Das parlamentarische Wahlrecht. Berlin. Meyer, Hans (1987a): „Demokratische Wahl und Wahlsystem". In: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts. Heidelberg, Bd. II, S. 249ff. Nohlen, Dieter (1989): Wahlrecht und Parteiensystem. Opladen. Sternberger, Dolf / Vogel, Bernhard (Hg.) (1969): Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane. Berlin, 2 Bde; Bd. I.: Europa. Umbach, Dieter C. (1989): Parlamentsauflösung in Deutschland. Berlin u.a. siehe auch Hilfsmittel B, II., 3. I. Wahlen: Die Entwicklung der Wahlrechtsgrundsätze Die periodisch wiederkehrende, allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl der Abgeordneten zu den deutschen Volksvertretungen in Bund und Ländern, Kreisen und Gemeinden (Art. 39 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) gehört in der repräsentativen Demokratie zu ihren konstitutiven wie zugleich klassischen Prinzipien. Als verfassungsrechtliche Wahlgrundsätze finden sie sich bereits in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 („Weimarer Verfassung") in Art. 22 und Art. 125 sowie-für die Länder-in Art. 17; in eingeschränktem Umfang enthielt sie auch Art. 20 der Reichsverfassung vom 16. April 1871. Im Unterschied zur Weimarer Verfassung und zu manchen Verfassungen in den deutschen Bundesländern heute, so zum Beispiel zur Bayerischen Verfassung (Art. 14 Abs. 1), zu Baden-Württemberg (Art. 28 Abs. 1) oder Rheinland-Pfalz (Art. 28 Abs. 1), schreibt das Grundgesetz ein bestimmtes Wahlsystem nicht vor. Beruhend auf den genannten Wahlgrundsätzen stellt der staatlich veranstaltete und öffentlich durchgeführte Akt der Wahl der Abgeordneten zu den Parlamenten, zu denen wir auch die Kommunen rechnen (i.e. § 21), die bedeutungsvollste Form herrschaftslegitimierender Willensbildung durch das Volk als Ursprung aller staatlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 2 GG) hin zur Zusammensetzung der herrschaftsausübenden Staatsorgane dar. Kann das Volk „seine Souveränität nur als
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Verfassungs- und Kreationsorgan ausüben, so führt die in Wahlen erteilte zeitliche, sachliche und personelle Ermächtigung der Repräsentanten, für die Gesamtheit - und nicht nur für die Wähler - zu handeln, nicht zu einer Entäußerung der Souveränität, sondern ist der eigentlich souveräne Akt. Indem nämlich die Wahlberechtigten ihren Willen bilden und durch Delegation an die Repräsentanten für eine bestimmte und bereits feststehende Zeit (Wahlperiode, Amtsdauer, Legislaturperiode) binden, kann sich das konstituieren, was als institutionell verfaßter Staatswille die Grundlage politischen Handelns ausmacht und wodurch das Volk zum „Subjekt der Souveränität" wird" (Heller: 1927, S. 75; s. § 1, II.). Zu beachten ist, daß die Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 GG) und die Bildung des Staatswillens durch seine verfaßten Organe (Art. 20 Abs. 2 GG) zu unterscheiden sind: „Volkswille" und „Staatswille" fallen nur dann zusammen, wenn das Volk als Verfassungs- und Kreationsorgan durch Wahlen und Abstimmungen die Staatsgewalt selbst ausübt (dazu § 1 II.). Die Wahlrechtsgrundsätze sind nur im Zusammenhang mit den übrigen Verfassungsnormen zu verstehen, insbesondere gilt es, Art. 38 G G in seiner Beziehung zu Art. 21 Abs. 1 zu interpretieren, durch welchen das Grundgesetz anerkennt, daß die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, und sie dadurch den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution (BVerfGE 1, 225) einnehmen. Die Parlamentswahl stellt somit die „wichtigste Verbindung zwischen dem staatsorganisatorischen Bereich auf der einen und dem privaten (gesellschaftlichen) Bereich auf der anderen Seite dar. Ihre Organisation entscheidet über die Chancen und das Maß der Durchsetzung des vorhandenen und des artikulierten politischen Willens" (Meyer: 1987a, S. 250). Die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG) und gelten generell für das gesamte Wahlverfahren, also für Wahlvorbereitung, Wahlwerbung, Wahlakt bis zur behördlichen Feststellung des Wahlergebnisses. 1. Allgemeine Wahl Die historische Entwicklung der Wahlprinzipien ist in Deutschland eng mit der Genese des repräsentativen parlamentarisch-demokratischen Gemeinwesens verbunden, ohne daß damit gesagt sein darf, daß sich die Demokratisierung des Wahlrechts und die Parlamentarisierung staatlicher Herrschaft in allen westlichen Industriestaaten in dieser Form vollzogen haben. Vielmehr umfaßt die allmähliche Ausweitung des Wahlrechts in den okzidentalen Staaten einen Zeitraum von ca. 100 Jahren, geht man vom Jahr 1848 aus, als es noch in keinem dieser Länder ein allgemeines Wahlrecht gab (Nohlen: 1989, S. 34f.). Ein eingeschränkt allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht für Männer findet sich in Deutschland zuerst in der Preußischen Städteordnung von 1808 (Text: Gesetzessammlung 1806-1810, S. 324). Seine Ausübung war gebunden an ein Einkommen und/oder einen Besitz für Wählbare und in dieser Beschränkung typisch für die sich aus der ständisch verfaßten Gesellschaft lösende Staatsbürgergesellschaft (zur Theorie des zensitären Systems Benjamin Constant (1767-1830)). In dieser Entwicklung bestätigt die deutsche Wahlrechtsausweitung eine Grundthese der vergleichenden Wahlforschung in westlichen Industrie-
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Staaten, nach welcher die Wahlrechtsausbreitung in einem direkten Wirkungszusammenhang mit der Idee der nationalen Repräsentation zu sehen ist; in Deutschland also vor allem mit der Absicht, besitzende Schichten in den notwendig gewordenen neuen Staatsaufbau nach dem Zerfall des alten Reiches (1806) integrativ und partizipativ einzubeziehen (Obenaus: 1984); und in dem Versuch, zu einem deutschen Nationalstaat mit einer gemeinsamen Staatsanschauung zu kommen. Die Anfänge der Einführung eines eingeschränkten Wahlrechts - Besitz-, Steuerund Einkommenszensus - gehören in Deutschland in den allgemeinen Zusammenhang von nationaler Bewegung und konstitutioneller Entwicklung, wofür die landständische Grundlage - wie in Art. XIII. der Deutschen Bundesakte vom 8.6.1815 (abgedruckt bei Dürig/Rudolf: 2 1979, S. 11) vereinbart - bis 1848 im Kern maßgeblich blieb (Übersicht bei Sternberger/Vogel: 19691., S. 192f.). Der direkte Ausschluß von Frauen erschien bis zum Ersten Weltkrieg den Wahlgesetzgebern in den deutschen Bundesstaaten (Ehrle: 1979) quasi so selbstverständlich wie den meisten europäischen Länderverfassungen. Erst die Weimarer Verfassung von 1919 führte das Frauenwahlrecht in Deutschland ein, die U S A folgten 1920 im 19. Amendment zur Verfassung, England schloß sich in vollem Umfange 1928 an. Die romanischen Staaten wie Frankreich, Spanien, Portugal und Italien kennen das Frauenwahlrecht erst nach dem Zweiten Weltkrieg, während die Schweizerische Bundesverfassung 1971 diese Ergänzung einfügte. In ähnlicher Weise blieben bis 1848 bestimmte Bevölkerungsgruppen, so in Deutschland vor allem die Juden, in den meisten Staaten vom passiven und aktiven Wahlrecht ausgeschlossen, wie auch die große Schicht der Abhängig-Beschäftigten oder derjenigen, welche unter Vormundschaft standen, üblicherweise vom Wahlrecht ausgeklammert waren (Ehrle: 1979, S. 503ff.; Braunias: 1932 II.,S. lOOff.). Für die innerdeutsche Fortentwicklung des Wahlrechts vor 1848 ist die unterschiedliche verfassungsrechtliche Situation der Bundesstaaten zu berücksichtigen (ergänzend § 2). Während in den norddeutschen Territorien die ( a u s l ä n d i schen Verfassungen im großen und ganzen in Kraft blieben oder neu erlassen wurden, Folge auch der weniger gravierenden territorialen Veränderungen, mußten sich die süddeutschen Staaten eben aus diesem Grund als Ergebnis des Reichsdeputationshauptschlusses (1803) und der Bildung des Rheinbundes (1806) neue Repräsentativ-Verfassungen geben. Diese orientierten sich zunächst an der napoleonischen Verfassung für das Königreich Westfalen und der Charte Constitutionelle 1814 (Menger: 6 1988, S. 122f.) als Verfassung der zwischenzeitlichen Protektoratsmacht Frankreich. Wie sie enthielten die sog. „frühkonstitutionellen" Verfassungen in Deutschland (Übersicht bei Huber: 3 1978 Dok. I., S. 155), etwa die von Bayern 1818 oder Württemberg 1819, Freiheits- und Gleichheitsrechte, ohne daß das Gleichheitspostulat eine Wahlrechtsgleichheit zur unmittelbaren Folge hatte. Weiter enthielten sie Mitwirkungsbefugnisse der gewählten Volksvertretung, dem englischen Vorbild folgend im Rahmen von ZweiKammer-Systemen (Übersicht bei Sternberger/Vogel: 19691, S. 192f.), und banden die Ausübung monarchischer Staatsgewalt an die Verfassung: Inhaber der Staatsgewalt war und blieb der Monarch: „monarchisches Prinzip" (von Stahl: 1845; Grimm: 1988a, S. 59ff.; Kröger: 1988, S. 31ff. auch § 21.). Gesetzliche Wahlrechtsregelungen zur Wahl des House of Lords und des House of Commons lassen sich in England bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen (Set-
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zer: 1973, S. 12ff.), und man darf mit aller Vereinfachung sagen, daß sich das aus dieser Zeit s t a m m e n d e Zensuswahlrecht bis zur Wahlrechtsreform 1832 hielt, in welcher die im Gefolge der industriellen Revolution sich entwickelnde neue Gesellschaftsschicht (Middle Class) eine Ausdehnung des Wahlrechts auf der Grundlage von Eigentum erzwang. Die französischen G e n e r a l s t ä n d e - , A d e l , Geistlichkeit und als dritter Stand: die Städte und das „flache L a n d " - , wurden seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr durch den König ernannt, sondern gewählt, traten aber seit 1614 nicht mehr zus a m m e n (Sternberger/Vogel: 19691., S. 441). Eine eigentliche wahlrechtstheoretische Diskussion setzte in Frankreich anhand des noch ständisch geprägten Werkes „ D e l'Esprit des lois" (1748) von Charles de Montesquieu (1689-1755) und des revolutionären „Du contract social" (1762) Rousseaus (1712-1778) ein. Die Revolutionsverfassung von 1791 erweiterte das aktive Wahlrecht, die Verfassung von 1793 (beide Verfassungen abgedruckt in Franz: 3 1975, S. 302ff.) kannte das umfassende, direkte, aktive und passive W a h l r e c h t - K o n s e q u e n z der naturrechtlichen Anschauung von der Gleichheit aller Menschen - ohne zensitäre Einschränkung f ü r j e d e n französischen Bürger - häusliche Dienstboten ausgenomm e n ; allerdings trat diese Verfassung nie in K r a f t ; mit der Direktorial Verfassung von 1795 wurde das Zensuswahlrecht wieder eingeführt. Es hatte - übergeht man die Ä r a Napoleon I. - im Kern bis 1848 Bestand, sodaß sich auch im nachrevolutionären Frankreich „Besitz" und „staatsbürgerliches (Wahl)Recht" wieder verb a n d e n (Besitzbürger).
2. Mittel- und unmittelbare Wahl Bezieht sich die Stimmabgabe der Wahlberechtigten ohne Vermittlung Dritter ( „ W a h l m ä n n e r " ) direkt auf die zu wählenden Kandidaten, so spricht m a n , wie das Grundgesetz, von unmittelbarer Wahl. N u r wenn die Wähler das letzte Wort h a b e n , haben sie auch das entscheidende Wort, und nur dann wählen sie unmittelbar ( B V e r f G E 7, 68). Die Einschaltung eines Mittlers oder eines Mittlergremiums zwischen Wähler und Wahlkandidaten, welcher oder welches dann die eigentliche Wahl ausführen, bezeichnet man als indirektes, mittelbares Wahlrecht. Diese war als Ausdruck französischen Einflusses auf das deutsche Wahlrecht in allen deutschen Bundesstaaten vor allem für die Wahl zu den zweiten K a m m e r n im Vormärz herrschende Praxis mit A u s n a h m e in Schweswig-Holstein (Mcycr, G . : 1901, S. 113ff.; Ehrle: 1979, S. 711f.). D a s englische Staatsrecht kennt diese Form des Wählens nicht. Insofern in diesem Wahlverfahren die Wahlmänner nicht an bestimmte, von ihnen zu wählende Mandatsträger gebunden sind, üben sie ein freies, „substantielles" M a n d a t aus. Kann wie im amerikanischen Wahlsystem der Wählerwille durch das Wahlmännergremium (Electoral College) nicht verändert werden, dieses also ein faktisch imperatives Mandat hat, spricht man von formal-mittelbaren Wahlen (Sternberger/Vogel: 1969 I., S. 26; Nohlen: 1978, S. 191ff.). Die Wahl des amerikanischen Präsidenten steht heute als Beispiel für die Entwicklung vom substantiellen zum formal-mittelbaren Wahl verfahren. Funktional führt die mittelbare Wahl zur Ausschaltung eines auf die Z u s a m m e n setzung des bestellten Organs, also etwa des Landtags, durchgreifenden Wählerwillens.
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3. Geheime und öffentliche Wahl Mehr noch als die unmittelbare war die geheime Wahl in den Verfassungsdebatten 1848/49 in Verbindung mit dem Allgemeinheitsgrundsatz umstritten (Meyer, H.: 1987b, S.277f.). Vor dem Umbruch 1848/49 gab es in Deutschland sowohl die öffentliche - mündlich oder schriftlich - als auch die geheimschriftliche Form der Wahlentscheidung (Meyer, G.: 1901, S. 534ff.). Letztere besagt, daß das gesamte, mit der Stimmabgabe des Wählers verbundene Verfahren der Wahlentscheidung geheim bleibt sofern es Wille des Stimmberechtigten ist. Gesichert muß sein, daß mit der Stimmabgabe und dem sich mit ihr manifestierenden politischen Willen keine die Wahlentscheidung lenkende Beeinflussung möglich ist; vor allem darf sich kein Nachteil für den Wähler entwickeln. Wenn in England öffentliche Wahlen bis 1872 üblich waren, so fand sich die geheime und schriftliche Wahl nach gegenteiligen Versuchen in Frankreich endgültig (Meyer, G.: 1901, S. 529ff.) in der Konventsverfassung von 1793. Während in Deutschland nach 1848 nur wenige Länder die öffentliche Stimmabgabe beibehielten, nachdem bereits die Frankfurter Nationalversammlung überwiegend aus geheimer Wahl hervorgegangen war (Meyer, G.: 1901, S. 534), sah das Reichswahlgesetz vom 12.04.1849 die geheime Wahl („Das Wahlrecht wird in Person durch Stimmzettel ohne Unterschrift ausgeübt") vor. Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Tendenz stand Preußen, welches in der Wahlverordnung vom 31.05.1849 - Grundlage des preußischen Wahlrechts bis 1918 - zur öffentlichen Wahl zurückkehrte. Das in Artikel 72 der Verfassungsurkunde vom 31.01.1850 vorgesehene Wahlgesetz ist nie zustandegekommen. Mit Artikel 20 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.04.1871 (RGBl 1871, S. 64ff.) ist der Wahlrechtsgrundsatz der Geheimhaltung zum bleibenden Bestandteil des deutschen Verfassungsrechts geworden.
4. Gleiche Wahl Fordert der Grundsatz der Allgemeinheit parlamentarischer Wahlen, in welchem die Idee der Gleichheit zunächst enthalten ist, daß grundsätzlich jeder Staatsbürger unabhängig von Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, Bildung, Beruf oder Einkommen mit Erreichen des gesetzlichen Mindestalters Stimmrecht und Wählbarkeit innehat (aktives und passives Wahlrecht), so verlangt das Gleichheitsprinzip eine absolut gleiche Bewertung des Stimmgewichts in bezug auf das Wahlergebnis (BVerfGE 1, 246). Daher sind alle Wahlsysteme, welche eine Differenzierung der Zählwertgleichheit kennen, wie etwa das Pluralwahlrecht, die Wahl nach Ständen (Kurienwahlrecht) oder nach Berufsgruppen oder nach wirtschaftlichen und geistigen Interessenszugehörigkeiten wie nach Einkommensklassen, mit dem Gleichheitsgebot unvereinbar. Erkennbar wird an dieser Stelle, daß der Grundsatz der Wahlgleichheit wie das Prinzip der Allgemeinheit Anwendungsfälle des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 3 GG) sind, auch wenn dieser sich verfassungsgeschichtlich in Deutschland nicht unmittelbar aus ihnen entwickelt hat
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(Meyer, H . : 1973, S. 83ff.). Gleichheit der Wahl meint heute auch, daß über die Zählwertgleichheit der Wahlstimme hinaus jeder wahlberechtigte Bürger ein Recht auf möglichst gleiche Teilhabe an der Staatsgewalt in Form der Wahl hat. Daraus folgt, daß generell das gesamte Wahlverfahren von der Wahlwerbung über den Wahlkampf bis zur Verteilung und Ausübung des Mandats unter dem Gebot der Chancengleichheit steht, so daß jedermann sein aktives und passives Wahlrecht formal in möglichst gleicher Weise ausüben kann (BVerfGE 1, 246), worauf unter dem Gesichtspunkt der Ausgestaltung des Wahlsystems noch zurückzukommen ist. Wenngleich - wie oben angesprochen - dieser Wahlrechtsgrundsatz erst 1919 gesondert in das deutsche Verfassungsrecht eingeführt worden ist (Art. 22 und 17 WRV), so verbindet sich sein Durchbruch zum unabdingbaren Bestandteil demokratischer Wahlen mit den revolutionären Veränderungen 1848/49 im Kontext der wirtschaftlichen Umbrüche in Deutschland, mit welchen die Forderung nach Ausdehnung des Wahlrechts in einem ursächlichen Zusammenhang steht. In nahezu allen „Märzforderungen" des Jahren 1848 (Texte bei Boldt, H.: 1987, S. 383ff.) findet sich der Ruf nach einem „deutschen Parlament" und allgemeinen, geheimen wie direkten Wahlen als dringende demokratische Forderungen. In den gleichzeitig am 1. Mai 1848 stattfindenden Wahlen zur deutschen Nationalversammlung (Frankfurt) und zur preußischen Nationalversammlung (Berlin) waren laut Bundesbeschluß vom 7.04.1848 (Huber: 3 1978 Dok. I., S. 338) alle volljährigen und selbständigen männlichen Staatsbürger wahlberechtigt und wählbar. D a sowohl die Ausgestaltung des Kriteriums „Selbständigkeit" als auch die Frage, ob direkt oder indirekt, geheim oder öffentlich gewählt werden sollte, den Landesregierungen oblag, kamen diese zu höchst unterschiedlichen Lösungen (anders Menger: 6 1988, S. 136). Man darf allerdings annehmen, daß bei diesen in der Regel indirekten Wahlen ca. 5 bis 25 % der wahlberechtigten Männer ausgeschlossen blieben (Grimm: 1988a, S. 185; Hamerow: 1972, S. 215ff.), es sich also insgesamt und im internationalen Vergleich um eine erhebliche Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts handelte. Mit der ersten Verfassung, an welcher das deutsche Volk durch seine Vertreter mitwirkte, der „Verfassung des Deutschen Reichs" vom 28. März 1849 (Text bei Dürig/Rudolf: 2 1979, S. 95ff.), wurde das „Reichsgesetz über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause" - Reichswahlgesetz - verabschiedet (Text bei Huber: 3 1978 Dok. I., S. 396ff.). Im historischen Sinne verstanden war es allgemein: „§ 1 Wähler ist jeder unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat." Damit war ein Wahlrecht Reichsgesetz geworden, wie „es in keinem Staate von Europa mit Ausnahme des republikanischen Frankreich und in keinem Staate der nordamerikanischen Union bestand... Die Demokratie jubelte" (Frensdorff: 1892, S. 173). Infolge des Scheiterns der Nationalbewegung in Deutschland fand dieses Wahlgesetz keine Anwendung, und die Bemühungen um ein einheitliches, gleiches, geheimes, direktes und allgemeines Wahlrecht schienen zunächst vergeblich. Zahlreiche Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes kehrten zu den zensitären Wahlsystemen zurück (Übersicht bei Sternberger/Vogel: 1969 I., S. 207f.). Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl wurde durch grundsätzlichen Ausschluß von Bevölkerungsgruppen und durch ein System unterschiedlicher Stimmgewichtung, etwa auf der Grundlage der individuellen Steuerleistung wie im preußischen Dreiklassenwahlrecht (Art. 71 der Verfassungsurkunde für den Preußi-
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sehen Staat vom 31.01.1850; Text bei Dürig/Rudolf: 2 1979, S. 135ff.), seines demokratischen und egalitären Gehaltes beraubt. Anders verlief die Entwicklung auf Reichsebene. Die Wahl des verfassungsberatenden Reichstages des Norddeutschen Bundes vom Februar 1867 erfolgte auf dem bereits zitierten Reichswahlgesetz von 1849. Es wurde vom Reichstag in die Verfassung des Norddeutschen Bundes (Art. 20) vom 16.04.1867 (RGBl, S. lff.) übernommen (v. Below: 1909, S. lff.) und gelangte mit Gründung des Deutschen Reiches in die Verfassung vom 16.04.1871 (Text bei Dürig/Rudolf: 2 1979, S. 153ff.; dazu Hatschek: 1915, S. 267ff.). In Artikel 20 übernahm die Reichsverfassung die drei Fundamentalprinzipien als Erbschaft der Bemühungen um die deutsche Einigung, wenn dort bestimmt wurde, daß der Reichstag aus „allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung" hervorgehe, ohne daß die Verfassung einen Hinweis auf den Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit enthielt, wie sie in Ermangelung eines Grundrechtsteils auch den allgemeinen Gleichheitssatz nicht gekannt hat. Nach dem Zusammenbruch der konstitutionellen Monarchie in Deutschland erging am 12. November 1918 „mit Gesetzeskraft" der Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk (Text bei Boldt, H.: 1987, S. 487f.), durch welchen auch die Grundzüge des Wahlrechts für die verfassungsgebende Nationalversammlung festgelegt wurden. Es hieß dort, daß alle Wahlen nach dem „gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen" seien. In ihrem Artikel 22 hat die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.08.1919 (Weimarer Verfassung) die im zitierten Aufruf verfügte Senkung des Wahlalters, das Frauenwahlrecht und - worauf zurückzukommen ist - das Verhältniswahlrecht übernommen; Artikel 17 übertrug diese Wahlrechtsgrundsätze auf Länder und Kommunen. Im Grundrechtsteil der Verfassung wurden „Wahlfreiheit und Wahlgeheimnis" (Art. 125) gewährleistet, womit die Norm der Wahlfreiheit ins deutsche Verfassungsrecht einzog (Übersicht über das Wahlrecht in den Ländern der Weimarer Republik bei Sternberger/Vogel: 19691.,S.254f.; über die Gesetzgebung bei Braunias: 1932 II.,S. 122f.).
5. Freie Wahl Im Grundsatz ist die Wahlfreiheit dem demokratischen Prinzip immanent, da nur eine freie Wahl demokratische Legitimation verleiht. Überdies läßt sich die Ansicht vertreten, daß Wahlen im demokratisch-repräsentativen Kontext nur „frei" sein können, Wahlfreiheit mithin tautologisch ist. Insofern sollte der Begriff nur im politisch-pragmatischen Sinne Bedeutung haben, vergleichbar etwa seiner Stellung in der Bill of Rights von Virginia (1776, Art. 6; abgedruckt in Franz: 3 1975, S. 8; Sternberger/Vogel: 1969 I., S. 27). Gegen diese Vorstellung und für die Auffassung, daß Wahlfreiheit durchaus einen selbständigen Grundsatz darstellt, steht vor allem das Argument, daß gerade angesichts der lebenssituativen Ubiquität der Wahlbeeinflussung - gedacht ist vor allen Dingen an die Massenmedien - in Verbindung mit der sozialen und wirtschaftlichen Situation des Wählers, es nicht vernünftig ist anzunehmen, die Geheimhaltung reiche hin, eine freie Wahlentscheidung zu sichern.
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Wahlfreiheit meint nicht nur konkurrierende Wahlkandidaten und die Freiheit der Auswahl, sondern das Verbot der gezielten B eeinflussung der Willensbildung wie Willensäußerung der Wahlberechtigten aufgrund wirtschaftlicher, sozialer, religiöser oder anderer repressiver Möglichkeiten zugunsten einer bestimmten Wahlentscheidung. Diese Begrenzung steht der allgemeinen Wahlpropaganda erkenntlich nicht entgegen; ihr Umfang, ihre Methoden und ihre medialen Möglichkeiten verlangen daher aber, Wahlfreiheit als eigenständige, positive Verfassungsnorm wahlorganisatorisch zu sichern. Außer im Grundgesetz findet sich dieser Grundsatz im europäischen Vergleich nur noch in der italienischen Verfassung von 1948. Wenn heute in den Demokratien westlicher Prägung die Wahlrechtsgrundsätze weitgehend zum verfassungsrechtlichen Standard gehören (Übersicht bei Nohlen: 1989, S. 35), so gilt diese gemeinsame Grundanschauung nicht für die Problematik, welches Wahlsystem für eine parteienstaatliche Demokratie zwangsläufig das angemessene sei. Analog zur Geschichte der Wahlrechtsgrundsätze eine Geschichte der Wahlsysteme mit dem Ziel nachzuzeichnen, das dem großflächigen Industriestaat mit parlamentarischer Regierung „beste" Wahlsystem hieraus herzuleiten, schlüge ebenso fehl, wie die Begründung für ein solches aus dem parlamentarischen Prinzip zu entwickeln. Verfassungsrechtlich dagegen liegt es nahe wie angedeutet - , Gleichheitsnorm, Wahlgleichheit und Wahlsystem in Verbindung zu bringen.
II. Wahlsysteme Unter Wahlsystem (zur Problematik des Begriffes Meyer, H.: 1987a, S. 259f.) soll der Bestand von Regeln über die Bedingungen der Kandidatur, über die möglichen Arten der Stimmabgabe durch die Wähler und über die Umsetzung des Stimmergebnisses in Parlamentsmandate (Meyer, H.: 1973(>S. 23) verstanden werden. Im Prinzip lassen sich zwei Grundtypen von Wahlsystemen gegenüberstellen, deren kombinierte Elemente eine Vielzahl von graduell unterschiedlichen Wahlsystemen hervorgebracht haben: Mehrheitswahlsystem und Verhältniswahlsystem, deren Verknüpfung im deutschen parlamentarischen Wahlrecht der Gegenwart als „Verbindungswahlrecht" bezeichnet wird. Im Unterschied zur Weimarer Verfassung, aber in Übereinstimmung mit den Reichsverfassungen von 1848 und 1867/71 enthält das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland keine Bestimmung über das Wahlsystem, sondern überläßt dies der einfachen Gesetzesregulierung (Bundeswahlgesetz vom 21.09.1991, BGBl I,S. 2059; auch §81.). 1. Mehrheitswahl Die Mehrheitswahl ist das historisch ältere der beiden genannten Systeme und hat bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die Wahl zu den europäischen Parlamenten nahezu ausschließlich geregelt. Charakteristisch für dieses Verfahren ist, daß derjenige Kandidat als gewählt gilt, welcher die absolute oder relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt; entscheidend ist mithin das Prinzip der Mehrheit mit der Folge, daß alle Stimmen, welche nicht dem Mehrheitskandidaten gel-
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ten, im weiteren Wahlverfahren für die Umsetzung der Stimmen in Parlamentsmandate unberücksichtigt bleiben. Mit anderen Worten: Der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen ist im Mehrheitswahlrecht notwendig ungleich. Großbritannien ist seit 1429 (Braunias: 19321., S. 179) das klassische Vorbild für ein relatives Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen. Die Rechtsgrundlagen finden sich für das England der Gegenwart in drei zusammenfassenden Gesetzen aus dem Jahre 1949: den Representation of People Act, den House of Commons Act und den Election Commissioners Act. Angewandt wird diese Form heute vor allem noch in den Staaten, die unter englischem Einfluß stehen, so in Indien, Malaysia, Nigeria und Jamaica, aber auch in den U S A und in Kanada (Nohlen: 1989, S. 143). In älterer Zeit wurde auch in Schweden, Norwegen, Dänemark, einigen Schweizer Kantonen und Portugal (Braunias: 19321., S. 179) dieses Wahlverfahren angewandt. Frankreich wird man nach 1789 dagegen als den klassischen Staat des absoluten Mehrheitswahlrechts bezeichnen können. Von Unterbrechungen abgesehen das französische Wahlsystem wechselte weitaus häufiger als in anderen westlichen Demokratien (Übersicht bei Nohlen: 1989, S. 165ff.) - kehrte man, zuletzt 1986, immer wieder zur traditionellen absoluten Mehrheitswahl zurück. Nachdem in Deutschland vor 1848 die relative Mehrheitswahl üblich war, führte das bereits mehrfach zitierte Reichswahlgesetz vom April 1849 die absolute Mehrheitswahl ein; der Reichstag des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches wurden bis 1918 in dieser Form bestellt. Allerdings mit der Modifikation, daß, wurde im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit von keinem Kandidaten erreicht, im sofortigen zweiten Wahlgang bereits die Stichwahl erfolgte. In ihr genügte die relative Mehrheit, so daß es also keinen zweiten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gab, wie dieser 1849 noch vorgesehen war. In der Ausgestaltung des zweiten Wahlganges bzw. der Stichwahl lagen dann auch die Unterschiede in den Wahlsystemen der deutschen Länder bis 1918, welche unter dem Einfluß der Reichsgesetzgebung den Grundsatz der absoluten Mehrheit übernahmen, wie z.B. auch die Niederlande, Italien oder Belgien.
2. Verhältniswahl In der überwiegenden Zahl der Industrieländer wird heute das Verhältniswahlsystem angewendet (Übersicht bei Nohlen: 1989, S. 134). Sein charakteristisches Merkmal liegt in der Absicht, die Verteilung der Mandate auf politisch konkurrierende Parteien so vorzunehmen, daß die Mandatszuteilung im gleichen Verhältnis erfolgt, wie die Partei insgesamt an Wahlstimmen erhalten hat. Dem repräsentationstheoretischen Anspruch der Demokratie entsprechend, soll im Grundsatz jede wahlberechtigte Stimme im Parlament vertreten sein. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich das Verhältniswahlsystem auch als das der Entwicklung zur Demokratie angemessene Wahlverfahren begreifen. Tatsächlich sind die strukturellen Verschiedenheiten zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlsystem, formulierte 1931 G. Leibholz, nichts anderes wie der „äußere Ausdruck des Gegensatzes von repräsentativem Parlamentarismus (...) und des modernen massendemokratischen Parteienstaates (...). Das Verhältniswahlrecht (...) ist nur das dem modernen Parteienstaat entsprechende Wahlrecht" (:1931/ 4 1974, S. 20). Wie damit angedeutet, haben die Ursachen für die Einfüh-
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rung dieses Systems in das Wahlrecht der europäischen Demokratien, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, zunächst im Prozeß der Etablierung der Parteien zu überregionalen Massenorganisationen gelegen, die nach einer politischen Repräsentation verlangten, welche ihrer tatsächlichen Bedeutung in der Wählerschaft entsprach. Der Übergang vom Mehrheitswahlrecht zum Verhältniswahlrecht verbindet sich in diesem historischen Argument mit der Anschauung, daß die Verhältniswahl allein die Gleichheit des Wahlrechts einlöst. Genügte im Mehrheitswahlrecht die Garantie des absolut gleichen Zählwerts der Stimme, so führt das Verhältniswahlrecht die Wahlrechtsgleichheit darüberhinaus zur Garantie des grundsätzlich gleichen Erfolgswertes. Theoretische Überlegungen zum Verhältniswahlverfahren finden sich im ausgehenden 18. Jahrhundert zunächst in Frankreich (Braunias: 1932 I., S. 191). Sie verbinden sich ein dreiviertel Jahrhundert später mit dem Werk des Engländers Thomas H a r e (1806-1891): „The Election of Representatives" (1859), auf welchen das heute in Deutschland angewandte Berechnungsverfahren der Landeslisten (Hare/Niemeyer-Verfahren) zurückgeht. Von John Stuart Mill und Walther Bagehot verstärkt, hatten seine Berechnungen großen Einfluß auf die diesbezüglichen Überlegungen in Deutschland. So findet sich die Forderung nach einem Verhältniswahlsystem etwa im Erfurter Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von 1891. Die Einführung des reinen Verhältniswahlsystems (Proportionalverfahren) in Deutschland - zeitgleich in etwa mit Italien, der Schweiz (Nationalrat) oder Luxemburg (Übersicht: Braunias: 19321., S. 203) - durch das „Gesetz über die Zusammensetzung des Reichstages und die Verhältniswahl in großen Reichswahlkreisen" vom 24.08.1918 (RGBl I, S. 1079), seine Beibehaltung für die Wahlen zur Nationalversammlung von Weimar und seine Aufnahme in die Weimarer Reichsverfassung zeigen sehr anschaulich, daß es keineswegs hinreicht, Wahlsysteme zuerst unter dem Gesichtspunkt ihrer verfassungsrechtlichen oder verfahrenstechnischen Seite hin zu untersuchen. Die Bewertung parlamentarischer Wahlen als vorzügliches Verfahrensmedium zur Übersetzung von politischem Willen in parlamentarische Mandate muß eingebettet sein in ihre historischen Entstehungsbedingungen; nur so erschließt sich ihre jeweilige politische Bedeutung. Sicherlich bestand 1918 eine Übereinstimmung aller Parteien, daß nur die Proportionalwahl die weitgehende Verfälschung des Wählerwillens im Kaiserreich, welche noch durch eine ungleiche Wahlkreisaufteilung unterstützt worden war, als immanente Folge des absoluten Mehrheitswahlrechts korrigieren könne (Nohlen: 1989, S. 185). Man darf aber keineswegs übersehen, daß die politischen Gründe, die nach dem Ersten Weltkrieg für die Einführung des Verhältniswahlrechts sprachen, „in der Sorge des Bürgertums" lagen, von der „radikalen sozialistischen Hochflut fortgerissen zu werden". Die Verhältniswahl wurde der Schutz des Bürgertums in einer aufgeregten Zeit" (Braunias: 19321., S. 203; zu Weimar Sternberger/Vogel: 19691., S. 254ff.; Nohlen: 1989, S. 185ff.). Die Überlegungen im Wahlrechtsausschuß des Parlamentarischen Rates, welcher sich als verfassungsgebende Versammlung am 1.09.1948 konstituierte und bis zum 8.05.1949 tagte, waren stark von dem Eindruck mitbestimmt, daß die reine Verhältniswahl Weimarer Prägung einen erheblichen Anteil an der Instabilität des Regierungssystems infolge der Zersplitterung des Parteiengefüges gehabt habe, sodaß an eine Wiedereinführung des Proportionalsystems nicht gedacht
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wurde (insgesamt Lange: 1975). Weiter überwog die Meinung, das Wahlsystem nicht in der Verfassung festzuschreiben. Geleitet von dem Ziel, eine stabile und funktionsfähige parlamentarische Regierung auf der Grundlage einer der Auflösung des Parteiensystems entgegenwirkenden Wahlform zu schaffen, einigten sich die verfassungsgebenden Kräfte darauf, daß der Bundestag, wie nach ihm die meisten Länderparlamente nach den „Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl" (§ 1 Bundeswahlgesetz) gewählt wird. Der Gesetzgeber hat in diesem Wahlsystem die Verhältniswahl mit den Elementen der Mehrheitswahl unter dem prinzipiellen Gebot der Wahlrechtsgleichheit jeder Stimme verbunden. Spätestens am 30. Tage nach der Wahl (Art. 39 Abs. 2 GG) tritt die gewählte Volksversammlung auf Einladung des Präsidenten des alten Bundestages zusammen; mit diesem Tag beginnt ihre Wahlperiode (Art. 39 Abs. 1 GG), die weder verlängert noch verkürzt werden darf (BVerfGE 62,1), außer im Falle der Verteidigung (Art. 115h, Abs. 1 G G ) oder der Auflösung des Parlaments (Art. 63 Abs. 2, Art. 68 GG).
III. Ende der Wahlperiode und Auflösung des Parlaments Als grundlegendes Prinzip des demokratischen Rechtsstaates bestimmt Art. 39 Abs. 1 G G , daß die Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus festgelegten zeitlichen Perioden durch Wahlen abgelöst und neu legitimiert werden müssen (BVerfGE 18, 154). Das deutsche Parlamentsrecht der Gegenwart kennt zwei Möglichkeiten der Beendigung parlamentarischer Organschaft: zum einen das Ende bzw. den Ablauf der Wahlperiode und zum anderen die Auflösung des Parlaments.
1. Ablauf der Wahlperiode Mit dem Ablauf des Zeitraums, für den die Volksvertretung gewählt ist, die Wahlperiode, welche für den Bundestag und die meisten Landtage längstens 48 Monate (Art. 39 Abs. 1 G G ) , für die Landtage Nordrhein-Westfalen und Saarland 60 Monate betragen kann, und an welche das Mandat der Volksvertreter konstitutiv gebunden ist, finden naturgemäß nicht die verfassungsrechtlichen Institutionen als parlamentarische Körperschaften ihr Ende, sondern nur das Organ in seiner wechselnden personellen Zusammensetzung. Infolge der Änderung des Art. 39 GG im Jahre 1976 (BGBl. I, S. 2381) fügen sich die Wahlperioden des Bundestages wie die in einigen Bundesländern direkt aneinander, insofern die Wahlperiode nicht automatisch durch Zeitablauf endet, sondern mit dem Tage des Zusammentritts des neuen Parlaments, also nicht mit dem Wahltag wie etwa in Weimar (Art. 23 W R V ; Trossmann/Roll: 1981, S. 7; unterschiedliche Regelungen für die Bundesländer bei Achterberg: 1984, S. 200f.). Eine längere, fünfjährige Periode kennen z.B. Großbritannien und Frankreich, während Teilwahlen zum amerikanischen Repräsentantenhaus alle zwei Jahre nötig werden. Diese Unterschiedlichkeiten verweisen auf einen langen verfassungsgeschichtlichen Entwicklungsprozeß, der auch für die jetzige wahlperiodische Regelung zumindest auf Bundesebene als keineswegs abgeschlossen gelten kann.
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Solange die Parlamente im mittelalterlichen England auf Einladung des Königs zusammentraten, mithin nach königlichem Ermessen statt verfassungsrechtlicher Pflicht einberufen wurden, konnte es auch keine Bestimmungen zur Wahlperiode geben. Zwar galt zunächst der Brauch, die Parlamente jährlich (Meyer, G.: 1901, S. 609), dann dreijährig einzuberufen, aber die Herrscher, welche die parlamentarischen Tätigkeiten unterbrechen, das Parlament auflösen oder auch die Beratung verlängern konnten, man denke in England an die Zeit der sog. „langen Parlamente" 1640 bis 1660,1661 bis 1678, machten von diesen Möglichkeiten einen überaus willkürlichen Gebrauch. Im Zusammenhang mit der Ausbildung des jährlich zu bewilligenden Budgets entwickelte sich die staatsrechtliche Notwendigkeit zur jährlichen Einberufung; aber noch im 18. Jhd. finden sich ebenso Epochen mit dreijährigen und siebenjährigen Wahlperioden. 1716 bestimmte Georg II. durch Gesetz das regelmäßige Ende des Parlaments auch durch Zeitablauf, womit die bis dahin übliche Form der königlichen Auflösung als Maßnahme, die neben der Auflösung infolge des Todes des Monarchen oder infolge eines Regierungswechsels stand, allmählich verdrängt wurde und zur heutigen Form führte, nach welcher ein Regierungswechsel nicht die Auflösung des Parlaments zur Folge hat, sondern nur das Ende der fünfjährigen Wahlperiode oder die Auflösung durch die Krone auf Antrag des Premiers eine solche bewirken kann (Glum: 2 1965, S. 71 ff.; v. Beyme: 21973, S. 340ff.; Lippert: 1973). Anders als in Großbritannien sind in den Vereinigten Staaten und auf dem westeuropäischen Kontinent Regelungen über Wahlperioden in die Verfassungen aufgenommen. So bestimmte die französische Verfassung vom 3. Sept. 1791 (Tit. III., chap. 1, Art. 2) für die Nationalversammlung eine Wahlperiode von zwei Jahren, ohne der Krone ein parlamentarisches Auflösungsrecht einzuräumen (Meyer, G.: 1901, S. 673); 1848 wurde die Wahlperiode auf drei Jahre verlängert (Verfassung vom 4. Nov. 1848, Art. 31). In der Regel erheblich ausgedehnter waren die Wahlperioden der Landtage in den deutschen Vormärz-Verfassungen. Sie reichten von sechs Jahren für Preußen (§ 23 Provinzialstände für die Mark Brandenburg vom 1. Juli 1823, Text bei Boldt: 1987, S. 167ff.), über neun Jahre (Sächsische Verfassung § 71) bis zu zwölf Jahren in Sachsen-Altenburg (Verfassung § 174; dazu Meyer, G.: 1901, S. 676). Wenngleich die meisten deutschen Staaten die Neuwahl aller Abgeordneten zum gleichen Wahltermin vorsahen, so kannten doch einige Verfassungen auch die Form der Partialerneuerung etwa in Preußen. Hier schied alle drei Jahre die Hälfte der Abgeordneten aus, in Baden ein Viertel. Die Erneuerung findet sich heute wie erwähnt, in dem zweifährigen Wahlturnus, zum amerikanischen Repräsentantenhaus; dieser Modus war in Deutschland in Sachsen, Sachsen-Altenburg und Braunschweig üblich (Meyer, G.: 1901, S. 676). In § 94 sah die Reichsverfassung der Frankfurter Nationalsammlung vom 28.03.1848 eine dreijährige Periode zur Wahl des Volkshauses vor. Sie wurde in dieser Form zunächst Vorbild für den Reichstag des Deutschen Reiches (§ 24) von 1871 und im März 1888 dann auf fünf Jahre ausgeweitet (RGBl, S. 110). Die Weimarer Reichsverfassung kannte eine vierjährige Wahlperiode für den Reichstag (Art. 23 WRV) und zwar in der Form, wie sie dann bis zu der erwähnten Änderung 1976 in das Grundgesetz übernommen wurde und infolge derer es zwischen den Wahlperioden parlamentslose Zeiten gab, in denen die Rechte der Volksvertretung durch einen dazu bestellten Ausschuß (Art. 35 WRV) wahrgenommen wurden; im Grundgesetz war die entsprechende Norm in Art. 45 GG enthalten.
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Vorstehend wurde nur der Begriff der „Wahlperiode" benutzt, wenngleich der der Legislaturperiode häufig synonym verwandt wird. Von .Wahlperioden' sprach die Weimarer Verfassung in Art. 27, von Legislaturperioden' der zitierte Art. 24 der Reichsverfassung von 1871. Allein ein Hinweis auf die Parlamentsfunktionen reicht hin, um deutlich zu machen, daß der Begriff der „Legislaturperiode" eben nur auf die „Legislativfunktion" begrenzt ist, und damit auch in den älteren verfassungsgeschichtlichen Kontext gehört. Daneben kannte die Weimarer Verfassung noch den Terminus „Tagung" (Art. 27,35,40a), welcher mit dem der „Wahlperiode" als identisch angesehen wurde (Art. 40a W R V ) .
2. Wahlperiode und Sitzungsperiode Eine Unterteilung der Wahlperiode in Sitzungsperioden (Art. 31 RV und Art. 37 W R V ) oder Sessionen (Art. 26 RV), nach denen der Reichstag zunächst bis 1898 in vier bis fünf, dann bis 1918 in zwei Sessionen tagte, kennt das deutsche Parlamentsrecht der Gegenwart nicht mehr. Die Übung, Sitzungswochen mit sitzungsfreien Zeiten alternieren zu lassen entspringt der parlamentarischen Arbeitsökonomie des Bundestages und hat mit der verfassungsrechtlichen Zerlegung der Wahlperioden in Sitzungsperioden nichts gemein: Der Deutsche Bundestag und die deutschen Länderparlamente sind während der Wahlperiode in Permanenz handlungs- und funktionsfähig. Der Weimarer Reichstag verfuhr bis 1933 ebenso, da die Verfassung keinen Zwang kannte, die Wahlperiode zu unterteilen und überdies der Reichstag davon absah, den „Schluß der Tagung" (Art. 24 W R W ) zu bestimmen. Dies hatte zur Folge, daß ,Tagung' (Sitzungsperiode) und ,Wahlperiode' zusammenfielen und durch das ungeschriebene Vertagungsrecht diskontinuitätsunschädlich unterbrochen wurden (erläuternd § 101. und II.). Dagegen stehen Formen der wahlperiodischen Gliederung im ausländischen Parlamentsrecht, die eben diese Tagungs- und Beschlußkontinuität dadurch einschränken, daß verfassungsrechtliche Eröffnung und Schließung der parlamentarischen Sitzungsperioden datumsbezogen festgelegt sind (Ruch: 1976, S. 111). Beispielhaft sei auf die jährlich zwei Sessionen der französischen Volkskammer (Art. 28, Kempf: 2 1980, S. 79) hingewiesen, die jährliche Session des amerikanischen Repräsentantenhauses (3. Januar bis 30. September; Art. XX., See. 2; deutsch bei Fraenkel: 41981, S. 364; Loewenstein: 1959, S. 185), auch auf die aufgrund königlicher Prärogative erfolgende Schließung der englischen Sessionen, welche - allerdings zeitlich nicht begrenzt - für gewöhnlich aber über etwa ein Jahr läuft (Loewenstein: 1967, S. 194f.); zudem kennen die englische - wie die amerikanische - Parlamentspraxis das Institut der Vertagung einer Session (Adjournment). Eine solche hat, wie die übrigen Formen der wahlperiodischen Unterbrechung, unmittelbare Auswirkungen auf Fragen der parlamentarischen Diskontinuität, die hier im Einzelnen nicht dargestellt werden können.
3. Selbstversammlungs- und Auflösungsrecht Parlamentarische Systeme mit wahlperiodischer Organkontinuität kennen naturgemäß nicht das Instrument der „außerordentlichen Session", womit die Einberufung des Parlaments durch ein anderes Verfassungsorgan verstanden wird. D e r
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Bundestag (Art. 39 Abs. 3 G G ) wie die Landesparlamente besitzen als Ausdruck souveräner Gestaltungsfreiheit ein der Weimarer Verfassung (Art. 24) weitgehend nachgebildetes Selbstversammlungsrecht in Form der Einberufung durch den Bundestagspräsidenten oder die Landtagspräsidenten, woraus sich das Recht herleitet, Beginn und Ende der Sitzungen allein festzulegen. Sollte der Bundespräsident, der Bundeskanzler oder ein Drittel der Mitglieder des Bundestages einen früheren als den beschlossenen Sitzungswiederbeginn wünschen (Art. 39 Abs. 3 G G ) , so ist der Bundestagspräsident verpflichtet, einer vorzeitigen Einberufung nachzukommen. Dagegen steht gemäß Art. 29 der französischen Verfassung dem Premier oder der Mehrheit der Abgeordneten der Nationalversammlung das Recht zu, eine außerordentliche Session einzuberufen, welche vom Staatspräsidenten eröffnet und geschlossen wird (Art. 30); über ein exekutives Einberufungsrecht verfügt auch der amerikanische Präsident (Art. II, See. 3; Text bei Franz: 3 1975, S. 296; Loewenstein: 1959, S. 368). Die älteren deutschen Verfassungen des 19. Jhds. kennen - entsprechend den Grundsätzen des monarchischen Prinzips (näheres in § 2 I.) - ein parlamentarisches Selbstversammlungsrecht nicht. Die landständischen und konstitutionellen Verfassungen sahen wie z. B. die Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg (v. 25.09.1819) folgende Regelungen vor: „127. Der König wird alle drei Jahre die Versammlung der Stände (Landtag) einberufen; und außerordentlicherweise, so oft es zur Erledigung wichtiger oder dringender Landes-Angelegenheiten erforderlich ist" (bei Boldt: 1987, S. 299). Ebenso verfügte der konstitutionelle Monarch, als Ausfluß monarchischen Prärogativrechts, über das Ende der Versammlung, über ihre Vertagung und vor allem über ihre Auflösung (§ 186, Satz 2, württembergische Verfassung von 1819; Umbach: 1989, S. 30ff.); wie alle königlichen Verfügungen bedurfte auch diese der Gegenzeichnung des „zuständigen Departments-Ministers" (Art. 51), der damit die Verantwortlichkeit für die Auflösung übernahm (umfassend Umbach: 1989; auch Kremer: 1974, S. 141ff.). Auch in diesem Punkt folgt die konstitutionelle Verfassungsentwicklung in Deutschland der Regelung der Charte Constitutionelle von 1814 (Art. 50; Text bei Pölitz: 2 1833 II., S. 92). Den älteren konstitutionell-monarchischen Verfassungen auf dem europäischen Kontinent dagegen, so der französischen Verfassung von 1791, der spanischen Cortesverfassung von 1812 oder der norwegischen Verfassung von 1814, war ein Auflösungsrecht des Monarchen aus der Anschauung der Gewaltenteilung konsequenterweise unbekannt (Meyer, G.: 1901, S. 681f.), ebenso der amerikanischen Verfassung von 1787. Die Paulskirchen-Verfassung von 1849 blieb bemerkenswerterweise bei einem uneingeschränkten monarchischen Auflösungsrecht (§ 79), wie dieses 1871 modifiziert in die Reichsverfassung übernommen wurde.. In Art. 12 bestimmte sie: „Dem Kaiser steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen". Als Träger der Reichsgewalt fungierte der Bundesrat mit Zustimmung des Kaisers als Auflösungsorgan (Art. 24 RV; zu den Reichstagsauflösungen im Kaiserreich Umbach: 1989, S. 210ff.). Wie im älteren Recht ordnete die Weimarer Reichsverfassung das Recht zur Auflösung in Art. 25 W R V dem Reichspräsidenten zu, begrenzt durch das Gebot der Einmaligkeit der Auflösung aus gleichem Anlaß, - eine Regelung, welche auf Erfahrungen mit dem monarchischen Auflösungsrecht im preußischen Verfassungskonflikt 1861-1866 (Starke: 1972, S. 127ff.) zurückging - und durch die Be-
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Stimmung über die Kontrasignatur durch die Regierung (Art. 50 W R V ) ergänzt wurde. In Verbindung mit A r t . 48 W R V (Notverordnung), A r t . 53 W R V (Berufung des Reichskanzlers) und Art. 73 W R V (Volksentscheid gegen gesetzgeberische Beschlüsse) führte das parlamentarische Auflösungsrecht in der H a n d eines plebiszitär legitimierten Reichspräsidenten in der Staatspraxis zu einem exekutiven Auflösungsrecht, insofern die Regierung die Auflösung forderte und ein selbständig außerhalb des Parlaments stehender Reichspräsident ihr nachkam, zunächst um die Regierungspolitik gegen den Reichstag durchzusetzen, später, um den Reichstag auszuschalten (Umbach: 1989, S. 321; zur Parlamentsauflösung in den Ländern der Weimarer Republik Ders.: 1989, S. 338ff.). Auf verfassungsrechtliche Kontinuitäten weisen heute kritische Stimmen hin, welche im alleinigen Auflösungsrecht des Bundestages durch den Bundespräsidenten (Art. 63; Art. 68 G G ) ein verfassungsrechtliches Relikt aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie sehen, welches allerdings infolge der Erfahrungen aus Weimar erheblich eingeschränkt worden ist (zur Verfassungsdiskussion um das Auflösungsrecht 1946-1949. U m b a c h : 1989, S. 361ff.). So ist die Auflösungsbefugnis des Staatsoberhaupts in dessen politisches Ermessen gestellt - er kann auflösen, muß aber nicht - und an zeitliche Fristen gebunden (Art. 63 Abs. 4; Art. 68 Abs. 1 G G ) ; stärker wiegt, daß der Bundestag die Auflösung durch den Bundespräsidenten dadurch abwehren kann, indem er innerhalb von 21 Tagen mit gesetzlicher Mehrheit einen anderen Bundeskanzler wählt (Art. 68 Abs. 1 G G ; § 98, 2 G O - B T ; H e y d e / W ö h r m a n n : 1984; Hochrathner: 1985; Kretschmer: 1974, S. 25ff.). D e r Hinweis auf die Traditionslinien im Auflösungsrecht relativiert sich wohl auch, wenn man daran erinnert, daß auch andere parlamentarische Systeme wie Frankreich (Art. 12, Abs. 1; Art. 49, Abs. 1; dazu v. Beyme: 2 1973, S. 834; Lauvaux: 1983), Italien (Art. 88, Abs. 1 ; ^ . Beyme: 2 1973, S. 875) o d e r - w i e bereits erwähnt - Großbritannien (Lippert: 1973, S. 381ff.; Markesinis: 1972) vergleichbare Regelungen kennen. Als Bestandteil königlicher Prärogative findet sich ein Auflösungsrecht ebenfalls in den parlamentarischen Monarchien, so in Belgien, D ä n e m a r k , Schweden und den Niederlanden (Starke: 1972, S. 82ff.; Wolf/Frhr. v. Welck: 1974m.w.N.). Anders als einige Landesverfassungen, z.B. Baden-Württemberg (Art. 43 Abs. 1), Bayern (Art. 18 Abs. 3), Berlin (Art. 39 Abs. 3) und Nordrhein-Westfalen (Art. 68 Abs. 3) kann der Bundestag nicht durch Volksentscheid aufgelöst werden; er hat auch nicht - wie eine Reihe von Verfassungen ausländischer Staaten eine Selbstauflösungsbefugnis durch Zwei-Drittel-Mehrheit. Eine solche kennen mehrere deutsche Landesverfassungen, z.B. Bayern (Art. 18 Abs. 1), Nordrhein-Westfalen (Art. 35 Abs. 1), das Saarland (Art. 69) und Hessen (Art. 80) (Übersicht bei Ley: 1981). 1976 wurde eine diesbezügliche Verfassungsergänzung von der E n q u e t e - K o m mission „Verfasstingsreform" befürwortet (BT-Drs. 7/5924). Bereits 1952 hatte G . Leibholz angemerkt, daß im konstitutionellen Staat des 19. Jhds. vom Auflösungsrecht Gebrauch gemacht wurde, „um sich eines u n b e q u e m e n Parlaments zu entledigen und mit Hilfe echter Wahlen nach Möglichkeit ein Parlament zu erhalten, das den Wünschen der Krone gefügig war. H e u t e ist dieses Auflösungsrecht zu einem Mittel geworden, u m außerhalb der üblichen Legislaturperiode von vier oder fünf J a h r e n , nach der das Volk jeweils zu , Wahlen' aufgerufen wird, diesem
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Gelegenheit zu geben, sich plebiszitär zu äußern. Dem gleichen Zweck dient ein etwa von der Verfassung vorgesehenes parlamentarisches Selbstauflösungsrecht. Auf diese Weise sollen die Härten abgemildert-werden, die mit einer längeren Dauer der Legislaturperiode unvermeidlich verbunden sind. Daß das Bonner Grundgesetz ein solches Auflösungsrecht nicht kennt, sondern dies auf zwei Fälle beschränkt, in denen dieses unter bestimmten Voraussetzungen von den Bundesländern ausgeübt werden darf, gehört zu den strukturellen Uriebenmäßigkeiten, um nicht zu sagen, korrekturbedürftigen Defekten unserer heutigen Verfassung" (Leibholz: 1931/31974, S. 105). Angemessen wird sich über die Auflösung des Parlaments nur debattieren lassen, wenn man sie im Rahmen der vorzeitigen Beendigungsmöglichkeit der Wahlperiode infolge mangelnden oder des Verlusts parlamentarischen Vertrauens (Art. 68 GG, i.V.m. Art. 67 GG) diskutiert und dabei im Auge behält, daß sich das exekutive Auflösungsbegehren (Art. 68 Abs. 1), gedacht als Gegengewicht zum konstruktiven Mißtrauensvotum (Art. 67 GG), nicht allmählich und gestützt durch die 1982/83 erfolgte Neuinterpretation des Art. 68 durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 62, 35ff.), zu einem, das parlamentarische Regierungssystem destabilisierenden Selbstauflösungsrecht entwickelt (Umbach: 1989, S. 512ff.); die gegenwärtigen verfassungspolitischen Überlegungen haben diese Wirkung zu bedenken.
4. Vertrauenserfordernis, Verantwortlichkeit und vorzeitige Beendigung der Wahlperiode Einigkeit besteht heute in der Anschauung, daß die Regierung auf das Vertrauen, d.h. auf Wahl, Billigung und Duldung der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments gestützt sein muß und daß dieses „Vertrauenserfordernis" neben dem Verantwortungsprinzip (erläuternd § 1) und der Staatsleitungsteilhabe des Parlaments zu den charakteristischen Bestandteilen parlamentarischer Regierungssysteme (hierzu § 9) gehört; wenn man nicht überhaupt in der Vertrauenserfordernis das wesensprägende Merkmal eines Regierungstypus sehen will, in welchem das Parlament über den Bestand der Regierung verfügt (Oppermann: 1975; Badura: 1987; Stern: 21984 II.; Friesenhahn: 1958; Anschütz: 141933, S. 318). Unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt findet das Vertrauenserfordernis des Grundgesetzes in den Art. 63, 67 und 68 seinen Ausdruck. Wie die meisten deutschen Landesverfassungen (z. B. Hamburg, Art. 35,36; Berlin, Art. 42; Baden-Württemberg, Art. 46, 54, 56) verzichtet das Grundgesetz auf eine darüberhinausgehende explizite Normierung des Vertrauenserfordernis. Anders die Weimarer Reichsverfassung (Brandt, E.: 1981, S. 25ff.), die in Art. 54 eine ausdrückliche Fassung des Vertrauensprinzips kannte: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen in ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß das Vertrauen entzieht". Eingefügt sei der Hinweis, daß die Weimarer Verfassung eine Beschränkung der Abrufbarkeit, wie in Art. 67 GG, vermied, wodurch sich das destruktive Mißtrauensvotum auf den Reichskanzler wie auf Minister beziehen konnte und ihre Rücktrittsverpflichtung zur Folge hatte. Im weiteren kannte die Ausgestaltung des Vertrauenserfordernis in der Weimarer Reichsverfassung nicht die Möglichkeit des Kanzlers, auf eine Auflösung des Parlaments (für 1982/83 Heyde/Wöhrmann: 1984; zu 1972 Lange/Richter: 1973) oder auf den Gesetzgebungsnotstand hinzuwirken (Art. 81 GG).
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Nur die Berücksichtigung der Bindungen zwischen Art. 67 und 68 G G i.V.m. Art. 81 G G macht anschaulich, inwieweit mit dem Institut der Vertrauensfrage sie war in der Weimarer Verfassung nicht vorgesehen - ein gewaltenbalancierendes exekutives Gegengewicht zum parlamentarischen konstruktiven Mißtrauensvotum verfassungsrechtlich verankert wurde. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Weimar verdichtet sich in diesen Vorschriften in besonderer Weise die Absicht des Parlamentarischen Rates (Otto: 1971; Wengst: 1984), vor allem auch in Konfliktlagen oder in Situationen der Mehrheitsunfähigkeit (Art. 63 Abs. 4 G G ) zwischen Parlament und Regierung ein funktionsfähiges parlamentarisches Regierungssystem zu sichern. Diese Bewertung wird durch die verfassungsrechtliche Logik unterstrichen, daß sich in letzter Konsequenz das Parlament der drohenden Auflösung entziehen kann (Art. 68 Abs. 1 Satz2 GG), indem es seine Mehrheitsfähigkeit unter Beweis stellt; in jedem Fall ist die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode infolge der Auflösung des Parlaments durch den Bundespräsidenten (Art. 63, 68 GG) und die damit einhergehende Anordnung zu Neuwahlen (§ 16 Bundeswahlgesetz) der zwingende Entwicklungsgang eines parlamentarischen Regierungssystems (Geiger: 1988; Kremer: 1974; Lippert: 1973; Scheller: 1978: B V e r f G E 62,4ff.). Folgt man den verfassungsgeschichtlichen Linien, so weisen die Ursprünge des Zusammenhanges von Vertrauenserfordernis, Mißtrauensvotum und vorzeitiger Auflösung des Parlaments auf das Institut der Staatsanklage (Impeachment) im englischen Staatsrecht (Brandt, E.: 1979 m.w.N.; Keir: 91975; Lippert: 1973, S. 75ff.) als Anklage des Unterhauses gegen rechenschaftspflichtige Staatsbeamte vor dem Oberhaus, wie es in England seit dem Ausgang des 14. Jhd. exerziert wurde, hin. Im Zuge der Parlamentarisierung dieses Rechts im 17. Jhd. und seiner allmählichen Ausweitung auf die Verantwortlichkeit der Berater („Minister") der englischen Könige formte sich die Staatsanklage mit ihren klassischen Strafrechtstatbeständen wie Hochverrat, Veruntreuung von öffentlichen Geldern, Ämterkauf, Bestechlichkeit und Bestechung zum Instrument des parlamentarischen Einflusses auf die Regierung. Der sich vor allem aus der englischen Staatsphilosophie (J. Locke) herleitende Gedanke - wie er sich später in den Federalist Papers findet - , daß exekutive wie parlamentarische Mandate nur Auftragscharakter (public trust) haben, führte zur Herauslösung der Verantwortlichkeit aus dem strafrechtlichen Rechtskreis und zur Anschauung einer politischen, verfassungsrechtlichen Verantwortung, welche nur durch Amtsenthebung und nicht durch Strafverfolgung sanktioniert werden kann (Scheuner: 1970, S. 385ff.). Als entscheidender Schritt vom Impeachment zum modernen Mißtrauensvotum („vote of no confidence") gilt ein Tadelsantrag gegen den englischen Premierminister Walpole mit der Folge seines Rücktritts im Jahre 1741 (Brandt, E.: 1979, S. 11; Hasbach: 1919, S. 49ff.; Birch: 1964, S. 130ff.). Mit dessen Regierungszeit verbindet sich auch der Hinweis, daß er der erste Premier der englischen Geschichte war, der darauf verzichtete, gestürzte Gegner strafrechtlich zu verfolgen; wenig später (1782) fand sich auch der erste klare Fall des Rücktritts eines Ministers (Lord North) infolge eines Mißtrauensvotum, mit welchem sich die politische Verantwortlichkeit der Minister in England durchzusetzen begann (Glum: 2 1965, S. 17; Scheuner: 1970, S. 387). In der englischen Staatspraxis des ausgehenden 18. Jhds. konnte ein erfolgreiches Mißtrauensvotum bereits den Rücktritt der Regierung oder die Auflösung des Unterhauses durch den Premier
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und Neuwahlen zur Folge haben, wie im Fall des Kabinetts Pitt 1784 (Lippert: 1973, S. 362ff.). In den ersten Jahrzehnten des 19. Jhds. erhielt das Vertrauensprinzip seine im Kern bis heute gültige Fassung. 1841 wurde das „vote of no confidence" (Mißtrauensvotum) verfassungsrechtlich eingeführt. Neben dem „vote of censure" (Tadelsantrag) bewirkt es den Rücktritt mit der Folge, daß die zum Sturz fähige Parlamentsmehrheit die Regierungsverantwortung zu übernehmen hat. D a ß es in Deutschland vor 1848 eine tatsächliche, über das Vertrauensprinzip verknüpfte Verbindung zwischen Regierung und Parlament auch in den konstitutionellen Verfassungen nicht gab, ist Konsequenz des monarchisch-konstitutionellen Staatsverständnisses. In der Ausübung der Hoheitsrechte banden sich die Herrscher an die Mitwirkung durch die verantwortlichen Minister, ohne daß es zu einer Regelung über die Form der Geltendmachung dieses Verantwortungsverhältnisses gekommen wäre (Härtung: 6 1969, S. 199). Die Legislative, so der für den deutschen Konstitutionalismus wichtige Einfluß Montesquieus namentlich auf J. Stahl und F. Dahlmann (erläuternd § 2 II.), ist zwar autorisiert, die Anwendung ihrer Gesetze zu überwachen; sie konnte aber nicht den Monarchen zur Verantwortung ziehen, da seine Person als sankrosankt galt und an seiner Stelle die Minister die Verantwortung übernahmen. In den Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung war es zwar über die Frage des Vertrauenserfordernis zu heftigen Kontroversen gekommen (Bötzenhart: 1977) und am 18. Mai 1849 auch zum ersten parlamentarischen Mißtrauensvotum in der deutschen Verfassungsgeschichte (Text bei Huber: 3 19781., S. 349), ab'er Eingang in die Verfassung von 1849 fand das Prinzip nicht. Es blieb in den §§ 73 und 74 bei Normierungen im Verständnis des Konstitutionalismus; in eben dieser Form finden sich die entsprechenden Regelungen auch in Art. 44 der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat (Text bei Dürig/Rudolf: 2 1979, S. 135ff.). Die seit Beginn im süddeutschen Frühkonstitutionalismus instituierte Ministerverantwortlichkeit als Gegenstück zur monarchischen Unverantwortlichkeit in Form der Gegenzeichnungspflicht der monarchischen Erlasse, welcher nach Art. 17 der Reichsverfassung von 1871 auch der Reichskanzler und nach dem Stellvertretergesetz von 1878 (bei Huber 3 1986 II., S. 407) zudem die Staatssekretäre unterworfen waren, galt dem Aufweis der Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns und stellte in diesem Sinne nur eine „rechtsstaatliche Schutzgarantie" (Bieberstein: 1930, S. 522) dar. Sie war nach dem englischen Vorbild des „Impeachment" von strafrechtlichem Charakter und kannte - mit Ausnahme in Preußen, im Norddeutschen Bund und im Deutschen Reich von 1871 (Scheuner: 1970, S. 388ff.; Bieberstein v.: 1930, S. 523) die gerichtliche Ministerklage. In der Verfassungswirklichkeit der deutschen konstitutionellen Staaten ist diese rechtliche Verantwortlichkeit im Grunde nicht zur Geltung gekommen, sondern wurde in den Auseinandersetzungen der Landtage mit den Regierungen frühzeitig politisiert' (von Bieberstein: 1930, S. 523): In den öffentlichen parlamentarischen Verhandlungen der Landtage - und später auch des Reichstages - überwog die politische Rechtfertigung von Regierungsentscheidungen und maßnahmen, die selbstverständlich in Einklang mit der Verfassung stehen mußten, jedoch in den Plenardebatten nicht in erster Linie auf ihre Rechtmäßigkeit hin befragt wurden (Kröger: 1988, S. 114ff.). Während das Institut der rechtlichen Verantwortlichkeit, welches maßgeblich den konstitutionellen Charakter der Regierung hervorgehoben hatte, an Bedeutung verlor, gewann im gleichen Zuge mit der Demokratisierung des öffentlichen Lebens im Deutschen Reich die
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politische, mithin parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung an Gewicht. Diese Entwicklung der konstitutionellen Verfassung vollzog sich fast zwangsläufig: Wenn Konstitutionalismus - wie im Sinne Loewensteins (: 3 1975, S. 49) - die verantwortliche Regierung bedeutet, so ist damit die Verbindung von Handlungsmacht und Verantwortung gefordert. In der Folge wurden die unverantwortlichen Fürsten durch ihre Kanzler und Minister, die mit der Verantwortung auch die Macht an sich nahmen, allmählich aus ihrer Führungsrolle verdrängt (Scheuner: 1970, S. 388). Ohne auf die Parlamentarisierung der Reichsverfassung an dieser Stelle eingehen zu müssen (ausführlich § 2), blieb der gesamte Reichstag in allen Kontroll- und Rechenschaftsbefugnissen de jure ohne Anteil an der Regierungsverantwortung und damit letztlich in Frontstellung zur Reichsleitung. Erst kurz vor Zusammenbruch des Reiches 1918 wurde Art. 15 der Verfassung um das parlamentarische Vertrauenserfordernis und die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers ergänzt (Gesetz vom 28.10.1918, RGBl, S-. 1274). Der Reichskanzler „als oberstes Organ der Vollziehung wurde von einem Vertrauensträger des Monarchen zu einem solchen des Volkes" (Schambeck: 1971, S. 21). Während sich in England in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhd. die Auffassung, daß die Minister dem Parlament, nicht der Krone staatsrechtlich verantwortlich seien, durchsetzte und zur Entwicklung der parlamentarischen Mehrheitsregierung („responsible government"; Mackintosh: 2 1968, S. 81ff.) führte, hielt sich in den vom französischen Konstitutionalismus geprägten Verfassungen in Westeuropa die parlamentarische Anklage des Staatsoberhaupts oder der Minister. In Art. 68 der französischen, in den Art. 91 und 96 der italienischen oder in Art. 142 der österreichischen Verfassungen finden sich die entsprechenden Regelungen; die amerikanische Verfassung hat das „Impeachment" dem Repräsentantenhaus vorbehalten (Art. I, sec. 2 (5); Fraenkel: 4 1981, S. 244ff.). Unterliegt im deutschen Verfassungsverständnis der Gegenwart der Bundeskanzler allein der politischen Verantwortung, wie oben dargestellt, so ist - ähnlich wie in der Weimarer Verfassung - eine Anklage gegen den Bundespräsidenten mit der Mehrheit von zwei Drittel des Bundestages und des Bundesrates vor dem Bundesverfassungsgericht möglich (Art. 6 1 G G ) . Mit der erwähnten Übernahme des Vertrauenserfordernis in die Verfassung 1918/19 war der Schritt zur Entwicklung des parlamentarischen Systems, in welchem die Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber der verantwortlichen Instanz Parlament sich in der Kompetenz manifestiert, die Regierung zu wählen, zu stürzen oder im Zusammenwirken mit dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten die Wahlperiode vorzeitig zu beenden, getan. D a ß im parlamentarischen Regierungssystem das Vertrauenserfordernis mit jeder neuen politischen Entwicklung einer erneuten Überprüfung und Bewertung durch die parlamentarischen Abgeordneten unterzogen wird, also nicht etwa für die gesamte Wahlperiode der Exekutive im voraus zugesichert wird, versteht sich auch mit Blick auf die Gewährleistung des repräsentativen und freien Abgeordnetenmandats (Art. 38 Abs. 1 G G ; B V e r f G E 62, 37f.) und der daraus resultierenden Stellung des Abgeordneten und seiner Fraktion.
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§ 4 Abgeordneter und Fraktion Raban Graf von Westphalen I. Repräsentierte und Abgeordnete: Vertrauen und Verantwortung. - II. Pflichten und Rechte. - III. Fraktionen. Grundlagenliteratur Abmeier, Klaus (1984): Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz. Berlin. Bergsträsser, Ludwig ( n 1965): Geschichte der politischen Parteien in Deutschland. München. Bockelmann, Paul (1951): Die Unverfolgbarkeit der Abgeordneten nach deutschem Immunitätsrecht. Göttingen. Boldt, Werner (1971): Die Anfänge des deutschen Parteienwesens. Paderborn. Härth, Wolfgang (1983): Die Rede- und Abstimmungsfreiheit der Parlamentsabgeordneten in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Hamm-Brücher, Hildegard (1989): „Abgeordneter und Fraktion". In: Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 673ff. Hauenschild, Wolf-Dieter (1968): Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen. Berlin. Kaack, Heino (1971): Geschichte und Struktur des deutschen Parteiensystems. Opladen. Klein, Hans-Hugo (1987b): „Status des Abgeordneten". In: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, Bd. II, S. 367ff. Kramer, Helmut (1968): Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849. Berlin. Ritter, Gerhard A. (Hg.) (1973): Deutsche Parteien vor 1918. Köln. Schlangen, Walter (Hg.) (1979): Die deutschen Parteien im Überblick. Königstein/Ts. Staritz, Dietrich (Hg.) ( 2 1980): Das Parteiensystem der Bundesrepublik. Opladen. Tormin, Walter ( 3 1968): Geschichte der deutschen Parteien seit 1848. Stuttgart, siehe auch Hilfsmittel Teil B, III., 1 bis 4.
I. Repräsentierte und Abgeordnete: Vertrauen und Verantwortung Die Verfassungsnorm des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G , nach der die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind, bestimmt in Verbindung mit Art. 20 und Art. 21 GG über die Grundstruktur parlamentari-
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scher Demokratie in Deutschland und ihre Ausformung nach den Prinzipien der Repräsentation (dazu § 1, II.). Die Fundamentalnorm freiheitlicher Demokratie besagt, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG, Art. 1 Abs. 2 WRV). Sie wird vom Volk in Wahlen (dazu § 3) und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Im repräsentativen, freien Status des Abgeordnetenmandats als „Vertreter des ganzen Volkes" (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 21 WRV; Art. 29 RV1871; Art. 83 Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat von 1850) und der daraus resultierenden Absage an jede Form der Bindung des Mandats (gebundenes oder imperatives Mandat) konkretisiert sich die Ausgestaltung des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten, von Vertretern und Vertretenen (Gentz: 1819/1844, S. 218ff.; Hatschek: 1915, S. 568ff.; Tatarin-Tarnheyden: 1930, S. 415ff.; Klein, H.-H.: 1987b, S. 368ff.; Badura: 1989b, S. 489ff.). In der historischen Ausprägung des Parlaments als selbständiges Entscheidungsorgan der „im Staat politisch geeinten Gesamtheit" (Klein, H.-H.: 1987b, S. 394) beruht der entscheidende Vorgang hin zur verfassungsrechtlichen Etablierung einer Volksvertretung, in welcher sich jeder Bürger als Mitglied des Staatsvolkes repräsentiert sieht. Daraus resultiert das für die parlamentarische Demokratie einzig angemessene Verständnis vom Abgeordneten als Inhaber eines öffentlichen Amtes, als Vertreter des ganzen Volkes und als Träger eines freien Mandates. Wenngleich die Vorstellung, nach welcher das Parlament das Staatsvolk repräsentiere, der älteren englischen Verfassungsgeschichte angehört und ihre staatsrechtliche Formung in die Tudor-Zeit (Kopp: 1966, S. 40) fällt, in welcher sich die Mitglieder des Parlaments aus ihrer lokalen Einbindung lösten und zur nationalrepräsentativen Vertretung wurden, so knüpft die kontinentale Repräsentationsform deutlich stärker an Rousseau (1712-78), vor allem aber an Abbé Sieyès (1748-1836) an, dem auch die erste Theorie parlamentarischer Repräsentation zugerechnet werden kann. In seiner berühmten Rede vor der französischen Nationalversammlung am 7.9.1789 finden sich die Sätze, welche den Übergang vom gebundenen Mandat der Ständevertreter zum freien, nur der Nation verpflichteten Mandat widerspiegeln. So, wenn er dort ausführt, daß der Repräsentant „Deputierter der gesamten Nation sei" und alle Staatsbürger seine Auftraggeber seien. Nur der nationale Wille sei für die Volksvertreter maßgebend und entscheidend, sei allein die Beratung in der parlamentarischen Körperschaft. Denn das Volk könne nicht handeln, außer durch seine Repräsentanten (Sieyès 1788-90/1975, S. 54f.; Göhler/ Klein: 1991, S.370ff.). Eingangs wurde erläutert (§ 1, II.), daß die Repräsentationsfigur aus der Unterscheidung von Auftragenden und Ausführenden, Repräsentierten und Repräsentierenden lebt und im Politischen Herrschaft als Rechtsverhältnis konstituiert. Repräsentative Verfahren - darauf hatte Sieyès hingewiesen - bedürfen einer Rechtsordnung, welcher Beherrschte und Herrschende gleichermaßen unterworfen sind. „Indem die Wahlberechtigten ihren Willen bilden und durch Delegation an die Repräsentanten für eine bestimmte und feststehende Zeit selbst binden, kann sich das konstituieren, was als institutionell verfaßter Staatswille die Grundlage politischen Handelns ausmacht und durch welche das Volk ,zum Subjekt der Souveränität' wird" (Heller: 1927, S. 75, § 1 II. ).
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Angemerkt sei, daß die Willensbildung des Volkes (Art. 21 Abs. 1 G G ) und die Bildung des Staatswillens voneinander zu unterscheiden sind; Volkswille und Staatswille fallen nur dann zusammen, wenn „das Volk als Verfassungs- und Kreationsorgan durch Wahlen und Abstimmungen selbst die Staatsgewalt ausübt" (BVerfGE 20, S. 98). „Das in demokratischen Wahlen erteilte Mandat besagt in seiner Essenz nichts anderes, als autorisiert zu sein, für die Gesamtheit des Volkes zu handeln" (§ 1 II., Scheuner: 1970; S. 379ff.); es drückt eine positive Handlungspflicht der Repräsentanten aus. Diese Befugnis ist anvertraut, beruht auf Zustimmung durch den Wahlakt und muß verantwortet werden; Repräsentation setzt insofern das Vertrauen der Repräsentierten in ihre Abgeordneten voraus (für das folgende Sommer: 1991). Hennis hat diesen Sachverhalt wie folgt gefaßt: „Wo das Amt im Mittelpunkt des politischen Denkens steht, ist die entscheidende legitimierende Basis der Amtsinnehabung, das Band, das den Amtsinhaber mit demjenigen, der ihn in das Amt berufen hat, verbindet, nicht eine identitäre Willensrelation, sondern das Vertrauen". Vertrauen und Verantwortung sind daher die notwendigen Korrelate demokratischer Repräsentation. Die Ausübung politischer Macht als anvertrautes Amt gründet - wie es bereits im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Repräsentationsverständnis anklang - in der normativen Ausrichtung von Herrschaft „als einer der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl verpflichteten Aufgabe" (: 1968a, S. 51). Das „freie" Abgeordnetenmandat geht unmittelbar aus dieser Vorstellung hervor. Fraenkel begründet im Rekurs auf Burke die Notwendigkeit des freien Mandats aus der mit ihm verbundenen Verpflichtung zur Wahrung des Gemeinwohls. Das imperative, durch die Aktivbürgerschaft erteilte Mandat wird schon deswegen abgelehnt, weil die repräsentierte Nation' eben nicht nur die Wahlberechtigten, „sondern die vergangenen und künftigen Generationen mit einschließt" (Fraenkel: 1958/51973, S. 119). Das imperative Mandat hingegen würde aus der Summe der durch Wahl empirisch ermittelten Einzelwillen oder als Vielzahl imperativer Mandate einzelner Wählervereinigungen hervorgehen, was jedoch wie die Auseinandersetzung mit Rousseau zeigen sollte (in § 1 II.) - nicht ausreicht, seine kollektiv verbindliche Geltungskraft zu legitimieren. Bereits Sieyes hat deutlich gemacht, warum die Repräsentation des „gemeinschaftlichen Willens" der Nation resp. der „Einheit der übereinstimmenden Interessen seiner Mitglieder (Podlech: 1984, S. 526f.) durch die Vertretungskörperschaft als Ganzes wie durch jeden einzelnen Abgeordneten notwendigerweise das freie Mandat voraussetzt: Die Summe der Einzelwillen ist gerade nicht identisch mit dem „gemeinschaftlichen Willen": „Geht es hier doch nicht darum die Einzelstimmen einer demokratischen Abstimmung auszuzählen, sondern darum, Vorschläge zu machen, zuzuhören, sich untereinander abzustimmen, seine Meinung zu berichtigen und schließlich gemeinsam einen gemeinschaftlichen Willen zu bilden (Sieyes: 1788-90/1975, S. 268). Als grundsätzliche Problematik scheint an dieser Stelle wieder auf, daß das imperative Mandat das Recht jedes Wahlberechtigten, mithin der gesamten Aktivbürgerschaft konstituiert, über die Belange der Gesamtheit zu entscheiden. Die Selbstbestimmung jedes Einzelnen und kollektive Verfügungsgewalt - darauf wurde bereits mehrfach hingewiesen - können nicht ohne weiteres in eins gesetzt
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werden, womit auch die grundsätzliche Frage nach deren demokratischer Legitimität zu erheben ist. Zudem würde das imperative Mandat den Abgeordneten zu einem ausführenden Organ ohne eigene Entscheidungs- und Handlungszuständigkeit machen. Die innere Relation zwischen Beauftragenden und Instruierten bestände aus der Willensidentität, womit die Grundlage politischer Verantwortung entzogen wäre: Weder gäbe es den eigenständig handelnden Abgeordneten, noch die ihm personal zurechenbare und zu verantwortende Handlung, noch eine distanzierte Verantwortungsinstanz, noch einen normativen Beurteilungsmaßstab. Beim freien Mandat hingegen beruht das innere Band zwischen der bevollmächtigenden Gesamtheit und dem beauftragten Abgeordneten auf Vertrauen und Verantwortung. Diese gilt statt der konkreten Rechenschaft für einzelne Aufgaben vielmehr der Ermittlung und Wahrnehmung dessen, was dem Gemeinwohl dienlich ist. Die Verantwortungsbindung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten beruht folglich nicht auf einer klaren Ordnung von Kontroll- und Sanktionsinstrumenten, wie sie im Staatsorganisationsrecht die Beziehungen der Verfassungsorgane untereinander regelt, sondern auf der sich im öffentlichen Diskurs erweisenden persönlichen Verantwortungs-Pflicht. Gerade diese außerrechtsförmliche Beziehung (Hegel) zwischen Repräsentierten und Repräsentierenden erschwert eine genaue Bestimmung ihrer Verantwortungsbindung zueinander. Sie kann sich jedoch nicht in den turnusmäßigen Wahlen erschöpfen, in welchen durch Wiederwahl Zustimmung und durch Nichtwahl Sanktion ausgedrückt wird. In der amerikanischen politischen Theorie scheint diese spezifisch .außerrechtsförmliche' Beziehung zur Zeit unter dem Begriff „Responsiveness" in Hinblick auf Delegation und Rückkopplung kritisch befragt zu werden (Frohn: 1986, S. 68 m.w.N.; vergleichend Müller, C.: 1966). Das politische Verantwortung in repräsentativen Demokratien über ein perfektioniertes System der „checks and balances" hinausgeht und der Gedanke des „public trust" ihr unverzichtbares Bestandteil ist, haben die Autoren des f e d e r a list' im Rekurs auf Locke eindrücklich formuliert: „Responsibility ist of two Kinds - to censure and to punishment. The first is the more important of the two, especially in an elective office. Man, in public trust, will much oftener act in such a manner as to render him unworthy of being any longer trusted, than in such a manner as to make him obnoxious to legal punishment" (The Federalist: 1945, S. 474). Die Verfasser des f e d e r a l i s t ' haben aus dem „public trust" die politische Verantwortung, welche als schärfste Sanktion die Amtsenthebung kennt, hergeleitet und von der rechtlich sanktionierenden, die bis zur strafrechtlichen Verfolgung reichen konnte, klar unterschieden (Scheuner: 1970, S. 389 mit Hinweisen auf England). Im Unterschied zu Sieyes, für den die Einheit des gemeinschaftlichen nationalen Willens Gegenstand der Repräsentation sein sollte, lebt das RepräsentationsVerständnis des .Federalist' aus der pragmatischen Annahme eines gesellschaftlichen Interessenpluralismus. Die partikularen Interessen der Bürger werden als Elixier demokratischer Repräsentation verstanden und erfahren im Parlament eine diskursive und reflexive Behandlung mit dem Ziel, das ihnen gemeinsame Interesse zu kristallisieren (Hofmann/Dreier: 1989, S. 170).
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II. Pflichten und Rechte 1. Mitwirkung und Verhalten Aus dem Umstand, daß das freie Mandat als Bedingung der Repräsentation eine Rechtsbeziehung zwischen Wählern und Abgeordneten begründet, folgt auch, daß der Abgeordnete sowohl eine Reihe von - teilweise sanktionsfähigen Pflichten unterworfen ist, als auch über mandatsgestaltende Rechte" verfügt (Zum Rechtsverhältnis Tatarin-Tarnheyden: 1930: S. 414; Jellinek: 1900/31976, S. 566f.; Kelsen: 1925, S. 315ff.; Scheuner: 1961, S. 231ff.; ders.: 1970, S. 380ff.; anders z.B. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz: Art. 38, RN 2). Aus dem Kreis der Abgeordnetenprivilegien (dazu § 101. bis III.) sei ergänzend auf die Pflicht zur Ausübung des Mandats (§ 13 GO-BT: § 1 Gesch RT1922; dazu Tatarin-Tarnheyden: 1930, S. 425; Hatschek: 1915, S. 601) hingewiesen, womit vor allem Anwesenheit am Sitz des Parlaments und Mitwirkung an den parlamentarischen Geschäften gemeint ist. Wie das deutsche Abgeordnetenrecht (§ 14 AbgG v. 18.2.1977) die Sanktionierung der Nichtanwesenheit durch Kürzung der Kostenpauschale kennt, enthalten die französischen und amerikanischen Parlamentsrechte ähnliche Regelungen; Großbritannien verfügt über eine vergleichbare Lösung heute nicht mehr (Ruch: 1976: S. 23). Bis in die dreißiger Jahre des 19. Jhd. existierte hier als wohl ältestes, weit ins Mittelalter zurückreichendes Mittel, die Anwesenheit im Parlament zu fördern, der „Call of the House" (Re-call). Folgte ein Abgeordneter an einem festgelegten Tag dem namentlichen „Ruf" nicht, so konnte er, wenn er nicht triftige Gründe für seine Abwesenheit vorbrachte, unter Strafe gestellt werden (Redlich: 1905, S. 371ff.; May: 41859/dt. 1860, S. 189ff.; vgl. § 2a GeSchORT 1922; Ergänzung vom 23.3.1933; dazu Schneider, H.: 1952, S. 315ff.). Versuche, die Anwesenheit und Mitwirkung der Abgeordneten unter Androhung des Mandatsverlustes zu erzwingen, sind in der deutschen Parlamentsrechtsentwicklung frühzeitig gescheitert (Hatscheck: 1915, S. 601). Aus der Verfassung und insbesondere aus Art. 38 Abs. I G G lassen sich m.E. eine individuelle Anwesenheitspflicht im Rechtssinne nicht herleiten; wie auch nicht aus den Bestimmungen über die Beschlußfähigkeit des Plenums (dazu § 5 IV.). Sie ergibt sich allerdings aus dem Urlaubsanspruch des Abgeordneten, wie ihn die deutschen parlamentarischen Geschäftsordnungen auf Bundes- wie Länderebene seit 1849 durchgängig kennen (§ 14 GO-BT). Nachdrücklich ist daher auf die Verpflichtung zur Teilnahme und Mitwirkung als sittliche Verpflichtung und Folge der Annahme des parlamentarischen Mandats hingewiesen. Zu den zentralen Abgeordnetenpflichten wird man weiter die Berücksichtigung parlamentarischer Verhaltensregeln rechnen, welche in den Geschäftsordnungen oder in deren Anlagen enthalten sind (§ 44a AbgG i.V.m. § 18 GO-BT, Anlage 1; auch §§ 81,86,87,89,91 derGeSchORTv. 1922). Abgeordnetenpflichten korrespondieren mit Abgeordneten- und Parlamentsrechten. Der Schutz vor Bestrafung infolge parlamentarischen Redens und Verhaltens (Indemnität, Art. 46 Abs. 1 GG) und der Schutz vor Verfolgung wegen Straftaten (Immunität, Art. 46 Abs. 2-4 GG) sind von parlamentsrechtlicher, vor allem heute aber von parlamentsgeschichtlicher Bedeutung.
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2. Indemnität Indemnität als Verantwortungsfreiheit des Abgeordneten in bezug auf seine Meinungsäußerungen und sein Abstimmungsverhalten und die strafrechtliche Nichtverfolgbarkeit seiner Amtshandlungen, auch über die Mandatsdauer hinaus (Kißler: 1977, S. 54; Klein, H.-H.: 1989, S. 577), sichert die uneingeschränkte Ausübung des freien Mandats und die Funktionsfähigkeit des Parlaments gegenüber der dritten Gewalt. § 36 Strafgesetzbuch sichert diesen Schutz allein Mitgliedern gesetzgebender Körperschaften in der Bundesrepublik Deutschland zu (Schäfer: 41982, S. 171; Bücker: 1982, S. 54ff.). Der Grundsatz der Redefreiheit als Privileg beider Häuser läßt sich in England bis in den Anfang der parlamentarischen Entwicklung, also bis ins 13. Jhd. zurückverfolgen (Redlich: 1905, S. 36ff.; Klein, H.-H.: 1989, S. 560f.). I n d e n „Bill of Rights" von 1689 findet er sich in Sektion 9 formalisiert (Text bei Härth: 1983, S. 27). Als selbstverständliches Privileg des Abgeordneten rezipierte die nordamerikanische Verfassung von 1787 in Art. 1 Abs. 6 dieses Recht: Ein Parlamentarier darf „... wegen einer Rede oder Äußerung in einem der Häuser... nirgendwo anders zur Rechenschaft gezogen werden" (Text bei Franz: 31975, S. 17). Vorstehend ist mehrfach auf die den deutschen Konstitutionalismus prägenden Einflüsse des revolutionären Frankreich hingewiesen worden. Die Verfassung vom 3. September 1791 (Hubrich: 1899, S. 43ff.) enthielt in Titel III. die Redefreiheit der Abgeordneten, nachdem bereits die berühmten Deklarationen vom 17. und 23. Juni 1789 („séance royale", Schubert: 18481.), durch welche sich der „Dritte Stand" innerhalb der Generalstände als Nationalversammlung konstituierte und worin man das Datum der faktischen Entwicklung des Parlamentarismus in Frankreich sehen kann, dieses Recht enthielten. Wenngleich man nicht behaupten darf, daß den Landständen des alten deutschen Reiches die Bedeutung der Redefreiheit unbekannt war (Hubrich: 1899, S. 142ff.), so finden sich positive Normierungen dieses Rechts erst in den Verfassungen nach dem Wiener Kongreß; angemerkt sei, daß die Charte Constitutionelle von 1814, die in vielfältiger Form als ,Muster neuständischer und konstitutioneller deutscher Verfassungen' diente, keine Bestimmung zur Redefreiheit enthielt. Den Befund, daß die deutschen einzelstaatlichen Verfassungen bis 1848 das Rederecht in höchst unterschiedlichen Formen aufnahmen, (Beispiele bei Härth: 1983, S. 36ff.) und mit unterschiedlicher Reichweite normierten, muß man im Rahmen der historischen Entwicklung des Repräsentativprinzips sehen, vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Einschränkung durch das monarchische Prinzip (s. §2). Beispielhaft sei auf Art. 59 der Wiener Schlußakte hingewiesen: „Wo die Oeffentlichkeit landständischer Verhandlungen durch die Verfassung gestattet ist, muß durch die Geschäftsordnung dafür gesorgt werden, daß die gesetzlichen Gränzen der freien Aeusserung, weder bei den Verhandlungen selbst, noch bei deren Bekanntmachung durch den Druck, auf eine die Ruhe des einzelnen Bundesstaates oder des gesammten Deutschlands gefährdende Weise überschritten werden" (Text bei Dürig/Rudolf: 21979, S. 65ff.). Den Regelungen in Art. 44 der belgischen Verfassung von 1831 (Hubrich: 1899, S. 136ff.) folgend, haben die gesamtstaatlichen Verfassungen in Deutschland den
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Schutz parlamentarischer Amtshandlungen seit Beginn aufgenommen. Die Reichsverfassung von 1871 übernahm in Art. 30 textgleich die Norm aus dem Verfassungsentwurf von 1849 (§ 120); als Art. 36 fand die Regelung Eingang in die Weimarer Reichsverfassung (Graf zu Dohna: 1930, S. 439ff.; Hatschek: 2 1930 I., S. 515ff.). Mit Abweichungen enthalten alle deutschen Landesverfassungen der Gegenwart eine d e m Art. 46 Abs. I G G entsprechende Regelung (Härth: 1983, S. 80ff.; Klein, H . - H . : 1989, S. 564ff.; Burhenne I). Wenn in der Gegenwart die Abstimmungs- und Redefreiheit der Abgeordneten weit über die westeuropäischen Verfassungen hinaus sich positiviert finden, ungeschrieben in der Schweiz und Großbritannien (Härth: 1983, S. 92f.), so darf man von der Indemnität heute als einem Institut des westeuropäischen Verfassungsrechts sprechen, unabhängig davon, daß im parlamentarischen, gewaltenteilenden Regierungssystem die Schutzabsicht der Indemnitätsregelung an Bedeutung verloren hat.
3. Immunität Ähnliches gilt für die ergänzende, die Stellung des Abgeordneten sichernde Bestimmung der Immunität (Art. 46 Abs. 2 bis 4 G G ) , welche den Schutz vor Bestrafung, Verhaftung und Verwirkung von Grundrechten aufgrund rechtswidrigen Verhaltens von Mandatsträgern sichert, solange bis das Parlament diesen Schutz vor staatlicher Verfolgung und ihrem Vollzug aufhebt. In diesem Umstand unterscheiden sich Indemnität und Immunität in charakterisierender Weise: Indemnität ist nicht disponibel und gilt für alle in der Mandatszeit getätigten Meinungsäußerungen über die Wahlperiode hinaus und für alle Zeit (Klein, H.-H.: 1989, S. 577), während Immunität, nur vom Parlament aufhebbar, mit Ablauf der Wahlperiode erlischt. Über die Rechtsnatur der Immunität, als subjektives oder objektives Recht des Abgeordneten (Abmeier: 1984, S. 40ff.) und/oder des Parlaments, herrscht keine Einigkeit (Achterberg: 1984, S. 242f.; Graf zu Dohna: 1930, S. 440; Klein, H.-H.: 1989, S. 578f.). Aus der Bewertung, daß die Immunitätsregelung zunächst parlamentarische Funktionsfähigkeit sichern soll und der Abgeordnete selbst über sie nicht disponieren kann, läßt in der Immunität aber zuerst ein Privileg des Parlaments vermuten (Beyer: 1966; Ahrens: 1970; s. Anl. 6 zur GO-BT, Nr. 3 und § 152a StPO). Die geschichtliche Genese der Verfolgungsfreiheit in Deutschland entstammt der konstitutionellen Rechtsentwicklung im Übergang zum 19. Jhd. Ihr Zweck galt ursprünglich dem Schutz der parlamentarischen Abgeordneten vor Verfolgung durch die Exekutive. Dieser sollte die Möglichkeit genommen werden, politisch unbequeme Abgeordnete unter dem Vorwand einer strafbaren Handlung festzunehmen und so ihrer parlamentarischen Tätigkeit zu entziehen. Insofern gehört die Immunitätsregelung in den historischen Kontext des strikten Gegenüber von Regierung und Parlament. Von hieraus erklärt sich auch die einschränkende Regelung des Art. 46 Abs. 3 G G , die eine Strafverfolgung zuläßt, wenn der Abgeordnete bei Ausübung einer Straftat oder im Laufe des nächsten Tages festgenommen wird, da ein so gegebener Schuldverdacht exekutive Verfolgungen ausschließt.
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Die verfassungsgeschichtliche Rezeption der Strafverfolgungsfreiheit in Deutschland knüpft an den bereits erwähnten Beschluß der französischen Nationalversammlung vom 23. Juni 1789 an (Hubrich: 1899; S. 43ff.), welcher der „Keim aller späteren Immunitätsregelungen" wurde (Bockelmann: 1951, S. 13 mit falschem Datum; Härth: 1983, S. 30ff.), und welche über die angelsächsischen Vorbilder erheblich hinausging (etwa Art. 1 Abs. 6 Verfassung der Vereinigten Staaten). In Anlehnung an Art. 45 der Constitution Belgique von 1831 (Text bei Franz: 1975, S. 63) gelangte die Regelung in die Reichsverfassung von 1871 (Art. 31) und als Art. 37 in die Weimarer Reichsverfassung. Diese erweiterte übrigens - im Unterschied zur Paulskirchenverfassung (§ 117), zur Reichsverfassung von 1871 und zum Grundgesetz - den Schutz auch auf die Mitglieder der Landtage, so daß heute die deutschen Länderverfassungen eigener Regelungen bedürfen (für die Bundesländer Bockelmann: 1951, S. 66ff.; Bücker: 1982, S. 54ff.; Burhenne I; europäischer Vergleich Ruch: 1976, S. 21ff.;Ibert: 1933). 3
Vielfach wird diskutiert, ob das über die Institute der Indemnität und Immunität gestützte freie Mandat noch dieser, der monarchischen Gewalt abgerungenen Rechte bedarf (Beyer: 1966). Gefahren für den Abgeordneten aufgrund willkürlicher Verfolgung durch die Exekutive oder Gerichte erscheinen in der Gegenwart weitgehend ausgeschlossen; dagegen wird daran erinnert, daß es nicht der Würde des Parlaments entsprechen kann, die Entscheidung über seine Funktionsfähigkeit aus der Hand zu geben (Klein, H.-H.: 1989, S. 590f.), und daß vor allem das Institut der Rede- und Abstimmungsfreiheit heute auch unter dem Gesichtspunkt der Neigung aller Parteien zu bewerten ist, „ihre" Abgeordneten auf ihre wahlprogrammatischen Äußerungen im Plenum oder in den Ausschüssen festzulegen. Nicht die Freiheit des Wortes steht bei diesem Argument im Vordergrund, sondern die Freiheit zur eigenen Meinung (Schweizer: 1979, S. 90ff.) als wesentliches Element eines repräsentativen Mandats, ohne daß damit gesagt ist, daß Indemnität oder Immunität wesensnotwendige Bestandteile eines repräsentativen Systems sind (Leibholz: 1929/31966, S. 91f.; Kelsen: 1925, S. 39ff.).
4. Entschädigung Von den übrigen Rechten des Abgeordneten sei noch auf den Anspruch auf eine angemessene, die Unabhängigkeit des Abgeordneten sichernde Entschädigung (Art. 48 Abs. 3 G G ) eingegangen. Nicht die finanzielle Regelung kann von vorrangigem Interesse sein, sehr viel mehr ist ihre Wirkung auf die Rekrutierung parlamentarischer Kandidaten, die Zusammensetzung und das Ansehen der Parlamente wie das Bild der Abgeordneten in der Öffentlichkeit zu berücksichtigen. In Form von Tagegeldern („Diäten") finden sich Aufwandsentschädigungen bereits im alten Ständestaat, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England, Frankreich oder den Niederlanden (Hatschek: 1915, S. 604), wobei diese Diäten teils von den Ständen, teils von den Landesherren bezahlt wurden. Mit dem Übergang zum Konstitutionalismus gingen diese Tagesgebühren (Scheller: 1958, S. 87ff.) auf den Staat über (Kühne: 1989, S. 74f.); enstprechende Regelungen finden sich in den neuständischen und konstitutionellen Geschäftsord-
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nungen. Mit der allmählichen Entwicklung zum allgemeinen Wahlrecht drängte sich zunehmend die Frage nach einem „Abgeordnetengehalt" auf. § 85 der Verfassungsurkunde für den preußischen Staat von 1851 bestimmte, daß die Mitglieder der zweiten Kammer aus der „Staatskasse Reisekosten und Diäten" erhielten. Auf sie zu verzichten, wurde als unstatthaft bezeichnet (Text bei Dürig/Rudolf: 21979, S. 147). Die Frankfurter Nationalversammlung hatte - angeregt durch Regelungen in der Verfassung Belgiens von 1831 (Art. 52, Text bei Franz: 3 1975, S. 69) - über Abgeordnetengehälter debattiert, hielt aber die Reisekostenerstattung und Tagegeldregelung (§95 Verfassungsentwurf) bei. In Frankreich wurde 1848 die „Besoldung" (Traitment) eingeführt. Dagegen blieb die Reichsverfassung von 1871 in den ersten drei Jahrzehnten trotz einer Reihe von Änderungsanträgen bei der Auffassung, daß die Reichstagsmitglieder „keine Besoldung oder Entschädigung" (Art. 32 RV), da man in ihr - fälschlicherweise - ein „Korrektiv gegen als allgemeine Wahlrecht" (Hatschek: 1915, S. 611; v. Arnim: 1989, S. 526) sah. Man war auch der Auffassung - so z.B. Bismarck - , daß mit der Besoldung zugleich der Typus des „Berufsparlamentariers" (Bismarck, bei Hatschek: 1915, S. 609) geschaffen würde, welcher den Honoratiorenabgeordneten und das ihn begleitende Bild vom Ehrenamt ablösen sollte (Boldt,H.: 1979, S. 24ff.). Eine Abgeordnetenentschädigung wurde 1906 in Deutschland durch Änderung des Art. 32 RV (RGBl I., S. 467) eingeführt, nach welcher die Abgeordneten zwar keine Besoldung, aber eben eine Entschädigung nach Maßgabe des Gesetzes hinkünftig beanspruchen konnten. Art. 40 WRV (Tatarin-Tarnheyden: 1930 I., S. 433ff.) nahm diese Entschädigungsbestimmung auf, ohne aber-wie Art. 48 Abs. 3 GG - ein ausdrückliches Besoldungsverbot zu implizieren. Die Ausdehnung parlamentarischer Arbeit seither und die damit einhergehende Erweiterung der Äufwandsentschädigung, aber auch die Interpretation, wonach eine die gesamte Arbeitskraft in Anspruch nehmende Tätigkeit nicht über eine Entschädigung, sondern nur über ein den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen ausgeglichen werden dürfe, brachte das BVerfG 1975 zu der Überzeugung, daß aus der Entschädigung des Inhabers eines Ehrenamtes die Alimentation in Form eines seine Unabhängigkeit sicherndes Einkommen aus der Staatskasse der Aufgabe angemessen sei (BVerfGE40,314ff. ; AbgG. § 11). Ausnahmen gelten für den Parlamentspräsidenten und seine Stellvertreter. In der Folge dieses Urteils und vermittelt über Art. 28 GG gingen die meisten deutschen Landtage zum Vollzeitabgeordneten über (Friedrich: 1977; Schneider, H. P.: 1989, S. 3ff.) und erließen entsprechende Gesetze (Übersicht bei v. Arnim: 1989, S. 524f. ; für das Ausland Ruch: 1976, S. 25ff.).
5. Zeugnisverweigerungsrecht Zeugnisverweigerungsrecht und Redefreiheit gehören insoweit zusammen, als erst die Entbindung von der allgemeinen Zeugenpflicht dem Abgeordneten das Recht gibt, selbst zu entscheiden, ob er zu Sachverhalten, die er z.B. kraft seiner Redefreiheit vorgetragen hat, als Zeuge vor Gericht aussagen will oder sich dazu vereidigen lassen möchte. Demnach handelt es sich beim Zeugnisverweigerungsrecht des Art. 47 GG um ein subjektives öffentliches Recht, welches wie die dar-
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gestellte Verfolgungsimmunität der Sicherung der Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten dient. Sinn des Art. 47 GG ist der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Bürger und Abgeordneten. Dieser Normzweck wird in der Regelung erkennbar, daß sich das Zeugnisverweigerungsrecht nur auf den Abgeordneten bezieht, und nicht von demjenigen in Anspruch genommen werden kann, welcher dem Abgeordneten in dessen Eigenschaft Mitteilungen anvertraut hat. Die Geschichte des Zeugnisverweigerungsrecht ist weitgehend identisch mit der der Redefreiheit (Hubrich: 1899; v. Russdorf: 1911, S. 15ff.; Gabrian: 1953, S. 26ff.; Schulte: 1985, S. 42ff.). 1871 war die Aufnahme des Zeugnisverweigerungsrechts noch gescheitert (Graf zu Dohna: 1930, S. 446ff.). Nach Vorarbeiten im Verfassungsausschuß des Reichstages 1917 wurde das Zeugnisverweigerungsrecht als Art. 38 in die Weimarer Reichsverfassung eingeführt und in Art. 47 vom GG übernommen. Insofern hat § 53 StPO nur deklaratorische Bedeutung, wenn dort formuliert ist: „(4) Mitglieder des Bundestages, eines Landtages oder einer zweiten Kammer über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Organe oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben ...", sind zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt.
III. D i e Fraktionen 1. Zum Begriff der „Fraktion" Den Begriff der „Fraktion" kennt das Grundgesetz erst seit seiner Ergänzung durch Art. 53a GG („Gemeinsamer Ausschuß") im Jahre 1968 (BGBl I., S. 709). Ihre Anerkennung als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens (BVerfGE 10, 14) beziehen die Fraktionen im parlamentarisch-repräsentativen System der Bundesrepublik Deutschland aus der verfassungsrechtlichen Inkorporation der Parteien (Art. 21 GG) und die daraus resultierende Anschauung vom demokratischen Parteienstaat. Aus dem Status der Parteien als verfassungsrechtliche Institutionen, integrative Bestandteile des Verfassungsaufbaus und als notwendiges Element des politischen Lebens folgt die Anerkennung der Fraktionen als bedeutende parlamentarische Gliederungen zwischen Staatswillensbildung und gesellschaftlicher Willensbildung, zwischen Parlament und Parteien" (Zeh: 1989, S. 395). Dieser Mittlerfunktion entspricht die offene Rechtsnatur der Fraktion (Tschermak v. Seysenegg: 1971; Achterberg: 1984, S. 275ff. ; Schönberger: 1990, S. 176ff. m.w.N. ; Kretschmer: 21992, S. 36ff.), die hier keine weitere Ausdeutung erfahren kann: Für die parlamentarische Praxis in Deutschland hat sich daraus bisher keine besondere Schwierigkeit ergeben. Festzuhalten ist, daß Fraktionen weder Organe noch Unterorgane des Parlaments sind (anders Hauenschild: 1968, S. 179ff.), funktional der Staatsorganisation zugerechnet werden und sich durch sie als organisierte Vereinigung von parlamentarischen Abgeordneten derselben Partei (weiterführend § 10 II.) ein erheblicher Teil der Meinungs- und Willensbildung der Abgeordneten und insofern des Parlaments als Ganzem vollzieht. Zwar wird der einzelne Abgeordnete durch sie einerseits in einem gewissen Umfang mediatisiert; andererseits erlangt er erst durch sie nachhaltigen Einfluß auf das parlamentarische Geschehen (BVerfGE 43,149f. ; Klein, H.-H.: 1987b, S. 373). In eben diesem Umstand liegt ein Teil der
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Gründe für das Auftreten der Fraktionen in der Frühzeit des deutschen Parlamentarismus. Zunächst aber sei ein Blick auf die Stellung und Bedeutung der Fraktionen in England und den Vereinigten Staaten geworfen.
2. Fraktionen im angelsächsischen System Verbindungen von Parlamentariern lassen sich in der englischen Parlamentsgeschichte weit zurückverfolgen (Jennings: 1960-62 II., S. 6ff.; Jennings/Ritter: 2 1970: S. 58ff.; Kluxen: 1983, S. 59ff.). Ihre Entstehung als dauerhafter, weltanschaulich-programmatischer Zusammenschluß („parliamentary parties") im Parlament und noch ohne eine über diese hinausgehende Organisation setzt ein mit der Bildung parlamentarischer Parteiungen in Form der „Tories" und „Wigs" in der Mitte des 17. Jhd.s (Bulmer-Thomas: 21967 I., S. 3ff.; Ostrogorskij: 1902/ 19701.,S.117ff.). Die Ausdehnung des Wahlrechts auf ca. 49 % der Wählerschaft (Jennings/Ritter: 1970, S. 347; auch § 31.) durch die Wahlreform 1832, welche zugleich für die Geschäftsordnung des englischen Unterhauses eine „neue Epoche" (Redlich: 1905, S. 93) einleitete, bedeutete in der Auffassung eines der besten Kenner dieser Periode, Spencer Walpoles, daß der ganze Charakter und das Verhalten des Parlaments durch diese Reform geändert wurde: „Das reformierte House of Commons setzte sich zum großen Teil zusammen aus Personen, die einer Classe angehörten, welche in dem unreformierten Hause keinen Platz gefunden hatte. Die fashionablen jungen Gentlemen, die vor 1832 mit Hilfe der verrotteten Wahlflekken ins Haus gekommen, waren zum großen Teile durch ernste Männer ersetzt worden, die von den volkreichen, durch die Reformacte zu Wahlkreisen erhobenen Städten entsendet wurden. Da diese nicht eine enge Classe, sondern die Bevölkerung vertraten, so brachten sie das Haus in Übereinstimmung mit der Nation" (zitiert nach Redlich: 1905, S. 102). Die Folge dieser Reform war eine „völlige Umgestaltung des Wesens der Parteien", eine Umwälzung in der „gesamten Technik und Organisation des politischen Lebens, die selbst wieder in Wechselwirkung steht mit dem gewaltigen Aufschwung des Zeitungswesens. Erst durch das Zusammenwirken aller dieser Factoren wird das geschaffen, was alle Institutionen des Staates mächtig beeinflußt, keine aber mehr als das Parlament: nämlich die lebendige Macht der öffentlichen Meinung. Wie diese im Laufe des 19. Jahrhunderts auf die ganze Stellung und Function des Parlaments innerhalb der Verfassung eingewirkt hat, davon kann hier nur eines berührt werden, daß nämlich durch diesen Einfluß das Verhältnis des einzelnen Abgeordneten zu seinen Wählern vollständig umgestaltet, seine Tätigkeit zu einer verantwortlichen, fortwährend controllierten Action geworden ist" (Redlich: 1905, S. 103.; Kluxen: 1983, S. 142ff.). 2
Die Wahlreform von 1832 in England (Bulmer-Thomas: 2 19671., S. 63ff.), in deren Folge die Bildung der Regierung Sache des Unterhauses wurde („parlamentarische Regierung"), führte aufgrund der Ausdehnung des Wahlrechts und einer Neuverteilung der Unterhaussitze in den Städten zu ersten Ansätzen von Wählervereinigungen außerhalb des Parlaments (Bulmer-Thomas: 21967 I., S. 75ff.; Jennings/Ritter: 2 1970, S. 74ff.; zur Vorgeschichte Hill, B.: 1985; Ostrogorskij: 1902/1970 I., S. 135ff.). Mit ihrer Fortführung 1867 (Jennings: 1960 I., S. 18ff.) wurde dieser Prozeß der Parteibildung verstärkt, insofern die Parliamentary Parties („Fraktionen") Anlaß sahen, sich infolge der weiteren Ausdehnung des
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Wahlrechts in den Wahlbezirken als konkurrierende „Constituency Parties" („Parteien") zu organisieren. Zunächst ganz in dem Verständnis, Wählervereinigungen zur Unterstützung der Parlamentsfraktionen zu sein, wollten diese als „hand maid to the party" fungieren, wie es ein Mitbegründer der „National Union", der Massenorganisation der konservativen Partei, H. C. Raikes, 1873 formulierte (zitiert nach McKenzie: 1955/dt. 1961, S. 61; Kluxen: 1983, S. 132ff.). Mit Blick auf die Entstehung der modernen englischen Parteien im 19. Jhd. muß berücksichtigt werden, daß neben den Wahlrechtsreformen die ältere Entwicklung hin zum „Cabinett-System" (Jennings: 2 1957), womit das Bemühen um die Verantwortlichkeit des Kabinetts gegenüber der Parlamentsmehrheit - nicht gegenüber der Monarchie - bezeichnet wird, eine Entwicklung, deren Durchbruch sich namentlich mit und seit der Zeit des Premiers Sir Robert Walpole (1722-42) verbindet: („Walpole was the first minister, who made the House of Commons the centre of authority" (zitiert nach Redlich: 1905, S. 72, Fußn. 1), die aber erst in den sechziger Jahren des 19. Jhd.s beständige Form annahm, einen erheblichen Einfluß auf die parlamentsrechtliche Organisation des Zusammenhanges von „Partei" und „Fraktion" im Rahmen des faktischen Zweiparteiensystems in England gehabt hat. Die Geschäftsordnung des britischen Unterhauses „Commons Standing Order", wie sie vor allem nach 1688 (Redlich: 1905, S. 70ff.) feste Formen annahm, ist Ausdruck der historisch-konstitutiven Bedingungen, aus welchen die Regierungsform des Cabinet Government hervorgegangen ist: Faktisches Zweiparteiensystem, Mehrheitswahlrecht (dazu Hinweise in § 3 II.), Einparteienregierung, funktionelle Einheit von Legislative (Mehrheitsfraktion) und Exekutive (Regierung) unter der Dominanz des Kabinetts und einer ihr gegenüberstehenden und auf Ablösung drängenden Opposition. Die Sitzordnung des britischen Unterhauses verkörpert dieses parlamentarische Gefüge: In Form der Vorderbänke („Government Front Bench" und „Opposition Front Bench") sitzen sich „Linke" (Schattenkabinett/Opposition) und „Rechte" (Regierung/Mehrheitsfraktion) - vom Speaker aus gesehen (zum Speaker § 5 II.) - gegenüber. Nicht zur Regierung gehörende Abgeordnete - die Regierung umfaßt i.d.R. ca. 80 bis 100 Mitglieder (Mackintosh: 3 1977) - bilden die „Hinterbänkler" (Backbencher), für die keine Sitzordnung besteht. Hinzuweisen sei an dieser Stelle, daß die Gesamtarchitektur des Sitzungsraumes der Commons in dem nach dem Feuer 1834 wieder aufgebauten Palace of Westminster und nach seiner Restaurierung nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nicht nur die alte Scheidung in „Rechte" und „Linke" beibehielt, sondern den Raum - wie früher - zu „klein" gestaltete, um den rhetorischen Stil der Debatten und die Intimität und Nähe der Auseinandersetzung nicht zu verändern (May: 4 1859/dt. 1860, S. 188f.; Redlich: 1905, S. 273ff.; Sontheimer: 1972, S. 86ff.; Saalfeld: 1988, S. 156ff.). Unterstrichen wird die Bedeutung der Minderheit („Her Majesty's Opposition") und ihrer Führer als Alternative zum Regierungschef dadurch, daß diesen seit 1937 („Ministers of the Crown Act") ein staatliches Gehalt zusteht (Jennings: 2 1957, S. 72ff.); Griffith/Ryle: 1989, S. 105ff.). Infolge dieses verfassungsrechtlichen Verständnisses bezieht neben dem Fraktionsführer der Regierungspartei („Government Chief Whip") und den übrigen Fraktionsgeschäftsführern („Whips") auch der Fraktionsführer der Opposition („Opposition Chief Whip") seit 1965 ein staatliches Gehalt (Loewenstein: 1967,
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S. 225; Griffith/Ryle: 1989, S. 113ff.), wodurch der staatsorganschaftliche Charakter der Fraktionen im englischen staatsrechtlichen Verständnis unterstrichen wird. Die Bedeutung der „Whips" (Einpeitscher) und ihre Funktion, nämlich eine geschlossene Fraktion, vor allem eine geeinte Regierungsfraktion als Voraussetzung einer funktionsfähigen Regierung zu schaffen, muß nicht nur im Kontext des alternierenden Zweiparteiensystems gesehen werden, sondern auch in dem Umstand, daß im britischen regierenden Parlament die Verfassungskonvention gilt, daß eine Abstimmungsniederlage in einer wichtigen Frage zum Rücktritt der Regierung führt. Insofern spielt die Disziplinierung der Fraktion und die Erwartung der Fraktionsführer eines selbstverständlichen und einheitlichen Abstimmungsverhaltens eine besondere, die Regierungsfunktion sichernde Rolle; andere Faktoren treten hinzu: Unabhängig davon, daß die beiden großen Parteien in England sich - übrigens tragen nur die Parlamentsfraktionen den eigentlichen Parteinamen („Conservative Party", „Labour Party"), die Organisationen außerhalb des Parlaments werden als „National Union of Conservative and Unionist Associations" bzw. als „Labour Constituence Party" bezeichnet - in Organisation und Aufbau (Lees/Kimber: 1972; Ingle: 21989) durchaus verschieden darstellen, so verbindet sie die hervorragende Bedeutung der Fraktion für die Gesamtpartei, auch wenn wiederum die Verbindung von Fraktion und Partei in der Labour Party erheblich enger gestaltet ist (McKenzie: 1955/dt. 1961, S. 384f.; Sontheimer: 1972, S. 68ff.). Letztlich gründet diese Bewertung der Bedeutung der Fraktionen in Großbritannien auf folgenden Faktoren: Der Führer der Mehrheitsfraktion ist „automatisch" Premier, die Parteiführer werden von den Parlamentsfraktionen bestimmt; die Fraktionen bestimmen faktisch die Parteiprogrammatik mit der Folge, daß Konfliktlinien zwischen Fraktion und Partei sich weit weniger stark ausgeprägt haben. Bedeutender noch: Die „Konventionen des parlamentarischen Systems, die von allen Parteien, auch der Labourpartei übernommen werden, erfordern, daß Abgeordnete, also auch Fraktionen, sich ausschließlich als den Wählern verantwortlich betrachten und nicht der Massenorganisation ihrer Anhänger außerhalb des Parlaments". Würden die Massenorganisationen versuchen, sich einen „entscheidenden Einfluß auf Politik oder Führung anzumaßen, würden sie in die Kette der Verantwortung greifen, die vom Kabinett zum Parlament und von dort zur Wählerschaft führt - und sie ist eines der Wesensmerkmale des britischen parlamentarischen Systems" (McKenzie: 1955/dt. 1961, S. 380). Überaus unterschiedlich von der britischen Situation stellen sich Funktion, Struktur und Bedeutung der „Fraktionen" (Caucusse) im präsidentiellen Regierungssystem der Vereinigten Staaten von Nordamerika dar. Gegensätzlich zur Entwicklung in England lösten sich - zugleich mit ihrer Entstehung - in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhd.s die Partei der Demokraten (1828) und der Republikaner (vor 1860: Whigs) aus der Vormundschaft der Kongreßfraktionen (Fraenkel: 4 1981, S. 61f.; Loewenstein: 1959, S. 154ff.). Ihre eigentliche Bedeutung verloren die Fraktionen, nachdem sie in der „Jacksonian Revolution" eine ihre ursprünglichen Aufgaben an die Delegiertenkonferenzen der Einzelstaaten (National Conventions), nämlich die Präsidentschaftskandidaten zu nominieren, abgetreten hatten (Fraenkel: 4 1981, S. 47f.).
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Die Abgeordneten der Parteien im Kongreß sind im sog. „Caucus" (Demokraten) bzw. „Conference" (Republikaner) organisiert. Die Mehrheitsfraktion wählt den „Speaker" als Vorsitzenden des Repräsentantenhauses (Tiefer: 1989, S. 197ff.) und bildet das „Steering and Policy Committee", dessen wesentliche Funktionen in der koordinierenden Verknüpfung der Arbeit von Parteiführung und Parteimitgliedern liegt (Tiefer: 1989, S. 52). Beide Parteien wählen ihre Führer („Floor Leader"), wobei die zentralen Aufgaben des Führers der Mehrheitsfraktion - er wurde bis zu Beginn dieses Jhd.s vom „Speaker" ernannt (Galloway: 21976, S. 135ff.) - in der Verbindung von Präsident und Fraktion liegen; weiterhin lenkt und koordiniert er die Gesetzgebungsarbeit: „A speech by the majority leader puts the imprimatur upon the legislation ... control over floor scheduling is probably the majority party leadership's single most important power" (bei Tiefer: 1989, S. 208f.). Dem Parteiführer stehen wie in England - „Whips" zur Seite, welche die regionale Gliederung der Partei wie ihre verbandspolitische Orientierung in der Parteiführung repräsentieren, um ein möglichst kohärentes Abstimmungsverhalten der Fraktion zu sichern. Bedeutungsvoll für die Arbeit jeder Partei im Parlament sind „Committees on Committees", welche vornehmlich die Besetzung der Ausschüsse beschließen. In einem streng gewaltenteilenden Regierungssystem wie dem amerikanischen ist der Einfluß des Präsidenten auf den Kongreß zunächst auf die Organisationen „seiner" Partei und ihre Führung konzentriert und angewiesen, wobei die Bewertung Karl Loewensteins zu zitieren ist, nach welcher jede moderne Demokratie im wesentlichen Parteienstaat ist: „Was aber die Integration der politischen Parteien in die Staatsmaschinerie anbelangt, sind die Vereinigten Staaten der Parteienstaat par excellence" (: 1959, S. 142; Fraenkel: 41981, S. 47f., S. 58ff.). Der „außerhalb" des Kongresses stehende Präsident kann sich weder auf eine dem britischen Parlamentarismus vergleichbare Fraktionsdisziplin verlassen, noch darauf, daß die Fraktionen Beschlüsse ihrer Parteien als bindend empfinden; die Fraktionsstatuten der amerikanischen Parteien schließen im Gegenteil eine solche Wirkung eher aus (in Auszügen bei Fraenkel: 31976, S. 64f.). Insofern ist der Einfluß des Präsidenten auf den Kongreß zunächst an seinen Amtseinfluß gebunden, dann aber auf die Kraft der Parteiführung, sowie vor allem auf das Durchsetzungsvermögen der Vorsitzenden der wichtigsten Kongreß-Ausschüsse angewiesen (Loewenstein: 1959, S. 194f.; Fraenkel: 41981, S. 74ff.; Dodd/Oppenheimer: 31985, S. 225ff.; Davidson/Oleszek: 31990, S. 227ff.). Es dürfte schwerlich eine Übertreibung sein, schreibt Ernst Fraenkel, die in „Deutschland weit verbreitete vulgärdemokratische Haltung gegenüber dem parlamentarischen Regierungssystem als schizophren zu bezeichnen. Erwartet der Bürger doch von seinem Abgeordneten, daß er nur der ,Stimme seines Gewissens' folgt, d.h. aber sich keiner Fraktionsdisziplin unterwirft, und daß er es dennoch niemals zu einer Regierungskrise kommen läßt, die im parlamentarisch regierten Staaten nur unter Beachtung einer strikten Fraktionsdisziplin vermieden werden kann; wie er davon ausgeht, daß sein Abgeordneter gleichzeitig dem Willen des ,Volkes' Ausdruck verleiht und sich dennoch gegenüber dem Druck der ,pressure groups' immun verhält" (: 4 1981, S. 66). Das hier angedeutete Spannungsverhältnis zwischen Parteienstaat und Repräsentationsidee, welches seine theoretische Ausarbeitung in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg erfuhr, hat in der ideengeschichtlichen Tradition der „Federalist Papers" jene, durch sie hervorgerufene transzendente Überhöhung der Repräsentation als etwas „Existen-
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tielles", durch welches eine „höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung" kommt (Schmitt, C.: 1928, S. 209f.), nicht erlebt. Insofern hängt die Beurteilung des Fraktionswesens und der Fraktionsdisziplin im amerikanischen Kongreß weit mehr mit dem Verständnis einer interessenpluralen Gesellschaft und der Interpretation und Wertung des Interessenbegriffes selbst zusammen, als daß es zu einer der deutschen Diskussion um die Unvereinbarkeit von Parteienstaat und repräsentativer Demokratie vergleichbaren Auseinandersetzung kommen konnte (für Deutschland Leibholz: 1929/31966). Zunächst hat ein Abgeordneter, der einer wirksamen Fraktionsdisziplin untersteht, mit einem Mandatsträger, der seinem Gewissen unterworfen ist, wenig zu tun; es läuft vielmehr darauf hinaus, daß der erstere den durch eine Partei sublimierten, der letztere den durch eine Partei nicht sublimierten Forderungen der Interessensgruppen Folge leistet" (Fraenkel: 31976, S. 71). Vor dem Hintergrund dieser Auffassung sei die Entwicklung der Fraktionen und ihre Bedeutung in Deutschland skizziert.
3. Fraktionen in Deutschland Die Entwicklung des Fraktionswesens im deutschen Frühkonstitutionalismus ist im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen Parlament und monarchischer Exekutive sowie deren Versuchen zu verstehen, das Aufkommen des Parlamentarismus, der Fraktionen und der politischen Parteien zu unterdrücken. Dieser Absicht galten einerseits darauf gerichtete Maßnahmen innerhalb der Vertretungskörperschaften, vor allem die Beschränkung ihrer Zuständigkeiten auf eine Mitwirkung bei der Gesetzgebung und im Budgetrecht, sowie Begrenzungen durch die exekutiv verfügten Verfahrensregelungen für die Kammern, namentlich was die Sitz- und Redeordnungen (Kramer: 1968, S. 18), die Gliederungen der Parlamente in geloste Abteilungen und die Öffentlichkeit der Verhandlungen anbelangte. Letztere betreffend, heißt es beispielsweise im Bundesbeschluß vom 16.8.1824: „Es soll in allen Bundesstaaten, in welche landständische Verfassungen bestehen, strenge darüber gewacht werden, damit in der Ausübung der den Ständen durch die landständische Verfassung zugestandenen Rechte das monarchische Prinzip unverletzt erhalten bleibe, und damit zur Abhaltung der Mißbräuche, welche durch die Öffentlichkeit in den Verhandlungen oder durch den Druck derselben begangen werden können, eine den angeführten Bestimmungen der Schlußacte (gemeint: Wiener Schlußakte vom 15.3.1820, R.W.) entsprechende Geschäftsordnung eingeführt und über die genaue Beobachtung derselben strenge gehalten werden" (bei Zachariä: 1855, S. 30). Außerhalb der Volksvertretungen suchten die Monarchen andererseits politisch motivierten Vereinigungen (Klubs), wie sie vorbildhaft zuletzt im nachrevolutionären Frankreich entstanden waren, Wirkungsmöglichkeiten und Einfluß auf die Wählerschaft zu nehmen (Botzenhart: 1977, S. 324ff.; Boldt, W.: 1971, S. 31ff.; Fenske: 1972, S. 36ff.). Die staatlichen Absichten, die Organisation von politischen Gesinnungsgemeinschaften innerhalb und außerhalb des Parlaments zu unterbinden, wurden allerdings zunehmend von der Demokratisierung des Wahlrechts (hierzu § 3 I. u. II.) insofern fraglich, als die Ausweitung des Wahlrechts allmählich begann, die konstitutionell-nationalrepräsentative und von da-
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her relativ homogene Interessenausrichtung des auf Besitz basierenden, durch das Zensuswahlrecht gesicherten Honoratiorenparlaments aufzulösen zugunsten gruppenspezifischer Interessenvielfalt und -gegensätzlichkeit (Boldt, W.: 1971, S. 19ff.; Rosenberg: 1962, S. 95ff.). Folgt man dieser, die Komplexität der Entwicklung vereinfachenden Darstellung, so findet sich eine Bestätigung für sie in der Beobachtung, daß sich innerparlamentarische Fraktionierung zuerst in dem deutschen Bundesstaat findet, der nach einhelliger Auffassung das „fortschrittlichste Wahlrecht" (Jekewitz: 1989, S. 1026) und damit die „günstigsten Voraussetzungen für eine freie Entwicklung des neu eingeführten Parlamentarismus" besaß: Baden (Kramer: 1968, S. 40; Schönberger: 1990, S. 6f.). Die badische Wahlordnung vom 23.12.1818 verzichtete in Ergänzung der Verfassung vom 22.8.1818 (beides bei Zachariä: 1855, S. 331ff. bzw. S. 342ff.) auf die für die Zeit üblichen ständischen und körperschaftlichen Elemente zugunsten einer stärkeren Repräsentation bürgerlich-bäuerlicher Bevölkerungskreise sowie des Beamtentums (Huber: 2 1967 I., S. 374ff.). Auf der Grundlage dieser Bedingungen und einer bis in die Gegenwart wirksamen Nähe zu liberal-demokratischen Strömungen formten sich in der badischen Zweiten Kammer nach 1830 gleichgesinnte Gruppen, die nach 1842 festere organisatorische Bindungen eingingen (Kramer: 1968, S. 48ff.), wobei das weltanschaulich Trennende und Gemeinsame sich an der Frage orientierte: Volksvertretung oder monarchische Regierung; mithin entlang der Problematik, welche den Konstitutionalismus im Deutschland des Vormärz prägte (näheres § 2 I. u. II.). Die erstmals im badischen Abgeordnetenhaus in dieser Zeit eingerichtete Sitzordnung - nach französischem Vorbild im Halbkreis von „links" (oppositionell) nach „rechts" (regierungsfreundlich) -versinnbildlicht diese Anfänge des Fraktions wesens: Gleichgesinnte saßen beieinander (Kramer: 1968, S. 50 f.). Im Sinne von „Abspaltung" soll hier auch erstmals der Begriff „Fraktion" verwendet worden sein (Kramer: 1968, S. 54; Jekewitz: 1989, S. 1027; anders Hauenschild: 1968, S. 21ff.). Das badische Vorbild prägte die weitere Entwicklung: Bereits im sog. „Frankfurter Vorparlament" zum ersten gesamtdeutschen Nationalparlament bezeichneten sich radikale Linke aus Baden als „demokratische Fraktion" (Jekewitz: 1989, S. 1028). Fraktionen mit „ausformulierten Programmen, fixierten Statuten und regelrechter Mitgliedschaft entwickelten sich jedoch erst während der Revolutionszeit - in der deutschen und der preußischen Nationalversammlung schrittweise während der ersten Sitzungswochen und unabhängig von den erst entstehenden Parteien, in den später gewählten einzelstaatlichen Landtagen häufig bereits von vornherein von diesen geprägt und getragen" (Botzenhart: 1977, S. 415). Wenngleich die faktische Bedeutung der sich im Paulskirchenparlament gebildeten Gruppierungen (Clubs) - sie trugen vielfach die Namen der Tagungslokale, so „Casino", „Landsberg" oder „Augsburger Hof" für die „Rechten" und „Westendhall", „Deutscher H o f " oder „Donnersberg" für die „Linken" (Programme und Statuten bei Boldt, W.: 1971, S. 163ff.), einige bezeichneten sich auch nach ihren Führern (Blum, von Gagern, Lichnowski) - offenbar erheblich war (Boldt, W.: 1971, S. 53ff.), so scheiterte der Versuch, die Fraktionen in der parlamentarischen Geschäftsordnung zu institutionalisieren (Antrag bei Boldt, W.: 1971, S. 198). Diesem Antrag stand einerseits ein Unbehagen gegenüber den politischen Klubs entgegen. So sprach sich der Dichter Jacob Grimm vehement gegen „Gesellschaften" aus, in denen die Entschlüsse der Abgeordneten „auf den Amboss gelegt, zerdehnt und breit geschlagen werden" (bei Kramer: 1968, S. 228). Andererseits und vor allem aber war die Geschäftsordnung selbst unverein-
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bar mit diesem Antrag. Von Robert v. Mohl entworfen, sah diese - französischen Vorbildern folgend - die Gliederung der parlamentarischen Versammlung durch turnusgemäße Verlosung in 15, möglichst gleich-starke Abteilungen vor (§ 1 der Geschäftsordnung für die verfassungsgebenden Reichsversammlung, abgedruckt: Deutscher Bundestag: 1986, S. 631ff.; s.a. § 5, IV.), deren politischer Zweck eben die Bildung von Gesinnungsgemeinschaften verhindern sollte, die „Mohl wie alle Altliberalen als .Beweis unfertiger staatlicher Erziehung' ablehnte" (Ziebura: 1969, S. 196). Im traditionellen Verständnis des Liberalismus (Gall: 1981) war das Parlament der Ort freier Rede und Gegenrede der Repräsentanten der Nation um die beste Entscheidung für das Gemeinwesen in individueller Selbstverantwortung. Parteien und Fraktionen konterkarierten diese Auffassung. In der Arbeit der Paulskirchenversammlung war die Spannung spürbar geworden, daß ein „Parlament nicht aus lauter einzelnen Repräsentanten des Volkes besteht, die jeder für sich und nur nach ihrem eigenen Gewissen entscheiden, sondern daß sie zugleich Vertreter bestimmter politischer Auffassungen und bestimmter Interessen sind ... (Der) Übergang von altliberalen Vorstellungen zum Parteienstaat, von der Honoratiorenversammlung zum modernen Parlament" (Tormin: 3 1968, S. 27) fand in der parlamentarischen Arbeit der Paulskirche ihren greifbaren Ausdruck. Daß Fraktionen und nicht Abteilungen die zukunftsfähigen rechtlichen und politischen Parlamentsgliederungen sein würden, erwies sich nach den Erfahrungen im Frankfurter Parlament sehr schnell - praktisch bereits 1849 (Plate: 2 1904, S. lOff.) an der Aushöhlung der Zuständigkeiten der Abteilungen (auch § 5, V.) des preußischen Abgeordnetenhauses durch fraktionsinterne und interfraktionelle Absprachen. Die spätere Entwicklung auf Reichsebene vorwegnehmend, wurden die 7 Abteilungen (§ 15 Geschäftsordnung des preußischen Landtages, abgedruckt in Deutscher Bundestag: 1986) bereits 1862 aufgehoben (Kramer: 1968, S. 32; Schönberger: 1990, S. 15f.) Innerparlamentarisch steht für die Genese zum heutigen Fraktionenparlament die Herausbildung des „Seniorenkonvents" als Vorläufer des heutigen „Ältestenrates" (weiterführend § 5, III.). Außerhalb des Parlaments weist die Entstehung der Parteien (Kaack: 1971; Treue: 1975; Bergsträsser (1921): 121971; Ritter: 1973; Jesse: 1990 m.w.N.) aus den Parlamentsgruppierungen heraus auf diesen Prozeß hin. Anknüpfend an die sich im Vormärz gebildeten politischen Vereine, schufen sich die Parlamentsfraktionen Organisationen außerhalb des Parlaments, in dem sie „Verein" und parlamentarische Fraktion verbanden und damit die institutionell-organisatorischen Grundlagen der modernen Parteien legten. Erste Anstöße dazu gingen wiederum von badischen Liberalen und Linken aus (Botzenhart: 1977, S. 324ff.; Grosser: 1970, S. 18; Obenaus: 1984, S. 594ff.; Ritter: 1985, S. 5 m.w.N.; Dokumente bei Boldt, W.: 1971, S. 152ff.). Mit Hilfe der Vereine, deren politisches Selbstverständnis stark auf das Volk hin orientiert war, wollten die parlamentarischen Fraktionen „Einfluß auf die Bevölkerung und damit wiederum über das Mittel der Wahl stärkeren Einfluß im Parlament gewinnen ... Die Fraktionen waren somit zwar die Schöpferinnen der Parteien, mit deren Erstarken wurden sie jedoch immer mehr zu bloßen Werkzeugen" (Hauenschild: 1968, S. 27). Sehr vereinfachend darf man sagen, daß sich mit Ende der Revolutionszeit die ideengeschichtlich programmatischen Grundströmungen des deutschen Parteiensystems (demokratisches und liberales Bürgertum, Katholizismus und Konservatismus) mit Ausnahme der Arbeiterbewegung
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organisatorisch verdichteten (Nipperdey: 1961; Ritter: 1973; Schlangen: 1979). In bezug auf letztere läßt sich allerdings darauf hinweisen, daß auch eine ihrer ideologischen Programmschriften, das Kommunistische Manifest (1848), aus dieser Zeit stammt. Mit den Wahlen zum Reichstag 1871 hatten sich die Parteien als organisatorische Träger der politischen Willensbildung insoweit verfestigt, als die Parteizugehörigkeit mehrheitlich den Fraktionszusammenschluß steuerte; als Indikator dieser Tendenz mag der Hinweis gelten, daß die Fraktionen begonnen hatten, die Bezeichnungen ihrer Parteien zu tragen. Die Geschäftsordnung des Deutschen Reichstages von 1871, vom Norddeutschen Bund übernommen, nahm diese Entwicklung zunächst nicht zur Kenntnis. Sie gliederte, wie die erwähnte Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, den Reichstag in 7 Abteilungen (§ 2 GO-RT), deren Aufgaben faktisch aber vom Seniorenkonvent, den die GORT ebenfalls nicht kannte, wahrgenommen wurden (weiterführend § 5, III.; Pereis: 1903, S. 31f.; Hatschek: 1915, S. 175ff.). Der tatsächlichen Bedeutung der Fraktionen trug dieser Reichstag geschäftsordnungsrechtlich nicht mehr Rechnung; 1912 wurde als wesentliche Ergänzung die Fraktionsmindeststärke von 15 Mitgliedern als Grundlage der Beteiligung an der Arbeit des Seniorenkonvents eingeführt (Hatschek: 1915, S. 230; Jekewitz: 1989, S. 1030). Die geschäftsordnungsrechtliche Anerkennung der Fraktionen erfolgte in Deutschland in den §§ 7 bis 9 der Geschäftsordnung des Reichstages der Weimarer Republik (abgedruckt in Deutscher Bundestag: 1986). Die §§ 10 bis 12 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages entsprechen diesen Regelungen sinngemäß. Sie lassen leicht erkennen, daß heute die gesamte Arbeit des Deutschen Bundestages und die seiner Organe und Unterorgane fraktionell durchformt ist („Fraktionen im Ausschuß" §§ 59, 4; 60, 2 GO-BT). Als allein ausschlaggebende Gliederung des Parlaments vollzieht sich in ihr die Transformation politischer Willensbildung - durch die Parteien - in die staatliche Willensbildung (weiterführend § 10IV.; Kretschmer: 2 1992; Zeh: 1989, S. 391ff.; Schäfer: 4 1982, S. 133ff.; Ellwein/Hesse: 6 1987, S. 240ff.). In der personalen Einheit von Parteifunktionen und Fraktionsämtern wird dieser Zusammenhang augenscheinlich verkörpert. Bedeutung und Stellung der Fraktionen und damit verbundene Probleme wie das Spannungsverhältnis zwischen Mandatsfreiheit, Fraktionsdisziplin und dem Grad ihrer Abhängigkeit von der Partei (Hamm-Brücher: 1989, S. 673ff.) sind nur angemessen zu analysieren, wenn man den Wandel der Parteien zu volksparteilichen Großorganisatioijen in Deutschland im Auge behält (Mintzel: 1984; Oberreuter: 2 1984; Haungs/Jesse: 1987). Gegenüber den übrigen intermediären Organisationen (weiterführend §§ 13 bis 15) haben die Parteien den Prozeß der politischen Willensbildung weitgehend zentralisiert. Die Ubiquität der Parteien in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, negativ indiziert durch Ämterpatronage, Pfründenwirtschaft, finanzielle Privilegien und anderen Skandale (Graf von Krockow/Lösche: 1986; Hennis: 1983, S. 30ff.), signalisiert in der Gegenwart die Tendenz vom Parteienstaat zur „Parteiengesellschaft" (von Alemann: 1990, S. 84ff.; Scheuch: 1992). Die eingangs zu diesem Abschnitt formulierte verfassungsrechtliche Bewertung, wonach die Fraktionen im parteienstaatlichen Parlamentarismus zu notwendigen Einrichtungen des Verfassungslebens geworden sind (BVerfGE 2,143ff.), indiziert den Wandel von der Honoratiorenpartei zur Volkspartei. Zu wiederholen
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ist, daß die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems auf der Alternativität von Regierungs- und Oppositionsfraktionen beruht. Die Leistung der Parteien im deutschen Regierungssystem der Nachkriegszeit liegt in dem Umstand, daß sie diese Funktionsfähigkeit gesichert haben. Weil das Grundgesetz und die Geschäftsordnung des Bundestages die Opposition begrifflich nicht kennen, sondern nur faktisch voraussetzen (Art. 20 GG), ist darauf hinzuweisen, daß die Stellung der Opposition, ihre Ausgestaltung und Wirkungsmöglichkeit (Schneider, H. P.: 1989a; Oberreuter: 1975; weiter § 12) wesentlich darüber entscheiden, inwieweit das Parlament als repräsentativ verstanden und als integrative Mitte des Regierungssystems wahrgenommen wird (s.a. § 14).
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§ 5 Organisation der Parlamente - historische Grundlagen und aktuelle Ausformungen Gerlinde Sommer / Raban Graf von Westphalen Einleitung. - 1 . Rechtsquellen für die Parlamentsorganisation. - II. Der Vorsitz im Parlament. - III. Seniorenkonvent und Ältestenrat. - IV. Plenum und Ausschüsse. - V . Parlamentarische Dienste. Grundlagenliteratur Achterberg, Norbert (1984): Parlamentsrecht. Tübingen. Barthélémy, Joseph (1934): Essai sur le travail parlamentaire et le système des commissions. Paris. Dechamps, Bruno (1954): Macht und Arbeit der Ausschüsse. Meisenheim. Griffith, John A . G . / Ryle, Michael (1989): Parliament. London. Hatschek, Julius (1915): Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches. Berlin u.a.,Bd. 1. Jennings, William Ivor (21957): Parliament. Cambridge. Kretschmer, Gerald (1989a): „Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen". In: Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 291ff. Laundy, Philip (1989): Parliamentsin the modern world. Dartmouth. May, Thomas Erskine ( 4 1859/dt. 1860): Das englische Parlament und sein Verfahren. Leipzig. Mittermaier, Karl J.A. (1838): „Geschäftsordnung". In: Rotteck, Carl von / Welcker, Carl (Hg.), Staatslexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften. Altona, Bd. VI., S.613ff. Redlich, Josef (1905): Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus. Leipzig. Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.) (1989): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a. Tiefer, Charles (1989): Congressional Practice and Procédure. New York u.a. siehe auch Hilfsmittel Teil A, I., 3.
Einleitung Die Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben ist wesentlich von den Verfahren, über die ein Parlament verfügt, und von der Art und Weise ihrer Handhabung abhängig. Jede parlamentarische Handlung - kommt sie aus der Mitte der Repräsentativkörperschaft oder ist sie dem Parlament als politischer Einheit zuzurechnen - bedarf einer Ordnung der Verfahrensstrukturen und ihrer Anwendung.
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Die Organisation der Parlamente trägt das politische Handeln und bestimmt die Formen der Arbeitserledigung ebenso mit wie sie Ausdruck der Stellung der Parlamente in der jeweiligen Verfassungsordnung ist. Die historischen Wurzeln des Parlamentarismus reichen nach England. Dort sind über die Jahrhunderte aus der parlamentarischen Praxis bis zur Einführung des parlamentarischen Regierungssystems in der Mitte des 19. Jahrhunderts Formen der Organisation, der parlamentarischen Verhandlungen und Verfahren fortgebildet worden (May: 41859/1860), welche auf dem europäischen Kontinent- aber auch bspl. in den USA - zum Vorbild einer zweckmäßigen Parlamentsorganisation geworden sind (Kretschmer: 1989a, S. 293). Die herausragende Bedeutung parlamentarischer Organisation und Verfahren haben Ende des 18. Jahrhunderts der englische Jurist Jeremias Bentham und Thomas Jefferson - einer der Väter der amerikanischen Verfassung - erkannt. Jefferson verfaßte 1801 neben anderen Parlamentsschriften auch ein „Parliamentary pocket book" (Jefferson: 1801/1988), und Jeremias Bentham nahm die bevorstehende Eröffnung der französischen Generalstände zum Anlaß, die Grundsätze des modus procedendi in einer legislativen Körperschaft - wie er sie im englischen Parlamentsleben kennengelernt hatte - systematisch darzustellen (Redlich: 1905, S. 780ff.). Bentham hat mit seiner Beschreibung der englischen Parlamentstechnik der französischen Nationalversammlung das notwendige Werkzeug für eine erfolgreiche Arbeit an die Hand gegeben. Das handschriftliche Manuskript von Benthams „Essay on Political Tactics" wurde dem Philosophen und Abgeordneten der französischen Nationalversammlung Honoré Gabriel Comte de Mirabeau bekannt. Er ließ eine französische Übersetzung noch vor der Veröffentlichung des englischen Originals 1791 erscheinen (Redlich: 1905, S. 780). Eine deutsche Ausgabe war bereits 1817 verfügbar und fand in den folgenden Jahren weite Verbreitung. Der besonderen Wichtigkeit, welche Bentham der inneren Parlamentsordnung zumaß, widersprach - wie er in der Vorrede seines Essays feststellte - eine allgemein geringe Beachtung parlamentarischer Organisations- und Verfahrensbestimmungen. Mußmaßlich bleibt Benthams Beobachtung aktuell (: dt. 1817, S. IX): „Man sah nicht genug ein, welchen Einfluß die bei den Operationen einer Versammlung angenommenen Formen auf die Operationen selbst haben mußten. Es sind ja bloß Formen ... sagte man, und für oberflächliche Köpfe erniedrigt das Wort ,Form' sogleich die Würde des Gegenstandes. Formen, sagen sie, sind Kleinigkeiten, pedantisches Zeug; wer ins Große sieht, der verachtet ,die Formen'". Dem hielt Bentham entgegen, daß die Organisation des Parlaments und seiner Verfahren notwendige Bedingungen für die Funktionsfähigkeit und letztlich für den Erhalt der parlamentarischen Versammlung überhaupt sind, und nannte als wesentliche Ziele parlamentarischer Organisation (: dt. 1817, S. IX.): „Die Freiheit aller Glieder sichern, die Minoritäten schützen, die Fragen, über die man beratschlagt, gehörig ordnen, eine methodische Verhandlung erzielen und als letztes Resultat zum treuen Ausspruch des allgemeinen Willens gelangen". Benthams Darstellung parlamentarischer Regeln wurde zum grundsätzlichen Vorbild für die nachfolgenden französischen Parlamente und gelangte von dort vor allem nach Erscheinen der deutschen Übersetzung 1817 - zu den frühkonsti-
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tutionellen Parlamenten des 19. Jahrhunderts auf deutschem Boden (Redlich: 1905, S. 779f.). Die Ordnung des inneren Geschäftsganges, Organisation und Wahrnehmung parlamentarischer Zuständigkeiten durch eigene Organe finden sich heute in unterschiedlichen Rechtsquellen wieder. Sie reichen von der reinen parlamentarischen Übung (Parlamentsbrauch oder Observanz) über die eigens vom Parlament kodifizierte Geschäftsordnung bis zu einfachen Gesetzen und der Verfassung selbst. Den letzt genannten Rechtsquellen gilt Teil I (zur Observanz und gegenwärtigen Ausformung der Rechtsquellen § 10,1.-III.; § 11,1.). Neben der Darstellung parlamentarischer Verfahren wie den Parlamentsverhandlungen, den Abstimmungen, Initiativ- und Kontrollrechten nannte Bentham auch allgemeine Organisationsprinzipien und Strukturelemente (Redlich: 1905, S. 785ff.). Viele von ihnen haben trotz historischer und verfassungsrechtlicher Umbrüche bleibende Geltung für die Parlamentsorganisation behalten und zeichnen sich in Parlamentspraxis und Parlamentsrecht durch bemerkenswerte Kontinuität und Einheitlichkeit aus. So haben wesentliche Organisationsstrukturen parlamentarischer Arbeitsplanung, -leitung und Verwaltung trotz Verfassungsumbrüche sowohl für konstitutionelle Parlamente - wie sie im Deutschen Bund und im Deutschen Reich bis 1918 existierten - als auch in demokratischen Parlamenten - beispielsweise in England seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland - bleibenden Bestand behalten. Andere Organisationsprinzipien sind aufgrund sich wandelnder verfassungsgeschichtlicher und sozioökonomischer Rahmenbedingungen verändert oder eigens geschaffen worden. Die Abschnitte II. bis V. gelten der Parlamentsorganisation und behandeln die wichtigsten Organe und organisatorischen Einheiten parlamentarischer Arbeitsplanung und -leitung - wie den Parlamentsvorsitz (Teil II.), den aus dem Seniorenkonvent erwachsenen Ältestenrat (Teil III.) und die Parlamentsverwaltung/ Parlamentarische Dienste (V.). Ebenso werden die wesentlichen neben den Abgeordneten und den Fraktionen (dazu § 4) an der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidungsfindung beteiligten Organe: die Ausschüsse sowie das Plenum behandelt (Teil IV.). Die Ausführungen gelten dem Parlament als gewählter Volksvertretung. Ausgespart wird die erste Kammer als Vertretung der erblichen Stände oder als Föderalkammer.
I. Rechtsquellen für die Parlamentsorganisation Im Vorhergehenden wurde dargelegt, daß es vor allem Jeremias Bentham zu verdanken war, daß die Verfahrens- und Organisationsregeln des englischen Parlamentarismus richtungweisende Bedeutung für die Parlamente auf dem europäischen Kontinent gewonnen haben.
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1. Die Verfassung Bereits in den Anfängen des Parlamentarismus in Frankreich hatte man die besondere Wichtigkeit der inneren Parlamentsordnung erkannt. In der Folge wurden wesentliche Regeln des parlamentarischen Geschäftsganges in den Verfassungen 1 verankert, um sie mit den gleichen Bestandsgarantien zu umgeben, welche den Verfassungen und ihren Einzelbestimmungen zukamen (Redlich: 1905, S. 781f.). Durchleuchtet man beispielsweise französische und deutsche konstitutionelle Verfassungen des 19. Jahrhunderts, so enthalten sie alle Bestimmungen zur inneren Organisation einer Legislativversammlung. Die Verfassung kann daher als erste und höchste Rechtsquelle für die Parlamentsorganisation gelten. Allerdings weisen die Verfassungen erhebliche Unterschiede in der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung parlamentarischer Ordnung, insbesondere auch, was den Legitimationsgrund parlamentarischer Ordnung angeht, auf. Es lassen sich zwei Entwicklungslinien unterscheiden, (Rösch: 1934, S. 22), welche ihrerseits Rückschlüsse auf die Stellung der Parlamente in den jeweiligen Verfassungen ermöglichen: 1. Eine Linie, welche ausgehend von England auf die o.g. französischen Verfassungen von 1791 und 1793 und später von 1830 wirkte, von dort aus über die Belgische Verfassung 1831 die Frankfurter Nationalversammlung beeinflußte, dann von der Preußischen Verfassung 1850 über den Norddeutschen Bund in die Verfassung des Deutschen Reiches 1871 einging, in die Weimarer Reichsverfassung übernommen wurde und von dort das Bonner Grundgesetz erreichte. 2. Eine andere Linie hat ihren Weg von der französischen Charte Constitutionelle 1814 in die frühkonstitutionellen Verfassungen Süddeutschlands genommen. Zunächst sei die letztgenannte Linie in Hinblick auf ihre Relevanz für die Parlamentsorganisation kurz charakterisiert. Wesentliche Gemeinsamkeit ist die Sichtweise, daß sowohl Organisation und Geschäftsgang als auch die Beziehungen der Parlamente zu anderen Verfassungsorganen im Rahmen der Verfassung der Regelung durch ein Gesetz bedürften (Rösch: 1934, S. 17). Ein Gesetz jedoch kam nur unter Mitwirkung des monarchischen Souverän und der 1. Kammer zustande. In der Verfassung war also mit der Bestimmung, die parlamentarische Ordnung sei eine auf Gesetzesweg zu regelnde Materie, der Grundstein für die Abhängigkeit der Parlamente - selbst in ihrer inneren Organisation - von den am Gesetzgebungsprozeß beteiligten Verfassungsorganen gelegt. Ein Beispiel aus der Parlamentspraxis des süddeutschen Frühkonstitutionalismus zeigt, wie weit diese Verfassungsbestimmung in die inneren Angelegenheiten der Parlamente eingriff: Die Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten wurden durch die Repräsentativ-Versammlung gewählt und dem monarchischen Souverän als mögliche Anwärter für das Amt vorgeschlagen. Den Parlamentspräsidenten wählte dann jedoch der Regent aus und setzte ihn durch Ernennung in sein Amt ein (Mittermaier: 1838, S. 615). 1
Vgl. die 1. Verfassung Frankreichs vom 3. Sept. 1791 und die Constitution vom 24. Juni 1793. Abgedruckt bei Franz: '1975, S. 302ff.
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Ganz andere Regelungen kennt hingegen die erstgenannte Entwicklungslinie, die auch für das heutige Verständnis der Grundlagen parlamentarischer Organisation Gültigkeit behalten hat. Für die französische Nationalversammlung stellte sich die Frage nach dem Legitimitätsgrund parlamentarischer Ordnung nicht, da sie als verfassungsgebende Versammlung souverän und daher auch allein zuständig für die Organisation des eigenen Geschäftsganges war. Wurden in Frankreich zunächst einzelne Bestimmungen in der Verfassung festgelegt, so reduzierten sich diese Regelungen zunehmend zugunsten einer systematischen Behandlung in einer eigens dafür geschaffenen sog. „Geschäftsordnung", in welcher alle Zusammenhänge der inneren Ordnung und Verfahrensformen versammelt behandelt wurden und bis heute behandelt werden. Der Grundsatz, daß eine verfassungsgebende Versammlung ihre parlamentarische Geschäftsordnung aus eigener Macht regeln könne, wurde durch ein Gesetz bereits 1791 allen parlamentarischen Körperschaften zuerkannt (Rösch: 1934, S. 17). Die „parlamentarische Geschäftsordnungs-Autonomie" (Arndt, K. F.: 1966) fand alsbald eine Verankerung in den Verfassungen und kann heute als maßgebliche verfassungsförmige Quelle für die Parlamentsorganisation gelten. Auch die Frankfurter Nationalversammlung berief sich 1848 unter Anführung der gleichen Begründung auf ihre Souveränität in der Regelung der parlamentarischen Geschäftsgänge und stellte zudem fest, daß eine Geschäftsordnung grundsätzlich nur für die Versammlung gilt, welche sie auch beschlossen hat (Rösch: 1934, S. 19). In der Preußischen Verfassung von 1850 wurde erstmals auf deutschem Territorium, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm IV. sich mit seinem Wunsch, die Parlamentspräsidenten selbst auszuwählen, nicht durchsetzen konnte, dem Parlament das Recht eingeräumt, seine Geschäftsordnung selbst zu regeln. Dort heißt es in Art. 78 (abgedruckt bei Schuster/Evens: 2 1989, S. 27). „Jede Kammer prüft die Legitimation ihrer Mitglieder und entscheidet darüber. Sie regelt ihren Geschäftsgang und ihre Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt ihren Präsidenten, ihre Vizepräsidenten und Schriftführer". Die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie war bereits in § 116 der Paulskirchenverfassung kodifiziert; sie ist über die Verfassungen des Norddeutschen Bundes, des Deutschen Reiches (Art. 27 RV), der Weimarer Republik (Art. 26 WRV) bis in das Bonner Grundgesetz (Art. 40 G G ) tradiert worden. Im Gegensatz zur verfassungsförmig kodifizierten Geschäftsordnungsautonomie seit der Preußischen Verfassung von 1850 wurde in der Verfassungspraxis des Vormärz die Geschäftsordnung vom Monarchen verordnet und bot somit eine wichtige Handhabe zur Einengung und Unterordnung der Repräsentativkörperschaften. Beispielsweise oblag es den konstitutionellen Herrschern, neben der bereits erwähnten Wahl des Parlamentspräsidenten auch Rede- und Sitzordnung der Parlamente zu bestimmen und somit die innere Parlamentsordnung entscheidend vorzustrukturieren (Grimm: 1988a, S. 154). Wenn auch seit 1850 die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie ihren Weg in fast alle deutsche Verfassungen nahm, kann dennoch erst seit der Weimarer Republik von einem grundsätzlichen und umfassenden Recht der Selbstorganisation die Rede sein, da vordem die Autonomie in der Parlamentsorganisation
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erhebliche Einschränkungen dadurch erfuhr, daß die Repräsentativkörperschaften sich nicht selbst versammeln, vertagen und auflösen konnten; diese Kompetenz blieb dem monarchischen Souverän vorbehalten (z.B. Art. 76 und 77 der Preußischen Verfassung von 1850 oder Art. 12 der RV von 1871 abgedruckt bei Franz: 31975; erläuternd § 3). Auf welchen Grundlagen beruht die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie demokratischer Repräsentativ-Versammlungen? Diese Frage soll im folgenden anhand der Regelungen für den Deutschen Bundestag beantwortet werden. Art. 40 des Grundgesetzes garantiert die parlamentarische Autonomie in der Regelung der inneren Ordnung. Da das Parlament zunächst als Kollegium gleichberechtigter Abgeordneter eine politische Einheit darstellt, kann die Parlamentsorganisation aufgrund der verfassungsrechtlichen Gleichstellung aller Mandatsträger nicht nach Gesichtspunkten formeller Hierarchien erfolgen, sondern setzt zunächst freiwillig getroffene, verbindliche Regelungen aller Abgeordneter voraus (Zeh: 1987a, S. 392). Zwar steht die Geschäftsordnungsbefugnis anderen kollegialen Verfassungsorganen - in der Bundesrepublik z. B. der Bundesregierung, dem Bundesrat, dem Gemeinsamen Ausschuß usw. - offen, doch nur die parlamentarische Körperschaft kann ihre Geschäftsordnung nach der Verfassung ohne Mitwirkung anderer Verfassungsorgane ausüben (Kretschmer: 1989a, S. 3012; ders.: 1986c, S. 334ff.). Zugleich finden sich nicht nur im Grundgesetz, sondern in allen genannten Verfassungen weitere verbindliche Bestimmungen für die Parlamentsorganisation. Sowohl in den konstitutionellen deutschen Verfassungen des 19. Jahrhunderts als auch u.a. in der Weimarer Reichsverfassung und dem Bonner Grundgesetz ist die Organisation der höchsten staatlichen Organe in Grundzügen bereits enthalten, da die Einrichtung höchster Ämter und die Bestimmung ihrer Aufgaben und Zuständigkeiten zur verfassungsförmigen Staatsorganisationsgewalt zählen (Ruch: 1976, S. 46f.). So ist in den genannten Verfassungen eine hierarchische Struktur des Verfassungsorgans Parlament in Vorsitz und Präsidium ebenso verankert wie sie wesentliche Bestimmungen zum Abgeordnetenmandat enthalten (i.e. § 4, II.) oder - seit der Weimarer Reichsverfassung - obligate Ausschüsse vorsehen (z.B. im G G die Einsetzung der Ständigen Ausschüsse des Auswärtigen, der Verteidigung und des Petitionsausschusses). Auch der Grundsatz der Öffentlichkeit als wesentliches Merkmal der Organisation parlamentarischer Willensbildung und Entscheidungsfindung ist bereits in der Verfassung kodifiziert (Art. 42 Abs. 1 GG). 2. Die Geschäftsordnung Auf die Geschäftsordnung wurde bereits mehrfach vorgegriffen. Ihre besondere Bedeutung als Grundlage der Parlamentsorganisation liegt darin, daß das Parlament die Bestimmungen und Ausgestaltung der Geschäftsordnung selbst festle2
So bedarf die Geschäftsordnung der Bundesregierung der Genehmigung durch den Bundespräsidenten (Art. 65 G G ) , die des Gemeinsamen Ausschusses der Zustimmung des Bundesrates (Art. 53a, Abs. 1. Laut Kretschmer (:1989a: S. 301) hat sich auch das BVerfG eine Geschäftsordnung ohne Mitwirkung anderer Verfassungsorgane gegeben.
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gen kann. Die dort kofizierten Organisations-, Arbeits- und Verfahrensprinzipien sind mit Ausdruck der politischen Bedeutung und Kultur einer parlamentarischen Versammlung innerhalb der staatlichen Ordnung (grundlegend Kretschmer: 1989a; auch Roll: 1982). Die Geschäftsordnung ist daher mit ihren detaillierten Einzelbestimmungen wichtigste Organisationsgrundlage der Parlamentspraxis. Wie bereits erwähnt, ist sie jeder Einflußnahme durch andere Verfassungsorgane entzogen, da sie als einzige Geschäftsordnung kollegialer Verfassungsorgane zu ihrem Zustandekommen keinerlei Zusammenwirken mit anderen Staatsorganen oder Behörden voraussetzt, sondern ganz in der parlamentarischen Autonomie liegt und aus dem Mehrheitsbeschluß der Repräsentativ-Körperschaft hervorgeht (Kretschmer: 1989a, S. 306). Als weiteres Kennzeichen der Geschäftsordnung ist zu nennen, daß ihr nur Geltungskraft gegenüber den Abgeordneten verliehen ist, sie jedoch auch für Nicht-Parlamentarier, die bei der Parlamentsarbeit mitwirken, Verbindlichkeit besitzt (Kretschmer: 1989a, S. 306; Kretschmer: 1986c, S. 341f.). Jedoch sind auch jene Parlamentsbeschlüsse gültig, die unter Mißachtung der geschäftsordnungsmäßigen Regelungen zustande kommen (Kretschmer: 1989a, S. 306). Schließlich leitet sich aus dem Grundsatz der Diskontinuität (hierzu § 10,1.), welcher auf der Periodizität der Repräsentation beruht, auch die Bestimmung her, daß die Geschäftsordnung mit Ablauf einer Legislaturperiode formell ihre Gültigkeit verliert. Hier ist wiederum anzuknüpfen an die bereits in der Frankfurter Paulskirche getroffene Regel, daß jede parlamentarische Versammlung nur für sich selbst beschließen kann, ihre Beschlüsse jedoch nicht auf ein personell sich neu konstituierendes Parlament vorgreifen dürfen (Beiz: 1986, S. 64ff.), da dies die Geschäftsordnungsautonomie des nachfolgenden, neu sich zusammensetzenden Parlaments berühren würde. Aufgrund der hier vorgestellten Merkmale bleibt es schwierig, die Rechtsnatur der Geschäftsordnung zu bestimmen (weiterführend: Kretschmer: 1989a, S. 304ff.; Arndt; K. F.: 1966). Da sich ihre Normqualität grundsätzlich von allen anderen öffentlich-rechtlichen Regelungstypen unterscheidet, wird sie häufig als „Rechtsnorm sui generis" (Zeh: 1987a, S. 392) charakterisiert. Wenn auch in den o.g. Verfassungen vorgesehen ist, daß sich jede parlamentarische Versammlung zu Beginn ihrer Legislaturperiode eine Geschäftsordnung gibt, so werden dennoch im Parlamentsleben nicht nur wesentliche Organisationsprinzipien beibehalten, sondern meist die gesamte Geschäftsordnung des vorherigen Parlaments übernommen. Verfahrenstechnisch ist dazu jedoch aufgrund der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie ein ausdrücklicher Beschluß erforderlich. Durchleuchtet man z.B. die historischen deutschen Geschäftsordnungen (abgedruckt vom Deutschen Bundestag: 1986), so ist eine grundsätzliche Einheitlichkeit der inneren Organisationsformen und Verfahrensweisen feststellbar. Dies bleibt umso bemerkenswerter, als wesentliche parlamentarische Organisationsprinzipien selbst bei Verfassungsumbrüchen tradiert wurden. Beispielsweise richtete die Weimarer Nationalversammlung 1919 ihre Arbeit nach der Geschäftsordnung des früheren konstitutionellen Reichstages aus. Erst 1922 gab sich der Reichstag eine neue Geschäftsordnung, welche der 1. Deutsche Bundestag wiederum provisorisch übernahm, bis er 1952 eine eigene Geschäftsordnung verabschiedete (Kretschmer: 1989a, S. 294; Trossmann: 1977, S. 125; Loewenberg: 1969, S. 169f.).
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Neben dieser auffälligen Kontinuität innerhalb einzelner Regelungsbereiche parlamentarischer Geschäftsordnung, auf die noch zurückzukommen sein wird, verzeichnen die Geschäftsordnungen auch signifikante Veränderungen, welche auf einen grundsätzlichen Wandel in der Organisation und Durchführung der Parlamentsarbeit verweisen. Beispiele hierfür sind die Aufnahme von Fraktionen (dazu § 4) und des Ältestenrates (siehe III.) in die Geschäftsordnung des Deutschen Reichstages 1922, womit der wachsenden Bedeutung der Parteien in der Parlamentsarbeit Rechnung getragen wurde, oder eine Geschäftsordnungsänderung aus jüngster Zeit: die Zuweisung der neuen - sich aus den Problemen der Bewältigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ergebenden - parlamentarischen Aufgabe der Technikfolgen-Abschätzung an einen Parlamentsausschuß (§ 56a GO-BT vom 12.11.1990; vertiefend: § 11, V.). Festzuhalten bleibt: Die Geschäftsordnung ist das wichtigste Werkzeug, um die Erledigung parlamentarischer Aufgaben zu organisieren. Daneben ist als weitere Rechtsquelle für die Parlamentsorganisation zu nennen: 3. Einfache Gesetze Die Parlamentsorganisation auf Gesetzesbasis war - wie bereits angeschnitten im Frühkonstitutionalismus, als die monarchischen Souveräne teilweise das alleinige Gesetzesinitiativrecht innehatten und zudem maßgeblich am Gesetzgebungsverfahren beteiligt waren, ein Hilfsmittel, um die Parlamente der monarchischen Verfügungsmacht unterzuordnen. In Deutschland setzte sehr bald eine Entwicklung ein, welche zu einer weitgehend gesetzesfreien Organisation der inneren Parlamentsangelegenheiten führte (Kretschmer: 1989a, S. 295). Die Parlamentsorganisation des Deutschen Bundestages orientiert sich an einer Reihe von einfachen Gesetzen, wie etwa dem „Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses" oder dem „Gesetz über den Wehrbeauftragten" (weitere Gesetze: siehe Hilfsmittel VI., a.). Da in der Bundesrepublik das Parlament oberstes Gesetzgebungsorgan ist, hat das Parlamentsgesetz seine disziplinierende Funktion verloren, die es im Frühkonstitutionalismus für die Repräsentativkörperschaften besessen hat.
II. Der Vorsitz im Parlament Schon beim ersten Zusammentritt eines Parlaments - der konstituierenden Sitzung treten eine Reihe organisatorischer und verfahrenstechnischer Fragen auf, welche unmittelbar regelungsbedürftig sind, soll das Parlament seine Arbeit aufnehmen und funktionsfähig durchführen. Die Notwendigkeit einer ersten Organisationsstruktur ergibt sich bereits aus der Frage, wer überhaupt befugt ist, die Sitzung der Versammlung zu eröffnen. Die erste Handlung der Repräsentativ-Versammlung nach der Feststellung der Legitimität ihrer Abgeordneten und der Beschlußfähigkeit des Hauses ist daher die Wahl des Vorsitzenden. Doch selbst die parlamentarische Handlung, sich in der konstituierenden Sitzung eine Organisationsstruktur der Leitung und Ar-
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beitsplanung zu geben, setzt bereits ein vorbereitendes und durchführendes Organ voraus. 1. Der Alterspräsident Im Deutschen Bundestag führt den Vorsitz der ersten Sitzung des sich konstituierenden Parlaments bis zur Amtsübernahme des neu zu wählenden Vorsitzenden der sog. „Alterspräsident" (§ 1 Abs. 2 GO-BT). Das Amt des Alterspräsidenten geht auf die französische Nationalversammlung 1789 zurück und beruht in Anlehnung an Rousseau auf der Anschauung, daß das souveräne Parlament seine Leitungsorgane legitimerweise nur aus sich selbst schaffen kann (Köhler: 1991, S. 177). Mit der Durchführung der Wahl des Vorsitzenden kann daher nur jemand aus der Mitte des neuen Parlaments betraut werden, und das Kriterium des an Lebensjahren ältesten Mitgliedes der Versammlung wie die dem Alter zugeschriebene Würde galten der französischen Nationalversammlung „als Garant der für die Amtsführung nötigen Autorität" (Köhler: 1991, S. 177). Von Frankreich gelangte das Institut des Alterspräsidenten nach Deutschland und tradierte sich - ausgehend von der Paulskirchenversammlung 1848 - über das Preußische Abgeordnetenhaus 1850, die Reichstage des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871 über das Weimarer Parlament 1919 bis in den Deutschen Bundestag (Köhler: 1991, S. 178). Anders hingegen organisieren das englische House of Commons und das amerikanische Repräsentantenhaus die vorläufige Sitzungsleitung bis zur Wahl der Sprecher. Während in England der sogenannte „Clerk" ein Parlamentsbeamter ist, bekleidet in den USA ein vom bisherigen Repräsentantenhaus gewählter Abgeordneter das Amt des Clerk (Köhler: 1991, S. 177). Gemeinsam ist sowohl dem Alterspräsidenten als auch dem Clerk, daß sie die erste Sitzung des sich konstituierenden Parlaments bis zur Amtsübernahme durch den neuen Vorsitzenden leiten (Hatschek: 1915, S. 196). Seit dem Inkrafttreten der Weimarer Geschäftsordnung zum 1.1.1923 ist der Alterspräsident zudem befugt, bei Abwesenheit des Präsidenten und seiner Stellvertreter die Leitung der ordentlichen Parlamentssitzung zu übernehmen (§ 20 Abs. 2 der GeschORT bzw. §8 Abs. 2 GO-BT).
2. Der Parlamentsvorsitzende Zentral für Planung, Leitung und Verwaltungsorganisation der parlamentarischen Arbeit ist der vom Parlament aus seiner Mitte gewählte resp. berufene Vorsitzende des Hauses. Während aus den Anfängen des französischen Parlamentarismus das Amt des Parlamentspräsidenten hervorging, in der Folge über die deutschen konstitutionellen Repräsentativ-Körperschaften auch den Deutschen Bundestag erreichte, kennt die angelsächsische Parlamentsorganisation seit dem 14. Jhd. das Amt des Speakers (Redlich: 1905, S. 417ff.; Hatschek: 1915, S. 98ff.; zu den Wurzeln des Speakeramtes Roskell: 1965; umfassend Laundy: 1964; zur Gegenwartsbedeutung Griffith/Ryle: 1989, S. 141ff.), welches im folgenden behandelt werden soll. Der bereits mehrfach genannte Jeremias Bentham hat als eines der grundlegen-
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den Prinzipien der inneren Parlamentsordnung die Unparteilichkeit des Vorsitzenden betont (:dt. 1817, S. 51ff.) und aus den beiden wesentlichen Aufgabenbereichen, denen der Speaker verpflichtet ist, begründet. Demnach hat der englische Speaker zum einen das Parlament als politische Einheit zu repräsentieren und als dessen „Agent" nach außen (Redlich: 1905, S. 787; Partsch: 1961, S. 10) zu fungieren. Zum anderen hat der Speaker als ausgewogener Richter im Parlament Vermittler zwischen den Interessen der Mehrheits- und Oppositionsfraktionen zu sein und als solcher die Sitzungen zu eröffnen, zu leiten und zu schließen, die Tagesordnung aufzustellen, den Ablauf der Parlamentsverhandlung zu ordnen, den Abgeordneten das Wort zu erteilen und ggfs. zu entziehen, das Ordnungsrecht im Hause auszuüben und über die geschäftsordnungsmäßige Zulassung eines Antrages zu entscheiden. An den Debatten und Abstimmungen hingegen beteiligt er sich als unparteiischer Sitzungsleiter nicht, jedoch ist ihm zeitweise bei Stimmengleichheit das ausschlaggebende Votum, das sog. „Casting vote" zugekommen (Laundy: 1964, S. 87ff.; Redlich: 1905, S. 400ff.). Das Speakeramt wandelte sich im Laufe der englischen Parlamentsgeschichte: Fungierte der Speaker zunächst als „the King's man" und hatte als Parteigänger des Monarchen meist ein zusätzliches Kronamt inne (zur Geschichte des Speakeramtes Redlich: 1905, S. 417ff.), so entwickelte es sich infolge der Glorreichen Revolution zur neutralen Lenkungsinstanz des Unterhauses (Redlich: 1905, S. 426f.; zur parlamentsgeschichtlichen Entwicklung in England § 2). Eine Besonderheit der englischen Parlamentsordnung ist, daß bei der Wahl des Speakers Einstimmigkeit unter allen Fraktionen angestrebt und dem gewählten Parlamentsvorsitzenden folglich politische Passivität und das Ruhen seiner Parteiämter auferlegt wird (Redlich: 1905, S. 400ff.; Wollmann: 1970, S. 80). Diese Regel - auf das Jahr 1835 zu datieren (Hatschek: 1913/21978, S. 638ff.) - unterstreicht ebenso den Grundsatz der Unparteilichkeit wie ein amtierender Speaker in den folgenden Wahlperioden - falls er dazu bereit ist - selbst dann in seinem Amt bestätigt wird, wenn sich die Mehrheiten im Unterhaus verändert haben (Partsch: 1961, S. 7 und 31f.; Wollmann: 1970, S. 80). Zur Sicherung der Unabhängigkeit des Speakers ist dieses Amt hochbesoldet und mit wesentlichen Privilegien ausgestattet (Hatschek: 1915, S. 100). Die im Vorhergehenden genannten parlamentarischen Funktionen des englischen Speakers, nämlich einerseits Repräsentation nach Außen, andererseits Organisation und Verfahrensleitung der Plenarsitzungen treffen auch auf das Institut des Parlamentspräsidenten (§ 7, Abs. 1 GO-BT; Bücker: 1989a, S. 796), für welches die französische Nationalversammlung 1789 das Vorbild gab und das in den meisten Repräsentativ-Verfassungen des europäischen Kontinents zu finden ist, zu. Im Unterschied zur britischen Parlamentsorganisation waren die französischen Parlamentarier darauf bedacht, die Stellung ihres Vorsitzenden organisationsrechtlich zu beschränken; neben Begrenzungen der Wiederwählbarkeit des Parlamentspräsidenten behielt das Plenum sich vor allem die Kompetenz vor, Verfahrensentscheidungen des Parlamentspräsidenten im Bedarfsfalle revidieren zu können (Bentham: dt. 1817, S. 72; Wollmann: 1970, S. 81). Zudem wird der Vorsitzende der französischen Deputiertenkammer erst seit einer Reform durch de Gaulle für die Dauer einer Legislaturperiode statt - wie vorher üblich für eine Session in sein Amt gewählt (Partsch: 1961, S. 8).
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Die Parlamente im süddeutschen Frühkonstitutionalismus haben zwar das Amt des Präsidenten aus der französischen Parlamentspraxis übernommen, dennoch ist das englische Vorbild des unparteiischen Speaker für das damalige Verständnis des Präsidentenamtes unverkennbar (Mittermaier: 1838; Dahlmann: 3 1847, S. 72ff.). Es wurde bereits erläutert, daß die möglichen Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten von den Kammern gewählt und dem monarchischen Souverän zur Berufung vorgeschlagen wurden, welcher einen von ihnen zum Vorsitzenden des Hauses ernannte (Mittermaier: 1838, S. 615). Der Präsident war demnach bereits durch die Art und Weise seiner Ernennung das Bindeglied zwischen Repräsentativkörperschaft und Souverän. Ihm fiel folglich die Aufgabe zu, den beschlossenen Willen des Parlaments dem Monarchen zu überbringen (Mittermaier: 1838, S. 616) und darüberhinaus zwischen beiden oft uneinigen Parteien (Grimm: 1988a, S. 155ff.) zu vermitteln. Diese Aufgabe hatte der Speaker zu Zeiten der konstitutionellen Monarchie in England auch inne, als der dem König den Willen des House of Commons darstellte und als „Prolocutor domus" bezeichnet wurde (Hatschek: 1915, S. 98; Redlich: 1905, S. 402). Zudem bedurfte der Speaker der Bestätigung des Königs zu seiner Amtsführung, welcher vor allem im 17. Jhd. maßgeblichen Einfluß auf die Wahl nahm (Redlich: 1905, S. 419ff.; Hatschek: 1913/21978, S. 638). Heute ist die Bestätigung des Speakers durch die Krone nur noch ein formaler Akt. In ähnlicher Weise wie in England war den Vorsitzenden der frühkonstitutionellen Kammern die aktive Beteiligung an den Debatten und Abstimmungen grundsätzlich verwehrt; die damaligen Geschäftsordnungen der Kammern in Württemberg, Baden, Bayern und Sachsen kannten zudem eine casting vote nach britischem Vorbild (Mittermaier: 1838, S. 620 mit den entsprechenden Quellenangaben). Bereits in dem Entwurf einer Geschäftsordnung für die Frankfurter Nationalversammlung sah Robert von Mohl die freie Wahl des Parlamentspräsidenten mit absoluter Stimmenmehrheit vor (abgedruckt in: Deutscher Bundestag: 1986, S. 631). Diese Bestimmung, welche vom Preußischen Abgeordnetenhaus 1850 übernommen wurde, von dort über die Reichstage des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches 1871 Eingang in den Weimarer Reichstag fand und schließlich auch zum Deutschen Bundestag gelangte, wich sowohl von der frühkonstitutionellen Berufung des Parlamentspräsidenten durch den monarchischen Souverän als auch von der britischen Übung der einstimmigen Wahl ab. Dennoch blieb für die Wahl der Reichstagspräsidenten im konstitutionellen Kaiserreich als Kriterium entscheidend, ob sie ihre Vermittlerfunktion zwischen Volksvertretung und Reichsregierung wahrnehmen konnten. Mit der wachsenden Bedeutung politischer Parteien für die Reichstagsarbeit wurde der Parlamentspräsident zunehmend als Vertrauensperson der Reichstagsmehrheit in sein Amt gewählt (Wermser: 1984, S. 17); üblicherweise gingen der Wahl Absprachen unter den Fraktionen voraus. Im Konstitutionalismus des Kaiserreichs war der Parlamentsvorsitz - anders als in England - ein Ehrenamt, welches außer einer Dienstwohnung keine Besoldung und Aufwandsentschädigungen kannte und indirekt zur Folge hatte, daß nur Personen, die ein ausreichendes Auskommen hatten, in der Lage waren, das Präsidentenamt zu bekleiden (Hatschek: 1915, S. 216). Mit der fortlaufenden Entwicklung der politischen Parteien aus den Parlamentsfraktionen (Grimm: 1988a, S. 153) und der Einführung des Verhältniswahlrechts in der Weimarer Republik wurde als parlamentarische Gewohnheit eingeübt, daß der Parlamentspräsident von der stärksten Fraktion gestellt wird, unabhän-
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gig davon, ob diese den jeweiligen Regierungskoalitionen angehörte (Partsch: 1961, S. 16). Im Deutschen Bundestag beruht - anders als in Weimar - die Regierung auf einer sie tragenden Parlamentsmehrheit; wenn auch die Parlamentspräsidenten nicht aus der mitgliederstärksten Fraktion, welcher nach parlamentarischer Gewohnheit das personelle Vorschlagsrecht zukommt, hervorgehen müssen, bedürfen sich dennoch deren Unterstützung (vertiefend § 10, IV.). Weiterhin gilt, daß ein Vorsitzender innerhalb der Legislaturperiode, für die er gewählt wurde, nicht abberufen werden kann (Wollmann: 1970, S. 82; Bücker: 1989a, S. 796). Die parlamentarische Übung, den Parlamentspräsidenten aus der Mitte der mitgliederstärksten Fraktion zu wählen, hat demnach zur Folge, daß veränderte Mehrheitsverhältnisse auch einen Wechsel im Parlamentsvorsitz nach sich ziehen. Bemerkenswert ist folgende Beobachtung: Einhergehend mit der beschriebenen parlamentarischen Übung, wonach der Parlamentspräsident aus den Reihen der größten Fraktion gestellt wird, wurde die Geschäftsordnung des Deutschen Reichstages 1922 ergänzt; erstmals findet sich in einer deutschen Geschäftsordnung die Unparteilichkeit des Vorsitzenden an hervorgehobener Stelle kodifiziert. In § 19 Absatz 2 heißt es: „Er (der Präsident, d. Verf.) hat die Würde und die Rechte des Reichstages zu wahren und seine Arbeit zu fördern, besonders die Verhandlungen gerecht und unparteiisch zu leiten und die Ordnung im Hause zu handhaben". Eine fast wortgleiche Formulierung findet sich heute in § 7 Absatz 1 GO-BT. Während die Unparteilichkeit des Parlamentspräsidenten in den konstitutionellen Honoratiorenparlamenten eine Übung war, hat sie mit der herausragenden Bedeutung, welche die Parlamentsfraktionen und die sie tragenden politischen Parteien infolge der Einführung des Verhältniswahlrechts (Smend: 1919/21968) für die innere Parlamentsordnung gewonnen haben, Eingang in das gesatzte Geschäftsordnungsrecht gefunden. In der Parlamentspraxis des Deutschen Bundestages zeigt sich die angestrebte Unparteilichkeit des Vorsitzenden darin, daß der Präsident seinen Stuhl verlassen muß, will er sich an der Plenardebatte beteiligen (Bücker: 1989a, S. 798). Anders als der englische Speaker ist der Präsident des Deutschen Bundestages - wie auch seine Vorgänger in den konstitutionellen Parlamenten in Deutschland - weder zur Niederlegung seiner Parteiämter verpflichtet, noch scheidet er aus der Fraktion, welcher er angehört, aus. Daß dennoch vor allem das Amt des Parlamentspräsidenten seine Schlüsselstellung als Folge der wachsenden Bedeutung der Fraktionen zugunsten eines anderen Parlamentsorgans, nämlich des Ältestenrates einbüßte, wird später behandelt (auch § 10, IV.). Zunächst sei kurz auf die Stellvertreter des Parlamentsvorsitzenden eingegangen).
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3. Stellvertretung des Parlamentsvorsitzenden Präsidium - Vorstand Schriftführer Der Vorsitzende eines Parlaments wird in der Regel durch Stellvertreter bei der Ausübung parlamentsorganisatorischer Leitungsbefugnisse unterstützt. Während England bis 1855 überhaupt keine Stellvertreter des Speakers kannte und folglich die Plenarsitzungen bei dessen Verhinderung vertagt werden mußten 3 , werden seit den Anfängen des Parlamentarismus auf dem europäischen Kontinent von den meisten Repräsentativ-Versammlungen gleichzeitig mit der Wahl des Präsidenten auch Vizepräsidenten als Stellvertreter gewählt (Ein parlamentsvergleichender Überblick findet sich bei Hatschek: 1915, S. 98ff.). Die Stellvertreter bilden gemeinsam mit dem Vorsitzenden den Vorstand oder das Präsidium und unterstützen die Präsidentengeschäfte als Kollegium fortlaufend. Es ist üblich, daß mindestens einer der Stellvertreter der zweitgrößten Parlamentsfraktion angehört (zum Präsidium des Bundestages siehe § 10, IV.). Auch für die Stellvertreter des Parlamentspräsidenten gilt, daß sie in ihrer Amtsführung grundsätzlich unparteiisch sein sollen. Zu jeder Plenarsitzung des Bundestages wird ein Sitzungsvorstand gebildet, welcher sich in der Regel aus dem Vorsitzenden des Parlaments und den Schriftführern zusammensetzt (Achterberg: 1984, S. 11). Die Schriftführer, bei denen es sich um Parlamentsabgeordnete handelt, sind mit Aufgaben betraut, die der Vorsitzende ihnen zur Unterstützung der eigenen Sitzungsleitung aufträgt (Achterberg: 1984, S. 133). In England hingegen ist der Schriftführer, der sog. „Clerk" ein von der Krone auf Lebenszeit ins Amt gesetzter Beamter, der zugleich Leiter des Verwaltungsbureaus ist (Hatschek: 1915, S. 101).
III. Seniorenkonvent und Ältestenrat Der Ältestenrat, wie er parlamentsgeschichtlich zum ersten Mal in die Geschäftsordnung des Weimarer Reichstages aufgenommen wurde und ihn gegenwärtig der Deutsche Bundestag kennt, geht auf den Seniorenkonvent des Deutschen Reichstages 1871-1918 zurück, der wiederum einen Vorläufer im Seniorenkonvent des Preußischen Abgeordnetenhauses 1850 hat (ausführlich Franke: 1987). Er fungiert als zentrales parlamentarisches Leitungsorgan, in welchem die Fraktionen ihren Einfluß auf die Gestaltung parlamentarischer Verfahren geltend machen. Bereits in den Anfängen der Fraktionsbildung aus politischen Clubs im Umfeld der Frankfurter Nationalversammlung 1848 fanden Unterredungen zwischen den unterschiedlichen politischen Strömungen über Fragen der Rede- und Tagesordnung, der Besetzung von Ausschüssen u.a. statt (Franke: 1987, S. 34ff.), welche sich jedoch nicht - vermutlich aufgrund der kurzen Dauer des
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Seit 1855 wählt das englische Unterhaus für die Dauer einer Wahlperiode zwei Stellvertreter des Speaker, sog. „Debuty Speaker" (Wollmann: 1970, S. 81), welche nach Parlamentsbrauch der jeweiligen Regierungsfraktion angehören, jedoch nicht die Bedeutung im Amt haben, wie der Speaker. Sie fungieren als „subsidiäre Vertreter" (Redlich: 1905, S. 431).
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Paulskirchenparlaments - in einem Parlamentsorgan verfestigen konnten (dazu auch §4, III.). Der Seniorenkonvent, wie er in der Parlamentspraxis des Preußischen Abgeordnetenhauses als Folge der Fraktionsbildung entstand (Franke: 1987, S. 39ff.), trat nicht offiziell als Parlamentsorgan in Erscheinung und fand weder eine Verankerung in der Parlamentsordnung noch eine Kodifizierung in der Geschäftsordnung. Seine Etablierung kann als Beispiel für eine aus der Fraktionsbildung entstandene parlamentarische Übung aufgefaßt werden, welche zugleich das geltende Parlamentsrecht veränderte. Im Parlamentsleben des Reichstages im Kaiserreich wurde der Seniorenkonvent, der aus der sog. Delegiertenversammlung entstand, zum festen Ort interfraktioneller Absprachen und Vereinbarungen (Franke: 1987, S. 50; nach Hatschek: 1915, S. 176f. existierten ab 1874 offizielle Akten des Seniorenkonvents). Im Seniorenkonvent versammelten sich seit dem Preußischen Abgeordnetenhaus führende Mandatsträger aller Parlamentsfraktionen mit dem Ziel, in wichtigen organisations- und verfahrensleitenden Fragen einvernehmliche Vereinbarungen zu treffen, die in den Plenarsitzungen von den Fraktionen unterstützt und getragen wurden. Die Zuständigkeiten des Seniorenkonvents des Preußischen Abgeordnetenhauses erstreckten sich auf die Festlegung von Tages- und Redeordnungen, die Besetzung von Kommissionen und Vergabe von Kommissionsvorsitzen. Anders als seine historischen Vorläufer trifft der Ältestenrat des Deutschen Bundestages keine Vereinbarungen über die Besetzung von Kommissionen und Ausschüssen, sondern nur über die Vorsitzenden und ihre Stellvertreter (§ 58 GO-BT; zum Ältestenrat des Deutschen Bundestages im einzelnen § 10 IV.). Bemerkenswert ist die parlamentarische Übung, Ämter nach dem Fraktionenproporz zu vergeben (Plate: 21904, S. 230; Franke: 1987, S. 44). Im Zusammenhang mit der inneren Parlamentsordnung muß auf zwei wesentliche Aspekte des Seniorenkonvents, welcher in der Geschäftsordnung des Weimarer Reichstages von 1922 erstmals als „Ältestenrat" kodifiziert wurde und dem die gleichen Funktionen wie dem Ältestenrat des Deutschen Bundestages zukamen, verwiesen werden: zum einen auf seine spezifische Entstehung aus einer parlamentarischen Übung einhergehend mit der parlamentarischen Fraktionsbildung; zum anderen auf das Verhältnis zwischen Seniorenkonvent/Ältestenrat und Parlamentspräsident. Zunächst zum erstgenannten Charakteristikum des Seniorenkonvents und späteren Ältestenrates: Als Versammlung führender Abgeordneter der im Parlament vertretenen Fraktionen beruht er auf der Freiwilligkeit der Zusammenkunft. Um dieses Spezifikum der Freiwilligkeit zu unterstreichen, wurde er mutmaßlich nicht in den Geschäftsordnungen vor 1922 kodifiziert (Franke: 1987, S. 146f.), gleichwohl er schon damals von entscheidender Bedeutung für die Parlamentsorganisation gewesen ist. Die Vertreter der Fraktionen kamen und kommen - wie bereits erwähnt - in der Absicht zusammen, über wichtige Verfahrens- und organisationsleitende Fragen Konsens zu erzielen, um die Parlamentsarbeit nicht durch Auseinandersetzungen um Verfahrens- und Tagesordnungspunkte (das Bspl. der Tagesordnung Kabel: 1982, S. 29ff.) zu blockieren. Wichtiger Impetus hierfür ist sicherlich auch gewesen, die Interessen der Fraktionsminderheiten bereits im Vorfeld parlamentari-
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scher Verhandlungen angemessen zu berücksichtigen und mögliche Benachteiligungen durch Überstimmung der Mehrheitsfraktionen zu vermeiden. Der Seniorenkonvent war demnach ein informelles Forum der dennoch verbindlichen Verständigung und Absprache unter den Fraktionen über die Ausgestaltung und Organisation der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidungsfindung. Dies hat eine parlamentarische Übung unterstützt, wonach Beschlüsse des Seniorenkonvents nicht durch das für alle anderen Parlamentsentscheidungen übliche Mehrheitsprinzip zustandegekommen sind sondern auf dem Grundsatz der Einstimmigkeit beruht haben (Hatschek: 1915, S. 193). Das besondere Augenmerk lag demnach auf dem Schutz parlamentarischer Minderheiten vor dem Beschluß der Mehrheit. Damit war jedoch nicht in erster Linie der Schutz der Rechte des einzelnen Abgeordneten intendiert, sondern vielmehr an die Bedürfnisse der Minderheitenfraktionen oder Abgeordnetengruppen gedacht (Arndt K. F.: 1966, S. 38), denen durch interfraktionelle Vereinbarungen Rechnung getragen werden sollte (Franke: 1987, S. 43f.). Im Seniorenkonvent wurde jedoch erst seit etwa 1890 damit begonnen, die Mitglieder fest nach der Stärke der Fraktionen im Reichstag zu entsenden. Vordem setzte er sich aus 5 bis 10 Abgeordneten zusammen, wobei jede Fraktion mit durchschnittlich einem Sitz vertreten war. Mandatsträger ohne Fraktionszugehörigkeit blieben weitgehend unberücksichtigt (Hatschek: 1915, S. 180ff.). Im übrigen ein Aspekt, der auch für die Verfahren des Ältestenrates des Deutschen Bundestages wesentlich ist, da in ihm fraktionslose Abgeordnete kein Stimmrecht haben und folglich auch nur geringe Chancen, ihren Interessen Gehör zu verschaffen. Auch der Ältestenrat des Deutschen Bundestages verfährt nach dem ungeschriebenen Verhandlungsgrundsatz des Konsens und der Einvernehmlichkeit in wichtigen organisations- und verfahrensleitenden parlamentarischen Fragen (Roll: 1989, S. 824; auch Kabel: 1982, S. 32; ein indirekter Hinweis findet sich in § 6 Abs. 2 GO-BT; vertiefend mit kritischen Anmerkungen siehe § 10IV.). Die Freiwilligkeit dieser Versammlung war die Grundlage einvernehmlicher Vereinbarungen und Kompromißlösungen. Daß der Seniorenkonvent und spätere Ältestenrat - aus einer parlamentarischen Übung entstanden - selbst zum zentralen parlamentarischen Leitungsorgan avancieren konnte, ist wesentlich an das sich in der Parlamentspraxis des konstitutionellen Reichstages des Kaiserreiches verändernde Verhältnis zum Parlamentspräsidenten geknüpft, welches abschließend in Umrissen skizziert werden soll. Zunächst bleibt folgendes festzustellen: Der Präsident bekleidete und bekleidet auch heute das höchste Parlamentsamt, dessen Bedeutung durch die verfassungsförmige Festschreibung unterstrichen wird. Folglich muß sich der Parlamentsvorsitzende nur den Beschlüssen unterwerfen, welche das souveräne Parlament als Plenum trifft; keineswegs ist er nach formalem Recht an Beschlüsse einzelner Parlamentsorgane und daher auch nicht an Vereinbarungen des aus einer parlamentarischen Übung erwachsenen Seniorenkonvents gebunden. In der Parlamentspraxis des konstitutionellen Reichstages hing die Stellung des Parlamentsvorsitzenden gegenüber dem Seniorenkonvent wesentlich von den Kräfteverhältnissen zwischen Präsident und Fraktionen ab. Wußte der Vorsitzende, welcher - wie bereits beschrieben - vordringlich nach seiner Befähigung zur Mittlerrolle zwischen Parlament und Reichsregierung gewählt wurde, keine starke Fraktion hinter sich, so mußte er eher den Vereinbarungen des Senioren-
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konvents folgen, als wenn er der Unterstützung der einflußreichsten Fraktionen gewiß sein konnte (Hatschek: 1915, S. 178ff.). Hinweise in den Stenographischen Protokollen des Reichstages (genaue Quellenangaben bei Franke: 1987, S. 53ff.) sprechen dafür, daß es seit den ersten Parlamentssitzungen des Reichstages vielfältige Kontakte und Absprachen zwischen Präsident und Seniorenkonvent gegeben hat; obgleich der Parlamentsvorsitzende bis 1884 an einzelnen Sitzungen des Seniorenkonvents teilgenommen hat, war vor dem Jahre 1884 niemand aus dem Reichstagspräsidium dort ordentliches Mitglied. Erst mit diesem Datum wurde es zur parlamentarischen Übung, daß der erste Vizepräsident der RepräsentativVersammlung die Leitung im Seniorenkonvent übernahm, diese 1899 wiederum an den Präsidenten selbst weitergeben mußte (Franke: 1987, S. 54). Fortan tagte der Seniorenkonvent und versammelt sich auch heute der Ältestenrat des Deutschen Bundestages auf Einladung des Parlamentspräsidenten (§ 6 Abs. 1 GOßT). Die Bedeutung des Seniorenkonvents und späteren Ältestenrates für die Parlamentsorganisation läßt sich in folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Er stellt als Kollegialorgan ein faktisch wirksames Gegengewicht zu den parlamentarischen Leitungskompetenzen des Präsidenten dar. 2. Die Fraktionen haben mittels des Seniorenkonvents/Ältestenrates ein Forum geschaffen, um sich über Fragen der inneren Parlamentsordnung zu verständigen und somit maßgeblichen Anteil an der Ausgestaltung des parlamentarischen Lebens zu gewinnen. 3. Die parlamentarische Übung, Vereinbarungen einstimmig zu treffen, schützt die Minderheitsfraktionen vor der Majorität, setzt allerdings auch eine hohe Bereitschaft zur interfraktionellen Kompromißfindung voraus. 4. Indem der Parlamentspräsident in die Arbeit des Seniorenkonvents/Ältestenrates integriert wurde, diesen seit 1899 einberuft und den Vorsitz führt, haben sich Auseinandersetzungen um Fragen der Parlamentsorganisation zunehmend in den Seniorenkonvent/Ältestenrat verlagert. 5. Mit der Einbindung des Präsidenten in die Entscheidungsstrukturen des Seniorenkonvents/Ältestenrates ist letzterem die maßgebliche Zuständigkeit parlamentarischer Organisations- und Leitungsaufgaben zugewachsen.
IV. Plenum und Ausschüsse Die vorgestellten Parlamentsorgane - Alterspräsident, Parlamentsvorsitzender, Präsidium, Schriftführer und Ältestenrat - nehmen hauptsächlich, wenn auch keineswegs ausschließlich, Zuständigkeiten der inneren Parlamentsordnung, wie organisatorische Vorbereitung und administrative Durchführung der Parlamentsarbeit wahr. Die folgenden Ausführungen haben das Plenum als parlamentarische Vollversammlung und die Ausschüsse als parlamentarische Hilfs- und Arbeitsorgane zum Gegenstand; beide tragen - gemeinsam mit den in § 4 behandelten Abgeordneten und Fraktionen - in erster Linie die Organisation der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidungsfindung (näheres in § 10).
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1. Die alleinige Beschlußfähigkeit des Plenums Unter Plenum ist zunächst das Parlament als Kollegium gleichberechtigter Abgeordneter zu verstehen. Indem die Parlamentarier in einem eigens dafür vorgesehenen Sitzungsraum zusammentreten und die Sitzung durch den Vorsitzenden bzw. die konstituierende Sitzung durch den Alterspräsidenten oder nach angelsächsischer Traditon durch einen Parlamentsbeamten eröffnet wird, bilden sie die als politische Einheit handelnde repräsentative Vertretungskörperschaft, deren Beschlüsse allein verbindlich sind und somit - neben dem Selbstversammlungs- und -vertagungsrecht (vertiefend § 3, III.) die Souveränität des parlamentarischen Plenums ausdrücken. Was auf den Stufen der inneren Parlamentsgliederung vorbereitet wird, bleibt formal rechtlich solange unverbindlich, bis es als Sachentscheidung durch einen Beschluß des Plenums sanktioniert wird (Zeh: 1987a, S. 392). Dieser Grundsatz leitet sich her aus der Vorrangstellung des Parlaments als politischer Einheit, welche ihrerseits begründet ist in der durch Wahl unmittelbar delegierten Handlungskompetenz der Repräsentierten an die Volksvertreter (genauer § 3). Das in demokratischen Wahlen erteilte Mandat besagt in seiner Essenz nichts anderes als autorisiert zu sein, für die Gesamtheit des Volkes zu handeln (Hennis: 1968a, S. 51; Scheuner: 1970, S. 384). Diese Aufgabe nimmt das Parlament als Vollversammlung wahr; jeder einzelne Abgeordnete ist damit betraut, und jedes aus der Mitte des Parlaments hervorgehende Organ steht in dieser Pflicht. Neben dem Abgeordneten und den Fraktionen sind maßgeblich das Plenum und die Ausschüsse daran beteiligt, das Regierungshandeln in die Öffentlichkeit zu vermitteln und einsehbar zu machen, zugleich selbst zu reflektieren und kritisch zu prüfen. Beschlußfähig ist jedoch kein parlamentarisches Organ, sondern allein das Plenum - also das Parlament als politische Einheit. Grundgesetz und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages differenzieren die Beschlußfähigkeit nach der Qualität der zu behandelnden Gegenstände. Zu unterscheiden sind: • das Erfordernis der einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wobei der Bundestag beschlußfähig ist, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder an der Plenarsitzung teilnehmen (Art. 42 Abs. II G G u . §45 Abs. 1GO-BT); • das Erfordernis der gesetzlichen Mehrheit, welche dann gegeben ist, wenn die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestages für oder gegen etwas stimmen (Art. 121GG); • das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit, z.B. der Zweidrittel-Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl bei Verfassungsänderungen (Art. 79 Abs. II GG). In der Parlamentspraxis scheint der Deutche Bundestag jedoch unabhängig von der Zahl der tatsächlich anwesenden Parlamentarier „stets beratungsfähig und grundsätzlich auch beschlußfähig" zu sein (Kremer: 1982, S. 11; mit parlamentsgeschichtlichen Hinweisen: Vonderbeck: 1982, S. 193ff.). Selbst bei Unterschreiten der Festlegung in § 45 Abs. 1 GO-BT, wonach die Beschlußfähigkeit die Anwesenheit von mehr als der Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl voraussetzt, wird der Bundestag erst dann für beschlußunfähig erklärt, wenn auf Antrag von 5 v.H. der anwesenden Abgeordneten „in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählung der Stimmung" (§ 45 Abs. 2 GO-BT) als nicht
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gegeben festgestellt wird. Unterbleibt ein solcher Antrag, kann das Plenum die Bestimmung stillschweigend unterlaufen. Das skizzierte Verfahren ermöglicht mithin rechtsverbindliche Abstimmungsentscheidungen des Plenums, an denen weniger als die Hälfte der Mandatsträger beteiligt sind und faktisch für eine Mehrheitsbildung 1/4 oder weniger der Abgeordnetenstimmen insgesamt hinreichen. Diese häufig praktizierte parlamentarische Übung des Deutschen Bundestages erweckt für Außenstehende oftmals den Eindruck, daß ein fast leeres Plenum über Gesetze berät und sie beschließt. Warum dennoch die Abstimmungsmodalitäten des Grundgesetzes wie der Geschäftsordnung und die Beschlußpraxis des Bundestages nicht mit dem Demokratiegebot kollidieren, läßt sich in der Behandlung des Ausschußwesens und seiner Bedeutung für die Parlamentsarbeit erläutern. Zunächst ist die Delegation von Handlungsbefugnissen an parlamentarische Organe, worunter auch die Verlagerung parlamentarischer Arbeit aus dem Plenum in die Ausschüsse fällt, in dem bereits o.g. Selbstorganisationsrecht der Parlamente begründet. Ausschüsse als Parlamentsorgane sind den Organisationsgrundsätzen, die für die Vollversammlung gelten, etwa dem Mehrheitsprinzip, dem Minderheitenschutz, den Diskontinuitäts- und Proportionalitätsgrundsätzen und in eingeschränktem Maße auch dem Öffentlichkeitsprinzip, unterworfen (vertiefend §10,1. bis III.).
2. Vom vorbereitenden zum vorberatenden Parlamentsorgan Wirft man einen Blick auf die parlamentsgeschichtlichen Grundlagen des Ausschußwesens in England, den USA, Frankreich und Deutschland, so fällt als ihnen gemeinsame Entwicklungslinie auf, daß sich die Ausschüsse in ihrer Funktion für die parlamentarische Arbeit gewandelt haben: Dienten die Ausschüsse anfänglich der fachlichen Vorbereitung von Einzelfragen für die entscheidende Plenarsitzung, so gewannen sie mit der Zeit maßgeblichen Anteil an der willensbildenden sachlichen Entscheidungsfindung. Als wesentliche Ursache dieser Entwicklung ist der allmähliche Bedeutungszuwachs der Parlamente für die Gestaltung des politischen Gemeinwesens vor allem seit der französischen Revolution zu nennen; die Demokratisierung staatlicher Gewalt, wie sie sich am frühesten in England zeigte, gefolgt von den USA, Frankreich und - verspätet - vom konstitutionellen Deutschland, verlagerte zentrale staatsleitende Aufgaben wie die Gesetzgebung in die Prärogative parlamentarischer Verantwortung (zur Parlamentsentwicklung § 2). Die Einbeziehung immer weiterer gesellschaftlicher Bereiche in die Einfluß- und Zuständigkeitssphäre des Staates hat bis in die Gegenwart hinein zu einer Zunahme staatlicher Aufgaben, folglich zu einer vermehrten Gesetzgebungspraxis geführt. Diese Ausweitung parlamentarischer Zuständigkeiten hat eine arbeitsteilige Organisation unabdingbar gemacht. Verstärkt wird dieser Prozeß zudem durch die Ausdifferenzierung parlamentarisch zu behandelnder Gegenstände; eine Entwicklung, welche das technische Zeitalter mit sich gebracht hat (ausführlich § 16 und §§ 17-20): Wenn Gestaltungspotentiale und Interaktionen der verschiedenen Akteure im politischen und gesellschaftlichen Raum vor allem in Hinblick auf mittel- und langfristige Planungsentscheidungen komplexer werden und teilweise nicht absehbare Folgewirkungen und Risiken in sich tragen, sind parlamentarische Organisationsformen
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gefordert, welche über die fachliche Bewältigung komplexer Problemherausforderungen hinausgehend zum Aufweis parlamentarischer Staatsleitungsteilhabe geeignet sind. In der Bundesrepublik und in den USA suchen die Parlamente diese Aufgaben durch ausgeprägte Systeme der Ausschußorganisation wahrzunehmen. Der Idee nach bereiten die Ausschüsse die Gesetzes- und Kontrollaufgaben für das Plenum vor. Dafür spricht, daß Ergebnisse der Ausschußtätigkeiten dem Plenum nur als Empfehlungen und Vorschläge unterbreitet werden dürfen. In der Parlamentspraxis hingegen präformieren die Ausschüsse die eigentlichen Plenarbeschlüsse: Dort vollziehen sich materiell verbindliche Willensbildung und Entscheidungsfindung und erfahren lediglich eine positive Sanktion durch den offiziellen Plenarbeschluß. Für den US-Kongreß und den Deutschen Bundestag bleibt vorgreifend festzuhalten, daß die Ausschüsse die zentralen parlamentarischen Arbeits- und Willensbildungsorgane darstellen; in ihnen - nicht im Plenum - werden die entscheidungsrelevanten Diskussionen geführt. Vor allem diese Verlagerung der wichtigsten Teile parlamentarischer Staatsleitungsteilhabe in die Ausschüsse zulasten des Plenums hat zur Charakterisierung des US-Kongresses und des Bundestages als Arbeitsparlamente geführt. Die zentrale Bedeutung des Ausschußwesens für die genannten Parlamente läßt sich im Zusammenhang mit ihrer verfassungsrechtlichen Stellung innerhalb der jeweiligen Gewaltenordnung, vor allem aber in der Betrachtung ihres Verhältnisses zur Exekutive erörtern. Von hieraus wird sich auch erklären lassen, warum die Ausschüsse im englischen Parlamentarismus das Plenum nicht haben verdrängen können. Ihnen allen ist jedoch gemeinsam, daß die Verlagerung parlamentarischer Tätigkeiten in die Ausschüsse mit dem Bedeutungszuwachs der Fraktionen innerhalb der parlamentarischen Ordnung und ihrer Verfahrensorganisation auf's engste verknüpft ist (ausführlich Dechamps: 1954). Die hier angeschnittenen Zusammenhänge sollen im folgenden anhand des Ausschußwesens des englischen House of Commons, des amerikanischen Repräsentantenhauses und des deutschen Bundestages in Grundrissen erläutert werden.
3. Großbritannien: Die beherrschende Rolle des Plenums gegenüber den Ausschüssen In England lassen sich bereits im 14. Jhd. nichtständige, ad-hoc gebildete Ausschüsse („Select Committees") nachweisen (zur Geschichte des engl. Ausschußwesens Redlich: 1905, S. 468ff.). Sie waren für die redaktionelle Bearbeitung parlamentarischer Vorlagen (Bills) zuständig und lösten sich nach Aufgabenerledigung unverzüglich wieder auf (Dechamps: 1954, S. 5). Wenn das House of Commons seit Ende des 16. Jhd.s dazu überging, die Ausschüsse mit bestimmten und sachlich begrenzten Aufgaben zu betrauen, welche diese für eine ganze Session wahrnehmen sollten (zum Begriff der Session § 3, III.), so fanden die Vorberatungen der Bills bis zum Ende des 19. Jhd.s in einer anderen, für das englische Unterhaus typischen Beratungsform statt, dem „Committee of the whole House" (May: 4 1859/dt. 1860, S. 314ff.; Redlich: 1905, S. 468ff.; Jennings: 21957, S. 264ff.): Die beschließende Plenarversammlung kann sich in einen beratenden „Ausschuß des ganzes Hauses" verwandeln, wobei alle Mitglieder des Unterhauses gemeinsam diesen Ausschuß bilden. Im Grunde handelt es sich um eine zweite Form der Plenarberatung, welche i.d.R. vor der dritten und entscheidenden
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Lesung eines Gesetzes strittige Sachfragen einer intensiven Diskussion unterwirft. Im Vormärz orientierte sich die Kammer des Königreiches Hannover, welches unter englischem Einfluß stand, an dieser Praxis, indem sich bei „Anträgen über wichtige Gegenstände die Kammer in eine beratende Versammlung auflöst" (Mittermeier: 1838, S. 622). Das amerikanische Repräsentantenhaus hat das „Committee of the whole House" aus England übernommen; es berät alle Bills, die Auswirkungen auf den Haushalt haben, im „Committee of the whole House" (McConachie: 1898/1973, S. 92ff.; Dechamps: 1954, S. 21f.; Fraenkel: 4 1981, S. 298; Tiefer: 1989, S. 340ff.; ausführlich zur Praxis bis in die Mitte des 19. Jhd.s: Cushing :1856/1971, S. 763ff.). Jedoch ist für die Parlamentspraxis der U S A der dieser Beratungsform spezifisch englische parlamentsgeschichtliche Hintergrund, der imfolgenden darzulegen sein wird, bedeutungslos; daher hat das „Committee of the whole House" auch keinen nennenswerten Einfluß auf die weitere Entwicklung des amerikanischen Ausschußwesens genommen. In England geht der „Ausschuß des ganzen Hauses" auf den Kampf des Unterhauses mit der Krone Ende des 16. Jhd.s zurück. Zu dieser Zeit war der Speaker ein Parteigänger des Königs („the king's man") und wurde von der Krone besoldet (erläuternd II.). Das House of Commons konnte nur ohne den Speaker frei debattieren. Im „Committee of the whole House" mußte der Speaker daher den Vorsitz an ein Mitglied des Hauses abgeben und - gemeinsam mit dem Clerk - die Versammlung verlassen. Ohne „the king's man" und die üblichen strengen Geschäftsordnungs-Reglements konnte eine freiere Aussprache stattfinden, welche nicht sofort der Krone zugetragen wurde, und bei der sich Abgeordnete auch mehrmals zu Wort melden konnten. (Redlich: 1905, S. 463ff.; Dechamps: 1954, S. 6; Griffith/Ryle: 1989, S. 269). Im Zeitraum von 1660 (Beginn der Restauration) bis 1832 (Beginn der Reformen und Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise; ausführlich Kluxen: 1983, S. 68ff. u. 118ff.) wurden - unbelassen der weiteren Inanspruchnahme von „Select Committees" - kontinuierlich in jeder Session 4 „Committees of the whole House" zur Beratung der Bills eingesetzt (Dechamps: 1954, S. 7; Redlich: 1905, S. 478). Auch im Verlauf der Reformen im 19. Jhd. blieben sie zunächst zentrale parlamentarische Beratungsform; allerdings infolge der „Glorreichen Revolution" seit Beginn des 18. Jhd.s mit der Änderung, daß der Speaker das Plenum nicht mehr verlassen, sondern lediglich den Vorsitz abgeben mußte (Kluxen : 1983, S. 99): Seit diesem Zeitpunkt entwickelte sich das Speakeramt zur neutralen Lenkungsinstanz des Hauses (Redlich: 1905, S. 426f.). Heute debattiert das britische Unterhaus alle Bills mit finanzpolitischer Relevanz in „Committees of the whole House", von denen zwei besonders bedeutungsvoll sind, weil sie sich mit der Budgetbewilligung befassen: das „Committee of Supply" und das „Committee of Ways and Means" (Sontheimer: 1972, S. 94f.; Griffith/Ryle: 1989, S. 247ff.). Ihre herausragende Bedeutung hat diese Beratungsform seit dem Ende des 19. Jhd., vor allem mit den Parlamentsreformen 1902 und 1907 zugunsten von „Grand Standing Committees" (Ständige Ausschüsse) verloren. Die tradierte Parlamentsorganisation mit den „Committees of the whole House" im Mittelpunkt und den nichtständigen, adhoc gebildeten „Select Committees" zur Seite ist aus den historischen Bedingungen der Frontstellung zwischen Krone
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und Parlament hervorgegangen. Mit dem Übergang zum Zwei-Parteien-Kabinett-System veränderten sich die Rahmenbedingungen parlamentarischer Verfahren und Organisation grundlegend, und zudem wuchs mit den Aufgaben auch die Arbeitslast des Unterhauses beträchtlich. Die Ursachen hierfür können an dieser Stelle nicht ausführlich dargelegt werden; da sie zentral für das Verständnis des englischen Ausschußwesens sind, müssen sie jedoch genannt werden: Sie liegen zum einen in der britischen Kabinettregierung (näherers § 4), wobei das Kabinett als exekutives Organ wesentliche Funktionen übernahm, die ehedem der monarchischen Prärogative unterstanden (Redlich: 1905, S. 479; Kluxen: 1983, S. 112ff.). Die Kabinettregierung, auch „Responsible Government" genannt (Scheuner: 1970, S. 289), bedurfte - und dies gilt bis heute - zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Parlaments und ist in ihrem Bestand von einer sie tragenden Mehrheit im Parlament abhängig. Dem Kabinett obliegt die Vorbereitung und Einbringung von Gesetzesvorlagen und ihre administrative Umsetzung, mithin die Führung der Staatsgeschäfte („the political leadership"; Kluxen: 1983, S. 115). Dem Parlament hingegen obliegt die Ermittlung parlamentarischer Mehrheiten im Austausch vernünftiger Argumente und der Aufweis politischer Verantwortung durch Bildung und Wirkung der öffentlichen Meinung in der Parlamentsverhandlung; es überläßt die Gesetzesinitiative dem Kabinett (grundlegend für dieses Parlamentarismusverständnis Bagehot: 1867/1971, insb. S. 53, S. 191, S. 282; weiterführend Sontheimer: 1972, S. 97). Zum anderen - und als Folge des Kabinettsystems - teilte sich das Unterhaus in eine die Regierung verläßlich stützende und eine gegen sie opponierende Fraktion auf. Die Wahlreformen des 19. Jhd.s erweiterten nicht nur das soziale Spektrum, aus dem sich die Commons rekrutierten, sondern verlängerten die Unterhausfraktionen als moderne, massenorganisierte Parteien in den gesellschaftlichen Raum (weiterführend § 4, III.). Die damit einhergehende Einbindung der Abgeordneten in die Fraktionen und ihre Verpflichtung auf die wiederum von den Fraktionen bestimmten parteipolitischen Zielsetzungen machte das Parlament zum Debattenforum konkurrierender und kontrahierender Fraktionen (Redlich: 1905, S. 102f.; Kluxen: 1983, S. 132ff.) Hinzu kamen moderne Errungenschaften in der Verkehrs- und Nachrichtentechnik (Telegraphen, Zeitungs- und Verkehrswesen), welche der publizistischen Verbreitung des politischen Geschehens Vorschub leisteten und das öffentliche Interesse an den Tätigkeiten des Unterhauses forcierten. Angesichts dieses parlamentarischen Aufgaben- und Funktionswandels reichten die althergebrachten Organisationsformen für eine angemessene Bewältigung der Parlamentsarbeit nicht mehr aus. Infolge der Reformen von 1907 ( D e champs: 1954, S. 14ff.; Jennings: 21957, S. 266f.) verdrängten die „Grand Standing Committees" als ständige Ausschüsse die „Committees of the whole House" (das erste „Standing Committee" wurde bereits 1882 eingesetzt; Jennings: 21957, S. 265f.). Mit der Übertragung der vorberatenden Kompetenz auf die kleineren „Standing Committees" räumte man den Ausschüssen ein, über ihre ordentlichen Mitglieder (zwischen 16 und 50 der gesetzlichen Mitgliederzahl des Unterhauses; Standing Order No. 60, abgedruckt in Jennings/Ritter: 21970, S. 197; Laundy: 1989, S. 98) hinausgehend fachlich besonders ausgewiesene Abgeordnete, aber auch Sachverständige zu kooptieren (Dechamps: 1954, S. 12). Dennoch haben sich die „Standing Committees" nicht zu spezialisierten Fachausschüssen,
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vergleichbar denen in den USA und der Bundesrepublik, entwickelt, sondern sind eher als „debating committees" (Griffith/Ryle: 1989, S. 270) oder als „miniature Parliaments" (Jennings: 21957, S. 270) zu charakterisieren. Folgende organisatorische Regelungen sind dafür mitverantwortlich: - Die Mitglieder der „Standing Committees" werden bei Überweisung jeder Bill neu bestimmt, sodaß sich keine zeitlich kontinuierlichen Ausschußmitgliedschaften verfestigen (Laundy: 1989, S. 98; auch Standing Orders No 59 und 60, abgedruckt in Jennings/Ritter: 21970, S. 196f.). - Die „Standing Committees" haben von den „Committees of the whole House" den Grundsatz der Öffentlichkeit der Ausschußverhandlungen übernommen; nur auf besonderen Antrag kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden (Dechamps: 1954, S. 19). - Die englischen Ausschüsse verfügen - anders als in den USA und der Bundesrepublik - über keine eigenständigen Ausschußsekretariate und Ausschußdienste (Dechamps: 1954, S. 19). Neben den „Standing Committees" setzt das Unterhaus als nichtständige, spezialisierte Sachausschüsse, die sog. „Select Committees" ein. Deren Vorläufer reichen - wie eingangs erwähnt - bis ins 14. Jhd. zurück. „Select Committees" sind weniger mit legislativen Arbeiten, sondern mit der Untersuchung sachlicher Einzelfragen befaßt. Nach der Geschäftsordnung des Unterhauses (Standing Order No. 130) werden seit 1979 entsprechend den Ministerien 14 „Select Committees" und gemäß den Standing Orders No. 121-129 weitere Sachausschüsse zu umgrenzten Politikbereichen konstituiert (ausführlich mit Übersichten Griffith/Ryle: 1989, S. 415ff.). Wenn an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung der Ausschußorganisation verzichtet werden kann, so ist schließend festzustellen, daß die Ausschüsse des House of Commons nicht hauptsächlich mit der begleitenden Sachkontrolle der Exekutive und der von der Regierung eingebrachten Gesetzesvorlagen befaßt sind. Die Gründe hierfür liegen in der Funktionsweise des britischen Regierungssystems, die bereits angeschnittten wurde. In der Folge sind Ungleichgewichte zwischen der Kabinettregierung und dem Parlament seit längerem feststellbar. Der Hebel, die Gewaltenbalance herzustellen, wird vielfach in einer Reform des Ausschußsystems gesehen (Sontheimer: 1972, S. 95; Griffith/Ryle: 1989, S. 520ff.). Für das britische Verständnis des Ausschußwesens ist daher bis heute das Wort des Premierministers Arthur Balfour zu Beginn dieses Jahrhunderts gültig (zit. nach Luce: 1922, S. 184): „I do not wish our committees to be composed, especially Grand Committees, of experts or people who are supposed to have special knowledge of the subject. I rather want to have the reflected common sense of the House." 4. Die beherrschende Rolle der Ausschüsse gegenüber dem Plenum: USA und die Bundesrepublik Deutschland Gänzlich anders stellt sich die Bedeutung der Ausschüsse im amerikanischen Repräsentantenhaus und im Deutschen Bundestag dar. Das dort praktizierte Ausschußwesen zeichnet sich durch kontinuierlich tagende Fachausschüsse aus, welche den Parlamentsaufgaben und -Zuständigkeiten entsprechend zu Beginn der Session für definierte Aufgabenbereiche gebildet werden. Die wesentliche Ursa-
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che dieser Ausschußpraxis liegt darin, daß die amerikanischen und deutschen Parlamente maßgeblichen Anteil an der Staatsleitung haben. Da grundsätzlich in den Regierungsformen sowohl dem US-Congreß als auch dem Deutschem Bundestag umfangreiche Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche zugewiesen sind, ist in den Kompetenz- und Gewaltenordnungen bereits die Ausdifferenzicrung parlamentarischer Organisation angelegt. Obgleich der Umfang staatsleitender Aufgaben in beiden Parlamenten eine arbeitsteilige Ausschußorganisation unabdingbar macht, sind die Rahmenbedingungen in den U S A und der Bundesrepublik grundsätzlich verschieden und prägend für die Funktionsweise der Ausschußsysteme: Das präsidentielle System der USA kennt eine strikte Trennung legislativer und exekutiver Gewalten. Verdeutlichen läßt sich das an den voneinander unabhängigen Congreß- und Präsidentschafts wählen, an der durch den InkompatibilitätsGrundsatz erwirkten personellen Trennung legislativer und exekutiver Amtsausübung; nicht zuletzt ist die institutionelle Selbständigkeit beider Verfassungsorgane daran abzulesen, daß ihre Amtsperioden nicht synchron laufen (Fraenkel: 4 1981, S. 220ff.; Loewenstein: 1959, S. 364ff.; Davidson/Oleszek: 3 1990, S. 227ff.). Da die Organisation der Legislative - anders als in parlamentarischen Regierungssystemen - nicht mit der Exekutive verflochten ist, gewinnen die Parlamentsorgane wie auch die congreßeigenen Hilfs- und Verwaltungseinrichtungen (dazu V.) große Bedeutung, um die Gesetzgebungs- und Kontrollaufgaben zu bewältigen. Die U S A kennen - wie Großbritannien - ein Zwei-Parteien-System (i.e. Loewenstein: 1959, S. 142ff.; Dodd/Oppenheimer: 3 1985, S. 225ff.). Anders als in Großbritannien wird das Parlamentsleben nicht durch das Gegeneinander von regierungstragender und gegen sie opponierender Fraktion bestimmt, sondern durch die Frontstellung von Legislative und Exekutive: bemerkenswert ist dazu empirisch, daß seit 1955 im amerikanischen Congreß die Partei über die Mehrheit verfügt, welcher der amtierende Präsident nicht angehört. Lediglich der republikanische Präsident Reagan konnte von 1981 bis 1987 mit einem Senat regieren, in dem seine Partei über die Mehrheit der Sitze verfügte (Übersicht bei Davidson/Oleszek: 3 1990, S. 433); unter diesen Bedingungen wird voraussichtlich auch die Regierung von Bill Clinton stehen. Die Ausschüsse haben aufgrund der dargestellten Gewaltenkonstellation frühzeitig entscheidenden Einfluß auf die Parlamentsarbeit genommen, wobei das Ausschußsystem mit zunehmender gesetzgeberischer Tätigkeiten stetig weiterentwickelt wurde; für den Congreß gilt bis heute die Einschätzung des späteren amerikanischen Präsident Woodrow Wilson von 1885 (zitiert nach Tiefer: 1989, S. 57): „Congress in session is Congress on public exhibition, whilst Congress in its committee-rooms is Congress at work." Gegenüber dem Plenum dominant sind auch die Ausschüsse im bundesdeutschen Regierungssystem geworden, wie eingangs bereits angedeutet. Jedoch sind die gewaltenteilenden Rahmenbedingungen bestimmt durch die funktionale Überlagerung und personelle Verflechtung legislativer und exekutiver staatsleitender Tätigkeiten, die Synchronisierung der Amtszeiten sowie die Wahl des Bundestages im 4-Jahres-Turnus und die daran anschließende Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (parlamentsvergleichend Thaysen/Davidson/Livingston :1988). Folglich ist das Gegenüber von Exekutive und Parlament überlagert durch die Frontstellung von Regierungsmehrheit und Opposition. Da die Bun-
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desrepublik ein Vielparteiensystem ist und auf Bundesebene - fast ausschließlich - Koalitionsregierungen kennt, gewinnen sowohl die Parteien als auch die Fraktionen entscheidenden Einfluß in den Ausschüssen (erläuternd §§4 und 10). Bevor im folgenden die geschichtlichen Grundlagen der Ausschußorganisation in Deutschland näher zu erörtern sind, kann folgendes Zwischenfazit festgehalten werden: Die Entwicklung der Ausschüsse vom vorbereitenden zum vorberatenden Parlamentsorgan hat sich im Übergang von ad hoc gebildeten, nichtständigen Ausschüssen über spezialisierte Sachausschüsse hin zu ständigen Fachausschüssen vollzogen. Der Zuwachs parlamentarischer Tätigkeiten, vor allem im Gesetzgebungs- und Kontrollbereich, machte die fachliche Delegation von Aufgaben und damit eine Teilung der Kompetenzen zwischen vorberatenden Ausschüssen und beschließendem Plenum notwendig. Die damit verbundene Verfestigung der Ausschußstrukturen und ihrer inneren Organisation führte zu ständigen Fachausschüssen; die Ausschußberatung hat sich zur eigenständigen Gesetzgebungsstufe entwickelt, welche die Plenarbeschlüsse präjudiziert (Dechamps: 1954, S. 79ff.). Diese Entwicklung zeigt sich am deutlichsten anhand des Deutschen Bundestages (ausführlich §§10 und 11) und des amerikanischen Repräsentantenhauses; letzteres wird im folgenden nicht weiter behandelt (zum Ausschußwesen der USA: Tiefer: 1989, S. 57ff. ; Davidson/Oleszek: 31990, S. 195ff.; Patterson: 1988, S. 236ff. ; Unekins/Rieselbach: 1984; Galloway: 1959/60, S. 17ff.). 5. Zu den geschichtlichen Grundlagen des Ausschußwesens in Deutschland Ein Blick auf die Anfänge parlamentarischer Organisation im deutschen Frühkonstitutionalismus (parlamentsgeschichtlich § 2) zeigt, daß die Kammern und Landtage Elemente des englischen Ausschußwesens wie das „Committee of the whole House" in Hannover (Mittermaier: 1838, S. 622) übernommen, sich aber wesentlich an der französischen Parlamentsorganisation orientiert haben. Die französische Deputiertenkammer bildete für bestimmte und umgrenzte Aufgaben Spezialausschüsse, wobei die Geschäftsordnung vom 28.10.1791 insgesamt 21 Sachausschüsse vorsah (Dechamps: 1954, S. 40). Jedoch achteten die französischen Abgeordneten darauf, daß die Ausschüsse sich nicht als einflußreiche Parlamentsorgane verfestigten und somit zu einem Gegengewicht zum souveränen Plenum werden konnten. (Ein Gesichtspunkt, den das Plenum stets auch gegenüber seinen Präsidenten geltend machte, vgl. II.). Daher achtete die Deputiertenkammer strikt den Grundsatz der Nichtständigkeit für die personelle Zusammensetzung der Ausschüsse, indem sie die Ausschußmitglieder i.d.R. alle 3 Monate ablöste (Dechamps: 1954, S. 40f.). Somit konnten sich kontinuierlich tagende Sachausschüsse, deren konkrete personelle Zusammensetzung turnusgemäß erneuert wurde, konstituieren. Im Kontext der britischen Ausschußorganisation wurde festgehalten, daß auch die Standing Committees heute bei Überweisung jeder Bill personell neu bestimmt werden. Die Ausschußmitglieder wurden in Frankreich jedoch nicht vom Plenum delegiert, sondern durch die für das französische System bis ins 20. Jhd. typischen „Abteilungen", das sog. „Bureau" bestimmt. Das Plenum teilte sich unmittelbar nach der Konstituierung durch Los in Abteilungen ein, die auch für die Vorberatung von Vorlagen zuständig waren (Hatschek: 1915, S. 116; Barthélémy: 1934, S. 19ff.; Gooch 1935/1969, S. 108f.; Dechamps: 1954, S. 123ff. ; heute nicht mehr praktiziert Kempf: 21980, S. 82ff.
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Im deutschen Frühkonstitutionalismus verfuhr die badische Kammer nach diesem Vorbild, während die Parlamente im Königreich Württemberg aus ihrer Mitte Kommissionen bestellten (Mittermaier: 1838, S. 621f.; näheres bei Brandt, H.: 1987, S. 232ff.). Die Kammern und Landtage praktizierten vor 1848/49 verschiedenartige Ausschußformen, wobei Elemente aus Frankreich und England adaptiert wurden (einen Eindruck vermittelt Mittermaier: 1838, S. 621ff.). 1848 sah Robert von Mohl in seinen „Vorschlägen zu einer Geschäftsordnung des verfassungsgebenden Reichstages" vor, daß die Abteilungen nur noch für die Bestellung der Ausschüsse, jedoch nicht für die Vorberatung der vom Plenum an sie überwiesenen Vorlagen zuständig sein sollten (von Mohl: 1848, S. 31ff.; Dechamps: 1954, S. 56f.). Wenn auch v. Mohls Entwürfe das Vorbild für die Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung gaben, wich diese doch erheblich davon ab, indem sie - weiterhin das französische Vorbild nachahmend den Abteilungen, die durch Los alle 4 Wochen neu gebildet wurden (§ 1 der Geschäftsordnung, abgedruckt in Deutscher Bundestag: 1986, S. 631), die Funktion zuwies, an sie überwiesene Vorlagen zunächst vorzuberaten und dann ggfs. an einen Ausschuß weiterzuleiten (§ 19 der Geschäftsordnung, abgedruckt in Deutscher Bundestag: 1986, S. 632). Somit schob sich zwischen Plenum und Ausschuß die Abteilung als Bindeglied und zugleich als Trennungselement. Wenn auch das Preußische Abgeordnetenhaus und die Reichstage des Norddeutschen Bundes wie des Deutschen Reiches die Abteilungen in ihren Geschäftsordnungen verankerten, verloren sie für die Ausschußbestellung und die Vorberatung der vom Plenum überwiesenen Vorlagen an Bedeutung. Der Grund für diese Entwicklung liegt in der parlamentarischen Fraktionsbildung und der wachsenden Bedeutung parteiähnlicher Organisationen im gesellschaftlichen Raum, welche auf die Formung der Fraktionen nicht unerheblichen Einfluß nahmen (ausführlich § 4, III.). Die Fraktionen wiederum verständigten sich über Fragen der inneren Parlamentsordnung im Seniorenkonvent (dazu oben III.). Die Funktion der Ausschußbestellung ging seit der Mitte der 60er Jahre im Preußischen Abgeordnetenhaus auf die Fraktionen und den Seniorenkonvent über (Hatschek: 1915, S. 175ff.; Dechamps: 1954, S. 132ff.; Franke: 1987, S. 56ff.), womit die Abteilungen ihre Bedeutung in der Parlamentspraxis verloren, obgleich ihnen zum Teil die formale Bestellung nach den Vorgaben der Fraktionen und des Seniorenkonvents belassen wurde. Die Formierung der Fraktionen und die Bedeutung des Seniorenkonvents als zentrales parlamentarisches Leitungsorgan hat in der Folge auch im Reichstag des Deutschen Reiches zur Bestellung der Ausschüsse spiegelbildlich den Fraktionsstärken im Plenum und zu verbindlichen Vereinbarungen des Seniorenkonvents über den Ausschußvorsitz geführt (Franke: 1987, S. 46ff. undS. 56f.). Eingeschoben sei an dieser Stelle, daß auch in England der Bedeutungszuwachs der Fraktionen Konsequenzen für die Bestellungsmodalitäten der Ausschüsse hatte: Während anfänglich die Besetzung durch Zuruf oder durch den Speaker vollzogen wurde, hat sich später ein eigenständiges Bestellungsgremium, das „Committee of Selection" konstituiert, welches die Ausschußmitglieder nach parteipolitischen und fachlichen Kriterien benennt, während der Ausschußvorsitz der „Standing Committees" nur an einen Abgeordneten vergeben werden kann, der Mitglied im „Panel of Chairman of Committees" ist (Laundy: 1989, S. 98; Griffith/Ryle: 1989, S. 150f.).
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Für die Gestaltung des Ausschußwesens in den deutschen konstitutionellen Parlamenten ist die Stellung der Repräsentativkörperschaften in der Gewaltenordnung zu berücksichtigen: Sie blieben bis 1918 bei allen Gesetzgebungs- und Kontrollbefugnissen de jure ohne Anteil an der Regierungsverantwortung und damit letztlich in Frontstellung zur Exekutive. Im Mittelpunkt der Parlamentsarbeit stand die öffentliche Parlamentsverhandlung, in der die Regierungsarbeit einer kritischen Reflexion unterzogen wurde. Für die Vorbereitung der Plenararbeit konnten die Repräsentativkörperschaften ständige Fachausschüsse einsetzen, welche auch in den Geschäftsordnungen verankert wurden - sie mußten jedoch nicht (§ 18/19 d. G O d. Preußischen Abgeordnetenhauses: § 24/26 d. GO-RT, abgedruckt in Deutscher Bundestag: 1986). Trotz Zunahme der Aufgaben des Reichstages im Zuge der Parlamentarisierung der Staatsgewalt (erläuternd § 2, III. u. IV.) vermehrte sich die Zahl der ständigen Ausschüsse nicht; im Gegenteil wurden in einigen Sessionen nicht einmal alle der 6 in der Geschäftsordnung mit einer „Kann-Vorschrift" versehenen Ausschüsse gebildet (Pereis: 1903, S. 21ff.; Hatschek: 1915, S. 228). Stattdessen griff der Reichstag häufiger auf die Möglichkeit zurück, besondere Kommissionen zu bestimmten Sachfragen zu konstituieren (§ 24/26 d. GO-RT). Obwohl die Ausschüsse des konstitutionellen Reichstages die vorberatenden Arbeiten für die Plenarverhandlungen erbrachten, muß der Ausbau des Ausschußwesens eher zurückhaltend beurteilt werden, wobei eine wesentliche Ursache in dem geringen Anteil des Parlaments an der Staatsleitung zu sehen ist, welcher die Verlagerung größerer Teile der Parlamentsarbeit vom Plenum in Ausschüsse nicht notwendig erschienen ließ. Hingegen trug der Reichstag der Weimarer Republik seinem verfassungsrechtlich hohen Rang innerhalb der Gewaltenordnung auch mit der Ausschußorganisation Rechnung: In der reformierten Geschäftsordnung von 1922 sind 15 ständige Ausschüsse verzeichnet, die - anders als im Parlamentsrecht des kaiserlichen Reichstages - eigesetzt werden mußten (§ 26 d. GO v. 12.12.1922, abgedruckt in Deutscher Bundestag: 1986, S. 32); zudem ist in§ 12 dem nunmehr sog. Ältestenrat die Kompetenz der Vergabe von Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertretung zugewiesen worden (siehe entsprechend §§ 12,57,58 der GO-BT). Anders als in der Reichsverfassung von 1871, welche Ausschüsse des Bundesrates, nicht aber des Reichstages, verfassungsmäßig vorsah (Art. 8 RV), finden sich in der Weimarer Verfassung Ausschüsse des Reichstages kodifiziert, nämlich Untersuchungsausschüsse (Art. 34 WRV) und zwei Ausschüsse für die „parlamentslose" Zeit zwischen Wahltag und konstituierender Sitzung des neugewählten Reichstages (erläuternd § 3, III.; Anschütz: 141933, S. 223ff.). Zusammenfassend hatte der Weimarer Reichstag ein System ständiger Ausschüsse entwickelt, die den gesamten Aufgabenbereich des Parlaments abdeckten und systematisch aufteilten (Lambach: 1926; Dechamps: 1954, S. 60f.), und an das die Ausschußorganisation des Deutschen Bundestages anknüpfen konnte (im Detail weiterführend §§10 und 11). Folgendes Fazit kann gezogen werden: Die Parlamente können heute mit ihrer Kompetenz der Einsetzung von Ausschüssen organisatorisch den vielfältigen Herausforderungen, die sich der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidungsfindung wie auch Kontrolle stellen, reagieren.
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Sie erreichen nicht nur eine sorgfältigere Vorbereitung durch sich zunehmend fachlich spezialisierende Ausschußmitglieder und damit eine Entlastung des Plenums, sondern auch eine Verlagerung der Beratungsgegenstände aus dem öffentlichen Blickwinkel in die verschlossenen Ausschußgremien. Neben einer Steigerung der Rationalität und Effizienz der Parlamentsarbeit ist mit der Überweisung von Beratungsgegenständen durch das Plenum an Ausschüsse oder Kommissionen ein Gewinn an Zeit und sachlicher Kompetenz, vor allem durch die vielfältige Konsultation von Sachverständigen, Beratern und Interessenvertretern verbunden; allerdings muß konzediert werden, daß die erläuterte Delegationspraxis auch zu einer Verlagerung von öffentlich thematisierten Problemstellungen und dem damit einherg'ehenden politischen Entscheidungs- und Handlungsdruck aus dem öffentlichen Bewußtsein instrumentalisiert werden kann.
V. Parlamentarische Dienste Alle vorstehend skizzierten Parlamentsorgane bedürfen, um überhaupt handlungsfähig zu werden, einer organisatorischen Unterstützung. Die Organisat i o n * und Verfahrensgrundsätze parlamentarischer Ordnung könnten nicht praktiziert werden, wäre nicht für die nötige personell und sachlich unterstützende Hilfe gesorgt. Die Erfüllung parlamentarischer Aufgaben - von der Vorbereitung und Durchführung der Plenarsitzungen bis zur Mitarbeit an Gesetzgebungsvorhaben - wird sichergestellt durch die Fraktionsdienste und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Abgeordneten sowie auch die Parlamentsverwaltung (wie die parlamentarischen Dienste). Organisatorischer Hilfestellungen und Dienstleistungen (z.B. Saaldiener, Protokollanten etc.) bedurfte im Grunde jedes Parlament. Eine feste institutionelle Gestalt von Parlamentsverwaltung und parlamentarischen Diensten findet sich jedoch erst detailliert dokumentiert für das konstitutionelle Kaiserreich (bei Hatschek: 1915, S. 248ff.). Vordem verfügten die repräsentativen Kammern in der Parlamentspraxis bereits über parlamentarische Dienste, die allerdings im Vergleich zu den Parlamenten des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und vor allem im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland nur wenig besoldetes Personal in Dienst hielten. Im Königreich Württemberg läßt sich ein sog. „ständischer Dienst" der Kammern - bestehend aus Registratoren (Archivaren), Canzellisten und Bürodienern bereits um 1820 nachweisen (näheres bei Brandt, H.: 1987, S. 196f.). Die Sitzungen der Frankfurter Nationalversammlung wurden laut § 13 der auf Robert von Mohl zurückgehenden Geschäftsordnung (abgedruckt in: Deutscher Bundestag: 1986, S. 631) durch eine Kanzlei vorbereitet, welche aus einem Vorstand, einem Registrator, Sekretariatsassistenten und Hilfskräften bestand. Zudem verfügte das Paulskirchenparlament über ein stenographisches Protokoll mit insgesamt ca. 25 Stenographen und Canzellisten (Botzenhart: 1977, S. 484). Wenn auch diese frühen Formen parlamentarischer Verwaltungsstrukturen in Deutschland im Vergleich zu gegenwärtigen Ausmaßen nicht sehr umfangreich waren, kann doch davon ausgegangen werden, daß es sich um organisatorisch verfestigte Formen parlamentarischer Verwaltung gehandelt hat, welche mit dem allmählichen Bedeutungszuwachs der Parlamente (vor allem im konstitutionellen Kaiserreich) stetig ausgebaut wurden. D a f ü r spricht zudem auch, daß be-
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reits im frühkonstitutionellen Württemberg ein eigener Haushaltstitel für die mit der Parlamentsverwaltung einhergehenden finanziellen Aufwendungen vorgesehen war (Brandt, H . ; 1987, S. 196f.)4. Mit der wachsenden Bedeutung der konstitutionellen Parlamente im Kaiserreich, welche in der vermehrten Gesetzgebungstätigkeit eine ihrer Hauptursachen hatte (u.a. Kröger: 1988, S. 120ff. dazu auch § 2, IV.), stellten sich höhere Anforderungen an die vorbereitende Zuarbeit und die Durchführung parlamentarischer Tätigkeiten. Wollte das Parlament seine Aufgaben erfolgreich bewältigen, so war es auf unterstützende Hilfe verstärkt angewiesen. Die erste Rechtsgrundlage für den Ausbau der parlamentarischen Dienste und der Parlamentsverwaltung stellt das autonome Selbstorganisationsrecht der Parlamente dar, wie es in den Verfassungen (näheres oben, I.) kodifiziert ist. Denn die Geschäftsordnungs-Autonomie umfaßt mithin alle die im Geschäftsbereich der Parlamente liegenden Maßnahmen, welche zur Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Ordnung und ihrer Verfahren notwendig sind. Detaillierte Vorgaben für Organisationsformen finden sich - anders als in der o.g. Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung weder in den Verfassungen noch den parlamentarischen Geschäftsordnungen des Kaiserreiches, der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik Deutschland; die Existenz einer Parlamentsverwaltung scheint jedoch in vielen Verfassungs- und Geschäftsordnungsbestimmungen vorausgesetzt zu sein (Voss: 1983, S. 10; Schindler: 1989, S. 838). Konsequent kann die Legitimation parlamentarischer Verwaltung aus dem in den Verfassungen verbürgten Selbstorganisationsrecht der Parlamente begründet werden, welche nicht auf die obersten Leitungsorgane der Parlamente eingegrenzt ist, sondern sich auch auf den zur Arbeitsfähigkeit notwendigen administrativen Unterbau erstreckt (Voss: 1983, S. 14). Trotz der dargelegten Begründung parlamentarischer Verwaltungs- und Dienstleistungsstrukturen aus dem autonomen Selbstorganisationsrecht weist die Forschungsliteratur Unstimmigkeiten über die Rechtsnatur der Parlamentsverwaltung - vor allem in Beziehung zur übrigen zentralen Verwaltung - auf (Hatschek: 1915, S. 249; Voss: 1983, S. 17, Schindler: 1989, S. 839). Folgendes kann zur rechtlichen Natur der Parlamentsverwaltung und der parlamentarischen Dienste festgehalten werden: Die parlamentarische Verwaltung ist dem öffentlich-rechtlichen Verwaltungstypus zuzurechnen, nimmt jedoch eine Sonderstellung ein und kann nicht als Teil der allgemeinen Verwaltung betrachtet werden (Roeskens: 1984, S. 85). Als Grund hierfür ist die Legitimation aus dem autonomen Selbstorganisationsrecht zu nennen, welches für die Parlamentsverwaltung zur Folge hat, daß sie keiner Dienstherrenschaft von außen unterstehen kann: Während die Dienstherrenschaft für die allgemeine Verwaltung bei
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D i e Sichtung von Literatur ergab nur wenige historische Hinweise auf die Parlamentsverwaltung; es handelt sich offensichtlich um ein noch offenes Forschungsfeld, ohne daß sich die in der Literatur vorgefundene Einschätzung überzeugend belegen ließe, die Parlamentsverwaltung sei ein relativ neuer Verwaltungstypus, der „in Deutschland ".. erst nach dem 2. Weltkrieg in nennenswertem Umfang anzutreffen sei" (so Zeh: 1987b, S. 161). Diese Einschätzung mag wohl Grund dafür gewesen sein, daß die historische Parlamentsverwaltung in der deutschen Verwaltungsgeschichte (hrsg. v. Kurt Jeserich/Hans Poke/ Georg-Chgristoph von Unruh) unterbelichtet bleibt.
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der Exekutive liegt, war und ist der oberste Dienstherr der Parlamentsverwaltung der Vorsitzende der legislativen Körperschaft. Trotz dieses die Parlamentsverwaltung von allen anderen öffentlich-rechtlichen Verwaltungen unterscheidenden Merkmals, welche sie auch als eine,Verwaltung sui generis' (Schindler: 1989, S. 829) erscheinen läßt, ist die Parlamentsverwaltung heute mit der Bundesverwaltung gleichgestellt (Schindler: 1989, S. 839). Die Parlamentsverwaltung selbst ist nach innen als Behörde mit einer hierarchischen Struktur aufgebaut. Der Parlamentspräsident als oberster Dienstherr wird in der Verwaltung nicht durch die Vizepräsidenten, sondern durch einen Direktor beim Parlament vertreten (Schindler: 1989, S. 840), welcher Vorgesetzter aller in der Parlamentsverwaltung Beschäftigten ist und zugleich eine beratende Funktion für den Parlamentspräsidenten innehat (Hatschek: 1915a, S. 261; Voss: 1983, S. 21; Schindler: 1989, S. 840; näheres zum Direktor beim Deutschen Bundestag: Pfitzner: 1984, S. 77ff.; Roeskens: 1984, S. 89f.; Einzelheiten in § 10, VIII.). Die ältere Parlamentsverwaltung erfüllte vordringlich technisch-administrative Dienstleistungen; diese Aufgabenstellung spiegelte sich auch in den inneren Organisationseinheiten wider. So kannte die konstitutionelle Reichstagsverwaltung das „Bureau des Reichstages", welches sich aus den Abteilungen: Registratur (Archiv), Kalkulatur (Rechnungswesen), Kasse, Kanzlei, Botenmeisterei, der Reichstagsbibliothek und den untergeordneten Bereichen der Hausdruckerei und des Stenographischen Bureaus zusammensetzte (Hatschek: 1915, S. 261f.). Zudem wurden Zuständigkeiten, welche die Bibliothek betrafen, im Reichstag durch ein eigens vom Parlamentspräsidenten eingesetztes „kommissionsähnliches" Organ (Hatschek: 1915, S. 247, 262) wahrgenommen. Heute setzt nicht mehr der Präsident, sondern der Ältestenrat einen eigenen Unterausschuß für Fragen der Bibliothek, der Dokumentation und des Archivs (§ 6 Abs. 4 GO-BT) ein. Die Struktur der Reichstagsverwaltung der Weimarer Republik war der des Kaiserreiches in wesentlichen Bereichen nachgebildet. So verfügte die Reichstagsverwaltung über die Organisationseinheiten eines Archivs, eines Stenographenbüros, eines technischen Referats sowie einer Hausdruckerei, in denen sich 1928 das Personal auf insgesamt 114 Beschäftigte belief (Voss: 1983, S. 19ff.). Die Bundestagsverwaltung (zur Entstehungsgeschichte Voss: 1983, S. 22ff.; Aufgaben im Einzelnen siehe § 10, VIII.) unterscheidet sich von den Parlamentsverwaltungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik außer durch eine Ausdifferenzierung im Aufbau und einer erheblichen sachlichen wie personellen Ausdehnung (statistisches Material in Schindler: 1988) vor allem dadurch, daß der administrativ-technischen Verwaltung 1969/70 eine zweite Hauptabteilung „Wissenschaftliche Dienste" zur Seite gestellt wurde, welche die o.g. Vorläufer nicht kannten (Achterberg: 1984, S. 314ff.; Roeskens: 1984, S. 94ff.; Schindler: 1989, S. 841; Scholz: 1984, S. 115ff.). Diese wurden mit dem steigenden Informationsbedarf, der zunehmenden Komplexität, aber auch Neuartigkeit der Gegenstände parlamentarischer Arbeit, insbesondere in der Gesetzgebungstätigkeit und der damit verbundenen Notwendigkeit der politischen Umsetzung neuen Wissens stetig ausgeweitet (Achterberg: 1984, S. 317). Ausschußsekretariate wurden zudem eingerichtet (Schäfer: 3 1975, S. 179ff.), welche auch für Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse für die Dauer ihrer Arbeitszeit eingesetzt werden.
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Resümierend kann festgehalten werden, daß der Deutsche Bundestag heute über die größte Parlementsverwaltungin Europa verfügt (Schindler: 1989, S. 848). Weit übertroffen wird sie jedoch von den Hilfs- und Verwaltungseinrichtungen des amerikanischen Congresses (dazu allgemein Achterberg: 1984, S. 317f.; Peters: 1970), der 1985 Mitarbeiterstäbe in einer Gesamtpersonalstärke von mehr als 24000 verzeichnen konnte (Thaysen/Davidson/Livingston: 1988, S. 588; zum Vergleich: Die wissenschaftlichen Hilfsdienste des Bundestages verfügen derzeit über ca. 2 500 Mitarbeiter). Die wesentliche Ursache für diese auffälligen Größenunterschiede ist darin zu suchen, daß der „Kongreß ein selbständiger Teil des Regierungssystems mit eigenem Informations- und Analysebedarf" (Ott: 1988, S. 454) ist. Für den Ausbau der Parlamentsverwaltung und der parlamentarischen Dienste hat dies folgende Konsequenz: Im präsidentiellen System der USA, welches eine strikte Trennung legislativer und exekutiver Gewalten kennt, erlangen die congreßeigenen Hilfs- und Verwaltungseinrichtungen große Bedeutung, um die von der Regierung unabhängige parlamentarische Organisation und vor allem die notwendige Informationsbeschaffung und -Verarbeitung zu sichern (Thaysen/Davidson/Livingston: 1988, S. 528). Im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepbulik Deutschland hingegen führt die enge Verbindung zwischen der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit dazu, daß die Regierungsfraktionen Zugang zu Informationen - vordringlich aus der exekutiven Ministerialbürokratie - erhalten. Die Ministerialbürokratie zeichnet maßgeblich für die Vorbereitung wichtiger staatsleitender Planungen verantwortlich und verfügt durch ihre qualitativ und quantitativ große sachliche und personelle Ausstattung über hohen Sachverstand (Backhaus-Maul: 1990, S.27) 5 . Trotz dieser die Parlamentsarbeit entscheidend unterstützenden Ressourcen, welche weniger im technisch-administrativen als vielmehr im wissenschaftlichpolitikberatenden Bereich liegen, ist aus mindestens zwei Gründen die Leistungsfähigkeit der Wissenschaftlichen Dienste der Bundestagsverwaltung in Hinblick auf die Parlamentsorganisation befragungswürdig: Zum einen sind die Dienstleistungen der Ministerialbürokratie nicht an der Bundestagsarbeit, etwa den parlamentarischen Kontrollaufgaben, sondern an den von den Ministerien vorgegebenen exekutiven Zielrichtungen orientiert - und daher hochselektiv (Backhaus-Maul: 1990, S. 27). Zum anderen haben in der Regel sowohl die Oppositionsfraktionen (Achterberg: 1984, S. 319) als auch die innerhalb der Regierungsfraktionen nicht zu den Fraktionsspitzen gehörenden Abgeordneten zu diesen Kapazitäten weniger Zugang. Aus den hier genannten Gründen und angesichts der gegenwärtigen wie zukünftigen Anforderungen an die parlamentarische Arbeit und ihre organisatorische 5
Hier kann nicht auf die unterschiedlichen Zugänge zu dieser, die Parlamentsarbeit tragende Ressource eingegangen werden. Als Hinweis muß genügen, daß die Ministerialbürokratie die Organisation und Verfahren der Regierungsmehrheit wesentlich unterstützt, während diese organisatorische Hilfe den Oppositionsfraktionen weniger bzw. nicht zur Verfügung steht.
1. Kap.: Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland
111
Bewältigung sind Fragen an die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Verwaltung zu stellen. Diese richten sich weniger an den technisch-administrativen Zweig der Parlamentsverwaltung als vielmehr an die wissenschaftlichen Dienste der zweiten Hauptabteilung (zur Struktur § 10, VIII.). Hier ist von folgender Bestandsaufnahme auszugehen: Fortschreitende Arbeitsteilung und Spezialisierung der parlamentarischen Arbeit - fraktionsintern wie in den Ausschüssen - belasten die Abgeordneten zunehmend mit Problemen der Informationsgewinnung und -auswahl wie ihrer politischen Bewertung und parlamentarischen Umsetzung (Schäfer: 4 1982, S. 298ff.; Kißler: 1989, S. 1018f.; Backhaus-Maul: 1990). Es liegt nahe, daß neben den Fraktionsstäben und den persönlichen Abgeordneten-Mitarbeitern zunächst die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages gefordert sind, wichtige politische Fragenkomplexe und Problemkreise parlamentsgerecht aufzuarbeiten und in den Bundestag zu vermitteln. Die Leistungsfähigkeit der Wissenschaftlichen Dienste wird in Hinblick auf die skizzierten Anforderungen größtenteils kritisch bewertet und eine organisatorische Reform oder ein weiterer Ausbau ihrer Kapazitäten gefordert (so Schäfer: 1980, S. 15ff.; Zeh: 1983, S. 284; Backhaus-Maul: 1990, S. 49ff.; optimistischer nuanciert Schindler: 1989, S. 855ff.). Im Rahmen von Überlegungen zum Umgang mit Problemherausforderungen, welche sich aus dem Fortschritt der Technik und den Technikfolgen für die parlamentarische Arbeit ergeben, kam ein vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebenes Gutachten bereits 1986 zu folgender Bestandsaufnahme (Paschen: 1986, S. 45f.): Die Informationsbeschaffung und -Verarbeitung in wissenschaftlichtechnischen Fragen „...wäre Aufgabe der parlamentarischen Infrastruktur, d.h. im wesentlichen der wissenschaftlichen Dienste, der Hilfsdienste der Fraktionen und der persönlichen Stäbe der Abgeordneten. Beim gegenwärtigen Stand der personellen und finanziellen Ausstattung (besser:,Unterausstattung' - jedenfalls im wissenschaftlich-technischen Bereich) dieser Dienste und Stäbe ist jedoch auszuschließen, daß die parlamentarische Infrastruktur diese Aufgabe ... erfüllen kann"; dies umso weniger, als die gegenwärtigen Problemherausforderungen an die parlamentarische Steuerungsfähigkeit ein Höchstmaß an Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Technik und Parlament voraussetzen. Doch „stellt die unzureichende Ausstattung der Infrastruktur des Bundestages, die eine systematische Organisation und Unterstützung solcher Interaktionsprozesse ausschließt, ein zentrales Hindernis" (Paschen: 1986, S. 46) für eine angemessene Umsetzung dar. Zu dieser Bestandsaufnahme hat die innere Ordnung vornehmlich der Wissenschaftlichen Dienste selbst beigetragen: Sie können sowohl aufgrund ihrer materiell und personell begrenzten Ausstattung wie ihrer hauptsächlich dokumentarischen Arbeitsweise, als auch wegen ihrer geringen Innovations- und Reformierungsmöglichkeiten den genannten Anforderungen zur Zeit nicht angemessen nachkommen (näheres Backhaus-Maul: 1990, S. 33ff.). Die Leistungsfähigkeit der Wissenschaftlichen Dienste stößt in Hinblick auf die Organisation und verfahrensvorbereitende Bewältigung der Parlamentsarbeit dort an ihre Grenzen, wo das Parlament als Herzstück des bundesdeutschen Regierungssystems angesichts der modernen, vordringlich mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt einhergehenden Probleme besonderer Steuerungspotentiale bedürfte.
2. Kapitel: Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland Klaus Grimmer
§ 6 Verfassungsrechtliche Grundlagen I. Funktion der Verfassung
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II. Volkssouveränität
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III. Grundrechte, Sozialstaat, Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen 1. Grundrechte als Freiheitsrechte 2. Grundrechte als Öffentlichkeitsrechte 3. Sozialbindung des Eigentums 4. Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot 5. Grundrechte als Teilhaberechte und das Sozialstaatsprinzip 6. Grundrechte, Grundpflichten und die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers 7. Legitimationsfunktion der Grundrechte und ihr Wertgehalt
118 119 119 120 120 121 122 123
IV. Republik und Demokratie 1. Republik 2. Demokratie a) Demokratieprinzip als Formprinzip b) Demokratie und Grundrechte c) Mehrheitsprinzip und Konsensprinzip
124 124 124 125 125 126
V. 1. 2. 3. 4.
127 127 129 130 131
Institutionelle Differenzierung Gewaltenteilung Föderaler Bundesstaat Bundespräsident Organe der Rechtsprechung
VI. Rechtsstaat 1. Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns 2. Verfassungswirksamkeit und Bundesverfassungsgericht 3. Verfassungsgarantie 4. Notstandsverfassung
132 132 132 133 133
VII. Systembildende und systemstabilisierende Funktion von Verfassungsnormen
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§ 7 Staatsaufgaben und Finanzverfassung I. Staatszweck und Staatsaufgaben 1. Verfassungsrechtlicher Rahmen
136 137
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2. Kap.: Grundzüge des politischen Systems
2. Grundrechtliche Bindungen 3. Neue Staatsaufgaben und begrenzte Handlungsmöglichkeiten
139 140
II. Finanzverfassung 1. „Magie" staatlicher Finanzpolitik 2. Neue Staatsaufgaben-alte Haushaltsbindungen
141 141 142
§ 8 Parlamentarisches Regierungssystem I. Parlament, Regierung und Verwaltung 1. Parlament a) Stellung der Abgeordneten b) Wahlsystem c) Wahlberechtigung-Wer ist das Volk d) Repräsentativprinzip e) Gemeinwohlbindung des einzelnen Abgeordneten 2. Regierung a) „Kanzlerdemokratie" b) Regierungsfunktion 3. Verwaltung a) Struktur des Verwaltungssystems b) Funktion öffentlicher Verwaltungen c) Verwaltungsverfahren
144 144 144 145 146 146 148 148 148 149 150 150 150 151
II. Mediatisierung politischer Meinungs-und Willensbildung 1. Politische Parteien 2. Verbände und andere Interessensorganisationen
152 152 154
III. Politische Öffentlichkeit 1. Institutionalisierte Formen der Rückbindung 2. Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, politische Demonstrationen 3. Außerparlamentarische Opposition, ziviler Ungehorsam, Widerstandsrecht
156 157
IV. Verfassungssystem und parlamentarische Demokratie 1. Spannungsverhältnisse 2. Aufgabenkomplexität und Politikverflechtung: Neue Anforderungen an den demokratischen Parlamentarismus . . . . 3. Politische Steuerung oder Regieren 4. Staat und politische Kultur
158 159 159 160 161 163 164
2. Kap.: Grundzüge des politischen Systems
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§ 6 Verfassungsrechtliche Grundlagen Klaus Grimmer* I. Funktion der Verfassung. - II. Volkssouveränität. - III. Grundrechte, Sozialstaat, Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen. - IV. Republik und Demokratie - V. Institutionelle Differenzierung. - VI. Rechtsstaat. - VII. Systembildende und systemstabilisierende Funktion von Verfassungsnormen. Grundlagenliteratur Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1991): Staat, Verfassung, Demokratie: Frankfurt/M. Bohret, Carl /Jann, Werner / Kronenwett, Eva (31988): Innenpolitik und politische Theorie. Opladen. Gauchet, Marcel (1991): Die Erklärung der Menschenrechte. Reinbek. Grimm, Dieter (1991): Die Zukunft der Verfassung. Frankfurt/M. Grimmer, Klaus (1980): Demokratie und Grundrechte. Elemente zu einer Theorie des Grundgesetzes. Berlin. Hesse, Konrad (171990): Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg. Mayer-Tasch, Peter Cornelius (1991): Politische Theorie des Verfassungsstaates. München. Sartori, Giovanni (1987, dt. 1992): Demokratische Theorie. Darmstadt. Stein, Ekkehart (121991): Staatsrecht. Tübingen, siehe auch Hilfsmittel Teil A, I., 2.
I. Funktion der Verfassung Die politische Grundordnung eines Staates findet ihren Ausdruck in der Verfassung. Neuzeitliche Verfassungsordnungen sind das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen. Ihre Grundlagen wurden für die westlichen Demokratien vor allem in den verfassungspolitischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts gelegt. Diese gingen von England, den Staaten der nordamerikanischen Union und Frankreich aus und wirkten auf ganz Kontinentaleuropa. Kennzeichen der verfassungspolitischen Bewegungen sind die Ausbildung der Volkssouveränität zunächst nur in Form ständischer oder parlamentarischer Mitbestimmungsrechte des besitzenden Bürgertums - , die Anerkennung allgmeiner Bürgerrechte und * Für die Unterstützung bei der Sichtung von Literatur und Rechtsprechung und für kritische Diskussion der Texte danke ich Thomas Kneissler M. A. (§§ 6-8); die Texte wurden von Brigitte Karch und Waltraud Pinkvohs niedergeschrieben. Die Literaturanmerkungen in den Texten haben neben der Zitatfunktion eine Hinweisfunktion auf ergänzende, auch kontroverse Veröffentlichungen. Aufgrund der gegebenen drucktechnischen Bedingungen konnten nur solche Kurzhinweise aufgenommen werden.
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2. Kap.: Grundzüge des politischen Systems
eine Verrechtlichung des Verhältnisses Staat zu Bürger bis zur gerichtlichen Überprüfbarkeit staatlichen Handelns. Ihrer Funktion nach zielen Verfassungsordnungen auf die Konstitution der Staatsgewalt und ihre Bindungen durch Festlegung von Verfahren der Herrschaftsausübung, wie Bildung von Regierungen, Gesetzgebung und Ausführung von Gesetzen, die judizielle Kontrolle der Staatsgewalt sowie die Bestimmung des rechtlichen und damit auch des politisch-gesellschaftlichen Status einzelner oder gesellschaftlicher Vereinigungen im und gegenüber dem Staat (Böckenförde: 1983a; Grimm: 1990; Vorländer: 1981; Friedrich: 1978). Die Verfassung hat somit eine Einigungsfunktion: In der Anerkennung einer Verfassung wird eine Menge von Menschen zu einer staatlich verfaßten Gesellschaft. Sie hat auch eine Rechtsfertigungsfunktion: Staatliche Herrschaft und Macht sind nur gerechtfertigt, soweit sie ihre Grundlage in der Verfassung haben; die Verfassung begründet die Legitimität staatlicher Herrschaft, die in der Verfassung vorgeschriebenen Verfahren zur Ordnung des Gemeinwesens vermitteln deren Legalität (Schmitt: 1932/21968; Czybulka: 1989, S. 51ff.). Die Verfassung hat schließlich eine Schutzfunktion: Die Statuierung von Grundrechten und Verfahrensbestimmungen sichern den Freiheitsbereich des einzelnen und seine Beteiligung an der staatlichen Willensbildung. Die Verfassung hat so insgesamt für ein Gemeinwesen eine Ordnungsfunktion: Grundrechte, Kompetenzbestimmungen für staatliche Organe und Verfahrensregeln bestimmen die Grundlagen der staatlichen Ordnung. Unterschiede im Staatsverständnis sind für die Funktion einer Verfassung von zentraler Bedeutung. Während in den angloamerikanischen Ländern, aber auch in Frankreich der Staatsbegriff gegenüber dem Nationenbegriff keine besondere Ausprägung erfährt - er ist hier reduziert auf einen personell und räumlich begrenzten Ort politisch-gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, innerhalb dessen die jeweils vorherrschenden Interessen ihren Ausdruck im Government (Regierungsgewalt) finden - , trat in Deutschland im 19. Jahrhundert anstelle des Fürstenstaates der Staat als juristische Person, gegliedert in unterschiedliche Organe und Organvertreter. D e r Staat wird zu einer eigenständigen politisch-sozialen und ethischen Kategorie. Hier ist eine Trennung von Staat und Gesellschaft latent wirksam. Grundlagen gegenwärtiger Verfassungsordnungen westlicher Demokratien, in deren Zusammenhang das Grundgesetz und das parlamentarische Regierungssystem der Bundesreprublik Deutschland stehen (Grimm: 1989; Häberle: 1990; Schenke: 1989; Vorländer: 1989), sind die Prinzipien der Volkssouveränität, die Verbindlichkeit von Grundrechten (Menschenrechten, Freiheitsrechten), das Demokratie- und Mehrheitsprinzip sowie die institutionelle Differenzierung staatlicher Herrschaft (Gewaltenteilung) und die Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns (Rechtsstaatsprinzip) (Baruzzi: 1990; Leibholz: 3 1967; Saladin: 1984; s.a. § 1). Damit sind gleichzeitig die verfassungsstrukturellen Vorgaben für das politische System der Bundesrepublik Deutschland bezeichnet. Sie sind im folgenden unter Bezugnahme auf das Grundgesetz näher zu erläutern, wobei in der thematischen Anordnung der Ausführungen der Zusammenhang zwischen den Strukturprinzipien zum Ausdruck kommen soll.
2. Kap.: Grundzüge des politischen Systems
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II. Volkssouveränität In der Herausbildung des bürgerlichen Staates waren es die Ideen der Freiheit, Vernunft und der in der Natur der Menschen begründeten Gleichheit der Person, die die Idee der Volkssouveränität und den Anspruch auf parlamentarische Mitbestimmung durch das „Volk", das hieß zunächst durch das Bürgertum, begründeten und legitimierten (Schneider, H.-P.: 1989b; Kurz: 1970; parlamentsgeschichtlich § 2). Ähnlich der Weimarer Verfassung stellt die Präambel des Grundgesetzes fest, daß „sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" hat (Roellecke: 1992). In der Verfassungsgebung konstituiert sich das Volk rechtlich als Staat und begründet seine staatliche Einheit. Es normiert die Art und Weise, in der Volkssouveränität als politisch-gesellschaftlicher Prozeß wirksam sein und sich in konkrete politische Ordnung umsetzen kann. Die Volkssouveränität erschöpft sich nicht im Akt der Verfassungsgebung. Auch in der mit der Verfassung konstituierten politischen Ordnung bleibt die Staatsgewalt beim Volk (Art. 20 Abs. 2 GG; dazu § 1 II.). Die Staatsbürger unterscheiden sich in ihren Anliegen, Interessen und Bedürfnissen. Zur Entscheidungsfindung über die konkrete politische Ordnung bedarf es der Organisation, zur Einheitsbildung der organisierten Setzung von Recht. Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität meint in seiner allgemeinen Bedeutung das Recht des Staatsvolkes, sich eine politisch-rechtliche Ordnung zu geben, und beinhaltet die fortwirkende Kompetenz zur Ausgestaltung dieser Ordnung, insbesondere mittels Organen der gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 2 GG). Als Mittler in der politischen Willensbildung und zur Bündelung unterschiedlicher Interessen wirken politische Parteien, deren Gründung und Wirken verfassungsrechtlich gewährleistet ist (Art. 21 GG). Dem Verfassungsrechtler K. Hesse ist zuzustimmen, daß sich in der Ausübung von Volkssouveränität als einem Prozeß individueller Willensmanifestationen die Allgemeinheit und Öffentlichkeit staatlich-gesellschaftlicher Beziehungen konstituiert. Der Satz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, fingiert nicht eine Willenseinheit des Volkes, „sondern er setzt jene Vielfalt und Gegensätzlichkeit voraus, die stets erneut die Herstellung politischer Einheit als Bedingung der Entstehung und des Wirkens staatlicher Gewalt notwendig macht. Der politische Prozeß, in dem dies geschieht, soll nach Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG als ein freier und offener Prozeß die Sache des ganzen Volkes sein, nicht einer staatstragenden Schicht, mag sie die Mehrheit oder nur eine Minderheit des Volkes umfassen: Alle Angehörigen des Volkes sind politisch gleichberechtigt; alle sollen die real gleiche Chance haben, sich in organisiertem Zusammenwirken nach den Regeln der Verfassung durchzusetzen und, wenn ihnen dies gelingt, in Parlament und Regierung staatliche Gewalt ausüben" (Hesse, K.: 171990, S. 53). Volkssouveränität wird vom Grundgesetz nicht nur als fiktive Legitimationsform in Anspruch genommen. Volkssouveränität als Verfassungsprinzip beinhaltet das Recht des einzelnen Staatsbürgers zur souveränen Mitgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung. Diese Rechtsstellung kann von keinem Staatsorgan absorbiert werden. Die bindende Kraft der Grundrechte gegenüber Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht und die Unabänderlichkeit der in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Vefassungsgrundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG) sind Inhalt und Gewährleistung dieser Ordnung.
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2. Kap. : Grundzüge des politischen Systems
Das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität hat eine deklaratorische und eine normative Bedeutung: Es kennzeichnet die Volkssouveränität als legitimatorische Grundlage der Verfassungsordnung der konkreten Staatsordnung. Es bindet die Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnisse staatlicher Organe an die verfassungsmäßige Willensmanifestation des Volkes. Es gewährleistet für den aktiven Bürger ein gleiches Recht auf Mitbestimmung über die konkrete politisch-gesellschaftliche Staatsordnung. Auch wenn die individuelle Ausübung von Volkssouveränität vorrangig in Wahlen geschieht, reduziert sich das mit dem Prinzip der Volkssouveränität verbundene Mitwirkungsrecht nicht nur auf ein formal gleiches Wahlrecht. Das formal gleiche Wahlrecht ist vielmehr selbst Ausdruck eines allgemeinen, gleichen Mitwirkungsrechtes, welches das Recht zur freien Bildung von politischen Parteien und Verbänden, zur Teilnahme an der öffentlichen Diskussion über die konkrete Ausgestaltung der Verfassungsordnung und das Recht zur Teilnahme an der politischen Willensbildung beinhaltet (BVerfGE 69,315 (342ff.); näheres § 31.). Das Grundgesetz kennt keine eigene Staatssouveränität neben oder unabhängig von der Volkssouveränität. Aus Art. 20 Abs. 2 GG leitet sich keine ursprüngliche Herrschaftsgewalt des Staates ab. Die Staatsgewalt ist in der Volkssouveränität legitimiert und wird durch die Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt (BVerfGE 49, 89 (124f.); 68, 1 (89); weiteres § 1 II.). Die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität Deutschlands nach 1945 ist eingebunden in den Prozeß der europäischen Einigung (Fiedler: 1991).
III. Grundrechte, Sozialstaat, Erhaltung natürlicher Lebensgrundlagen Im Unterschied zur Weimarer Verfassung stehen die Grundrechte im ersten Teil des Grundgesetzes, vor den verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Organisation staatlicher Willens- und Entscheidungsbildung, zur Kompetenz staatlicher Organe sowie den finanz- und haushaltsmäßigen Grundlagen staatlichen Handelns. Bereits diese Textanordnung zeigt, daß die Grundrechte nach dem Grundgesetz nicht als staatlich gewährte, sondern als staatlich zu gewährleistende Rechte zu verstehen sind. Als inhaltliche Bestimmungen der politisch-gesellschaftlichen Ordnung materialisieren die Grundrechte die individuelle Rechtsstellung im und gegenüber dem Staat, die sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität ergibt, und binden staatliche Herrschaftsmacht (Art. 1 Abs. 3 GG). Die Grundrechte vermitteln Freiheits- (und Teilhabe) anspräche im und gegenüber dem Staat; sie sichern den politischen Status des einzelnen und schützen Minderheiten. Verfassungshistorisch begründet als Bindung der Staatssouveränität und Staatsgewalt, beinhalten Grundrechte heute eine Selbstbindung des Volkes auf ein Normprogramm, das in der Realisierung konkreter politischer Ordnung durchzuhalten ist (Art. 1 GG, Art. 20 Abs. 3 GG; s.a. § 11.). Schutz der Menschenwürde, freie Entfaltung der Person, Gleichberechtigung von Mann und Frau und Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, Eigentumsgarantie sind so eigenständige Rechtsgarantien gegenüber der „Staatsgewalt", ohne daß damit immer der konkrete Inhalt und
2. Kap. : Grundzüge des politischen Systems
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Umfang der zu gewährleistenden Freiheiten und des zu garantierenden Eigentums im Einzelfall bestimmt sind. Gestaltung und Entwicklung politischer Ordnung unterliegen parlamentarischer Entscheidung; sie bewegen sich vielfach im Normbereich von Grundrechten. U m die Offenheit und Entscheidungsfähigkeit einer staatlich verfaßten Gesellschaft zu ermöglichen, ist deshalb vielen Grundrechten ein Regelungsvorbehalt oder eine Regelungsermächtigung, das heißt die Erlaubnis zu ihrer gesetzgeberischen Ausfüllung beigegeben. „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden" (Art. 19 Abs. 2 GG). Im Streitfall entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Grundrechte sind Freiheitsrechte und Sozialrechte (Alexy: 1985; Häberle: 3 1983; Grimmer: 1980, S. 253ff.). Die Grundrechte zielen auf eine die unterschiedlichen Bereiche privaten, sozialen und öffentlichen Lebens umfassende Ordnung. Die Grundrechte sind unterschiedlich staatsbezogen: Während einige Grundrechte nur für Deutsche gelten, z.B. Art. 8 und Art. 9 GG, gelten andere für jeden im Geltungsbereich des Grundgesetzes. 1. Grundrechte als Freiheitsrechte Den Schutz persönlicher Freiheit und Integrität und die freie Entfaltung der Person gewährleisten das sogenannte allgemeine Freiheits- und Persönlichkeitsgrundrecht des Art. 2 G G (BVerfGE 4,7; 34,238; 39,1). Ihnen dient auch Art. 5 G G mit der Garantie der Informationsfreiheit und das vom BVerfG festgestellte Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE 65, 1), die Meinungsund Pressefreiheit (BVerfGE 7, 198) und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft sowie das Recht auf Freiheit der Berufswahl - was auch Freiheit der Studienwahl beinhaltet - in Art. 12 G G (BVerfGE 7,377 (401)) sowie die Freizügigkeit, das heißt die freie Wahl des ständigen Aufenthaltes (Art. 11 G G ) . Art. 2 Abs. 1 G G gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes auch auf wirtschaftlichem Gebiet (BVerfGE 4 , 7 (16); 12,341 (347f.)). Gleichzeitig hat das Gericht aber festgestellt, daß das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral ist (BVerfGE 4 , 7 (18)), das heißt, daß jede Wirtschaftsordnung mit dem Grundgesetz vereinbar ist, in der die Grundrechte Geltung haben. Ein zweiter Lebensbereich, der unter grundrechtlichem Schutz steht, ist der Privatbereich. Geschützt sind die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sowie die Gewissensfreiheit (Art. 4 G G , B V e r f G E 12,45; 52,223; zur Stellung von Religionsgesellschaften Art. 140 G G i.V. mit Art. 136-139,141WV), das Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 G G ) und die Wohnung (Art. 13 G G , nach Ansicht des BVerfG gilt diese Bestimmung auch für Geschäftsräume (BVerfGE 32, 54 (69ff.)).
2. Grundrechte als Öffentlichkeitsrechte Die soziale Verflechtung individueller Lebensformen und die freie Mitgestaltung von Öffentlichkeit als Bedingung eines freiheitlichen Staates sind ebenfalls durch das Grundrecht auf Meinungs- und Pressefreiheit (BVerfGE 52, 283), die Kommunikationsfreiheit (Tettinger: 1990) sowie durch die verfassungsrechtliche Ge-
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2. Kap.: Grundzüge des politischen Systems
währleistung der Versammlungsfreiheit (Art. 8 G G , zur Demonstrationsfreiheit B V e r f G E 69,315) und der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 G G ) geschützt. Art. 9 Abs. 3 G G anerkennt neben dem Recht auf Bildung von Vereinigungen zur Wahrnehmung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auch deren Recht, diesen Bereich eigenverantwortlich zu gestalten (Koalitionsfreiheit: B V e r f G E 58,233 (246ff.)). Staatliche Organe werden dadurch entlastet, einen sozial konflikthaltigen Bereich unmittelbar selbst zu regeln. Diese Bestimmung ist so Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, wonach größere soziale oder politische Einheiten nicht regeln sollen, was kleinere, ihnen nachgeordnete Einheiten selbständig gestalten können.
3. Sozialbindung des Eigentums Eigentum bedeutet nicht nur die Möglichkeit der individuellen Verfügung über Sach- oder Geldwerte. Mit Eigentum kann sich soziale Herrschaft verbinden, sei es im Verhältnis von Eigentümern an Gewerbe- oder Dienstleistungsbetrieben zu in diesen Betrieben „abhängig" Beschäftigten, sei es als Mittel zur Einflußnahme auf individuelles, öffentliches oder staatliches Meinen und Handeln. Das Grundgesetz gewährleistet Privateigentum und eigentumsgleiche Ansprüche (z.B. Versorgungsansprüche) und das Erbrecht als materielle Bedingungen individueller Freiheit (BVerfGE 31, 229 (239)). Es verpflichtet den Eigentumsgebrauch dem Wohle der Allgemeinheit (Art. 14 Abs. 2 G G ) . Es gestattet zum Wohle der Allgemeinheit die Enteignung und erlaubt die Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln (Art. 14 Abs. 3 und Art. 15 G G ) . Die Sozialbindung des Eigentums steht im Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip. Sie zielt auf einen Ausgleich von verfassungsrechtlich garantierter Freiheit und dem Gebot einer sozial gerechten Eigentumsordnung (BVerfGE 37,132 (140f.)). Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes umfaßt nach dem Bundesverfassungsgericht die Privatnützigkeit des Eigentums und die grundsätzliche Verfügungsfreiheit über das Eigentumsobjekt. Ihr steht jedenfalls eine unterparitätische Mitbestimmung der Arbeitnehmervertretungen entsprechend der Regelungen im Mitbestimmungsgesetz von 1976 nicht entgegen (BVerfGE 50,290) (Rittstieg: 1975).
4. Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot Für das Verhältnis Staat zu Bürger und die Ausgestaltung der sozialen Ordnung ist das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG von hoher Bedeutung. Dieses statuiert die Gleichberechtigung von Mann und Frau und verbietet eine Benachteiligung wegen des Geschlechtes, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat und Herkunft oder der religiösen und politischen Weltanschauung. Es bestimmt die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und dies in einem doppelten Sinne: Ein Gesetz ist gegen jeden in gleicher Weise anzuwenden und in der Gesetzgebung sind aufgrund der staatsbürgerlichen Gleichheit alle gleich zu behandeln, das heißt staatliches Handeln darf nicht willkürlich differenzieren (BVerfGE 17, 199; 25, 101 (108ff.); 58, 163). Art. 3 G G meint aber auch: Staatliches Handeln hat die verfassungsrechtliche Gleichheit herzustellen, soweit hierfür eine Kom-
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petenz gegeben ist. Das Grundgesetz gewährleistet damit nicht nur eine formelle Gleichheit aller Staatsbürger, sondern postuliert auch die materiale Gleichheit. Das Gleichheitsgebot als Diskriminierungsverbot beinhaltet beispielswiese auch das Gebot einer Gleichbehandlung von Mann und Frau im Arbeitsverhältnis (BAGE 1, 258; BVerfGE 43, 213 (228ff.)) oder eine Gleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten hinsichtlich der gesetzlichen Kündigungsfristen (BVerfGE 82, 126) ebenso wie das Gebot gleicher Bildungschancen (BVerfGE 34,165 (181ff.); Hesse, K.: 1984). In enger Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 GG stehen die Bestimmungen des Art. 33 Abs. 1-3 GG: gleiche staatsbürgerliche Rechte und Pflichten für jeden Deutschen in jedem Bundesland und gleicher Zugang zu jedem öffentlichen Amt entsprechend der erforderlichen Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung.
5. Grundrechte als Teilhaberechte und das Sozialstaatsprinzip Grundrechte beinhalten Verpflichtungen für staatliche Organe, eine grundgesetzgemäße freiheitliche und im Blick auf die Gemeinwohlbindung des Eigentums und das Sozialstaatsprinzip auch soziale Ordnung herzustellen und zu gewährleisten. Insofern vermitteln Grundrechte auch Teilhaberechte und Leistungsansprüche gegenüber dem Staat. Diese Funktion der Grundrechte (BVerfGE 33,303 (330ff.)) wird oft nicht genügend anerkannt (Arndt, C.: 1990; Martens: 1972; Häberle: 1972). Der durch die Grundrechte vermittelte Freiheits- und Gleichheitsanspruch läuft aber weitgehend ins Leere, wenn die Grundrechte nicht auch als Verpflichtung des Staates zur Sicherung der ideellen und materiellen Bedingungen von Menschenwürde und sozial gebundener Freiheit verstanden werden. Dies kann die Bereitstellung bestimmter Leistungen (Bildungseinrichtungen), Informations- und Aufklärungspflichten (Folgen des Rauchens oder des Drogenkonsums, Wirkung von Jugendsekten), aber auch den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen beinhalten. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist als Bedingung und Möglichkeit für Menschenwürde, freie Entfaltung der Person, körperliche Unversehrtheit und Offenheit der Verfassungsordnung (BVerfGE 53, 30 (51, 57ff.)) zu verstehen und liegt damit im Gewährleistungsbereich der Grundrechte. Eine solche Schutzpflicht des Staates gegenüber möglichen Wirkungen neuer Technologien wie in der Gentechnik ist für die Gewährleistung des Normgehaltes der Grundrechte wichtig (Preu: 1991; konkret § 18, II.). Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1,28 Abs. 1 GG) ist eine Grundsatznorm und Gesetzgebungsdirektive für den Staat, nicht nur ein menschenwürdiges Existenzminimum für den einzelnen zu sichern, sondern soziale Gerechtigkeit herzustellen (BVerfGE 5,85 (198); 22,180 (204); 65,182 (193f.)). In ihm kommt der soziale Bezug der Grundrechte zum Ausdruck (erläuternd § 1, I.). In der Gegenwart wird die Verpflichtung des Staates zur sozialen Sicherung in einer neuen Dimension - wenn auch nicht unwidersprochen - gesehen: Nicht nur soziale Sicherung gegenüber den Gefährdungen, die sich mit bestimmten Ar-
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beits- und Produktionsverhältnissen verbinden, durch Ausgestaltung der Gesellschaftsordnung zu einer sozialen Solidargemeinschaft, sondern auch ihre Erweiterung zu einer „sozialen Gefahrengemeinschaft" gegenüber Gefahren im Gefolge neuer Technologien (Preuß: 1989; Hesse, H. A.: 1991; ausführlich §§ 16-20). In der Literatur wird ein Widerspruch zwischen Sozialstaat - staatlicher Eingriff in die Freiheit des einzelnen - und Rechtsstaat - gesetzliche Gewährleistung der Freiheit - diskutiert. Eine so angenommene Dissonanz zwischen Sozialstaatsprinzip und Rechtsstaatsprinzip verkennt, daß staatliche Freiheitssicherung immer ein dialektischer Prozeß aus Freiheitsvermittlung und Freiheitsgewährleistung ist (Hartwich: 1970; Ridder: 1975; Scheuner: 1971; Schneider, H. P.: 1979; Forsthoff: 1968).
6. Grundrechte, Grundpflichten und die Gestaltungsmacht des Gesetzgebers In der Verfassungsordnung des Grundgesetzes verbinden sich Grundrechte auch mit Grundpflichten des Bürgers (Saladin: 1984, S. 212ff.). Eine Grundpflicht enthalten nicht nur das Gegenseitigkeitsprinzip der gleichen Freiheit aller (Art. 2 Abs. 1,3 Abs. 1 GG) oder die Gemeinwohlbindung des Eigentums und die Duldungspflicht für Eingriffe in das Eigentum. Den Freiheitsrechten sind immanente Schranken eigen. Die Inanspruchnahme eines Grundrechtes darf nicht die Grundrechte anderer verletzen (Hesse, K.: 171990, S. 124; Schlink: 1984). Grundpflichten stellen auch die Erziehungspflicht der Eltern oder die Schulpflicht dar ebenso wie die Wehrpflicht beziehungsweise die Pflicht zur Ersatzdienstleistung. Auch die Pflicht zur Steuerzahlung kann als eine Grundpflicht angesehen werden. Grundpflichten können als „verfassungsrechtlich geforderte Pflichtbeiträge zum Gemeinwohl" (Götz: 1983) verstanden werden. Der verfassungsrechtliche Status von Grundpflichten und ihr Inhalt werden neuerdings stärker diskutiert (Götz: 1983; Luchterhand: 1988; s.a. § 11.). In dieser Diskussion zeigt sich ein Wandel des Grundrechtsverständnisses und des Verhältnisses Staat und Bürger. Nicht mehr nur Sicherung individueller Freiheit in und gegenüber dem Staat und staatliche Leistungspflichten sind Thema, sondern auch die Verpflichtung des einzelnen in einer freiheitlichen, staatlich verfaßten Gesellschaft zur Erhaltung der verfassungsrechtlichen Ordnung als Gemeinwohlordnung beizutragen. Grundpflichten des einzelnen stehen oft auch Gewährleistungspflichten des Staates gegenüber. So entspricht der Dienstpflicht in Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder der Verpflichtung zum Ersatzdienst eine Schutzpflicht des Staates, die vor allem in Art. 16 GG mit dem Verbot der Ausbürgerung und Auslieferung zum Ausdruck kommt. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht (BVerfGE 54, 341). Verfassungsrechtliche Garantien und verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates beinhalten auch die Bestimmungen des Art. 6 GG (Ehe, Familie, Mutterschutz, nichteheliche Kinder) und des Art. 7 GG (Schulwesen). Der Schulpflicht entspricht die Verpflichtung des Staates zur Bereitstellung eines entsprechenden Bildungsangebotes. Inhaltliche Bestimmungen über das Schulwesen enthalten vor allem die Länderverfassungen. Gewährleistungspflichten des Staates verbinden sich auch mit den sogenannten institutionellen Grundrechtsgarantien (Schmitt: 1931/21973; Schmidt-Jortzig: 1979): Einzelne Grundrechte gewähren nicht nur subjektive Rechtspositionen -
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auch für juristische Personen - gegenüber dem Staat, sondern ein bestimmter Sachbereich ist als solcher garantiert, z.B. die Ehe und die Familie oder das Eigentum (BVerfGE 20, 351 (355)). Der Sonntag ist vom Staat zu schützen. Einen solchen institutionellen Schutz genießen auch die Pressefreiheit und die Rundfunkfreiheit, die für die Freiheitlichkeit eines Gemeinwesens besonders wichtig sind (BVerfGE 12,205; 57,295). Im Hochschulbereich hat das BVerfG aus dem institutionellen Grundrechtsschutz der Wissenschaftsfreiheit auch organisatorische Folgerungen für die Universitäten abgeleitet (BVerfGE 35,79). Grundrechte bestimmten die Freiheitssphäre des einzelnen Bürgers und gewährleisten sie. Sie sind „Abwehrrechte", subjektive Rechte, um den möglichen Machtmißbrauch von Menschen gegenüber Menschen in der Demokratie und um mögliches Unrecht staatlicher Gewalt zu verhindern. Sie dienen dem Schutz der Minderheiten, da Demokratie Herrschaft der Mehrheit ist, durch die Verpflichtung staatlicher Organe zu entsprechendem Verhalten. Sie bestimmen die normative Grundordnung der staatlich verfaßten Gesellschaft und binden so die Macht des Gesetzgebers. Grundrechte setzen die staatliche Ordnung als eine rechtlich gebundene, als Rechtsordnung voraus (s.a. § 11.).
7. Legitimationsfunktion der Grundrechte und ihr Wertgehalt Die Grundrechte haben für das individuelle Leben und das Wirken freier gesellschaftlicher Vereinigungen in der Bundesrepublik ebenso wie für das Staatsverständnis hohe Bedeutung. Dies ist in ihrem Verständnis als Ausdruck einer objektiven Wertordnungn mitbegründet, wie es vom Bundesverfassungsgericht entwickelt wurde (BVerfGE 5, 85 (204); 6, 32 (40); 7,198 (205); 10, 59 (81); 21, 362 (372)). Grundrechte sind in diesem Verständnis Ausdruck einer allgemeinen Wertbindung der und in der staatlich verfaßten Gesellschaft (Alexy: 1990; Dürig: 1956; Smend: 1928/21968). Ihnen kommt auch ein objektiv rechtlicher Gehalt im Sinne von Normen zu, insoweit bestimmen sie die Rahmenordnung der Gesellschaft als staatlich verfaßte und sind Aufgabennormen für die Staatsgewalt (Bökkenförde: 1990; Grimm: 1988b). Die Geltung der Grundrechte bezieht sich zunächst auf den Staat und das durch den Staat gestaltete individuelle und gesellschaftliche Leben. Im Privatbereich werden sie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 7, 198 (204)) nur insofern wirksam, als staatliche Ordnung privater Lebensverhältnisse grundrechtskonform zu erfolgen hat. Die Ausfüllung offener Rechtsbestimmungen unterliegt dieser Bestimmung (Drittwirkung der Grundrechte). Die Grundrechte sind in ihrer sprachlichen Formulierung allgemein und abstrakt gefaßt. Sie sind zeitoffen. Hierin ist ihre Akzeptanz und Legitimationskraft begründet. Der normative Gehalt eines Grundrechtes ist nicht statisch. Wie sich der sprachliche Bedeutungsgehalt von Begriffen mit der Entwicklung einer Gesellschaft verändert, so ist auch der konkrete Gewährleistungs- oder Verpflichtungsanspruch eines Grundrechtes in den Zusammenhang der Entwicklung individueller und sozialer Lebenslagen gestellt. Es ist Sache der Grundrechtsinterpretation, den möglichen und notwendigen Bedeutungsgehalt in der Zeit zu ermitteln. Die Grundrechtsinterpretation und mit ihr verbundene Grundrechtstheorien wie die Werttheorie, die institutionelle Grundrechtstheorie oder die demokratische Grundrechtstheorie sind dabei an ein mehrfaches Vorverständnis gebunden: ein
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Vorverständnis vom Menschen, seinem Wesen, seiner Aufgabe in der Welt, ein Vorverständnis von Macht und Herrschaft, ihrer Notwendigkeit und ihrer Ausgestaltung für die Lebensfähigkeit einer Menge von Menschen als Staat und in einem Staat und damit auch von einem Vorverständnis von der Funktion der Grundrechte in einer demokratischen Ordnung (Böckenförde: 1974, 1990; Häberle: 1989; Karpen: 1987). Unterschiedliche politische Interessen können sich in der Interpretation eines Grundrechtes als verfassungsrechtlich zulässig oder geboten rechtfertigen. Die Macht zur verbindlichen Grundrechtsinterpretation ist deshalb immer auch politische Macht zur Bestimmung der zulässigen Grundrechtsordnung und damit zur Bestimmung der zulässigen politischen Gestaltung der Gesellschaft. Die Entscheidung hierüber trifft letztlich das Bundesverfassungsgericht.
IV. Republik und Demokratie 1. Republik Der Staat Deutschland ist eine Republik. Die Bezeichnung Bundesrepublik" in Art. 20 Abs. 1 GG kennzeichnet diese Staatsform, der auch die Bundesländer entsprechen müssen (Art. 28 Abs. 1 GG). Ein Merkmal dieser Staatsform ist ein Staatsoberhaupt, das frei gewählt wird und dessen Amtszeit befristet ist. Im Unterschied zum monarchischen Prinzip (vertiefend § 2) kennt das republikanische Prinzip keine Regierungsgewalt aus eigenem Recht. Die Kennzeichnung Deutschlands als Republik schließt eine monarchische Staatsform aus. In der verfassungspolitischen Tradition verbindet sich mit dem Begriff der Republik die Vorstellung, daß die Staatsangehörigen freie und gleiche Bürger sind, bestimmte republikanische Tugenden verfolgen, insbesondere ihr Handeln auf das Wohl des Gemeinwesens ausrichten. Insofern bezeichnet der Begriff nicht nur eine Staatsform. In ihm verbinden sich Form und Ethos. In der heutigen Verfassungspraxis ist der Begriffsgehalt stark auf die Kennzeichnung einer Staatsform reduziert (Isensee: 1981a). 2. Demokratie Der Begriff Demokratie ist im Grundgesetz so wenig definiert wie die Begriffe Rechtsstaat oder Sozialstaat. Im allgemeinen wird mit dem Begriff der Demokratie eine Form staatlicher Willens- und Entscheidungsbildung verbunden, die unmittelbar oder mittelbar durch das Volk legitimiert und kontrolliert ist. Zwischen dem Anspruch des Demokratieprinzips als Gestaltung der politischen Ordnung in der Zeit durch das Volk und seiner verfassungsrechtlichen Ausformung als Bindung dieser Gestaltungskompetenz für die Zukunft besteht ein Spannungsverhältnis (Badura: 1987; Böckenförde: 1987; Graf Kielmannsegg: 1988; Leibholz: 31967, S. 78ff., 142ff.; Hättich: 1966; Leisner: 1979; Mössle: 1986, S. 5ff.; vertiefend § 1 II.). Die Staatengeschichte der Neuzeit spiegelt unterschiedliche theoretische Konzeptionen von Demokratie wie den Kampf um sie wider (Böhret/Jann/Kronen-
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wett: 31988, S. 21 Iff.; Dahl: 1989; Hartwich: 1981; Kelsen: 1925; Macpherson: 1977; Wiesendahl: 1991;LuthardtAVaschkuhn: 1988, S.45ff.; Matz: 1973).
a) Demokratieprinzip als Formprinzip Verfassungsrechtliche Elemente des Demokratiebegriffes nach dem Grundgesetz sind zunächst jene Verfassungsbestimmungen, die die Konstitution der Organe der Gesetzgebung, die politische Kontrolle und die Regierungsbildung (Mehrheitsbindung, Vertrauensentzug) sowie die Verantwortlichkeit und Verfahren der verschiedenen staatlichen Organe regeln (umfassend § 1). Insbesondere handelt es sich um solche Vorschriften, die die Bestellung von Repräsentanten und Repräsentativorganen des Volkes und ihre Ausübung politischer Herrschaft bestimmen (s.a. § 3). Wesentlicher Bestandteil des Demokratiebegriffs wenn auch in der Regel nicht in Verfassungen ausdrücklich berücksichtigt - ist schließlich das Recht auf Bildung einer-parlamentarischen-Opposition (s.a. § 4 II.). Aber Demokratie ist mehr als eine Summe organisations- und verfahrensrechtlicher Regelungen. Demokratie meint die konkrete und differenzierte Zuordnung von Staat und Gesellschaft, die Form der Legitimationsbeschaffung, Rationalitätskontrolle und Funktionalitätssicherung für die Entscheidungen des politischadministrativen Systems.
b) Demokratie und Grundrechte Art. 18 GG stellt fest, daß Grundrechte, und zwar die Freiheit der Meinungsäußerung, die Presse-, Lehr-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht verwirkt werden können, wenn sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden. In der Konstitutivität dieser Grundrechte für eine freiheitliche demokratische Grundordnung wird beispielhaft deutlich, daß Demokratie einer freien politischen Öffentlichkeit und gleicher Mitwirkungschancen aller bedarf. Es ist Funktion der Grundrechte, die freiheitliche Struktur sozialer Beziehungen, und es ist ihre Funktion im Zusammenhang mit dem Prinzip der Volkssouveränität, für die Staatsbürger material gleiche Chancen bei der Mitbestimmung über die Gestaltung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung zu gewährleisten. Grundrechte sichern die materialen Bedingungen von Demokratie (weiterführend § 1). Formale Verfahrens- und Kompetenzelemente verbinden sich im Demokratieprinzip des Grundgesetzes mit materialen Elementen: Gewährleistung individueller oder freigesellschaftlicher organisierter Freiheit, Verfügungsmöglichkeit über freiheitsstiftende Mittel wie Besitz und Bildung, die Bindung solcher Verfügungsmöglichkeiten im Prinzip der Volkssouveränität an allgemeine und gleiche Chancen der Mitbestimmung der politischen Ordnung, Ausgestaltbarkeit der politisch-gesellschaftlichen Ordnung durch die jeweilige - parlamentarische Mehrheit, soweit eine Kompetenz für staatliche Organe gegeben ist. Demokratie als Staats- und Regierungsform bedarf soziokultureller Voraussetzungen wie einer „gewissen Emanzipationsstruktur der Gesellschaft" und einer
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„relativen Homogenität" innerhalb der Gesellschaft. Sie bedarf „geistig-bildungsmäßiger" und politisch-struktureller Voraussetzungen wie begrenzbare Interdependenz politischer Entscheidungen und die Steuerbarkeit gesellschaftlicher Teilsysteme durch politische Entscheidungen, und sie bedarf „ethischer Bindungen" (Böckenförde: 1987).
c) Mehrheitsprinzip und Konsensprinzip Die Staatsgewalt wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 GG; s.a. § 1 II., § 3). Gesetzgebung ist im Grundgesetz als repräsentativ-parlamentarisches Verfahren ausgestaltet (ausführlich § 11 II.) Verbindliche Rechtsetzung als Gesetzgebung kommt als Beschluß einer parlamentarischen Mehrheit zustande. Parlamentarische Mehrheiten können sich unmittelbar aus übereinstimmenden Entscheidungen einer Mehrheit von Abgeordneten ergeben, regelmäßig werden sie aber vermittels Parteien, der Bildung von Fraktionen und häufig auch durch eine Koalition zwischen Fraktionen organisiert (näheres § 4; § 10 VI.) Die Abgeordneten sind nicht an ein imperatives Mandat gebunden, sondern haben ein freies Mandat und genießen speziellen Rechtsschutz (Art. 38 Abs. 1,46 GG; dazu § 4; § 81.; § 10 VII.). Das Grundgesetz verlangt für Gesetzgebungs- und sonstige Beschlüsse im Bundestag in keinem Falle Einstimmigkeit, im allgemeinen genügt die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 42 Abs. 2 G G ; s.a. § 10 III.). Bei wichtigen Angelegenheiten ist eine - nach dem Gegenstand differenzierte - qualifizierte Mehrheit im Bundestag erforderlich, beispielsweise bei der Wahl des Bundeskanzlers, um einen Einspruch des Bundesrates zurückzuweisen, bei Abweichungen von der Geschäftsordnung des Bundestages oder bei Verfassungsänderungen, um die parlamentarische Legitimation und politische Akzeptanz solcher Entscheidungen zu erhöhen (s.a. § 9 V.; § 5 V.) Das Mehrheitsprinzip bedeutet, daß eine Mehrheit gewählter Repräsentanten die konkrete staatliche Ordnung und ihre Entwicklung im Rahmen der Verfassung bestimmen kann. Ausübung von Volkssouveränität als individuelle Akte kann eine konkrete politische Ordnung nur in einem repräsentativ-kollektiven Akt verbindlich setzen. Die in diesem Kollektivakt dargestellte Mehrheit braucht aufgrund von Regelungen des Wahlsystems (z.B. Verhältniswahl mit Spcrrklausel in der Bundesrepublik, Mehrheitswahl in Großbritannien) nicht die Mehrheit der wahlberechtigten Bürger zu sein (erläuternd § 3 II.). Das Mehrheitsprinzip ist allgemeiner Bestandteil demokratisch-parlamentarischer Verfahren. Es gilt auch, wenn die Staatsbürger mittels Volksbegehren oder Volksentscheid an der Bestimmung der politischen Ordnung unmittelbar mitwirken (Volksbegehren und Volksentscheid sind im Grundgesetz (Art. 29) nur für eine Neugliederung des Bundesgebietes vorgesehen; auch § 1 II.). Das Mehrheitsprinzip ist heute Bedingung der politischen Handlungsfähigkeit eines Volkes als demokratischer Staat. Das Mehrheitsprinzip gibt Veranlassung zur Bildung von Parteien, Fraktionen und Koalitionen. Es bewirkt so die Differenzierung politischer Interessen wie ihre Artikulation und Integration. Die Verfahren politischer Ordnung nach dem Grundgesetz und Grundwerte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde und Freiheit sind in ihrer Allgemeinheit weitgehend konsensfähig. Ihre Ausdeutung in konkrete Berechtigungen und Verpflich-
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tungen ist in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedlich. Die konkrete Ausformung solcher Grundwerte ist abhängig von der spezifischen sozialen Situation einzelner und der Interessenstruktur ihrer politischen Vereinigungen. Das verfassungsrechtliche Mehrheitsprinzip beinhaltet den Verzicht auf einen allgemeinen Konsens über die jeweils zeit- und situationsspezifische Bedeutung der verfassungsrechtlichen Grundwerte (näheres § 1 II.). Es geht von der Unentscheidbarkeit der Richtigkeitsfrage aus, setzt aber den Grundkonsens über die Verfassungsordnung, insbesondere über die Verfahren der Entscheidungsbildung voraus. Es legitimert sich in einer formalen Wahlgleichheit (Art-. 38 Abs. 1 GG) (Eschenburg: 1970; Varain: 1984; Scheuner: 1973; Steffani: 1986; vertiefend § 3 I.). Die Grundrechte begrenzen die Herrschaftsmacht der jeweiligen Mehrheit. Indem sie Freiheitsrechte und Teilhaberechte für einzelne und freigesellschaftliche Vereinigungen gewährleisten, schützen sie die Minderheit gegenüber der Mehrheit und erhalten für die Minderheit die politisch-sozialen Bedingungen, Mehrheit zu werden (Grimmer: 1980; Isensee: 1981b; Podlech: 1967; Schuppert: 1985). Die Begrenzung der Mehrheitsherrschaft durch die Freiheitsgewährleistung der Grundrechte wird heute oft nicht mehr als ausreichend angesehen. Das Mehrheitsprinzip setzt die Entscheidbarkeit politischer Problemstellungen voraus bei gleichzeitigem Erhalt der prinzipiellen Offenheit und Entwicklungsfähigkeit der politischen Ordnung. In dem Maß aber, in dem die Mehrheit Entscheidungen zu technischen oder sozialen Entwicklungen trifft, die langfristig in die Zukunft wirken oder die mit bekannt unbekannten hohen Risiken verbunden sind, bei denen es also kein gesichertes Wissen gibt, um die Rationalität der Entscheidung zu begründen, sind die Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips selbst in Frage gestellt. Es wird deshalb auch von einer „Tyrannei der Mehrheit" gesprochen und vorgeschlagen, in solchen Fragen Konsens herzustellen und soweit dies nicht möglich ist, von einer Nichtentscheidbarkeit auszugehen. Auf diese Weise könne Maßgeblichkeit und Vernünftigkeit der Willensbildung und Entscheidungsfindung aller Staatsbürger im Sinne des Prinzips der Volkssouveränität erhalten bleiben. Der demgegenüber geäußerte Einwand, das Konsensprinzip sei demokratiefeindlich und freiheitsfeindlich, trifft nicht zu, denn es geht letztlich um die Sicherung der Bedingungen von Volkssouveränität und Demokratie. Lösungsansätze könnten auch darin liegen, die Grundrechte entsprechend zu ergänzen oder zu konkretisieren und für bestimmte, mit hohen Risiken behaftete oder langfristig zukunftswirksame Entscheidungen höhere Beschlußquoren verfassungsrechtlich festzulegen (Abromeit: 1987; Eisel: 1986; Gusy: 1985; Offe: 1984, S. 150ff.; Hattenhauer/Kaltefleiter: 1986).
V. Institutionelle Differenzierung 1. Gewaltenteilung Das Mehrheitsprinzip beinhaltet Befugnisse, die funktional auf die Herstellung einer verbindlichen Ordnung bezogen sind und sich aus der Beherrschung von Institutionen herleiten, die spezifische Leistungen für den Staat erbringen. So beinhaltet es die Rechtsetzungsbefugnis, das heißt das Recht zur verbindlichen Setzung politischer Entscheidungen im Rahmen der Verfassungsordnung und die
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Kompetenz, mit der Wahl des Bundeskanzlers die Regierung zu bestimmen. Diese besitzt wiederum eine Organisationskompetenz für die Ausgestaltung des Verwaltungssystems, soweit es nicht der Gesetzgebung unterliegt, und eine Informationsgewalt (Presse und Informationsämter, polizeiliche Überwachung) sowie ein - häufig eingeschränktes - Verfügungsrecht über das Militär. Neben den dem Demokratieprinzip immanenten Beschränkungen der Mehrheitsherrschaft, wie sie sich vor allem aus den Grundrechten ergeben, sieht das Grundgesetz wie andere Verfassungen auch eine Begrenzung der Mehrheitsgewalt vor durch a) Verfahrens- und Beteiligungsregelungen (mehrstufige Gesetzgebungsverfahren, Bindung von Verordnungsrecht, Anhörungs- und Beratungsverfahren, Öffentlichkeit parlamentarischer Beratungen, Zustimmungsbedürftigkeit von Personalentscheidungen; b) Befristung und Rückbindung (Wahlfristen); c) Überprüfbarkeit von Herrschaftsakten durch Verfassungs- oder Staatsgerichtshöfe und andere Gerichte. Ebenso wichtig - und im politischen Alltag noch bedeutsamer - ist die Begrenzung der Mehrheitsherrschaft, die sich aus der institutionellen Differenzierung der Staatsgewalt ergibt, nicht nur in die „besonderen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" (Art. 20 Abs. 2 GG), sondern auch durch die Gliederung des Bundes in einzelne Länder (mit eigenen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen), also die Föderalstruktur der Bundesrepublik (dazu § 22), und durch die Gewährleistung des kommunalen Selbstverwaltungsrechtes (Art. 28 Abs. 2 GG; näheres § 21). Schließlich gibt es - wenn auch im Wege der Gesetzgebung geschaffen - eine Vielzahl von weiteren staatlichen Einrichtungen mit Selbstverwaltungskompetenz: die Körperschaften und selbständigen Anstalten des öffentlichen Rechts (Beispiele sind die Industrie- und Handelskammern, die Bundesbank, die Rundfunkanstalten oder die Universitäten u.a.). Dieser institutionellen Differenzierung entspricht eine funktionelle: Die verschiedenen Institutionen erbringen je spezifische Leistungen für den Bestand und die Entwicklungsfähigkeit des politischen Systems Deutschland. Im Vordergrund institutioneller Differenzierungen steht jene in Organe der Gesetzgebung und der vollziehenden Gewalt (Exekutive). Vollziehende Gewalt i.S. von Art. 20 Abs. 2 GG meint dabei nicht nur die Verwaltung, sondern auch die Regierungen (Bund und Länder), denen die organisationspolitische Verantwortung für die Ausführung der Parlamentsbeschlüsse zukommt. Damit sind natürlich die Aufgaben und Kompetenzen der Regierungen nicht hinreichend erfaßt. Sie wirken nicht nur bei der Gesetzesvorbereitung mit, sondern haben auch in der Staatsleitung eigene Kompetenzen (i.e. § 81.). Die Regierungen selbst bestehen aus einer großen Anzahl von Ministerien und ihren nachgeordneten Verwaltungsbehörden mit jeweils eigenen politischen Aufgaben und gesellschaftlichen Interessenbezügen. Zweck institutioneller Differenzierung ist die Ausbildung eines sich ergänzenden und kontrollierenden Systems von Gewaltenträgern und ihnen zurechenbare Verantwortungsbereiche für Zustand und Entwicklung einer staatlich verfaßten Gesellschaft. Sie gliedert den Staat entsprechend historischer und regionaler Gegebenheiten und ermöglicht eine interessennahe politische Entscheidungsfindung und einen aufgabennahen Vollzug (erläuternd § 1 III.). Die staatliche Integrationsfähigkeit für unterschiedliche individuelle und gesellschaftliche Interes-
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sen wird dadurch gestärkt. Gleichzeitig bewirkt die Ausbildung selbständiger Einheiten eine Entlastung der politischen Zentralgewalt von Steuerungs- und Kontrollaufgaben. Allerdings können sich infolge der institutionellen Differenzierung auch politische Verantwortungsbereiche verwischen. Ein Gesetzgebungsvorhaben der Bundesregierung kann beispielsweise am Widerstand der Bundesländer scheitern. Die Regierung kann aber auch im Bewußtsein der Folgen den Ländern einen Vorschlag unterbreiten, damit er an ihrem Widerstand scheitert. Ebenso kann die der parlamentarischen Zielsetzung nach unzureichende Realisierung eines Bundesgesetzes in nicht ausreichenden Vorkehrungen eines Bundesministers oder in ungeeigneten Maßnahmen einer Landesverwaltung begründet sein. In den selbständigen politischen Einheiten finden sich vergleichbare Raster politischer Interessenkonstellationen, die über die politischen Parteien hergestellt werden. Trotzdem entwickeln solche Einheiten auf Grund ihrer organisatorischen Selbständigkeit, ihrer Ausstattung mit eigenen Kompetenzen und ihrer spezifischen Umweltbezüge eine institutionelle Verfestigung. Sie bilden ein eigenes normatives Gepräge, eine eigene Befähigung zur Wahrnehmung „ihrer Probleme" und eigene Formen der Problembewältigung aus. Die Staatlichkeit der Bundesrepublik bildet sich so aus einer Vielzahl politischer Institutionen mit mehr oder weniger Herrschaftsmacht (Göhler/Schmalz-Bruns: 1988; Göhler: 1987; Hartwich: 1989). Diese können untereinander in vielfältiger Weise verflochten sein, sei es durch eine gemeinsame oder sich ergänzende Aufgaben Wahrnehmung, sei es durch eine teilweise personale Identität mit unterschiedlichen Rollenausprägungen. Bei der in Art. 20 Abs. 2 GG genannten Gewaltenteilung handelt es sich so um eine institutionelle Differenzierung der Staatsgewalt (Czybulka: 1989, S. lOOff.; von Unruh: 1990; Zippelius: 1989; Rausch: 1969; ausführlich §1 III.). 2. Föderaler Bundesstaat Art. 20 Abs. 1 GG bestimmt die Bundesrepublik Deutschland als einen Bundesstaat (Isensee: 1990; Mayntz: 1990; Schultze: 1990; Ziller: 71984; Klatt: 1982). Gemäß Art. 28 GG muß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundrechten und den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Die Ausübung staatlicher Befugnisse und die Erfüllung staatlicher Aufgaben ist Sache der Länder, soweit das Grundgesetz nicht andere Regelungen vorsieht oder zuläßt (Art. 30 GG). Dies gilt auch für die Gesetzgebungskompetenz (Art. 70 Abs. 1 GG). Die Länder wirken über den Bundesrat bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit (Art. 50 GG). Der Bundesrat (Wyduckel: 1989) bildet eine Art zweite Kammer, in der die Länder entsprechend ihrer Größe drei bis sechs Stimmen haben, die von jedem Land einheitlich abzugeben sind. Die Verwaltungshoheit, auch für die Ausführung der Bundesgesetze, liegt ebenfalls bei den Ländern (Art. 83-85, 108, 120 GG), soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Bund und Länder haben eigene Haushalte, sie haben die Ausgaben für ihre Aufgaben gesondert zu tragen (Art. 104a Abs. 1 GG; weiterführend § 22). Die Gemeinden sind im Grundgesetz als eigenständige Formen politischer Ordnung mit dem Recht der Selbstverwaltung anerkannt (Art. 28 Abs. 2 GG; ausführlich § 21).
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Der Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland entspricht politischer Tradition. In der deutschen Geschichte lag bis 1871 die Entwicklung des Parlamentarismus, die Ausprägung von Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit nahezu ausschließlich bei den Ländern. Auch danach hatten die Länder bis zu ihrer Suspendierung durch das nationalsozialistische Regime erhebliche politische Eigenverantwortung (auch § 2). Föderalismus bedeutet Machtteilung durch vertikale Gliederung des Staates in Einheiten mit je spezifischen sozioökonomischen und soziokulturellen Strukturen und „die interdependente Gleichzeitigkeit einer zentralen und einer regionalen Ebene" (Mayntz: 1990, S. 235). Das Grundgesetz gewährleistet vor allem die soziokulturelle Eigenständigkeit der Länder und verpflichtet den Bund gleichzeitig, im Bundesgebiet insgesamt für vergleichbare ökonomische Lebensverhältnisse zu sorgen. Auch wenn heute nicht nur im ökonomischen, sondern auch im kulturellen Bereich vereinheitlichende Tendenzen stark zugenommen haben und landsmannschaftliche Eigenarten oft überlagern (Abromeit: 1992; Schneider, H.-P.: 1991), vermittelt die Gliederung des Bundes in Länder den Staatsbürgern einfachere Identitätsbezüge und die Ausbildung von „Wir-Gefühlen" im einzelnen Bundesland. Dies kann die Bewältigung differenzierter sozialer und ökonomischer Probleme erleichtern. Nicht nur auf der bundesstaatlichen Ebene in Deutschland, sondern in Europa insgesamt, ist eine Tendenz zur Regionalisierung und Stärkung der Regionen festzustellen. Damit ergeben sich neue Differenzierungen in den Formen politischer Problembearbeitung. Der Förderalismus unterstützt die Ausbildung einer breiten politischen Elite. Er erfordert die Kooperation zwischen Regierungen und Verwaltungen unterschiedlicher parteipolitischer Ausrichtung und hat so auch eine einheitsstiftende Wirkung. Zudem erleichtert der Förderalismus die Problemwahrnehmung und verwaltungsmäßige Bearbeitung durch räumliche Strukturierung. In der Praxis kennzeichnet den Föderalismus eine Vielzahl von Verflechtungen zwischen Bund und Ländern und den Ländern untereinander. Die Inhalte der Politik werden in diesem Verflechtungsbereich vor allem von den Fachbürokratien bestimmt und realisieren sich in einer Grauzone von Staatsverträgen und Verwaltungsabkommen. Diskussionen um eine Reform der Föderalstruktur und der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern verliefen bislang im Sande, da die Länder eine breite Arena für die Selbstdarstellung politischer Akteure bieten.
3. Bundespräsident Der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung gewählt. Diese besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (Art. 54 GG). Die Befugnisse des Bundespräsidenten werden im Verhinderungsfall vom Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen (Art. 57 GG). Die staatsrechtlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten sind begrenzt. Das Grundgesetz will weder einen Bundespräsidenten als „Ersatzkaiser" noch einen Bundespräsidenten, der seiner wahlrechtlichen Legitimation nach mit dem Paria-
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ment konkurriert, wie es unter der Weimarer Verfassung der Fall war, als der Reichspräsident unmittelbar vom Volk gewählt wurde. Dem Bundespräsidenten obliegt die völkerrechtliche Vertretungsmacht in dem von der Regierung bestimmten Rahmen (Art. 59 GG). Er hat ein Prüfungsrecht bei der Ausfertigung von Gesetzen hinsichtlich ihrer Verfassungskonformität (Art. 82 GG; Epping: 1991). Inwieweit ihm ein solches „Prüfungsrecht" auch bei der Ernennung von Bundesministern (Art. 64 GG) zusteht, ist umstritten. Der Bundespräsident schlägt dem Bundestag einen Kandidaten für die Wahl zum Bundeskanzler vor, ohne den Bundestag an seinen Vorschlag binden zu können. Schließlich hat er eine „Reservefunktion" für den Fall, daß der Bundestag nicht in der Lage ist, seine Aufgabe zur Wahl eines Kanzlers oder zur Gesetzgebung wahrzunehmen - allerdings ohne in die Kompetenzen des Bundestages eintreten zu können (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. 58 Satz 2, 68 Abs. 1, 81 GG; auch § 3 III.). Die politische Wirkung des Bundespräsidenten ist abhängig von seiner Person und der Art und Weise wie er politische Themen aufnimmt und öffentlich behandelt. Seiner Stellung nach (Art. 55 GG) verkörpert er republikanische Tugenden. Die begrenzten politischen Rechte ermöglichen es dem Bundespräsidenten, sich der tagespolitischen Auseinandersetzung zu enthalten und weisen ihm eine „Integrationsfunktion" und „Reflexionsfunktion" quer zu den politischen Interessen und institutionellen Differenzierungen zu. Insofern hat der Bundespräsident Einfluß ohne Macht (Kaltefleiter: 1970; Jäger: 1989).
4. Organe der Rechtsprechung Das Grundgesetz nennt nicht nur in Art. 20 Abs. 2 die Organe der Rechtsprechung als Organe zur Ausübung der Staatsgewalt, es regelt auch in Art. 92ff. ausführlich ihre Gliederung und die Stellung der Richter. Danach wird die rechtsprechende Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht und die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesarbeitungsgericht, Bundessozialgericht) sowie die Gerichte der Länder ausgeübt (Art. 92,95 Abs. 1 GG; Wassermann: 1989b). Die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichtes regelt Art. 94 GG ebenso wie die Wahl der Bundesverfassungsrichter. (Zur Berufung der Richter der Bundesgerichte Art. 95 Abs. 2 GG). Die Bestellung der Richter am Bundesverfassungsgericht und an den Bundesgerichten ist damit weder Sache der Exekutive noch eines sich selbst ergänzenden Richterstandes. Die in Art. 98 Abs. 2 GG vorgesehene Möglichkeit der Richteranklage soll sicherstellen, daß die Richter - anders als in der Weimarer Zeit - die Grundsätze der Verfassung mittragen. Während für das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeit ebenfalls im Grundgesetz geregelt ist, ergibt sich diese für die anderen Gerichte aus den entsprechenden Gesetzen. Art. 97 GG garantiert die Unabhängigkeit der Richter, sie sind nur dem Gesetz unterworfen. Die Bundesgerichte - und entsprechendes gilt für die Ländergerichte - haben nicht nur einen hohen Grad institutioneller Selbständigkeit, auch das Gerichtsverfahren ist in entsprechenden Verfahrensgesetzen detailliert geregelt. Bindung an das Gesetz und die Förmlichkeit des Rechtsfindungs- und
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2. Kap.: Grundzüge des politischen Systems
Rechtsprechungsverfahrens vermitteln den Organen der Rechtsprechung und ihren Entscheidungen eine eigene Legitimation.
VI. Rechtsstaat 1. Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns Die verfassungsrechtliche Sicherung der Rechtsprechungsorgane ist in Verbindung zu sehen mit der Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns (Neumann, F.: 1967, S. 7ff.; Scharpf: 1970a), wie sie dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland eigen ist. Diese findet ihren Ausdruck in der Grundrechtsbindung und im Gebot der Gesetzmäßigkeit: Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger und andere „wesentliche" staatliche Entscheidungen bedürfen der Gesetzesform (näher hierzu § 9 II.). Gesetze sind zu verkünden (Art. 82 Abs. 1 GG), sie sind wie auch andere allgemeine Rechtsvorschriften zu veröffentlichen. Diese Publizitätspflicht ist Voraussetzung der Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber dem Recht (s.a. Hilfsmittel B, II., 3 und 4). Auch die Organisationsform und Verfahren staatlicher Organe, soweit es sich nicht um Regierungsakte oder Verfahrensregeln des Parlaments handelt, sind gesetzlich zu ordnen, um dem politischen System Transparenz und Stabilität zu vermitteln. Die Ressourcen der staatlichen Organe werden mit den Haushaltsgesetzen bereitgestellt (s.a. §711. und § 11 III.). Bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt steht jedermann der Rechtsweg offen (Art. 19 Abs. 4 GG). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Anspruch auf „rechtliches Gehör" vor Gericht. Die Rechtsförmigkeit staatlichen Handelns dient seiner Berechenbarkeit und der Sicherheit. Rechtliche Gestaltung staatlicher Herrschaft ist eine Form der Rationalität staatlichen Handelns. Sie findet ihren Ausdruck vor allem in der rechtlichen Bindung und Strukturierung des Verwaltungshandelns (dazu §81.). Rechtsverbindliche Festlegung von Kompetenz und Verfahren staatlichen Organhandelns, seine Bindung an das Normprogramm des Grundgesetzes, seine gerichtliche Überprüfbarkeit sowie die Gewährleistung seiner Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit und der Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes kennzeichnen den Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Stammen: 41972). Der Rechtsstaat ist Bedingung und Form der „Selbständigkeit" des Staates gegenüber der Gesellschaft. Er ist im Grundgesetz durch die Bindung aller staatlicher Gewalt an die Grundrechte inhaltlich materialisiert (materialer oder sozialer Rechtsstaat). Die starke Betonung der Rechtsstaatlichkeit hat „politische Kosten" (Scharpf: 1970) für die Demokratie, indem Formalstrukturen inhaltliche Auseinandersetzungen und Beteiligung überlagern können.
2. Verfassungswirksamkeit und Bundesverfassungsgericht Die Einhaltung einer Verfassung in der politischen Praxis kann der demokratischen Auseinandersetzung anvertraut sein, wenn ein hinreichender, in der Tradition gefestigter Konsens gegeben ist (etwa in Großbritannien). In Staaten, in de-
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nen aufgrund ihrer historischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Befindlichkeit diese Voraussetzungen nicht vorhanden sind, bedarf es einer anderen Gewährleistung des Normprogramms. Der „Ausweg" der Rechtsordnung ist die Maßgeblichkeit der verbindlichen Entscheidung als notwendige Bedingung rechtsstaatlicher Ordnung, wenn sich die jeweilige Verfassungswirklichkeit nicht unangefochten zur Verfassungsnorm erheben soll. Politische Auseinandersetzungen werden damit auch zum Streit um die Verfassungsauslegung. Die Entscheidungskompetenz über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit staatlichen Organhandelns mit der Verfassung liegt nach dem Grundgesetz letztlich beim Bundesverfassungsgericht (Art. 93 GG). Das Bundesverfassungsgericht kann von den verschiedenen staatlichen Organen angerufen werden. Jedermann hat das Recht, sollte er sich durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten oder in entsprechenden Rechten beeinträchtigt fühlen, Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einzulegen (näher hierzu BVerfGG). Funktion des Bundesverfassungsgerichtes ist es, in dem Spannungsverhältnis von Grundrechtsprinzip und Prinzip der Volkssouveränität einerseits, Mehrheitsprinzip und Organgewalt andererseits, den Effizienzanspruch des Grundgesetzes zu sichern (Schiaich: 2 1991;Häberle: 1976).
3. Verfassungsgarantie Der Anspruch aller Verfassungsgesetze ist es, die politische Ordnung einer staatlich verfaßten Gesellschaft in ihren Grundwerten, ihrer Organisation und ihren Verfahren für die Zukunft zu sichern. Die Schwierigkeit, rechtsverbindliche Aussagen über eine zukünftige politische Ordnung zu treffen, führt dazu, daß in den Verfassungen Regelungen über ihre Änderung und Ergänzung gesetzt werden, wobei ihre Grundprinzipien vielfach einer Abänderung entzogen sind (nur im Wege neuer Verfassungssetzung geändert werden können) bzw. Änderungen oder Ergänzungen einer qualifizierten Mehrheit bedürfen (Art. 79 G G , Zweidrittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat). Das Grundgesetz befristet seine Gültigkeit bis zu dem Tage, an dem das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen hat (Art. 146 GG). Diese Regelung gilt auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten weiter. In der politischen Öffentlichkeit wird diskutiert, ob die Herstellung der deutschen Einheit Anlaß für eine Neufassung des Grundgesetzes, zumindest aber für einen Volksentscheid über die Verfassung, sein sollte. Eine Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat berät eine Revision des Grundgesetzes.
4. Notstandsverfassung Nahezu alle Verfassungen der westlichen Demokratien enthalten - allerdings unterschiedliche - Vorschriften zum Schutz der Verfassung und des Staates im Notstand oder Spannungsfall. Diese Regelungen beinhalten eine Stärkung von Regierung und Militär/Polizei gegenüber Parlament und Judikative sowie eine Beschränkbarkeit von Grundrechten. In solchen Fällen bleiben nach dem Grundgesetz die Volksvertretung oder der zu 2/3 aus Mitgliedern des Deutschen Bundestages bestehende „Gemeinsame Ausschuß" (Art. 53a, 115e GG) möglichst weit-
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gehend politisch wirksam. (Art. 115a, 87a Abs. 4,115d Abs. 2 G G ) . Sie entscheiden über den letzten Extremfall, den Verteidigungsfall. Können Sie nicht entscheiden, so werden für seinen Eintritt objektive Tatbestandsmerkmale genannt (Art. 115a Abs. 4 G G ) und damit der Weiterbestand der Verfassungsordnung fingiert. Die staatlichen Organe bleiben - zumindest deklaratorisch - im Amt. Befehls- und Kommandogewalt gehen befristet auf den Bundeskanzler über (Art. 115b GG). Die Einschränkbarkeit von Grundrechten ist verfassungsrechtlich geregelt (insbes. Art. 115c Abs. 2,115e Abs. 2 G G ) . Problematisch scheint die Annahme des Grundgesetzes, daß Gefahren für Freiheit und Demokratie regelmäßig von Kräften außerhalb des Staatsapparates ausgehen, nicht von diesem selbst. Aber diese Annahme ist durchaus schlüssig. Es gibt nach dem Grundgesetz keine politische Gewalt, die nicht verfassungsmäßig begründet und begrenzt ist, außer der - bei geordneten politischen Verhältnissen nur latent wirksamen - Volkssouveränität.
VII. Systembildende und systemstabilisierende Funktion von Verfassungsnormen Staatliche Politik in Deutschland hat verfassungsmäßig eine doppelte Legitimation: Die Legitimation in den Grundrechten und in ihnen statuierten Werten und die Legitimation in der Ordnung der Verfahren der staatlichen Organe (Starck: 1987; Kriele: 4 1990; näheres §11. und II.). Grundrechte und Verfahren haben im Prozeß der Entfaltung des politischen Systems eine beharrende und eine dynamische Funktion: Gesellschaftliche Anliegen und Interessen müssen ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit als Möglichkeit des Interpretationshorizontes der Grundrechte beweisen. Die Verfahren der verschiedenen staatlichen Organe beinhalten die Möglichkeit einer immer neu zu definierenden und damit zu entwickelnden gültigen Ordnung des politischen Systems. Grundrechte und verfassungsrechtliche Strukturen des politischen Systems haben sich heute von ihrer historischen Begründung als natürliche Rechte des Menschen gegenüber angeblich gottgegebenen Rechten des Souveräns (Gauchet: 1991, S. 76ff.) abgehoben. Die Begründung staatlicher Ordnung beruft sich weder auf die Nation noch einen Gemeinwillen (Gauchet: 1991, S. 93ff.). Im Verhältnis zwischen individueller Freiheit und Sozialbindung wird nicht mehr dogmatisch über die Individualität und Natur des Menschen oder den Vorrang der Gesellschaft diskutiert (Gauchet: 1991, S. 89ff., 210ff., 228ff.) - eventuell läßt die Erörterung über Grundpflichten des Bürgers die Tiefe der Debatte um die bürgerlichen Freiheiten im Zusammenhang mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789-1791 erkennen. Grundrechte als Menschenrechte werden mit einem Universalitätsanspruch versehen und finden ihre Konkretion doch nur in nationalen Rechtsstaaten (Hofmann: 1992). Auch das Verhältnis von Volkssouveränität und Staatsgewalt und die Ausübung der Staatsgewalt durch verschiedene Organe wird nicht so sehr unter den Gesichtspunkten von Identität, Repräsentativität und Organstellung oder von Diktatur und Freiheit (Gauchet: 1991, S. 142ff.) erörtert. Im Vordergrund stehen Fragen der Zweckmäßigkeit, Handlungs- und Leistungsfähigkeit staatlicher Organisation und der Kontrolle politischer Macht.
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Die Geltungskraft der Grundrechte und Verfahrensregeln hat sich von ihrem historischen Geltungsgrund abgelöst. Diese liegt nicht mehr in einer wie immer erklärten Transzendenz, sondern ist in ihrer Funktionalität für Bestand und Entwicklung des politischen Systems bei ihrer realen Inanspruchnahme begründet. Nicht so sehr in ihrer normativen Verbindlichkeit als in ihrer kommunikativen Offenheit liegt die systembildende Funktion der Grundrechte, und nicht so sehr in der Macht staatlicher Organe als in der Zugänglichkeit und Verständlichkeit der Entscheidungsverfahren dieser Organe ist die Stabilität des politischen Systems begründet, das so auch Raum für die Selbststeuerung gesellschaftlicher Assoziationen und Organisationen läßt (näheres § 1). Nicht zufällig zeigen sich Verwerfungen und Friktionen vor allem dann, wenn in der politischen Auseinandersetzung diese verfassungsrechtlichen Grundbedingungen unseres politischen Systems verfehlt werden. In der wissenschaftlichen Erörterung ist mit dieser Entwicklung gleichzeitig der Übergang von der „Polizeywissenschaft" zur Verfassungslehre und allgemeinen Staatslehre zur heutigen Politikwissenschaft und ihren Rückbezügen gekennzeichnet (Beyme, von: 1991, S. 90ff., 337ff.).
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§ 7 Staatsaufgaben und Finanzverfassung Klaus Grimmer I. Staatszweck und Staatsaufgaben.-II. Finanzverfassung. Grundlagenliteratur Bull, Hans-Peter (21977): Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz. Kronberg/ Ts. Bundesminister des Innern / Bundesminister der Justiz (Hg.) (1983): Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission. Bonn. Heun, Werner (1989): Staatshaushalt und Staatsleitung. Baden-Baden. Schmölders, Günter (31970): Finanzpolitik. Berlin. Vogel, Klaus (1990): „Grundzüge des Finanzrechts des Grundgesetzes". In: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, Bd. IV.,S. 3ff. Wahl, Rainer (1990): „Staatsaufgaben im Verfassungsrecht". In: Ellwein, Thomas / Hesse Joachim J. (Hg.), Staatswissenschaften: Vergessene Disziplin oder neue Herausforderung. Baden-Baden, S. 29ff. siehe auch Hilfsmittel Teil A, II., 2.
I. Staatszweck und Staatsaufgaben Staaten werden gebildet, um Aufgaben wahrzunehmen und zu erledigen, oder Staaten bilden sich in der Wahrnehmung von Aufgaben. Parlamentarisierung des Staates hat dabei zum Ziel, die Wahrnehmung von Aufgaben durch ein Parlament zu bestimmen und die Organisation „Staat" als latent wirksames Herrschafts-, Macht- und Arbeitspotential zur Wahrnehmung und Erledigung von Aufgaben durch das Parlament zu steuern und zu kontrollieren. Die Begründung des Staates und die Frage nach dem Staatszweck (Brandt, R.: 1988; Bull: 1989a; Link: 1990; Ress: 1990) ist ein altes philosophisches und theologisches Thema und ebenso eines der politischen Theorie (wie in § 1 dargestellt). Mit der Frage nach dem Staatszweck verbindet sich die Frage nach der Legitimation des Staates. Als Staatszweck werden eine Machtfunktion und Friedensfunktion oder, auf die gegenwärtige Staatssituation bezogen, die Gewährleistung von Sicherheit, Freiheit und Gerechtigkeit gedacht. Sicherheit verbindet sich dabei mit dem Rechtsetzungs- und Gewaltmonopol, Freiheit (Rechtsstaatlichkeit) wird gewährleistet durch Gesetzgebung und Rechtsprechung nach den Prinzipien und in Achtung der Individualrechte der Verfassung. Als Staatszweck wird auch genannt, den sozialen Ausgleich herzustellen. Auf dieser Linie liegt es, wenn das Gemeinwohl als Ziel staatlichen Handelns bezeichnet wird (Bull), ohne daß damit inhaltlich bereits viel ausgesagt ist. Gedacht - und als Staatstheorie ausformuliert - wurden der Staat als Selbstzweck (Hegel), als Vergegenständlichung von Gemeinschaft, als Instrument der herr-
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sehenden Klasse zur Durchsetzung ihrer Interessen (Marx/Engels) oder, mehr formal-funktional, als die „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" eines Gemeinwesens, inhaltlich als Sozialstaat (H. Heller). Hier verbinden sich Staatszwecklehren mit einer Staatstheorie (Bull: 1989a; Schulze-Fielitz: 1990). Unterschieden werden kann zwischen normativ und empirisch ausgerichteten Staatszwecklehren. Zu letzteren im weitesten Sinne sind auch systemtheoretische Betrachtungsweisen (Willke: 1983) zu zählen. Für eine Beschreibung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland ist es ergiebiger, die Erörterung des Staatszweckes bezogen auf die verfassungsrechtlich genannten Aufgaben des Staates vorzunehmen. Staatsaufgaben sind dabei nicht ein Mittel zur Erfüllung eines Staatszweckes, sondern der Zweck des Staates ist es, daß staatliche Organe von Verfassungs wegen unmittelbar oder auf Grund verfassungsrechtlicher Kompetenzstellung mittelbar zugewiesene Aufgaben wahrnehmen. Eine solche Bindung des Staatszweckes an die Staatsaufgaben bedeutet, daß Staatszweck nur etwas Entschiedenes, der Staat nur als etwas rechtlich Bestimmtes tätig sein kann. Mögliche Staatsaufgaben (Bull: 21977; Czybulka: 1989, S. 41ff.) sind somit jene Angelegenheiten, zu deren Wahrnehmung der Staat und - da der Staat nur durch seine Organe handeln kann - einzelne Staatsorgane eine Kompetenz haben. Bezogen auf den Bund handelt es sich zunächst um die in Art. 70ff. GG geregelte Gesetzgebungskompetenz. Damit sind aber die Staatsaufgaben nicht vollständig erfaßt. Mögliche Staatsaufgaben sind auch in der Kompetenzstellung des Bundespräsidenten oder des Bundeskanzlers und der Bundesregierung ebenso wie in jener der Verwaltungen und insbesondere der Organe der Rechtsprechung enthalten. Auch mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Länder verbinden sich mögliche Staatsaufgaben; die Landesverfassungen enthalten ihrerseits vielfältige Aufgabenstellungen (s.a. §22).
Und schließlich besitzen die Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Grenzen der Aufgabenwahrnehmung ergeben sich hier durch den Bezug auf „örtliche Angelegenheiten", nicht aber aus einer speziellen Gesetzeszuweisung. Aufgaben sind damit solche Angelegenheiten oder Probleme, wofür in einer Kommune Bedarf besteht, daß sie von der Gemeindeorganisation wahrgenommen werden (näheres § 21).
1. Verfassungsrechtlicher Rahmen Eine nähere Analyse der sich mit der Kompetenzstellung einzelner staatlicher Organe verbindenden möglichen Aufgaben könnte zeigen, daß für einzelne Aufgaben unterschiedliche Prioritäten bestehen, für die Wahrnehmung mancher Aufgaben eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, für andere ein Handlungsermessen gegeben ist. Für den Bund wird dies bereits deutlich in der Differenzierung zwischen Aufgaben, die er auf Grund ausschließlicher oder konkurrierender Gesetzgebungskompetenz (Art. 73 und 74 GG) wahrnehmen kann. Verschiedene Aufgaben stehen in einem sachlichen Zusammenhang; ihre Realisierung kann einem gemeinsamen Zweck oder einem gemeinsamen Ziel wie Herstellung von Ordnung und Sicherheit, Sicherung wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit, Schaffung sozialen Ausgleichs dienen, andere Aufgaben wiederum ste-
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hen isoliert. Der Rekurs auf die grundgesetzliche Kompetenzstellung staatlicher Organe ergibt nur einen allgemeinen Uberblick über notwendige und mögliche Staatsaufgaben. Ein anderer Zugang zur Bestimmung möglicher staatlicher Aufgaben ergibt sich aus den Mitteln, die der Staat einsetzen darf. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Staat in unterschiedlichen Formen selbst handeln oder handeln lassen kann, und zwar unmittelbar oder in verselbständigten öffentlichen Einrichtungen, durch private Organisationen in staatlicher Trägerschaft, durch die Übertragung an Private, durch Privatautonomie, durch rechtliche Rahmenbestimmungen oder schlicht durch Verzicht auf Einfluß (Schulze-Fielitz: 1990, S. 31ff.; Wahl: 1990). Staatsaufgaben können nach dieser Betrachtung solche gesellschaftlichen Probleme sein, zu deren Bearbeitung staatliche Organe über entsprechende Mittel verfügen. Solche Mittel sind Gebote, Verbote, Zulassungen, Gewährungen, monetäre und sonstige Anreize, finanzielle Leistungen, Bereitstellung von Infrastruktur, Information, Aufklärung, Propaganda. Die Zulässigkeit solcher Mittel ergibt sich entweder unmittelbar aus der verfassungsrechtlichen Kompetenzstellung staatlicher Organe oder - so in der Regel - mittelbar aus ihrer gesetzesförmigen oder haushaltsrechtlichen Zulassung. Eine inhaltliche Bestimmung möglicher oder notwendiger Staatsaufgaben ist mit dieser Vorgehensweise nicht möglich. Sie ergibt nur Aufschluß über zulässige Erledigungsformen möglicher Staatsaufgaben. Die Geschichte der vom Staat tatsächlich wahrgenommenen Aufgaben zeigt ihr ständiges Anwachsen und ihre immer weitere Ausdifferenzierung (Ellwein/Zoll: 1973; Schulze-Fielitz: 1990, S. 18ff.). Dies gilt vor allem für den Sozial-, Wirtschafts- und Rüstungsbereich, aber ebenso für den Bildungs- und Kulturbereich, für den Bereich der Infrastruktur und für Forschung, Entwicklung wie Anwendung von Techniken. Die historische Entwicklung der Staatsaufgaben läßt erkennen, daß zu Staatsaufgaben jene Probleme werden, die nicht allein individuell oder freigesellschaftlich erledigt werden können. Voraussetzung ist, daß solche Probleme zu „öffentlichen" Problemen werden, öffentlich ein Problemdruck artikuliert wird. Die Entwicklung von Staatsaufgaben ist gebunden an die sozioökonomische und soziokulturelle Entwicklung einer Gesellschaft und verbindet sich mit der Bildung und Erweiterung von Öffentlichkeit - oder dem Bedürfnis an Schutz vor Öffentlichkeit (z.B. Datenschutz). Staatsaufgaben sind somit solche gesellschaftliche Probleme, die vom Staat auf Grund seiner speziellen Leistungsmöglichkeiten und Leistungsformen und der ihm eigenen Herrschafts- und Ordnungsmacht wahrgenommen und erledigt werden können. Insofern kann eine Analyse staatlicher Gesetze, Haushaltspläne, Organisationen und ihrer Zwecksetzungen die Fülle der jeweils konkret wahrgenommenen Staatsaufgaben aufzeigen. Die Wahrnehmung von öffentlichen Problemen als staatliche Aufgaben beeinflußt wiederum die gesellschaftliche Entwicklung. Die Frage, inwieweit für neue „Aufgaben" jeweils eine verfassungsrechtliche Kompetenzstellung besteht, ist dabei letztlich sekundär. Entweder eine solche Kompetenzstellung wird als von den gegebenen Kompetenzregeln mit umfaßt definiert oder die staatliche Kompetenz wird erweitert. Bei der Erörterung staatlicher Aufgaben und ihrer Zuweisung zum Bundes- oder Länderbereich entscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen öffentlichen
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Angelegenheiten, öffentlichen Aufgaben und staatlichen Aufgaben. Staatliche Aufgaben sind öffentliche Angelegenheiten, wenn sich der Staat damit befaßt und ein staatliches Organ hierfür eine Kompetenz hat. Öffentliche Aufgaben sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes solche, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht und die so geartet sind, daß sie weder im Wege privater Initiative wahrgenommen werden können, noch zu den im engeren Sinne staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen muß (BVerfGE 12, 205; 38, 281 (299)). Das Gericht geht vom Vorrang der Privatinitiative, der freigesellschaftlichen Aktivitäten aus, wie sie beispielsweise in den Kommunalordnungen als Begrenzung wirtschaftlicher Betätigung von Gemeinden gilt. Notwendige staatliche Aufgaben sind solche, deren Wahrnehmung die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse (Art. 33 Abs. 4 G G ) , insbesondere staatlicher Gewalt erfordert, wie etwa der Bereich öffentlicher Sicherheit und Ordnung (Polizei). Während so jeder Versuch einer Bestimmung der Staatsaufgaben unvollständig bleibt und das Verfassungsrecht nur mögliche Staatsaufgaben erkennen läßt, ihre Begründung letztlich auf das in einer bestimmten Zeit und Gesellschaft vorherrschende Staatsverständnis verweist, ergeben sich doch andererseits aus dem Grundgesetz sowohl Begrenzungen für Staatsaufgaben als auch einzelne Verpflichtungen für ein Tätigwerden des Staates und Anforderungen an die Art und Weise der Aufgabenerfüllung. Eine Begrenzung möglicher Staatstätigkeit enthält beispielsweise Art. 26 Abs. 1 G G , wonach die Bundesrepublik das friedliche Zusammenleben der Völker nicht stören und keinen Angriffskrieg führen darf.
2. Grundrechtliche Bindungen Wichtiger sind aber Begrenzungen für und Anforderungen an staatliches Handeln, die sich aus den Grundrechten ergeben (Wahl: 1990) und Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung unmittelbar binden (Art. 1 Abs. 3 GG). Ebenso ergeben sich aus dem Demokratieprinzip Anforderungen an Staatsaufgaben: Ihre Erledigung durch staatliche Organe muß verantwortet und die Entscheidungs- wie Handlungsfähigkeit der politischen Akteure muß erhalten werden können (ausführlich § 1). Staatsaufgabe kann danach nicht sein, wenn ihre Wahrnehmung ein Grundgesetz verletzen würde, wie z.B. durch die Einführung einer Staatsreligion oder einer Staatskirche (Art. 4, 140 GG), die Einführung eines staatlich nicht beaufsichtigten Privatschulwesens (Art. 7 Abs. 1 G G ) , die Einführung eines sozial nicht gebundenen kapitalistischen Wirtschaftssystems (Art. 2, 14, Sozialstaatsklausel Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 G G ) oder die Organisation des Wohnens in offenen Wohneinheiten ohne Individualschutz (Art. 13 GG). Zudem darf in der Erledigung staalicher Aufgaben ein Grundrecht über den Regelungsvorbehalt hinausgehend in seinem Wesensgehalt nicht angetastet werden, wie z.B. durch den Aufbau einer Infrastruktur mittels Zwangsarbeit. Anforderungen an staatliche Organe, individuelle oder gesellschaftliche Probleme als staatliche Aufgaben wahrzunehmen, ergeben sich insoweit aus den Grundrechten, als der Staat gehalten ist, die Effektivität der Grundrechte zu sichern. Grundrechte können nicht nur durch staatliches Handeln, sondern auch durch Unterlassen beeinträchtigt werden. Es erscheint mit Gehalt und Funktion der Grundrechte nicht vereinbar, daß der Staat freigesellschaftliche Entwicklun-
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gen hin bis zu einer Beeinträchtigung oder Aufhebung des Norm- und Wertanspruches der Grundrechte zuläßt, wenn hierdurch die durch die Grundrechte vermittelte freiheitliche und soziale Ordnung selbst aufgehoben würde. Beispielsweise darf der Staat nicht eine Entwicklung der Lebensverhältnisse tolerieren, die eine Verarmung weiter Bevölkerungsteile zur Folge hätte, in denen die Menschenwürde verletzt oder eine freie Entfaltung der Person nicht mehr gegeben ist. Eine Handlungspflicht für den Staat besteht auch, wenn wirtschaftliche Betätigungen oder technische Entwicklungen zu einer Zerstörung der natürlichen Lebenswelt, zur Gesundheitsgefährdung oder zu einer Beschränkung der freien Entfaltung der Persönlichkeit führen: Umweltschutz ist Staatsaufgabe (Elles: 1988; Henseler: 1983). Aber auch in den Bereichen, in denen der Staat anerkanntermaßen Aufgaben wahrzunehmen hat, wie beispielsweise im Bildungsbereich, ergeben sich aus den Grundrechten Verpflichtungen für die Art und Weise der Aufgabenwahrnehmung. Der Staat darf kein Bildungssystem unterhalten, das nur jenen eine freie Entfaltung der Person, eine freie Berufswahl erlaubt, die private Bildungseinrichtungen besuchen, vielmehr hat der Staat die Verpflichtung zur Herstellung gleicher Bildungschancen. Gerade weil in der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben im Grundrechtsbereich Konflikte entstehen können, ist eine wesentliche Aufgabe des Staates die praktische Optimierung der Grundrechte, und in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot und dem Demokratiegebot heißt dies auch Optimierung des sozialen Ausgleichs, der Chancen zur politischen Mitbestimmung und Sicherung der Offenheit der Verfassungsordnung (näheres Saladin: 1984; auch § 1). Die konkrete Bestimmung der Staatsaufgaben und die Art und Weise ihrer Wahrnehmung ist Sache des Gesetzgebers, der einen großen Gestaltungsspielraum hat (BVerfGE 77, 170 (214f.) - hier beginnen die eigentlichen Probleme im parlamentarischen Regierungssystem (weiterführend §§ 12,17-20). In dem hier dargelegten Argumentationszusammenhang gibt Bull (21977) auf verfassungsrechtlicher und historischer Grundlage eine gute Gliederung von Staatsaufgaben. Er unterscheidet • • • • • •
Sicherung der Existenzgrundlagen des einzelnen Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen des Gemeinwesens Sicherung der menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten „Ordnung" des Zusammenlebens Gewährleistung der Ordnung und Grenz„bereiche" staatlicher Aktivitäten.
Staatsaufgabe ist es auch, die Funktionsfähigkeit des Staates zu erhalten.
3. Neue Staatsaufgaben und begrenzte Handlungsmöglichkeiten „Der Staat des Grundgesetzes ist planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat, und dies ist ihm durch die Formel vom sozialen Rechtsstaat von Verfassungs wegen als Aufgabe gestellt" (Hesse, K.: "1990, S. 82). Während in der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates zunächst der Freiheitsgedanke, das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip der Verhältnismäßig-
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keit im Vordergrund standen und Bestimmung und Ordnung staatlicher Aufgaben über das Gesetz rechtlich gesteuert werden konnten, zeigt sich heute eine doppelte Schwierigkeit: Der Staat steht zunehmend in der Verantwortung für Arbeit und sozialen Ausgleich, für gleiche Chancen der Geschlechter und kulturelle Offenheit, für Entwicklung neuer Technikpotentiale und Schutz vor ihrer schädigenden Nutzung, für Wirtschaftswachstum und Erhalt der Natur und natürlicher Lebensgrundlagen. Solche Aufgaben zumindest als Staatsziele in das Grundgesetz aufzunehmen, wird kontrovers diskutiert, obwohl über die staatliche Verantwortung wenn auch nicht über ihren Umfang - weitgehend Konsens besteht (Der Bundesminister des Innern/Der Bundesminister der Justiz: 1983; weiterführend §§ 1,16, 20 und Schluß). Parallel mit der zunehmenden Inpflichtnahme des Staates für neue gesellschaftliche Problemlagen zeigt sich, daß das rechtsstaatlich formierte Instrumentarium, insbesondere Aufgaben und Aufgabenerfüllung durch Gesetze zu steuern, zur Sicherung der Effektivität staatlichen Handelns nicht immer ausreicht. Staatliche Aufgabenwahrnehmung bedarf häufig des Einsatzes mehrerer, sich ergänzender Instrumente, ohne daß mit diesen immer eine Gehorsamspflicht der Steuerungsadressaten verbunden ist. Bestimmte Verhaltensweisen werden also nicht erzwungen, sondern sollen durch Anreize oder durch Absprachen veranlaßt werden. Gleichzeitig ist jede staatliche Aufgabenwahrnehmung mit der Knappheit finanzieller Mittel konfrontiert. Aufgabenentwicklung und Staatsfinanzen sind nicht aufeinander abgestimmt (Bull: 1990). Insgesamt sind die Anforderungen an den Staat nahezu unbegrenzt, seine Leistungsmöglichkeit aber ökonomisch und rechtlich begrenzt.
II. Finanzverfassung Die Bundesrepublik Deutschland ist ein „Steuerstaat". Die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Erhaltung der Staatsorganisation werden vor allem - neben Gebühren und Beiträgen - über Steuerzahlungen finanziert. Das Grundgesetz zielt in seiner Finanzverfassung auf eine Sicherung der finanziellen Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Bund, Ländern und Gemeinden. Aufgaben- und Ausgabenkompetenz (Art. 104a Abs. 1 GG) sind miteinander verbunden. Entsprechend erfolgt die Verteilung der Steuererträge (Art. 106 GG). Der unterschiedlichen Steuerertragskraft der verschiedenen Gebietskörperschaften wird durch einen Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern und durch Finanzzuweisungen Rechnung getragen (Art. 104a Abs. 4, 107 GG; BVerfGE 72,330 (383ff.); BVerfGin JZ: 1992, S. 962ff.).
1. „Magie" staatlicher Finanzpolitik Das komplizierte System der Finanzverfassung des Grundgesetzes dient nicht nur der Aufgaben- und Ausgabenabgrenzung zwischen Bund und Ländern und der Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes durch Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft. Es ist gleichzeitig darauf ausgerichtet, die Finanz-
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und Wirtschaftspolitik, deren Wahrnehmung nach § 1 des Stabilitätsgesetzes die Stabilität des Preisniveaus bei gleichzeitig hoher Beschäftigung, außenwirtschaftlichem Ausgleich und angemessenem Wirtschaftswachstum realisieren soll (Art. 109 GG), zu konturieren. Bund und Länder sowie die Gemeinden haben eine eigene Haushaltsherrschaft (Art. 109 GG) auf der Grundlage der Haushaltsgesetze. Alle Einnahmen und Ausgaben sind in einem Haushaltsplan zu verzeichnen. Der Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen (Art. 110 GG). Für die Aufgabenplanung und Aufgabenwahrnehmung kommt dem Haushaltsplan eine besondere Bedeutung zu, und zwar eine Koordinations-, Staatsbindungs-, Leitungs-, Legitimations-, Informations- und eine Kontrollfunktion (Heun: 1989, S. 264ff.; näheres § 11 III.). Gestaltungsmöglichkeiten in Verantwortung der Regierung sind grundgesetzlich vorgesehen (Art. 112,113 GG). Das Haushaltsgebaren der unterschiedlichen Kompetenzträger hat Wirtschaftlichkeitsprinzipien zu folgen (Armin, von: 1988, S. 65ff.) und einen Ausgleich zwischen dem Wünschbaren, dem Möglichen und dem Notwendigen herzustellen. Dabei unterliegt es in erheblichem Umfang langfristigen gesetzlichen Bindungen und massiven Einflüssen von Interessengruppen, z.B. durch direkte und indirekte Subventionen. 2. Neue Staatsaufgaben - alte Haushaltsbindungen Das Anwachsen staatlicher Aufgaben einerseits, die begrenzten, über Steuereinnahmen bereitgestellten finanziellen Ressourcen andererseits haben zunehmend eine Mittelbeschaffung durch Kreditaufnahme zur Folge. Die damit gegebene Staatsverschuldung beschränkt künftige Entscheidungsspielräume. Solche Entscheidungsspielräume sind auch begrenzt durch starke, politisch wirksame Interessen an einem Bestandsschutz bei der Verteilung finanzieller Lasten und Begünstigungen. Gerade für die in den letzten Jahren an Bedeutung stark in den Vordergrund getretenen Staatsaufgaben im Bereich wirtschaftlicher Strukturentwicklungen, im Wissenschafts- und Kulturbereich, vor allem aber im Umwelt-, Natur- und Technikbereich, sind nur geringe finanzielle Handlungsspielräume gegeben, wenn überkommene Haushaltsbindungen Vertrauensschutz genießen. Erforderlich ist eine stärkere Verzahnung von qualitativen und quantitativen Aspekten in der staatlichen Finanz- und Haushaltspolitik (Wille: 1990). Staatliche Politik realisiert sich heute in sehr unterschiedlichen Organisations- und Aktionsformen: durch unmittelbare staatliche Steuerung mittels Geboten und Verboten, durch Leistungen, durch Kooperation zwischen staatlichen Organisationen und gesellschaftlichen Einrichtungen oder durch staatliche Hilfen für individuelle oder freigesellschaftliche Aktivitäten. Eine herausragende steuerungspolitische Rolle nimmt die staatliche Finanz- und Haushaltspolitik ein.
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§ 8 Parlamentarisches Regierungssystem Klaus Grimmer I. Parlament, Regierung und Verwaltung. - II. Mediatisierung politischer Meinungs- und Willensbildung. - III. Politische Öffentlichkeit. - IV. Verfassungssystem und parlamentarische Demokratie. Grundlagenliteratur Achterberg, Norbert (1974): „Das Parlament im modernen Staat". In: DVB1, S. 693ff. Bandemer, Stephan von / Wewer, Göttrik (Hg.) (1989): Regierungssystem und Regierungslehre. Opladen. Beyme, Klaus von (31973): Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München. Ellwein, Thomas / Hesse Joachim Jens (71992): Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. Hartwich, Hans-Hermann / Wewer, Göttrik (Hg.) (1990-1992): Regieren in der Bundesrepublik. Opladen, 5 Bde. Kluxen, Kurt (Hg.) (51980): Parlamentarismus. Königstein/Ts. Leibholz, Gerhard (31967): Strukturprobleme der modernen Demokratie. Karlsruhe. Magiera, Siegfried (1979): Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes. Berlin/München. Mössle, Wilhelm (1986): Regierungsfunktionen des Parlaments. München. Schmitt, Carl (1923): Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin. siehe auch Hilfsmittel Teil B, II., 1.
Volkssouveränität, Mehrheitsprinzip und Rechtsstaatlichkeit sind nach dem Grundgesetz die konstitutiven Bedingungen für das parlamentarische Regierungssystem. Die verfassungsrechtlichen Strukturvorgaben sind der Rahmen, in dem die Bundesrepublik Deutschland als Staat wirksam ist. Die Staatsgewalt wird in rechtlich geordneten Verfahren und gebunden durch die Grundrechte von den Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Schaffung von Organen, ihre Ausgestaltung mit Kompetenzen und die Regelung ihrer Verfahren reicht nicht hin, damit ein parlamentarisches System als demokratische Regierungsform wirksam ist. Das parlamentarische Regierungssystem kann als 3-Ebenen-Modell dargestellt werden: Die erste Ebene umfaßt die staatlichen Organe (I.). Um die verschiedenen gesellschaftlichen Anliegen und Interessen öffentlich darzustellen, zu integrieren, die politische Meinungsbildung zu formieren und diese
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in den staatlichen Organbereich einzubringen, bedarf es der zweiten Ebene der außer- oder vorparlamentarischen Assoziationen, Organisationen und Institutionen. Diese Ebene wird vor allem gebildet von den politischen Parteien und Verbänden; aber auch große Wirtschaftskonzerne, Medienverbünde und Großforschungseinrichtungen können ihr zugerechnet werden. Sie wirken unmittelbar durch personelle Verflechtungen oder mittelbar durch öffentliche Meinungskundgabe oder nichtöffentliche Einflußnahme auf die Ebene von Parlament, Regierung und Verwaltungen (II.). Für das parlamentarische Regierungssystem als demokratische Ordnungs- und Herrschaftsform (demokratischer Parlamentarismus) ist die dritte Ebene besonders wichtig, jene der - organisierten oder nicht organisierten - öffentlichen politischen Diskussion und der privaten Meinungsbildung. Erst auf dieser Ebene werden die Formalstrukturen des politischen Systems, die dessen Entscheidungsund Handlungsfähigkeit bestimmen, aber allein als staatliche Lebensform unzureichend sind, vergegenständlicht, individualisiert und politisch lebendig. Die politische Kultur eines Landes hängt wesentlich von Form und Inhalt dieser dritten Ebene und dem offenen Meinungsaustausch zwischen den Ebenen ab (III.).
I. Parlament, Regierung und Verwaltung Dem Parlament kommt die staatsleitende Funktion zu (Achterberg: 1974; Ellwein: 1984; Magiera: 1979; Mössle: 1986, S. 132ff.). Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments ergeben sich aus seiner Eigenschaft, Vertretung des ganzen Volkes, des Trägers der Staatsgewalt zu sein (erklärend § 1II.). Das Parlament ist nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden und ist Organ der Gesetzgebung; die Organe der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Das Parlament bestimmt die Wahrnehmung der Staatsaufgaben. Dies kann durch ein förmliches Gesetz oder einen sonstigen Parlamentsbeschluß geschehen, es kann aber auch durch die Bereitstellung von Haushaltsmitteln erfolgen. Das Parlament beeinflußt die Art und Weise der Erledigung der Staatsaufgaben durch entsprechende Regelungen oder Ermächtigungen in den Aufgabengesetzen selbst, durch spezielle Organisationsoder Verfahrensgesetze oder durch haushaltsmäßige Vorgaben. Die staatsleitende Funktion nimmt das Parlament durch seine Rechtsetzungskompetenz für „wesentliche Staatsangelegenheiten" (Parlamentsvorbehalt), durch seine Wahl- und Legitimationsfunktion, durch verschiedene Formen politischer Willensbildung und durch Kontrolle der Regierung sowie durch seine Integrationsfunktion wahr (dazu §9). 1. Parlament a) Stellung der Abgeordneten „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38 Abs. 1 GG). Die Abgeordneten genießen Indemnität und Immunität. Sie haben ein Zeugnisverweigerungsrecht und Anspruch auf Beur-
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laubung zur Wahlvorbereitung und auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung (Art. 46-48 GG). Einzelheiten ergeben sich aus dem Abgeordnetengesetz sowie ergänzend aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (Achterberg: 1984, S. 215ff.; Kassing: 1988; hierzu § 4 I. und II.). Diese Regelungen zielen auf die Sicherung der politischen und materiellen Unabhängigkeit der Abgeordneten, ohne ihre Einbindung in eine Partei oder Fraktion wesentlich zu berühren. Die Arbeitsebene des Parlaments wird über die Fraktionen gebildet. Das Bundesverfassungsgericht hat aber klargestellt, daß auch fraktionslose Abgeordnete eine Grundsicherung für ihre politische Mitarbeit im Parlament haben müssen (BVerfGE 80,188; Schulze-Fielitz: 1989a; Einzelheiten § 10IV.). „Verhaltensregeln" für Mitglieder des Bundestages, die vom Bundestag selbst verabschiedet wurden, verpflichten die Abgeordneten zur Anzeige beruflicher und bestimmter beratender Tätigkeiten sowie ihrer Funktionen in Verbänden gegenüber dem Präsidenten des Bundestages, um Interessenverflechtungen erkennbar zu machen; ebenso ist der Erhalt von Spenden über 10000 DM anzugeben.
b) Wahlsystem Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag, der aus mindestens 656 Abgeordneten besteht, ist ein modifiziertes Verhältniswahlrecht, das heißt eine Mischung aus Verhältniswahl und Persönlichkeitswahl. Jeder Wähler hat zwei Stimmen; mit der ersten Stimme wählt er einen Kandidaten in seinem Wahlkreis, mit der zweiten Stimme eine politische Partei. Eine höhere Abgeordnetenzahl kann sich durch die sogenannten Überhangmandate ergeben. Zu solchen zusätzlichen Mandaten kommt es, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt als ihr aufgrund des Verhältniswahlergebnisses zustehen. Zur Berechnung der Sitzverteilung auf die politischen Parteien werden verschiedene mathematische Verfahren angewandt. Der Bundestag praktiziert seit 1985 anstelle des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens das Verfahren nach Hare/Niemeyer (näher hierzu Bundeswahlgesetz). Andere Formen der Parlamentswahl sind das reine Verhältniswahlsystem und das Mehrheitswahlsystem (Meyer, H.: 1973; Nohlen: 1989; Ritter/Niehuss: 1987;Zeuner: 1971; vertiefend § 31. und II.). Die Bewertung der verschiedenen Wahlsysteme ist abhängig von politischen Prioritäten, die gesetzt werden (dazu § 3 II.): möglichst breite Repräsentation der politischen Meinung der Bevölkerung im Parlament (Verhältniswahlsystem) Bildung klarer parlamentarischer Mehrheiten (Mehrheitswahlsystem) - Regierungsbildung als Kompromiß zwischen verschiedenen Parteien (Koalitionsregierungen: Verhältniswahlsystem) - Regierungsbildung durch eine Mehrheitspartei beziehungsweise -fraktion (Mehrheitswahlsystem). Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland sieht zur Vermeidung einer zu großen Aufsplitterung der Stimmen auf eine Vielzahl von kleinen Parteien („Weimarer Verhältnisse") vor, daß nur die Parteien im Parlament vertreten sind, die mindestens 5 % aller Stimmen im ganzen Bundesgebiet oder mindestens in drei Wahlkreisen Direktmandate errungen haben. Unabhängig vom Wahlsystem ist es ein demokratisches Grundprinzip, daß unterschiedliche politische Parteien eine faire Chance haben, ihre politisch-sozialen und ökonomischen Zielsetzungen in Wahlen zu ar-
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tikulieren. Dieser Grundsatz hat 1990 nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (82,322) eine entsprechende Anpassung des Wahlrechts erforderlich gemacht, um den politischen Verhältnissen in den neuen Bundesländern bei den ersten Bundestagswahlen nach der Vereinigung Deutschlands Rechnung zu tragen. Unter der Zielsetzung, daß die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie funktionsfähig sein muß, also nicht nur ein breites Spektrum politischer Meinungen darzustellen, sondern auch politische Entscheidungsbildung und Handlungsfähigkeit zu gewährleisten sind, gelten Einschränkungen des reinen Verhältniswahlsystems als politisch vernünftig.
c) Wahlberechtigung - Wer ist das Volk In einem mittelbaren Zusammenhang mit dem Wahlsystem steht die Frage, wem das Wahlrecht zustehen soll (vertiefend § 31.; § 14 III.): allen mündigen Einwohnern eines Staatsgebietes, das heißt allen, die in einem Staatsgebiet ein Wohnrecht haben und volljährig sind; nur jenen, die dieses Wohnrecht bereits seit sechs Monaten oder einem Jahr oder nur jenen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen? Es handelt sich also um die Frage, wer ist das Volk im Sinne von Art. 20 Abs. 2 und Art. 38 Abs. 1 GG. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, sind verfassungsrechtlich für Bundes-, Länder- und Kommunalwahlen einheitliche Regelungen erforderlich oder ist zu differenzieren zwischen Wahlen zur Bestimmung der Staatsgewalt (Art. 20 GG) und Wahlen zur Regelung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze (Art. 28 Abs. 2 GG; Bryde: 1989a). Diese Differenzierung scheint verfassungsrechtlich vertretbar, sodaß im Kommunalbereich das Wahlrecht für Ausländer mit Wohnsitzberechtigung zulässig, bei Bundestagswahlen jedoch das Wahlrecht an die Staatsbürgereigenschaft gebunden bleibt. Nach geltendem Recht steht bislang das Wahlrecht nur deutschen Staatsbürgern zu, da eine Ausdehnung des Wahlrechts im Kommunalbereich auf Initiativen von SPD, FDP und Grünen vom Bundesverfassungsgericht als unzulässig beschieden wurde (BVerfGE 83,37; 83, 60). d) Repräsentativprinzip Verbindliche Entscheidungen des Parlaments, der Regierung, Verwaltung und der Gerichte bestimmen den politischen Alltag. Unmittelbaren Einfluß auf die politische Zusammensetzung und auf die Arbeit der staatlichen Organe haben die Staatsbürger durch die Wahl, auch wenn sich der demokratische Parlamentarismus in der Verbindung der verschiedenen Ebenen politischer Meinungsbildung legitimiert und es zwischen diesen Ebenen mehr oder minder institutionalisierte Formen der Einflußnahme gibt. In der Wahl erfolgt keine unmittelbare Beauftragung einzelner Abgeordneter durch eine bestimmte Vielzahl von Wählern, sondern jeder Abgeordnete ist „Vertreter des ganzen Volkes", an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen (Art. 38 GG; ausführlich §111.; §41.). Kennzeichen für das bundesdeutsche parlamentarische Regierungssystem ist eine dreifache Repräsentation: Repräsentation der Wähler eines Wahlkreises
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durch „ihren" Wahlkreisabgeordneten, Repräsentation des ganzen Volkes durch jeden Abgeordneten und Repräsentation des Volkes in der Ausübung der Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 GG). Ergänzt wird dieses Repräsentations- und Vermittlungssystem in der politischen Willensbildung durch die politischen Parteien, denen nahezu jeder Abgeordnete und jedes Mitglied einer Regierung - weniger die Angehörigen der Verwaltung und der Gerichte - angehören und die bei der „politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken (Art. 21 Abs. 1 G G , zu politischen Parteien siehe unten). In deren internen Zirkeln wird in der Regel über die Aufstellung von Kandidaten für die Wahl zum Bundestag oder zu einem Landtag entschieden, ohne daß der Wähler und oft auch nicht die Parteimitglieder darauf großen Einfluß nehmen. In der historischen Entwicklung hat sich eine Wendung weg vom imperativen Mandat, Bindung des Abgeordneten an bestimmte Aufträge, hin zum freien Mandat (Jung: 1990; Müller: 1966) vollzogen. Das imperative Mandat erweist sich als nicht funktionsfähig, sobald die Mitwirkung der Mandatsträger bei einer Vielzahl politischer Entscheidungen, die nicht vorweg klar definierbar sind, verlangt wird. Der Machtzuwachs beim Parlament, die Ausbildung seiner staatsleitenden Funktion impliziert eine Entformalisierung des Verhältnisses vom Mandatsträger zum Bürger, dieser wird „Wahlbürger". Mit dem „freien Mandat" verbindet sich als Problem, daß die Abgeordneten abgehoben von der politischen Basis agieren, einflußstarken Interessen folgen oder ihr politisches Handeln mit persönlichen Karrierewünschen verbinden (Herzog/ Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990; auch § 131. und II.). Als Alternative werden verschiedene Modelle eines Rätesystems, das heißt einer durchgängigen Entscheidungsmitwirkung der politischen Basis diskutiert (Bermbach: 2 1973), ohne daß solche Systeme bislang als genügend funktionsfähig zur Wahrnehmung einer staatsleitenden Funktion erklärt werden konnten. Das Ergebnis der theoretischen Erörterungen, welche auf eine Stärkung partizipatorischer Elemente zielen (Lindner: 1990), läuft daher auf Versuche einer Reform des bestehenden parlamentarischen Systems zu, um dessen Verhaltens- und Funktionsdefizite zu mindern (Schütt-Wetschky: 1987; näheres § 11 V.; § 14IV.). Die politische Theorie verzeichnet eine Reihe von Versuchen, das Vermittlungsverhältnis von Bürger und Abgeordneten sowie von Bürger und Staatsorganen im parlamentarischen Regierungssystem zu bestimmen. Es wird zwischen identitäts-, vertretungs- und delegationstheoretischen und funktionalistischen Ansätzen - um die wesentlichen zu nennen - unterschieden (Fraenkel: 1958/51973; Hofmann: 2 1990; von Alemann: 1985; Kimme: 1988; Thaysen: 1988a; Gusy: 1989; Rausch: 1968). Die Definition der genannten Repräsentationsverhältnisse hängt von dem zugrunde gelegten Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus ab (Böckenförde: 1983b; Dreier: 1988; Röhrich: 1981; Leibholz: 3 1967; Schmitt: 1923). Nach den verfassungsrechtlichen Repräsentationsregeln ist es nicht bedeutsam, ob die Repräsentanten in Alter, Geschlecht, Beruf und landsmannschaftlichem Herkommen den Repräsentierten entsprechen. Für das Verständnis und die Vermittlung der unterschiedlichen gesellschaftlich relevanten Interessen kann es jedoch förderlich sein, wenn das Parlament in seiner Zusammensetzung der Gesellschaftsstruktur entspricht. In der parlamentarischen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland ist und war dies nie der Fall. Weder sind die sozial minderprivilegierten Gruppen und Schichten noch die Frauen entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil im Parlament vertreten (Kaack: 1988a + b). Eine Quotierung z. B.
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hinsichtlich des Verhältnisses von Männern und Frauen bei den Mandatsträgern könnte als Maßnahme der politischen Parteien wünschenswert scheinen. Sie kann gesetzlich gefördert werden, soweit es sich um einen Chancenausgleich in der Wahlbewerbung handelt, ist aber kein Verfassungsgebot (Ebsen: 1989). Allgemeine politische Beteiligung und Akzeptanz des Parlaments sind nicht nur von dem im Parlament angesammelten „Sachverstand", sondern auch von dessen Repräsentationsleistung in Hinblick auf die Bevölkerung abhängig. Dabei ist auch von Bedeutung, daß Politik als ein öffentlicher Prozeß mit vergleichbaren Chancen zur politischen Selbstbestimmung und Mitbestimmung erfahren wird. Dies zu ermöglichen ist eine wesentliche Funktion der Grundrechte. Um die politische Selbstbestimmung des Volkes in wichtigen Angelegenheiten unmittelbar zur Geltung zu bringen, erscheint es prüfenswert, einen Volksentscheid nicht nur in Fragen der Neugliederung der Bundesländer zuzulassen (Art. 29 GG). e) Gemeinwohlbindung des einzelnen Abgeordneten Die Vertretereigenschaft der einzelnen Abgeordneten für das ganze Volk beinhaltet dem Prinzip nach auch eine Begrenzung des Mehrheitsprinzips. Soweit die Zukunftswirksamkeit und der Risikogehalt politischer Entscheidungen nicht beantwortet werden können und selbst ihre Zweckmäßigkeit in einem politisch abstimmungsfähigen Zielsystem offen bleiben muß, erfordert das politische Amt des Volksvertreters, unabhängig von parteipolitischen Interessen oder einem angenommenen Mehrheitswillen abzustimmen. Das Mehrheitsprinzip sagt nichts aus über den Wahrheitsgehalt einer Entscheidung, sondern nur etwas über ihre demokratische Legitimation und Verbindlichkeit. In seinem Abstimmungsverhalten hat sich der Abgeordnete an einem - nicht eindeutig definierbarem - Gemeinwohlbegriff zu orientieren, welcher auch den Verzicht auf Entscheidungen mit unbekannt hohen Risiken bedeuten kann.
2. Regierung Das parlamentarische Regierungssystem wird wesentlich durch das Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung bestimmt. Konstitutiv für dieses ist einerseits die verfassungsrechtliche Abgrenzung der Eigenbereiche von Parlament und Regierung, andererseits ihre wechselseitige Verflechtung. Darüberhinaus sind vor allem das praktizierte Selbstverständnis von Parlament und Regierung und ihre jeweiligen Rückbindungen zu den Ebenen der organisierten Interessen und der politischen Öffentlichkeit erwähnenswert. Politische Spannungen können sich aufgrund unterschiedlicher Interessenorientierung in Einzelfällen vor allem in Finanz- und Kompetenzangelegenheiten - auch im Verhältnis Regierung zu Bundesländern und im Verhältnis Bundestag zu Bundesrat ergeben. a) „Kanzlerdemokratie" Kennzeichen des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland ist die starke Stellung des Bundeskanzlers (Doering-Manteuffel: 1991; Haungs: 1989). Nur er wird vom Parlament gewählt, die Bundesminister
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werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Die Bundesminister leisten - wie auch der Bundeskanzler - den Eid vor dem Bundestag (Art. 64 Abs. 2 G G ) . Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür Verantwortung. Innerhalb dieser Richtlinien leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung (Art. 65 Satz 1 und 2 G G ; hierzu § 1 III.). In der Verfassungspraxis ist die Stellung des Bundeskanzlers von mehreren Faktoren abhängig: Persönlichkeit, Stellung innerhalb seiner Partei, Einparteienregierung oder Koalitionsregierung. In jedem Fall ist aber der Bundeskanzler gehalten, auf unterschiedliche politische Interessen innerhalb seiner Partei sowie auf die unterschiedlichen Interessen der Koalitionspartner Rücksicht zu nehmen, will er die parlamentarische Mehrheit für sich und seine Regierungspolitik sichern.
b) Regierungsfunktion Besondere Regierungsfunktionen (Scheuner: 1952; Böckenförde: 1964; Lehngut/Vogelsang: 1988, S. 532ff.; Magiera: 1979, S. 218ff.; Mössle: 1986, S. 156ff.; Stein: l2 1991, S. 44ff.; Stammen: 1967), die sich aus der Struktur des politischen Systems ergeben, sind die Koordination der verschiedenen Regierungs- und verwaltungspolitischen Aktivitäten (hierzu GschOBRg) und die Bestimmung politisch wünschenswerter und zweckmäßiger Handlungsalternativen. Im Zusammenhang dazu steht die Haushaltsplanung (Art. 109-115 G G ) mit der Zielsetzung, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bei der Erledigung der Staatsaufgaben zu sichern. Wichtig sind schließlich auch die Organisationskompetenz für den Regierungsbereich sowie die Weisungs- und Aufsichtsfunktion zur Sicherung eines recht- und zweckmäßigen Verwaltungshandelns. Bereiche mit überwiegend eigener Kompetenz der Regierung sind neben der Aufgabenplanung vor allem die auswärtige Politik, die Verteidigungs- und die Informationspolitik. Bei letzterer sind zu unterscheiden die Verfügungsgewalt über Informationen (z. B. Informationsbeschaffung durch Geheimdienste) und die Verfügungsmöglichkeiten über die Informationsverteilung (Presse- und Informationsämter). Das Parlament kann in vielfältiger Weise in Wahrnehmung seiner staatsleitenden Funktion Einfluß auf die Regierung ausüben (ausführlich § 11). Unabhängig von den verfassungsrechtlichen Kompetenzen sind aber die politischen Handlungsmöglichkeiten der Regierung und ihrer einzelnen Minister auf Grund der ihnen zur Verfügung stehenden Verwaltungspotentiale griffiger. Dies gilt nicht nur für die Vorbereitung und Ausführung von Gesetzen, sondern auch für die Kooperation mit interessengebundenen Organisationen im Wirtschafts- und Sozialbereich. In der politischen Praxis ergibt sich daher häufig ein Übergewicht der Exekutive gegenüber dem Parlament, da die Parlamentsmehrheit regelmäßig ihre Interessen mit jenen der Regierung verbindet, um das beiderseitige politische Ansehen zu fördern und sich Wahlchancen zu sichern. Der Eigenbereich des Parlamentes kommt durch die Mehrheitsfraktion(en) gegenüber der Regierung eher informell zur Geltung. Zur politischen Öffentlichkeit hin wird er vor allem von der parlamentarischen Opposition zum Ausdruck gebracht.
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3. Verwaltung Gemäß Art. 20 Abs. 2 G G wird die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt. Die vollziehende Gewalt ist an Gesetz und Recht gebunden. Der Begriff „vollziehende Gewalt" umfaßt dabei die Regierung und die ihr unmittelbar oder mittelbar als verselbständigte Einrichtungen nachgeordneten Verwaltungen. Nach dem Grundgesetz liegt der Schwerpunkt der vollziehenden Gewalt im Sinne der Gesetzesausführung bei den Ländern (Art. 83 GG).
a) Struktur des Verwaltungssystems Die Stabilität und Leistungsfähigkeit eines politischen Gemeinwesens ist wesentlich abhängig von seinen Verwaltungen (Herzog, R.: 1970; Ellwein: 1971; Ellwein/Hesse: 6 1987, S. 342ff.; Czybulka: 1989, S. 99ff., 157ff.; Schmidt-Aßmann: 1989), deren spezifischer Organisation, Rekrutierung und Qualifikation des Personals und deren Verfahrensweisen (bürokratisches Prinzip: Weber, M.: 1921/ 5 1985, S. 126ff., 551ff.; Schluchter: 1972; Dreier: 1991, S. 174ff.). Die Organisation wird durch das hierarchische Prinzip, das Verfahren durch ein hohes Maß an Formalisierung, Standardisierung und Entindividualisierung bestimmt. Hoheitsrechtliche Befugnisse sind dabei in der Regel den Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, „die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen" (Art. 33 Abs. 4 G G ; Beamtenverhältnis). Die Bindung an Gesetz und Recht beinhaltet nicht nur die Bindung an das vom Parlament gesetzte Recht, sondern auch eine unmittelbare Bindung der Verwaltung an das Verfassungsrecht. Die demokratische Legitimation der Verwaltung ist - abgesehen von Selbstverwaltungseinrichtungen - nur eine vermittelte, sie liegt letztlich in der politischen Verantwortung des jeweiligen Ministers. Ihre Eigenlegitimation erfährt die Verwaltung - ähnlich wie die Gerichte - in der Akzeptanz der Verfahren und vor allem ihrer Leistungen (von Brünneck: 1990). Entsprechend ihrer Aufgaben wird zwischen Ordnungs- oder Eingriffsverwaltung, Leistungs-, Planungs-, Finanz- und Steuerverwaltung unterschieden. Kennzeichen des Verwaltungssystems ist im Rahmen der unmittelbaren Staatsverwaltung die Behördenorganisation. Daneben gibt es in einzelnen Politikfeldern eine Vielzahl mehr oder weniger selbständiger Verwaltungseinrichtungen in Form von Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts (Becker, B.: 1989, S. 547ff.; Pankoke/Nokielski: 1977, S. l l f f . ) .
b) Funktion öffentlicher Verwaltungen Verwaltung ist eine Funktion von Politik. Ihr obliegt die Erarbeitung und Auswahl von Alternativen in der Wahrnehmung und Ausführung der Staatsaufgaben, die Risikobeurteilung, die Informationsbeschaffung, -bereitstellung und -Verarbeitung. Verwaltung kann als der „arbeitende Staat" verstanden werden (Hesse, J. J. : 1990b). In und durch ihre Angehörigen manifestiert sich die Staatsraison. D e r Verwaltung kommt eine gewisse „Allzuständigkeit" zu. Sie hat gesellschaftliche oder individuelle Probleme als öffentliche wahrzunehmen und Vorschläge zur staatlichen Problembearbeitung zu entwickeln. Sie ist für den Ge-
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setzesvollzug zuständig und hat insbesondere im Sozial- und Kulturbereich eine umfassende Dienstleistungsfunktion, wie ihr im Umweltbereich eine Überwachungsfunktion zukommt. Entsprechend der verschiedenen Funktionen haben sich unterschiedliche Verwaltungstypen herausgebildet (z.B. innere Verwaltung, Polizei-, Kultus-, Sozial-, Umweltverwaltung), die ihre je spezifische Klientel haben, deren Probleme wahrnehmen und im Gesetzesvollzug in das politische Gesamtsystem integrieren (Mayntz: 3 1985, S. 60ff.). Das breite Aufgabenspektrum der Verwaltungen und ihre geringe politisch-parlamentarische Einbindung sowie die aufgabenbezogene Verflechtung zwischen verschiedenen Verwaltungen fördert Verselbständigungstendenzen des „administrativen Systems". Ihre effizienz- und effektivitätsorientierte Arbeitsweise und deren formalisierte Regelbindung kann demokratiehemmend wirken und, gefördert durch die spezifische Verwaltungssprache, die Identifikation des Bürgers mit dem Staat erschweren. Ähnlich wie bei den Gerichten zeigen sich bei den Verwaltungen - vor allem auf den höheren Hierarchieebenen - starke Tendenzen zur Entwicklung eines eigenen Selbstbewußtseins und in der Rekrutierung des Personals eine hohe Traditionsbindung einerseits, Verflechtungen zu politischen Interessengruppen andererseits (Benzner: 1989), die sich nicht immer mit der erforderlichen Offenheit gegenüber der Eigenart unterschiedlicher gesellschaftlicher Probleme oder neuen Aufgaben und ihren Risiken verbinden.
c) Verwaltungsverfahren Das Verwaltungshandeln ist im Verhältnis zum Bürger durch Verwaltungsverfahrensgesetze geregelt. Wesentliche Prinzipien sind das Amts- und das Zweckmäßigkeitsprinzip, die Verpflichtung zu Auskunft und Beratung des Bürgers sowie eine Mitwirkungspflicht des Bürgers, soweit er Leistungen in Anspruch nehmen will. Verschiebungen in den Aufgaben für öffentliche Verwaltungen und dem eingesetzten Instrumentarium sind daran erkennbar, daß neben das hoheitliche Handeln der Verwaltungen zunehmend auch Verwaltungshandeln durch Verträge und Absprachen - vor allem im Umwelt- und Baubereich - tritt (Hill, H.: 1990; Kloepfer: 1991a). Der durch eine Verwaltungsmaßnahme betroffene Bürger hat das Recht, eine Verwaltungsentscheidung (Verwaltungsakt oder -Verfügung) durch übergeordnete Verwaltungsinstanzen beziehungsweise die Verwaltungsgerichte überprüfen zu lassen. Nur im Naturschutz- und Umweltbereich gibt es bislang die Möglichkeit der Verbandsklage. Danach haben nicht nur unmittelbar Betroffene, sondern auch Verbände, die den Naturschutz als ihre Aufgabe ausgeben, das Recht, sich am Verfahren zu beteiligen und Klage zu erheben (Frank: 1989, S. 693ff.; Bizer/Ormond/Riedel: 1990). Verwaltungsintern ergibt sich eine starke Bindung des Vollzugshandelns von Verwaltungsstellen durch Verwaltungsverordnungen, -anweisungen und -erlasse übergeordneter Verwaltungsstellen, um die Einheitlichkeit und Steuerbarkeit des Verwaltungssystems zu gewährleisten. Über den Einsatz der neuen Informations- und Kommunikationstechniken werden quantitative Vereinfachungen und qualitative Verbesserungen in der Verwaltungsproduktion angestrebt (Brinckmann/Kuhlmann: 1990). Die Technisierung des Staates hat ihrerseits Rückwirkungen auf Struktur und Funktion der Staatsorganisation: Gestaltungsspielräume und kommunikative Aushandlungsprozesse werden begrenzt. Gleichzeitig können dem Bürger mehr Informationen
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zur Verfügung gestellt werden (Ehlers: 1991; Grimmer: 1990; Dehnhard: 1989). Die informations- und kommunikationstechnische Vernetzung zwischen Verwaltungseinheiten kann Kommunikationsbeziehungen intensivieren und Steuerungspotentiale verstärken.
II. Mediatisierung politischer Meinungs- und Willensbildung 1. Politische Parteien Das parlamentarische System zielt auf eine Verbindung von Volk und Staatsgewalt in der Ausübung von Herrschaft. Im organisationsrechtlichen Sinne wird diese Vermittlungsfunktion von den Abgeordneten wahrgenommen, im politischen Sinne kommt sie vor allem den politischen Parteien zu. Die politischen Parteien wirken unmittelbar in der Öffentlichkeit und konstituieren mit die politische Öffentlichkeit. Im Parlament wirken sie durch die ihnen angehörenden und in Fraktionen organisierten Abgeordneten (erläuternd § 4 III.). Nach Art. 21 G G wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen; über die Herkunft ihrer Mittel müssen sie öffentlich Rechenschaft geben. Die staatsbezogene Stellung der politischen Parteien wird deutlich in Art. 21 Abs. 2 G G , wonach politische Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, verboten werden können. Aufgaben der politischen Parteien sind nach § 1 Abs. 2 Parteiengesetz insbesondere „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmen, die politische Bildung anregen und vertiefen, die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung befähigte Bürger heranbilden, sich durch Aufstellung von Bewerbern an den Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden beteiligen, auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung Einfluß nehmen, die von ihnen erarbeiteten politischen Ziele in den Prozeß der staatlichen Willensbildung einführen und für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen sorgen". Die politischen Parteien haben so eine Eliten- und Regierungsbildungsfunktion sowie eine Zielfindungsfunktion. Sie dienen der Artikulation und Aggregation politischer Interessen, der Mobilisierung und politischen Sozialisierung der Bürger und bieten politische Betätigungsarenen an. Das Bundesverfassungsgericht hat im Blick auf die Bedeutung der politischen Parteien festgestellt, daß zu den grundlegenden Prinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung das Mehrheitsprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition gehören. Keine Partei hat dabei Anspruch auf ein Monopol richtiger Erkenntnis und Zielsetzung und richtigen politischen Verhaltens. Auch für oppositionelle Parteien muß politischer Bewegungsraum bleiben, soweit diese den Anforderungen des Art. 21 Abs. 2 G G entsprechen (BVerfGE 2, 1). In der staatsbezogenen Mittlerfunktion der politischen Parteien liegt eines ihrer Dilemmata begründet: eine Vielzahl von politischen Aktivitäten im Rahmen bestimmter Grundorientierungen anzuregen und aufzunehmen, gleichzeitig aber als einheitliche, politisch berechenbare und verantwortungsfähige Organisation zu gelten. Dies führt zu immer neuen Differenzen zwischen basisdemokratischen Bindungen und organisierter Leitung.
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Das Parteiengesetz regelt Mindestanforderungen an die politischen Parteien. Sie müssen eine schriftliche Satzung und ein schriftliches Programm haben, sich in Gebietsverbände gliedern und die Wahl ihrer Organe sowie die Beschlußfassung der Parteiprogramme auf Mitglieder- und Vertreterversammlungen vornehmen. Es gibt kein Recht auf Mitgliedschaft in einer Partei, andererseits verlangt das Parteiengesetz für den Ausschluß aus einer Partei ein förmliches Verfahren. Kennzeichen der politischen Parteien ist heute eine geringe Partizipation der Mitglieder an den Prozessen der Willens- und Entscheidungsfindung, eine starke Verflechtung zwischen verschiedenen Parteiebenen und zwischen den Funktionsträgern auf den verschiedenen politischen Arenen sowie ein Übergewicht von Experten (Beyme, von: 2 1984; Böhret/Jann/Kronenwett: 3 1988, S. 189ff.; Mintzel/Oberreuter: 1990; Michels: 2 1957). Ein zweites Problem ergibt sich aus der Stellung der politischen Parteien innerhalb des Staates und der über die Ausgestaltung des Wahlrechtes vorgenommenen Konzentration der politischen Willensbildung. Dadurch wird zwar eine parteipolitische Zersplitterung vermieden, die Konkurrenz weitgehend auf die etablierten Parteien beschränkt und ihre Staatsbezogenheit gestärkt. Solche Konzentration hat zur Folge, daß sich die politischen Parteien überwiegend zu „Volksparteien" entwickeln, und ein hohes Maß an Integrationsfähigkeit aufbringen müssen, um ein breites Spektrum politischer Wähler zu erfassen. Politische Auseinandersetzungen werden durch sogenannte Sacherörterungen ersetzt, die in einem Netz von Parteiorganen, Fraktionsführung, einzelnen sachverständigen Abgeordneten und Verwaltungsakteuren stattfinden. Hier sind grundsätzliche Probleme der parteienstaatlichen Demokratie erkennbar (Leibholz: 3 1967, S. 78ff.; Weber, W.: 1951/31970; Wildenmann: 1989). Die politischen Parteien werden von Verbänden mitgetragen. Verbände sind über die Parteien durch Abgeordnete im Parlament vertreten und transportieren so spezifische Sachkenntnisse und Sachinteressen. Der Einfluß der Verbände ist von ihrer Größe und gesellschaftspolitischen Bedeutung abhängig (vertiefend § 13 II. und III.). Mit dem Erstarken der Parteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland verbindet sich ein Strukturwandel dieses Systems von der liberalrepräsentativen zur (egalitären) parteienstaatlichen Demokratie (Leibholz). Die Parteien haben die Funktion übernommen, den sogenannten „Gemeinwillen" auszubilden und ein angenommenes „Gemeinwohl" zu definieren; sie bieten in hohem Maße interessenbezogene Identifikationsmöglichkeiten (Falter/Rattinger/Troitzsch: 1989; Nohlen: 1989, S. 293ff.; Ritter/Niehuss: 1987, S. 55ff., 153ff.). Eine dritte Schwierigkeit der politischen Parteien resultiert aus ihrer Struktur und Funktion. In dem Maße, in dem politische Parteien nicht nur Vereinigungen von Parteimitgliedern zur Durchsetzung gemeinsamer politischer Ziele sind, sondern Parteien als Organisationen-wie andere Dienstleistungseinrichtungen auch - Zustimmung einwerben und ständig politisch präsent erscheinen müssen, verbindet sich mit ihrer Tätigkeit ein hoher Finanzbedarf. Das Interesse an staatlichen Zuwendungen ist stark ausgebildet (Landfried: 1990). Um eine finanzmittelbezogene Einflußnahme auf politische Parteien deutlich zu machen, verlangt bereits Art. 21 Abs. 1 S. 4 G G , daß die Parteien über die Herkunft ihrer Mittel Rechenschaft geben müssen. Um die Wettbewerbschancen und eine gewisse Gleichstellung zwischen den verschiedenen politischen Parteien unabhängig von
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der Sozialstruktur ihrer Mitglieder zu sichern, hat das Bundesverfassungsgericht frühzeitig Grenzen für die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden festgelegt (BVerfGE 8, 51 (62ff.); 24, 300 (358ff.); 52, 63 (82ff.)). Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht eine allgemeine staatliche Parteienfinanzierung für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 20,56 (96ff.)), aber eine Wahlkampfkostenfinanzierung aus Haushaltsmitteln (derzeit 5 D M pro eingeworbener Stimme) und neuerdings eine finanzielle Förderung ihrer sonstigen verfassungsrechtlichen Aufgaben für zulässig erachtet (BVerfG in JZ1992,794ff.) (Ipsen: 1992). Besondere Bedeutung hat schließlich das Bundesverfassungsgericht einem Chancenausgleich zwischen den politischen Parteien zugemessen, um dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahlchancen entsprechen zu können. Entsprechende finanzielle Regelungen sieht § 22a PartG vor (BVerfGE 52,63 (89); 73,40 (80ff.)). In den politischen Parteien spiegeln sich einerseits die sozialen und ökonomischen Strukturen der Gesellschaft und die in ihr wirksamen programmatischen Ziele wider; andererseits formen die politischen Parteien gesellschaftliche Bedürfnisse und Wählerinteressen mit. Dabei ergibt sich unter Umständen ein Forderungswettbewerb zwischen den Parteien, was die Regierbarkeit des politischen Systems und die Glaubwürdigkeit der Parteien, da solche Forderungen nur begrenzt realisierbar sind, beeinträchtigen kann. Die Parteien sind Instrumente der Machtausübung, fungieren als Vermittler demokratischer Legitimation für verbindliche Entscheidungen. Sie sind Interessengruppen in eigener Sache und bilden politisches Führungspersonal (Steffani: 1988b). Diese Mehrfunktionalität politischer Parteien kann in Konflikt zu ihrer hauptsächlichen Aufgabe, lebendiger Mittler der politischen Meinungs- und Willensbildung zu sein, geraten. Parteienherrschaft kann in Widerspruch zur Volkssouveränität stehen (Arnim, von: 1990). Tendenzen einer bürokratischen und technokratischen Verkrustung der sozialstaatlichen Verfügung über die Lebensinteressen in der Hand des Staates und der Parteien begünstigt außerparlamentarische und alternative Bewegungen. Ob Macht und Einfluß der politischen Parteien zu weit gehen, ob die Bundesrepublik ein „Parteienstaat" ist, wird diskutiert. Alternativen zur politischen Funktion der Parteien sind bisher nicht entwickelt worden. Daß Engagement in politischen Parteien, und das heißt auch Ausbildung von Kompetenzen, belohnt sein will und belohnt werden muß, ist eine Funktionsbedingung der politischen Parteien (zur Diskussion Vierhaus: 1991 und § 4 III.).
2. Verbände und andere Interessenorganisationen Das Grundgesetz nennt nur die politischen Parteien als Mittler in der politischen Willensbildung des Volkes (Art. 21GG). In der Praxis wird diese Mittlerfunktion sowohl zu den staatlichen Organen unmittelbar als auch zu den politischen Parteien und ihren Untergruppierungen von einem ganzen Netz von Organisationen und Institutionen, von Verbänden, Vereinen und Gesellschaften betrieben, die als solche verfassungsrechtlichen Schutz gem. Art. 9 Abs. 1 GG genießen. Große Unternehmen oder wissenschafts- und technologiepolitische Einrichtungen nehmen auch unmittelbar Einfluß (Hinweise § 19 II.-IV.). Die Entwicklung von Verbänden steht im Spannungsverhältnis zwischen Staatsorganisation und Selbstorganisation der Individuen. Während sich im letzten
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Jahrhundert zunächst die landwirtschaftlichen Verbände, aber auch Gewerbevereine und Handwerkervereinigungen ausgebildet haben, folgten erst später im Verlauf der Industrialisierung die Industrieverbände und der gewerbliche Mittelstand. Nach 1945 wurde vielfach an die Verbandsstruktur der Weimarer Zeit angeknüpft, wenn auch neue Organisationsformen gewählt wurden. Dies gilt sowohl für den Bundesverband der deutschen Industrie als auch für den deutschen Bauernverband sowie - wiederum erst verspätet ausgebildet - den Zentralverband des Deutschen Handwerks und die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels. Die Arbeiterbewegung hat sich sehr früh besonders im Deutschen Gewerkschaftsbund neu organisiert. Kennzeichen dieser Verbände ist eine hohe organisatorische Stabilität und die Ausbildung eines breiten Instrumentariums politischer Einflußnahme (Ulimann, O.: 1988). Die Verbändestruktur folgt vor allem in der regionalen Gliederung weitgehend der Strukturierung und Kompetenzverteilung im politischen System. Politisch wirksam sind Verbände durch Darstellung ihrer Interessen in der Öffentlichkeit und in Anhörungen der Bundestagsausschüsse. In den sog. „Hearings" (dazu § 11IV.) spielen unabhängige Sachverständige eine untergeordnete Rolle. Wichtig für die Verbandsarbeit sind informelle Kontakte zu den Führungseliten der Politik, sei es im Rahmen institutionalisierter Gesprächskreise mit Abgeordneten, Regierungsmitgliedern oder auch leitenden Verwaltungsbeamten, sei es in Form von Einzelgesprächen oder der Abgabe von Statements (Müller-Rommel: 1988; Weßels: 1987). Auf die Verflechtung zwischen den politischen Parteien und Verbänden ist bereits hingewiesen worden (auch § 13 II.). Verbände erhalten von der Bundesregierung oder den einzelnen Bundesministerien Gesetzentwürfe zur Stellungnahme zugeleitet, wie es in der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien und in der Geschäftsordnung der Bundesregierung geregelt ist. Auf diese Weise soll erreicht werden, daß gesellschaftliche Einrichtungen frühzeitig in die Ausarbeitung von Gesetzesvorhaben einbezogen werden, die sachspezifischen Kenntnisse und Lagebeurteilungen der Verbände berücksichtigt werden und so die praktische Umsetzbarkeit von Gesetzen oder anderen Maßnahmen gefördert wird. Um in den Prozessen geregelter Meinungsbildung im (vor-)parlamentarischen Raum mitwirken zu können, müssen sich die Verbände beim Präsidenten des Bundestages akkreditieren lassen. Sie werden in einer dort einsehbaren Liste mit ihren Vertretern verzeichnet. Die Problematik einer so strukturierten politischen Gesellschaft und ihrer Interessenentwicklungs- und Vermittlungsprozesse liegt in den unterschiedlichen Fähigkeiten verschiedener sozialer Gruppen, sich verbandsmäßig zu organisieren (Böhret/Jann/Kronenwett: 3 1988, S. 178ff.; Eschenburg: 1955; Kaiser: 2 1978; Weber, J.: 2 1980; hierzu § 13 III.). Starke Verbandsorganisationen entwickeln ein Eigeninteresse an ihrem Überleben, auch bei Verminderung ihrer ursprünglichen politischen Funktion (z. B. Vertriebenenverbände). Die Stellung solcher Verbände ist dann besonders problematisch, wenn diese wie viele andere auch, sei es für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben oder auch für die Wahrnehmung ergänzender, vor allem Bildungsaufgaben, staatlich finanziell gefördert werden, der Staat also die Organisation bestimmter Interessen und Meinungen finanziell absichert und mit diesen politisch kooperiert. Im Vordergrund politikwissenschaftlicher Erörterungen steht heute die Frage nach der Verflechtung von Staat und Verbänden (Korporatismus) (Mayntz: 1992; Böhret/Jann/Kronenwett: 3 1988, S. 178ff.; Lompe: 1987, S. 211ff.; von Alemann/Heinze: 2 1981; Steinberg: 1985). Der Staat benutzt und benötigt Verbände für die Erfüllung seiner vielfälti-
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gen Aufgaben, insbesondere im Sozial- und Wirtschafts- sowie im Umweltbereich. Er bindet sich auch an diese, wenn er sie als Instanzen der Politikbestimmung und -ausführung einsetzt. In gewisser Weise kann in diesem Prozeß von einer Vergesellschaftung des Staates gesprochen werden. Im Technikbereich haben Verbände Normsetzungsfunktionen übernommen (s.a. § 19; DIN-Normen, Regeln der Technik), ohne hierfür ausdrücklich parlamentarisch legitimiert zu sein (Denninger: 1990). Es bilden sich neue Formen der Formulierung und Durchführung von Politik. Verfassungsrechtliche Konstitutionalisierung von Verbänden, ähnlich den politischen Parteien und rechtliche Anforderungen an ihre - demokratische - Binnenstruktur sind Themen kontroverser Diskussionen (Böckenförde: 1976; Grimm: 1983; Czada: 1991; Lehmbruch: 1991).
III. Politische Öffentlichkeit Das parlamentarische Regierungssystem ist geprägt durch differenzierte und vernetzte Organisationen der politischen Meinungsbildung, Willensbildung und Entscheidungsfindung. Demokratischer Parlamentarismus bedarf der politischen Öffentlichkeit und der Interaktion und Kommunikation zwischen seinen verschiedenen Ebenen und Einrichtungen. Politische Öffentlichkeit ist nicht staatlich zu organisieren, sondern durch Effektivierung grundgesetzlicher Freiheitsrechte staatlich zu gewährleisten, insbesondere der Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 G G ) und der Versammlungsfreiheit (Art. 8 G G ) , aber auch durch die (einschränkbare) Gewährleistung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG). Politische Öffentlichkeit bildet sich in den Aktivitäten einer Vielzahl von Organisationen, Assoziationen und Individuen. In dem „Forum" politische Öffentlichkeit betätigen sich Regierung und Parlament, Parteien und Verbände sowie Wirtschaftsunternehmen und Wissenschaftseinrichtungen. Sie wird mitgeformt durch die professionellen Informationsvermittler und Meinungsmacher wie Presse, Fernsehen und Rundfunk (dazu § 15), aber ebenso durch Kultureinrichtungen und Kunstpräsentationen oder die Kirchen und ihre Akademien. Diese organisierten Informationsmittler und Meinungsmacher präsentieren nicht nur ihre jeweils eigene politische Meinung, sondern wollen sich in dem „Forum" politische Öffentlichkeit gegenseitig beeinflussen und zur politischen Meinungsbildung beitragen. Politische Öffentlichkeit wird auch gebildet in politischen Diskussionen in Familie oder Schule, in Universitätsseminaren ebenso wie am Stammtisch oder Verein. Ihren Niederschlag findet politische Meinungsbildung in sehr unterschiedlichen Äußerungsformen wie Beschlüssen der Parteitage, Verlautbarungen, Stellungnahmen und Eingaben der Verbände, organisierten oder spontanen Versammlungen und Demonstrationen, in der Betätigung von Bürgerinitiativen oder im politischen Gespräch. Weil die freie Bildung politischer Öffentlichkeit und die Freiheit der Information und politischen Meinungsbildung konstitutiv für Demokratie und Parlamentarismus (Habermas: 1962; Sennet: 1983) sind, sind sie verfassungsrechtlich geschützt. Das Bundesverfassungsgericht nahm wiederholt Anlaß, ihre Gewährleistung zu sichern. Das Recht auf freie Meinungsäußerung geht nach Ansicht des Gerichtes umso weiter, je mehr es sich um einen Beitrag zum Meinungskampf in
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einer die Öffentlichkeit wesentlich interessierenden Frage handelt (BVerfGE 7, 198; 12,113; Stein: 12 1991,S. 106ff.). Die Pressefreiheit wird als subjektives Recht und als institutionelle Garantie verstanden. Wichtig ist deshalb eine pluralistische Struktur der Presse (BVerfGE 52, 283 (296)), wobei sowohl Informationsbeschaffung wie auch ihre Verarbeitung und Verteilung geschützt sind. In Anerkennung der besonderen Bedeutung von Rundfunk und Fernsehen für die Bildung der politischen Öffentlichkeit ist das Bundesverfassungsgericht mehrfach für die staatliche „Unabhängigkeit" der Rundfunk- und Fernsehanstalten und ihrer Programmgestaltung eingetreten (BVerfGE 12,205 (259ff.); 57,295 (323); 73,118 (152ff.); 74,297 (322ff.)). Der Staat selbst fördert politische Öffentlichkeit nicht nur durch auf Politikverständnis und politische Handlungsfähigkeit ausgerichtete Bildungsfächer (z.B. Geschichtsunterricht, Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Gesellschaftslehre), sondern auch durch die Förderung vielfältiger Weiterbildungseinrichtungen. Über staatliche Einrichtungen wie die Landeszentralen oder die Bundeszentrale für politische Bildung stellt er Bildungsmaterialien zur Verfügung. Die Bedeutung politischer Öffentlichkeit und die Notwendigkeit ihres Schutzes wird auch im Grundgesetz anerkannt, wenn dieses in Art. 18 G G eine Verwirkung der entsprechenden Grundrechte bei ihrem Mißbrauch zum Kampfe gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung vorsieht. Wichtig ist, daß Inhalt und Strukturen politischer Öffentlichkeit nicht nur durch zielgerichtetes politisches Agieren, sondern auch durch sogenanntes unpolitisches Verhalten bestimmt werden. Unpolitisches Verhalten führt zu einer Ablösung des staatlich organisierten und vielfach professionell durchdrungenen Politikbereiches von den Grundlagen lebendiger Demokratie und erleichtert die Durchsetzung organisierter politischer Interessen.
1. Institutionalisierte Formen der Rückbindung Es ist auffallend, daß das parlamentarische System in Deutschland - sieht man von einzelnen Bundesländern ab - neben Wahlen und den formierten Transmissionen politischer Auseinandersetzungen durch die politischen Parteien und Verbände keine weiteren Rückbindungsmechanismen zum Bürger ausgebildet hat. Formen eines imperativen Mandats oder Rätesystems, zumindest aber eines Volksentscheides in wichtigen politischen Fragen werden in der politisch engagierten Öffentlichkeit und in Zusammenhang mit einer Grundgesetzreform diskutiert. Die Partei „Die Grünen" war - vor allem in ihrer Übergangsphase von einer Bürgerinitiative und Bürgerbewegung zu einer herkömmlichen Partei - um die parteiinterne Institutionalisierung besonderer Rückbindungsformen (Mitgliedervollsammlung, Trennung Amt und Mandat, Rotationsprinzip u.a.) bemüht, ohne dabei auf Dauer politisch überlebensfähige Lösungen entwickelt zu haben (ausführlich § 14). Eine Form unmittelbarer Rückbindung zwischen Parlament und Staatsbürger ist nur das Petitionsrecht gemäß Art. 17 G G , wonach jeder das Recht hat, sich einzeln oder gemeinsam mit anderen an die Volksvertretung zu wenden. Organisierte, aber thematisch gebundene Rückbindung findet auch in den Anhörungen der Parlamentsausschüsse und - eingeschränkt - in der Tätigkeit von Enquetekommissionen statt (näher § 11IV.). Im übrigen gibt es rechtsförmige Beschwerde-,
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Widerspruchs- und Klageverfahren sowie die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde. Diese Verfahren sind entsprechend der institutionellen Differenzierung der Staatsgewalt selbständig und immer auf einen Einzelfall bezogen. Sie zielen auf Überprüfung staatlichen Handelns, vor allem des Verwaltungshandelns, auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder einem Gesetz. Zur Parlamentssache können sie nur bedingt durch ihre Öffentlichkeitswirkung werden, abgesehen von der Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichtes, auf Klage, Beschwerde oder Prüfungsantrag hin, ein bestimmtes gesetzgeberisches Handeln zur Beseitigung einer verfassungswidrigen Lage einzufordern.
2. Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, politische Demonstrationen Demokratie und Parlamentarismus bedürfen eines breiten Fundamentes politischer Öffentlichkeit und Auseinandersetzung als Teil allgemeiner politischer Kultur, als Ringen um die handlungsbegründende Wertordnung und als gesellschaftliche Handlungs- und Lebensformen. In dem Maße allerdings, wie Demokratie als Staatsform und als parlamentarische Herrschaftsordnung strukturiert und organisiert ist, bedürfen auch stärker individualisierte demokratische Ausdrucksformen der Strukturierung und Organisation, um in einer Massengesellschaft mit ihren etablierten Partei- und Verbandsorganisationen öffentliche Aufmerksamkeit und Durchsetzungsfähigkeit zu erhalten. Formen der Organisation dienen dazu, disparate, aber in den Grundanliegen übereinstimmende Interessen zu koordinieren, in gesellschaftlich-politisch relevante Meinungen zu transformieren und in die politische Auseinandersetzung zu transportieren (weiterführend § 14). Es kann sich hierbei um mehr oder minder lose organisierte Verbindungen und Assoziationen handeln, die in der Regel von Initiativgruppen ausgehen und durch ihre thematische Schwerpunktsetzung Zustimmung suchen - auch wenn sich diese unter Umständen nur auf den Widerspruch gegen die bestehende Herrschaftsordnung und sie bestimmende Interessen bezieht. Ihre Artikulationsform kann sich auf Protestversammlungen und Demonstrationen beschränken. Solche Aktivitäten können sich entsprechend ihres Interessenspektrums verdichten und planmäßige Strategien zu ihrer Durchsetzung entwickeln. Zu nennen sind hier die unterschiedlichen Formen von Bürgerinitiativen (Guggenberger: 1980; Guggenberger/Kempf: 1978; Thaysen: 1978; Mayer-Tasch: 1976). Bürgerinitiativen sind Ausdruck von Repräsentationsdefiziten in der parlamentarischen Demokratie und eines Wertewandels in der Gesellschaft. Sie verändern den Charakter des Repräsentationssystems, indem sie ihm ein Element der direkten Beteiligung hinzufügen. Minderheiten können Impulse für neue gesellschaftliche Ziele geben (dazu § 14 V.). Bürgerinitiativen werden in jüngerer Zeit von den sogenannten neuen sozialen Bewegungen (Roth/Rucht: 21992) abgelöst. Diese verfolgen weniger Partikularinteressen, sondern sind grundsätzlicher auf eine Änderung von Politikinhalten und eine Reform politischer Verfahren ausgerichtet. Sie sind in ihrer Struktur nicht auf die Realisierung eines bestimmten politischen Zieles ausgerichtet. Eine Form politischer Meinungsäußerung und Willensbekundung sind organisierte oder spontane Versammlungen und Demonstrationen, welche - soweit sie gewaltfrei sind - grundgesetzlich gewährleistet (Art. 8 GG) werden; dieses
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Grundrecht unterliegt der gesetzlichen Ausgestaltung (Versammlungsgesetz, BVerfGE 69, 315 (342ff.)). Versammlungen zielen weniger auf eine Durchsetzung bestimmter Interessen als auf ihre öffentliche Demonstration (Wassermann: 1984).
3. Außerparlamentarische Opposition, ziviler Ungehorsam, Widerstandsrecht Mehr im Bereich prinzipieller Auseinandersetzung mit dem bestehenden parlamentarischen Regierungssystem finden sich Gruppierungen der sogenannten außerparlamentarischen Opposition, die letztlich eine Änderung von Organisation und Verfahren oder zumindest der vorherrschenden Inhalte des parlamentarischen Systems einfordern. Demokratisch sind diese und andere Assoziationen, solange und soweit sie mit legalen Mitteln handeln und gewaltfrei sind. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Es ist eine Frage der politischen Kultur, wann und wofür das Gewaltmonopol eingesetzt wird. Formen des zivilen Ungehorsams sind Ausdruck des Protestes gegen vorherrschende politische Ziele und zu ihrer Realisierung eingesetzter Strategien in existentiell grundlegenden Wert- und Lebensfragen. Sie sind bewußte Grenzüberschreitungen zwischen Anerkennung der politischen Grundordnung und Widerspruch. In solchen Aktionen werden Gefährdungen in der Integrationsfähigkeit eines demokratischen politischen Systems und der Bedarf nach einer Erweiterung des Aktionsspektrums für Individuen und gesellschaftliche Gruppen erkennbar (Galtung: 1975; Rucht: 1984; Wassermann: 2 1991). Das Grundgesetz selbst gibt jedem Deutschen das Recht zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die Verfassungsordnung zu beseitigen, wenn andere Hilfe nicht möglich ist (Art. 20 Abs. 4 GG). Dieses Widerstandsrecht bedeutet nichts anderes als die Rückverweisung der Bestandserhaltung der Verfassungsordnung an den Träger der Staatsgewalt, das Volk, in der Gefahr des Verfassungsumsturzes.
IV. Verfassungssystem und parlamentarische Demokratie In den vorstehenden Abschnitten wurden die Grundzüge des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland nachgezeichnet: die verfassungsrechtlichen Strukturvorgaben, die Staatsaufgaben und ihre Finanzierung sowie die Organisation des parlamentarischen Regierungssystems, seine institutionalisierten Prozesse politischer Meinungsbildung und Entscheidungen und ihre Umsetzung. Politische Organisationen und Verfahren bilden das Gerüst, damit sich parlamentarische Demokratie aktuell ereignen und der Staat als einheits- und entscheidungsbildende Institution gesellschaftlich koordinierend und steuernd wirksam sein kann. Individuelles und gesellschaftliches Leben verändern und entwikkeln sich ständig in unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und technologischen Ausprägungen. Diese Veränderungen bestimmen Inhalte und Anforderungen an die parlamentarische Demokratie. Jeder Staat entwickelt seine spezifischen Eigenheiten und wird bestimmt durch die politische Kultur seiner Gesellschaft, wie er auch Teil dieser ist. In der politikwissenschaftlichen Diskussion gibt es eine Vielzahl von Ansätzen zur theoretischen Ortsbestimmung des
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heutigen Parlamentarismus (Böhret/Jann/Kroneriwett: 3 1988, S. 204ff.; Boldt, H.: 1980; Veen: 1972) und zur Struktur-"und Funktionsbestimmung des Staates (Hartwich: 1987; Nordlinger: 1987; Jürgeps: 1990; Seibel: 1990). Dabei läßt sich feststellen, daß der Staatsbezug - Staat verstanden als strukturierte, aber eigenständige und handlungsfähige Organisation - gegenüber dem Systembezug (politisches System, politisch-administratives System) - Staat als Vielzahl mehr oder weniger organisierter Akteure mit je spezifischer Funktion in und für das politische System Deutschlands - wieder an Bedeutung gewinnt. Dies kann Ausdruck eines zunehmenden gesellschaftlichen Steuerungsbedarfs, aber auch von Verschiebungen in der Fähigkeit zur Selbststeuerung gesellschaftlicher Teilbereiche und in ihren Möglichkeiten zur Leistungsproduktion sein (Beyme, von: 1991).
1. Spannungsverhältnisse Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geht von einem realistischen Menschenbild aus: einerseits dem egalitären, gemeinschaftsbezogenen, vernünftigen und diskursfähigen Bürger, der menschliche Würde innehat, und andererseits dem seine individuellen Interessen verfolgenden, egoistischen Menschen, der zur Durchsetzung seiner Interessen soziale und ökonomische Organisationen schafft, sich mit anderen befeindet und für ein friedliches Zusammenleben der mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten staatlichen Ordnung bedarf. Einerseits der freie Mensch, der sich in seiner Arbeit entfaltet und für sich selbst sorgt, zur Befriedigung von Interessen und Bedürfnissen Wirtschaftsunternehmen und kulturelle Einrichtungen schafft, und andererseits der bedürftige Mensch, der zur Sicherung seiner Existenzmöglichkeit oder zur Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit von Unternehmen oder kulturellen Einrichtungen der staatlichen Leistung bedarf. Einerseits der auf sich und seine lokale Umwelt bezogene Staatsbürger und andererseits der in das Geflecht von Staaten und internationalen Organisationen einbezogene Weltbürger. Das Grundgesetz trägt diesem Spannungsverhältnis Rechnung: Es gewährleistet mit den Grundrechten individuelle Freiheit und bindet sie an die ebenso zu schützende Freiheit des anderen und statuiert die soziale Verpflichtung des Gemeinwesens. Ausgehend vom Grundsatz der Volkssouveränität überträgt das Grundgesetz die Ausübung der Staatsgewalt auf besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung. Es garantiert die freie Entfaltung der Person, das Privateigentum, die Berufsfreiheit, die Bildungs- und Kulturfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und gibt doch dem Staat eine Vielzahl von Gesetzgebungskompetenzen zur näheren Bestimmung und sozialen Bindung dieser Freiheit (ergänzend § 1). Es erlaubt die freie Bildung von Assoziationen, Verbänden und Parteien, ermöglicht dem Staat selbst die Einrichtung einer Vielzahl von Organisationen zur Bereitstellung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Leistungen und überträgt ihm die Verantwortung für Sicherheit und internationalen Ausgleich. Die Entscheidung darüber, welche Leistungen der Staat und auf welche Art und Weise bereitstellen soll, ist Sache des Parlamentes. Ebenso obliegt es der Entscheidung des Parlaments, wie der Staat handelt. D e r Bürger schafft durch die Zahlung von Steuern - wozu er vom Parlament verpflichtet wird - die Voraussetzungen dafür und entscheidet in der Regel alle vier Jahre (bei einigen Landesparlamenten 5 Jahre) in Wahlen über inhaltliche Schwerpunkte staatlicher Leistungen. Zusätzlich gibt es vielfältige ge-
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genseitige Einflußnahmen zwischen privatem und staatlichem Bereich. Die Möglichkeiten zur Gestaltung und Einflußnahme sind unterschiedlich verteilt: Sie sind abhängig von Bildung und Besitz. Sie werden mitbestimmt von der Wirtschafts-, Arbeits- und Bildungsordnung. E s ist wiederum Sache des Staates, allgemeine Freiheit und gleiche Chancen in der politischen Mitbestimmung zu gewährleisten. Die parlamentarische Demokratie zielt auf „die Durchführung großer sozialer Veränderungen, die die Freiheit der Menschen maximieren" (Neumann, F . : 1967, S. 109; Steffani: 2 1973).
2. Aufgabenkomplexität und Politikverflechtung: Neue Anforderungen an den demokratischen Parlamentarismus „Der wirtschaftlich-technische Fortschritt bewirkt zunehmende Komplexität der Gesellschaft, erzeugt Organisationssteigerungen in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft und potenziert damit zugleich die zwei im modernen Industrialismus angelegten, einander diametral entgegengesetzten gesellschaftlichen Tendenzen, den Trend zur Freiheit und den zur Repression" (Neumann, F . : 1967). Die Anforderungen an staatliches Organhandeln wachsen stetig. Immer mehr individuelle und gesellschaftliche Probleme werden zu öffentlichen, ihre Bewältigung zu staatlichen Aufgaben. Dies gilt im Bildungs- ebenso wie im Sozialbereich (Neumann, L./Schaper: 3 1990) und insbesondere im Bereich der Wirtschaft. Zunehmend sind die Förderung von Wissenschaft und die Entwicklung neuer Technologien national wie international Sache des Staates (dazu § 16, § 17, II.). Es ergeben sich Politikverflechtungen (Scharpf/Reissert/Schnabel: 1976; Ritter, E . H . : 1979; Klatt: 1982; 1988; Steffani: 1985) aus • der Interdependenz der verschiedenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Probleme, die der Tätigkeit einer Vielzahl staatlicher Organe bedürfen; • der institutionellen Differenzierung des Staates und dem notwendigen Zusammenwirken verschiedener staatlicher Organe, sei es auf Bundesebene, zwischen Bund und Ländern oder zwischen Ländern und Gemeinden bei der Politikformulierung und der Aufgabenerfüllung • und der notwendigen Zusammenarbeit einer Vielzahl nationaler und zunehmend auch internationaler Verwaltungseinrichtungen für die Erarbeitung von Problemlösungsvorschlägen und deren Ausführung. Parallel dazu ist eine Verselbständigung hoehkomplexer Teilsysteme des politischen Systems mit Tendenzen der Selbststeuerung festzustellen, die die „Regierbarkeit" des politischen Systems erschweren. Das Parlament hat zwar die Kompetenz, durch die Festlegung von Geboten, Verboten und Erlaubnissen oder durch die Bereitstellung von Haushaltsmitteln für Infrastrukturleistungen, Sozialleistungen sowie wirtschafts- und technikfördernde Maßnahmen, über die Wahrnehmung staatlicher Probleme zu entscheiden. A b e r die institutionellen Möglichkeiten des heutigen Parlamentarismus sind - sei es im Bereich der Sozialpolitik, der Verteidigungs- und Rüstungspolitik oder der Wissenschafts- und Technologi'epolitik - gering, um auf Grund eigener Sachkenntnis die „richtigen" Entscheidungen zu treffen. Problembearbeitung durch politische Entscheidungen der Parlamente wird deshalb vielfach ergänzt oder ersetzt durch Mechanismen der administrativen Problembewältigung wie Aushandlungsprozesse, Konfliktbegrenzung durch Konsensbildung auf der Basis von Minimalkonsens, durch
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politische Kooperation und Koordination zwischen Verwaltungen und mit gesellschaftlichen Einrichtungen (Lehner: 1986; Eichener/Heinze/Voelzkow: 1991). Die Planungs- und Entscheidungsstruktur der Exekutive ist entsprechend ihres institutionellen Handlungsrahmens jedoch anders als jene der Parlamente: Sie ist in der Regel nicht öffentlich, formalisiert, auf die Stabilisierung des Status quo angelegt und zielt weniger auf die Gewinnung politischer Gestaltungsspielräume als auf die Minimierung von Problemdruck. Diese Entwicklung ist nicht unbedingt den Parlamenten zuzurechnen, sondern ist Ausdruck dafür, daß der heutige Staat noch keine adäquaten Steuerungsinstrumente gegenüber den Problemen der „spätkapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft" wie auch der „postmodernen Industrie- und Arbeitsgesellschaft" entwikkelt hat (Fürst: 1987; Mayntz: 1987; Pawlowski: 1986; Hesse/Benz: 1990). Die Vorstellung des kohärenten und von außen in Wirtschaft und Gesellschaft intervenierenden Staates ist nicht mehr wirklichkeitsentsprechend. Geeigneter erscheint es, von einer Vielzahl systemisch miteinander verbundener staatlicher Akteure auszugehen, die mit Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft in gewachsenen politischen Strukturen interagieren, wobei sich auch indirekte Wirkungsketten ergeben (Hall: 1985; Scharpf: 1987; Grande: 1989; Hesse, J. J.: 1990a). Begründet ist diese Entwicklung in der Stärkung gesellschaftlicher und Ökonomischef Einrichtungen, in der Zunahme von Handlungskompetenz und in der Ausbildung institutionalisierter Verhaltensformen einerseits, der strukturellen Verflechtung gesellschaftlicher mit staatlichen Organisationen und dem Verlust an Durchsetzungskraft staatlicher Handlungspotentiale andererseits (Scharpf: 1991). Die Parlamente formulieren nicht in erster Linie Politikinhalte, sondern sind eher Foren ihrer Veröffentlichung und Verrechtlichung auf der Grundlage vielfältiger, nie vollständiger eigener Informationen auf den von Regierung und Verwaltung erarbeiteten Vorlagen sowie politischen Vorgaben der Parteien. Es bedarf einer Stärkung der parlamentarischen Handlungskompetenz im Zusammenspiel mit den übrigen staatlichen Organen. Da parlamentarische Demokratie das offene Interagieren zwischen staatlichen Organen, intermediären Instanzen und politischer Öffentlichkeit zur Bedingung hat, ist die Gewährleistung parlamentarischer Souveränität auch Sache der politischen Öffentlichkeit und des politischen Verhaltens der intermediären Instanzen, um das parlamentarische Regierungssystem als demokratische Herrschaftsordnung zukunftsfähig zu gestalten. Schwierigkeiten parlamentarischer Steuerung werden besonders deutlich am Beispiel der Wissenschafts- und Technologiepolitik (hierzu §§ 16, 17 bis 20 und Schluß). Das Ordnungsmodell des Grundgesetzes stellt die liberal-rechtsstaatliche Schutzpflicht des Staates in den Vordergrund: sowohl den Schutz der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, der persönlichen Entfaltungs- und Berufsfreiheit als auch Schutz der grundgesetzlich gewährleisteten Rechtsgüter vor Verletzungen durch Wissenschaft und Technik sowie ihrer praktischen Nutzung. Indem der Staat aktive Wissenschafts- und Technologiepolitik betreibt, schafft er unter Umständen potentielle Gefährdungen für die von ihm zu schützenden Rechtsgüter. Die Voraussehbarkeit wissenschaftlich-technischer Entwicklungen und der mit ihnen verbundenen Risiken ist. häufig nur begrenzt möglich. Die Bindung staatlicher Wissenschafts- und Technolögiepolitik an die Möglichkeit der Risikokalkulation und Gefahrenbeherrschung bedeutet, daß die verfassungsrechtliche Legitimation einer aktiven staatlichen Wissenschafts- und Technologiepolitik in
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Bereichen bekannt unbekannter Risikokalkulation oder unvollständiger Gefahrenbeherrschung zumindest fragwürdig ist. Die Rechtfertigung der Faktizität staatlicher Wissenschafts- und Technologiepolitik in einer sozial- und leistungsstaatlichen Funktion odef in der Verantwortung des Staates für den sozialen und technischen Wandel greift zumindest dort nicht, wo der Vorstoß in bekannt unbekannte Bereiche staatlich gelenkt wird (Grimmer: 1986). Es geht darum, den Eigenbereich staatlicher Verantwortung und Handlungsfähigkeit zu wahren und nicht in korporatistischen Verflechtungen einzubinden (Arnim, von: 1987; Lompe: 1988). Es ist Sache politischer Meinungsbildung und parlamentarischer Entscheidung, welche Zukunftsgesellschaft, welches Verständnis von Menschenwürde und ihr entsprechenden Arbeitsbedingungen, von freier Entfaltung der Person, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, welche Ausprägungen von Technik und welche Art von Wohlstand wir haben wollen (Böhret/Franz: 1987; Murswiek: 1988; Ullrich: 1979). Spannungsverhältnisse sind verfassungsrechtlich nicht aufhebbar. Das Verfassungsrecht kann sie tragbar und entscheidbar machen. Ausdruck parlamentarischer Demokratie ist es, daß auch bei neuen Anforderungen nicht das politisch Machbare das Realisierbare wird, sondern Politik verfassungsrechtlich gebunden ist (Grimm: 1990).
3. Politische Steuerung oder Regieren Funktion des parlamentarischen Regierungssystems ist es, Leistungen für die Ordnung und Entwicklung der staatlich verfaßten Gesellschaft zu erbringen. Der normative Rahmen dafür wird durch das Verfassungssystem umschrieben (hierzu § 1). Der Bedarf an Regierungsleistungen ergibt sich aus diesen normativen Anforderungen, wie sie vor allem in den Grundrechten enthalten sind, und aus wirtschaftlichen, sozialen uhd kulturellen Interessen und Handlungspotentialen in der Gesellschaft. Daß sich die Situation gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts anders darstellt wie zur Zeit der Strukturbildung des parlamentarischen Regierungssystems im neunzehnten Jahrhundert, .wurde am Beispiel der Aufgabenkomplexität und Politikverflechtung dargelegt. Der Begriff „Postmoderne" (zu seiner Ausbildung Beyme, von: 1991, S. 147ff.) ist eine häufig gebrauchte, wenn auch in ihrer inhaltlichen Unschärfe nur bedingt aussagekräftige Kennzeichnung. Es ist nicht zufällig, daß sich zwar in den sechziger Jahren mehrere politikwissenschaftliche Veröffentlichungen explizit als „Regierungslehre" verstanden (Hartwich/Wewer: 19901., S. 12), aber neue Publikationen stärker Möglichkeiten und Anforderungen „politischer Steuerung" (in) der staatlich verfaßten Gesellschaft thematisieren (Beyme, von: 1991; Scharpf: 1991). Hartwich/Wewer stellen mit dem von ihnen herausgegebenen Kompendium „Regieren in der Bundesrepublik" (Hartwich/Wewer: 1990-92) demgegenüber wieder Organisation und Formen des Regierens stärker heraus, sehen diese aber im Kontext der Steuerungsproblematik. Diese verbindet sich mit einer sog. „Entzauberung des Staates" (Willke: 1983) und „Entsubstantialisierung" des Machtbegriffs (Beyme, von: 1991, S. 23) und trifft sich damit im Grunde mit der „Entpersonalisierung" staatlicher Macht, wie sie sich mit der konstitutionellen Bewegung im 19. Jahrhundert und dem Übergang vom Souverän zur Staatssouveränität und Volkssouveränität vollzog. Theorien politischer Steuerung nehmen das erweiterte Instrumentarium
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und den Netzwerkcharakter von Politik sowie die Verflechtung zwischen staatlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen zur Kenntnis. Politikwissenschaftlich haben die „Untersuchung der Funktionsbedingungen und Funktionsweisen der Selbstkoordination gleichberechtigt neben das bisher dominante Interesse an der Staatswillensbildung und hierarchischen Willensdurchsetzung" zu treten (Scharpf: 1991, S. 628). Marktförmige Verhandlungssysteme bilden durchaus eine Entlastung für staatlichen Steuerungsbedarf. Damit sind die Schwierigkeiten des parlamentarischen Regierungssystems als Instanz politischer Steuerung bezeichnet. Politische Steuerung geschieht nur in grundsätzlichen Angelegenheiten von Ordnung und Entwicklung der staatlich verfaßten Gesellschaft durch parlamentsspezifische Instrumente wie Gesetzgebung und Haushaltsplan. Das weite Feld der interagierenden Steuerung, wie sie durch Regierung und Verwaltung betrieben wird, entzieht sich dem unmittelbaren parlamentarischen Zugriff. Die-Sicherung der politischen Steuerungsfunktion des Parlaments erfordert eine Stärkung der Verantwortung des Parlaments gegenüber Regierung und Verwaltung.
4. Staat und politische Kultur Nur soweit die parlamentarische Demokratie in der politischen Kultur eines Volkes wurzelt und Teil dieser ist, kann sie mehr als eine Herrschafts- und Staatsform, kann sie gelebte und gestaltende Politik sein. Der Begriff der politischen Kultur kennzeichnet trotz seiner Diffusität gut den Zusammenhang von Politikinhalten, politischen Verfahren, ihre Verwurzelung in den politischen Einstellungen der Bevölkerung und die Bindung der Politik an bestimmte Grundanliegen und Grundwerte (Almond/Verba: 1963; Reichel: 1981, S. 150ff.; Röhrich: 1988; Klages: 1988; Eder: 1989; Fuchs: 1987; Ritter/Niehuss: 1987, S. 19ff., 183ff.; Falter/Rattinger/Troitzsch: 1989; Fälker: 1991). Politische Kultur ist nicht statisch, sondern wie die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zeigen, wandlungsfähig. Die Bundesrepublik Deutschland, wie sie im Oktober 1990 entstanden ist, hat in beiden ihrer früheren Teile ein Defizit an politischer Kultur (Glaser: 1991; Greiffenhagen: 1991; Neubert: 1991, S. 21ff.; Probst: 1991, S. 30ff.; Weidenfeld/Korte: 1991). Es ist Aufgabe der neuen Bundesrepublik, Demokratie zur politisch-kulturellen Lebensform im Staat und des Staates zu gestalten (Arnold/Mayer: 1990). Der Staat der Bundesrepublik Deutschland ist zunächst eine Vielzahl von Organisationen, die Herrschaftsmacht ausüben können. Er ist kein monolithischer Block, keine kompakte Entscheidungseinheit, sondern definiert sich als das Zusammenwirken vielfältiger politischer Kräfte und Akteure, das zum Teil verfassungsrechtlich organisiert und geregelt ist. Kennzeichen des Staates ist eine hochgradige Binnendifferenzierung, verbunden mit einem erheblichen Koordinationsbedarf innerhalb des Staates und einem Kooperationsbedarf mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren (Neumann, F.: 1967; Drath: 1977, S. 116ff.; von Arnim: 1987;Lompe: 1987, S. 301ff.; Schuppert: 1989). Er ist ein territorial umgrenztes Gebiet, auf dem eine Menge von Menschen leben, die mehr oder minder bestimmte Inhalte für die staatliche Ordnung und bestimmte Verfahren zu ihrer Realisierung anerkennen. Der Staat der Bundesrepublik
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Deutschland ist - und hat nach seinem Grundgesetz vor allem zu sein - ein offenes, zukunftsfähiges politisches System, das immer neu unterschiedliche politische Interessen aufnehmen kann, die sich im offenen Meinungsaustausch zwischen staatlichen Organen, intermediären Instanzen und politischer Öffentlichkeit bilden. Im Handeln seiner Organe hat er zunehmend soziale Gleichheit als Bedingung individueller Freiheit und egalitärer politischer Mitbestimmung zu realisieren und die natürlichen Lebensbedingungen zu sichern. Die Trennung von Staat und Gesellschaft hat sich in Deutschland mit der Verfassungsbildung im Übergang von der ständisch-feudalen zur bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung vollzogen. Die Staatsgewalt wurde damit gleichzeitig konsensbedürftig und ist von den Herrschaftsunterworfenen, den Staatsbürgern zu legitimieren. Private Verfügungsmöglichkeiten über Sachgüter sind dabei verzahnt mit Öffentlichkeit und der gemeinwohlorientierten Bindung von Freiheit und Eigentum. Die Erwartungshaltungen gegenüber dem Staat s i n d - b e g r ü n d e t in der deutschen Staatsgcschichte - hoch. Die Leistungsfähigkeit des Staates ist begrenzt (Kohler-Koch: 1992). Die Herrschaftsordnung des Staates bildet das parlamentarische Regierungssystem. Parlamentarische Demokratie ist eine Staatsform, die darauf ausgelegt ist, Leistungsmöglichkeiten und Leistungsformen des Staates in einem offenen demokratischen Prozeß zu bestimmen. Ziel der Demokratie ist „die Verwirklichung der Freiheit des Menschen durch Massenbeteiligung an ihrer Verwirklichung" (Neumann, F.: 1967). Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 hatte dem politischen System im westlichen Teil Deutschlands ein hohes Maß an sozial gebundener und rechtsstaatlich gesicherter Freiheitlichkeit, an Stabilität und Entwicklungsfähigkeit vermittelt (Stern: 1990a). Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten macht eine Totalrevision des Grundgesetzes nicht erforderlich. Zu diskutieren sind einige ergänzende Verfassungsbestimmungen (Häberle: 1990; Kröning: 1991; Leicht: 1991; Roellecke: 1991; Guggenberger/Stein: 1991; s.a. § 14 V.) - sei es als inhaltliche Regelungen oder als Staatszielbestimmungen zum Arbeits- oder Sozialbereich, zum Natur- und Umweltbereich, zur Gleichstellung von Frau und Mann und zur kulturellen Verpflichtung des Staates. Eine Überprüfung erscheint auch bei der Aufgaben-, Kompetenz- und Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern erforderlich, um die jeweiligen Verantwortungsbereiche zu profilieren und parlamentarisch besser gestalten zu können (Schneider, H.-P.: 1991). Das Prinzip der Volkssouveränität erfordert es schließlich, daß das Grundgesetz im vereinigten Deutschland zur Volksabstimmung gestellt wird. Wie auch insgesamt für eine stärkere unmittelbare Beteiligung des Volkes an der politischen Gestaltung seiner staatlich-gesellschaftlichen Ordnung Vorsorge zu treffen für die Offenheit und Akzeptanz des politischen Systems zweckmäßig sein kann.
3. Kapitel: Der Deutsche Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem § 9 Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments Klaus Grimmer I. Staatsleitende Funktionen des Parlaments 1. Aufgaben des Parlaments 2. Selbstbestimmungsrecht des Parlaments
171 172 173
II. Gesetzgebungsfunktion und Pariamentsvorbehalt 1. Gesetzgebung a) Gesetzesvorbehalt und Gesetzesvorrang b) Gesetzgebungskompetenz des Bundestages 2. Delegation von Staatsgewalt und Rechtsetzungskompetenz 3. Bereitstellung finanzieller Mittel, Finanz-und Haushaltsgesetze . . . . 4. Mitwirkung bei Planungsmaßnahmen 5. Parlamentsvorbehalt 6. Selbständigkeit des Parlaments?
174 174 175 176 177 178 179 180 182
III. Legitimations-und Wahlfunktion 1. Wahl des Bundespräsidenten 2. Wahl des Bundeskanzlers 3. Mitwirkung bei der Wahl von Bundesverfassungsrichtern und Bundesrichtern 4. Sonstige Wahlen und Delegationen 5. Wahl von Angehörigen internationaler und supranationaler Einrichtungen, Mitgliedschaft in solchen Einrichtungen 6. Permanenz parlamentarischer Legitimation staatlicher Macht und die begrenzte Macht des einzelnen Abgeordneten
183 183 184
IV. Das Parlament als Institution politischer Meinungs- und Willensbildung und zur Kontrolle der Regierungspolitik 1. Parlamentarische Entschließungen, schlichte Parlamentsbeschlüsse . . 2. Interpellationsrechte, Auskunftsverlangen über die Ausführung von Parlamentsbeschlüssen 3. Zustimmungsvorbehalte,Freigabevorbehalte 4. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Kontrolle der Geheimdienste 5. Petitionen 6. Besondere Kontrollformen: Haushalts- und Finanzkontrolle, Kontrolle der Bundeswehr a) Haushalts-und Finanzkontrolle b) Kontrolle der Bundeswehr 7. Verwaltungskontrolle und Justizkontrolle durch das Parlament . . . .
184 185 185 186 187 188 189 190 190 191 191 191 192 193
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
8. Kontrolle durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts a) Organwalter-Anklage b) Organstreitigkeiten Abstrakte Normenkontrolle 9. Politische Wirkung parlamentarischer Kontrolle
193 194 194 195
V. Integrationsfunktion und Öffentlichkeitsfunktion 1. Innerparlamentarische Ordnung und Verfahrensgestaltung a) Parlamentsorganisation und Verfahrensgestaltung b) Unterschiedliche Beschlußquoren 2. Sicherung parlamentarischer Opposition 3. Rückbindung zur Öffentlichkeit - identitätsstiftende Funktion a) Rückbindung durch Petitionen b) Rückbindung zu organisierten Interessen, Hearings c) Sachverständige Problemerörterungen und begrenzte Handlungsfähigkeit des Parlaments-Enquete-Kommissionen . . . VI. Parlamentarische Verantwortung und gesellschaftliche Entwicklung 1. Rechtlich strukturierter Parlamentarismus 2. Politikpräsentation oder Politikgestaltung durch das Parlament 3. Die Verantwortung des Parlaments
. . . .
196 197 197 197 199 200 201 202 203 203 204 205 206
§ 10 Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages Dieter Engels I. 1. 2. 3.
Organisations-und Verfahrensregeln Rechtliche Regeln Verfahrensabsprachen; Parlamentsbrauch Informelle Regeln
209 209 209 209
II. 1. 2. 3.
Spezifika des parlamentarischen Verfahrens Rahmenbedingungen für die Verfahrensgestaltung Funktionen der parlamentarischen Verfahrensregeln Gliederung des Bundestages in Fraktionen und Ausschüsse
210 210 211 212
III. Zwecke der Verfahrensordnung und innerparlamentarische Strukturen 1. Plenum und Ausschüsse 2. Mehrheitsprinzip und Minderheitsschutz 3. Fraktionen und einzelnes Parlamentsmitglied
216 216 217 220
IV. Organe der Selbstverwaltung 1. Der Präsident 2. Das Präsidium 3. D e r Ältestenrat
221 222 223 223
V. Ausschüsse
227
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
169
1. Fachausschüsse a) Zusammensetzung und Grundzüge der Organisation der Fachausschüsse b) Aufgaben der Fachausschüsse c) Grundzüge des Ausschußverfahrens 2. Gremien mit besonderen investigativen oder kontrollierenden Aufgaben 3. Sonstige Gremien
227 227 229 230 231 235
VI. Fraktionen 1. Arbeitsteilige Strukturen der Fraktionen 2. Prozesse der fraktionsinternen Willensbildung und Entscheidungsfindung 3. Fraktionsdisziplin
235 236 238 240
VII. Aspekte des strukturierten Parlamentarismus 1. Zur Rechtsstellung fraktionsangehöriger Abgeordneter 2. Zur Rechtsstellung fraktionsloser Abgeordneter 3. Gruppen i.S.v. § 10 Abs. 4 GO
241 241 244 245
VIII. Parlamentarische Hilfsdienste 1. Mitarbeiterinnen der Fraktionen und Abgeordneten 2. Bundestagsverwaltung 3. Einführung neuer Informations-und Kommunikationstechniken
246 246 247 250
. . .
§ 11 Verfahren des Deutschen Bundestages Dieter Engels I. 1. 2. 3.
Der Öffentlichkeitsgrundsatz und seine Einschränkungen Öffentlichkeit der Plenardebatten Grundsätzliche NichtÖffentlichkeit der Ausschußberatungen Maßnahmen des Diskretionsschutzes
254 255 256 257
II. Gesetzgebungsverfahren 1. Verfahren auf Initiative der Bundesregierung a) Zuleitung an den Bundesrat b) Verfahren im Bundestag (1) Die erste Lesung (2) Die Beratungen des federführenden Ausschusses (3) Die Beratungen des Haushaltsausschusses gemäß § 96 GO-BT . (4) Die zweite und dritte Lesung c) Der Abschluß des Verfahrens 2. Verfahren auf Initiative des Bundesrates 3. Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages
258 259 260 260 261 261 266 267 268 270 271
III. Verfahren der Haushaltsgesetzgebung und-kontrolle 1. Haushaltsgesetz a) Die Aufstellung des Bundeshaushaltes b) Die Beratungen des Bundestages
272 273 273 274
170
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
(1) Die erste Lesung (2) D a s Verfahren des Haushaltsausschusses (3) Die zweite und dritte Lesung c) Der Abschluß des Verfahrens 2. Verfahren der begleitenden Haushaltskontrolle a) Plenarverfahren b) Delegation von Rechten des Bundestages an den Haushaltsausschuß c) Sonstige Kontroll- und Informationsinstrumente des Haushaltsausschusses 3. Die nachträgliche Haushaltskontrolle
275 276 278 278 279 279
IV. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung . . . 1. Verfahren in Fachausschüssen 2. Zitierrecht, Berichte der Bundesregierung, Kleine und Große Anfragen, Fragestunden a) Zitierrecht b) Berichte und Unterrichtungen der Bundesregierung c) Kleine und Große Anfragen d) Fragestunde 3. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung . . . . a) Informationsrechte des Petitionsausschusses b) Kontrolle der Bundeswehr: Wehrbeauftragter und Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß c) Untersuchungsausschüssenach Art. 44 G G
283 283
280 281 282
V. Stärkung der Kontroll- und Informationsmöglichkeiten als Reformaufgabe 1. Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform 2. Parlakom 3. Institutionalisierung einer Beratungskapazität für Technikfolgenabschätzung und -bewertung
284 284 284 285 286 287 288 289 290 291 292 294 296
§ 12 Exekutive Berichtspflicht in der Technikfolgenabschätzung Raban Graf von Westphalen I. Rechtliche Steuerung der Forschungs-und Technologiepolitik?
. . . .
II. Die Verpflichtung der Exekutive zur Information des Parlaments über Technikfolgen-Analysen 1. Parlamentarisches Informationsrecht-exekutive Antwortpflicht . . . 2. Exekutive Publizitätspflicht und parlamentarische Opposition 3. Reformvorschlag: Die Institutionalisierung exekutiver Publizitätspflicht im Gesetzesvorblatt
302 304 306 307 308
3. Kap. : Der Deutsche Bundestag
171
§ 9 Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments Klaus Grimmer* I. Staatsleitende Funktionen des Parlaments. - II. Gesetzgebungsfunktion und Parlamentsvorbehalt. - III. Légitimations- und Wahlfunktion. - IV. Das Parlament als Institution politischer Meinungs- und Willensbildung und zur Kontrolle der Regierungspolitik. - V. Integrationsfunktion und Öffentlichkeitsfunktion. VI. Parlamentarische Verantwortung und gesellschaftliche Entwicklung. Grundlagenliteratur Achterberg, Norbert (1984): Parlamentsrecht. Tübingen. Bagehot, Walter (1867/1971): Die englische Verfassung. Neuwied. Ellwein, Thomas / Hesse, Joachim J. ( 6 1987): Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. Fabio, Udo Di (1990): „Parlament und Parlamentsrecht. Aufgaben, Organisation und Konflikte parlamentarischer Arbeit". In: Der Staat, S. 599ff. Hesse, Konrad ( 17 1990): Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg. Isensee, Josef/Kirchhof, Paul (Hg.) (1987): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, Bd. II. Kißler, Leo (1977): „Der Deutsche Bundestag". In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 26, S. 39ff. Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.) (1989): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a. Stein, Ekkehart( 12 1991): Staatsrecht. Tübingen. Thaysen, Uwe / Davidson, Roger H. / Livingston, Robert G. (Hg.) (1988): USKongreß und Deutscher Bundestag. Opladen. Trossmann, Hans (1979): „Der Bundestag: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit". In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 28, S. lff.
I. Staatsleitende Funktionen des Parlaments Jeder Staat bedarf einer Leitung. Nur in der Ausbildung und Anerkennung einer Herrschaftsorganisation wird ein Volk zum Staat. Staatsleitung meint damit die organisatorischen Einrichtungen und institutionellen Vorkehrungen, in denen sich staatliche Einheit konstituiert und meint den Prozeß politischer Willensbil* Für die Unterstützung bei der Sichtung von Literatur und Rechtsprechung und für kritische Diskussion des Textes danke ich Werner Killian M. A.; der Text wurde von Brigitte Karch und Waltraud Pinkvohs niedergeschrieben. Die Literaturanmerkungen im Text haben neben der Zitatfunktion eine Hinweisfunktion auf ergänzende, auch kontroverse Veröffentlichungen. Aufgrund der gegebenen drucktechnischen Bedingungen konnten nur solche Kurzhinweise aufgenommen werden.
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
dung und staatlich verbindlicher Entscheidung. Zur Staatsleitung gehört eine Organisation und ein Instrumentarium, damit der Staat nach innen politisch ordnend und gestaltend wirken und nach außen zu anderen Staaten in Verbindung treten oder sich an supranationalen Einrichtungen beteiligen kann. Im Einsatz des Instrumentariums ereignet sich staatliche Politik als Prozeß von Ordnung und Veränderung der staatlich verfaßten Gesellschaft. Die Handlungsformen des Staates, sein Instrumentarium, sind vielfältig. Ihre Klassifikation ist nicht zuletzt eine Frage des gewählten wissenschaftlichen Ansatzes. So werden von der Rechtswissenschaft stärker die Formalstruktur der Instrumente (Typen von Rechtssätzen, Gebote, Verbot und Erlaubnis u.a.), von der Wirtschafts- und Finanzwissenschaft die verschiedenen politikfeldspezifischen Instrumente (Finanzpolitik mit Steuern, Investitionen und Transferleistungen, Geld- und Kreditpolitik mit Festlegung des Diskontsatzes bei Gewährung von Krediten, Wettbewerbspolitik durch Regelung von Kartellen oder Wettbewerbsbeschränkungen) beachtet. Die Politikwissenschaft klassifiziert eher nach Steuerungstechniken und Policy-Typen. In den Staats- und Verwaltungswissenschaften, die sich mit politikwissenschaftlichen Klassifizierungen überschneiden, wird differenziert nach der Eingriffsintensität der Instrumente (direkte Verhaltenssteuerung - indirekte Verhaltenssteuerung durch positive und negative Anreize oder durch die Bereitstellung von Infrastruktur, Beschaffenheit von Programmen u.a.) (König/Dose: 1989). Das Parlament hat eine staatsleitende Funktion in dem Maße, in dem es zur Konstitution staatlicher Einheit beiträgt und Einfluß auf die Verfügbarkeit und den Einsatz staatlicher Instrumente hat, sei es in der Form der Gesetzgebung, der Bereitstellung von Finanzmitteln durch verbindliche Planungsvorgaben oder durch Teilhabe am Prozeß öffentlicher Meinungsbildung.
1. Aufgaben des Parlaments Die Aufgaben des Parlaments ergeben sich aus seiner eigenen Legitimation. Nur das Parlament ist im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar vom Volk, dem Träger der Staatsgewalt, in einem demokratischen Verfahren gewählt. Entsprechend umfassend sind die politischen Funktionen, die das Parlament wahrzunehmen hat. Dies ist nicht nur die Gesetzgebungsaufgabe, die Art. 20 Abs. 2 G G nennt, sondern sind auch seine Wahl- und Legitimationsfunktion für die übrigen obersten Staatsorgane (Art. 54 GG Mitwirkung bei der Wahl des Bundespräsidenten, Art. 63 GG Wahl des Bundeskanzlers, Art. 94 und 95 GG Mitwirkung bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter und der Bundesrichter). Das Parlament ist der institutionalisierte Ort öffentlicher politischer Meinungs- und Willensbildung, verbunden mit Kontrollrechten gegenüber der Regierung (Thaysen: 1976). In der Wahrnehmung dieser Aufgaben kommt dem Parlament nicht nur eine Repräsentationsfunktion für das Volk, sondern auch eine Integrationsfunktion für eine pluralistische Gesellschaft in einem demokratischen Staat zu. In der politischen Auseinandersetzung und Entscheidungsbildung im Parlament konstituiert sich der Staat stets neu als offenes, entwicklungsfähiges politisches System. Wenn hier vom Parlament gesprochen wird, so ist, soweit nichts anderes ausgeführt wird, der Deutsche Bundestag als das zentrale Parlament der Bundesrepublik Deutschland gemeint.
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
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Die staatsleitende Funktion des Parlaments ist in seiner Aufgabenstellung und in seiner verfassungsmäßigen Kompetenz begründet, andere Staatsorgane zu legitimieren und deren Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen. Das Zusammenwirken von Regierung und Parlament, wie die Vorbereitung und Ausführung parlamentarischer Maßnahmen durch die Regierung, kennzeichnet Art und Ausmaß, wie die staatsleitende Funktion vom Parlament wahrgenommen wird (Friesenhahn: 1958; Magiera: 1979; Mössle: 1986; Dreier: 1990). Mit der Ausprägung des parlamentarischen Regierungssystems vollzog sich ein Wandel in der Wahrnehmung staatsleitender Funktionen. Während diese früher bei der Regierung gebündelt waren, vollzog sich mit der konstitutionellen Bewegung in den deutschen Ländern im 19. Jahrhundert eine Entwicklung zur Staatsleitung als kooperativem Akt von Regierung und Parlament bis zu einer stärker verflochtenen Staatsleitung „zur gesamten Hand" von Regierung und Parlament (näher § 2). Eine solche Betrachtung entspricht insofern zwar auch der gegenwärtigen politischen Praxis, in der die Regierung den Eindruck vermittelt, daß ihr die politische Willensbildung anvertraut sei. Berücksichtigen wir aber, daß letztlich das Parlament über die Regierung entscheidet, daß es im Wege der Gesetzgebung für die Regierung verbindliche Anweisungen geben kann, und daß sich nur durch die Wirkungsweise des Parlaments staatliche Einheit konstituiert, so erscheint es uns zutreffend, im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland von der staatsleitenden Funktion des Parlaments zu sprechen - unbeschadet davon, daß Regierung, Verwaltung und Justiz in der Verfassung auch selbständig legitimiert sind. Das Parlament als Ganzes hat unabhängig von seiner Gliederung in Regierungsfraktionen und Opposition die politische Verantwortung für das Gemeinwesen.
2. Selbstbestimmungsrecht des Parlaments Das Parlament hat nicht nur diese auf den Staat als ganzem bezogene Aufgaben. Es hat auch und zuerst seine eigene Funktionsfähigkeit zu sichern und seine Verfahren zu regeln, um seine politische Funktion erfüllen zu können. In der Ausbildung von Demokratie und Parlamentarismus ist die Machtverteilung zwischen Obrigkeit (Fürst, Regierung) und Parlament am besten abzulesen an Ausmaß und Inhalt der Selbstbestimmungsrechte des Parlaments, d.h. ob das Parlament über seinen Zusammentritt, seine Auflösung, die Gestaltung seiner Sitzungen und Verhandlungen, die in parlamentarischer Sitzung zu behandelnden Gegenstände sowie über den Status eines Abgeordneten, seine Rechte und Pflichten und die Verhaltensweisen von Abgeordneten - im Rahmen der Verfassung selbständig und allein entscheiden kann. Während in den Anfängen des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert diese Angelegenheiten überwiegend zu den Vorbehaltsrechten der Fürsten gehörten (dazu § 2), besitzt das Parlament heute ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht - begrenzt nur durch die Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bei Organstreitigkeiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), bei Beschwerden gegen Wahlprüfungsentscheidungen des Bundestages (Art. 42 Abs. 2 G G ) und bei Verfassungsbeschwerden wegen einer Verletzung der Wahl- und Vertretungsrechte aus Art. 38 G G . Verfassungsrechtlich sind im Grundgesetz nur jene Angelegenheiten geregelt, die die unmittelbare Handlungsfähigkeit des Parlaments betreffen (Art. 38 G G Wahl und Stellung der Abgeordneten, Art. 39 - Zusammentritt und Wahlperio-
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
de, Art. 41 G G - Wahlprüfung sowie Kompetenz für die Geschäftsordnung, Art. 40 und 42 G G - V e r h a n d l u n g s f o r m und Abstimmungen, Art. 48 Abs. 3 G G - m a terielle Unabhängigkeit der Abgeordneten, Art. 46 G G - Indemnität und Immunität der Abgeordneten ; s . a . § 4 I I . ) . Einzelheiten der Organisation und Gliederung des Parlaments, seine Verfahren und Arbeitsweise hat der Bundestag in seiner Geschäftsordnung selbst bestimmt (näheres § 5 I.). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 80,188ff.) hat in diesem Zusammenhang festgestellt, daß alle Abgeordneten berufen sind, mit gleichen Rechten und Pflichten an der Arbeit des Bundestages teilzunehmen, da die Repräsentation des Volkes vom Parlament als ganzem, d.h. in der Gesamtheit seiner Mitglieder als Repräsentanten bewirkt wird (i.e. § 4). Die Geschäftsordnung regelt nur die Art und Weise, wie die Abgeordneten die Rechte aus ihrem verfassungsrechtlichen Status ausüben, sie begründet sie nicht. Jeder Abgeordnete muß angemessene Möglichkeiten zur Mitwirkung an der Parlamentsarbeit haben (detailliert §§ 10 und 11).
II. Gesetzgebungsfunktion und Parlamentsvorbehalt 1. Gesetzgebung Die zentrale, staatsleitende Funktion des Parlaments ist die Gesetzgebung. Das Gesetz (Karpen: 1989, S. 25ff.; Mußgnug: 1989; Badura/Kaiser: 1987; Mössle: 1986, S. 193ff.; Böckenförde: 21981) ist, neben dem Verfassungsrecht und dem Gewohnheitsrecht - der Menge der Regelungen nach aber mit diesen nicht vergleichbar - das verfassungsrechtliche Mittel für Ordnung und Entwicklung einer staatlichen verfaßten Gesellschaft. Allein durch ein Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes können Grundrechte konkretisiert oder eingeschränkt werden, soweit dies verfassungsmäßig zulässig ist. Dies gilt insbesondere für staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum. Nur in der Form des Gesetzes oder auf der Grundlage eines Gesetzes kann der Staat allgemein verbindliche Gebote und Verbote erlassen. Das Gesetz gilt allgemein, es ist eine generell-abstrakte Anordnung, die an unbestimmt viele Adressaten gerichtet ist und unbestimmt viele Sachverhalte regelt. Die Allgemeinheit des Inhalts und die Allgemeinverbindlichkeit geben dem Gesetz seine zentrale Steuerungsfunktion. Nur in Ausnahmefällen sind sogenannte Maßnahmegesetze oder Einzelfallgesetze, d.h. Gesetze, die nicht eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten betreffen, zulässig. Allein auf der Grundlage eines Gesetzes kann der Anspruch auf ein bestimmtes Tun oder Unterlassen des Staates und im Staat erhoben werden. Unterschieden wird zwischen einem „Gesetz" in einem formellen und in einem materiellen Sinn. Gesetze im formellen Sinn sind alle Entscheidungen eines Parlaments, die entsprechend den verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet wurden. Gesetze im materiellen Sinn sind alle gesetzten und verbindlichen Verhaltensnormen im Staat und für den Staat. Gesetz nur im formellen Sinn ist beispielsweise das Haushaltsgesetz (Art. 110 Abs. 2 G G ) . Funktion des Gesetzes ist die Ordnung und Entwicklung des Gemeinwesens. Dies geschieht nicht nur durch das Gebot, Verbot oder die Erlaubnis von be-
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stimmten Verhaltensweisen. Alle staatlichen Handlungsformen, also auch solche, die auf eine indirekte Verhaltenssteuerung durch den Einsatz bestimmter Medien wie Geld oder die Bereitstellung von Infrasturktur zielen, ebenso wie staatliche Eigenleistungen, sind letztlich in einem materiellen oder formellen Gesetz (Haushaltsgesetz) begründet. Mit einem Gesetz können sich deshalb vielfältige politische, soziale und finanzielle Konsequenzen verbinden. Im Gesetz (und in der Verfassung) legitimieren sich auch politische Entscheidungen, die andernorts - sei es von der Regierung, der Verwaltung, der Bundesbank, einer Hochschule oder einem Gericht -getroffen werden. Die Gesetzgebungslehre klassifiziert die Gesetze nach bestimmten Merkmalen wie Geltungskraft, Rangstufe, zeitliche Geltung, Grundrechtsbezug und Inhalt. Dem Inhalt nach wird unterschieden zwischen allgemeinen Gesetzen, Ermächtigungs-, Maßnahme-, Plangesetzen, Haushalts- und Vertragsgesetzen, Entwicklungs- und Organisationsgesetzen, Verfahrens- und Teilhabegesetzen. Das Gesetz ist das Mittel zur Verrechtlichung von Politik und damit zur verbindlichen und planmäßigen Steuerung von wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Prozessen. Mit dem Gesetzesbegriff verbinden sich Vorstellungen der Gemeinwohlsicherung und Gerechtigkeit, vor allem aber der Rechtsgleichheit. Dem Gesetz kommt eine Orientierungsfunktion für den Staatsbürger zu, es begründet die Vorhersehbarkeit und Verläßlichkeit staatlichen Handelns. In der Praxis vollziehen sich in der Gesetzgebung sowohl programmatische Ordnung als auch tagespolitische Reaktion (Bohret: 1989a). Es zeigt sich aber auch zunehmend, daß moderne, hochkomplexe und in sich differenzierte Industriegesellschaften politisch nur begrenzt mit dem Mittel des Gesetzes und der ihm verbundenen Gehorsamspflicht des Bürgers gesteuert werden können (Grimm/Maihofer: 1988). Schwierigkeiten bestehen nicht nur in der Durchsetzung der Gehorsamspflicht im Einzelfall, sondern auch in der Sicherung der Gesetzesimplementation und des Gesetzesvollzugs entsprechend dem parlamentarischen Willen (Mayntz: 1980,1983; Wollmann: 1980), der seinerseits oft nicht eindeutig in die Gesetzessprache umgesetzt wird. Alternativen Steuerungsformen mangelt es häufig an rechtsstaatlicher Klarheit (Brohm: 1989; Merten: 1989). Aufgrund des Mehrheitsprinzips in der Gesetzgebung können partei-, klassenoder gruppenspezifische Interessen für eine bestimmte Gestaltung des politischen Systems allgemeine Verbindlichkeit erhalten. Der Kampf um die politischparlamentarische Mehrheit ist daher immer auch Kampf um das Recht zur Gesetzgebung. Das Grundgesetz und ergänzend die Geschäftsordnung des Bundestages regeln sehr dezidiert das Gesetzgebungsverfahren, um wohlerwogene und zumindest dem Verfahren nach akzeptanzfähige Entscheidungen zu gewährleisten (zur Mitwirkung der Ländervertretung, dem Bundesrat, im Gesetzgebungsverfahren Antoni: 1988; 1989; ausführlich § 1111. und III. ; auch §§ 18 und 19). a) Gesetzesvorbehalt und Gesetzesvorrang Erstmals in der bayerischen Verfassung von 1818 wurde das Recht der Kammern festgelegt, daß jeder Eingriff in Freiheit und Eigentum ihrer Zustimmung und der Form des Gesetzes bedarf. In den übrigen Bereichen konnten - soweit dem keine verfassungsrechtlichen Bestimmungen entgegenstanden - der König bzw. die Regierung selbst Recht setzen. Der Gesetzesvorbehalt ist heute ein wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips im Grundgesetz (parlamentsgeschichtlich § 2).
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
Strittig ist, aber zunehmend anerkannt und auch vom Bundesverfassungsgericht entschieden (BVerfGE 40, 237 (248ff.); 49, 89, (126ff.); 58, 257 (268ff.)), daß nicht nur „Eingriffe in Freiheit und Eigentum", sondern auch begünstigendes Verwaltungshandeln dem Gesetzesvorbehalt unterliegen, da jede Begünstigung mittelbar für Dritte auch Beeinträchtigungen beinhalten kann, es sich letztlich immer um die Verteilung öffentlicher Güter und damit auch um die Verteilung von Freiheits- und Eigentumschancen handelt. Die Beschränkung des Gesetzesvorbehalts auf „Eingriffe in Freiheit und Eigentum" würde ein Staats- und Parlamentsverständnis voraussetzen, das dem Parlament nur bestimmte Gestaltungsund Zustimmungsbereiche vorbehält, ihm aber keine staatsleitende Funktion zuerkennt. Das Grundgesetz eröffnet zwar die Möglichkeit für die Bundesregierung, einen Bundesminister oder die Landesregierungen, Recht in Form von Rechtsverordnungen zu setzen. Und diese Rechtsetzungskompetenz ist auch notwendig zur Entlastung des Parlaments von Detailregelungen oder zur vereinfachten Anpassung spezifischer Rechtsgestaltungen im Verwaltungsbereich an veränderte Problemlagen. Sie muß aber in einem Gesetz legitimiert sein, das „Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung" (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) bestimmt (Gesetzesvorbehalt). Mit dem Gesetzesvorbehalt ist als weiteres Element des Rechtsstaatsbegriffes das Prinzip des Vorranges des Gesetzes verbunden. Der Verbindlichkeitsanspruch eines verfassungsmäßigen Gesetzes kann nur durch ein Gesetz selbst begrenzt werden. Das Prinzip des Gesetzesvorranges sichert nicht nur die staatsleitende Funktion des Parlaments gegenüber der Verwaltung, es vermittelt auch die Gleichbehandlung aller Staatsbürger durch Verwaltungen und Gerichte (beispielhaft § 16, § 18 II.).
b) Gesetzgebungskompetenz des Bundestages Nach dem Grundgesetz liegt das Recht zur Gesetzgebung bei den Ländern, soweit das Grundgesetz dem Bunde nicht Gesetzgebungsbefugnisse verleiht (Art. 70 Abs. 1 GG). Die Gesetzgebungszuständigkeit ist unterteilt in die ausschließliche Zuständigkeit (Art. 71,73 GG), in diesem Bereich hat nur der Bund Gesetzgebungsbefugnisse, und in die konkurrierende Gesetzgebung (Art. 72, 74 GG), hier haben die Länder Befugnisse zur Gesetzgebung, soweit der Bund seine Gesetzgebungskompetenz nicht wahrnimmt. Schließlich gibt es einen dritten Bereich, in dem der Bund Rahmenvorschriften (Art. 75 GG) erlassen kann, die die Länder für sich näher ausfüllen (s.a. § 22 II.). Die Abgrenzung zwischen den Zuständigkeiten von Bund und Ländern bestimmt sich nach dem angenommenen Bedürfnis für eine mehr oder minder einheitliche Regelung in den einzelnen Gegenstandsbereichen, um die Einheitlichkeit des Sozial- und Wirtschaftssystems zu gewährleisten, um die Gesamtstaatlichkeit der Bundesrepublik nach außen und nach innen zu wahren und um die Gestaltungskraft der Grundrechte allgemein - auch bei zulässigen Einschränkungen - zu sichern. So betreffen die Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes (Art. 71, 73 GG) unter anderem auswärtige Angelegenheiten und die Verteidigung sowie die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder zur Sicherung der freiheitlich demokratischen Grundordnung, die Staatszugehörigkeit
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und die Freizügigkeit, das Währungswesen, die Bundeseisenbahnen und den Luftverkehr, das Post- und Fernmeldewesen sowie den gewerblichen Rechtsschutz. Die Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72, 74 G G ) spiegeln besonders deutlich den möglichen Bedarf nach bundeseinheitlicher Regelung wider. Hierzu gehören beispielsweise das bürgerliche Recht, das Strafrecht und die Gerichtsverfassung, das Vereins- und Versammlungsrecht, das Recht der Wirtschaft und das Arbeitsrecht, das Recht des Straßenverkehrs oder der Abfallbeseitigung, das Recht der Luftreinhaltung und der Lärmbekämpfung. Rahmenvorschriften kann der Bund unter anderem erlassen für die Rechtsverhältnise der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, das Hochschulwesen, den Naturschutz, die Raumordnung und das Melde- und Ausweiswesen (Art. 75 G G ) . Das Grundgesetz normiert die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, unter denen ein Gesetz zustande kommt (Art. 78 G G ) , das Initiativrecht und Einleitungsverfahren (Art. 76 GG), das Beschlußverfahren (Art. 77 Abs. 1 G G ) , die Mitwirkung des Bundesrates (Art. 77 Abs. 2 - 4 G G ) sowie die Ausfertigung und Verkündigung von Gesetzen (Art. 82 G G ; detailliert § 11 II.). Auch wenn die Gesetzesinitiative überwiegend (ca. zu 60 % ) von der Regierung ausgeht, da ihr mit der Verwaltung der entsprechende Apparat und eine bessere Übersicht über den Zusammenhang verschiedener Regelungsbereiche gegeben sind, ist das Gesetz das Steuerungsinstrument des Parlaments. Die Wirksamkeit von Gesetzen ist unterschiedlich, sie hängt wesentlich von der Einflußnahme und dem Engagement der Verwaltung bei der Durchsetzung eines Gesetzes, aber auch von der Akzeptanz des Gesetzes beim Bürger ab. In der politischen Diskussion widerstreiten Vorschläge zu einer Verbesserung der Gesetzgebung mit jenen zu einer Reduzierung staatlicher Gesetzgebung (Deregulierungsdebatte) (Reidegeld; 1983; Teubner: 1984, S. 329ff.). Eine Aushöhlung parlamentarischer Kompetenz und der Funktion des Gesetzes ergibt sich, wenn in einem Gesetz zur Bestimmung seines Regelungsgehaltes auf außerrechtliche Tatbestände wie „allgemein anerkannte Regeln der Technik" oder den „Stand von Wissenschaft und Technik" verwiesen wird. Hier verzichtet das Parlament nicht nur auf die ihm zustehende Güterabwägung und Entscheidungssetzung, sondern das Recht wird zu einem Moment der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Entwicklung einer Gesellschaft und gestaltet diese nicht mehr unmittelbar (Wolf: 1987; Denninger: 1990).
2. Delegation von Staatsgewalt und Rechtsetzungskompetenz Für die Bearbeitung und Gestaltung bestimmter innerstaatlicher Problembereiche können Körperschaften oder selbständige Anstalten des öffentlichen Rechts gebildet werden, die für ihren Aufgabenbereich Selbstverwaltungs- und Rechtsetzungskompetenzen erhalten. Als Beispiele seien einerseits die Universitäten, Industrie- und Handelskammern oder andere Berufskammern, andererseits die Bundesanstalt für Arbeit, die Bundesbank oder die Rentenversicherungsanstalten genannt (zu den Normungsverbänden § 19). Die Gemeinden haben unmittelbar von Verfassungs wegen eine Selbstverwaltungskompetenz (Art. 28 Abs. 2 G G , näheres § 21). Solche Einrichtungen entlasten das Parlament von spezifischen Regelungsanforderungen. Ihnen kommt durch ihre Beteiligungsgremien
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eine politische Integrationsfunktion und durch ihre Selbstverwaltungsrechte die Fähigkeit zur aufgabenangemessenen und situationsbezogenen Problemwahrnehmung und -bearbeitung zu. Die Bildung solcher Körperschaften und Anstalten bedarf der gesetzlichen Grundlage, und zwar in Form eines Organisationsgesetzes und einer Ermächtigungsnorm, die Inhalt und Umfang der verliehenen Rechtsetzungskompetenz regelt. Die Entscheidung liegt also, vergleichbar der Verordnungsermächtigung, beim Parlament, ob, in welchem Umfang und in welcher Form es Rechtsetzungs- und Organisationskompetenz delegieren will (Hendler: 1984). Soweit solche Einrichtungen wie die Universitäten durch die Verfassung eine institutionelle Garantie genießen, beschränkt sich die parlamentarische Organisations- und Rechtsetzungskompetenz auf ihre Ausgestaltung ( B V e r f G E 12, 205 (260); 45, 393 (399); Häberle: 3 1983, S. 92ff.; Schmitt: 1931/ 2 1973, S. 149ff., 160ff.). Die Delegation von Staatsgewalt ist nie vollständig. In der Regel bleibt die Rechtsaufsicht und je nach Ausgestaltung auch die Fachaufsicht bei den zentralen staatlichen Einrichtungen. Eine andere Form der Bindung oder Delegation von Herrschaftskompetenz sind Verträge mit ausländischen Staaten. Diese können die Ausübung der Staatsmacht und damit die Volkssouveränität binden, sei es, daß bestimmte Vereinbarungen getroffen oder daß nationalstaatliche Kompetenzen auf eine supranationale Einrichtung übertragen werden. Um die politische Vorrangstellung des Parlaments zu sichern, bedürfen Verträge - unbeschadet der Kompetenz der Regierung für die auswärtigen Beziehungen - , die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, „der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in der Form eines Bundesgesetzes" - Art. 59 Abs. 2 G G (Vertragsgesetze). Dies gilt selbstverständlich auch, wenn der Bund Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen überträgt (Art. 24 Abs. 1 G G ; dazu § 24). Das Parlament sichert sich damit seinen Einfluß auf die staatliche Politik in Bereichen, die den Gesamtzustand des politischen Systems und die staatlichen Handlungsmöglichkeiten maßgeblich betreffen. Es verantwortet die Abgabe von politischer Kompetenz und Rechtsetzungsmacht an supranationale Einrichtungen. In der Praxis ist dies eine weitgehend nur formale Kompetenz, da das Parlament solchen Verträgen nur insgesamt zustimmen oder sie ablehnen kann. Das Parlament ist also an das vorgängige Regierungshandeln „gebunden". Es kann aber durch ergänzende Beschlüsse eine bestimmte Interpretation solcher Verträge innerstaatlich vorschreiben.
3. Bereitstellung finanzieller Mittel, Finanz- und Haushaltsgesetze Staatliches Handeln ist weitgehend von der Verfügbarkeit finanzieller Mittel und sonstiger Ressourcen abhängig. Dies betrifft auch die Möglichkeit zum Einsatz von Personal zur Erledigung von Staatsaufgaben, sei es im Bildungsbereich, in der Justiz, in der Polizei, in der allgemeinen Verwaltung oder im Verteidigungsbereich. Staatliches Handeln beinhaltet häufig auch die Verteilung und Umverteilung finanzieller Mittel. Bereits aus dem Gesetzesvorbehalt ergibt sich, daß alle Arten von Steuergesetzen sowie sonstige finanzielle Leistungen, die vom Bürger zu erbringen sind, als Eingriffe in „Freiheit und Eigentum" der Gesetzesform bedürfen. In diesen Ge-
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setzen drücken sich die - zumindest finanziellen - Verpflichtungen des Bürgers in und gegenüber dem Staat oder „Entgelte", die er für bestimmte staatliche Leistungen zu erbringen hat, aus. Lange umkämpft war einstmals das Recht der Budgetfeststellung, d.h. die Entscheidung darüber, wofür staatliche Finanzmittel ausgegeben werden dürfen. Bei der Entfaltung des Parlamentarismus in Deutschland im 19. Jahrhundert war es ein selbstverständlicher Anspruch des Bürgertums, nicht nur mitzubestimmen, welche finanziellen Leistungen sie für den Staat zu erbringen haben, sondern auch, was mit „ihrem" Geld geschieht. Heute gehört die Kompetenz zur Budgetfeststellung in Form der Haushaltsgesetze und der Feststellung des Haushaltsplans zu den wichtigsten staatsleitenden Rechten der Parlamente (Heun: 1989). Das Parlament beschließt nicht nur jährlich im voraus über den Haushaltsplan (Einzelheiten in § 11 III.). Es hat auch in Ergänzung zu Art. 110 GG Haushaltsgrundsätze und Anforderungen an eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und an eine mehrjährige Finanzplanung gesetzlich festgeschrieben. Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses von Regierung und Parlament ist gekennzeichnet durch das Spannungsverhältnis zwischen finanzwirtschaftlichen Notwendigkeiten und vorsorgendem Mißtrauen. Während einerseits die haushaltsrechtlichen Grundsätze Transparenz, Entscheidungs- und Kontrollmöglichkeiten für das Parlament sichern sollen, bedürfen andererseits „finanzwirksame" Gesetze, d.h. Gesetze, die eine Ausgabenerhöhung oder Einnahmenminderung herbeiführen, der Zustimmung der Bundesregierung (Art. 113 G G , dort auch zu den Einzelheiten des Zustimmungsverfahrens). Diese Regelung begrenzt die Vorrangstellung des Parlaments. Sie ist weniger aus der praktischen Erfahrung zu rechtfertigen, daß Abgeordnete aus sehr unterschiedlichen Gründen leichtfertig Finanzleistungen an den Bürger beschließen oder deren Leistungspflicht mindern könnten, sondern aus der sachlichen Erwägung, das differenzierte und komplizierte haushaltsrechtliche Gesamtgefüge im Blick zu behalten. Die Regierung ist wiederum gehalten, bei Gesetzesinitiativen ausdrücklich auf finanzielle Folgen eines Gesetzes hinzuweisen. Nach Art. 111 G G hat die Regierung das Recht zur beschränkten Tätigung von Ausgaben, wenn der Etat - gleichgültig ob durch die Regierung oder das Parlament verschuldet - nicht rechtzeitig festgestellt wird. Mit ausdrücklicher Zustimmung des Bundesministers der Finanzen dürfen „im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses" (Art. 112 GG) auch überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben getätigt werden. Insgesamt ist die Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verpflichtet (Art. 109 Abs. 2 G G ) .
4. Mitwirkung bei Planungsmaßnahmen D e r Konzeption des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates liegt die Vorstellung zugrunde, daß die staatliche Ordnung in ihren Grundstrukturen und Entwicklungsrichtungen durch Gesetze bestimmbar ist, und daß es allein rechtsstaatlicher Sicherheit entspricht, wenn sich Verhaltensbindungen in den Verfahrensund Formvorschriften der Gesetzgebung ergeben.
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In dem Maße jedoch, in dem der Staat interventionistisch oder korporativ mit Verbänden die Wirtschafts- und Sozialpolitik gestaltet (dazu § 13 II. und III.), und in dem Maße, wie die Realisierung politischer Ziele aufgrund der hohen Komplexität gesellschaftlicher Zusammenhänge oder der Langwierigkeit technischer Entwicklungen sehr langfristig angelegt ist, und eine Vielzahl von Initiativund Umsetzungsschritten von Grundsatzbeschlüssen über Planungsmaßnahmen bis zur endgültigen gesetzlichen oder haushaltsmäßigen Entscheidung erfolgt, wie im Bereich der Verteidigungs- und Rüstungspolitik oder der Wissenschaftsund Technologieförderung, kommt der Mitwirkung des Parlaments bei der abschließenden Gesetzgebungsmaßnahme nur eine Kontrollfunktion gegenüber entsprechendem Regierungs- und Verwaltungshandeln zu (beispielhaft § 12 auch § 16). Die Parlamente sind an die „normative Kraft" der durch Regierung und Verwaltung gesetzten Fakten gebunden. Die Mitwirkung des Parlaments bei staatlichen, d.h. regierungs- oder verwaltungsgebundenen Planungen ist bislang verfassungsrechtlich - sieht man von der Finanz- und Haushaltsplanung ab - kaum gesichert. Gesetzlich ist die Mitwirkung des Parlaments an Planungsmaßnahmen nur in den Bereichen geregelt, in denen der politische Entscheidungsgehalt einer Maßnahme in der Planfeststellung besteht, wie beim Bundesverkehrswegeplan. Weitergehende Regelungen finden sich auf Länderebene. Hier kann teilweise von einer Parlamentarisierung der Landesplanung gesprochen werden. In der Praxis treffen im Planungsbereich die unterschiedlichen Interessen und Funktionen von Regierung und Parlament hart aufeinander (Ritter, E.-H.: 1980; Karpen: 1989, S. 119ff.; Graf Vitzthum: 1978). Bei der Regierung liegt die Erteilung eines Planungsauftrages, die Planfeststellung sowie die Ausführung und Kontrolle von Plänen. Es gibt eine Vielzahl von ressort- oder ressortübergreifenden Planungsstäben. Zahlenmäßig und inhaltlich nimmt die Planarbeit zu: von Verkehrsplänen, Schul- und Hochschulplänen, Sozialplänen bis zu Raumordnungsplänen und Landesentwicklungsplänen. Solche Planungsaktivitäten können auch auf gesetzlichen Verpflichtungen beruhen, über ihre Ausführung ist dem Parlament von der Regierung zu berichten (z.B. Pläne nach dem BundesraumordnungsG oder dem BundesnaturschutzG). Versuche einer flächendeckenden und integrierten Planung, die Aufgaben-, Ausführungs- und Finanzpläne zusammenfaßt, entsprechend dem amerikanischen Planning-Programming-Budgeting-System (PPBS) können als gescheitert betrachtet werden. Im Planungsbereich kann sich das Parlament vor allem durch Aktivierung seiner Kontrollrechte gegenüber der Regierung und durch extensive Wahrnehmung seiner Finanz- und Haushaltskompetenz Einfluß verschaffen. Insbesondere das Instrument der mittelfristigen Finanzplanung und der Zustimmungsvorbehalt zu finanziellen Verpflichtungsermächtigungen für die Regierung sowie die Parlamentsdebatte zu Planungsvorhaben sind Instrumente, parlamentarischen Einfluß zu sichern (detialliert § 11 III.). 5. Parlamentsvorbehalt Die Diskussion zur Mitwirkung des Parlaments bei - administrativ geführten Planungsmaßnahmen verweist bereits auf Grundprobleme heutigen Parlamentarismus: Wie kann die staatsleitende Funktion des Parlaments gesichert werden,
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wenn offensichtlich Maßnahmen der Gesetzgebung oder die Entscheidung über Haushaltspläne nicht ausreichen, um die Verantwortung für die Zukunftsgestaltung der Gesellschaft unter den Bedingungen des technischen Zeitalters wahrzunehmen. Die Sicherung der staatsleitenden Funktion des Parlaments erfordert deshalb, daß nicht mehr nur „Eingriffe in Freiheit und Eigentum", sondern daß alle für die politische Ordnung wesentlichen Entscheidungen und alle die Zukunftsentwicklung des Gemeinwesens grundsätzlich betreffenden Maßnahmen durch das Parlament bestimmt werden. Andernfalls verliert parlamentarische Demokratie an Substanz. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einem Parlamentsvorbehalt (z.B. BVerfGE57,295 (321); 58,257 (268); Eberle: 1984, S. 486ff.; Mössle: 1986, S. 132ff.; s.a. §§ 16 und 18 II.; § 201. und II.). Die Rechtfertigung des Parlamentsvorbehalts ergibt sich verfassungsrechtlich aus dem Demokratieprinzip und dem Rechtsstaatsprinzip (hierzu § 1 III.). „Wesentliche" Entscheidungen im Bereich der Rechtsetzung hat nicht nur das Parlament selbst als Repräsentant des Volkes zu treffen, sondern „wesentliche" Entscheidungen für die Ordnung und Entwicklung des Gemeinwesens bedürfen der Gesetzesform (BVerfGE 33,125 (158,163); 40, 237 (248ff); 47, 66 (79); BVerwG E 60,162 (181); 64,308 (310)), denn nur das Gesetz vermittelt Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Im Gesetz verbinden sich das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip (Kloepfer: 1989; Staupe: 1986, S. 103ff.). Umstritten ist die damit vorgenommene „Gewaltenteilung" zwischen Legislative und Exekutive. Ohne hier auf das Verhältnis Parlament und Verwaltung im einzelnen einzugehen (genauer § 8 I.) steht bei jenen, die den Parlamentsvorbehalt bestreiten oder eingrenzen wollen, die Vorstellung des sich vor allem in und durch die Exekutive realisierenden Staates im Vordergrund. Die Zukunftsverantwortung für ein Gemeinwesen ist bei den heutigen langfristigen Entwicklungen und Gefährdungen durch Wissenschaft und Technik, bei der Verflechtung von Staat und Wirtschaft und bei der sozialen Abhängigkeit der meisten Bürger von staatlichen Leistungen keine nur „verwaltbare", sondern solche Entscheidungen sind vom Repräsentativorgan des Volkes, dem Parlament, selbst zu treffen und zu verantworten. Der Parlamentsvorbehalt beinhaltet also einen Rechtsetzungsbegriff, der den Gesetzesbegriff weiter faßt (ausführlich § 16, §§ 17 bis 20). Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat in einem Beschluß vom 06.11.1989 (Az. 8 T H 685/89) festgestellt, daß gentechnische Anlagen nur aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung über die Nutzung der Gentechnologie errichtet und betrieben werden dürfen. Dies ergebe sich aus der Schutzpflicht des Gesetzgebers für verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter. Auch die Risikound Gefahrabwägung bei der Zulassung von Technologien ist vom Gesetzgeber in der besonderen Form des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens vorzunehmen (näheres § 18 III.). Umstritten ist, was als „wesentlich" anzusehen ist, also dem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinen Entscheidungen vor allem darauf ab, ob eine Frage „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" sei (BVerfGE 47, 46 (79f.); 58, 257 (268f.)). Aber auch Entscheidungen, die für die Entwicklungsfähigkeit des Gemeinwesens von grundsätzlicher Bedeutung sein können, wie die Einrichtung eines neuen Typs von Kernkraftwerken oder die Gliederung des Schulwesens, fallen nach dieser Rechtsprechung unter den
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Parlamentsvorbehalt und Gesetzesvorbehalt (BVerfGE 49,89 (126ff.)), weil solche Entscheidungen letztlich die zu lebende Praxis der Grundrechte betreffen. Im Schrifttum findet eine interessante Diskussion und Unterscheidung zwischen Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt statt. Der Parlamentsvorbehalt soll den politischen Gestaltungsanspruch des Parlaments entsprechend dem Demokratieprinzip auch in solchen Bereichen sichern, in denen keine gesetzliche Regelung erforderlich ist, sondern nur schlichte Parlamentsbeschlüsse oder parlamentarische Entschließungen genügen. Der Rechtssatzvorbehalt verlange demgegenüber, daß Maßnahmen im Grundrechtsbereich und Leistungsbereich der Verwaltung nur durch abstrakte und generelle Regelungen mit Außenwirkung erfolgen können (Hermes: 1988, S. 76ff.), wobei dies durch Gesetz oder Rechtsverordnung und Satzung aufgrund eines Gesetzes geschehen kann. Auch wenn eine solche Differenzierung prinzipiell sinnvoll erscheint, hat die Verfassungsdogmatik und hat unser praktizierter Parlamentarismus noch keine entsprechenden Formen entwickelt, die die bindende Wirkung von parlamentarischen Entschließungen gegenüber Exekutive und Judikative sichern - wie die Entschließung des Bundestages zum Kohlekraftwerk Buschhaus (BT-Drs. 10/1805) zeigt. Wenn für die Unterscheidung zwischen Parlamentsvorbehalt und Rechtssatzvorbehalt darauf abgestellt wird, ob die Rechtssphäre des Bürgers betroffen ist - dann Rechtssatzvorbehalt - , so ist gerade im Bereich der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien schwierig zu bestimmen, wann die Rechtssphäre des Bürgers nicht betroffen sein kann. Die Ausbildung des Parlamentsvorbehalts und der Wesentlichkeitstheorie lassen die staatsleitende Funktion des Parlaments klar erkennen. Gesetzgebung ist die besondere Form der Ausübung staatsleitender Funktionen durch das Parlament mit allgemein bindender Wirkung. Der Parlamentsvorbehalt als Verpflichtung des Parlaments zur politischen Auseinandersetzung und Entscheidung durch Normsetzung begegnet einer Selbstentmachtung des Parlaments durch Kompetenzverlagerung auf die Exekutive. Diese Stellung des Parlaments kommt auch im Zusammenhang mit anderen Verfassungsbestimmungen zum Ausdruck. Das Grundgesetz sieht für völkerrechtliche Verträge, die die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder Gegenstände der Bundesgesetzgebung betreffen (Art. 59 Abs. 2 GG), für die Stärke und Grundzüge der Organisation der Streitkräfte (Art. 87a Abs. 1 GG)), für die Finanzplanung und die Sicherung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 109 Abs. 3 und 4 GG) sowie insbesondere für den Eintritt des Verteidigungsfalles einen Parlamentsvorbehalt vor. Art. 115a Abs. 1 G G bestimmt, daß das Parlament (hier: Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates) den Eintritt des Verteidigungsfalles festzustellen hat. Um die parlamentarische Legitimation aller staatlichen Herrschafts- und Gewaltmaßnahmen zumindest dem Prinzip nach zu sichern, ist auch für die Dauer des Verteidigungsfalles die Auflösung des Bundestages ausgeschlossen (Art. 115h Abs. 3 GG). Über einen Friedensschluß wird ebenfalls durch ein Bundesgesetz entschieden (Art. 1151 Abs. 3 GG). 6. Selbständigkeit des Parlaments? Das Bundesverfassungsgericht und ihm folgend die Verfassungstheorie sind mit unterschiedlicher Intensität und in der Argumentation nicht immer konsistent bemüht, die staatsleitende Funktion des Parlaments bei wesentlichen Entschei-
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düngen für die Entwicklung der staatlich verfaßten Gesellschaft zu stärken. Dabei wird deutlich, daß nicht nur ein Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratiegebot und dem Rechtsstaatsprinzip besteht, sondern auch zwischen parlamentarischer Verantwortung für die Entwicklung des Staates und der politischen Kompetenz der Regierung und der ihr zugeordneten Verwaltung (Ellwein/Hesse: 6 1987, S. 352ff.). Regierung und Verwaltung haben gegenüber dem Parlament einen Informationsvorsprung, ebenso sind die Handlungspotentiale und die Aktionsfähigkeit von Regierung und Verwaltung größer als jene des Parlaments. Das Parlament erscheint oft überfordert angesichts der anbrandenden Probleme und seinen begrenzten Lösungsmöglichkeiten (Achterberg: 1974; Steffani: 1982; dazu auch §16, §11IV.). In der parlamentarischen Praxis liegen die Schwierigkeiten noch anders verteilt: Das Parlament ist bei seiner Gesetzgebung und auch bei den anderen hier angesprochenen staatsleitenden Maßnahmen vielfach abhängig von den Vorarbeiten und Vorlagen der Ministerialbürokratie. Solche Vorlagen werden ihrerseits bereits vor der Zuleitung an das Parlament mit betroffenen Interessenverbänden abgestimmt. Die Vorarbeit der Regierung ist besonders deutlich bei Haushaltsgesetzen. Aber auch andere Gesetzesvorlagen werden - wie gesagt - überwiegend von der Regierung eingebracht (ausführlich §1111.). Das aufwendige Beratungsverfahren in Ausschüssen und im Plenum des Parlaments ändert wenig daran, daß - nicht nur aufgrund der engen Verbindung zwischen Regierung und parlamentarischer Mehrheit - Gesetzesvorlagen im parlamentarischen Beratungsverfahren selten gravierende Änderungen erfahren (hierzu auch § 10 V., § 5 V.). Dies bedeutet nicht nur unter Umständen eine faktische Beschränkung der staatsleitenden Funktion des Parlaments, sondern auch eine Unklarheit über das Ausmaß parlamentarischer Verantwortung. Das Parlament selbst ist wiederum über seine Gliederung in Fraktionen in die parteipolitischen Interessen- und Machtkalküle eingebunden (Badura: 1986; Oberreuter: 1989; näheres § 4 III. und § 10 VI.).
III. Legitimations- und Wahlfunktion Das Parlament als Repräsentant des Trägers der Staatsgewalt, des Volkes, hat allein die Kompetenz, die Mandatsträger der übrigen obersten Staatsorgane als solche zu legitimieren, indem es diese allein oder aufgrund der föderativen Struktur der Bundesrepublik gemeinsam mit Vertretern der Länder bzw. Landesparlamente wählt. Dem steht nicht entgegen, daß diese Staatsorgane in ihrer Kompetenzausstattung durch das Grundgesetz legitimiert sind.
1. Wahl des Bundespräsidenten Während der Reichspräsident nach der Weimarer Verfassung unmittelbar vom Volk gewählt wurde, erfolgt die Wahl des Bundespräsidenten durch eine Bundesversammlung. Die Bundesversammlung besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und der gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden (Art. 54 Abs. 3 G G ) . Der Reichspräsident hatte so eine gleiche oder - da als Einzelperson
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gewählt - stärkere wahlbezogene Legitimation als der Reichstag, was sich in seiner Kompetenzstellung ausdrückte.
2. Wahl des Bundeskanzlers Der Bundestag wählt auf Vorschlag des Bundespräsidenten mit den Stimmen der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache den Bundeskanzler (Art. 63 Abs. 1 u. 2 G G ) . In weiteren Wahlgängen - so solche erforderlich sind - ist der Bundestag nicht an einen Vorschlag des Bundespräsidenten gebunden. Für den Fall, daß in einer dritten Wahlphase ein Kandidat zwar die Mehrheit der Stimmen, aber nicht gleichzeitig die Mehrheit der Stimmen aller Mitglieder des Bundestages erhält, kann der Bundespräsident binnen 7 Tagen den Gewählten ernennen oder den Bundestag auflösen (Art. 63 Abs. 3 u . 4 G G ) . Die Ausgestaltung des Wahlverfahrens und die Kompetenz des Bundespräsidenten dabei zeigen an, daß das Amt des Kanzlers und sein möglicher Amtsinhaber nicht in einer parlamentarischen Debatte „zerredet" werden und die Voraussetzungen zur Bildung einer von einer Parlamentsmehrheit getragenen Regierung durch einen zu wählenden Kanzler gegeben sein sollen. Dem dient das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten und seine Entscheidungsmöglichkeit, einen nur mit einfacher Mehrheit Gewählten nicht zu ernennen, sondern den Bundestag aufzulösen. Der Bundespräsident hat hier eine „Hilfsfunktion" zur Sicherung des parlamentarischen Regierungssystems (ergänzend § 3 III.). Die Bundesminister, also die Mitglieder einer Bundesregierung, werden nicht vom Bundestag gewählt, sondern auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt (Art. 64 Abs. 1 G G ) . Bundeskanzler und Bundesminister haben vor dem Parlament den Amtseid gem. Art. 56 GG abzulegen (Art. 64 Abs. 2 G G ) . Wenn auch der Bundeskanzler der parlamentarischen Legitimation nach eine herausgehobene Stellung hat, zeigt die Form der Eidesleistung vor dem Bundestag an, daß jedes Regierungsmitglied gegenüber dem Bundestag verantwortlich ist (auch Art. 43 Abs. 1 GG; § 1 III.).
3. Mitwirkung bei der Wahl von Bundesverfassungsrichtern und Bundesrichtern Die rechtsprechende Gewalt ist nach dem Grundgesetz als eigenständiges Organ in der Ausübung der Staatsgewalt konzipiert (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 G G ) , sie ist den Richtern anvertraut (Art. 92 GG). Die Richter sind nur an Gesetz und Recht gebunden. Um einerseits Neutralität und parteipolitische Unabhängigkeit der Bundesverfassungsrichter und der obersten Bundesrichter - und entsprechend auch bei den Landesrichtern - zu sichern, andererseits aber ihre „Akzeptanz" für das politische System und ihre demokratische Legitimation zu gewährleisten, werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte in indirekter Wahl vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt (Art. 94 Abs. 1 GG). Einzelheiten sind in §§ 5ff. Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt, dort ist auch bestimmt, daß die Wahl der Bundesverfassungsrichter, die vom Bundestag zu wählen sind, durch ein Wahlmännergremium erfolgt, das 12 Mitglieder hat und sich nach den Regeln der Verhältniswahl zusammensetzt. Die erforderliche qualifizierte Mehrheit von
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mindestens 8 Stimmen bei der Richterwahl soll eine breite politische Akzeptanz der Bundesverfassungsrichter gewährleisten. Über die Berufung der Richter zu den obersten Bundesgerichten entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, der aus den zuständigen Landesministern und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die vom Bundestag gewählt werden (Art. 95 Abs. 2 G G ; dazu § 10 V.). Landesrichter werden in einem ähnlichen Verfahren durch die entsprechenden Organe der Länder gewählt. 4. Sonstige Wahlen und Delegationen Im Zusammenhang mit den Gesetzgebungsaufgaben des Bundestages steht die Bestellung der Mitglieder des Ausschusses nach Art. 77 Abs. 2 G G (Vermittlungsausschuß), im Zusammenhang mit seinen Kontrollaufgaben die Wahl des Wehrbeauftragten und des Präsidenten des Bundesrechnungshofes (s.a. § 10 V.; §11IV.). D e r Bundestag entsendet schließlich kraft Gesetzes Mitglieder in die Beiräte von Einrichtungen wie das Bundesausgleichsamt, die Deutsche Bundespost, den Rundfunkrat der Deutschen Welle und des Deutschlandfunks sowie in das Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Mitwirkung von Bundestagsabgeordneten in solchen Gremien ist keine verfassungsrechtlich notwendige. Sie dient vor allem der politischen Transparenz und der Information der Abgeordneten.
5. Wahl von Angehörigen internationaler und supranationaler Einrichtungen, Mitgliedschaft in solchen Einrichtungen Der Bund kann gem. Art. 24 Abs. 1 G G Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen, was entsprechender Bundesgesetze bedarf. Mit der Zustimmung zu solchen Gesetzen liegt das Vertretungsrecht in diesen Organisationen bei der Bundesregierung. Die Stellung des nationalen Parlaments ist deshalb bei der Bestimmung von Mitgliedern internationaler oder supranationaler Organe eingeschränkt. Die Mitglieder des Europaparlaments werden seit 1979 unmittelbar vom Volk gewählt (näher hierzu § 23). Es besteht die Möglichkeit von Doppelmandaten im Bundestag und im Europäischen Parlament, die aber seit 1986 nicht mehr genutzt wird. Der Bundestag wählt aus seinen Mitgliedern die deutschen Abgeordneten und deren Stellvertreter zur Beratenden Versammlung des Europarates (Parlamentarische Versammlung des Europarates) und zur Versammlung der Westeuropäischen Union. Die Abgeordneten in beiden Versammlungen sind personengleich. Ferner entsendet der Bundestag gemeinsam mit dem Bundesrat die deutschen Mitglieder in die Nordatlantische Versammlung. Über die Mitgliedschaft in internationalen parlamentarischen Vereinigungen hat der Bundestag selbst zu entscheiden. Der Bundestag ist Mitglied der Interparlamentarischen Union und sendet Delegationen in deren Organe (Interparlamentarische Konferenz, Interparlamentarischer Rat). Daneben arbeitet der Bundes-
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tag in der Konferenz der Präsidenten der europäischen parlamentarischen Versammlungen, die die Verbindung der nationalen Parlamente mit den zwischenstaatlichen Versammlungen fördert, und in einigen internationalen oder binationalen Parlamentariergruppen mit (Klein, H.-H.: 1987a, S. 357; Schindler: 1988, S. 827ff.; Schweitzer: 1989, S. 1657ff.).
6. Permanenz parlamentarischer Legitimation staatlicher Macht und die begrenzte Macht des einzelnen Abgeordneten Das Grundgesetz geht von der Permanenz der parlamentarischen Legitimation staatlicher Macht aus (Böckenförde: 1964, S. 103ff., 286ff.; Schröder: 1987, S. 616ff.). Insofern gibt es keine vom Parlament unabhängige Organsouveränität, sondern nur verfassungsunmittelbare Kompetenzbereiche staatlicher Organe. Das Erfordernis steter Legitimation der politischen Macht durch das Parlament findet seinen besonderen Ausdruck im sogenannten konstruktiven Mißtrauensvotum: Der Bundestag kann einem Bundeskanzler nur dann das Mißtrauen aussprechen, wenn er mit der Mehrheit seiner Mitglieder gleichzeitig einen Nachfolger wählt (Art. 67 Abs. 1 G G ; auch § 3 III.). Er kann auch einzelnen Ministern das Mißtrauen aussprechen. Allerdings ist es Sache des Bundeskanzlers, zu entscheiden, ob er dem Bundespräsidenten die Entlassung des Ministers vorschlägt oder nicht. Das Grundgesetz sieht hierfür keine Regelung vor. Nur der Bundeskanzler steht in unmittelbarer parlamentarischer Verantwortung. Entspricht der Bundeskanzler nicht dem Mißtrauensvotum des Parlaments gegen einen Minister, so ist es Sache des Bundestages, ob dieser das „konstruktive Mißtrauensvotum" gegen den Bundeskanzler ausüben will (zu den Grundlagen § 2 II. und § 3 III.). In dem thematischen Kontext der Permanenz politisch-parlamentarischer Legitimation staatlichen Handelns ist auch die im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehene Bestellung eines Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und eines Ausschusses für Verteidigung (Art. 45a Abs. 1 GG) zu sehen. Da dies Bereiche sind, in denen der Bundestag nur sehr begrenzt gesetzgeberisch tätig wird und der Realisierung bestimmter Maßnahmen langfristige Planungen vorausgehen, ist eine stete parlamentarische Begleitung der Außen- und Verteidigungspolitik durch entsprechende Ausschüsse und die Professionalisierung der Parlamentsarbeit wichtig (weiterführend § 5 I V . ; § 10 V.; § 11IV.). Im Zusammenhang mit dem Prinzip andauernder parlamentarischer Legitimation staatlicher Herrschaftsausübung ist schließlich auch Art. 115h G G zu sehen, wonach die Wahlperiode des Bundestages im Verteidigungsfall bis 6 Monate nach Ende des Verteidigungsfalles verlängert wird, falls sie zwischenzeitlich ablaufen würde (zur Parlamentsauflösung§3III.). Nicht nur bei der Wahl von Bundesverfassungsrichtern und Bundesrichtern wird deutlich, daß die politische Macht und die Verantwortung, die sich mit der Wahlund Legitimationsfunktion des Parlaments verbindet, für den einzelnen Abgeordneten gering ist: In beiden Fällen hat der Bundestag als Ganzes nur ein indirektes Wahlrecht. Aber auch bei der Wahl des Bundeskanzlers und dem Verzicht des Grundgesetzes auf eine zumindest parlamentarische Bestätigung der Bundesminister wird deutlich, daß nach der Konzeption des Grundgesetzes die Gewährleistung einer handlungsfähigen und gegenüber wechselnden parlamentarischen
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Mehrheiten unabhängigen Regierung einen hohen Stellenwert hat. Die Entschiedungsgewalt des Parlaments endet wegen der Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung nach dem Grundgesetz dort, wo die Handlungsfähigkeit des Staates insgesamt aufgrund parteipolitischer Widersprüche nicht mehr gewährleistet erscheint (Friesenhahn: 1958; Scheuner: 1974; Friedrich: 1980). Politische Willensbildungsprozesse finden in der parlamentarischen Praxis nur eingeschränkt im Parlament statt, sie werden dort veröffentlicht. Die Meinungsbildung ist in die politischen Parteien, insbesondere in die Fraktionen und deren Fraktionsführung vorgelagert. Diese trifft auch Absprachen in Wahl- und Gesetzgebungsangelegenheiten mit anderen Fraktionen. Die politischen Parteien entscheiden über ihre Kanzlerkandidaten; diese werden bei den Bundestagswahlen besonders herausgestellt. Die Fraktionsführungen und Fraktionen befinden, vor allem bei der Bildung von Koalitionsregierungen, über die Zusammensetzung der Regierung. Wie stark dieser Einfluß sein kann, hängt von der Persönlichkeit des Kanzlers, der notwendigen Berücksichtigung regionaler, partei- und verbandspolitischer Interessen und der Eigenständigkeit einer Fraktion ab. In Gesetzgebungsangelegenheiten wiederum sind die für die einzelnen Parteien relevanten und in einer Fraktion repräsentierten verbandspolitischen Interessen zu berücksichtigen. Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Abgeordneten im Parlament ist formiert und gebunden (Leibholz: 3 1967, S. 112ff.; Mayntz/Neidhardt: 1989; Schütt-Wetschky: 1991, S. 15ff.; vertiefend §4 III.).
IV. Das Parlament als Institution politischer Meinungs- und Willensbildung und zur Kontrolle der Regierungspolitik Die politische Macht des Parlaments und seine Verantwortung für den Zustand des Gemeinwesens wären sehr beschränkt, würden sie sich auf Rechtsetzung und Wahlakte beschränken. Der Prozeß politischer Meinungs- und Willensbildung, dessen Darstellung und Rückbindung zur Öffentlichkeit würde allein zur Sache der Regierung und der Parteien. Politische Gestaltung, die Ausbildung eines geeigneten Instrumentariums dafür und die Wahrnehmung gesellschaftlicher Probleme als öffentliche kann nicht nach Sachgesetzlichkeiten oder durch einseitige Anordnung erfolgen. Sie bedarf der Entwicklung von entsprechendem Problembewußtsein und der Prüfung und Abwägung von Handlungsmöglichkeiten. Für ein parlamentarisches Regierungssystem ist es deshalb von besonderer Bedeutung, daß das Parlament Ort politischer Auseinandersetzung ist (Kißler: 1977, S. 90ff.; Troßmann: 1979, S. 46ff.). Die relativ starke Stellung der Regierung im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik bei der Bestimmung der Politik einerseits, ihre Verpflichtung zur Ausführung der parlamentarischen Rechtsetzungsakte andererseits, erfordert auch Kontrollmöglichkeiten des Parlaments gegenüber der Regierung, die unterhalb des konstruktiven Mißtrauensvotums gegenüber dem Bundeskanzler, dem Mißtrauensvotum gegen einen Minister oder dem Antrag an den Bundeskanzler, dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vorzuschlagen, ansetzen. Dies setzt die Kompetenz des Parlaments voraus, die Regierung zur Darlegung ihrer Politik und einzelner geplanter oder durchgeführter Maßnahmen gegenüber dem Parlament verpflichten zu können (Stadler: 1984; Vonderbeck: 1981).
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Das wichtigste Medium in diesem Zusammenhang ist die Parlamentsdebatte, sei es in Verbindung mit einer Regierungserklärung oder auf Veranlassung einer Fraktion oder einer Gruppe von Abgeordneten. Häufig werden solche Aktivitäten von der Opposition initiiert, um ihre politische Bewertung der Regierungsarbeit öffentlich darzulegen. Regierungsfraktionen veranlassen solche Debatten, um der Regierung Gelegenheit zur Darlegung ihrer Politik zu geben. Eine herausgehobene Bedeutung in der parlamentarischen Praxis haben die jährlichen Haushaltsberatungen. Diese sind Anlaß zu einer Grundsatzdebatte über die Politik der Bundesregierung insgesamt und der einzelnen Bundesminister im besonderen. Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, zum Teil aber auch das Grundgesetz selbst und die Gesetzgebungspraxis des Parlaments kennen verschiedene Formen und Instrumente der politischen Auseinandersetzung und Kontrolle im Rahmen der verfassungsrechtlichen Funktionenzuweisung für Parlament und Regierung. Innerhalb dieses Abschnitts ist nur auf die politische Funktion der verschiedenen Formen parlamentarischer Meinungsbildung und Willensbekundung sowie parlamentarischer Kontrolle einzugehen (im einzelnen §§11 und 12).
1. Parlamentarische Entschließungen, schlichte Parlamentsbeschlüsse Der allgemeinen politischen Meinungs- und Willensbildung dienen die „aktuelle Stunde" (Einzelheiten § 106 und Anh. 5 GO-BT; s.a. § 11IV.) und die „parlamentarischen Entschließungen"; erstere hat in der Parlamentspraxis keine besondere Bedeutung erlangt, da die Vielzahl der kurzen Erörterungen letztlich folgenlos bleiben. Die Begriffe parlamentarische Entschließungen und schlichte Parlamentsbeschlüsse werden oft synonym verwendet. Sie bezeichnen Beschlüsse parlamentarischer Mehrheiten ohne Gesetzesform, ohne also den Bürger und in der Regel auch andere Staatsorgane binden zu können. Insofern sind solche Entschließungen oder Beschlüsse Ausdruck parlamentarischer Meinungsbildung, die ein bestimmtes Handeln anderer Staatsorgane veranlassen oder die Meinung des Parlaments und insbesondere parlamentarischer Mehrheiten für die Öffentlichkeit deutlich machen wollen. Zweckmäßigerweise wird von schlichten Parlamentsbeschlüssen gesprochen, soweit solche auf einer Rechtsquelle - sei es Verfassung oder Gesetz - beruhen, wie Ausübung des Mißtrauensvotums, Antwort auf die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers, Zustimmung zu einer Rechtsverordnung oder Erklärungen in Rechtsstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht. Parlamentarische Entschließungen beruhen demgegenüber nicht auf einer besonderen Rechtsquelle, ihre Zulässigkeit und ihre Verfahren ergeben sich aus der Geschäftsordnung des Bundestages. Sie beinhalten entweder Ersuchen des Parlaments an die Regierung, eine bestimmte Entscheidung oder Handlung vorzunehmen, eine bestimmte politische Haltung einzunehmen oder sie sind Meinungsäußerungen des Parlaments. Parlamentarische Entschließungen sind Ausdruck der Autonomie und politischen Verantwortung des Parlaments und bringen den Prozeß seiner Meinungsund Willensbildung zu einem bestimmten politischen Problem zum Abschluß (Achterberg: 1984,S.738ff.;Ismayr: 1991).
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2. Interpellationsrechte, Auskunftsverlangen über die Ausführung von Parlamentsbeschlüssen Politische Meinungsbildung des Parlaments und die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben gegenüber der Regierung bedürfen der Information. Das Interpellationsrecht des Parlaments, sein Auskunftsverlangen verpflichtet die Regierung zu Information und politischer Stellungnahme. Diese Rechte des Parlaments sind unmittelbar Ausdruck seiner staatsleitenden Funktion. Als Kontrollmöglichkeiten des Parlaments gegenüber der Regierung werden sie entsprechend der politischen Struktur des parlamentarischen Regierungssystems vor allem von der Opposition wahrgenommen, um Auskunft und Information zu erhalten und gleichzeitig den eigenen Standpunkt öffentlich darzustellen. Parlamentarische Gruppierungen der Regierungsmehrheit nutzen die Interpellation, um der Regierung Gelegenheit zu öffentlichen, themenbezogenen Äußerungen vor dem Parlament zu geben. Die Geschäftsordnung des Bundestages unterscheidet zwischen großer Anfrage, kleiner Anfrage und mündlichen Anfragen (§§ lOOff. GO-BT, näher hierzu § 11 IV.). Große Anfragen dienen dazu, daß das Parlament Informationen von der Regierung zu wichtigen politischen Angelegenheiten, in der Regel zu einem thematisch umfangreichen Gebiet erhält. Große Anfragen und ihre Beantwortung bilden immer Anlaß für eine Parlamentsdebatte. Sie dienen damit der politischen Meinungs- und Willensbildung. Kleine Anfragen beziehen sich auf thematisch begrenzte und bestimmt bezeichnete Gegenstände. Große und kleine Anfragen können nur von Abgeordneten in Fraktionsstärke eingebracht werden. Sie sind kein Mittel für den einzelnen Abgeordneten, sich Informationen zu verschaffen oder eine politische Diskussion im Plenum des Bundestages zu initiieren, sondern Ausdruck eines „strukturierten Parlamentarismus" (hierzu § 10 VII.). Nur mit der mündlichen Anfrage können „kurze Einzelfragen" von jedem Abgeordneten zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung gerichtet werden. Die politische Verantwortung des Parlaments als Ganzem kommt in seinem Recht gem. Art. 43 Abs. 1 G G zum Ausdruck, die Anwesenheit jedes Mitglieds der Bundesregierung bei Plenar- oder Ausschußsitzungen zu verlangen. Strittig diskutiert wird, ob dem Herbeirufungsrecht auch eine Verpflichtung der Regierung zur Auskunftserteilung oder Eintritt in eine Debatte entspricht. Aus dem Sinn eines parlamentarischen Regierungssystems ist dies zu bejahen. In der parlamentarischen Praxis hat die Herbeirufung von Regierungsmitgliedern nur geringe Bedeutung. Das Eigeninteresse der Regierung, an Parlamentsverhandlungen und Ausschußsitzungen teilzunehmen, ist - wenn nicht öffentlichkeitsrelevante Debatten anstehen - nicht sehr stark ausgebildet. Der Möglichkeit zur Anwesenheitsverpflichtung entspricht das Recht der Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihrer Beauftragten, Zutritt zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse zu erhalten und gehört zu werden (Art. 43 Abs. 2 G G ) . Beide Regelungen sind Ausdruck der Verschränkung zwischen Regierungsbereich, Parlamentsbereich und Föderalstruktur, unbeschadet der jeweiligen Eigenkompetenzen. Das Parlament kann schließlich auch die Regierung - unabhängig von den formalisierten Anfrageverfahren - um Auskunft über die Ausführung seiner Beschlüs-
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se ersuchen. Solchem Auskunftsverlangen kommt keine bindende Wirkung zu, da es nicht verfassungsrechtlich, häufig auch nicht in den Geschäftsordnungen der Parlamente vorgesehen ist. Hier wird ein grundsätzliches Strukturproblem des parlamentarischen Regierungssystems deutlich: Das Parlament kann Gesetze beschließen und andere staatsleitende Maßnahmen initiieren. Die Folgen seiner Handlungen kann es letztlich nur der politischen Öffentlichkeit entnehmen, da der Vollzug der Gesetze und Beschlüsse funktional der Exekutive zugewiesen ist (Ellwein/Görlitz: 1967; Zeh: 1984; Bohret: 1989b; beispielhaft § 12).
3. Zustimmungs vorbehalte, Freigabevorbehalte Eine Verlängerung parlamentarischer Mitwirkung über ein Beschlußverfahren hinaus ist nur in Form der Zustimmungs- und Freigabevorbehalte möglich. Der Zustimmungsvorbehalt, obwohl im Grundgesetz nicht ausdrücklich vorgesehen, kommt vor allem beim Erlaß von Rechtsverordnungen in Frage. Indem sich das Parlament für sich oder einen seiner Ausschüsse die Zustimmung zu bestimmten Regelungen vorbehält, sichert es sich eine Mitwirkung bei der Verordnungsgebung. Die Zulässigkeit ergibt sich mittelbar aus Art. 80 Abs. 1 G G . Freigabevorbehalte (qualifizierte Sperrvermerke) werden im Zusammenhang mit dem Haushaltsplan oder mit Finanzgesetzen beschlossen: Die Verfügbarkeit bestimmter Haushaltsmittel wird vom Eintritt bestimmter genannter Bedingungen oder der Durchführung bestimmter Überprüfungen abhängig gemacht. Die Entscheidung darüber, ob die Bedingungen der Freigabe gegeben sind, können der Regierung oder dem Haushaltsausschuß des Parlaments überlassen werden (dazu auch § 11 III.).
4. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Kontrolle der Geheimdienste Anfragen, Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung und Auskunftsverlangen dienen vor allem der Information der Abgeordneten. Mit ihnen verbinden sich nur eingeschränkt parlamentarische Kontrollaktivitäten. Diese geschehen vor allem durch die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen gem. Art. 44 G G , die auf Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages durch Mehrheitsbeschluß erfolgt. Aufgabe der Untersuchungsausschüsse ist die Aufklärung eines Sachverhalts im öffentlichen Interesse in parlamentarischer Verantwortung. Das Institut der Untersuchungsausschüsse ist eine alte parlamentarische Einrichtung. Sie entspricht der Verantwortung des Parlaments für den Zustand des Gemeinwesens und die Ordnungsmäßigkeit des Exekutivhandelns. In seiner praktischen Wirkung ist es aber vom Ausmaß der Kooperation zwischen Parlamentsmehrheit und -minderheit abhängig. Zwar kann eine Minderheit die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen, da aber dessen Zusammensetzung nach dem Prinzip der Verhältniswahl erfolgt und alle verfahrensleitenden Beschlüsse mit einfacher Mehrheit gefaßt werden, kann letztlich die parlamentarische (Regierungs-)Mehrheit Beweiserhebung, NichtÖffentlichkeit der Sitzungen und Berichtsinhalte bestimmen. Der Opposition verbleibt die Möglichkeit, im Plenum einen Minderheitenbericht vorzulegen und so zumindest öffentliche Auf-
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merksamkeit für bestimmte Sachverhalte und ihre Bewertung durch die Opposition erreichen (ausführlich § 11IV.). In Verteidigungsangelegenheiten hat - vor allem aus Gründen der Geheimhaltung und schwieriger Sachzusammenhänge - der Ausschuß für Verteidigung auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses (Art. 45a Abs. 2 GG; vertiefend § 11 IV.). Im Zusammenhang mit den unmittelbaren parlamentarischen Kontrollkompetenzen ist schließlich noch die parlamentarische Kontrollkommission hinsichtlich der Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des militärischen Abschirmdienstes und des Nachrichtendienstes, für die die Bundesregierung die Verantwortung trägt, zu nennen (Gesetz über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten des Bundes). Die Bundesregierung hat die Kontrollkommission zu unterrichten. Die Effizienz dieser Kontrollkommission ist nicht erkennbar. Da die Anzahl der Mitglieder der Kontrollkommission im Gesetz nicht geregelt und für ihre Berufung die Mehrheitswahl gilt, ist nicht gewährleistet, daß alle Fraktionen in dieser Kommission vertreten sind (BVerfGE 70,324, (358ff.)). Ergänzend ist zu erwähnen, daß für die Anordnungen von Beschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses aus Gründen des Verfassungsschutzes ein aus fünf Abgeordneten des Bundestages bestehendes Kontrollorgan zu unterrichten ist (Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses).
5. Petitionen Das Petitionsrecht ist ein demokratisches Grundrecht gem. Art. 17 GG, das einen Anspruch des Bürgers gegenüber dem Parlament beinhaltet, seine Beschwernisse durch staatliches Handeln oder Unterlassen zu prüfen. (Zu Sachgebieten von Petitionen und der Art ihrer Erledigung Schindler: 1983, S. 91 Iff. ; 1988, S. 800ff.). Petitionen sind insofern unter den Kontrollmöglichkeiten des Parlaments zu nennen, als der Petitionsausschuß des Bundestages (Art. 45c G G , §§ 108ff. GO-BT) in Wahrnehmung seiner Befugnisse Auskünfte und die Vorlage von Akten verlangen, Zeugen und Sachverständige hören und Amtshilfe in Anspruch nehmen kann - damit eröffnen sich für den Bundestag Kontrollchancen gegenüber Regierung und Verwaltung (Stöhr: 1989, näher § 11IV.).
6. Besondere Kontrollformen: Haushalts- und Finanzkontrolle, Kontrolle der Bundeswehr a) Haushalts- und Finanzkontrolle Mit der Verabschiedung des Haushaltsplans stellt das Parlament der Regierung finanzielle Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung. Gleichzeitig bindet sie der Haushaltsplan an eine bestimmte Verwendung der Mittel. Im Rahmen des Haushaltsvollzugs hat die Bundesregierung den Bundestag und den Bundesrat über erhebliche Änderungen in der Haushaltsentwicklung und deren Auswir-
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kung auf die Finanzplanung zu unterrichten (§ 10 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung (BHO)). Außer- und überplanmäßige Ausgaben sind dem Bundestag mitzuteilen. Im übrigen kann das jährliche Haushaltsgesetz - wie gesagt - Zustimmungs- und Freigabevorbehalte vorsehen. Der Bundesfinanzminister hat dem Bundestag und dem Bundesrat über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden des Bundes jeweils im Jahr nach Abschluß des Haushaltsjahres zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung zu legen (Art. 114 Abs. 1 G G ) . Von besonderer Bedeutung ist die Finanzkontrolle, d.h. die Kontrolle der gesamten Bundesverwaltung nach finanzwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Hierzu gehört nicht nur die Rechnungsprüfung unter den Gesichtspunkten der rechnerischen und sachlichen Richtigkeit, der Rechts- und Ordnungsmäßigkeit sowie die Prüfung der Einhaltung von Haushaltsplan und Haushaltsgesetz, sondern auch die Überprüfung, ob „wirtschaftlich und sparsam verfahren wird" und ob „die Aufgaben mit geringerem Personal- oder Sachaufwand oder auf andere Weise wirksamer erfüllt werden" können (§ 19 BHO). Die nachträgliche Finanzkontrolle des Parlaments ist nicht nur Ausdruck seiner haushaltswirtschaftlichen Gesamtverantwortung, sie begrenzt auch mögliche Verselbständigungstendenzen der Exekutive. Solche haushalts- und finanzwirtschaftliche Kontrolle wird vom Haushaltsausschuß und im Rechnungsprüfungsausschuß innerhalb des Parlaments (dazu § 11, III.) und vom Bundesrechnungshof durchgeführt (entsprechend bei den Ländern den Landesrechnungshöfen) - Art. 114 Abs. 2 GG, Gesetz über den Bundesrechnungshof (BRHG) (Diederich/Cadel/Dettmar/Haag: 1990; Stern: 1990b). Die Kontrolle durch den Bundesrechnungshof hat - auch aufgrund der Unabhängigkeit seiner Mitglieder - ein politisches Eigengewicht erhalten. Allerdings ist nicht auszuschließen, daß die Kon trollmaßnahmen des Bundesrechnungshofes und seine Bewertung der Ergebnisse zwar unter finanzwirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll sein können, jedoch politisch relevante Gesichtspunkte, etwa arbeitspolitischer Art oder solche der Bürgernähe, nicht hinreichend berücksichtigen. In der Verantwortung des Parlaments liegt es, aus den Berichten des Rechnungshofes die ihm erforderlich erscheinenden politischen Konsequenzen zu ziehen (detailliert § 11 III.).
b) Kontrolle der Bundeswehr Im Zusammenhang mit der Aufstellung der Bundeswehr war es ein besonderes Interesse in der Öffentlichkeit, die Grundrechte der Bundeswehrangehörigen und die parlamentarische Kontrolle über die Bundeswehr zu sichern. Ergebnis dieser Diskussion war die Einführung eines Wehrbeauftragten als „Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausführung der parlamentarischen Kontrolle" (Art. 45b GG, §§ 113ff. GO-BT, Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages). Jeder Soldat kann sich ohne Einhaltung des Dienstweges an den Wehrbeauftragten wenden. Dieser hat das Recht auf Auskunft und Akteneinsicht gegenüber dem Bundesminister für Verteidigung und diesem unterstellte Dienststellen und Personen. Der Wehrbeauftragte ist bei allgemeiner Wehrpflicht eine wichtige Instanz zur Sicherung grundrechtsgemäßer und demokratischer Verhaltensweisen in der Bundeswehr und zu ihrer Integration im Staat (Einzelheiten in §11IV.).
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7. Verwaltungskontrolle und Justizkontrolle durch das Parlament Institutionalisierte Formen einer Kontrolle der Verwaltung oder der Justiz durch das Parlament kennt das Grundgesetz nicht. Während einer solchen Kontrolle der Justiz die richterliche Unabhängigkeit gegenübersteht und Maßnahmen gegen Richter nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in einem formalisierten Verfahren möglich sind, gilt gegenüber der Verwaltung das Prinzip der politischen Verantwortung des jeweils zuständigen Ministers, dem eine Verwaltung zugeordnet ist. Art und Ausmaß, in dem diese Verantwortung wahrgenommen wird, ist damit - unabhängig von den realen Durchgriffsmöglichkeiten eines Ministers gegenüber seiner Verwaltung - Sache des politischen Selbstverständnisses und von partei- bzw. koalitionspolitischen Erwägungen (Klatt: 1986; die politische Gesamtverantwortung des Parlaments für den Staat und das Handeln seiner Organe kommt beispielhaft in Art. 41 der baden-württembergischen Landesverfassung zum Ausdruck, wonach der Landtag die vollziehende Gewalt kontrolliert.). Neben dieser politischen Kontrolle unterliegt die Verwaltung ihrerseits einer organschaftlichen und gerichtlichen Kontrolle, die die Rechtmäßigkeit, die Zweckmäßigkeit (Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit, Termineinhaltung), die Zielerreichung (Aufgabenerfüllung) und die Leistungsfähigkeit sowie das Verhältnis Bürger und Verwaltung umfassen kann.
8. Kontrolle durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts Die staatsleitende Funktion des Parlaments, die sich aus den Prinzipien der Volkssouveränität und Demokratie herleitet, ist dort begrenzt, wo die in der Verfassung begründeten Kompetenzbereiche anderer Staatsorgane betroffen sind. Eine unmittelbare Entscheidungskompetenz des Parlaments ist nicht gegeben, wenn es sich um die Klärung von angenommenen Rechtsverstößen anderer Organe, um Kompetenzstreitigkeiten zwischen Organen oder um Fragen der Verfassungsauslegung einschließlich der Feststellung einer Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz handelt. Es ist zwar durchaus denkbar, daß das Parlament als einziges unmittelbar gewähltes Staatsorgan auch „Hüter der Verfassung" ist. Entsprechend der deutschen rechtsstaatlichen Tradition, vor allem in Aufarbeitung ungenügender verfassungsgerichtlicher Sicherungen in der Weimarer Republik, ist die Zuständigkeit für solche - und andere - Verfassungsstreitigkeiten nach dem Grundgesetz beim Bundesverfassungsgericht konzentriert. Das Parlament in seiner Mehrheit oder eine bestimmte Anzahl seiner Mitglieder haben lediglich die Möglichkeit, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Die Kompetenzstellung des Bundesverfassungsgerichts bezweckt, grundsätzliche verfassungsrechtliche Streitigkeiten aus der politischen Auseinandersetzung im Parlament zu nehmen und sie durch ihre Zuweisung an das Verfassungsgericht „zu neutralisieren". Die Sachentscheidungen des Gerichtes sind aufgrund des gegenüber dem parlamentarischen Verfahren anders gestalteten gerichtlichen Verfahrens für parlamentarische Mehrheiten und Minderheiten eher akzeptanzfähig.
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a) Organwalter-Anklage Eine Anklage vor dem Bundesverfassungsgericht ist gegenüber dem Bundespräsidenten (Art. 61 Abs. 1 G G ) und Bundesrichtern (Art. 98 Abs. 2 G G ) zulässig. Beide Formen der Organwalter-Anklage sind bislang nicht praktiziert worden. Durch die jeweils erforderlichen Beschlußmehrheiten sind sie kein Rechtsmittel parlamentarischer Minderheiten. In einzelnen Bundesländern ist auch die Anklagemöglichkeit von Regierungsmitgliedern vorgesehen. Dies entspricht alter parlamentarischer Tradition in den deutschen Ländern. Bereits die meisten Landesverfassungen des 19. Jh. sahen solche Anklagemöglichkeiten vor (vertiefend § 2) - allerdings bei wesentlich geringerem Einfluß der Parlamente auf die Zusammensetzung der Regierungen. Das Grundgesetz „schützt" und sichert insofern die Regierung und sieht allein das konstruktive Mißtrauensvotum als eine politische Entscheidung vor.
b) Organstreitigkeiten Abstrakte Normenkontrolle Organstreitigkeiten betreffen Auseinandersetzungen über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet sind (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG). Antragsteller und Antragsgegner können sein der Bundespräsident, der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, aber auch Fraktionen und Ausschüsse des Bundestages, sein Präsident und der einzelne Abgeordnete, soweit es um seine Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G geht (§§ 63 f. B V e r f G G ) . Voraussetzung eines Antrages an das Bundesverfassungsgericht ist, daß eine Verletzung oder Gefährdung der durch das Grundgesetz übertragenen Rechte oder Pflichten durch den Antragsgegner geltend gemacht wird. Die abstrakte Normenkontrolle zielt auf die Überprüfung der förmlichen und sachlichen Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz und der Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht durch das Bundesverfassungsgericht. Antragsberechtigt sind hier neben der Bundesregierung oder einer Landesregierung bereits ein Drittel der Mitglieder des Bundestages (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG). Die abstrakte Normenkontrolle kann sich nicht nur gegen Gesetze im materiellen Sinne, sondern auch gegen Vertragsgesetze, Haushaltsgesetze und andere Rechtssätze richten (Statistik der Normenkontrollverfahren, in denen der Bundestag beteiligt war, bei Schindler: 1983, S. 729ff.; 1988, S. 590ff.). Während Organstreitigkeiten auf die Wahrung der verfassungsgemäßen Rechte und Pflichten eines obersten Staatsorgans abzielen und so deren Funktionssicherung oder dem Schutz parlamentarischer Minderheiten dienen, zielt die abstrakte Normenkontrolle auf die Gewährleistung des Grundgesetzes selbst. Sie eröffnet aber auch parlamentarischen Minderheiten die Möglichkeit, bei von der Mehrheit abweichender Verfassungsinterpretation eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen. Die Opposition kann damit Gesetze, die die Zustimmung der Mehrheit gefunden haben oder politische Maßnahmen der Bundesregierung, etwa bei Vertragsgesetzen, überprüfen lassen, wie es beispielsweise bei dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundes-
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republik Deutschland und der damaligen Deutschen Demokratischen Republik vom 21.12.1972 der Fall war. Hier stellte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages bei bestimmter Rechtsauslegung fest (BVerfGE36,1). 9. Politische Wirkung parlamentarischer Kontrolle In der praktischen Ausgestaltung parlamentarischer Informationsansprüche gegenüber der Regierung, in parlamentarischen Entschießungen und in der Wahrnehmung parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten wird Politik zu einer vom Parlament (mit-)bestimmten öffentlichen Sache. Für parlamentarische Minderheiten ergibt sich die Möglichkeit, politische Alternativen in die parlamentarische Auseinandersetzung für die Öffentlichkeit erkennbar einzubringen. Das im Grundgesetz und in der Geschäftsordnung des Bundestages hierfür vorgesehene Instrumentarium beinhaltet weniger die Sicherung der Vorrangstellung und staatsleitenden Funktion des Parlaments, sondern ist eher auf ein Gleichgewicht zwischen Regierung und Parlament ausgerichtet und erhält in jedem Fall die Handlungsfähigkeit der Regierung. Es ist deshalb eine Frage des parlamentarischen Selbst Verständnisses, des Engagements und politischen Willens der Fraktionen und des Selbstbewußtseins der einzelnen Abgeordneten, in welcher Weise von dem Instrumentarium Gebrauch gemacht wird. Die Schwierigkeiten für parlamentarische Minderheiten - und ihnen kommt gegenüber der Regierung mit ihrer Parlamentsmehrheit vor allem die Kontrollaufgabe zu - liegen auf zwei Ebenen: Sie können zwar bestimmte Maßnahmen aus eigenem Recht initiieren, die inhaltliche Gestaltung unterliegt aber, wie das Beispiel der Untersuchungsausschüsse oder die Möglichkeit für parlamentarische Entschließungen zeigt, dem Votum der Mehrheit. Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß eine parlamentarische Minderheit zunächst entsprechender Informationen bedarf, um Veranlassung für Kontrollaktivitäten zu haben. Zwar korrespondiert dem Recht zur Kontrolle eine Pflicht der Regierung zur Information des Parlaments (BVerfGE 70, 324 (355) und in einer Vielzahl von Gesetzen sind auch Berichts- und Informationspflichten der Regierung festgelegt (kritisch § 12), doch ist das Parlament bei Art und Umfang der Informationen, abgesehen von den Vorlagepflichten gegenüber den Untersuchungsausschüssen, weitgehend auf ein Wohlverhalten der Regierung angewiesen. Zur Beschaffung von Informationen steht parlamentarischen Minderheiten der Regierungsapparat nicht unmittelbar zur Verfügung. Sie müssen versuchen, diese über Einzelkontakte, sei es zu Verbänden und Einzelpersonen oder zu Angehörigen der Verwaltung, zu erhalten. Um die Vertraulichkeit solcher Informationen zu sichern, steht den Abgeordneten ein Zeugnisverweigerungsrecht zu (zu Einzelheiten Art. 47 G G ; sowie §411.). Möglichkeiten und Folgen parlamentarischer Kontrollaktivitäten verharren stark in der überlieferten Vorstellung der Gewaltenteilung. Entsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß dem Parlament kein umfassender Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zukommt. Mit der verfassungsgerichtlichen Ausgestaltung des Parlamentsvorbehalts und der „Wesentlichkeitstheorie" versucht das Gericht, die jeweiligen Kompetenzgrenzen zu markieren (BVerfGE 49, 89; B V e r f G E 68, 1 (83ff.)) und anerkennt damit die staatsleitende Funktion des Parlaments (s.a§ 1 III. u. § 11 II.-IV.).
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Die parlamentarische Kontrolle ist zunächst politische Kontrolle. Auch wenn parlamentarische Kon trollmaßnahmen, da vor allem von der Opposition initiiert, nicht immer unmittelbare Folgen zeigen, sind sie notwendig (zu Reformansätzen § 11 V.). Die mit solchen Kontrollaktivitäten verbundene öffentliche Parlamentsdebatte kann öffentliche Aufmerksamkeit und Rccherchen der Medien bewirken, wie sie auch durch deren Tätigkeit veranlaßt sein kann. Parlamentarische Kontrollaktivitäten vermitteln eine Sensibilität für politisches Wohlverhalten staatlicher Organe. Sie sind Teil der politischen Meinungsbildung und ein Beitrag zur politischen Kultur.
Y. Integrationsfunktion und Öffentlichkeitsfunktion Das Parlament setzt sich zusammen aus einer Vielzahl einzelner Abgeordneter unterschiedlicher parteipolitischer Ausrichtungen und Bindungen und mit unterschiedlichen individuellen Anliegen und Interessen. Gleichzeitig repräsentiert das Parlament als Ganzes und jeder einzelne Abgeordnete (Art. 38 Abs. 1 G G ) das Volk. Dieses selbst ist wiederum gespalten in unterschiedliche Interessen, landsmannschaftliche Zugehörigkeiten und politische Ziele. Oder es ist politisch uninteressiert, stärker an beruflichen Aufgaben orientiert, von den Hoffnungen der Jugend oder dem Schmerz des Alters erfüllt. Das Parlament muß in seinem Handeln und Verhandeln zumindest die Formalstruktur des parlamentarischen Systems konsensfähig halten, damit seine Beschlüsse und Wahlakte Akzeptanz erfahren. Diesem Zweck dient die innerparlamentarische Ordnung und die Ausgestaltung der parlamentarischen Verfahren. Diesem Zweck dient das Erfordernis unterschiedlicher Beschlußquoren, abhängig von der politischen oder verfassungsrechtlichen Bedeutung einer Sache. Diesem Zweck dient auch eine faire Chancenverteilung zwischen parlamentarischer Mehrheit und Minderheit (Opposition) , insbesondere die Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit der parlamentarischen Opposition. Der einheits- und identitätsstiftenden Funktion des Parlaments, angelegt in verfassungsrechtlichen und parlamentarischen Regelungen, dienen schließlich auch Formen der Rückbindung an das Volk, insbesondere die Befristung der Mandatserteilung und die öffentliche parlamentarisch Verhandlung. Gerade die Öffentlichkeit des parlamentarischen Verfahrens wirkt politisch systembildend. Politik ist als permanenter Prozeß erfahrbar. Wichtig ist dabei für das Parlament, sich unabhängig von der Regierung Informationen etwa zu schwierigen Lebensweltproblemen oder Wirkungen technischer Entwicklungen verschaffen zu können und sich so verstärkt in kommunikative Prozesse mit der Umwelt einzubinden. Repräsentative Demokratie ist immer auch kommunikative Demokratie. Die Integrationsfunktion und die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments haben in einer freiheitlichen und pluralistischen Demokratie für die Bestandskraft des politischen Systems besondere Bedeutung (BVerfGE 70, 324 (355); 77, 1 (48)) (Eschenburg: 1970;Häberle: 1980).
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1. Innerparlamentarische Ordnung und Verfahrensgestaltung a) Parlamentsorganisation und Verfahrensgestaltung Parlamcntsorganisation, Vcrhandlungsführung und Verfahrcnsgestaltung sind nach der Geschäftsordnung des Bundestages darauf angelegt, die formalen Bedingungen für chancengleiche Prozesse der politischen Meinungsbildung zu sichern. So ist die Zusammensetzung des Ältestenrats und der Ausschüsse im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen (§ 12 GO-BT; s.a. § 5 III.; § 10 IV.). Der Präsident des Bundestages hat die Verhandlungen gerecht und unparteiisch zu leiten (§ 7 Abs. 1 Satz 2 GO-BT; s.a. § 5 II.; § 10 II.). Auch die erforderliche Anzahl von Abgeordneten für eine Fraktion - nach § 10 Abs. 1 Satz 1 G O - B T mindestens 5 v. H. der Mitglieder des Bundestages - ist nur eine Geschäftsordnungsregelung, unterliegt letztlich also dem Mehrheitsbeschluß (Art. 40 Abs. 1 Satz 2) Abweichungen von den Vorschriften der Geschäftsordnung bedürfen einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Parlaments (§ 126 GO-BT). Eine willkürliche Handhabung der Geschäftsordnung durch eine Parlamentsmehrheit - wenn diese nicht zwei Drittel ausmacht - ist damit ausgeschlossen. Für die Arbeit einzelner Abgeordneter, die keiner Fraktion angehören, hat das Bundesverfassungsgericht bestimmte Mindestanforderungn (sächliche Ausstattung, Möglichkeit der Teilnahme an Ausschußberatungen u.a.) festgelegt, damit diese ihren Auftrag gem. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G erfüllen und bei der parlamentarischen Arbeit mitwirken können (BVerfGE 80, 188). Dies gilt entsprechend für Abgeordnetengruppen, die keine Fraktionsstärke besitzen (ausführlich § 10 VI. u. VII.).
b) Unterschiedliche Beschlußquoren Für die Integration unterschiedlicher politischer Interessen in die Willensbildungsprozesse des Parlaments, also die Ausbildung seiner einheitsstiftenden Funktion, ist wichtig, welche Anzahl von Mitgliedern des Bundestages einem Beschlußantrag zustimmen muß, d.h. welcher Grad von Konsensbildung zu erreichen ist, damit ein Beschluß zustande kommt. Im allgemeinen ist für einen Beschluß des Bundestages die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich - Art. 42 Abs. 2 Satz 1 G G . Aber bereits für die Wahl des Präsidenten des Bundestages und seiner Stellvertreter sieht § 2 Abs. 2 G O - B T die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages vor. Es entspricht dabei parlamentarischer Tradition, jeweils den Kandidaten der stärksten Fraktion zum Präsidenten zu wählen. Beschlüsse des Parlaments erfordern zunächst seine Beschlußfähigkeit. Diese ist gegeben, wenn „mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist" (§ 45 Abs. 1 GO-BT). Im Unterschied zum Grundgesetz regeln die meisten Landesverfassungen die Beschlußfähigkeit unmittelbar. Das Parlament wird aber auch aufgrund von „Vermutung" als beschlußfähig angesehen, wenn diese nicht vor Beginn einer Abstimmung von einer Fraktion oder von 5. v.H. der Mitglieder des Bundestages angezweifelt wird (so mittelbar aus § 45 Abs. 2 GO-BT). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß beispielsweise Abgeordnete
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in Ausschußsitzungen oder sonstigen Aktivitäten gebunden sind, die Arbeit des Plenums aber weitergeführt werden soll (hierzu auch § 5IV.). Neben der erwähnten Abstimmungsmehrheit als Regelfall sieht das Grundgesetz in Einzelfällen das Erfordernis einer höheren Zustimmung zu Beschlüssen des Bundestages vor. Die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments ist beispielsweise notwendig bei der ersten und zweiten Phase der Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 2 und 3 G G ) , bei einem Mißtrauensvotum gegen den Kanzler oder einem Vertrauensvotum für ihn (Art. 67 Abs. 1, 68 Abs. 1 Satz 1 G G ) , zur Überwindung eines mit einfacher Mehrheit beschlossenen Einspruchs des Bundesrats gegen ein entsprechendes Gesetz des Bundestages (Art. 77 Abs. 4 Satz 1 G G - höhere Beschlußquoren sind hier bei mit entsprechend höherer Stimmenzahl gefaßten Beschlüssen des Bundsrates erforderlich, Art. 77 Abs. 4 Satz 2 G G ) , bei der Aufhebung von Maßnahmen im Spannungsfall (Art. 80a Abs. 3 Satz 2 G G ) oder bei der Bildung neuer bundeseigener Mittel- und Unterbehörden (Art. 87 Abs. 3 Satz 2 G G Zustimmung des Bundesrates erforderlich). Zwei Drittel der abgegebenen Stimmen sind notwendig für Beschlüsse zum Ausschluß der Öffentlichkeit in Bundestagssitzungen (Art. 42 Abs. 1 Satz 2 G G ) , für die Feststellung des Spannungsfalles und für Dienstverpflichtungen vor Eintreten eines Verteidigungsfalles (Art. 80a Abs. 1 Satz 2 GG). Für die Feststellung des Verteidigungsfalles sind eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, die mindestens die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages ausmachen muß (Art. 115a Abs. 1 Satz 2, bei Verhinderung des Bundestages siehe Art. 115a Abs. 2 und 4 G G ) , und die Zustimmung des Bundesrates notwendig. Zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages müssen der Entscheidung zur Anklageerhebung gegen den Bundespräsidenten vordem Bundesverfassungsgericht (Art. 61 Abs. 1 Satz 3 G G ) sowie verfassungsändernden Gesetzen (Art. 79 Abs. 2 GG sowie zwei Drittel der Stimmen des Bundesrates) zustimmen, sollen diese Beschlüsse wirksam werden. Ihrem Inhalt nach dient das Erfordernis einer höheren Zustimmung als jener der Mehrheit der abgegebenen Stimmen der breiteren Legitimation solcher Bundestagsbeschlüsse und dem Schutz anderer Staatsorgane (Bundeskanzler, Bundespräsident), der Sicherung der föderativen Kompetenzverteilung, der Funktionssicherung des Parlaments und dem Schutz der Verfassung insgesamt. Solche Verfahrensregelungen haben damit immer auch eine einheitsstiftende und konsensbildende Funktion (Achterberg: 1980, S. 518ff.; Stern: 1980, S. 989f.; Häberle: 1978, S. 574f.), da sie auch parlamentarische Minderheiten schützen und bei wichtigen Angelegenheiten in den Prozeß der Entscheidungsbildung einbeziehen. Besonders deutlich ist dies beim Erfordernis einer Zweidrittelmehrheit für verfassungsändernde Gesetze. Es erscheint fraglich, ob die im Grundgesetz vorgesehenen Begrenzungen einfacher Mehrheitskompetenz heute noch zum Schutz der Verfassung ausreichen. Denn die Erfordernisse qualifizierter Mehrheit gelten zwar für das Zustandekommen entsprechender Beschlüsse, die Regelungsbedürftigkeit einer Sache oder eine parlamentarische Beschlußfassung hierzu kann aber mit einfacher Mehrheit abgelehnt werden. In dem Maße, in dem Parlamentsentscheidungen oder auch nur solche der Bundesregierung z.B. im Technologiebereich, dem Rüstungsbereich, bei der sozialen Sicherung oder, wie in der jüngsten Vergangenheit, zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten weit über eine Legislaturperiode hinauswirken, oder die Folgen solcher Maßnahmen für den Bestand der
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Grundrechte nicht oder nur beschränkt kalkulierbar sind, bedarf es verstärkter Sicherungen für Grundrechte und Demokratie. Ein grundsätzlicher Verfassungskonsens, der die Grundrechte in ihrer Allgemeinheit und das parlamentarische Verfahren als solches beinhaltet, ist in diesen Fällen nicht ausreichend. Dieser Konsens umfaßt nicht die je lebenspraktische Konkretisierung der Grundrechte. Und auch die Bedingung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie: die Gleichheit aller Staatsbürger ist als formales Prinzip zwar notwendig, aber gerade für die weitere Bedingung von Demokratie, die Offenheit der Gestaltungs- und Entwicklungsfähigkeit des Gemeinwesens nur bedingt zureichend. In der politischen Öffentlichkeit und im Schrifttum werden deshalb Fragen einer verfassungsrechtlichen Unabstimmbarkeit oder eines Gebotes der Beachtlichkeit unterschiedlicher Bewertungen bei bestimmten risikobewehrten Angelegenheiten diskutiert. Der Mehrheitsdemokratie wird so die „Verhandlungsdemokratie" oder das „Konkordanzsystem" (Beispiel Schweiz, Österreich: große Koalition) entgegengesetzt. Allerdings sind solche Verfahren wenig hilfreich für einen Minderheitenschutz und zerstören oft die lebendige politische, parlamentsbezogene Auseinandersetzung. Sinnvoll erscheint das Erfordernis höherer Beschlußquoren bei Entscheidungen mit hohem Risikogehalt der Folgewirkungen oder bei langfristigen Strukturwirkungen für die Gesellschaft. Die Gliederung des Parlaments in Fraktionen, Mehrheit und Minderheit, als Ort der Spezifizierung politischer Interessen würde so um die Funktion des Parlaments ergänzt werden, in Grenzbereichen parlamentarischer Verantwortlichkeit die Verallgemeinerungsfähigkeit politischer Interessen und Entwicklungen zu gewährleisten (Scheuner: 1973, S. 60ff.; Steffani: 1986). Da die Zeitdimension nach dem Grundgesetz kein Grund für das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit ist, werden in der parlamentarischen Praxis bei langfristig wirkenden Gesetzen vor allem im Sozialbereich, z.B. in der Zukunftsgestaltung der Rentenversicherung oder der Gesundheitsvorsorge, vereinzelt Absprachen zwischen parlamentarischer Regierungsmehrheit und Opposition getroffen. Damit soll der Bestand solcher Entscheidungen dem möglichen Wechsel parlamentarischer Mehrheiten entzogen werden, aber auch die Verantwortung für solche Regelungen der Öffentlichkeit gegenüber „geteilt" werden. Schließlich können solche Vereinbarungen auch in unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat bei Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates begründet sein.
2. Sicherung parlamentarischer Opposition Ein Parlament kann seine politische Funktion auf Dauer nur erfüllen, wenn die Opposition, d.h. jene Fraktionen und Abgeordneten, die nicht die Regierungsmehrheit bilden oder die Regierung stützen, in ihrer Arbeitsweise, in ihrer parlamentarisch-öffentlichen Darstellung ihrer politischen Alternativen und in der Ausbildung ihrer Elite gesichert ist. Dies erfordert Zugang zu politisch relevanten Informationen und das Recht, Kontrollmaßnahmen initiieren zu können (BVerfGE 2, 143 (170f.); 49, 70, (86f.); 70, 324 (363)) (Steffani: 1991, S. 147ff.; Landshut: 51980; Friedrich: 1975; Oberreuter: 1975b; Schneider, H. P.: 1974a+b; Schumann: 1976).
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Die Opposition hat in der Regel nicht die Möglichkeit, Beschlüsse des Bundestages gegen die Bundesregierung herbeizuführen. Sie richtet sich in ihrer Parlamentsarbeit deshalb auf die Aktivierung der politischen Öffentlichkeit. Das Grundgesetz kennt keine besondere Rechtsstellung der Opposition. Bestimmte Maßnahmen der Mehrheit, wie Ausschluß der Öffentlichkeit oder verfassungsändernde Gesetze, kann die Opposition nur verhindern, wenn sie aus mindestens einem Drittel der Mitglieder des Bundestages besteht. Die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses kann sie nur erreichen, wenn sie aus mindestens einem Viertel der Mitglieder besteht. Andere Maßnahmen wie große und kleine Anfragen erfordern Fraktionsstärke, also mindestens 5 v.H. der Mitglieder des Bundestages (weiterführend § 11 IV.). Zur Klärung verfassungsrechtlicher Fragen (Organklage, abstrakte Normenkontrolle) kann sie das Bundesverfassungsgericht anrufen (hierzu oben IV.). Auf die Integration der Opposition in der Parlamentsarbeit zielt die Bestimmung in § 12 der GO-BT, wonach Organe und Ausschüsse des Bundestages im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen zusammenzusetzen sind. Nach §§ 7 Abs. 1 und 28 GO-BT ist der Bundestagspräsident zu unparteiischer Sitzungsleitung verpflichtet. Bei der Bestimmung der Reihenfolge der Redner hat er auf verschiedene Parteirichtungen und die Stärke der Fraktionen Rücksicht zu nehmen (näheres §511. u. 8 10 III.). Nach der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien ( G G O II) ist die Opposition rechtzeitig über Gesetzesvorhaben der Bundesregierung zu informieren (ausführlich § 12). In der bisherigen parlamentarischen Praxis der Bundesrepublik Deutschland haben sich nur wenig schwerwiegende Beschränkungen der parlamentarischen Arbeit der Opposition ergeben. Diese lagen meist in der kurzfristigen Beratung von Gesetzesvorhaben der Regierung oder ihrer parlamentarischen Mehrheit, was die Opposition aufgrund ihrer unzureichenden Informationslage und Vorbereitungsmöglichkeiten bemängelt. Anlaß zur Rüge sind auch die Verweigerung von Informationen seitens der Regierung und die Ablehnung bestimmter Beweiserhebungen in Untersuchungsausschüssen. Ein Ungleichgewicht in der Chancenverteilung ergibt sich auch daraus, daß die Parlamentsmehrheit zu ihrer Unterstützungim Bedarfsfalle auf den „Regierungsapparat" zurückgreifen kann.
3. Rückbindung zur Öffentlichkeit - identitätsstiftende Funktion Die Funktionsfähigkeit eines parlamentarischen Regierungssystems erfordert die Anerkennung des Parlaments in der Öffentlichkeit. Dies kann geschehen durch Teilnahme der Öffentlichkeit an den Sitzungen des Parlaments, die Veröffentlichung von Verhandlungsprotokollen (Art. 42 Abs. 3 G G ) und Beschlüssen, die Behandlung von Bitten und Beschwerden einzelner Staatsbürger, einen - geregelten - Meinungsaustausch mit Interessenvertretern und die Einholung von Sachkenntnis und Sachverstand in die parlamentarischen Beratungen - womit gleichzeitig die wesentlichen im Grundgesetz und in der Geschäftsordnung angesprochenen „Rückkopplungen" des Parlaments zur politischen Öffentlichkeit oder Teilen von ihr genannt sind. Solche Maßnahmen haben eine identitätsstiftende Funktion (Leibholz: 3 1967, S. 176ff.; Kißler: 1989, S. 993ff.; dazu § 13IV.) für das Parlament und das politische System als Ganzes. Für die Anerkennung des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten in der Öffentlichkeit sind die
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Transparenz ihrer politischen Arbeiten, Formen und Inhalt medialer Politikvermittlung, das Engagement der politischen Parteien und die „Wahlkreisarbeit" der einzelnen Abgeordneten von großer Bedeutung. Zu unterscheiden sind eine rechtsstaatliche und eine demokratische Publizität. Rechtsstaatliche Publizität meint die Verpflichtung zur Verkündigung und Veröffentlichung von Gesetzen, Verordnungen (Art. 82 G G ) oder anderer Rechtsbeschlüsse. Demokratische Publizität meint die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen ebenso wie die öffentliche Betätigung und Rechenschaft der politischen Parteien und der Abgeordneten. Demokratische Publizität zielt auf die Information der Öffentlichkeit und ist Bedingung für die Kontrolle von Parlament und Regierung durch die Öffentlichkeit. Parlamentarische Öffentlichkeit ist ein Beitrag zur Herstellung und Begrenzung politischer Öffentlichkeit (Schmitt: 1928/ 3 1957, S. 208ff.; Agnoli/Brückner: 1967; Schüttemeyer: 1986; auch § 111.; § 15). Die parlamentarische Behandlung gesellschaftlicher Probleme verleiht diesen einen politischen Status. Die Darstellung der Parlamentsarbeit in der Öffentlichkeit umgrenzt und erweitert stets neu den Bereich staatlicher Kompetenz. In diesem dialektischen Prozeß doppelter Öffentlichkeit bildet sich nicht nur politische Öffentlichkeit, sondern entwickelt sich auch Staat. Parlamentarisch-politische Kommunikation, sei es durch Debatten des Parlaments oder besondere Formen der Rückkopplung, hat dabei eine Bildungsfunktion (politische Sozialisation), eine Partizipationsfunktion (demokratische Beteiligung) und eine Legitimationsfunktion (Begründung und Rationalisierung von Herrschaft). In einem gewissen Widerspruch zu dieser Funktion parlamentarischer Öffentlichkeit steht, daß die Beratungen in den Ausschüssen des Parlaments - abgesehen von Untersuchungsausschüssen (Art. 44 Abs. 1 G G ) - in der Regel in nichtöffentlicher Sitzung stattfinden, soweit es sich nicht um Hearings oder andere Veranstaltungen handelt. Dies mag manchmal in der Notwendigkeit des Geheimschutzes begründet sein, rechtfertigt sich aber - wenn überhaupt - nur in der besonderen, nicht öffentlich, sondern aufgabenveranlaßten Arbeitsweise der Ausschüsse und deren Bemühen um Kompromisse (konsensbildende Funktion; näheres § 111.; § 13 I V . ; § 15). Die Parlamentsarbeit unterliegt selbst wiederum einer Vielzahl von Einflüssen der „Öffentlichkeit" bzw. der „öffentlichen - veröffentlichten - Meinung". Unmittelbaren Einfluß haben die politischen Parteien über ihre Fraktionen und die Verbände sowie die Ministerialbürokratie - vor allem in den Ausschußberatungen. Wirksam in der Parlamentsarbeit - im Sinne einer Begrenzung potentieller politischer Gestaltungsmöglichkeiten - sind aber auch Interessen und Entscheidungen der europäischen Gremien und der N A T O , ebenso wie politische Festlegungen der Länder oder die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. a) Rückbindung durch Petitionen Eine besondere Form der „Rückkopplung" sind Petitionen (dazu oben IV. 5. und § 1 1 I V . ) . Sie sind nicht nur Anlaß für parlamentarische Kontrolle im Einzelfall aufgrund einer Beschwerde, sondern auch eine Art „Frühwarnsystem" für den Gesetzgeber über individuelle und gesellschaftliche Problemlagen. Sie informieren über Schwierigkeiten in der Gesetzesanwendung und vermitteln unmittelbar Eindrücke der sozialen Realität (Graf Vitzthum: 1985a).
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b) Rückbindung zu organisierten Interessen, Hearings Eine besondere Mittlerfunktion im Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung haben nach dem Grundgesetz die politischen Parteien (Art. 21GG). In den Parteien selbst sind unterschiedliche Interessen wirksam, die in der Regel außerhalb der Parteien verbandsmäßig organisiert sind. Verbände nehmen Einfluß auf die Aufstellung von Kandidaten in den Parteien für ein Abgeordnetenmandat und die Parteien sind zur Rücksichtnahme auf Verbandsinteressen gehalten, wollen sie deren Einfluß oder mögliches Wählerpotential für sich nutzen, politisch integrieren. So ergibt sich ein mittelbarer Zusammenhang zwischen Parlament, Parteien und Verbänden. Daneben gibt es eine Vielzahl von informellen Kontakten zwischen Verbänden und einzelnen Abgeordneten und Verbänden und Fraktionen, die dem Informationsaustausch und der gegenseitigen Beeinflussung dienen. Solche Kontakte sind für die Parlamentsarbeit wichtig, um die spezifische Sachkenntnis der Verbände zu einzelnen Problemen zu nutzen und die Durchsetzungsfähigkeit parlamentarischer Entscheidungen zu fördern (näher hierzu § 13 II. u. III.). Nach der G G O II können Gesetzesentwürfe betroffenen Verbänden zugeleitet werden, um deren Interessen und Sachkenntnisse bei der weiteren Ausarbeitung zu berücksichtigen. Bundestagsausschüsse machen zunehmend von der Möglichkeit öffentlicher Anhörungen (Hearings) Gebrauch (Einzelheiten § 70 GO-BT). In solchen Sitzungen werden Sachverständige, Interessenvertreter und andere Auskunftspersonen zu vorher bestimmten Themata parlamentarischer Arbeit gehört (zum Verfahren § 11IV.). Hearings dienen nicht nur dem Anspruch nach besserer Information und höherer Transparenz der parlamentarischen Ausschußarbeit. Zum Teil werden Hearings auch benutzt, um den Argumenten der parlamentarischen Minderheit, aber auch der regierungsstützenden Mehrheit höhere öffentliche Aufmerksamkeit zu vermitteln. Demokratische Rückbindung und öffentliche Diskussion von im Parlament geplanten Maßnahmen findet durch Hearings oder die Kooperation von Parlament und Verbänden nur begrenzt statt, da solche Kommunikationsformen bei den gegebenen gesellschaftlichen Interessenstrukturen ansetzen. Voraussetzung ist also, daß soziale, wirtschaftliche oder politische Interessen organisationsfähig und organisiert sind oder politisch relevante Probleme eine institutionalisierte Bearbeitung gefunden haben. Insofern haben Hearings eine Integrationsfunktion nur zu einer - politisch relevanten -Teilöffentlichkeit. In der Rückbindung parlamentarischer Arbeit klafft zwischen Petitionen als Beschwerden einzelner auf der einen Seite und Hearings als Präsentationsmöglichkeit für organisierte Interessen oder institutionalisierten Sachverstand auf der anderen Seite eine weite, nicht genügend ausgefüllte Lükke, die auch nicht durch die Aktivitäten der etablierten demokratischen Parteien überbrückt werden kann. Denn diese Aktivitäten sind entweder öffentliche Darstellung, nichtöffentliche Absprachen oder mitgliedergebunden. Darunter leidet die Intergrationskfraft des parlamentarischen Systems (Weßels: 1987; Oberreuter: 1986; Mengel: 1983; Übersicht zu vom Bundestag durchgeführten Hearings bei Schindler: 1983, S. 606ff.; 1988, S. 482ff.).
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c) Sachverständige Problemerörterungen und begrenzte Handlungsfähigkeit des Parlaments - Enquete-Kommissionen Die hohe Komplexität vieler gesellschafts-, wirtschafts- und technologiepolitischer Probleme einerseits, die begrenzte Wirksamkeit überlieferter parlamentarischer und administrativer Instrumentarien zu ihrer Bearbeitung andererseits und die Erkenntnis, daß es für die Meinungs- und Willensbildung des Parlaments in solchen Politikfeldern zusätzlicher Information bedarf, deren Bereitstellung durch die Ministerialverwaltung für das Parlament nicht ausreichen kann, da sie unter deren Relevanzbeurteilungen erfolgt, ist Veranlassung für den Bundestag, das Institut der Enquete-Kommission verstärkt zu nutzen (näheres § 10 V.). Die Zweckmäßigkeit von Enquete-Kommissionen nach § 56 GO-BT dürfte außer Frage stehen, gerade wenn es um die Beurteilung langfristig wirkender politischer Entscheidungen ebenso wie möglicher schwerwiegender Folgen bei parlamentarischer Untätigkeit geht, wie im Bereich der Technikförderung und -nutzung, bei sozialpolitischen Problemlagen, Fragen der Gleichstellung der Frau, Ursachen der Kriminalitätsentwicklung und möglichen Abhilfen. Unzulänglichkeiten ergeben sich daraus, daß Enquete-Kommissionen weder die Unabhängigkeit beispielsweise von Rechnungshöfen noch einem Untersuchungsausschuß oder dem Petitionsausschuß vergleichbare Kompetenzen in der Sachklärung haben. Sie nutzen außerparlamentarischen Sachverstand und sind ein Forum intensiver, gegenstandsbezogener Erörterungen zwischen Sachverständigen und Parlamentariern in der Erarbeitung von Empfehlungen. Die Ergebnisse einer Enquete-Kommission unterliegen den im Parlament wirkenden Interessen und Mehrheiten. Sie sind damit in den jeweils maßgeblichen politischen Verwendungszusammenhang für den Umgang mit Informationen oder Problemlösungsvorschlägen eingebunden. Hier zeigen sich Dysfunktionalitäten des Mehrheitsprinzips. Hearings und Enquete-Kommissionen haben nicht selten eine symbolisch-rituelle oder auch eine „als ob"-Funktion: Es werden Informationen eingeholt und Diskussionen geführt, als ob die Bereitschaft zu alternativem Verhalten gegeben wäre. Tatsächlich werden aber solche Informationen genutzt, um vorsorgende Maßnahmen zur Sicherung des status quo durchzuführen. Dies gilt besonders dann, wenn die Umsetzung der Empfehlungen einer Enquete-Kommission Regierungsinteressen zuwiderlaufen würde. Die Parlamentsmehrheit fühlt sich regelmäßig stärker den Wünschen der Regierung und mit ihr verbundenen außerparlamentarischen Interessen verpflichtet, in deren Zusammenhang sie die staatsleitende Funktion des Gesamtparlaments sieht (Böhret/Franz: 1987; Kilper: 1990; Braß: 1990, S. 65ff.; Graf von Westphalen: 1990, S. 125ff.; Übersicht der Themen der bisherigen Enquete-Kommissionen bei Schindler: 1983, S. 641ff.; 1988, S. 513ff.).
VI. Parlamentarische Verantwortung und gesellschaftliche Entwicklung Das Parlament übt eine staatleitende Funktion durch Rechtsetzung, Wahl und Legitimation anderer Staatsorgane, Kontrolle der Regierung, Repräsentation und Integration unterschiedlicher politischer Interessen, durch politische Meinungsbildung und Entscheidung aus. Dabei sind die Repräsentations- und Integrationsfunktion, die politische Meinungsbildung und Richtungsbestimmung am
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wichtigsten. Durch sie konstituiert sich eine pluralistische Gesellschaft als demokratischer Staat. Das Parlament steht in der öffentlichen Kritik - dies ist richtig und notwendig, denn nur so ist Politik kein auf den Parlamentsbereich und die Regierung beschränkter, sondern ein öffentlicher Prozeß. Die Kritik (am Beispiel zukunftsbelastender und technisch riskanter Entscheidungen Henseler: 1983; Saladin: 1984; Murswiek: 1985; Roßnagel: 1987) verbindet sich mit der Frage, ob das Instrumentarium des Parlaments zur Ausübung seiner staatsleitenden Funktion und die Art und Weise seiner Nutzung heute noch den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen entsprechen. O b dieses Instrumentarium, das seine Ausprägung im wesentlichen im 19. Jh. gefunden hat, nicht einem Staatsbild und einem Verhältnis von Regierung und Gesellschaft verpflichtet ist, das sowohl gegenüber organisierten wirtschaftlichen Interessen, den Anforderungen der technologischen Entwicklung, den Notwendigkeiten zur Gestaltung sozialer Lebenslagen als auch gegenüber dem griffigeren Handlungspotential der Regierung zu kurz greift (Magiern: 1979, S. 218ff.; Thaysen/Davidson/Livingston: 1988, S. 548ff.). Aber gerade diese „Schwerfälligkeit" verschafft dem Parlament Distanz zum politischen Alltag und erlaubt ihm die Problembearbeitung unter mehreren - z.B. wirtschaftlichen, sozialpolitischen und rechtlichen - Gesichtspunkten (Beratung einer Angelegenheit in mehreren Parlamentsausschüssen und in den Fraktionen). Das hat notwendigerweise eine Beschränkung auf grundsätzliche Fragen zur Folge, damit die Parlamentsarbeit nicht durch die Ausschußarbeit der - ritualisierten - Gesetzesberatung aufgezehrt wird. Allerdings stellt sich damit auch die Frage, ob und in welchem Umfang das Parlament seine politische Steuerungsfunktion, seine Verantwortung für Gegenwart und Zukunft des Gemeinwesens wahrnimmt, ob und in welchem Umfang es politisch meinungsbildend wirkt, ob und in welchem Umfang es gegenüber gesellschaftlichen Interessen und gegenüber der Regierung durchsetzungsfähig ist. Daß solche Fragen gestellt werden, hat seine Ursache in • der starken Formalisierung und Rechtsbezogenheit der Parlamentsarbeit, • der begrenzten Fähigkeit des Parlaments zur politischen Auseinandersetzung • und der Differenz zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Macht einerseits, parlamentarischer Verantwortungsfähigkeit für die Zukunft des Gemeinwesens und ihre staatliche Gestaltbarkeit andererseits.
1. Rechtlich strukturierter Parlamentarismus Die staatsleitende Funktion des Parlaments ist nicht nur verfassungsrechtlich gebunden durch die grundgesetzliche Funktionsbegrenzung im Verhältnis zu den übrigen Staatsorganen und zu den Ländern. Sie ist rechtlich geordnet. Auch wenn das Parlament weitgehend selbst über Art und Weise dieser rechtlichen Ordnung mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit entscheidet, kann in der Bundesrepublik Deutschland von einem rechtlich strukturierten Parlamentarismus gesprochen werden. Dies ist selbstverständlich für das Gesetzgebungsverfahren, aber bereits nicht mehr selbstverständlich für die Formalisierung der Prozesse politischer Meinungsbildung - vor allem im Verhältnis zur Regierung - und die institutionelle Verfestigung der Parlamentsorganisation. Die Einhaltung der
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Formvorschriften, auch wenn diese Rechtspositionen parlamentarischer Minderheit sichern, überlagert die inhaltliche Arbeit. Solche Formstrukturen bestimmen den Ablauf parlamentarischer Arbeit. Im Vordergrund stehen deshalb die Wahrnehmung staatlicher Gesetzgebungskompetenz, darauf bezogene Ausschußarbeit und die Legitimationsvermittlung. Eine zu starke Konzentration auf diese Aufgabenbereiche kann die Eigenlegitimation und Akzeptanz des Parlaments in der politischen Öffentlichkeit beeinträchtigen.
2. Politikpräsentation oder Politikgestaltung durch das Parlament Staatliche Aktivitäten, die sich nicht in den überlieferten Rechtsformen realisieren wie im Planungsbereich, entziehen sich wie die stetige Erweiterung des Verwaltungshandelns weitgehend dem Zugriff des Parlaments. Dies betrifft weniger die Zunahme von Gcsctzcsbeschlüssen und deren administrative D u r c h f ü h r u n g obwohl nicht jeder Gesetzesbeschluß zu politischer Praxis führt (Ellwein: 1983, S. 33ff.). Es betrifft eher die weitgehende administrative Verselbständigung der Vorbereitung von Gesetzgebungsmaßnahmen und neu ausgebildete administrative Handlungsformen wie Arrangements zwischen Verwaltung und organisierten Interessen oder Vereinbarungen zwischen Verwaltungen und einzelnen ihrer Klienten. Solche neuen administrativen Handlungsformen können durchaus zweckmäßig für die politische Durchsetzung parlamentarischer Zielsetzungen sein. Die Handlungsschwäche des Parlaments ist nicht nur in Informationsdefiziten, sondern auch in der Entscheidungsschwäche gegenüber der Regierung begründet: Kanzler - Partei (Vorsitz) - Regierung und Ministerialbürokratie - Mehrheitsfraktionen formieren sich leicht als Block gegenüber der parlamentarischen oder außerparlamentarischen Opposition zur Durchsetzung wahlfördernder Interessen. Dieses formierte politische Strukturgeflecht, das sich ergänzt um föderale und supranationale ( N A T O , E G ) Strukturen, ist um seinen eigenen Binnenausgleich bemüht und entzieht sich vielfach parlamentarischem Zugriff. Damit wird aber auch die legitimationsvermittelnde Funktion des Parlaments eingeschränkt. Neben sie tritt die Legitimationsfunktion anderer politischer Einrichtungen und die unmittelbare Akzeptanzsuche der Regierung bei gesellschaftlichen Organisationen oder in der politischen „Öffentlichkeit". Dies gilt gerade auch für die Bereiche der Wirtschafts- und Technologiepolitik. „Blockbildung" und Politikverflechtung sind somit Ursache dafür, daß das Parlament weniger eine „disputierende", sondern e h e r e i n e „demonstrierende Körperschaft" ist. Die politische Diskussion im Parlament zielt dann nicht auf die Suche nach der „richtigen" Entscheidung, sondern auf die Publizierung in Parteien und Fraktionen durchaus auch in kontroversen Diskussionen - getroffener Entscheidungen als „richtiger" gegenüber der Öffentlichkeit. Entsprechend ist die Parlamentsdebatte vorstrukturiert und wird von für bestimmte Gegenstände professionalisierten und von der Fraktionshierarchie dazu bestimmten Abgeordneten geführt. Gerade die nicht professionalisierte Parlamentsdebatte kann aber Anlaß sein, das Besondere im Allgemeinen zu denken, wie sich in parlamentarischen Debatten ohne fraktionelle Bindung der einzelnen Abgeordneten zeigt. Die Öffentlichkeit der Parlamentsdebatte dient dabei eher der „interessengesteuerten Integration" relevanter gesellschaftlicher Gruppen im Meinungsfeld der einzelnen politischen Parteien als der politischen Meinungsbildung.
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Das Parlament steht nicht als Ganzes der Regierung in der parlamentarischen Debatte gegenüber und kontrolliert diese. Mehrheit und Minderheit im Parlament stehen sich gegenüber und die Mehrheit vertritt die Regierung, obwohl diese genügend verfahrensrechtliche Möglichkeiten zum Eingriff in Parlamentsdebatten hat, um ihre politischen Absichten zu begründen. Kontrolle wird ersetzt durch präventive Kooperation mit der Regierung und den Verwaltungsinstitutionen. Leistungsmängel können sich im Beziehungsgeflecht verbergen. Nachteilig für die parlamentarische Auseinandersetzung wirkt sich auch aus, daß das Parlament „Repräsentationsdefizite" gegenüber der Bevölkerung hat: Weder in der Altersstruktur, der Geschlechterverteilung noch in der sozialen Herkunft der Abgeordneten entspricht es der Bevölkerungsstruktur. Die Parlamentsdebatten sind nicht genügend transparent; die Einbindung politischer Statements in ein bestimmtes Partei- und Interessengefüge wird so wenig deutlich, wie dieses Interessengefüge offen gelegt wird. Die Opposition vertritt häufig nicht erkennbare und entscheidbare politische Alternativen, sondern orientiert sich an einem angenommenen parlamentarischen oder außerparlamentarischen Common Sense, um ein breites Interessen- und Wählerspektrum anzusprechen. Die vom Parlament zu leistende Selektion in der Problemwahrnehmung ist eher an Vorgaben der Regierung oder an parlamentseigenen Interessen und Arbeitsproblemen als an den - unter Umständen diffusen - in der Öffentlichkeit oder Teilen von ihr genannten Erwartungen und Ängsten ausgerichtet. Es sind deshalb neben Verbänden vor allem Bürgerinitiativen oder die „neuen sozialen Bewegungen", aber auch die Medien, die einen politischen Handlungsbedarf demonstrieren, und weniger das Parlament, das neue politische Aufgaben in die gesellschaftliche Diskussion einbringt. Und doch behält die parlamentarische Debatte eine für die politische Kultur wesentliche Funktion: In ihr und in der durch sie veranlaßten oder sie unterstützenden öffentlichen Debatte werden Grenzen des jeweils politisch „Zumutbaren" erkennbar. Gesellschaftliche Gruppen können veranlaßt werden, ihre Interessen öffentlich zu artikulieren und Unmut zu demonstrieren. Beispiele hierfür sind die Diskussionen um die Nachrüstung oder um die Amnestie von Steuervergehen im Zusammenhang mit Parteispenden, die Debatte um die Verträge zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten oder Erörterungen zu Technikfolgen und Umweltschutz. So ist politische Meinungsund Willensbildung heute kein allein auf das Parlament hin orientierter Prozeß, sondern ein ständiges öffentliches Ereignis mit unterschiedlichen Akteuren, das sich in der Parlamentsdabatte institutionalisiert.
3. Die Verantwortung des Parlaments Die Kritik am praktizierten Parlamentarismus ist ihrerseits einem bestimmten Politikverständnis verbunden und damit in einer bestimmten Funktionszuweisung für das Parlament im Staat begründet. Die Verfassungsordnung beschreibt nur notwendige - Wahlen - und mögliche Aufgabenbereiche - Gesetzgebung, Kontrolle der Regierung. Ob und wie die Aufgaben wahrgenommen werden, ist eine Frage des Politikverständnisses des Parlaments und des gesellschaftlichen Bedarfs an parlamentarischer Problemwahrnehmung und -lösung. In dem Maße, in dem die Gesellschaft den durch die Grundrechte umschriebenen Freiheitsraum in den Vordergrund stellt, und in dem Maße, in dem gesellschaftliche Gruppen unabhängig (Arbeits- und Sozialbereich: Tarifpartner) oder in
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Kooperation mit der Regierung (Verbände, Bereiche von Wirtschaft und Technik) Problemlösungen erarbeiten, spaltet sich der politische Bereich in verschiedene Politikarenen. Die Aufgaben des Parlaments zerfallen dann in solche der politischen Steuerung des Gemeinwesens und solche der Notifizierung andernorts ausgehandelter Problemlösungen. Dabei können sich Defizite in jenen Politikfeldern ergeben, die zur „Selbststeuerung" ungeeignet sind, die aber auch nicht genügend parlamentarische Aufmerksamkeit finden. Das Parlament hat kein Instrumentarium, um seine Tätigkeit anders als an öffentlichen Reaktionen auf ihre politische Relevanz hin zu prüfen. Instrumentelle (Gesetzesanpassungen) oder tagespolitisch gebundene Regelungsleistungen erhalten dabei leicht ein Übergewicht, ohne daß Parlamentarismus seiner Organisation nach darauf eingerichtet ist. Statt politisch zu gestalten, werden Aushandlungsprozesse initiiert, zwischen den Fraktionen, hin zu den Verbänden, mit der Ministerialbürokratie. Auch dies braucht im Grunde nicht schädlich zu sein. Zu fragen ist aber, ob ein Bedarf an neuen Steuerungsformen für hochdifferenzierte, sozial strukturierte und emanzipatorisch selbstbewußte Gesellschaften neben oder in Ergänzung zur politischen Steuerung durch Parlamente besteht, ohne die politische Funktion des Parlaments aufzuheben. Die Fähigkeit des Parlaments, Verantwortung für Zustand und Entwicklung des Staates wahrzunehmen, wird so vor allem durch fünf Umstände beeinflußt, • • • •
die Diffusität der für die einzelnen Abgeordneten relevanten Orientierungen, die starke Einbindung des einzelnen Abgeordneten in die Fraktionsdisziplin, die starke Verflechtung von Parlamentsmehrheit und Regierung, die unzureichenden Formen von Rückbindung des Parlaments, seiner einzelnen Arbeitseinheiten und der Abgeordneten zur Gesellschaft, • das ungenügende Wissen über die Struktur komplexer politischer Gegenstände, insbesondere ökonomischer und technisch-wissenschaftlicher Entwicklungen und der sich mit ihnen verbindenden Folgen. Das Parlament steht häufig, sei es im Umweltbereich, in der Wissenschafts- und Technikenentwicklung und -nutzung oder in Rüstungsangelegenheiten vor einem „point of no return". Dieser ist weniger die Folge einmal getroffener Entscheidungen über politische Ziele und zu ihrer Realisierung erforderlicher Maßnahmen, also einer Gesamtbeurteilung eines Komplexes, sondern Folge von erbrachten Vorleistungen oder eingegangenen Verpflichtungen. Der Abbruch einer Entwicklung oder das Verbot zu ihrer Nutzung habe angeblich gravierende wirtschaftspolitische, arbeitsmarktpolitische oder außenpolitische Folgen - so wird argumentiert, ohne diese Folgen überprüfbar zu benennen. Die heutige ökonomisch-technische Situation erfordert eine Stärkung der parlamentarischen Verantwortung für zukunftswirksame Entwicklungen im kulturellen, sozialen und ökologischen Bereich, damit der Verfassungsauftrag wahrgenommen und erfüllt werden kann (Henseler: 1983,; Saladin: 1984; Die Präsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen: 1991). Die Handlungsbedingungen für das Parlament sind komplexer und gleichzeitig differenzierter geworden. Sie erfordern eine Weiterentwicklung seiner institutionalisierten Arbeitshilfen und Verfahren. Die Aufgabe des Parlaments bleibt es, die Freiheit im Staat und die Freiheitlichkeit des Staates zu verbinden mit der Gewährleistung sozialer Sicherheit und der Erhaltung der natürlichen Lebenswelt.
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§ 10 Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages Dieter Engels I. Organisations- und Verfahrensregeln. - II. Spezifika des parlamentarischen Verfahrens. - III. Zwecke der Verfahrensordnung und innerparlamentarische Strukturen. - I V . Organe der Selbstverwaltung. - V . Ausschüsse. - VI. Fraktionen. - VII. Aspekte des strukturierten Parlamentarismus. - VIII. Parlamentarische Hilfsdienste. Grundlagenliteratur Achterberg, Norbert (1984): Parlamentsrecht. Tübingen. (Arbeitsgemeinschaft) G M D (Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung) A D V O R G A (1986): Parlakom. Möglichkeiten zur Unterstützung der Tätigkeiten der Abgeordneten durch neue Informations- und Kommunikationstechniken und -medien. Endbericht. St. Augustin. Borgs-Maciejewski, Hermann ( 3 1986): Parlamentsorganisation. Heidelberg. Burhenne, Wolfgang (Hg.) (1958ff.): Recht und Organisation der Parlamente. Bielefeld 4 Bde. Kretschmer Gerald ( 2 1992): Fraktionen. Heidelberg. Luhmann, Niklas (1969): Legitimation durch Verfahren. Frankfurt/M. Ritzel, Heinrich / Bücker, Josef (1982 ff.): Handbuch für die parlamentarische Praxis. Neuwied. Schäfer, Friedrich ( 4 1982): Der Bundestag. Opladen. Schindler, Peter (1988): Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1980-1987. Baden-Baden. Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.) (1989): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a. Steffani, Winfried (1979): Parlamentarische und présidentielle Demokratie. Opladen. Thaysen, Uwe / Davidson, Roger H. / Livingston, Robert G. (Hg.) (1988): USKongreß und Deutscher Bundestag. Opladen. Trossmann, Hans (1977): Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. München. Trossmann, Hans / Roll, Hans-Achim (1981): Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. Ergänzungsband. München. Vetter, Joachim (1986): Die Parlamentsausschüsse im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M. u.a. Zeh, Wolfgang (1987a): „Gliederung und Organe des Bundestages". In: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts. Heidelberg, Bd. II., S. 391ff. siehe auch Hilfsmittel Teil B, III., 1. u n d 2 .
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I. Organisations- und Verfahrensregeln Die Regeln, welche die Organisation und die Arbeitsweise des Deutschen Bundestages bestimmen, haben den Grundanforderungen zu entsprechen, die an jede Verfahrensordnung zu stellen sind: Sie müssen das Zustandekommen von Entscheidungen garantieren, die Richtigkeit des Entscheidens fördern sowie zu diesen Zwecken sowohl die Kommunikation der Verfahrensbeteiligten kanalisieren als auch deren Verfahrensrechte und Entscheidungskompetenzen festlegen (Luhmann: 1969, S. 12). 1. Rechtliche Regeln Die parlamentarischen Verfahrensregeln, die diesen Zielen dienen, sind zum einen im Grundgesetz, zum weiteren in einzelnen gesetzlichen Vorschriften (Übersichten bei: Pietzker: 1989, S. 353; Zeh: 1987a, S. 426ff.), schließlich und vor allem in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT) niedergelegt, die zu erlassen und zu gestalten in der autonomen Befugnis des Parlamentes steht (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG). Darüber hinaus determinieren ungeschriebene Rechtsnormen des parlamentarischen Gewohnheitsrechts den Verfahrensablauf. Ihr Kennzeichen besteht darin, daß sie auf langer und konstanter Übung im Parlament beruhen, als Rechtsnormen von den Verfahrensbeteiligten anerkannt sind und dann angewendet werden, wenn sich die geschriebenen Regeln als lükkenhaft erweisen. 2. Verfahrensabsprachen; Parlamentsbrauch Diese geschriebenen und ungeschriebenen rechtlichen Verfahrensnormen werden ergänzt, zum Teil auch überlagert, durch Verfahrensabsprachen der Verfahrensbeteiligten, die auf diesem Wege die Arbeitsabläufe effektivieren sowie solche Verfahrenskonflikte zu vermeiden suchen, für die das kodifizierte Verfahrensrecht (noch) keine Lösung vorsieht. Solche Abmachungen erschöpfen sich zum Teil in der einmaligen Regelung eines konkreten Verfahrens, zum Teil gewinnen sie auch dauerhafteren Charakter, sofern sie sich in einer Situation bewährt haben und sodann in weiteren gleichgelagerten Fällen erneut praktiziert werden. Infolge einer solchen wiederholten konstanten Übung können sie entweder zu parlamentarischem Gewohnheitsrecht erstarken oder sich zumindest zu einem Parlamentsbrauch verdichten, der zwar - anders als das Gewohnheitsrecht keine Rechtsnormqualität besitzt, aber im parlamentarischen Alltag faktische Verbindlichkeit genießt (Schulze-Fielitz: 1989b, S. 359). Organisation und Arbeitsweise des Deutschen Bundestages werden hiernach durch ein Regelungssystem determiniert, dessen wesentliche Elemente geschriebene und ungeschriebene Rechtsnormen, Parlamentsbräuche sowie Verfahrensabsprachen der Verfahrensbeteiligten sind. 3. Informelle Regeln Hinzu tritt eine Reihe informeller Regeln, die auf einem, zumeist unausgesprochenen, common sense beruhen oder aber zumindest von einem großen Teil der
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Abgeordneten akzeptiert und beachtet werden. Sie betreffen insbesondere gegenseitige Verhaltenserwartungen der Parlamentsmitglieder, aber auch die innerparlamentarischen Verfahrensabläufe. Ihr Wirkungsfeld umfaßt ein breites, nicht abschließend beschreibbares Spektrum, das von eher marginalen Materien wie der angemessenen Bekleidung und Haartracht über den Debatten- und Redestil bis hin zu der Beachtung eingespielter Kommunikationswege reicht, also vor allem solche Sachverhalte betrifft, die einer erschöpfenden rechtlichen Normierung nicht zugänglich sind. Trotz ihrer - per definitionem - fehlenden Rechtsnormqualität sind sie für den parlamentarischen Alltag nicht weniger wichtig als das System der geschriebenen und ungeschriebenen rechtlichen Verfahrensregeln, so daß sie ebenfalls als wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Verfahrensordnung anzusehen sind.
II. Spezifika des parlamentarischen Verfahrens Die so skizzierte parlamentarische Verfahrensordnung hat nicht nur den eingangs erwähnten allgemeinen Grundanforderungen zu entsprechen, sondern auch und vor allem die Spezifika des parlamentarischen Verfahrens zu berücksichtigen, die anderen, insbesondere administrativen Verfahren nicht zu eigen sind. 1. Rahmenbedingungen für die Verfahrensgestaltung Die insoweit beachtenswerten Besonderheiten ergeben sich daraus, daß der Deutsche Bundestag keine Behörde ist und deshalb auch nicht unter den für diese maßgebenden personellen und organisatorischen Bedingungen arbeitet: Er gewinnt seine Mitglieder nicht durch Kooptation von innen, sondern durch allgemeine Wahlen, also durch „Delegation von außen" (Mayntz/Neidhardt: 1989, S. 373). Er entscheidet daher, anders als eine Behörde, nicht selbst, wer ihm zugehören soll, und ist schon aus diesem Grunde in besonderem Maße externen Dritten, insbesondere den Parteigremien und den Wahlbürgerinnen, verpflichtet (Mayntz/Neidhardt: 1989, S. 373). Er ist, jedenfalls seiner grundgesetzlichen Konstruktion nach, anders als Einrichtungen der Exekutive nicht hierarchisch strukturiert, sondern besteht aus 662 gleich-berechtigten Mitgliedern, welche nicht weisungsgebunden, sondern - wie A r t . 38 Abs. 1 GG formuliert - „nur ihrem Gewissen unterworfen" sind und die im übrigen dieselben Pflichten und Befugnisse haben, zu denen namentlich das Rede- und Stimmrecht sowie das Recht gehören, parlamentarische Initiativen zu ergreifen. Seine Aufgabenerfüllung ist in hohem Maße mit Verfahrenshandlungen und -rechten Externer, insbesondere der Bundesregierung und des Bundesrates, vernetzt, welche nicht nur ebenfalls das Gesetzesinitiativ-, sondern auch das Recht besitzen, den Verhandlungen des Bundestages beizuwohnen und jederzeit gehört zu werden (vgl. Art. 43 Abs. 2 GG). Seine Arbeit erfolgt nicht unter den für die Exekutive geltenden Geboten der Amtsverschwiegenheit und Vertraulichkeit, sondern grundsätzlich unter den Postulaten der Transparenz und Öffentlichkeit, die einen der wichtigsten Bezugspunkte der Tätigkeit seiner Mitglieder bildet. Die Verfahren des Deutschen Bundestages stehen im übrigen in enger Interaktion mit den Verbänden und sonstigen Interessengruppen sowie den Medien (i.e. §§ 13 und 15) und, last not least,
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den Bürgerinnen, die auf die Mitglieder des Parlaments mit dem Ziel einwirken, daß ihre jeweiligen Anliegen nachhaltig verfolgt und verwirklicht werden (§ 14 IV.) Zudem gewinnt der Faktor Zeit für die Erfüllung der Aufgaben eine größere Bedeutung als in administrativen Prozessen, weil der jeweilige Bundestag lediglich für die Dauer seiner Wahlperiode existiert (Art. 39 G G ) , innerhalb derer er alle jene Vorlagen erledigen muß, die nicht der sog. Diskontinuität 1 ) anheimfallen sollen.
2. Funktionen der parlamentarischen Verfahrensregeln Alle diese Besonderheiten verlangen ein Verfahrenskonzept, das sich von sonstigen Verfahrensordnungen abhebt: Es muß zum einen sicherstellen, daß der Bundestag als Ganzer, also als Institution, die ihm grundgesetzlich zugewiesenen Aufgaben sach- und zeitgerecht erfüllen kann, zum anderen den Verfahrensgang so organisieren, daß sowohl die Statusrechte und Gestaltungsmöglichkeiten seiner Mitglieder als auch die Verfahrensrechte anderer staatlicher Organe sichergestellt und Interaktionen mit sonstigen externen Dritten ermöglicht werden. Diese Zwecke der parlamentarischen Verfahrensordnung stehen einerseits in einem komplementären, andererseits in einem antagonistischen Verhältnis. Sie sind komplementär, als beispielsweise • die Verfahrensbeteiligung von Regierung und Verwaltung, • die Rückkopplung der Verfahren an betroffene Interessengruppen sowie • der öffentlich geführte und umfassende, das Meinungsspektrum aller Parlamentsmitglieder vollständig widerspiegelnde Diskurs notwendige Bedingungen sind, den Anspruch auf Richtigkeit des Entscheidens einlösen zu können. Andererseits erscheinen dem institutionellen Interesse des Bundestages an effektiver, mit der knappen Ressource Zeit sorgsam umgehender Arbeitsweise extensive Möglichkeiten seiner Mitglieder und externer Dritter, auf das Verfahren Einfluß zu nehmen, gelegentlich als dysfunktional: So kann beispielsweise die völlige Ausschöpfung des Rede- und Antragsrechts durch jedes der 662 Parlamentsmitglieder angesichts der Vielzahl der Verfahrensgegenstände (Übersicht 1) dazu führen, daß notwendige Sachentscheidungen schon aus zeitlichen Gründen nicht getroffen oder unangemessen verzögert werden. Daher stellt sich der parlamentarischen Verfahrensordnung auch die Aufgabe, Antagonismen der angedeuteten Art - z . B . durch Regeln über die Ausübung des Rede- und Initiativrechts (§§ 27ff. sowie 72ff., GO-BT) - auszugleichen und die zum Teil gegenläufigen Interessen des Bundestages als Institution und diejenigen seiner Mitglieder sowie die Einwirkungsmöglichkeiten Externer in ein Verhältnis der praktischen Konkordanz zu tarieren.
1
Der Grundsatz der Diskontinuität beinhaltet, daß mit dem Ablauf der Wahlperiode die eingebrachten Vorlagen, z.B. Gesetzentwürfe, automatisch ihre Erledigung finden; der neue Bundestag wird mit solchen Vorlagen nur dann befaßt, wenn sie erneut eingebracht werden. Zu Einzelheiten Jekewitz: 1977 sowie Maunz/Dürig/Herzog/Scholz: Art. 39 Rn. 18.
212
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag Übersicht 1: Anzahl der Verfahren des 10. und 11. Bundestages 10. WP
11. WP
Plenarsitzungen
255
236
Beim BT eingebrachte Gesetzentwürfe • Regierungsvorlagen • Bundesrat-Initiativen • Bundestag-Initaitiven - von CDU/CSU-FDP-Koalition - von C D U / C S U - von SPD - von den G R Ü N E N - von C D U / C S U , SPD, FDP - interfraktionell
522 280 59 183 42 1 70 55 12 3
593 321 47 227 72 1 66 71 15 2
Große Anfragen Kleine Anfragen Mündliche/schriftliche Fragen
175 1006 22864
145*) 1416*) 19711*)
*) Stand: 30. Nevember 1990 Quellen: S C H I N D L E R : 1988, S. 549,643; Woche im Bundestag vom 5. Dezember 1990, S. 159; Deutscher Bundestag: Stand der Gesetzgebung des Bundes, 11. Wahlperiode.
3. Gliederung des Bundestages in Fraktionen und Ausschüsse Die Wege, welche die parlamentarische Verfahrensordnung hierzu einschlägt, haben dabei nicht nur die stark differenzierte, unterschiedlichste Interessen repräsentierende Zusammensetzung des Bundestages, sondern zudem auch zu berücksichtigen, daß sich die Verhandlungsgegenstände durch ein hohes Maß an Komplexität auszeichnen, welches vor allem dadurch bedingt ist, daß die Gesetzgebungs-, aber auch die Kontrollaufgabe dem modernen Parlament auf höchst unterschiedlichen Politikfeldern diffizile Tatsachenfeststellungen, umfassende Folgenabschätzungen und komplexe Wertungen abverlangt: So setzen beispielsweise die Erarbeitung, Beratung und Beschlußfassung eines Gesetzes „zur Regelung von Fragen der Gentechnik" (BGBl 1:1990, S. 1080) die Analyse medizinischer, biologischer, sicherheitstechnischer, wirtschaftlicher und weiterer relevanter Sachverhalte voraus; sie verlangen ferner die Ermittlung möglicher zukünftiger Folgen gentechnischer Verfahren und erfordern schließlich die Bewertung dieser Tatbestände unter ethischen, rechts-, gesundheits-, wirtschafts- und haushaltspolitischen sowie weiteren normativen Aspekten. Solche und vergleichbare komplexe Aufgaben lassen sich nur im Wege der parlamentsinternen Arbeitsteilung bewältigen, für die im Bundestag die Voraussetzung dadurch geschaffen ist, daß er sich fachlich in Ausschüsse, politisch in Fraktionen gliedert. Die Ausschüsse fungieren dabei als fachlich spezialisierte Gremien, die der Bundestag - in der Regel zu Beginn einer jeden Wahlperiode - einsetzt und denen er vor allem die Aufgabe überträgt, als seine Hilfsorgane seine Plenarverhandlungen vorzubereiten (i.e. unten V., allgemein § 5IV.). Fraktionen sind demgegenüber politische Vereinigungen von mindestens 5 v.H. der Parlamentsmitglieder, die entweder derselben Partei oder - wie § 10 G O - B T
213
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
mit Rücksicht auf die CDU und die CSU vorsieht - solchen Parteien angehören, die gleichgerichtete politische Zielsetzungen verfolgen und in keinem Bundesland miteinander in Wettbewerb stehen. Übersicht 2: Fraktionen im 12. Bundestag
Anzahl der Mitglieder
CDU/CSU
SPD
FDP
318
239
79
Anm.: PDS/Linke Liste (15 Abgeordnete) und Bündnis 90/DIE G R Ü N E N (8 Abgeordnete) verfügen im 12. Deutschen Bundestag nicht über die Fraktionsmindeststärke von 5 v.H. ( = 34) der Parlamentsmitglieder. Sie sind deshalb keine Fraktionen, sondern Gruppen i.S. v. § 10 Abs. 4 GO-BTmit Rechten, die aufgrund Beschlusses des Bundestages vom 21. Februar 1991 denen der Fraktionen weitgehend angenähert sind (vgl. i.e. unten VII. 3.). 3 Abgeordnete gehören keiner Fraktion oder Gruppe an.
Anders als die Ausschüsse werden die Fraktionen nicht durch den Bundestag, sondern durch freiwilligen Zusammenschluß von Parlamentsmitgliedern gebildet, die sich hierzu in Anerkennung der Tatsache, daß sie das Mandat aufgrund des Wahlvorschlages ihrer jeweiligen Partei erworben haben, aber auch deshalb verstehen, weil aus ihrer Sicht Fraktionen zur Effektivierung ihrer eigenen parlamentarischen Tätigkeit notwendig sind. Denn der einzelne Abgeordnete sieht sich angesichts der Fülle und Komplexität der Verhandlungsgegenstände kaum mehr in der Lage, die faktischen und normativen Entscheidungsgrundlagen aller Materien zu überblicken, und ist daher auf Möglichkeiten der Arbeitsteilung angewiesen, die er insbesondere in „seiner" Fraktion findet: Der Zusammenschluß mit politisch gleichgesinnten Parlamentariern ermöglicht ihm, gemeinsam mit diesen seine Vorstellungen verfolgen zu können, und zwar auf der Basis arbeitsteilig organisierter Teamarbeit (Arndt, C.: 1989, S. 644ff.), die ihm erlaubt, sich auf spezielle Politikfelder konzentrieren und sich zugleich auf die parlamentarische Arbeit verlassen zu können, die seine Fraktionskolleginnen - ebenfalls jeweils mit spezieller Fachkompetenz - auf anderen Politikfeldern leisten (i.e. unteji VI.; parlamentsgeschichtlich § 4 III.). Die Aufgliederung in Fraktionen ist indes nicht nur aus der Sicht des einzelnen Parlamentariers, sondern auch aus derjenigen des Bundestages notwendig: Denn ein System, welches wie das Parlament aus zahlreichen gleichberechtigten Mitgliedern besteht, unterliegt - wie insbesondere D. Herzog (:1986, S. 317) verdeutlicht hat - der latenten Gefahr, seine Handlungsfähigkeit und damit seine Bedeutung einzubüßen, weil sowohl die Vielzahl der Mitglieder als auch die heterogene Zusammensetzung die Tendenz zu gegenseitiger Blockierung fördert und jene Homogenität beeinträchtigt, die Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit ist. Soll diese sich nicht in der Vielzahl der Parlamentsmitglieder und der Fülle der Partikularinteressen verflüchtigen, so bedarf es nicht nur einer den Geschäftsgang normierenden formalen Verfahrensordnung (BVerfGE 44, 315f.; 80, 218) und jener Regel des Grundgesetzes, welche für Sachentscheidungen des Bundestages das Mehrheitsprinzip vorschreibt (Art. 42 Abs. 2 GG). Erforderlich sind vielmehr auch parlamentarische Steuerungszentren, die die Prozesse konkurrierender Initiativen sowie die Verfahren der Entscheidungsfindung strukturieren und organisieren.
214
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
Diese Aufgaben übernehmen im Bundestag zum einen der Präsident, das Präsidium und der Ältestenrat als Organe, die für die Leitung, Planung und Selbstverwaltung, also die formelle Organisation der Arbeitsabläufe zuständig sind (i.e. unten IV.), zum'anderen die Fraktionen, in deren Gremien politisch entschieden wird, welche parlamentsinternen und -externen Impulse aufgegriffen und zu welchem Zeitpunkt mit welcher inhaltlichen Zielsetzung in parlamentarische Initiativen umgesetzt werden (i.e. unten VI.). Auf diese Weise sorgen die Fraktionen nicht nur für eine organisierte Arbeitsteilung ihrer Mitglieder und die Strukturierung parlamentarischer Geschäftsabläufe (BVerfGE 80, S. 231), sondern auch dafür, daß die Fülle heterogener parlamentsinterner Auffassungen und Konfliktfelder auf wenige, relativ stabile, organisierte Gegensätze reduziert wird (Herzog, D.: 1986, S. 317; Steffani: 1988a, S. 261 und 278). Erst diese Leistung der Fraktionen ermöglicht es wiederum dem Bundestag als Institution, mit Hilfe von Ausschüssen jener schwerfälligen Arbeitsweise zu begegnen, welche sich einstellen würde, wenn jedes Detail im Plenum der 662 Abgeordneten erörtert und beraten werden müßte (vertiefend § 4 II. und § 5IV.). Er kann seine Beschlüsse bis zur Entscheidungsreife durch die fachlich spezialisierten Ausschüsse vorbereiten lassen, weil in ihnen zum einen die jeweiligen Fachleute der Fraktionen Mitglieder sind und sich zum anderen in ihnen die politischen Kräfteverhältnisse und stabilisierten Gegensätze des Plenums widerspiegeln, da die Ausschüsse „im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen besetzt werden" (§ 12 GO-BT), also ein verkleinertes Abbild des Parlaments darstellen (Übersicht 3). Übersicht 3: Die Ausschüsse des 12. Bundestages und ihre Besetzung Ausschuß
Anzahl CDU/ SPD der CSU Mitglieder
FDP PDS/ Bündnis Ausschußvorsitz LL 2 90/Grüne 2
19
9
6
2
1
1
Abg. Wiefelspütz (SPD)
33
15
12
4
1
1
3. Auswärtiger Ausschuß
41
19
15
5
1
1
4. Innenausschuß
41
19
15
5
1
1
5. Sportausschuß
19
9
6
2
1
1
6. Rechtsausschuß
29
14
10
3
1
1
7. Finanzausschuß
41
19
15
5
1
1
8. Haushaltsausschuß
39
18
14
5
1
1
Abg. Dr. Pfennig (CDU/CSU) Abg. Dr. Stercken (CDU/CSU) Abg. Bernrath (SPD) Abg. Tillmann (CDU/CSU) Abg. Eylmann (CDU/CSU) Abg. Gattermann (FDP) Abg. Walther (SPD)
1. Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung 2. Petitionsausschuß
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
215
Übersicht 3: (Fortsetzung) Ausschuß
Anzahl CDU/ SPD der CSU Mitglieder
FDP PDS/ Bündnis Ausschußvorsitz LL2 90/Grüne 2
9. Ausschuß für Wirtschaft 10. Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 11. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung 12. Verteidigungsausschuß
41
19
15
5
1
1
Abg. Ost (CDU/CSU) Abg. Hornung (CDU/CSU)
35
17
12
4
1
1
37
18
13
4
1
1
Abg. Heyenn (SPD)
37
18
13
4
1
1
13. Ausschuß für Familien und Senioren 14. Ausschuß für Frauen und Jugend 15. Ausschuß für Gesundheit
29
14
10
3
1
1
29
14
10
3
1
1
29
14
10
3
1
1
16. Ausschuß für Verkehr 17. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 18. Ausschuß für Post und Telekommunikation 19. Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 20. Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung 21. Ausschuß für Bildung und Wissenschaft 22. Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
41
19
15
5
1
1
41
19
15
5
1
1
Abg. Dr. Wittmann (CDU/CSU) Abg. Eppelmann (CDU/CSU) Abg. Dr. Niehuis (SPD) Abg. Dr. Thomas (FDP) Abg. Dr. Jobst (DCU/CSU) Abg. Dr. von Geldern (CDU/CSU)
19
9
6
2
1
1
Abg. Paterna (SPD)
31
14
11
4
1
1
Abg. Dr. Jahn (CDU/CSU)
35
17
12
4
1
1
Abg. Catenhusen (SPD)
31
14
11
4
1
1
Abg. Kuhlwein (SPD)
35
17
12
4
1
1
Abg. Dr. Holtz (SPD)
216
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag Übersicht 3: (Fortsetzung)
Ausschuß
23. Ausschuß für Fremdenverkehr 24. EG-Ausschuß
1
2
Anzahl CDU/ SPD der CSU Mitglieder
FDP
PDS/ Bündnis Ausschußvorsitz LL 2 90/Grüne 2
19
9
6
2
1
1
33
15
12
4
1
1
Abg. Dr. Feldmann (FDP) Abg. Dr. Hellwig (CDU/CSU)
Die Berechnung der Anzahl der den Fraktionen anch § 12 G O - B T zustehenden Ausschußsitze erfolgt seit der 9. W P nach dem Proportionalverfahren nach St. Lague/Schepers; zu den zuvor praktizierten Höchstwahlverfahren (d'Hondt) und Proportionsverfahren (Hare/Niemeyer) und ihren Mängeln vgl. Schindler: 1988, S. 473. PDS/Linke Liste und Bündnis 90/DIE G R Ü N E N sind in das in Fn 1) genannte Verteilungsverfahren nicht einbezogen, da sie keine Fraktionen sind (vgl. oben Übersicht 2); das Proportionalverfahren nach St. Lague/Schepers wird auf sie auch nicht analog § 12 G O - B T angwandt, weil hiernach PDS/Linke Liste erst ab einer Ausschußmindestgröße von 19 Mitgliedern, Bündnis 90/DIE G R Ü N E N erst ab einer Ausschußgröße von 42 Mitgliedern jeweils 1 Sitz beanspruchen könnten. D e r Bundestag hat daher für die 12. W P PDS/Linke Liste und Bündnis 90/DIE G R Ü N E N das Recht eingeräumt, je ein Mitglied in jeden Ausschuß zu entsenden, wodurch diese in den Ausschüssen „überproportional" vertreten sind (vgl. BT-Drsn. 12/149 und 12/150 sowie PI.-Prot. 12/9, S. 397; zu Einzelheiten unten VII.).
III. Zwecke der Verfahrensordnung und innerparlamentarische Strukturen Die Aufgliederung des Bundestages in Fraktionen und Ausschüsse hat indes, so notwendig sie ist, nicht unproblematische Kehrseiten, und zwar unter folgenden drei Aspekten:
1. Plenum und Ausschüsse Sie beinhaltet - erstens - die Gefahr der Atomisierung des Parlaments, weil die entscheidende Sacharbeit in die diversen Gremien der Fraktionen und in die Ausschüsse verlagert wird. Dieser Vorgang wirft nicht nur eine Reihe, durch die parlamentarische Verfahrensordnung zu lösende Kompetenz- und Koordinationsprobleme auf, sondern wirkt sich auch und vor allem zu Lasten des Plenums aus, da die eigentlichen Vor- und Teilentscheidungen außerhalb der Vollversammlung, nämlich: zunächst in den Gremien der Fraktionen, sodann in den Ausschüssen fallen. Das Plenum ist daher in dem arbeitsteiligen System des Bundestages diejenige Instanz, die an Bedeutung verloren hat. Ihm verbleiben im wesentlichen die Funktionen, „als Bundestag" die abschließenden Sachentscheidungen auf der Basis der Empfehlungen der Ausschüsse zu treffen und als Forum zu fungieren, in dem die Gründe des Pro und Contra der konkurrierenden Auffassungen gegenüber der Öffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG) dargelegt und dokumentiert werden (dazu § 5IV.).
3. Kap. : Der Deutsche Bundestag
217
Damit dem Plenum - wenigstens - diese Funktionen erhalten bleiben, sind Verfahrensregeln notwendig, welche die Kompetenzen und Zuständigkeiten der Ausschüsse einerseits und diejenigen der Vollversammlung andererseits exakt festlegen. Hierzu gehören beispielsweise die grundsätzliche Begrenzung der Aufgaben der Ausschüsse auf die Vorbereitung der Entscheidungen des Bundestages (§§ 54 Abs. 1 und 61 Abs. 1 Satz 2 GO-BT), aber auch diejenige Vorschrift der Geschäftsordnung, die für die Beratungen der Ausschüsse den Grundsatz der NichtÖffentlichkeit u.a. auch deshalb vorschreibt (§ 69 Abs. 1 GO-BT), weil andernfalls die öffentliche Darlegungsfunktion bereits von den Ausschüssen an Stelle des Plenums wahrgenommen und erfüllt würde.
2. Mehrheitsprinzip und Minderheitsschutz Die Aufgliederung in Fraktionen hat - zweitens - zur Konsequenz, daß sich das Parlament in Mehrheits- und Minderheitsfraktionen (Regierungs- und Oppositionsfraktionen) teilt. Es bildet daher nicht jene homogene Einheit, wie sie die Gewaltenteilungslehre suggeriert, wenn sie „das" Parlament von anderen staatlichen Organen, insbesondere der Bundesregierung, abhebt, und wie sie auch im Wortlaut derjenigen Artikel des Grundgesetzes aufscheint, die „dem" Bundestag bestimmte Aufgaben und Befugnisse zuweisen. Dieser Sachverhalt und die angeführte Regel, nach der parlamentarische Sachentscheidungen mit Mehrheit getroffen werden (oben II.), bedingen, daß die Aufgaben und Rechte „des" Bundestages nur mit der Zustimmung der Mehrheitsfraktionen wahrgenommen und ausgeübt werden können, also der Unterstützung durch jene Fraktionen bedürfen, die sowohl politisch als auch personell mit der Bundesregierung auf das engste verbunden sind, indem ihnen der Bundeskanzler und die Bundesminister in der Regel, die Parlamentarischen Staatssekretäre stets angehören. Diese innerparlamentarische Konstellation überlagert zum einen die verfassungsrechtliche Gewaltenteilung zwischen Bundestag und Bundesregierung (Steffani: 1983b, S. 390; ausgeführt in § 1 III.) und hat zum anderen faktische Konsequenzen für die Wahrnehmung der Funktionen des Bundestages, soweit es um dessen Aufgabe geht, Regierung und Verwaltung zu kontrollieren: Denn die Rolle des parlamentarischen Kontrolleurs fällt hiernach zwar nicht ausschließlich, wohl aber insoweit, als sie in öffentlich geführten Verfahren wahrgenommen und gegenüber dem Regierungshandeln alternativ-kontrovers angelegt wird, vorwiegend den Oppositionsfraktionen zu. Dies liegt daran, daß die parlamentarische Mehrheit, welche die Bundesregierung wählt und stützt, aufgrund dieser Rolle wenig Neigung verspürt, Regierungsfehler öffentlich aufzudecken und Regierungshandeln öffentlich zu desavouieren. Vor diesem Hintergrund gerät indes das parlamentarische Kontrollrecht bei uneingeschränkter Geltung des Mehrheitsprinzips in ein prinzipielles Dilemma, dessen Aufdeckung Max Weber (:1918, S. 60) zu verdanken ist. Es besteht darin, daß das Parlament einerseits Regierung und Verwaltung kontrollieren soll, andererseits hierzu jedoch die Stimmen gerade derjenigen Fraktionen benötigt, der die Mitglieder der Regierung angehören und die deren Arbeit unterstützen und tragen (¡Schneider, H.-P.: 1974b, S. 628). Soll in diesem Dilemma das parlamentarische Kontrollrecht keine entscheidenden Einbußen erleiden, so bedarf es Regeln, welche der Opposition wirksame, das heißt auch: vom Willen der Mehrheitsfraktionen unabhängige, Kontrollrechte einräumen. Die in diesem Zusam-
218
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
menhang wichtigste Vorschrift bildet Art. 44 Abs. 1 GG, welche derjenigen parlamentarischen Minderheit, die über das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages verfügt (sog. qualifizierte Minderheit), einen Anspruch auf Durchführung einer von ihr beantragten parlamentarischen Untersuchung einräumt. Diese Norm des Grundgesetzes ist zugleich Vorbild für weitere minderheitsschützende Regelungen der parlamentarischen Verfahrensordnung (i.e. unten § 11, IV.), deren Aufgabe daher auch darin besteht, den Schutz der Gestaltungsmöglichkeiten der Opposition zu gewährleisten (Hohm: 1985, S. 408; exemplarisch § 12 II.). Die Regeln, die diesem Zweck dienen, haben zudem einem Tatbestand Rechnung zu tragen, der sich zunehmend als das entscheidende Schlüsselproblem bei der Erfüllung der komplexen Parlamentsaufgaben erweist: Es geht um den umfassenden und zeitgerechten Zugang zu den notwendigen und zutreffenden Informationen, ohne die weder die Gesetzgebungsarbeit noch die Kontrollaufgabe sachgerecht erfüllt werden können. Ein Parlament, welches - um auf das Ausgangsbeispiel des Gentechnikgesetzes zurückzukommen - nicht umfassende Basisinformationen über die Möglichkeiten, Chancen und Risiken der Gentechnik besäße, könnte schwerlich über adäquate, alle Sachverhalts- und Wertungsaspekte berücksichtigende Regelungen der Fragen der Gentechnik beraten und beschließen (ausführlich § 18 III.; auch § 12). Der Zugang zu und die Verfügbarkeit über die jeweils relevanten Informationen ist jedoch ungleich verteilt. Denn die Bundesregierung besitzt gegenüber dem Parlament einen quantitativ und qualitativ bedeutsamen Informationsvorsprung, den sie sowohl aus den allgemein zugänglichen als auch aus den nur ihr zur Verfügung stehenden Informationsquellen gewinnt und den ihr die Ministerialbürokratie mit mehr als 22000 Beschäftigten, ca. 6000 in Beiräten und Kommissionen tätige Berater sowie auch die Aufrüstung der Administration mit modernen Informations- und Kommunikationstechniken sichern (unten VIII., Übersicht 5). Hieraus resultiert nicht nur das notorische Informationsgefälle zwischen Regierung und Parlament, sondern auch und genauer: zwischen Mehrheits- und Minderheitsfraktionen, weil das Amtswissen der Regierung nur den Regierungsfraktionen, insbesondere über die geschilderte personelle Verklammerung, in vollem Umfang potentiell zur Verfügung steht (hierzu auch § 5 V.). Soll die Opposition gleichwohl wirksame Gestaltungsmöglichkeiten besitzen, so sind Regeln erforderlich, die dem Ziel dienen, dieses Informationsdefizit auszugleichen. Aber gerade hierin sind die Möglichkeiten der Geschäftsordnung ausgesprochen begrenzt: Sie enthält zwar eine Reihe von Vorschriften, die - wie das Recht der Kleinen und Großen Anfrage (unten § 11 IV.) - auch einer Minderheitsfraktion Informationsmöglichkeiten einräumen; aber die Verankerung solcher Informationsrechte in der Geschäftsordnung des Bundestages hat einen entscheidenden Nachteil: Die Geschäftsordnung ist reines parlamentarisches Binnenrecht und kann daher nur im parlamentsinternen Verhältnis einer Minderheitsfraktion Rechte einräumen, jedoch keine Auskunftspflichten externer Organe , Behörden oder Personen begründen. Für solche, auch außen-wirksame Informationsansprüche sind vielmehr grundgesetzliche oder gesetzliche Grundlagen erforderlich, die es umfassend nur für den Bereich des parlamentarischen Untersuchungsrechts, ansonsten, jedenfalls aus der Sicht der parlamentarischen Minderheit, nur ansatzweise gibt: Denn soweit das Grundgesetz und einzelne Gesetze parlamentarische Informationsansprüche
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
219
gegenüber der Bundesregierung normieren (unten § 11 IV.), können diese nur mit der Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit ausgeübt werden, so daß deren Wissensvorsprung von einer Minderheitsfraktion im Streitfall nicht aufgebrochen werden kann. Im übrigen fehlen (grund)gesetzliche Vorschriften, die Informationsansprüche der Minderheit explizit und exakt festlegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 13,125; 44,320; 57,5; 67,129; 70,355) aus dem parlamentarischen Kontrollrecht und aus Art. 38 GG hergeleitet, daß den Parlamentsmitgliedern „grundsätzlich diejenigen Informationen nicht vorenthalten werden" dürfen, die ihnen „eine sachverständige ... Beurteilung ermöglichen" (BVerfGE 70,355), so daß zumindest im Grundsatz von einer verfassungsrechtlich begründeten Informationspflicht der Bundesregierung-auch und gerade den Mitgliedern einer Oppositionsfraktion gegenüber - auszugehen ist. Die Konturen dieses Informationsanspruchs sind jedoch unklar, weil die gewählte Umschreibung in dreierlei Hinsicht unscharf ist. Sie läßt zum einen offen, welche Art der Information gemeint ist: Auskunft nur auf einzelne Fragen oder weitergehend auch Einblick in oder Vorlage von Regierungsakten, Zugang zu sonstigen Unterlagen und Einrichtungen, beispielsweise Datenbanken, der Bundesregierung (i.e. streitig, Magiera: 1989, S. 1437; Weis: 1988, S. 271 m.z.w.N.; unten §11 VIII); zum anderen ist das für den Umfang des Informationsanspruchs maßgebende Kriterium der „sachverständigen Beurteilung" unbestimmt, weil sich im Einzelfall trefflich darüber streiten läßt, ob die Erteilung der begehrten Information unter Anlegung dieses Maßstabes notwendig ist oder nicht: schließlich impliziert der Vorbehalt, das Informationsrecht bestehe nur „grundsätzlich", Ausnahmen, die ihrerseits nicht exakt definiert sind (problematisiert in § 12).2. Alle diese Unbestimmtheiten schwächen das verfassungsrechtlich verbriefte parlamentarische Informationsrecht, weil sich die insoweit unklare Rechtslage in der Praxis zu Lasten seiner Durchsetzbarkeit auswirkt. Abhilfe würde nur ein parlamentarisches Informationsgesetz schaffen, das Art, Umfang und Grenzen der einzelnen Informationsansprüche sowie die Voraussetzungen festlegt, unter denen auch die parlamentarische Minderheit diese durchsetzen kann. Daß es bislang ein solches Gesetz nicht gibt, liegt auch in den parlamentsinternen Strukturen begründet: Denn eine gesetzliche Verankerung von Informationsrechten zugunsten der parlamentarischen Minderheit bedürfte der Zustimmung der Mehrheit, die jedoch - unabhängig davon, welcher Fraktion die Mehrheitsrolle zufällt - kaum geneigt ist, aktiv den Abbau ihres Informationsvorsprungs zu betreiben. Mit dieser Barriere müssen im übrigen - wie insbesondere die parlamentarische Diskussion um die Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung im Deutschen Bundestag gezeigt hat (unten § 11, V.; § 16) - auch alle sonstigen Reformbestrebungen rechnen, die auf eine Stärkung der Informationsbasis des Bundes-
2
Eine Rolle spielen in diesem Zusammenhang insbesondere • die Begrenzung der Auskunftspflicht auf Vorgänge, die abgeschlossen und nicht dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung zuzurechnen sind, wobei weder geklärt ist, wann ein Vorgang abgeschlossen ist, noch, welche Materien dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung zuzurechnen sind (hierzu Engels: 1990, S. 71), ferner • das Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung dem Parlament auch grundrechtlich geschützte Daten offenbaren muß (BVerfGE 70, S. 358) und • ob sie dem Parlament unter Berufung auf Staatsschutzgründe Informationen vorenthalten darf (BVerfGE 67, 139).
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3. Kap. : Der Deutsche Bundestag
tages abzielen: Durchsetzbar sind sie allenfalls dann, wenn ihre Realisierung sich nicht nur zugunsten der parlamentarischen Minderheit auswirkt, sondern auch der Mehrheit Vorteile verspricht, also die derzeitige Tarierung des Informationsgefälles nicht antastet.
3. Fraktionen und einzelnes Parlamentsmitglied Neben diesen, das Verhältnis der Mehrheits- und Minderheitsfraktionen betreffenden Auswirkungen hat die Aufgliederung des Bundestages - drittens - Konsequenzen, welche die Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten tangieren: Die Fraktionen verfügen - um die ihnen zufallende Rolle als parlamentarische Steuerungszentren wirksam erfüllen zu können - über Verfahrensrechte, die es ihnen ermöglichen, den politisch-parlamentarischen Geschäftsgang effektiv zu gestalten. Hierzu zählen beispielsweise • ihr Recht, „ihre" Mitglieder der Ausschüsse zu benennen und rückzurufen, • ihre zahlreichen Mitspracherechte im Ältestenrat, dem zentralen Steuerungsorgan für die Gestaltung des Parlamentsbetriebs (unten IV), ferner • Initiativrechte, die nur von ihnen, allenfalls von mehreren Abgeordneten gemeinsam, nicht aber von einem einzelnen Parlamentarier alleine ausgeübt werden können (i. e. unten VII.). Die Kehrseite der hierdurch begründeten Befugnisse der Fraktionen besteht darin, daß sie tendenziell zu Lasten des einzelnen Abgeordneten gehen, der - soweit er fraktionslos ist - über vergleichsweise nur geringe parlamentarische Gestaltungsmöglichkeiten verfügt (i.e. unten VII.) und der - soweit er Fraktionsmitglied ist - parlamentarische Initiativen weitgehend nur noch über und mit Zustimmung seiner Fraktion entfalten kann, in deren Disziplin er eingebunden ist (i.e. unten VI.). Aus der Sicht des einzelnen Parlamentariers mündet daher die Fraktionierung in ein Dilemma ein, indem sie zwar einerseits die kollektive - und damit effektive - Wahrnehmung parlamentarischer Rechte sichert, andererseits aber mit einer Beschränkung seiner individuellen Gestaltungsmöglichkeiten verbunden ist (auch § 4 III.). Diese Beschränkung erfährt eine weitere Verschärfung dadurch, daß die Aufgliederung des Bundestages in Fraktionen auch zur Herausbildung parlamentarischer Eliten führt, weil jede Fraktion im Interesse der Effizienz ihrer Arbeit eines wirksamen Managements bedarf, in dessen Händen die Organisation der fraktionsinternen Willensbildungsprozesse sowie die Wahrnehmung der Fraktionsrechte im Bundestag liegen (i.e. unten VI.). Mit dieser Rollenzuweisung ist zugleich für die Funktionsträger ein Zuwachs an Gestaltungsmöglichkeiten verbunden, der u.a. aus den ihnen übertragenen Entscheidungskompetenzen sowie aus der intensiveren Einbindung in parlamentsinterne und -externe Abläufe resultiert. Diese Folgen der Aufgliederung des Bundestages in Fraktionen widerstreiten indes - worauf insbesondere die Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform aufmerksam gemacht hat (i.e. unten § 11 V.) - dem Konzept des egalitär organisierten, nicht hierarchisch strukturierten Parlaments mit gleichberechtigten Mitgliedern (oben II.), weil diejenigen Abgeordneten, die nicht zu den Führungen der Fraktionen zählen, die Herausbildung der hierarchischen Strukturen als ungleiche Machtverteilung erleben, die sie in ihrer fraktionsinternen Konkurrenz und
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
221
in ihren parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten benachteiligt. Dem entsprechend baut sich neben der das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitsfraktionen betreffenden Konfliktlinie (oben III.) eine weitere auf, die zwischen den einzelnen Stufen der Hierarchie, zwischen den Fraktionen und ihren Führungen einerseits und den übrigen Parlamentsmitgliedern andererseits, verläuft. Hieraus erwächst der parlamentarischen Verfahrensordnung eine weitere zentrale Aufgabe, nämlich: festzulegen, wieweit der einzelne Abgeordnete durch die Einbindung in eine Fraktion „eigener Wirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten beraubt" werden darf (Jekewitz: 1989, S. 1041). Auch insoweit stellen sich demnach der parlamentarischen Verfahrensordnung antagonistische Zielsetzungen, indem sie die Rechte der Fraktionen einerseits und diejenigen der einzelnen Abgeordneten andererseits so auszubalancieren hat, daß jene die ihnen zukommenden strukturierenden und organisierenden Aufgaben der parlamentsinternen Steuerung (oben II.) sachgerecht wahrnehmen können, diese aber über diejenigen Gestaltungsmöglichkeiten verfügen, die ihnen Art. 38 G G garantiert (i.e. unten VII.). Hiernach haben die parlamentarischen Verfahrensregeln, welche für die Organisation und die Arbeitsweise des Deutschen Bundestages maßgebend sind, eine Reihe z.T. gegenläufiger Funktionen und Zielsetzungen zu erfüllen: Die parlamentarische Verfahrensordnung ist zum einen Kommunikations-, Interaktions- und Koordinationsordnung mit der Aufgabe, die Prozesse der parlamentarischen Willensbildung und Entscheidungsfindung zu organisieren. Sie ist insoweit nicht nur eine den Geschäftsgang und die Disziplin normierende formale Ordnung, sondern schafft mit der Anerkennung der arbeitsteiligen, auf Spezialisierung angelegten Organisationsstrukturen und der Gliederung in Fraktionen die entscheidenden Voraussetzungen für die Handlungs-, Funktions- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments. Sie balanciert zum weiteren Zuständigkeiten und Kompetenzen der an den Verfahren beteiligten Personen und Organe aus. Sie wirkt damit auf die parlamentsinternen Machtstrukturen ein und tariert divergierende Interessen aus, indem sie Regelungen vorsieht, die insbesondere das Verhältnis zwischen • • • •
dem Bundestag als Ganzem und seinen Mitgliedern, dem Plenum und den Ausschüssen, der parlamentarischen Mehrheit und der Opposition sowie den Fraktionen und den einzelnen Abgeordneten
betreffen.
IY. Organe der Selbstverwaltung Innerhalb der so skizzierten parlamentarischen Binnenstrukturen nehmen der Präsident des Bundestages, das Präsidium und der Ältestenrat als Organe der parlamentarischen Selbstverwaltung eine integrierende, den äußeren Ablauf der Arbeit des Bundestages planende und ordnende Rolle ein.
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1. Der Präsident § 7 GO-BT weist hierzu dem Präsidenten im wesentlichen vier Funktionen zu: die des Repräsentanten, der den Bundestag vertritt, die des Vorsitzenden, der die Arbeit des Bundestages fördert und seine Verhandlungen leitet, sowie die des Hausherrn, der die „Würde" und die „Ordnung" des Hauses wahrt (i.e. Bücker: 1989a, S. 798; Schick: 1989a, Wermser: 1984; mit historischen Bezügen § 5 II.). Hinzu tritt diejenige als Dienstherr der Verwaltung des Deutschen Bundestages (§ 7 Abs. 4 GO-BT), der derzeit ca. 2500 Mitarbeiterinnen angehören, denen technisch-organisatorische, administrative und wissenschaftliche Dienstleistungen für den Bundestag und seine Mitglieder obliegen (unten VIII.; auch § 5 V.). Nach Art. 40 Abs. 1 GG ist der Präsident durch den Bundestag zu wählen, wobei - entsprechend altem Parlamentsbrauch (oben II.) - das personelle Vorschlagsrecht bei der mitgliederstärksten Fraktion liegt, derem Vorschlag der Bundestag in der Regel folgt. Obgleich der gewählte Amtsinhaber Mitglied seiner Fraktion bleibt, wird von ihm erwartet, daß er - wie § 7 Abs. 1 GO-BT formuliert - „gerecht und unparteiisch" agiert, wobei dieses Neutralitätsgebot nicht nur für die Vorsitzendenfunktion, sondern auch für die Wahrnehmung der übrigen Aufgaben gilt. Als hiernach neutraler Repräsentant des Bundestages hat der Präsident demnach die Interessen des gesamten Parlaments sowohl im Außen- als auch im Innenverhältnis, also auch: gegenüber den z.T. antagonistischen Partikularinteressen der Mitglieder und der Fraktionen, zu vertreten. Im Innenverhältnis wird diese Maxime vor allem bei der Aufgabe, die Arbeiten des Bundestages zu fördern, virulent: Die Fülle der Verfahren (Übersicht 1), denen die Fraktionen - jeweils aus ihrer Sicht - unterschiedliche Prioritäten einräumen, bedarf der Koordinierung, die bereits weit im Vorfeld der öffentlichen Beratung im Plenum einzusetzen hat. Hierzu weist die Geschäftsordnung dem Präsidenten zum einen eine Reihe verfahrensleitender Befugnisse, zum anderen - und wichtiger - den Vorsitz im Ältestenrat zu, also in „demjenigen Lenkungsorgan, in dem die Arbeitsabläufe des Bundestages - einschließlich der Bestimmung der Zeitpläne, Termine und Tagesordnungen für die Plenarsitzungen - festgelegt und unter Berücksichtigung der Interessen der Fraktionen koordiniert werden" (Schick: 1989a, S. 155 sowie unten IV. und § 5 III.). Der Präsident entscheidet demnach zwar nicht alleine über den Ablauf der Verfahren, wohl aber bietet ihm das Amt des Vorsitzenden des Ältestenrates die Möglichkeit, zwischen den Fraktionen in Verfahrensfragen zu vermitteln und auf diese Weise dafür Sorge zu tragen, daß die Handlungsfähigkeit des Bundestages durch die Interessengegensätze der Verfahrensbeteiligten nicht blockiert wird (oben II.). Für diese Aufgabe hält die Geschäftsordnung indes so gut wie keine formellen Befugnisse bereit; sie verläßt sich insoweit ganz auf die Wirksamkeit informeller Möglichkeiten des Präsidenten, so daß sehr viel von dessen Verhandlungs- und Vermittlungsgeschick sowie von seiner Fähigkeit abhängt, Einigungs- oder Kompromißchancen zu erkennen und auf diese hinzuwirken. Im Gegensatz hierzu ist die Funktion des Präsidenten, die Vollversammlung des Bundestages als deren Vorsitzender zu leiten, durch eine Fülle formeller verfahrensleitender und -ordnender Befugnisse untermauert (i.e. Schick 1989a, S. 156, Bücker: 1989a, S. 798f.): Er eröffnet die Sitzung und die Aussprache (§ 23 GOBT), erteilt das Wort (§ 27 GO-BT), leitet die Wahlen und Abstimmungen (§ 48ff. GO-BT), schließt die Aussprache (§ 25 GO-BT) und entscheidet „während der Sitzung auftretende Zweifel über die Geschäftsordnung" (§ 127 Abs 1 Satz 1
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GO-BT), wobei er bei „alledem im Plenum Schutz vor Kritik an seiner Verhandlungsführung" genießt (Schick: 1989a, S. 156). Das parlamentarische Verfahrensrecht spielt insoweit in seiner traditionellen, den Geschäftsgang und die Disziplin normierenden Funktion (oben II.) dem Präsidenten auch das Recht zu Sanktionen gegenüber den Parlamentsmitgliedern zu: Er kann Redner, die vom Beratungsgegenstand abschweifen, zur Sache rufen (§ 36 Abs. 1 GO-BT) und ihnen notfalls das Wort entziehen (§ 37 GO-BT), Ordnungsverletzungen rügen, „unparlamentarisches Verhalten" während der Plenarsitzung mit einem Ordnungsruf belegen (§ 36 GO-BT), wegen „gröblicher Verletzung der Ordnung" gar den Ausschluß eines Abgeordneten von der Sitzung anordnen (§ 38 GO-BT). Diese sog. Plenarsitzungsgewalt, die der Präsident gegenüber den Parlamentariern ausüben kann, wird ergänzt durch die Ordnungsgewalt, die ihm in seiner Funktion als Hausherr gegenüber den sonstigen Teilnehmern und Zuhörern der Vollversammlung obliegt (§ 41 GO-BT). 2. Das Präsidium Gemäß § 5 GO-BT bilden der Präsident und seine Stellvertreter, die ebenfalls vom Bundestag zu wählen sind (§ 2 GO-BT; hierzu auch § 5 II.), das Präsidium. Die Anzahl der Stellvertreter des Präsidenten ist weder durch das Grundgesetz noch durch die Geschäftsordnung vorgeschrieben, so daß sie durch den Bundestag mit einfacher Mehrheit beschlossen werden kann. In der Praxis wird vor der jeweiligen Wahl die Zahl der Vizepräsidenten von den Fraktionen vereinbart, die sich hierbei zumeist auch über die zu wählenden Amtsinhaber sowie darüber verständigen, daß - im Hinblick auf § 7 Abs. 6 GO-BT-zumindest ein Vizepräsident der zweitstärksten Fraktion angehört. Auf diese Weise wird die Beteiligung der mitgliederstärksten Oppositionsfraktion am Präsidium sichergestellt. Zu den Aufgaben der Vizepräsidenten gehört zum einen die Vertretung des Präsidenten, wenn dieser verhindert ist (§ 7 Abs. 6 GO-BT). Zum anderen vertreten die Mitglieder des Präsidiums den Präsidenten in der Leitung der Sitzungen des Plenums und nehmen in dieser Funktion die Plenarsitzungs- und die Ordnungsgewalt (oben IV.) wahr. Darüber hinaus sind dem Präsidium als Kollegium Befugnisse eingeräumt: So übertragen die sog. Verhaltensregeln, die den Abgeordneten auferlegen, bestimmte Tätigkeiten und finanzielle Zuwendungen anzuzeigen, dem Präsidium die Aufgabe, dem begründeten Verdacht, ein Mitglied des Bundestages habe seine diesbezügliche Offenbarungspflicht verletzt, nachzugehen, hierzu das betreffende Mitglied anzuhören und Feststellungen zum Sachverhalt zu treffen, die sofern sie im Präsidium einmütig erfolgen - veröffentlicht werden können. Schließlich räumt die Geschäftsordnung den Vizepräsidenten bei einzelnen Verwaltungsentscheidungen des Präsidenten Mitspracherechte ein, die sich vor allem auf die Mitwirkung beim Abschluß von Verträgen erheblicher Bedeutung sowie auf Personalmaßnahmen im Bereich der Bundestagsverwaltung beziehen (i.e. § 7 Abs. 4 und 5 GO-BT). 3. Der Ältestenrat Dem Ältestenrat gehören neben dem Präsidenten die Vizepräsidenten sowie 23 weitere Mitglieder des Bundestages an, die von den Fraktionen im Verhältnis ih-
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rer Stärke (§ 12 GO-BT) benannt werden 3 , so daß er in Zusammensetzung und Struktur die politischen Kräfteverhältnisse widerspiegelt, wie sie im Plenum herrschen (parlamentsgeschichtlich § 5 III.). Zu seinen zentralen Aufgaben gehört gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 GO-BT die Verständigung zwischen den Fraktionen über den Arbeitsplan des Bundestages. Bei der Wahrnehmung dieser Funktion ist der Ältestenrat kein Beschlußorgan, so daß er die von § 6 Abs. 2 Satz 2 GO-BT gemeinte Verständigung nur einvernehmlich, also nach dem Konsensprinzip im Wege der Vereinbarung (oben II.) herbeiführen kann. Solche Vereinbarungen, die in der Regel von den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen (unten VI.) vorbereitet und im Ältestenrat sodann getroffen werden, beziehen sich vor allem auf (1) den j ährlichen Zeitplan des Bundestages, (2) die Festlegung und Einteilung der Sitzungswochen sowie (3) die Aufstellung der Tagesordnungen und die Abläufe der Sitzungen des Plenums (Kabel: 1982, S. 29). Im einzelnen: (1) Der Bundestag ist kein Parlament, das ständig tagt (zu Sitzungsperioden § 3 III.). Sitzungswochen wechseln mit sitzungsfreien Wochen, wodurch einerseits sichergestellt ist, daß die Abgeordneten wochenweise in ihren Wahlkreisen tätig sein können, andererseits jedoch die ohnehin knappe Ressource Zeit (oben II.), die für die parlamentarischen Beratungen zur Verfügung steht, sich nochmals verdichtet. Sorgsame Zeitplanung und -einteilung sind daher für den Bundestag von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In der Praxis legt der Ältestenrat deshalb schon recht frühzeitig für einen Jahreszyklus Anzahl (in der Regel: ca. 23) und Termine der Sitzungswochen fest, und zwar üblicherweise so, daß jeweils zwei, gelegentlich drei Sitzungswochen aufeinanderfolgen und für den Sommer eine längere Sitzungspause vorgesehen wird. (2) Für die hiernach festgelegten einzelnen Sitzungswochen hat sich eine relativ feste Einteilung eingespielt, die der Ältestenrat seinen Vereinbarungen zugrundelegt: Der Montag ist freigehalten für Sitzungen der Fraktionsvorstände (unten VI.), der Dienstag für die Vollversammlungen und die Arbeitsgruppen der Fraktionen (unten VI.); der Mittwoch ist i.w. für die Ausschüsse reserviert; der Donnerstag und Freitag sind in der Regel den Plenarberatungen vorbehalten. (3) Für die einzelnen Plenarsitzungen vereinbart der Ältestenrat die Tagesordnung (s.a. § 5 III), die jeweils die Beratungsgegenstände enthält - beispielsweise Gesetzentwürfe, Antrage der Fraktionen, Große Anfragen an die Bundesregierung und ihre Beantwortung, Berichte der Bundesregierung zur Unterrichtung des Bundestages (sog. selbständige Vorlagen, § 75 Abs. 1 GO-BT) sowie Beschlußempfehlungen und Berichte der Ausschüsse (sog. unselbständige Vorlagen, § 75 Abs. 2 GO-BT) - , die sämtlich als Bundestagsdrucksachen gedruckt und an die Mitglieder des Parlaments verteilt werden (§ 77 GO-BT). Die Festlegung, ob, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge solche Vorlagen für die Tagesordnung des Plenums berücksichtigt werden, ist wegen der 3
Im 12. Deutschen Bundestag können aufgrund Plenarbeschlusses vom 21. Februar 1991 sowohl die Gruppe der PDS/Linke Liste als auch die Gruppe Bündnis 90/DIE G R Ü N E N je ein Mitglied in den Ältestenrat entsenden; beide Gruppen haben von dieser Befugnis Gebrauch gemacht.
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unterschiedlichen Prioritäten, die ihnen die Fraktionen beimessen (oben IV.), häufig umstritten, weshalb gerade die Gestaltung der Tagesordnung dem Ältestenrat bisweilen einen erheblichen Koordinierungsaufwand abverlangt. Bei den hierauf abzielenden Verhandlungen des Ältestenrates befindet sich freilich die Mehrheit trotz der Geltung des Konsensprinzips in einer vergleichsweise günstigen Position, weil sie notfalls „ihre Wünsche, falls es nicht zu einer Vereinbarung im Ältestenrat kommt, im Plenum nach einem entsprechenden Aufsetzungsantrag mit Mehrheitsbeschluß realisieren kann" (Roll: 1989, S. 817). Andererseits ist jedoch auch die Minderheit nicht schutzlos, weil sie auf eine Reihe von Verfahrensvorschriften rekurrieren kann, die sicherstellen, daß die Beratungen von Vorlagen, die sie initiiert, nicht bis an das Ende der Wahlperiode verschoben und der Diskontinuität (oben II.) anheimgegeben werden. Diesem Ziel dient beispielsweise die - auch den Ältestenrat bindende - Regelung des § 20 Abs. 4 GOß T , nach der Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages auf Verlangen der Antragsteller auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt und beraten werden müssen, wenn seit der Verteilung als Bundestagsdrucksache mindestens sechs Sitzungswochen vergangen sind. Über die Tagesordnung hinaus vereinbart der Ältestenrat ferner Einzelheiten der Gestaltung der jeweiligen Plenarsitzung. Hierzu gehören zum einen die Festlegung, ob und zu welchen Tagesordnungspunkten eine Debatte stattfindet, zum anderen Vorschläge über die Dauer der Aussprachen, wobei zugleich die Kontingentierung der Redezeiten, die für die Fraktionen im Plenum jeweils zur Verfügung stehen, vereinbart wird: Insoweit läßt die Verfahrensordnung sowohl eine proportionale, an der Stärke der einzelnen Fraktionen orientierte Redezeitverteilung als auch die Vereinbarung paritätischer Redezeiten (durch die kleinere Fraktionen begünstigt werden) zu 4 , wobei allerdings bei den Planungen zu gewährleisten ist, daß auch fraktionslose Abgeordnete während der Debatte zu Wort kommen können (BVerfGE 80, S. 229; Lipphardt: 1976, S. 49ff.; Ziekow: 1991, S. 33). Darüber hinaus unterbreitet der Ältestenrat zu den einzelnen Beratungsgegenständen dem Plenum Verfahrensvorschläge, beispielsweise, ob und an welchcn Ausschuß eine Vorlage zur Beratung überwiesen werden soll. Die Vereinbarungen des Ältestenrates zur Tagesordnung verpflichten den Präsidenten des Bundestages in seiner Eigenschaft als Vorsitzenden des Ältestenrates, sie drucken und an die Mitglieder des Bundestages rechtzeitig vor Beginn der jeweiligen Plenarsitzung verteilen zu lassen (Roll: 1989, S. 825). Gegenüber dem Plenum entfalten die Vorschläge des Ältestenrates indes keine bindende Wirkung, da die Vollversammlung auf Antrag eines ihrer Mitglieder Änderungen der Tagesordnung, der vorgeschlagenen Redeordnung und der sonstigen Verfahrensvorschläge des Ältestenrates beschließen kann. In der Praxis macht das Plenum von dieser Befugnis - von den Ausnahmen abgesehen, in denen die parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen kurzfristig einvernehmliche Änderungen der Tagesordnung empfehlen - selten Gebrauch, woran sich - in den Worten von H.-A. Roll (:1989, S. 825) - „zeigt, daß der Ältestenrat in der Regel seine Entlastungsfunktion für das Plenum erfolgreich wahrnimmt."
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Im 12. Deutschen Bundestag erhalten die Gruppe von PDS/Linke Liste und die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN „Redezeit entsprechend ihrer Stärke im Verhältnis zu den Fraktionen des Deutschen Bundestages und nach näherer Vereinbarung im Ältestenrat", vgl. PI.-Prot. 12/9, S. 397 sowie BT-Drsn. 12/149 und 12/150 (unten VII.).
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Neben dieser Funktion fallen dem Ältestenrat zwei weitere Aufgaben zu, nämlich die allgemeine: den Präsidenten in der Führung der Geschäfte des Bundestages zu unterstützen, sowie die besondere: „über die inneren Angelegenheiten des Bundestages" zu beschließen, „soweit sie nicht dem Präsidenten oder dem Präsidium vorbehalten sind" (§ 6 Abs. 3 GO-BT). Mit dem - unscharfen - Terminus „innere Angelegenheiten" ist eine Fülle von Aufgaben angesprochen, die sich insbesondere auf den funktionalen - aber durchaus wesentlichen - Aspekt der Arbeiten des Bundestages beziehen, also vor allem die logistischen, technischen und finanziellen Rahmenbedingungen für den Ablauf der Arbeiten des Plenums, der Ausschüsse, der Fraktionen und der Mitglieder des Bundestages betreffen. Drei der insoweit relevanten Aufgabenbereiche hebt die Geschäftsordnung ausdrücklich hervor: Sie konkretisiert - erstens - die in diesem Zusammenhang wichtigste Aufgabe des Ältestenrates, nämlich: den Voranschlag für den Haushaltseinzelplan des Bundestages aufzustellen (§ 6 Abs. 3 Satz 3 GO-BT), dessen Volumen sich derzeit auf ca. 900 Millionen DM beläuft; sie normiert-zweitensdie Befugnis des Ältestenrates, über die Verwendung der dem Bundestag vorbehaltenen Räume zu verfügen, womit vor allem gemeint ist, Entscheidungen über die Raumverteilung auf die Fraktionen, die Mitglieder des Parlaments und die Bundestagsverwaltung zu treffen; drittens schließlich erwähnt § 6 Abs. 4 GO-BT die Zuständigkeit des Ältestenrates für die Angelegenheiten der Bibliothek, des Archivs und anderer Dokumentationen, für die der Altestenrat einen ständigen Unterausschuß einzusetzen hat (mit historischen Bezügen § 5 V.). Über alle inneren Angelegenheiten entscheidet der Ältestenrat nicht nach dem Konsensprinzip, sondern als Beschlußorgan mit Stimmenmehrheit. Seine Beschlüsse werden dabei von Kommissionen vorbereitet, die der Ältestenrat - neben dem in § 6 Abs. 4 GO-BT erwähnten Unterausschuß - in ständiger Praxis einsetzt und deren Zuständigkeitsbereiche das Spektrum der inneren Angelegenheiten im wesentlichen abdecken. In der 12. Wahlperiode sind dies u.a.: • • • • •
die Kommission für den Haushalt, die Kommission für die Rechtsstellung der Abgeordneten, die Kommission für die Raumverteilung, die Kommission für Mitarbeiterangelegenheiten, die Kommission für den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken und -medien.
Anzahl und Aufgabenbereiche der Kommissionen legt der Ältestenrat autonom fest. Diese Befugnis ermöglicht ihm auch, flexibel auf jeweils neue Anforderungen im Bereich der inneren Angelegenheiten zu reagieren. Die - seit 1986 verstärkt - in Angriff genommene Ausstattung der Büros der Abgeordneten und der Verwaltung des Bundestages mit „neuen Informations- und Kommunikationstechniken" (i.e. unten VIII.), zu deren Einführung die namensgleiche Kommission des Ältestenrates die maßgeblichen Planungsvorgaben erarbeitet (hat), bilden ein Beispiel hierfür.
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V. Ausschüsse Während die Organe der Selbstverwaltung vornehmlich für den ordnungsgemäßen formellen Ablauf der parlamentarischen Arbeiten Sorge zu tragen haben, obliegt den Ausschüssen die Hauptlast der fachlich-politischen Arbeit (dazu auch § 5 IV.), die in dem nach Aufgaben differenzierten arbeitsteiligen System des Bundestages im wesentlichen drei zu unterscheidenden Ausschußtypen übertragen ist, nämlich: • den Fachausschüssen • Gremien mit besonderen investigativen und kontrollierenden Funktionen: sowie • sonstigen Gremien mit speziellen Zuständigkeiten. Im einzelnen:
1. Fachausschüsse Die Fachausschüsse setzt der Bundestag jeweils zu Beginn einer Wahlperiode für deren Dauer, also als ständige Gremien, ein. Einige von ihnen - so der Auswärtige und der Verteidigungs- sowie der Petitionsausschuß - sind aufgrund ausdrücklicher Verfassungsbestimmungen (Art. 45a, 45c GG) zwingend einzurichten, die Existenz anderer - so vor allem die des Haushaltsausschusses - wird von einzelnen Gesetzen implizit vorausgesetzt. Soweit solche verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Vorgaben nicht bestehen, kann der Bundestag Anzahl und Aufgabenbereiche der Ausschüsse autonom festlegen; in der Praxis hat sich hierzu seit 1969 ein relativ festes Schema eingespielt, indem die Ausschüsse - von fünf Ausnahmen abgesehen 5 - in spiegelbildlicher Übereinstimmung mit den Ressortgliederungen der Bundesregierung eingesetzt werden (Übersicht 3). a) Zusammensetzung und Grundzüge der Organisation der Fachausschüsse Mit der Einsetzung der Ausschüsse bestimmt der Bundestag zugleich die jeweilige Anzahl der Ausschußmitglieder (§ 57 Abs. 1GO-BT), wobei er für die einzelnen Ausschüsse Differenzierungen vornimmt (Übersicht 3), die der unterschiedlichen Arbeitslast, aber auch der jeweiligen Bedeutung, die einem Ausschuß beigemessen wird, Rechnung tragen. Die vom Bundestag festgelegten Sitze in den einzelnen Ausschüssen werden sodann, wie erwähnt (oben II.), auf die Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke aufgeteilt, wodurch einerseits sichergestellt ist, daß alle Fraktionen, also auch die Opposition, in den Ausschüssen vertreten sind, und andererseits erreicht ist, daß die Parlamentsmehrheit auch in den Ausschüssen über die Mehrheit verfügt: Diese Binnenstruktur der Ausschüsse ist u.a. mit Rücksicht auf ihre Rolle als vor-
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Die Ausnahmen betreffen den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Petitionsausschuß, den Sportausschuß, den Ausschuß für Fremdenverkehr und den EG-Ausschuß.
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bereitende, das Plenum entlastende Beschlußorgane (oben III.) notwendig; denn würden die Mehrheitsverhältnisse nicht denjenigen im Plenum entsprechen, so wäre manche Vorarbeit der Ausschüsse vergebens, weil die Vollversammlung dann „in den strittigen Fragen die Empfehlungen der Ausschüsse ablehnen ... und die Mehrheit im Plenum ihre Auffassung durch Änderungsanträge" durchsetzen würde (Trossmann: 1979, S. 113). Entsprechend der Verteilung der Ausschußsitze auf die Fraktionen benennen diese ihre jeweiligen Ausschußmitglieder und deren Stellvertreter (oben III.; näher: Dexheimer: 1982, S. 259). Hinzutreten derzeit im 12. Bundestag je ein Mitglied der PDS/Linke Liste und des Bündnis 90/DIE G R Ü N E N (oben Übersicht 3 mit Anm. 2). Gegebenenfalls benennt der Präsident weitere fraktionslose Abgeordnete, die er einzelnen, von ihm zu bestimmenden Ausschüssen mit der Maßgabe zuweist, daß sie zwar Rede- und Antrags-, nicht jedoch das Stimmrecht im Ausschuß besitzen (§ 57 Abs. 2 GO-BT), welches ihnen deshalb nicht zugestanden wird, weil andernfalls die geschilderten Mehrheits-/Minderheitsverhältnisse im Ausschuß verschoben würden (zur Zulässigkeit dieses Verfahrens B V e r f G E 80,224ff.). Sobald die Ausschußmitglieder benannt sind, beruft der Präsident die Ausschüsse zu ihrer jeweils ersten - der konstituierenden - Sitzung ein, während der er die Bestimmung des jeweiligen Vorsitzenden durch den Ausschuß leitet. Sie ist keine echte Wahl, da die Frage, welche Fraktion den Ausschußvorsitz beanspruchen kann, zuvor im Ältestenrat zwischen den Fraktionen abgesprochen ist (§ 58 GOBT): Maßgebende Vorschrift hierfür ist § 12 GO-BT, wonach (auch) die „Regelung des Vorsitzes im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen" vorzunehmen ist, so daß nicht nur die Mehrheit, sondern auch die Opposition Vorsitzenden-Ämter besetzt (i. e. Übersicht 3). Das personelle Vorschlagsrecht schließlich liegt bei der Fraktion, der der Ausschußvorsitz zusteht. Es wird formell dadurch ausgeübt, daß ein Mitglied der vorschlagsberechtigten Fraktion in der konstituierenden Sitzung den für das Vorsitzendenamt designierten Abgeordneten benennt, der sodann per Akklamation durch die Ausschußmitglieder zum Vorsitzenden bestimmt wird. Nach demselben Verfahren wird dessen Stellvertreter berufen, der in der Regel demjenigen Lager - Regierungs-/Oppositionsfraktionen - angehört, das nicht den Vorsitzenden stellt (Übersicht 3). Die Rolle des Stellvertreters beschränkt sich freilich darauf, die Geschäfte des Vorsitzenden bei dessen Abwesenheit zu führen, so daß er keine besonderen Funktionen hat, solange der Vorsitzende anwesend ist und amtiert. Ständig gefordert ist dagegen die Arbeit derjenigen Ausschußmitglieder, die die Fraktionen im Ausschuß zu ihrem jeweiligen Obmann oder ihrer Obfrau wählen: Sie nehmen in den Ausschüssen Schlüsselstellungen ein, indem sie zum einen als Chefs der jeweiligen Fraktion im Ausschuß deren Interessen verfolgen, die Fraktionsarbeit im Ausschuß konzipieren und koordinieren sowie die hierzu notwendigen Verfahrenshandlungen initiieren. Z u m anderen bilden die Obleute im jeweiligen Ausschuß ein - in der Geschäftsordnung nicht vorgesehenes - informelles Gremium, das den Ausschußvorsitzenden in der Führung der Geschäfte, insbesondere bei der Planung des Ablaufs der Ausschußarbeit, unterstützt und in sog. Obleutegesprächen zu Verfahrensfragen Abmachungen (oben I.) trifft, welche die - ggf. divergierenden - Interessen der Fraktionen berücksichtigen und möglichst zum Ausgleich bringen.
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b) Aufgaben der Fachausschüsse Die für die Arbeit der Ausschüsse maßgebende Kernvorschrift des § 62 GO-BT weist den Fachausschüssen zwei Aufgaben zu: zum einen die, als vorbereitende Beschlußorgane des Bundestages diesem „bestimmte Beschlüsse zu empfehlen, die sich nur auf die ihnen überwiesenen Vorlagen oder mit diesen in unmittelbarem Sachzusammenhang stehenden Fragen beziehen dürfen"; zum anderen können sich die Fachausschüsse „mit anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich befassen" (sog. Selbstbefassungsrecht, § 62 Abs. 1 Satz3 GO-BT). Die erstgenannte Aufgabe ist die traditionelle: Sie bezieht sich auf Vorlagen, die das Plenum - in bestimmten Einzelfällen der Präsident - dem jeweiligen Ausschuß zur Beratung überweist, und betrifft namentlich Gesetzentwürfe (§ 75 Abs. 1 a GO-BT): Sie werden in der Regel mehreren Ausschüssen überwiesen, wobei das Plenum - aufgrund von Vorabsprachen der Fraktionen im Ältestenrat zugleich bestimmt, welche Ausschüsse „nur" mitberatend tätig werden und welcher Ausschuß „federführend" ist. Diese Unterscheidung ist deshalb wesentlich, weil ausschließlich der federführende Ausschuß berechtigt und verpflichtet ist, nach Abschluß seiner Beratungen dem Plenum die in § 62 Abs. 2 Satz 1 GO-BT angesprochene Beschlußempfehlung zu unterbreiten, wohingegen die mitberatenden Ausschüsse ihre Stellungnahme nur dem federführenden Ausschuß vorlegen können (i.e. § 63 GO-BT). Die zweitgenannte Befugnis der Ausschüsse, „sich mit anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich befassen" zu dürfen, ist relativ jüngeren Datums: Sie war zunächst aufgrund der Befürchtung, das - ohne Beteiligung des Plenums ausgeübte - Selbstbefassungsrecht könne einer weiteren Atomisierung des Parlaments Vorschub leisten (oben III.), äußerst umstritten und wurde erst 1969 in der Geschäftsordnung verankert, nachdem sich das praktische Bedürfnis in den Ausschüssen durchgesetzt hatte, sich - losgelöst von einzelnen Gesetzesentwürfen mit Planungen, Vorhaben und Tätigkeiten des jeweils korrespondierenden Bundesressorts zu befassen. Die in § 62 Abs. 1 Satz 3 GO-BT niedergelegte Befugnis der Ausschüsse dient der Stärkung der parlamentarischen Kontrolle, wobei der ebenfalls seit 1969 praktizierte - „Ressortzuschnitt der Fachausschüsse" (oben V.) dieses Ziel flankiert, weil er „eine dichte und - das ist wesentlich - nicht nur nachlaufende, sondern begleitende und mitsteuernde parlamentarische Kontrolle der Ministerien" gewährleistet (Zeh: 1989, S. 1091). Wenn auch die Norm des § 62 Abs. 1 GO-BT zwischen der Beratung überwiesener Vorlagen, also insbesondere von Gesetzentwürfen, einerseits (Satz 2) und sonstiger Fragen (Satz 3) andererseits unterscheidet, so verwischen sich doch in der Praxis die Konturen der normativ strikt geschiedenen Aufgabenbereiche, weil die „gesetzgebende" und die „kontrollierende" Funktion der Ausschüsse zunehmend miteinander verschränkt sind. W. Zeh (:1989, S. 1091f.) hat diesen Befund treffend umschrieben: „Da die Mehrzahl der Gesetzentwürfe, entsprechend der Logik der parlamentarischen Regierungsform, von der Regierung vorgelegt und in ihren Ministerien erarbeitet wird, hat die Bearbeitung, Prüfung und gegebenenfalls Änderung dieser Entwürfe durch den zuständigen Bundestagsausschuß nicht nur den Charakter einer Teilaufgabe auf dem Weg der Gesetzesvorbereitung, sondern auch den der parlamentarischen Kontrolle der Regierung. Gesetzgebung ist in den umfassenden Kontrollprozeß einverteilt und wird tendenziell zu einem seiner Bestandteile. Die Attraktivität dieser Entwicklung liegt darin, daß sie beiden Seiten des Bundestages, der Regierungsmehrheit und der
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Opposition, Vorteile bietet. Die kontrollierende Mitsteuerung („control") der Mehrheit im Ausschuß unterstützt die verfassungsrechtlich durch Art. 63,67 und 68 G G angelegte Rückbindung der Regierung an die Parlamentsmehrheit, während die stärker kontrovers und alternativ angelegte Kontrolle der Opposition („contre-role") zugleich und dennoch vom Mitsteuerungscharakter der im Entscheidungsstadium mehrheitsgeprägten Ausschußarbeit profitiert und so ebenfalls begleitend - und das heißt vor allem auch informationsvermittelnd - ausgeübt wird." (hierzu auch § 9IV.)
c) Grundzüge des Ausschußverfahrens Die Beratung der ihnen überwiesenen Vorlagen und die Befassung mit anderen Fragen, die in der Regel auf der B asis eines schriftlichen oder mündlichen B erichtes des korrespondierenden Bundesministeriums erfolgt, führen die Ausschüsse in den regelmäßig während der Sitzungswochen mittwochs stattfindenden Ausschußsitzungen durch. Sie erfordern eine detaillierte Planung und Vorbereitung, und zwar sowohl durch den Vorsitzenden als auch durch die Fraktionen im Ausschuß, insbesondere deren Obleute: Der Vorsitzende setzt, sofern der Ausschuß nicht Abweichendes zuvor beschließt, Termin und Tagesordnung fest (§ 61 Abs. 1 GO-BT), in der die Beratungsgegenstände der betreffenden Ausschußsitzung aufgeführt sind; zugleich benennt er - nach Rücksprache mit den Obleuten und vorbehaltlich der Entscheidung des Ausschusses - einen oder mehrere Berichterstatter für jeden Verhandlungsgegenstand (§ 65 GO-BT), denen die Aufgabe obliegt, die Beratung der Vorlage fachlich und politisch in Abstimmung mit ihrer jeweiligen Fraktion vorzubereiten (Einzelheiten bei Jekewitz: 1986, S. 399; Weng: 1984, S. 31). Die Tagesordnung wird sodann gedruckt und den Ausschußmitgliedern rechtzeitig (§ 61 Abs. 1 GO-BT) zugeleitet, die alsdann in den Arbeitsgruppen, welche von den jeweiligen Mitgliedern einer Fraktion im Ausschuß gebildet werden (i.e. unten VI.), die Verhandlungsgegenstände vorberaten und hierbei die Haltung ihrer Gruppe im Ausschuß festlegen. Die Ausschußsitzung selbst steht unter der Leitung des Vorsitzenden (§ 59 Abs. 1 GO-BT), der die einzelnen Tagesordnungspunkte aufruft, das Wort erteilt (§ 59 Abs. 2 GO-BT) und die Abstimmungen des Ausschusses leitet. In der Praxis hat sich für die Abwicklung der einzelnen Tagesordnungspunkte ein relativ festes Schema eingespielt: Zunächst erhalten die Berichterstatter das Wort, die zum einen eine einführende Sachdarstellung geben und zum anderen die politische Wertung ihrer Fraktion vortragen und entsprechende Anträge stellen, z.B. Passagen eines Gesetzentwurfs zu ändern, dem Plenum die Annahme oder die Ablehnung einer Gesetzesvorlage zu empfehlen, einen Bericht zur Kenntnis zu nehmen oder die Bundesregierung um Informationen zu ersuchen. Im Anschluß hieran findet gegebenenfalls eine Aussprache statt, an der sich auch die übrigen Ausschußmitglieder beteiligen, denen der Vorsitzende das Wort in der Reihenfolge der Wortmeldungen und unter Berücksichtigung der in § 28 GO-BT normierten Grundsätze erteilt, wonach ihn „die Sorge für die sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen" zu leiten hat. Im Rahmen dieser Aussprache können die Ausschußmitglieder auch die Beauftragten der Bundesregierung - dies sind in der Regel Beamte des korrespondierenden Ministeriums - befragen, die ebenso wie die Beauftrag-
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ten des Bundesrates an den Ausschußsitzungen teilnehmen und denen im übrigen, wie erwähnt, auf ihr Verlangen das Wort zu erteilen ist. Nach Abschluß der Aussprache, die sich - je nach Beratungsgegenstand - über eine oder mehrere Sitzung(en) erstreckt, stimmt der Ausschuß über die gestellten Anträge ab, die • abgelehnt sind, wenn sie nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, • angenommen sind, wenn sie die Zustimmung der Mehrheit finden. Dem Vorsitzenden obliegt sodann die Durchführung der Ausschußbeschlüsse (§ 59 Abs. 1GO-BT).
2. Gremien mit besonderen investigativen oder kontrollierenden Aufgaben Neben den ständigen Fachausschüssen sind weitere Gremien mit speziellen kontrollierenden oder investigativen Aufgaben betraut. (1) Hierzu zählen zum einen diejenigen Kommissionen, die die Nachrichtendienste des Bundes kontrollieren (i.e. Miltner: 1990, S. 53). Dies sind: • die Parlamentarische Kontrollkommission, welcher die Kontrolle der Bundesregierung hinsichtlich der Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes und des Bundesnachrichtendienstes obliegt (oben §9IV.). • das Gremium gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz, dem Kontrollaufgaben im Zusammenhang mit Maßnahmen übertragen sind, welche die Nachrichtendienste zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses veranlassen, sowie • das sog. Vertrauensgremium nach § 10 a Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung, das die geheimzuhaltenden Wirtschaftspläne (= Haushaltspläne) der Nachrichtendienste zu beraten und festzulegen hat. (2) Zum weiteren sieht die parlamentarische Verfahrensordnung in Art. 44 G G die erwähnte Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen vor. Sie unterscheiden sich von den Fachausschüssen dadurch, daß sie - anders als diese - nicht ständig, sondern nur punktuell zu einem bestimmten Zweck und Auftrag eingesetzt werden, ihre Verfahren grundsätzlich öffentlich führen (Art. 44 Abs. 2 GG) und über Beweiserhebungsrechte sowie Zwangsmittel der Strafprozeßordnung (Art. 44 Abs. 2 GG) verfügen, mit deren Hilfe sie sich auch gegen den Willen eines Informationsträgers relevante Informationen beschaffen können. Unter den bislang 28 nach Art. 44 G G eingesetzten Untersuchungsausschüssen dominieren die sog. Kontrollenqueten, die ein bestimmtes Verhalten der Bundesregierung und der ihr nachgeordneten Behörden zu untersuchen und unter politischen wie rechtlichen Gesichtspunkten zu bewerten haben und die - entsprechend der erwähnten parlamentsinternen Interessenslage - in der Regel von der Opposition initiiert werden. In der jüngeren Vergangenheit gewinnt jedoch zunehmend ein neuer Untersuchungsausschußtyp an Bedeutung, der als Skandalenquete bezeichnet wird und dessen Aufgabe u.a. auch darin besteht, als problematisch empfundene Sachverhalte und Mißstände in nichtstaatlichen, privatwirtschaftlichen Bereichen aufzuklären (näher: Engels: 21992, S. 15ff.).
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Das parlamentarische Untersuchungsrecht ist nach dem Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 G G gegenständlich nicht limitiert; Rechtsprechung und parlamentarische Praxis gehen jedoch - mit Recht - davon aus, daß sich Beschränkungen aus dem Normensystem des Grundgesetzes ergeben und parlamentarische Untersuchungen daher nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig sind (Engels: 1988, S. 209ff. m.z.w.N.; Hilf: 1987, S. 138): Erstens muß der Untersuchungsauftrag konkret und bestimmt beschrieben sein; er darf - zweitens - bei Enqueten, die auf die Kontrolle der Regierungstätigkeit ausgerichtet sind, aus Gründen der bundesstaatlichen Kompetenzordnung nur das Verhalten der Bundesregierung und der ihr nachgeordneten Behörden, nicht die den Staatsorganen der Bundesländer vorbehaltenen Materien betreffen und darüber hinaus - aus Gründen der Gewaltenteilung - nur auf solche Vorgänge bezogen sein, die bereits abgeschlossen und nicht dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (z.B. Kabinettsberatungen) zuzurechnen sind (i.e. Engels: 1990, S. 71). Drittens schließlich müssen Untersuchung und Aufklärung der im Untersuchungsauftrag bezeichneten Tatbestände im öffentlichen Interesse liegen. Zudem dürfen Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 G G nicht zum Zwecke der Aufklärung eines Untersuchungsgegenstandes „auf dem Gebiet der Verteidigung" (Art. 45 Abs. 3 G G ) eingesetzt werden. Dies bedeutet nicht, daß insoweit keine mit den Rechten eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ausgestattete Kontrolle stattfände; vielmehr sind diese Rechte nach Art. 45 G G ausschließlich dem Verteidigungsausschuß vorbehalten, der von dieser Befugnis bislang elfmal Gebrauch gemacht hat (hierzu unten § 11IV.). Alle diese Zulässigkeitsvoraussetzungen hat der Bundestag vor der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu prüfen, wobei für den Fall, daß die Mehrheit der Auffassung ist, eine dieser Voraussetzungen liege nicht vor, die Einsetzung zu unterbleiben hat - und zwar auch dann, wenn der Einsetzungsantrag von der qualifizierten Minderheit gestellt ist: Deren Einsetzungsanspruch (oben III.) ist daher durch Entscheidungsbefugnisse der Mehrheit über die rechtliche Zulässigkeit der Untersuchung überlagert, wobei der qualifizierten Minderheit jedoch die Organklage beim Bundesverfassungsgericht offensteht, wenn ihr Einsetzungsantrag nicht die mehrheitliche Zustimmung des Plenums findet (zu Einzelheiten: Engels: 2 1992,S.48ff.). Soweit der Bundestag den Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses annimmt, gelten für dessen Konstituierung, die Bestimmung des Vorsitzenden und seines Stellvertreters sowie für die Besetzung 6 die allgemeinen, auf die Fachausschüsse zugeschnittenen Regeln (oben V.), was vor allem bedeutet, daß auch die Untersuchungsausschüsse die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse widerspiegeln, die im Plenum des Bundestages herrschen. Hinsichtlich des Verfahrens der Untersuchungsausschüsse ist jedoch eine Reihe von Besonderheiten beachtlich, die aus den spezifischen Zwecken der parlamentarischen Untersuchung resultieren: In rechtlicher Hinsicht gibt der vom Plenum beschlossene Untersuchungsauftrag die entscheidende Vorgabe, wobei der Untersuchungsausschuß aufgrund der gemäß Art. 44 Abs. 2 G G anzuwendenden
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Aufgrund Plenarbeschlusses vom 21. Februar 1991 können im 12. Deutschen Bundestag die Gruppe von PDS/Linke Liste und die Gruppe Bündnis 90/DIE G R Ü N E N „durch jeweils ein Mitglied an der Arbeit der ... Untersuchungsausschüsse mitwirken" (unten VII.).
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Vorschrift des § 244 Abs. 2 der Strafprozeßordnung (StPO) „zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrekken hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind". Beweismittel sind dabei Urkunden, Zeugen, Sachverständige und der sog. Augenschein, der darin besteht, daß der Ausschuß sich selbst ein Bild von der Existenz, Lage oder Beschaffenheit einer Sache oder einem Vorgang macht. Die aufgrund dieser Beweismittel gewonnenen Erkenntnisse hat der Ausschuß dem Plenum des Bundestages in einem Bericht darzustellen, so daß das formelle Ziel eines Untersuchungsverfahrens in der Unterrichtung des Bundestages über die aufgeklärten und bewerteten, durch den Untersuchungsauftrag bezeichneten Tatsachenkomplexe besteht. Neben diesen rechtlichen Gesichtspunkten spielen jedoch parteipolitische und -taktische Sichtweisen für die Untersuchung eine entscheidende Rolle. Insoweit ist der hochgesteckte Rahmen, „Wahrheit zu erforschen" (§ 244 Abs. 2 StPO), a priori relativiert, weil im Untersuchungsverfahren die Wahrheit-wie immer man sie definieren mag - in aller Regel mit durchaus unterschiedlichen Brillen betrachtet wird. Dies wirkt sich so aus, daß die Untersuchungsausschüsse sich meist in zwei Lager scheiden: hier die oppositionelle Minderheit, dort die Mehrheit hier die Angreifer, dort die Verteidiger. Untersuchungsausschüsse werden deshalb zu Recht als „Kampfesforen" politischer Interessen bezeichnet, in denen „Proporzwahrheiten" gefördert werden, was freilich nicht heißen muß, „daß diese nicht der Wahrheit insoweit näher kommen, als in ihnen unterschiedliche Urteilsmaßstäbe offener zum Ausdruck gelangen als in gerichtlichen Urteilen über den zur Untersuchung stehenden Fall" (Thaysen: 1988b, S. 23). Freilich: Damit zumindest - dies gelingt, bedarf es Verfahrens Vorkehrungen, die sicherstellen, daß die Verfahrensherrschaft nicht alleine bei der Mehrheit im Ausschuß liegt und auch die Interessen der Minderheit im Ausschuß während des Gangs sowie beim Abschluß der Untersuchung zur Geltung kommen (hierzu i.e. unten § 11 IV.). (3) Den dritten, in vorliegendem Zusammenhang interessierenden Typus parlamentarischer Gremien verkörpern die Enquete-Kommissionen. Ihre Rechtsgrundlage findet sich in § 56 GO-BT, der den Bundestag berechtigt - auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet - , sie zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe einzusetzen. Mit den Untersuchungsausschüssen teilen sie das Schicksal, daß sie nicht zu den ständigen Gremien zählen, nur punktuell zu einem bestimmten, spätestens innerhalb der jeweiligen Wahlperiode zu erfüllenden Projektauftrag eingesetzt werden und ebenfalls komplexe Sachverhalte zu ermitteln und zu bewerten haben. Von ihnen unterscheiden sie sich jedoch in zweierlei Hinsicht: zum einen in personeller, indem ihre Zusammensetzung nicht nur Parlamentarier, sondern auch externe Sachverständige umfaßt, die „im Einvernehmen der Fraktionen benannt und vom Präsidenten berufen" werden (§ 56 Abs. 2 GO-BT). Zum anderen verfügen die Enquete-Kommissionen nicht wie die Untersuchungsausschüsse über die Beweiserhebungsrechte nach der Strafprozeßordnung, wobei dieser Unterschied aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben beider Gremien gerechtfertigt ist: Während es nämlich den Untersuchungsverfahren um die-gerichtsähnlicheAufklärung eines abgeschlossenen, in der Vergangenheit liegenden Sachverhaltes geht, ist die Blickrichtung der Tätigkeit der Enquete-Kommissionen prospektiv ausgerichtet, indem ihnen die vornehmlich nach wissenschaftlichen Methoden durchzuführende Informationsbeschaffung für die zukünftige Bewältigung eines Problemfeldes obliegt. Diesem Sujet ist die beratende Wissensvermittlung durch
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die Integrierung externen wissenschaftlichen Sachverstandes in die parlamentarische Vorbereitungsarbeit (Zeh: 1989, S. 1095) zweifelsohne eher angemessen als die Nutzung des Normensystems der Strafprozeßordnung. Obwohl § 74 G O - B T die auf die Fachausschüsse zugeschnittenen Regeln der Geschäftsordnung für entsprechend anwendbar erklärt, gelten für die Verfahren der Enquete-Kommissionen einige Besonderheiten. Diese resultieren aus der atypischen personellen Zusammensetzung und den spezifischen Aufgabenstellungen und betreffen in erster Linie die Arbeitsmethoden: Während die Fachausschüsse in der Regel ihre Beratungen an bereits erstellten schriftlichen Vorlagen der Exekutive (Gesetzentwürfe, Berichte etc.) orientieren, stehen für die Enquete-Kommissionen die eigenständige Erarbeitung und Erforschung relevanter Problemfelder und ihrer faktischen und normativen Bezüge im Vordergrund, wobei Verfahrensziel ist, Lösungsmodelle zu entwickeln und dem Parlament zu unterbreiten. Mit diesem Ziel und der hierauf ausgerichteten Arbeitsmethode korrespondiert, daß die enquete-internen Interaktionsmuster in stärkerem Maße dialogisch ausgerichtet sind, offenere Diskurse zulassen und Enquete-Kommissionen daher anders als Fach- und Untersuchungsausschüsse - sich nicht a priori in die fest formierten Lager (Regierungsfraktionen/Opposition) gliedern. Diese interne Struktur erhöht in der Tat - wie H. Backhaus-Maul (: 1990, S. 43) mit Recht feststellt „die Variationsbreiten von Argumentationen und läßt kontroverse Sacherörterungen mittels Überzeugungskraft von guten Argumenten und wechselnden .Koalitionen' wahrscheinlich werden." Dies liegt u.a. daran, daß die Sachverständigen zwar von den Fraktionen benannt werden, diesen jedoch weder in ihren wissenschaftlichen Auffassungen noch in ihren politischen Wertungen verpflichtet sind. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß (auch) die Enquete-Kommissionen von politischen und taktischen Vorgaben der Fraktionen beeinflußt werden: Die parlamentarischen Kommissionsmitglieder stimmen - nicht anders als die Mitglieder der Fachausschüsse - ihre Haltungen mit ihren jeweiligen Fraktionen ab, orientieren ihre Positionen an deren politischen Zielsetzungen und gehen dementsprechend den Kommissionsauftrag auch unter dem Blickwinkel parteipolitischer Wertungen und unter dem Aspekt der „politischen Machbarkeit" an. Diese Grundhaltung widerstreitet den Arbeitsweisen der sachverständigen Mitglieder, die sich - jedenfalls in der Regel - den Richtigkeits- und Wahrheitspostulaten ihrer Wissenschaften und weniger den politisch orientierten Problemlösungsstrategien verpflichtet fühlen. Die hieraus resultierenden enquete-internen Antagonismen führen in der praktischen Arbeit zwischen parlamentarischen und nichtparlamentarischen Mitgliedern zu nicht spannungsfreien Konkurrenzsituationen (i.e. Brass: 1990, S. 75; Lompe: 1981, S. 10ff.), die durch Verfahrensvorschriften nicht behebbar sind. Zwar besitzen die Sachverständigen dieselben Verfahrensrechte wie die parlamentarischen Mitglieder, so daß ihnen insbesondere das Rede-, Antrags- und Stimmrecht zusteht (Kretschmer: 1986b, S. 923); aber diese Verfahrensregeln lösen den Grundkonflikt aus der Sicht der Sachverständigen schon deshalb nicht, weil Wahrheitsfragen nicht durch Mehrheitsbeschluß entscheidbar sind. Zudem sind die genannten Verfahrensbefugnisse, insbesondere das Stimmrecht der nichtparlamentarischen Mitglieder, mit einer Beschneidung der Rechtsposition der Enquete-Kommissionen erkauft: Geschäftsordnungsrechtlich ist nämlich
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ausgeschlossen, daß sie dem Bundestag Beschlußempfehlungen im förmlichen Sinne (§ 62 Abs. 1 Satz 2 GO-BT) unterbreiten; ihre Arbeit ist daher lediglich auf die Erstellung eines Berichtes zu den im Einsetzungsauftrag bezeichneten Themen beschränkt, der zwar auch Empfehlungen enthalten darf, die jedoch ihrem Rechtscharakter nach bloße Anregungen sind und vom Bundestag nicht ohne weiteres übernommen werden können. Hierzu bedarf es vielmehr weiterer förmlicher Verfahrensschritte, die nicht von den Enquete-Kommissionen, sondern nur von anderen initiativ- und antragsberechtigten Verfahrensbeteiligten, insbesondere den Fraktionen, eingeleitet werden können, indem diese die Anregungen einer Enquete-Kommission aufgreifen und in parlamentarische Initiativen, beispielsweise einen Gesetzentwurf, umsetzen. Enquete-Kommissionen sind demnach verfahrensrechtlich auf die Rolle der Politik-Beratung beschränkt und von parlamentarischen Mitentscheidungsprozessen ausgenommen, was konsequent ist, weil die sachverständigen Kommissionsmitglieder nicht über ein demokratisch legitimiertes Mandat verfügen. Die von den Enquete-Kommissionen erarbeiteten Ergebnisse binden d a h e r - w i e das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat - „das Parlament weder in der Sache noch in der Weise, daß es sich überhaupt mit ihnen weiter beschäftigen müßte" (BVerfGE 80,230). 3. Sonstige Gremien Neben den Fachausschüssen und den Ausschüssen mit besonderen investigativen und kontrollierenden Aufgaben bestehen weitere Gremien, die im Rahmen spezieller Verfassungs- oder gesetzlicher Aufträge des Bundestages tätig sind. Hierzu gehören zum einen der Wahlmännerausschuß (oben § 9, III.), zum anderen der Wahlprüfungsausschuß, dem die Vorbereitung von Entscheidungen des Bundestages zur Wahlprüfung obliegt und der durch teilweise Personenidentität in den ständigen Fachausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung integriert, von diesem jedoch wegen seiner besonderen Kompetenzen und Aufgaben zu unterscheiden ist (i.e. §§ 3, 5 Abs. 3, 7 Abs. 1 des Wahlprüfungsgesetzes; dazu Kretschmer: 1989b, S. 441). Nicht zu den Ausschüsssen des Bundestages zählen dagegen solche Gremien, in denen Abgeordnete des Bundestages gemeinsam mit dem Bundesrat oder mit Organen der Bundesländer zusammenwirken. Dies gilt zum einen für den Richterwahlausschuß (oben § 9, III), zum weiteren für den Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53a G G (Schick: 1988b, S. 1570) und schließlich für den Vermittlungsausschuß, dem je 16 Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates angehören. Er spielt im Gesetzgebungsverfahren insbesondere dann eine wesentliche Rolle, wenn die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat nicht übereinstimmen und er Kompromisse mit dem Ziel zu erarbeiten hat, daß diese die Billigung der Mehrheit sowohl des Bundesrates als auch des Bundestages finden (i.e. unten §1111.).
VI. Fraktionen Die politische Strukturierung und Steuerung der Arbeit des Plenums und der Ausschüsse sowie der sonstigen Gremien des Bundestages erfolgen durch die Fraktionen (oben II., parlamentsschichtlich § 41). Sie organisieren ihre Tätigkeit auf der Grundlage von Verfahrensordnungen, die die jeweilige Vollversamm-
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lung der Fraktion festlegt und die bei der Fraktion der CDU/CSU „Arbeitsordnung", bei den übrigen Fraktionen „Geschäftsordnung" heißt. In ihnen sind jeweils sowohl die Statusrechte der Mitglieder als auch die Organe der Fraktion und deren Kompetenzen definiert sowie Regeln über fraktionsinterne Verfahren, Organisationsformen und Arbeitsweisen normiert. Die diesbezüglichen Bestimmungen dienen dem Ziel, einerseits die Fraktionsarbeit zu effektivieren, andererseits dem Postulat der Gleichheit der Mitglieder Rechnung zu tragen: Oberstes Organ jeder Fraktion ist daher deren Vollversammlung, der alle Mitglieder der jeweiligen Fraktion mit gleichem Rede-, Antrags* und Stimmrecht angehören und die in Beratungen und Abstimmungen über die jeweilige Fraktionspolitik entscheidet. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe steht dabei im Schnittpunkt der vielfältigen Bezüge der parlamentarischen Arbeit (oben II.) und erstreckt sich deshalb • auf die parlamentsinternen Beratungs- und Entscheidungsprozesse, • auf die Kooperation mit den jeweiligen Parteigremien, • bei den Regierungsfraktionen: auf die Koordination von Fraktions- und Regierungspolitik, • auf kooperative Kontakte mit den „befreundeten" Landesregierungen und ihren Mitgliedern im Bundesrat, ferner • auf Interaktionen mit den Medien, Kirchen, Verbänden und Interessengruppen sowie, wiederum last not least, den Bürgerinnen.
1. Arbeitsteilige Strukturen der Fraktionen Die sich aus diesen vielschichtigen Bezügen ergebenden Aufgaben kann die Vollversammlung der Fraktion alleine nicht leisten. Sie wäre hierzu schon aufgrund ihrer relativ großen Mitgliederzahl und der hieraus resultierenden schwerfälligen Arbeitsweise, aber auch aus folgendem Grunde nicht imstande: Fraktionsvollversammlungen sind - trotz der Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu derselben Partei - heterogen zusammengesetzt und spiegeln daher vielfältige, miteinander konkurrierende Interessen wider, die beispielsweise in bestimmten „Flügeln", in landsmannschaftlichen Gruppierungen oder in divergierenden politischen Grundströmungen zum Ausdruck kommen (Jekewitz: 1989, S. 1049; Steffani: 1988a, S. 276). Insoweit stellt sich daher den Fraktionsvollversammlungen ein vergleichbares Problem wie dem Plenum des Bundestages: Ohne institutionelle und verfahrensmäßige Vorkehrungen, durch die die konkurrierenden Auffassungen strukturiert und die Prozesse der Entscheidungsfindung sowohl fraktionsintern als auch in ihren externen Bezügen organisiert werden, wäre die Handlungsfähigkeit der Fraktionen in Frage gestellt. Aus diesem Grunde haben die Fraktionen Formen der Organisation und der Arbeitsteilung entwickelt, die sich an den auch im Gesamtparlament praktizierten organisatorischen Strukturen orientieren (oben II. sowie Jekewitz: 1989, S. 1049). So sehen die Geschäftsordnungen aller Fraktionen jeweils ein zentrales Lenkungs- und Leitungsorgan, den Vorstand, vor, an dessen Spitze der von der Vollversammlung zu wählende Fraktionsvorsitzende steht, der die Fraktion in ihren Außenverhältnissen vertritt und die internen Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung moderiert. Ihm fällt deshalb insbesondere die Rolle zu, gemeinsam mit seinen Stellvertretern und mit Unterstüt-
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zung der parlamentarischen Geschäftsführer, die für parlamentarisch-organisatorische Aufgaben zuständig sind, die Arbeit der Fraktion sowohl in ihren internen als auch in ihren externen Bezügen zu koordinieren. Zur Organisation ihrer inhaltlich politischen Arbeit gliedern die Fraktionen sich in Arbeitsgruppen. Ihnen gehören die jeweils fachlich zuständigen Abgeordneten an, die zugleich Mitglieder der korrespondierenden Ausschüsse des Bundestages sind (oben V.) und denen die Aufgabe obliegt, die fachspezifisch-politische Vorarbeit für die Meinungsbildung der Fraktion sowie deren Haltung im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages zu leisten. In dieser Grundstruktur stimmen die Organisationsformen der Fraktionen im wesentlichen überein, wobei sich freilich im Detail Abweichungen ergeben (Jekewitz: 1989). Diese hängen insbesondere mit der unterschiedlichen Größe der einzelnen Fraktionen zusammen, weil eine kleinere Fraktion schon aufgrund der knappen personellen Ressourcen zu vergleichsweise gröberen Untergliederungen neigt (hierzu die Übersichten bei Schindler: 1988, S. 293ff.), wohingegen mit gliederstärkere in der Lage sind, ein hoch differenziertes arbeitsteiliges System zu entwickeln. Die Vorteile einer relativ starken Aufgliederung liegen auf der Hand: Sie ermöglicht auf der Basis der organisierten Teamarbeit (oben II.) ein hohes Maß an Spezialisierung und damit den Fraktionsmitgliedern einen Gewinn an Fachkompetenz, auf die vor allem eine Oppositionsfraktion, die auf die Zuarbeit der Exekutive nicht zurückgreifen kann (oben III.), in besonderem Maße angewiesen ist. Andererseits ist eine sehr differenzierte Aufgliederung aus der Sicht der Gesamtfraktion auch mit Nachteilen verbunden: Zum einen verkompliziert der hohe Grad der Spezialisierung die fraktionsinternen Arbeitsabläufe jedenfalls bei denjenigen Beratungsgegenständen, die fachübergreifende Themenstellungen betreffen, weil mit ihnen entsprechend der differenzierten fraktionsinternen Kompetenzordnung jeweils mehrere Arbeitsgruppen befaßt werden müssen, die gegebenenfalls auch divergierende Positionen beziehen. Zum anderen birgt die starke Aufgliederung die latente Gefahr der Verselbständigung der einzelnen Arbeitsgruppen, weil deren Handlungsspielräume mit dem Grad der Spezialisierung erfahrungsgemäß wachsen. Beide Folgen der Aufgliederung gehen tendenziell zu Lasten der Geschlossenheit der Fraktionen und damit auch zu Lasten ihrer Aufgabe, die Fülle der divergierenden Auffassungen zu strukturieren und auf stabile Gegensätze zu reduzieren (oben II.). Dementsprechend kommt der Lösung der Frage, auf welchem organisatorischen Weg die Tätigkeiten der einzelnen Arbeitsgruppen sowohl untereinander als auch in ihrem Verhältnis zur gesamten Fraktion koordiniert werden, entscheidende Bedeutung zu. Die Fraktionen sehen hierzu durchweg vor, daß die Vorsitzenden der Arbeitsgruppen zugleich auch Mitglieder des jeweiligen Fraktionsvorstandes sind, der damit aufgrund dieser personellen Verklammerung den institutionellen Rahmen für die vertikale und die horizontale Koordinierung der Arbeit der einzelnen Arbeitsgruppen bietet. Da zudem • der Präsident und die Vizepräsidenten des Bundestages, • die Mitglieder der Bundesregierung sowie • bei den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: die Vorsitzenden und die Generalsekretäre der Parteien berechtigt sind, an den Sitzungen des Vorstandes jeweils „ihrer" Fraktion mit be-
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ratender Stimme teilzunehmen, ist auch sichergestellt, daß der Vorstand die Fraktionsarbeit in ihren externen Bezügen, insbesondere denjenigen zum Gesamtparlament, zur jeweiligen Partei und - bei den Mehrheitsfraktionen - zur Bundesregierung, abstimmen und koordinieren kann. Der Vorstand ist demnach in dem Netzwerk der diversen Verflechtungen, in die die Fraktionsarbeit eingebunden ist, die entscheidende zentrale Schaltstelle, und aufgrund dieser Funktion wächst seinen Mitgliedern das angesprochene Plus an Gestaltungsmöglichkeiten zu (oben III.). Dieser Zuwachs ist der notwendige Preis für die Effektivierung der Fraktionsarbeit, der freilich dadurch relativiert wird, daß die Tätigkeit des Vorstandes unter dem Vorbehalt der - mehrheitlichen - Zustimmung der Vollversammlung steht.
2. Prozesse der fraktionsinternen Willensbildung und Entscheidungsßndung Die fraktionsinternen Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung sind demnach in einen - mindestens - dreistufigen Organisationsrahmen eingebettet, nämlich (1) die Vollversammlung als letzt-entscheidendem Organ, (2) den Vorstand als zentralem Lenkungs-, Steuerungs- und Koordinationsgremium sowie (3) die Arbeitsgruppen als spezialisierten fachpolitischen Arbeitseinheiten. In diesen formal-organisatorischen Rahmen haben sich auch die Initiativen einzufügen, welche die einzelnen Fraktionsmitglieder ergreifen, um ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen. Die Geschäftsordnungen der Fraktionen erlauben hierzu, daß solche Initiativen auf jeder der drei Organisationsebenen ergriffen und dort in den innerfraktionellen Geschäftsgang eingebracht werden können: So kann, jedenfalls nach den formal-rechtlichen Antrags- und Rederegeln, jedes einzelne Mitglied in der Vollversammlung ebenso wie der Vorstand Anstöße für Aktivitäten einer Arbeitsgruppe geben - wie umgekehrt eine Arbeitsgruppe durch „Vorlagen" an den Vorstand und an die Vollversammlung initiieren kann, daß diese Gremien sich mit bestimmten Beratungsgegenständen befassen. Die Aussicht solcher Initiativen, Erfolg zu haben - d.h.: von der Fraktion mehrheitlich akzeptiert zu werden - , hängt allerdings nicht in erster Linie von der Einhaltung der geschäftsordnungsrechtlich normierten Wege, sondern vor allem von der Beachtung einer Reihe informeller Regeln (oben I.) sowie von sonstigen Bedingungen ab: Hierzu gehört zunächst die „Wahl des richtigen Augenblicks, d.h. eines Zeitpunktes, an dem ein Thema aktuell geworden oder das Problembewußtsein durch ein kritisches Ereignis schlagartig gewachsen ist, oder zu dem es aus anderen Gründen verhältnismäßig leicht geworden ist, für ein bestimmtes Vorhaben die nötige (fraktionsinterne) Unterstützung zu finden" (Mayntz/Neidhardt: 1989, S. 385). Diese ist zum weiteren nur dann zu erreichen, wenn der Initiator zunächst im Wege der interfraktionellen Kontaktkommunikation für sein Vorhaben wirbt, dabei im „Besitz anerkannter Sachkompetenz auf dem in Frage stehenden Gebiet ist" und der Erwartung Rechnung trägt, daß die durch die Fraktionsgeschäftsordnung festgelegten sachlichen Zuständigkeitsbereiche der Gremien und der Mitglieder der Fraktion zu respektieren sind (Mayntz/Neidhardt:
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1989, S. 385). Der geeignete Ort, Initiativen einzubringen, ist daher aus der Sicht des einzelnen Fraktionsmitgliedes, das nicht zu der Fraktionsführung zählt, die jeweils zuständige Arbeitsgruppe, nicht die Vollversammlung, die in der Regel schon um Überraschungsentscheidungen zu vermeiden - ausschließlich aufgrund von Empfehlungen der zuständigen Gruppen und des Vorstandes, also erst nach Vorklärung durch die fachlich zuständigen Mitglieder und das Lenkungsgremium, abschließende Sachentscheidungen trifft. Die Einschaltung der zuständigen Arbeitsgruppe und ihres Vorsitzenden ist deshalb zum einen notwendig, wenn die Initiative auf die Zustimmung der Gesamtfraktion abzielt; sie ist zum anderen erforderlich, wenn der Initiator die Mitglieder der Arbeitsgruppe dafür gewinnen will, daß diese im korrespondierenden Ausschuß des Bundestages seine Initiative - vor allem durch ein entsprechendes Abstimmungsverhalten - unterstützt. In beiden Fällen durchläuft die Initiative innerhalb der Arbeitsgruppe dabei zunächst die Stadien der Detailberatung und der - ggf. kontroversen - gruppeninternen Diskussion, die durch koordinierende Kontakte insbesondere des Arbeitsgruppenvorsitzenden zu den Mitgliedern des Vorstandes begleitet wird. Zudem suchen die Arbeitsgruppen der Mehrheitsfraktionen bereits in diesem Verfahrensabschnitt die Abstimmung mit der Auffassung der Bundesregierung zu erreichen; im Hinblick hier auf ist durchaus wesentlich, daß deren Mitglieder, insbesondere die zuständigen Parlamentarischen Staatssekretäre, bisweilen auch leitende Beamte der „korrespondierenden" Bundesministerien an den Sitzungen der Arbeitsgruppen der Mehrheitsfraktionen teilnehmen und deren Meinungsbildung durch Diskussionsbeiträge sowie durch informelle Formen der Kontaktkommunikation zu beeinflussen suchen. Abgeschlossen wird das gruppeninterne Beratungsverfahren sodann durch die nach Mehrheitsregeln zu treffende Entscheidung der Gruppe, ob die Initiative in vollem Umfang, in modifizierter Form oder nicht akzeptiert wird. Die einzelnen Schritte dieses Meinungsbildungsprozesses sind in dem Gefüge der fraktionsinternen Interessensvielfalt (hierzu § 13 II) darauf gerichtet, „Kompromisse zu finden, die in der Fraktionsversammlung ohne gravierenden Widerspruch relevanter Gruppen akzeptiert werden können" (Steffani: 1988a, S. 275). Je näher die Stadien der Vorberatungen an dieses Ziel sachlich und zeitlich herangeführt werden, desto mehr verstärkt sich die Tendenz zu einer - aus Sicht des Initiators - positiven Entscheidung der Fraktion; denn sobald der beschriebene Kompromiß im Wege der Vorabklärung gefunden und zur Entscheidung der Vollversammlung zugelassen ist, bewahrheitet sich der von N. Luhmann (1983, S. 45) beschriebene Erfahrungssatz, daß „ein ... Agieren gegen die Tendenz zur Entscheidung den Unwillen der Beteiligten (weckt), besonders, wenn es zu spät", also erst in der Vollversammlung erfolgt. Daher gilt, wie W. Steffani (1988a, S. 275) treffend bemerkt: „Nur wer in den Arbeitskreisen unfair behandelt wurde, hat in der Vollversammlung eventuell die Möglichkeit, ohne den Unwillen seiner Fraktionskollegen heraufzubeschwören, fraktionsöffentliche Beschwerde einzulegen und notfalls die ,Rückverweisung' an den Arbeitskreis zu erreichen." Ansonsten entscheidet die Fraktionsvollversammlung in aller Regel entsprechend dem Vorschlag der zuständigen Arbeitsgruppe und des Vorstandes; sie trägt somit dem Sinn der Arbeitsteilung Rechnung, der auch darin besteht, daß die Fraktion sich auf das Urteil und der hierauf aufbauenden Empfehlung der jeweils fachlich zuständigen Mitglieder verläßt (oben II.).
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3. Fraktionsdisziplin Das System der formellen und informellen Verfahrensregeln der Fraktionen ist demnach darauf ausgerichtet, die innerfraktionelle Interessensvielfalt zu strukturieren und die Meinungsbildung der Fraktion zu formieren. Die hierauf angelegten fraktionsinternen Prozesse verlaufen, soviel sollte deutlich geworden sein, nicht friktionsfrei, und nach ihrem Abschluß hinterlassen sie „Gewinner und Verlierer": die Mehrheit, die sich fraktionsintern durchgesetzt hat, die Minderheit, die mit ihrer Auffassung unterlegen ist. Damit stellt sich die für das Gelingen des Formierungsprozesses entscheidende Frage, wie die unterlegene Minderheit im Außen Verhältnis, insbesondere im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages sowie der Öffentlichkeit gegenüber, agieren darf, also: ob sie der Mehrheitsmeinung der Fraktion verpflichtet oder ob ihr erlaubt ist, den Kampf um ihre Auffassung außerhalb der Fraktion fortzusetzen. Das Interesse der Gesamtfraktion ist dabei darauf gerichtet, daß alle ihre Mitglieder die mehrheitlich beschlossene Haltung und Strategie auch geschlossen im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages vertreten, und zwar sowohl in den Inhalten der Debattenbeiträge und der Anträge als auch bei den Abstimmungen. Dieses Interesse kollidiert indes mit dem gegenläufigen Sachanliegen der Verfechter der fraktionsintern unterlegenen Minderheitsmeinung sowie deren durch Art. 38 G G garantierten Statusrechten, aufgrund derer jeder Abgeordneter an Weisungen - auch solchen seiner Fraktion - nicht gebunden und „nur seinem Gewissen unterworfen" ist (oben II.). Offenbar mit Rücksicht auf diesen verfassungsrechtlich verbrieften Grundsatz des freien Mandats vermeiden es die Fraktionsgeschäftsordnungen - mit Recht - , diesen Interessenskonflikt durch formalrechtliche Regelungen zu entscheiden (Jekewitz: 1989, S. 1052; Kretschmer: 1984, S. 74): Sie enthalten zwar Bestimmungen, aus denen sich ableiten läßt, daß die Einbringung von nicht mit der Fraktion abgestimmten oder gar von der Fraktionsauffassung abweichenden Vorlagen im Plenum des Bundestages als Verstoß gegen die Fraktionsordnung angesehen wird; weitergehende formale Regelungen, durch welche von der Fraktionslinie abweichende Verhaltensweisen untersagt würden, sucht man jedoch vergebens, weil sich alle Fraktionsgeschäftsordnungen davor hüten, „Regelungen zu treffen, die den Eindruck eines verfassungswidrigen Fraktionszwangs erwecken könnten" (Jekewitz 1989, S. 1052). Die Antwort auf die Ausgangsfrage ergibt sich deshalb auch nicht alleine aus den Geschäftsordnungen, sondern insbesondere aus informellen Normen (oben I.), die das Verhalten der Fraktionsmitglieder betreffen und die in jeder der drei derzeit im Bundestag vertretenen Fraktionen gleichermaßen gelten: Grundnorm ist insoweit das an jedes Fraktionsmitglied gerichtete Gebot, der eigenen Fraktion nicht zu schaden, vor allem: abweichendes Verhalten zu unterlassen, welches sich auf deren „Glaubwürdigkeit ... negativ auswirken" kann (Mayntz/Neidhardt: 1989, S. 379). In ihren speziellen Ausprägungen bedeutet diese informelle Norm zum einen, daß von dem Fraktionsmitglied, welches anderer Auffassung als die Fraktionsmehrheit ist, gefordert wird, deren Argumente in der öffentlichen Diskussion nicht zu diskreditieren, sondern „sachlich und fair" darzustellen (Beschluß der Fraktion der SPD vom 23. Juni 1981 i.d.F. des Beschlusses vom 19. Mai 1992); zum anderen wird bei den Abstimmungen im Plenum und in den Ausschüssen erwartet, „daß der Abgeordnete, der vom Fraktionskurs abweicht, dies nicht leichtfertig (z.B. nicht aus Publizitätssucht, sondern nur aus Gewissens-
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gründen) tut und seine Absicht, abweichend zu votieren, der Fraktionsführung vorher mitteilt" (Mayntz/Neidhardt: 1989, S. 379). Im parlamentarischen Alltag erreichen diese Normen ihr Ziel: Fraktionsabweichendes Stimmverhalten kommt im Bundestag selten vor, und selbst in den den Abstimmungen vorgelagerten Beratungsverfahren im Plenum und in den Ausschüssen werden Geschlossenheit der Fraktion und Solidarität ihrer Mitglieder demonstriert. Dazu tragen wiederum auch diejenigen Normen bei, die der Fraktion sowohl die Bestimmung „ihrer" Mitglieder in den Ausschüssen (oben V.) als auch die Auswahl „ihrer" Redner überantworten, welche im Plenum die Fraktions-Auffassung zu vertreten haben: Hier liegt zwar eine der Ursachen für den insbesondere von der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform beklagten Bedeutungsverlust des Plenums (oben III.), weil in ihm nur noch die formierten Fraktionsauffassungen dargestellt und bei den Abstimmungen aufgrund der fraktionsinternen Vor-Festlegungen Überraschungsergebnisse weitgehend ausgeschlossen werden. Diese, zu Lasten eines lebendigen, spontanen und offenen Diskurses gehende Verfahrensweise im Plenum ist jedoch die unvermeidbare Kehrseite der parlamentsinternen Arbeitsteilung und der Strukturierungsleistung der Fraktionen, ohne die der Bundestag zur sach- und zeitgerechten Erfüllung seiner Funktionen nicht in der Lage wäre (oben II.).
VII. Aspekte des strukturierten Parlamentarismus Sind hiernach die fraktionsintern geltenden formellen und informellen Normen auf die stabilisierte Strukturierung der Interessensvielfalt ausgerichtet, so wird diese Zielsetzung durch eine Reihe von Vorschriften der Geschäftsordnung aufgegriffen und untermauert, indem diese die wesentlichen parlamentarischen Verfahrensbefugnisse ausschließlich den Fraktionen oder einer Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsmindeststärke (derzeit: 34) überantwortet. Dies gilt sowohl für das Gesetzesinitiativrecht, das nach § 76 Abs. 1 GO-BT nur einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zur gemeinsamen Ausübung zusteht, als auch für die Einbringung sonstiger Vorlagen i.S.d. § 75 GOBT, also insbesondere für Große und Kleine Anfragen sowie für Anträge auf Einsetzung einer Enquete-Kommission oder eines Untersuchungsausschusses (§ 76 i.V.m. § 75 Abs. 1 d und f GO-BT), ferner für Anträge auf Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung (§ 42 GO-BT) und auf Durchführung einer Aktuellen Stunde (unten § 11IV.). Die Zuweisung dieser Rechte an die Fraktionen oder eine entsprechend große Gruppe von Abgeordneten ist Ausdruck des strukturierten Parlamentarismus, und die Bindung der Initiativen an die Voraussetzung, daß sie von mehreren Parlamentsmitgliedern getragen sein müssen, fußt auf der Erwägung, daß die Erfüllung eines Quorums als Zulässigkeitserfordernis für parlamentarische Initiativen „dem Nachweis der Ernsthaftigkeit' eines Anliegens und damit der Rationalisierung der Parlamentsarbeit dient" (Jekewitz: 1989, S. 1041). 1. Zur Rechtsstellung fraktionsangehöriger Abgeordneter Für die Mehrzahl der Abgeordneten, die einer Fraktion angehört (oben II.), bedeutet dies, daß ihre parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten in doppelter
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Weise „mediatisiert" sind (Röper: 1982, S. 304): zum einen durch die Fraktionsdisziplin, die die Entfaltung parlamentarischer Initiativen weitgehend nur über und mit Zustimmung der Fraktion zuläßt (oben VI.), zum anderen durch die angeführten Regeln der Geschäftsordnung des Bundestages, deren Kehrseite aus der Sicht des einzelnen Parlamentariers darin besteht, daß er für die Ausübung der wesentlichen Initiativrechte im Bundestag die Unterstützung seiner Fraktion gewinnen muß. Die Geschäftsordnung sichert auf diese Weise den Fraktionen ihre Steuerungs- und Lenkungsfunktion, bewegt sich indes auf einem auch verfassungsrechtlich diffizilen Feld, weil sie dem einzelnen Abgeordneten die ihm in Art. 38 G G verbrieften Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte nicht verweigern darf (BVerfGE 80,219 sowie oben III.): Insoweit kommt es aus der Sicht des einzelnen Abgeordneten entscheidend darauf an, welche parlamentarischen Rechte ihm im einzelnen zustehen. Unter diesem Aspekt ist zunächst bedeutsam, daß jeder Abgeordnete Anspruch darauf hat, in einem Ausschuß des Bundestages mitzuwirken. Der innere Grund hierfür liegt darin, daß sich „vor allem in den Ausschüssen ... den Abgeordneten die Chance" eröffnet, „ihre eigenen politischen Vorstellungen in die parlamentarische Willensbildung einzubringen" (BVerfGE 80, 222): Ihnen stehen in den Ausschüssen nicht nur die dort - reichlich - fließenden, insbesondere von den Mitgliedern und Beauftragten der Bundesregierung gegebenen Informationen (oben V.) zur Verfügung, sondern auch erhebliche Möglichkeiten offen, auf die Beratungen Einfluß zu nehmen, indem sie das Rede- und Antragsrecht dazu nutzen können, ihre Position darzustellen und zu begründen sowie ggf. auch überzeugen zu können. Wegen dieser Möglichkeiten hat die Mitgliedschaft in einem Ausschuß eine der Mitwirkung im Plenum zumindest vergleichbare, wenn nicht gar höhere Bedeutung, weil die Ausschüsse als „kleinere Gremien mit festliegenden Rollen, erkennbar verteiltem Informationsbesitz, unterdrückter Konkurrenz und der Möglichkeit, direkt und abgekürzt zur Sache sprechen zu können, ohne einen Mißbrauch der Kommunikation befürchten zu müssen" (Luhmann: 1983, S. 189), ein höheres Potential für die Durchsetzung politischer Vorstellungen bieten als die „große" Vollversammlung. Daher darf - wie das Bundesverfassungsgericht im Wüppesahl-Urteil ausdrücklich festgestellt hat (BVerfGE 80, 222) - „ein Abgeordneter nicht ohne gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden." Allerdings hat der einzelne Abgeordnete keinen Anspruch auf einen Sitz in einem bestimmten Ausschuß seiner Wahl: Sein Teilhaberecht ist insoweit durch das in § 57 Abs. 2 G O - B T verankerte Benennungsrecht seiner Fraktion überlagert (oben V.), und zwar in verfassungsrechtlich zulässiger Weise (i.e. B V e r f G E 80, 223). In der Praxis freilich kommen die Fraktionen weitestmöglich den Wünschen ihrer Mitglieder nach, entsprechend ihren Neigungen und fachlichen Kompetenzen in einem Ausschuß ihrer Wahl tätig werden zu können. Zum weiteren ist für die parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten von Bedeutung, daß die Geschäftsordnung eine Reihe von Vorschriften vorsieht, die die Rechte des Art. 38 G G näher ausgestalten (zu Einzelheiten Abmeier: 1984). Hierzu gehören zunächst insbesondere Informationsrechte: So ist jedes Parlamentsmitglied grundsätzlich berechtigt, alle Akten einzusehen, die sich in der Verwahrung des Bundestages oder eines Ausschusses befinden (§ 16 GO-BT).
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
Darüber hinaus kann jeder Abgeordnete an Sitzungen derjenigen Ausschüsse, denen er nicht als Mitglied angehört, als Zuhörer-unter bestimmten Voraussetzungen auch mit beratender Stimme (§ 69 Abs. 3 GO-BT) - teilnehmen, es sei denn, daß der Bundestag das Zutrittsrecht auf die ordentlichen Mitglieder und deren Stellvertreter beschränkt hat 7 . Zudem besitzt jeder Parlamentarier nach § 105 GO-BT, der insoweit das verfassungsrechtlich verbriefte Informationsrecht (oben III.) konkretisiert, die Möglichkeit, mündliche und schriftliche Anfragen an die Bundesregierung einzureichen (i. e. Anlage 4 zur GO-BT sowie unten § 11 IV.). Daneben steht dem einzelnen Parlamentarier eine Reihe informeller Informationswege offen, die durch persönliche Kontakte zur Ministerialbürokratie, zu den Vertretern der Verbände, Parteien und Interessengruppen sowie zu den Mitarbeiterinnen der Medien eröffnet sind; hierfür ist nicht unwesentlich, daß die Verfassung den Abgeordneten das Recht einräumt, über die Person eines Informanten und über anvertraute Tatsachen das Zeugnis verweigern zu dürfen (Art. 47 GG). Übersicht 4: Parlamentarische Rechte der Mitglieder des Bundestages Rechtsgrundlage (GO-BT) 1. Recht, eine Fraktion zu bilden und ihr beizutreten
von § 10 vorausgesetzt
2. Recht auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß
§57 Abs. 1
3. Zutrittsrecht zu Ausschußsitzungen
§69
4. Recht, in die Akten einzusehen, die sich in der Verwahrung des Bundestages befinden
§16
5. Fragerechte; Informationsrechte
§§27,100,104,105, Anlage 4 zur G O - B T
B V e r f G E 70, S. 355 B V e r f G E 57, S. 5 B V e r f G E 44, S. 320 B V e r f G E 13, S. 125
6. Rederecht
§§25,27,33,35,71
B V e r f G E 80, S. 229 B V e r f G E 6 0 , S. 374 B V e r f G E 10, S. 12
7. Erklärungsrecht
§§31,32
8. Antragsrechte
§§20,29,46 A b s . 3 , 47,71 Abs. 1,82
9. Einspruchsrecht
§§39,116ff.
10. Anspruch auf Zuarbeit durch die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages
7
Rechtsprechung
B V e r f G E 80, S. 222
B V e r f G E 80, S. 232
Im 12. Deutschen Bundestag ist dies bei dem Auswärtigen und dem Verteidigungsausschuß (sog. geschlossene Ausschüsse) sowie beim Innenausschuß der Fall, soweit er sich mit Fragen der Inneren Sicherheit befaßt.
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
Darüber hinaus spezifiziert die parlamentarische Verfahrensordnung eine Reihe von Antrags-, Rede- und Erklärungsrechten, die der einzelne Abgeordnete im Plenum ausüben kann. Hierzu wählen vor allem das Recht, für eine Erklärung zur Aussprache das Wort zu erhalten (§ 30 GO-BT), Geschäftsordnungsanträge stellen und begründen (§ 29 GO-BT) sowie persönliche Erklärungen zur Abstimmung geben zu können (§ 31 GO-BT). Zudem kann jedes Parlamentsmitglied in der zweiten Beratung eines Gesetzentwurfs, die auf der Basis der Empfehlungen des federführenden Ausschusses (oben V.) erfolgt, Änderungsanträge stellen (§ 82 Abs. 1 GO-BT). Von dieser individuellen Befugnis machen indes Parlamentarier, die Mitglied einer Fraktion sind, so gut wie nie Gebrauch, weil sie insoweit die Fraktionsdisziplin auf den Weg verweist, die Fraktion dafür zu gewinnen, entsprechende Änderungsanträge einzubringen (oben VI.). 2. Zur Rechtsstellung fraktionsloser Abgeordneter Für solche Parlamentarier, die keiner Fraktion angehören, bietet dagegen die in § 82 Abs. 1 GO-BT gegebene Befugnis - neben dem Recht, im Plenum das Wort ergreifen zu können - die praktisch bedeutsamste Möglichkeit, ihre Position parlamentsöffentlich darzustellen. Anders als fraktionsangehörende Parlamentsmitglieder, die über ihre Fraktion Gesetzes- und Kontrollaktivitäten initiieren können (oben VI.), verfügen fraktionslose Abgeordnete alleine weder über die Möglichkeit, Gesetzentwürfe einzubringen, noch können sie, sofern sie nicht 5 v.H. der Parlamentsmitglieder „zum Nachweis der Ernsthaftigkeit' ihres Anliegens" gewinnen (oben VII.), Kleine und Große Anfragen einreichen, auch nicht den Einsatz der genannten übrigen Kontrollinstrumentarien (oben VII.) im Plenum beantragen. Da sie zudem - wie alle Parlamentsmitglieder - keinen Anspruch auf Mitgliedschaft in einem bestimmten Ausschuß ihrer Wahl besitzen (oben VII.) und darüber hinaus - sofern sie nicht Mitglied einer Gruppe sind (unten VII.) - in demjenigen Ausschuß, dem sie zugewiesen werden, nur Rede- und Antrags-, nicht aber Stimmrecht haben (oben V., BVerfGE 80, 222, Hölscheidt: 1989, S. 291), sind auch ihre dortigen Möglichkeiten, auf Gang und Ergebnis der Beratungen Einfluß zu nehmen, eingeschränkt. Sie sind daher in ihren Gestaltungsmöglichkeiten allein auf diejenigen Rechte, die jedem einzelnen Parlamentarier zustehen (oben VII. sowie Bernzen/Gottschalck: 1990, S. 393; Morlock: 1989, S. 1035; Trute: 1990, S. 184; Ziekow: 1991, S. 28; näher § 4 II), verwiesen, und in der Palette dieser Rechte erweist sich dasjenige, in zweiter Lesung zu einem Gesetzentwurf Änderungsanträge stellen zu können, als eines der stärksten: Seine Ausübung führt zwar wegen der gegebenen Mehrheiten so gut wie nie zu einem inhaltlichen, wohl aber zu dem politischen Erfolg, die eigene Auffassung parlamentsöffentlich darstellen zu können, und so verwundert nicht, daß diese geschäftsordnungsrechtliche Befugnis von fraktionslosen Abgeordneten extensiv genutzt wird: So hat der Abgeordnete Wüppesahl zu dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik in zweiter Lesung nicht weniger als 460 Änderungsanträge gestellt (PI.-Prot. 11/217, S. 17160). Aus der Sicht des Gesamtparlaments wirkt solche Wahrnehmung einer Verfahrensbefugnis dysfunktional (oben II.); sie ist jedoch die geradezu zwangsläufige Folge der Entscheidung der Verfahrensordnung, fraktionslose Abgeordnete von den sonstigen wesentlichen parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten auszuschließen.
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3. Gruppen i.S.v.§ 10 Abs. 4 GO-BT Soweit sich mehrere fraktionslose Parlamentsmitglieder zusammenschließen ohne Fraktionsmindeststärke zu erreichen-, kann der Bundestag sie als Gruppe i.S.v. § 10 Abs. 4 GO-BT anerkennen. Im 12. Deutschen Bundestag haben von der Möglichkeit des Zusammenschlusses zum einen die Abgeordneten der PDS/ Linke Liste, zum anderen die Parlamentsmitglieder des Bündnis 90/DIE G R Ü NEN Gebrauch gemacht, deren Gruppenstatus der Bundestag auch anerkannt hat. Der Gruppenstatus impliziert indes nach den Regeln der Geschäftsordnung keine besonderen parlamentarischen Rechte, die über diejenigen, die den einzelnen Parlamentariern zustehen, hinausgehen: Gruppen sind m.a.W. keine „kleinen" Fraktionen, so daß sie auch nicht über deren Rechte verfügen. Bei Lichte betrachtet sind daher mit der Anerkennung als Gruppe i.S.v. § 10 Abs. 4 GO-BT nach den Regeln der Geschäftsordnung „parlamentarisch kaum Vorteile" verbunden (Ritzel/Bücker: § 10 Anm. la), weil eine Gruppe lediglich auf diejenigen Rechte rekurrieren kann, die fraktionslosen Abgeordneten zustehen (oben VII.). Diese Rechtslage hat zur Konsequenz, daß die parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten einer Gruppe gegenüber denjenigen einer Fraktion erheblich eingeschränkt sind, und zwar namentlich deshalb, weil eine Gruppe nach den Vorschriften der Geschäftsordnung weder berechtigt ist, für jeden Fachausschuß ein Mitglied zu benennen, noch die Befugnis besitzt, Gesetzentwürfe sowie Große und Kleine Anfragen einzubringen. Dies erschien dem 12. Bundestag „angesichts der besonderen Umstände und Bedingungen für politische Parteien und Listenverbindungen bei den Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag" für die Gruppe der PDS/Linke Liste und der Gruppe von Bündnis 90/DIE G R Ü N E N als unangemessen (BT-Drsn. 12/149 und 12/150). Er beschloß deshalb „in Erwägung der Einmaligkeit dieser Lage bei der Einigung Deutschlands", für die 12. Wahlperiode beiden Gruppen u.a. folgende Rechte einzuräumen (PI.- Prot. 12/9 S. 393-397): • für jeden Fachausschuß ein ordentliches und stellvertretendes Mitglied benennen zu können, das in dem jeweiligen Fachausschuß über Antrags-, Rede- und Stimmrecht verfügt (oben V.); • durch jeweils ein Mitglied an der Arbeit der Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse mitwirken (oben V.), • Gesetzentwürfe, Anträge, Entschließungsanträge sowie Große und Kleine Anfragen einbringen und • Redezeit „entsprechend ihrer Stärke im Verhältnis zu den Fraktionen ... und nach näherer Vereinbarung im Ältestenrat" beanspruchen zu können (bereits oben IV.). Mit der Gewährung dieser Rechte ist der Status der Gruppen von PDS/Linke Liste und Bündnis 90/DIE G R Ü N E N im 12. Deutschen Bundestag jedenfalls in den Kernbereichen parlamentarischer Rechte demjenigen der Fraktionen weitgehend angenähert und unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel korrekt ausgestaltet worden (BVerfG: NJW1991, S. 2474).
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VIII. Parlamentarische Hilfsdienste Die parlamentarische Arbeit der Lenkungs- und Leitungsorgane des Bundestages, seiner Ausschüsse und Gremien, der Fraktionen und der einzelnen Parlamentsmitglieder unterstützt eine Vielzahl von Hilfskräften (dazu auch § 5). Es sind dies • die Mitarbeiterinnen der Fraktionen, • die persönlichen Mitarbeiterinnen der Abgeordneten sowie • die Angehörigen der Bundestagsverwaltung. Im einzelnen:
1. Mitarbeiterinnen der Fraktionen und der Abgeordneten (1) Den Mitarbeiterinnen der Fraktionen sind im wesentlichen drei Aufgabenbereiche übertragen: Sie fungieren - erstens - als Helferinnen in technischen, organisatorischen und administrativen Angelegenheiten, unterstützen - zweitens die Organisation und Koordination der fraktionsinternen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse sowie die Arbeit der Fraktion in ihren Außenbezügen (oben VI.) und leisten - drittens - für die Funktionsträger der Fraktionen und die Arbeitsgruppen inhaltliche Zuarbeiten, insbesondere durch Informationsbeschaffung und -aufbereitung sowie als „politisch zuverlässige" Politikberaterinnen (Steffani: 1989, S. 1342). Die Anzahl der Mitarbeiterinnen der Fraktionen ist in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten kontinuierlich auf derzeit ca. 700 erhöht worden und hat sich damit seit 1969 nahezu verdreifacht (Übersichten bei Schindler: 1988, S. 299 und Thaysen/Davidson/Livingston: 1988, S. 593), so daß - wie J. Jekewitz (:1989, S. 1051) mit Recht feststellt - „regelrechte Fraktionsverwaltungen" entstanden sind. Ihrem arbeitsrechtlichen Status nach sind die Fraktionsmitarbeiter, von denen ca. 35 v.H. über einen Hochschulabschluß verfügen, Angestellte der jeweiligen Fraktion, die demnach als Arbeitgeberin u.a. auch die Lohnzahlungspflicht trifft; hierfür wiederum ist wesentlich, daß die Fraktionen über Etats verfügen, die zu einem geringen Teil aus von den Fraktionsmitgliedern erhobenen Beiträgen, zu ihrem überwiegenden Teil aus Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt gespeist werden (Einzelheiten bei Kretschmer: 21992, S. 58; Mardini: 1990). (2) Von den Fraktionsdiensten zu unterscheiden sind die persönlichen Mitarbeiterinnen der Abgeordneten. Sie stehen in einem Arbeitsverhältnis zu den einzelnen Parlamentsmitgliedern, die hierzu zweckgebundene Mittel aus dem Bundeshaushalt erhalten, die so bemessen sind, daß jeder Abgeordnete eine(n) Mitarbeiterin im Wahlkreis sowie einen Assistenten und eine Schreibkraft in seinem Bonner Büro anstellen kann. Den persönlichen Mitarbeiterinnen obliegt zum einen die organisatorisch-administrative Unterstützung der Arbeit der Abgeordneten, zum anderen helfen sie bei der Informationsbeschaffung und -aufbereitung, und zwar sowohl auf denjenigen Fachgebieten, auf die sich der jeweilige Abgeordnete spezialisiert (oben II.), als auch in solchen Politikbereichen, die außerhalb des Spezialinteresses liegen, deren Kenntnisse indes für die fraktions-, ausschuß-, plenar- und öffentlichkeitsbezogene Arbeit notwendig sind.
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2. Bundestagsverwaltung Während die Fraktionsdienste ausschließlich den jeweiligen Fraktionen, die persönlichen Mitarbeiterinnen ausschließlich den einzelnen Abgeordneten zuarbeiten, steht die Bundestagsverwaltung dem gesamten Parlament, seinen Lenkungsund Leitungsorganen, seinen Ausschüssen und jedem einzelnen seiner Mitglieder zur Verfügung. Ihr gehören derzeit ca. 2 500 Mitarbeiterinnen an, die als Beamte, Angestellte oder Arbeiter in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen und deren „Dienstherr" der Bundestagspräsident ist (oben IV.; auch § 5 V.). Die Bundestagsverwaltung gliedert sich derzeit in drei Abteilungen, nämlich: • die Wissenschaftlichen Dienste (W) • die Parlaments-Dienste (P) und • die Zentralen Dienste (Z), denen höchst heterogene Aufgaben übertragen sind, die dem unterschiedlichen Bedarf an Zuarbeit für die Lenkungsorgane, das Plenum, die Ausschüsse und die einzelnen Parlamentsmitglieder Rechnung tragen (Übersicht bei Schindler: 1989, S. 837). Im einzelnen: (1) Insbesondere die Abteilungen P und Z unterstützen den Präsidenten in seinen Funktionen als Repräsentanten, Vorsitzenden, Hausherrn und Behördenchef; sie arbeiten ferner dem Präsidium und dem Ältestenrat sowie dessen Kommissionen zu (oben IV.), wobei die Unterstützung sowohl die technisch-organisatorische Vorbereitung der Sitzungen dieser Gremien als auch inhaltliche Zuarbeiten umfaßt, die namentlich in sog. „Vorlagen" ihren Niederschlag finden, in denen relevante Informationen dargestellt, Problembereiche beschrieben und mögliche Lösungswege aufgezeigt werden. (2) Die Unterstützung bei Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Sitzungen des Plenums fällt vornehmlich in den Zuständigkeitsbereich der Abteilung P: Das ihr zugeordnete Parlamentssekretariat nimmt beispielsweise die diversen Parlamentsvorlagen (oben IV.) entgegen, prüft ihre verfassungs- und geschäftsordnungsrechtliche Zulässigkeit vor, sorgt für ihre Drucklegung, stellt die Vorlagen für den Ältestenrat sowie die Unterlagen für die Plenarsitzungen zusammen. Der sog. Plenarsitzungsdienst berät den Präsidenten vor und während der Plenarsitzungen in geschäftsordnungs-rechtlichen Fragen; der Stenographische Dienst fertigt die Niederschriften über die Plenarsitzungen und stellt somit die lückenlose Dokumentation der Verhandlungen des Bundestages sicher (zu Einzelheiten: Klein, F.-C.: 1989, S. 975). Die technischen Dienste der Bundestagsverwaltung ermöglichen die Übertragung der Plenarsitzungen über einen hauseigenen Rundfunk- und Fernsehkanal in die Büros der Abgeordneten und halten sowohl einen Telefonansage- als auch einen Videotextdienst vor, über den nicht an der Plenarsitzung teilnehmende Parlamentsmitglieder, ferner Mitarbeiterinnen der Fraktionen und der Bundestagsverwaltung sowie weitere Personen, namentlich Journalisten, Informationen über den Stand und den geplanten weiteren Verlauf der Plenarsitzung (Tagesordnung, Rednerliste, Abstimmungen) abrufen können. Die Nachbereitung der Sitzungen des Plenums umfaßt insbesondere die Erstellung des Beschlußprotokolls, die Zusammenstellung beschlossener Gesetze und anderer Beschlüsse sowie die
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Drucklegung der Stenographischen Protokolle, die in der Regel bereits am Tag nach der betreffenden Plenarsitzung vorliegen und den Parlamentsmitgliedern sowie der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen (Schindler: 1989, S. 850f.). Zur Nachbereitung gehört ferner die Auswertung der Sitzungsunterlagen durch das „Sach- und Sprechregister", welches insbesondere die Stenographischen Protokolle nach Rednerinnen und von diesen angesprochenen Themen erschließt, die so gewonnenen Daten speichert und auf diese Weise sicherstellt, daß jederzeit Stand und Inhalte früherer Plenarberatungen abgerufen werden können (zu Einzelheiten Matthes/Rebhan: 1982, S. 249). (3) Die Abteilung Wissenschaftliche Dienste arbeitet vor allem den Ausschüssen und den einzelnen Parlamentsmitgliedern zu. Organisatorische Herzstücke der Wissenschaftlichen Dienste sind insoweit zum einen die Ausschußsekretariate, zum anderen die sog. Fachbereiche: Die Sekretariate haben vor allem zur Aufgabe, die Vorbereitung der Ausschußsitzungen zu unterstützen, dem Vorsitzenden während der Ausschußsitzungen zu assistieren, Protokollentwürfe über Verlauf und Inhalte der Beratungen zu fertigen sowie administrative Zuarbeit bei der Nachbereitung der Ausschußsitzungen, insbesondere bei der Umsetzung der Ausschußbeschlüsse (oben V.), zu leisten. In der Regel sind die Ausschußsekretariate mit je einem Beamten des höheren und des gehobenen Dienstes sowie ein bis zwei Schreibkräften besetzt; lediglich die Sekretariate der besonders arbeitsintensiven Ausschüsse, insbesondere des Haushalts-, Innen-, Rechts- und des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, verfügen über eine größere personelle Ausstattung, indem ihnen mehrere (bis zu drei) Beamte des höheren Dienstes sowie weitere Mitarbeiterinnen des gehobenen Dienstes zugewiesen sind. Die Fachbereiche der Wissenschaftlichen Dienste sind vornehmlich mit der Informationsgewinnung und -aufbereitung für die einzelnen Parlamentsmitglieder befaßt. Derzeit verfügt die Bundestagsverwaltung über 11 Fachbereiche (Übersicht bei Backhaus-Maul: 1990, S 62f.) 8 , in denen insgesamt ca. 50 akademisch ausgebildete Mitarbeiterinnen, die Gutachterinnen, arbeiten. Ihre fachliche Zuständigkeit deckt schwerpunktmäßig vor allem die - traditionellen - Bereiche der Rechtspraxis und -Wissenschaft ab; ferner sind Gutachtergruppen auf den Gebieten „Haushalt und Finanzen" (Fachbereich IV), „Wirtschaft" (Fachbereich V), „Forschung, Technologie, Bildung und Wissenschaft, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit" (Fachbereich VIII) sowie „Zeitgeschichte und Allgemeine Politik" (Fachbereich XI) tätig. Die Gutachterinnen können von jedem Parlamentsmitglied mit der Beschaffung, Auswertung und Zusammenstellung von Informationen beauftragt werden, wobei die Art der Auftragserledigung im Einzelfall sehr differiert, indem das Spektrum von der mündlichen Auskunft über die Zusammenstellung einschlägiger Literatur, kurzen Sachstandsdarstellungen bis hin zu umfangreicheren Ausarbeitungen reicht. Daneben verstärken die Fachbereiche derzeit ihre „aktiven" Informationen, indem sie ihre Beratungskapazitäten nicht nur auf Nachfrage einzelner Abgeordneter, sondern auch ohne besonderen Auftrag allen Parlamentsmitgliedern durch kurze Sach8
Die Aufstellung von H. Backhaus-Maul berücksichtigt noch nicht den 1990 eingerichteten Fachbereich XII „Europäische Gemeinschaften"; der Fachbereich „Parlamentarisches Untersuchungsrecht, Enquete-Recht und Recht der Anhörungen" ist 1991 aufgelöst worden.
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
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darstellungen (z.B. zu neueren Gerichtsentscheidungen und aktuellen Problembereichen) zur Verfügung stellen. Die Mitarbeiterinnen der Fachbereiche sind bei ihren Recherchen in erster Linie auf die allgemein zugänglichen Informationsquellen angewiesen. Grundlage für ihre fachlichen Unterstützungsleistungen ist daher vor allem die Bibliothek des Bundestages, die zur Zeit über ca. eine Million Bände verfügt und durch einen jährlichen Zugang von ca. 40000 Bänden sowie ca. 11000 Fachzeitschriften ständig aktualisiert wird (Schindler: 1989, S. 853). Zum weiteren können die Gutachterinnen auf das umfängliche Parlamentsarchiv zurückgreifen, das die Parlamentsmaterialien von Bundestag, Bundesrat und Länderparlamenten sammelt (zu Einzelheiten: Weller: 1985, Sp. 79), sowie die sog. Pressedokumentation der Bundestagsverwaltung in Anspruch nehmen, die ca. 220 Tages- und Wochenzeitungen auswertet (Keim: 1982, S. 35). Ferner haben die Mitarbeiterinnen der Fachbereiche Zugang zu hausinternen Datenbanken, namentlich zu dem „Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentsmaterialien" (DIP), sowie zu dem Auskunftssystem „Stand der Gesetzgebung des Bundes" (GESTA), das Informationen über Inhalt und Stand der Gesetzgebungsverfahren vorhält. Darüber hinaus ist den Gutachterinnen der Zugang zu derzeit ca. 1000 externen Datenbanken eröffnet, unter denen vor allem das „Juristische Informationssystem" (JURIS), welches Auskünfte über Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Literatur ermöglicht, eine in der Praxis wesentliche Rolle spielt. Mit Ausnahme des „Zentralen Dokumentationssystems des Bundespresseamtes" (BPA-DOK) stehen die regierungseigenen Datenbanken den Gutachterinnen dagegen grundsätzlich nicht offen; sie sind insoweit auf mündliche oder schriftliche Auskünfte der Exekutive angewiesen, die bisweilen aufgrund bestehender informeller Kontakte zur Ministerialbürokratie (Kretschmer: 1986a, S. 26) freiwillig gegeben werden, ohne daß die Mitarbeiterinnen der Wissenschaftlichen Dienste einen Rechtsanspruch auf Gewährung solcher Informationen geltend machen können. Die Existenz der Wissenschaftlichen Dienste, insbesondere der Gutachtergruppen, findet ihre Legitimation in der Erwägung, daß den Parlamentsmitgliedern zur Erfüllung vor allem der parlamentarischen Kontrollaufgaben eigene Beratungskapazitäten zur Gewinnung und Aufbereitung von Informationen zur Verfügung stehen müssen, wenn nicht das notorische Informationsgefälle zwischen Regierung und Parlament (oben III.) die Handlungs- und Gestaltungschancen des Bundestages minimieren soll. Dieser Ausgangspunkt ist indes wegen der vorherrschenden Rollenaufteilung zwischen den Regierungsfraktionen einerseits und den parlamentarischen Minderheiten andererseits (oben III.; auch § 5 V.) weiter zu präzisieren: Während nämlich jene aufgrund ihrer engen Verflechtung mit der Bundesregierung, die ihrerseits die Ministerialbürokratie als „Hilfsdienst" einsetzen kann, weit weniger auf die Bereitstellung parlamentseigener Beratungskapazitäten angewiesen sind, besteht hieran für die Oppositionsfraktionen ein erheblicher Bedarf: Der wissenschaftliche Parlamentsdienst erscheint deshalb weniger für die Parlamentsmehrheit, sondern eher für die Bedürfnisse der Opposition notwendig (Steffani: 1989, S. 1339). Von hieraus erklärt sich u.a., daß der seit zwei Jahrzehnten geforderte, nur mit den Stimmen der jeweiligen Mehrheit durchzusetzende Ausbau der Gutachterdienste in allenfalls minimalen Schritten erfolgt ist. Bereits 1972 hielt der damalige Leiter der Wissenschaftlichen Dienste Quaritsch die Verdoppelung der seinerzeitigen Anzahl der Gutachterinnen (40) bis zum Jahr 1980 für notwendig: „Bis dahin" - so schrieb er (:1972, S. 324) - „werden die Abgeordneten den grotesken Zustand in Kauf nehmen
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
müssen, daß bei Krankheit und Urlaub nur eines Gutachters ... für ein ganzes Sachgebiet Funkstille herrscht. Unter diesen Umständen ist das Gespenst einer parlamentarischen Gegenbürokratie', die der Ministerialbürokratie Sand und Schlimmeres ins Getriebe streut, eine literarische Phantasiefigur." An diesen Befunden hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert, und es steht zu vermuten, daß dies auch in Zukunft so bleiben wird; d e n n - s o fragt Steffani (:1989, S. 1339) mit Recht - warum sollte „die Bundestagsmehrheit die Wissenschaftlichen Dienste des Verfassungsorgans Bundestag ausweiten, wenn die von ihr abhängige und mit ihr politisch verbundene Bundesregierung über die Ministerialverwaltung ,verfügen' kann?" Diese Zusammenhänge gilt es bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit der Wissenschaftlichen Dienste zu berücksichtigen (Backhaus-Maul: 1990, S. 33ff;): Aufgrund ihrer knappen personellen Ressourcen sind sie weder in der Lage, auch nur annähernd ein Gegengewicht zur Ministerialbürokratie zu bilden, noch befähigt, auf allen relevanten Politikfeldern ausreichende Beratungskapazitäten bereitzustellen. Dies gilt insbesondere für die zunehmend wichtiger werdenden technologierelevanten Fragestellungen, für deren Bearbeitung in dem für „Forschung, Technologie, Bildung und Wissenschaft, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit" zuständigen Fachbereich lediglich fünf Mitarbeiterinnen mit Hochschulausbildung zur Verfügung stehen. 3. Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechniken Während der personelle Ausbau des Wissenschaftlichen Dienstes i. w. stagniert, hat der Aufbau elektronischer Datenverarbeitungssysteme im Deutschen Bundestag eine relativ rasante Entwicklung genommen. „Er kam" - wie P. Schindler (:1989, S. 846) treffend beschreibt - „schrittweise" und begann gegen Ende der sechziger Jahre, wobei in der Folgezeit zunächst die bundestagsinternen Dokumentationseinrichtungen, beispielsweise das erwähnte Sach- und Sprechregister, auf EDV umgestellt und neue Informationssysteme, insbesondere „GESTA" (oben VIII.), implementiert wurden. Zu Beginn der achtziger Jahre trat die parlamentsinterne Diskussion um die Notwendigkeit der Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechniken und ihrer Leistungsfähigkeit für die parlamentarische Arbeit in eine neue und entscheidende Phase. Beeinflußt war sie vor allem von der Erkenntnis, „daß der Bundestag hinsichtlich des Einsatzes neuer Techniken zur Information und Kommunikation hinter der Entwicklung in Wirtschaft und Wissenschaft" (Bericht der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform, BT-Dr. 10/3600) und hinter derjenigen im Bereich der Exekutive (Übersicht 5) zurücklag; beflügelt war sie zudem von der Hoffnung, mit Hilfe neuer Informations- und Kommunikationstechniken könnten die parlamentarischen Arbeitsabläufe entscheidend erleichtert und Informationsdefizite ausgeglichen werden (i.e. Lange, H.-J.: 1987b, S. 7ff. sowie 1988, S. llOff.). Die vom Ältestenrat eingesetzte Kommission für den „Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken und -medien" (oben IV.) vergab hierauf an die „Arbeitsgemeinschaft GMD/ADV ORGA" einen Studienauftrag mit dem Ziel, sowohl den Bedarf als auch die technischen Voraussetzungen für eine Einführung von IuKTechniken zu ermitteln, die finanziellen, personellen und organisatorischen Folgen abzuschätzen und Modellversuche „mit einigen Abgeordnetenbüros" zu konzipieren. Die GMD/ADV ORGA legte zu diesen Fragenkomplexen, die zwischenzeitlich mit dem Stichwort „PARLAKOM" („parla" für Sprache; „kom"
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für Kommunikation) belegt worden waren, im März 1986 ihren Endbericht vor, der die entscheidende Basis für den nunmehr zügig durchgeführten Einzug der Iuk-Techniken in die Büros der Abgeordneten und der Bundestagsverwaltung bildete. Übersicht 5: Kosten IuK-Techniken - Angaben in Mio D M 1982
1983
1984
1985
1986
1987
1988
1989
1990
Summe
Sachkosten der Informationstechnik in der Bundesverwaltung
274
293
312
329
389
400
430
492
650
3569
Kosten der Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages auf dem Gebiet der Information und Kommunikation
1,2
1,2
1,2
1,2
8,7
24,9
30,9
46,6
55,9
171,8
Jahr
Quellen: Bundeshaushaltspläne 1982-1990; für den Bereich der Bundesbehörden jeweils Titelgruppen „Kosten der DV"; für den Bereich des Bundestages von 1982-1985 jeweils Titelgruppe 02 „Kosten der Datenverarbeitung" in Kapitel 02 01; ab 1986: jeweils Tgr. 04 (Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der Mitglieder des Deutschen Bundestages auf dem Gebiet der Information und Kommunikation) sowie Titel 411 19 in Kap. 02 01 (Aufwendungen zur Nutzung des gemeinsamen Informations- und Kommunikationssystems des Deutschen Bundestages nach § 12 Abs. 5 Abgeordnetengesetz).
Die Verfasser der PARLAKOM-Studie schlugen - auf der Grundlage einer relativ umfänglichen Bedarfsanalyse - die stufenweise Verwirklichung folgenden Konzeptes vor (GMD/ADV ORGA: 1986, S. 27ff.): In einer ersten Stufe sollten im Rahmen eins Modellversuches Abgeordnetenbüros mit Text- und einfachen Datenbanksystemen zur Erleichterung der alltäglichen Büroarbeit (Termin- und Adressenverwaltung, Fertigen von Schreibarbeiten, Archivierungen) ausgestattet, daneben der Zugang zu bestehenden internen und externen Datenbanken erweitert und der Aufbau von Service-Centern (Datenbankabfragestellen) in Angriff genommen sowie ISDN-fähige Nebenstellenanlagen installiert werden 9 . Als zweite Stufe schlugen die Verfasser die Realisierung informationstechnisch unterstützter Kommunikationen bei „gruppenbezogenen Arbeiten innerhalb des ganzen Organisationsgefüges des Deutschen Bundestages und der ihn umgebenden Organisationen" vor (GMD/ADV ORGA: 1986, S. 31). Die hierzu zu installierenden Systeme einer flächendeckenden Kommunikationsinfrastruktur auf der Grundlage einer ISDN-fähigen Nebenstellenanlage in Verbindung mit ande9
Wer sich für die technischen Aspekte interessiert, findet übersichtliche und leicht verständliche Hinweise in dem von Dietrich und Metzendorf herausgegebenem Band „Personalcomputer ( 2 1989) Heidelberg.
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ren Nachrichtenaustauschsystemen soll insbesondere die erleichterte und zügigere Übermittlung, Verwaltung und Bearbeitung von Sitzungsunterlagen (Tagesordnungen, Drucksachen, Protokollauszügen) ermöglichen und den Abgeordneten ein integriertes „Vorgangsverfolgungssystem" zur Verfügung stellen. Die dritte Stufe ist schließlich dem „Bereich aufwendiger analytischer Anwendungen" der implementierten IuK-Techniken vorbehalten, wobei die Verfasser als Beispiele namentlich die Nutzung spezieller Datenbanken und modellgestützter Analysen, aber auch den Zugang zu Informationen der Exekutive anführen ( G M D : 1986, S. 27 und 34). Seit Veröffentlichung der PARLAKOM-Studie ist ein Teil des dort beschriebenen Zielkonzeptes verwirklicht worden: Nahezu alle Parlamentsmitglieder verfügen nunmehr über je einen PC, Drucker, Teletexanschluß sowie über Bürosoftware, die zur Textverarbeitung sowie zur Adress- und Terminverwaltung eingesetzt werden kann. Die teletexfähigen Anlagen sind zur Datenkommunikation innerhalb des Bundestages geeignet, werden - beispielsweise von den Mitgliedern des Haushaltsausschusses - bisweilen auch zur Information über Tagesordnungen und Sitzungsunterlagen, insbesondere zur Übermittlung von Vorlagen, genutzt, sind allerdings in ihrer praktischen Anwendung von einem System überflügelt worden, dem die PARLAKOM-Studie wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte, nämlich: den Telefaxgeräten. Das Schwergewicht der Nutzung der IuKTechniken liegt daher bislang eher in der Erleichterung der täglichen Büro-, namentlich der Schreibarbeiten, weniger in seinem Einsatz als Kommunikationsinstrument; erst recht zeichnet sich derzeit nicht die Möglichkeit von „Computerkonferenzen" ab, von denen Lange (:1987b, S. 182) meint, sie würden die Präsenz der Abgeordneten im Parlament entbehrlich machen. Auch von dem „Bereich umfangreicher analytischer Anwendungen" ist die Praxis - schon aufgrund der hierzu notwendigen, aber derzeit fehlenden personellen Ressourcen (i.e. unten § 11, V.) - weit entfernt, wiewohl die zwischenzeitlich eingerichteten Datenbankabfragestellen des Wissenschaftlichen Dienstes mit dazu beitragen, den Abgeordneten den Zugang zu den erwähnten mehr als 1000 Datenbanken zu erleichtern und ihnen auf diese Weise zusätzliche Informationsquellen zu eröffnen. Verwirklicht ist auch nicht das von der PARLAKOM-Studie für wünschenswert erachtete Ziel eines Direktzugriffs auf Datenbestände von Regierung und Verwaltung, die dem Parlament - mit Ausnahme der allgemein zugänglichen Daten, insbesondere des erwähnten BPA-DOK (oben VIII.) - auch weiterhin mit gutem Grund verschlossen bleiben: Zum einen steht dem Direktzugriff der in Art. 20 G G verankerte Gewaltenteilungsgrundsatz entgegen', der eine ständige, die Regierungstätigkeit begleitende parlamentarische Kontrolle grundsätzlich ausschließt und der Regierung einen unausforschbaren Arkanbereich exekutiver Eigenverantwortung einräumt (BVerfGE 67, 100 sowie oben V. m.w.N.). Diesem Arkanbereich ist ein Teil der in den regierungseigenen Datenbanken gespeicherten Informationen jedenfalls solange zuzurechnen, als die Regierung ihre hierauf aufbauenden jeweiligen Planungsentscheidungen noch nicht abgeschlossen hat (hierzu: Birkelbach: 1974, S. 329; Dobiey: 1974, S. 16; Engels: 1990, S. 71). Z u m anderen sind Probleme des Grundrechtsschutzes, der einen ungefilterten, direkten Zugang auf von der Administration gespeicherte personen- und geschäftsbezogene Daten ausschließt, bislang nicht gelöst. Und schließlich spielen praktische Erwägungen eine Rolle: Das Interesse der Parlamentsmitglieder an - aus ihrer Sicht nicht aufgearbeiteten - „Datenbergen" ist gering, solange diese nicht für ihre parlamentarischen Zwecke aufbereitet sind (unten § 11V.).
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§ 11 Verfahren des Deutschen Bundestages Dieter Engels 1. Der Öffentlichkeitsgrundsatz und seine Einschränkungen. - II. Gesetzgebungsverfahren. - III. Verfahren der Haushaltsgesetzgebung und -kontrolle. IV. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung. - V. Stärung der Kontroll- und Informationsmöglichkeiten als Reformaufgabe. Grundlagenliteratur Vgl. die Angaben zu § 10, ferner: Busch, Eckart ( 4 1991a): Parlamentarische Kontrolle. Heidelberg. Dreier Horst / Hofmann, Jochen (Hg.) (1986): Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung. Berlin. Handschuh, Ekkehard (41991): Gesetzgebung. Heidelberg. Hill, Hermann (Hg.) (1989): Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung. Berlin. Kewenig, Wilhelm (1970): Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse. Bad Homburg u.a. Porzner, Konrad / Oberreuter, Heinrich / Thaysen, Uwe (Hg.) (1990): 40 Jahre Deutscher Bundestag. Baden-Baden. Schneider, Hans ( 2 1991): Gesetzgebung. Heidelberg. Stein, Ekkehard (121990) sowie ( 3 1973): Staatsrecht. Tübingen. Zeh, Wolfgang (1987c): „Parlamentarisches Verfahren". In: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, Bd. II., S. 425ff. Den parlamentarischen Alltag im Bundestag bestimmt eine Vielzahl divergierender, zeitlich parallel geführter Verfahren, die insbesondere die Gesetzgebung und die Kontrolle des Regierungshandelns betreffen und der Beschaffung der hierzu erforderlichen und relevanten Informationen, ihrer Erschließung und Bewertung dienen (zu sonstigen Verfahren § 9 III. und IV.). Die Einleitung dieser Verfahren erfolgt in der Regel durch eine förmliche Initiative (z.B. einen Antrag) eines hierzu berechtigten Verfahrensbeteiligten; ihr weiterer Verlauf wird durch eine Reihe von Verfahrenshandlungen gestaltet, durch die die einzelnen Verfahren bis zu ihrem Abschluß gefördert werden, der in der rechtsverbindlichen Entscheidung (z.B. über einen Gesetzentwurf), der wertenden Stellungnahme (z.B. zu einem Verhalten der Bundesregierung) oder auch nur der Kenntnisnahme (z.B. eines Berichtes der Bundesregierung) durch das Plenum, bisweilen auch nur durch die Ausschüsse oder die Initiatoren des betreffenden Verfahrens besteht. Die Strukturierung der Verfahren und die Steuerung der einzelnen Verfahrensschritte erfolgen im wesentlichen durch die Fraktionen (oben § 10 VI.). Die beteiligten Akteure des Regierungslagers einerseits und der Opposition andererseits verfolgen dabei, jedenfalls typischerweise, inhaltlich und strategisch unterschiedliche Zielsetzungen, die sich u.a. aus den divergierenden Rollen von parlamenta-
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rischer Mehrheit und Minderheit (dazu § 10 III.) erklären. Die Dynamik der Verfahren lebt daher von miteinander konkurrierenden Interessensgegensätzen der Verfahrensbeteiligten, die ihre Verfahrenshandlungen an den jeweils von ihnen verfolgten Zwecken orientieren, die Verfahren häufig kontradiktorisch betreiben und hierzu die ihnen durch die parlamentarische Verfahrensordnung eröffneten Verfahrensrechte instrumentalisieren. Aus der Sicht des Trägers der jeweiligen Initiative sind deshalb die Regeln der Geschäftsordnung über Befugnisse, Kompetenzen und Gestaltungsmöglichkeiten bei Einleitung, Fortführung und Abschluß des Verfahrens von entscheidender Bedeutung: Denn insoweit fungieren die Verfahrensvorschriften nicht nur als formale, den Geschäftsgang ordnende Regelungen, sondern von ihren Festlegungen hängen auch die Durchsetzungschancen der jeweils ergriffenen Initiative ab. Bei der Ausgestaltung der Verfahrensrechte verfährt die Verfahrensordnung nicht nach einheitlichen Prinzipien; sie unterscheidet vielmehr insbesondere danach, • wer Träger der Initiative ist: (Mehrheits-/Minderheits-) Fraktionen, einzelne Parlamentsmitglieder, Abgeordnetengruppen (oben § 10 VII.), • welchem Ziel die Initiative dient: Gesetzesbeschluß oder sonstige rechtsverbindliche Entscheidungen, Kontrolle und Informationsbeschaffung, öffentliche Darstellung und Bewertung eines Sachverhalts sowie danach, • in welchem Gremium die Initiative eingebracht wird: Plenum oder Ausschüsse. Zum weiteren berücksichtigen die Strukturprinzipien der parlamentarischen Verfahrensordnung die unterschiedlichen Stadien der Verfahren, so daß bei ihrer Einleitung, ihrer Fortführung und ihrem Abschluß jeweils divergierende Kompetenzen, Befugnisse und Rechte begründet sein können. So folgt aus der verfassungsrechtlichen Vorgabe, daß abschließende Sachentscheidungen des Bundestages stets nur mit der Mehrheit der Stimmen getroffen werden können (dazu § 5 IV. und § 10 II.) keineswegs, daß auch in den vorgelagerten Verfahrensabschnitten das Mehrheitsprinzip durchgängig verwirklicht sein muß: Bei der Einleitung des Verfahrens und bei Initiativen, die seiner Fortführung dienen, sowie bei sonstigen Verfahrensentscheidungen können und müssen vielmehr - wie im folgenden im einzelnen zu zeigen sein wird - auch die Belange der parlamentarischen Minderheit Berücksichtigung finden (oben §10111.). I. Der Öffentlichkeitsgrundsatz und seine Einschränkungen Die Rückkoppelung der Verfahren des Bundestages zur Öffentlichkeit steht im Interesse sowohl der Regierungsfraktionen als auch der Opposition, wobei letztere allerdings in der Regel in besonderem Maße daran interessiert ist, daß die Parlamentsverfahren öffentlich geführt werden: Denn der Opposition bleibt wie E. Stein (:31973, S. 32) mit Recht feststellt - „häufig gar keine andere Möglichkeit, als an die öffentliche Meinung zu appellieren und mit ihrer Hilfe eine Korrektur von Einseitigkeiten und Mängeln der Regierungspolitik zu versuchen". Hierzu sichert ihr die parlamentarische Verfahrensordnung eine Reihe von Rechten, die überwiegend nicht durch einfache Mehrheitsentscheidungen unterlaufen werden können.
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1. Öffentlichkeit der Plenarberatungen Grundnorm ist insoweit Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG, der für die Plenarberatungen den Öffentlichkeitsgrundsatz vorschreibt (dazu § 10 III.), welcher indes aus Gründen des Schutzes staatlicher und privater Geheimnisse eingeschränkt werden kann, indem für einzelne Verfahrensgegenstände auf Antrag eines Zehntels der Mitglieder des Bundestages oder der Bundesregierung die Öffentlichkeit durch Beschluß der Vollversammlung ausgeschlossen wird, dem mindestens zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten zustimmen müssen (Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG). Von dieser Befugnis hat der Bundestag jedoch bislang keinen Gebrauch gemacht, so daß die Norm des Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG durchgängig verwirklicht wird. Insofern sichern daher alle jene Verfahrensrechte, die einer Fraktion ermöglichen, die Beratung einer Vorlage (näheres § 10IV.) im Plenum durchzusetzen, auch deren Interesse an öffentlicher Darstellung. Dies gilt zum einen für Gesetzgebungsverfahren, indem sowohl die Gesetzentwürfe in erster, zweiter und dritter Lesung (§ 78 Abs. 1 i.V.m. §§ 79, 81, 84 GOßT) als auch die hierzu in der zweiten und dritten Lesung gestellten Änderungsanträge (§§ 82,85 GO-BT) plenaröffentlich behandelt werden. Zum weiteren sind einige Instrumente, die der parlamentarischen Kontrolle und Informationsbeschaffung dienen, plenarbezogen ausgestaltet, so die Befragung der Bundesregierung (unten V.) und insbesondere die Große Anfrage, welche die - auch von einer Minderheitsfraktion durchsetzbare - Möglichkeit der öffentlichen Plenardebatte bietet, und zwar gleichgültig, ob die Bundesregierung eine Antwort vorlegt (§ 101 Satz 1 GO-BT) oder diese verweigert (§ 102 Satz 1 GOBT): In beiden Fällen kann jede Fraktion die Beratung im Plenum verlangen, wobei für die Opposition das in § 102 Satz 2 GO-BT verankerte Verfahrensrecht von besonderem Interesse ist, weil es ihr ermöglicht, die (vermuteten) Gründe für eine unterbliebene Antwort plenaröffentlich aufzudecken - was für die Bundesregierung gelegentlich einschneidender sein kann als die begehrte Antwort zu erteilen, so daß von § 102 Satz 2 GO-BT ein zumindest indirekt wirkender Druck auf sie ausgeht zu antworten. Darüber hinaus sind schließlich alle jene Verfahren plenaröffentlich, die dem Zweck dienen, im Bundestag als dem „Forum der Nation" Fragen besonderer Bedeutung zu debattieren. Im Hinblick hierauf ist vor allem das Recht der Fraktionen relevant, eine (plenaröffentliche) Aktuelle Stunde „für die Aussprache über ein bestimmt bezeichnetes Thema von allgemein aktuellem Interesse" verlangen zu können 1 (§ 106 GO-BT mit Anlage 5 zur GO-BT). Öffentlichkeit der Plenarberatungen bedeutet zum einen, daß jedermann im Rahmen der räumlichen Verhältnisse als Zuhörerln Zutritt zu den Sitzungen des Bundestages hat, zum anderen - und wichtiger - , daß die Sitzungen des Plenums durch Rundfunk und Fernsehen übertragen werden dürfen. Der Bundestag hat zwar - trotz bestehender technischer Möglichkeit hierzu - keinen eigenen Parlamentskanal zur ständigen öffentlichen Übertragung der Plenarsitzungen einrich1
Im 12. Deutschen Bundestag steht dieses Recht - abweichend von den Regeln der Geschäftsordnung - auch der Gruppe von PDS/Linke Liste und der Gruppe von Bündnis 90/ DIE GRÜNEN mit der Maßgabe zu, „pro Jahr eine noch festzulegende Zahl von Aktuellen Stunden" verlangen zu können (BT-Dr. 12/149 und 12/150 sowie PI.-Prot. 12/9, S. 397).
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ten lassen, ermöglicht jedoch den Fernseh- und Rundfunkanstalten, über die Plenarsitzungen zu berichten. Darüber hinaus reserviert er den Presseberichterstatterinnen Plätze im Plenarsaal und trägt durch diese - auf den ersten Blick eher marginale - administrative Maßnahme der Tatsache Rechnung, daß Parlamentsöffentlichkeit in erster Linie „Medienöffentlichkeit" bedeutet.
2. Grundsätzliche NichtÖffentlichkeit der Ausschußberatungen Im Gegensatz zu den Plenarsitzungen sind die Beratungen der Ausschüsse, wie erwähnt (§ 10 III.), grundsätzlich nichtöffentlich (zur Kritik § 9 V.). Zwar können die Ausschüsse auf Antrag eines einzelnen Mitglieds oder einer Fraktion im Ausschuß mit Stimmenmehrheit beschließen, „für einen bestimmten Verhandlungsgegenstand oder Teile desselben die Öffentlichkeit zuzulassen" (§ 69 Satz 2 GOß T ) . Von dieser Befugnis machen die Ausschüsse jedoch so gut wie nie Gebrauch, so daß die NichtÖffentlichkeit bei den Beratungen der Ausschüsse durchgängig praktiziertes Verfahrensprinzip ist, wobei allerdings zwei Ausnahmen beachtlich sind: Die eine betrifft die Anhörungen (vgl. i.e. unten II.), die entsprechend der Grundregel des § 70 Abs. 1 GO-BT zumeist öffentlich durchgeführt werden, die andere die erwähnten Beweisaufnahmen (nicht: die internen Beratungen) der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, für die Art. 44 Abs. 1 G G - in der zutreffenden Erkenntnis, daß Öffentlichkeit eine entscheidende Rahmenbedingung für die Effizienz parlamentarischer Kontrolle ist - den Öffentlichkeitsgrundsatz zwingend vorschreibt (dazu § 10 V.). NichtÖffentlichkeit der Ausschußverfahren bedeutet, daß zu den Sitzungen der Ausschüsse ein nur begrenzter Personenkreis Zutritt hat: Es sind dies • die Ausschußmitglieder und ihre Stellvertreter, • der Präsident des Bundestages und die Fraktionsvorsitzenden, welche in allen Ausschüssen beratende Stimme haben (§§ 7 Abs. 1 Satz 3 und 69 Abs. 4 GOBT), sowie • unter den in § 69 Abs. 2 und 3 GO-BT genannten Voraussetzungen: die übrigen Mitglieder des Bundestages (oben § 10 VII.), ferner • Mitglieder und Beauftragte der Bundesregierung und des Bundesrates (oben § 10,IL), • Mitarbeiterinnen des Ausschußsekretariats (ausführlich § 10 VIII.), sowie • sonstige Personen, insbesondere je ein Mitarbeiter jeder Fraktion, denen der Ausschuß den Zutritt gewähren kann (§ 57 Abs. 4 GÖ-BT). NichtÖffentlichkeit bedeutet nicht ohne weiteres Vertraulichkeit, so daß Verlauf, Inhalte und Ergebnisse der Ausschußberatungen veröffentlicht werden dürfen, unter den Voraussetzungen des § 66 GO-BT öffentlich dargestellt werden müssen: Denn nach § 66 GO-BT haben die federführenden Ausschüsse zu den ihnen überwiesenen Vorlagen dem Plenum Bericht zu erstatten (hierzu § 10 V.), welcher ihre Beschlußempfehlung „mit Begründung sowie die Ansicht der Minderheit und die Stellungnahmen der beteiligten Ausschüsse" zu enthalten hat (i.e. § 66 Abs. 2 GO-BT). Diese Berichte sind in der Regel schriftlich vorzulegen, werden als Bundestagsdrucksache publiziert und stehen daher nicht nur den Parlamentsmitgliedern, sondern auch der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Die Vorschrift des § 66 GO-BT bezieht sich indes nur auf die überwiesenen Vorlagen, so daß hinsichtlich der sonstigen Beratungen, die die Ausschüsse durch-
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führen (oben § 10 V.), weder eine Berichtspflicht noch ein Berichtsrecht gegenüber dem Plenum besteht. Gleichwohl werden auch insoweit Verlauf, Inhalte und Ergebnisse der Beratungen insbesondere auf zwei Wegen veröffentlicht: zum einen durch das Pressezentrum des Bundestages, welches vor allem in den Organen „heute im Bundestag" (hib) und „woche im Bundestag" (wib) regelmäßig und relativ detailliert über die Ausschußverfahren berichtet (dazu auch Hilfsmittel B), I., 4., c)); zum anderen durch die Mitglieder des Ausschusses, insbesondere die Obleute, welche vor, am Rande und im Anschluß an Ausschußsitzungen die Presseberichterstatterinnen über die jeweiligen Auffassungen unterrichten, die sie und ihre Fraktionen in den Ausschußberatungen vertreten.
3. Maßnahmen des Diskretionsschutzes Diese Befugnis, Inhalte der Ausschußberatungen zu publizieren, entfällt allerdings dann, wenn ein Ausschuß die vertrauliche oder geheime Beratung gemäß § 7 der Geheimschutzordnung (GSO-BT) beschließt. Hierzu kann insbesondere dann Anlaß bestehen, wenn die Bundesregierung eingeforderte Informationen mit der Begründung verweigert, der offenen Weitergabe bestimmter Informationen ständen Aspekte des Staatswohls oder private, durch das Grundgesetz oder durch gesetzliche Vorschriften geschützte Geheimhaltungsinteressen entgegen: Gerade dieses Argument spielt in der Praxis eine zunehmende Rolle, wobei die Bundesregierung neuerdings insbesondere datenschutzrechtliche Gründe ins Feld führt, wenn ein Ausschuß Informationen begehrt und sie diese nicht preisgeben will. Mit Geheimhaltungsgründen kann die Bundesregierung jedoch ihre Weigerung nicht begründen, wenn und soweit die Ausschüsse die vertrauliche oder geheime Behandlung gemäß §§ 2, 7 GSO-BT zusichern: Die parlamentarische Geheimhaltung bietet dann die notwendige Vorkehrung, aufgrund derer Informationsansprüche unter Hinweis auf Geheimhaltungsgründe nicht (mehr) ausgeschlossen werden dürfen (i.e. Jahn/Engels: 1989, S. 621f.), und insofern ist die Geheimschutzordnung „Ausdruck der Tatsache, daß das Parlament ohne Beteiligung am geheimen Wissen der Regierung weder das Gesetzgebungsrecht noch das Haushaltsrecht noch das parlamentarische Kontrollrecht gegenüber der Regierung auszuüben vermöchte" (BVerfGE 67,135). Parlamentsintern trägt die Anwendung der Geheimschutzordnung bisweilen auch den Interessen der Opposition Rechnung, indem die geheime oder vertrauliche Behandlung die Vorlage und Beratung von Informationen ermöglicht, die die Bundesregierung ohne parlamentarische Geheimschutzvorkehrungen verweigern dürfte. Aber das Instrument der parlamentarischen Geheimhaltung ist zweischneidig, weil es auch gegen die Belange der Opposition gewendet werden kann, wie vor allem jüngere Beispiele der Praxis der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse belegen (Engels: 21992, S. 181): Paradoxerweise gewinnt gerade in deren Verfahren, die - wie dargelegt - von Grundgesetzes wegen öffentlich zu führen sind, der Aspekt des Geheimnisschutzes an Bedeutung, was u.a. damit zusammenhängt, daß sie in verstärktem Maße auf „private" Beweismittel zurückgreifen und ihre Beweisaufnahmen daher zunehmend grundgesetzlich geschützte Bereiche der Betriebs-, Geschäfts- oder sonstiger privater Geheimnisse tangieren. In solchen Fällen beschließen die Untersuchungsausschüsse mit einfacher
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Mehrheit, sächliche Beweismittel als geheime Verschlußsachen einzustufen oder Zeugen in geheimen Ausschußsitzungen zu vernehmen. Diese Praxis ist jedoch aus mehreren Gründen nicht unproblematisch: zum einen, weil aufgrund einer bloß geschäftsordnungsrechtlichen Regel, der Geheimschutzordnung des Bundestages, der für das Untersuchungsverfahren verfassungsrechtlich verankerte Öffentlichkeitsgrundsatz eingeschränkt wird, zum anderen, weil die Geheimschutzordnung nach ihrem Wortlaut nur auf staatliche, nicht auf private Geheimnisse gemünzt ist (i.e. § 2 GSO-BT). Sie kann daher bei Betriebs-, Geschäfts- und sonstigen privaten Geheimnissen nicht unmittelbar, sondern allenfalls sinngemäß angewendet werden, was indes bedeutet, daß auf unsicherem rechtlichen Boden in die Interessen derjenigen Gruppe eingegriffen wird, der an öffentlicher Präsentation des Beweismittels gelegen ist: Dies ist in aller Regel die Opposition. Gegenüber diesen Bedenken hat sich jedoch das praktische Bedürfnis durchgesetzt: Denn ohne Anwendung der Geheimschutzordnung dürften private Geheimnisse in Untersuchungsverfahren gar nicht zur Sprache kommen. Angesichts eines solchen Totalausfalls einzelner Beweismittel erscheint ihre Nutzung unter Geheimschutzvorkehrungen als das kleinere Übel, weshalb sich die - ausnahmsweise praktizierte - Anwendung der Geheimschutzordnung letztlich damit legitimieren läßt, daß sie einen Kompromiß zwischen dem parlamentarischen Kontrollinterssse und dem berechtigten Bedürfnis nach Diskretion ermöglicht.
II. Gesetzgebungsverfahren In den Wechsel von öffentlichen und nichtöffentlichen Verfahrensabschnitten gliedert sich auch der Gang der Gesetzgebungsverfahren, für die die parlamentarische Verfahrensordnung eine Reihe von Vorschriften bereithält, die nicht nur der Ordnung der formalen Abläufe dienen, sondern auch der Tatsache Rechnung tragen, daß Gesetzgebung ein pluriformer Prozeß in einem gewaltenteilenden Verfahren ist, „in welchem die verschiedensten Instanzen und Meinungsträger mit formellen und informellen Kompetenzen zum Zuge kommen" (Noll: 1973, S. 72; parlamentsgeschichtliche Hinweise § 2). Die wesentlichen formellen Kompetenzen besitzen dabei die Bundesregierung, der Bundesrat und der Bundestag, denen Art. 76 Abs. 1 GG das Gesetzesinitiativrecht überantwortet, wobei Gesetzentwürfe „aus der Mitte des Bundestages", wie erwähnt (oben § 10 VII.), nur von Fraktionen oder von mindestens fünf von Hundert der Mitglieder des Bundestages, ferner im 12. Bundestag auch von einzelnen Gruppen i.S.v. § 10 Abs. 4 GO-BT eingebracht werden können 2 (§ 76 Abs. 1 GO-BT). Unabhängig davon, von wem im Einzelfall die Initiative ausgeht, vollzieht sich das Gesetzgebungsverfahren in dem - von Steffani (1988a, S. 262) so genannten - „Dreiecksverhältnis von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat", wobei die einzelnen Verfahrensabschnitte so ausgestaltet sind, daß weitere Meinungsträger, insbesondere die Verbände, Interessensgruppen und Institutionen der Wissenschaft, an dem formalen Verfahrensgang mit informellen Einwirkungsmöglichkeiten beteiligt werden können. 2
Im 12. Deutschen Bundestag besitzen, wie erwähnt (§ 10 VII.), auch die Gruppe von PDS/Linke Liste und die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN das Recht, Gesetzentwürfe einzubringen.
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In der Regel werden die Gesetzentwürfe von den Bundesministerien erarbeitet und von der Bundesregierung in den parlamentarischen Geschäftsgang eingebracht (näheres § 10 II., Übersicht 1; Bryde: 1989b, S. 863f.), so daß das Gesetzgebungsverfahren normalerweise bereits eine Reihe von Stadien durchlaufen hat, ehe es den Bundestag erreicht. 1. Verfahren auf Initiative der Bundesregierung Das Verfahren beginnt mit der Erstellung eines ersten Entwurfs durch das fachlich zuständige Bundesministerium (zu den Anlässen Schindler: 1988, S. 560 m.w.N.), das zunächst einen „Referentenentwurf" ausarbeitet, und zwar in enger Abstimmung mit den nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien ( G G O II) mitzubeteiligen Ressorts, insbesondere • dem Bundesministerium der Justiz, welches die sog. Rechtsförmlichkeit der vorgesehenen Regelungen in der Entwurfsfassung prüft, • dem Bundesministerium des Innern, welches für die Prüfung zuständig ist, ob der Entwurf verwaltungsmäßig vollziehbar ist, sowie • dem Bundesministerium der Finanzen, welches jedenfalls dann einzuschalten ist, wenn das vorgesehene Gesetz zu Kosten führt, die den Bundeshaushalt belasten. In diesem Stadium stehen dem federführenden Ministerium die gesamten personellen und sächlichen Ressourcen der Administration, auch die Ergebnisse der Arbeiten der in Beiräten und Kommissionen tätigen Berater der Bundesregierung (oben § 10 III.) zur Verfugung. Darüber hinaus nimmt das federführende Bundesministerium Kontakt zu den zuständigen Verbänden und Interessengruppen auf, um im Wege der Rückkopplung deren Stellungnahmen einholen und berücksichtigen zu können. Zudem werden bisweilen, vor allem bei komplexen Materien, verwaltungsinterne Anhörungen mit Sachverständigen, Interessensvertretern und solchen Personen durchgeführt, die von der in Aussicht genommenen gesetzlichen Regelung betroffen sein werden. Der auf dieser Basis erstellte Referentenentwurf des zuständigen Bundesministeriums wird alsdann i.d.R. den obersten Landesbehörden, den Verbänden u n d in unserem Zusammenhang besonders relevant - den Fraktionen des Bundestages zugeleitet, die somit bereits in diesem Verfahrensstadium Gelegenheit haben, sich mit Inhalt und Zielsetzungen des Entwurfs zu befassen. Auf diese Weise können • die Oppositionsfraktionen die Entwurfskonzeption bereits frühzeitig prüfen, Alternativen entwickeln und diese mit denjenigen Landesregierungen abstimmen, mit denen sie politisch harmonieren, • die Regierungsfraktionen sowohl die fraktionsinterne Klärung, ob der Entwurf die Chance besitzt, mehrheitlich akzeptiert zu werden (hierzu § 10 VI.), als auch die notwendige Übereinstimmung mit der Bundesregierung über die wesentlichen Regelungsinhalte herbeiführen. Im Anschluß an diese Phase überarbeitet das federführende Bundesministerium den Referentenentwurf nochmals, wobei sich von selbst versteht, daß insbesondere Änderungswünsche der Regierungsfraktionen berücksichtigt werden, weil andernfalls nicht sichergestellt wäre, daß der Entwurf im Verlaufe des weiteren Verfahrens die erforderliche Zustimmung der Parlamentsmehrheit findet. Der so
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erarbeitete Entwurf wird sodann als Kabinettsvorlage der Bundesregierung zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegt und firmiert von nun ab - sofern und sobald das Kabinett ihm zustimmt - als „Regierungsentwurf". a) Zuleitung an den Bundesrat Diesen Entwurf leitet die Bundesregierung zunächst dem Bundesrat zu, der berechtigt ist, innerhalb von sechs Wochen Stellung zu nehmen (Art. 76 Abs. 2 GG). Die hierauf abzielende Willensbildung des Bundesrates (zum Bundesrat § 22IV.) vollzieht sich in dessen zuständigen Ausschüssen, sodann in seinem Plenum, das entsprechende Beschlüsse mit Mehrheit faßt. Sie haben indes in diesem Verfahrensstadium noch nicht den Charakter einer rechtsverbindlichen Entscheidung (wie sie der Bundesrat in einem späteren Verfahrensabschnitt trifft, unten II. lc), sondern den einer Empfehlung, zu der die Bundesregierung sodann in ihrer „Gegenäußerung" ablehnend oder zustimmend Stellung nehmen kann. Dieses Verfahren hat den Vorteil, daß der Bundestag, dem nunmehr die Bundesregierung den Entwurf zuleitet, von vorneherein die Auffassung des Bundesrates sowie die der Bundesregierung berücksichtigen kann (Stein: 121990, S. 38).
b) Verfahren im Bundestag Sobald der Gesetzentwurf dem Bundestag zugeleitet ist, veranlaßt der Präsident, daß die Vorlage als Bundestagsdrucksache gedruckt und an die Mitglieder des Bundestages verteilt wird. Für ihre äußere Gliederung haben sich feste Schemata eingebürgert, die der Regierungsentwurf berücksichtigt (§ 40 G G O II): Auf einem Vorblatt sind Titel und Kurzangaben zu den Zielsetzungen, zum Inhalt sowie zu den zu erwartenden finanziellen Auswirkungen des vorgesehenen Gesetzes enthalten; zudem sollen unter der hierfür eigens vorgesehenen Rubrik „Alternativen" andere in Betracht zu ziehende Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die die Regierungsentwürfe in der Regel jedoch nicht spezifizieren, so daß die entsprechenden Angaben zumeist aus dem schlichten Wort: „keine" (Alternativen) bestehen (exemplarisch § 12 II.). An das Vorblatt schließen sich der Text der vorgeschlagenen gesetzlichen Regelungen, ferner Ausführungen zur Begründung an, in denen die Notwendigkeit der Novellierung und Anlaß, Inhalte und Zielsetzung des Entwurfs erläutert sowie die einzelnen Vorschriften kommentiert sind. Den Abschluß der Vorlage bildet der Abdruck der Stellungnahme des Bundesrates und der Gegenäußerung der Bundesregierung. Spätestens nach der Zuleitung des Regierungsentwurfs leiten die Fraktionen ihre internen Beratungen ein (oben § 10 VI.), wobei sie an ihre Erörterungen über den vorgängigen Referentenentwurf anknüpfen können. Parallel hierzu führt der Ältestenrat die Verständigung darüber herbei, zu welchem Zeitpunkt der Regierungsentwurf zur ersten Lesung auf die Tagesordnung des Plenums gesetzt wird (oben § 10 IV.). Zugleich erstellt er einen Vorschlag, welchen Ausschüssen der Entwurf zur Mitberatung überwiesen werden und welcher Fachausschuß die Federführung übernehmen soll (oben § 10 V.), die regelmäßig demjenigen Ausschuß vorbehalten wird, der dem Bundesministerium korrespondiert, das den Entwurf ausgearbeitet hat. Darüber hinaus ist in diesem vorbereitenden Stadium zu prüfen, ob die Vorlage „wegen ihrer grundsätzlichen Be-
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deutung oder ihres finanziellen Umfangs geeignet (ist), auf die öffentlichen Finanzen des Bundes oder der Länder einzuwirken" (§ 96 GO-BT); liegen diese Voraussetzungen vor, so empfiehlt der Ältestenrat dem Plenum, den Gesetzentwurf auch dem Haushaltsausschuß zur „Beratung nach § 96 GO-BT" zu überweisen, damit dieser im weiteren Verfahren die Vereinbarkeit des Gesetzentwurfes mit der Haushaltslage prüfen kann.
(1) Die erste Lesung Zu dem vom Ältestenrat vorgeschlagenen Termin findet sodann die erste Lesung im Plenum statt, bei der der Entwurf in der Regel jedoch nicht ausführlich beraten wird. Die Praxis entspricht insoweit der Norm des § 79 GO-BT, wonach eine allgemeine Aussprache nur ausnahmsweise durchgeführt wird, u.a. dann, wenn dies „bis zum Aufruf des betreffenden Punktes der Tagesordnung von einer Fraktion ... verlangt wird." Von dieser Möglichkeit machen die Fraktionen jedoch nur relativ selten und allenfalls in solchen Verfahren Gebrauch, die politisch wichtige, in der öffentlichen Diskussion umstrittene Regierungsentwürfe betreffen. Im übrigen aber besteht die erste Lesung vielfach lediglich aus dem Beschluß des Plenums, durch den entsprechend den Vorschlägen des Ältestenrates die Überweisung • (1) an den federführenden Ausschuß, • (2) an die mitberatenden Ausschüsse und • (3) an den Haushaltsausschuß zur Beratung nach § 96 GO-BT festgelegt wird.
(2) Die Beratungen des federführenden Ausschusses Mit der Überweisung an die Ausschüsse beginnt die entscheidende Phase der parlamentarischen Beratungen des Entwurfs. Der Verlauf der ausschußinternen Interaktionen ist dabei im wesentlichen abhängig von • Art, Umfang und Komplexität des Regierungsentwurfs, • der Bedeutung, die ihm im Kontext der gesamtpolitischen Situation beigemessen wird, • dem für die Beratung zur Verfügung stehenden Zeitrahmen, der mit dem herannahenden Ende der Wahlperiode enger wird (oben § 10 II.), sowie • den von den Fraktionen verfolgten kontroversen Interessen. Hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs neigt die Ausschußmehrheit bei Regierungsentwürfen tendenziell dazu, auf zügige Beratungen zu drängen, wobei sie auf § 62 Abs. 1 GO-BT verweisen kann, der die Ausschüsse zu „baldiger Erledigung" der ihnen überwiesenen Vorlagen verpflichtet. Die Strategie der Opposition ist demgegenüber auf weniger große Eile an gelegt, und sie führt in der Regel an, die Beratungen seien behutsam vorzubereiten, um die vorgeschlagene Novellierung und ihre Zielsetzungen im einzelnen auf die zugrundegelegten Sachverhaltsannahmen sowie auf mögliche Folgen prüfen und Alternativen, die der Regierungsentwurf vernachlässigt, erarbeiten zu können: All dies erfordert Zeit, und der Hinweis der Opposition hierauf ist nicht nur legitim, sondern unter dem Aspekt der Kontrollaufgabe des Parlaments notwendig.
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Diese unterschiedlichen Verfahrensinteressen mit ihren differierenden zeitlichen Vorstellungen haben der Vorsitzende und der Kreis der Obleute (oben § 10 V.) des federführenden Ausschusses bei den organisatorischen und terminlichen Vorbereitungen der Ausschußberatungen zu berücksichtigen, wobei zudem die Zeitplanungen des federführenden Ausschusses mit denen der mitberatenden Ausschüsse zu harmonisieren sind, damit diese ihre Stellungnahmen so rechtzeitig vorlegen können, daß der federführende Ausschuß sie bei seiner Willensbildung und in seinem Bericht an das Plenum berücksichtigen kann. Spätestens mit der Festsetzung des Termins für die Beratung der Vorlage im Ausschuß (siehe § 10 V.) nehmen die Arbeitsgruppen der Fraktionen ihre Vorarbeiten in ihren Arbeitsgruppensitzungen auf, in denen der Entwurf im einzelnen vorberaten wird (oben § 10 VI.). (a) Hierbei verfügen die Mehrheitsfraktionen des federführenden Ausschusses über vergleichsweise gute Gestaltungsmöglichkeiten. Denn insoweit wirkt sich erstens - aus, daß Mitglieder und Beauftragte der Bundesregierung, insbesondere Beamte des korrespondierenden Ministeriums, die die Gesetzesvorlage ausgearbeitet haben und daher mit der Materie vertraut sind, bereits an den Gruppensitzungen der Mehrheitsfraktionen teilnehmen (bereits § 10 VI.). Hieraus ergeben sich sehr dichte Kontroll- und Informationsgelegenheiten, weil die Vertreter der Ressorts den Gruppenmitgliedern Rede und Antwort stehen, und zwar vor allem • zu der Notwendigkeit und den Zielsetzungen des Gesetzentwurfs, • zu den zugrundegelegten Sachverhaltsannahmen und den möglichen Folgen sowie auch • zu den Alternativen und den Gründen, weshalb diese ausgeblendet worden sind. Zweitens können bei den Vorberatungen der Mehrheitsfraktionen die Stellungnahmen und Auffassungen der jeweils zuständigen Verbände, Interessengruppen und sonstigen betroffenen Organisationen und Personen berücksichtigt werden (vertiefend § 13 III.), die sich - meist weit im Vorfeld der Beratungen - vornehmlich an die jeweils zuständigen Berichterstatter (hierzu § 10 V.) der Mehrheitsfraktionen in der richtigen Einschätzung wenden, daß die Berücksichtigung ihrer Anliegen in dem vorgesehenen Gesetz nur dann in Betracht kommt, wenn hierfür die Unterstützung der Mehrheitsfraktionen gewonnen wird. Den hierauf abzielenden Versuchen der Einflußnahme der sog. Lobbyisten, die ihrerseits i.d.R. zu den Inhalten des Gesetzentwurfs unterschiedliche Auffassungen und antagonistische Interessen vertreten, haftet in der öffentlichen Meinung zwar bisweilen der „Geruch von etwas eigentlich Unzulässigem" an (hierzu Dach: 1989, S. 1123). Aber diese Wertung verkürzt die Dinge - wie Dach mit Recht feststellt allzu sehr: Denn die Stellungnahmen der Verbände bieten wesentliche Informationsquellen, weil sie auf Lücken, Widersprüche und sonstige Mängel des Regierungsentwurfs hinweisen, den Blick auf möglicherweise problematische Folgen lenken und alternative Lösungsmodelle anbieten. Diese Informationen können die Mehrheitsfraktionen, insbesondere ihre Berichterstatter, bei der Beurteilung des Regierungsentwurfs und auch dazu nutzen, mit ihnen die Regierungsbeauftragten zu konfrontieren. In dieser Interaktion werden die Einwände, Argumente und Auffassungen der Verbände entweder entkräftet oder zum Anlaß genommen, den Regierungsentwurf zu modifizieren: Entscheidet sich die Gruppe - in Abstimmung mit der Gesamtfraktion und den mit beteiligten übrigen Arbeits-
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gruppen - hierzu, so leisten die Regierungsbeauftragten „Formulierungshilfe" bei der Erstellung entsprechender Änderungsanträge, die die Mehrheitsfraktionen sodann in die Ausschußberatungen einbringen. (b) Bietet hiernach bereits die die Ausschußberatungen vorbereitende Verfahrensphase den Mehrheitsfraktionen diverse Möglichkeiten, die Aufgabe der „kontrollierenden Mitsteuerung" (Zeh: 1989, S. 1092) wahrzunehmen, so befindet sich die Opposition bei ihren Vorbereitungen, die auf eine „stärker kontrovers und alternativ angelegte Kontrolle" (Zeh: 1989, S. 1092 und oben § 10 V.) abzielen, in einer vergleichsweise ungünstigeren Situation, und zwar schon deshalb, weil die Regierungsbeauftragten ihnen in dieser Phase nicht für Befragungen in den Gruppensitzungen zur Verfügung stehen. Die Opposition ist daher bei ihrer kritischen Würdigung des Regierungsentwurfs, bei der Beurteilung der Richtigkeit und Vollständigkeit der zugrundegelegten Sachverhaltsannahmen sowie bei der Abschätzung der Folgen und der Entwicklung alternativer Lösungen auf andere Informationsquellen angewiesen. Solche stehen ihr auch zur Verfügung: Zum einen geht der Vorlage des Regierungsentwurfs in der Regel eine länger währende Diskussions- und Vorlaufphase voraus, in deren Verlauf zu der durch den Entwurf geregelten Materie im Parlament relevante Informationen zusammengetragen werden, und zwar sowohl in den Fachausschüssen, die in der Regel frühzeitig über die Gesetzesplanungen des korrespondierenden Ministeriums unterrichtet sind (dazu § 10 V.), als auch mit Hilfe der sonstigen Instrumente der parlamentarischen Kontrolle; so kann beispielsweise die Opposition, sobald ihr der Referentenentwurf zugestellt ist (II.), durch Große und Kleine Anfragen, durch schriftliche und mündliche Fragen Sachverhalts- und Wertungsaspekte ermitteln. Zum anderen eröffnen ihr einschlägige, in anderen Verfahren vorgelegte Berichte der Bundesregierung, bisweilen auch Ergebnisse der Arbeiten einer Enquete-Kommission, darüber hinaus Kontakte zur Bundes- und Länderadministration, zu partei- und gesellschaftspolitischen sowie wissenschaftlichen Institutionen, zu Verbänden und Interessensvertreterlnnen, ferner auch der Zugang zu den Bibliotheks-, Datenbank- und Dokumentationseinrichtungen des Bundestages (ausführlich § 10 VIII.), gelegentlich auch fraktionsintern durchgeführte Hearings erhebliche Informationsmöglichkeiten. Aber die auf diesen Wegen zu erlangenden Informationen leiden häufig an Defiziten: Sie sind - von Berichten der Enquete-Kommissionen abgesehen - selten vollständig, meistens nicht systematisiert und nicht so aufbereitet, daß sie - innerhalb der in der Regel relativ kurzen Zeitspanne, in der die Beratungen verlaufen - einen kompletten, die Prioritäten und alle in Betracht kommenden Sachverhalts- und Bewertungsalternativen umfassenden Kenntnisstand ermöglichen. Dieser läßt sich nur durch ein erhebliches Maß an Vor- und Zuarbeit gewinnen, die die Administration für die Bundesregierung und damit letztlich auch für die parlamentarische Mehrheit leistet, ohne daß der Opposition auch ein nur annähernd vergleichbarer Apparat, der mit diesen Aufgaben betraut werden könnte, zur Verfügung stände. Denn die personellen Ressourcen ihrer Fraktionsstäbe und der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (oben § 10 VIII.) sind zu knapp ausgelegt, als daß diese die Aufgaben eines - auch der Opposition zur Verfügung stehenden - „Gesetzgebungshilfs-Dienstes" wahrnehmen könnten. (c) Vor diesem Hintergrund gewinnen diejenigen Instrumente, die im Verfahren des federführenden Ausschusses zur Kontrolle und Informationsbeschaffung zur Verfügung stehen, vor allem aus Sicht der Opposition besondere Bedeutung, so daß die Vorbereitung, diese im Ausschußverfahren zu nutzen und zu instrumen-
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talisieren, zum Kernbestand der Vorberatungen der Arbeitsgruppe einer Minderheitsfraktion gehört. Unter diesem Aspekt ist - erstens - relevant, daß der Ausschuß die Bundesregierung um schriftlich oder mündlich zu erstattende Auskünfte oder Berichte ersuchen, auch die Anwesenheit eines Mitgliedes der Bundesregierung verlangen kann (Art. 43 Abs. 1 G G , § 68 GO-BT), welches Rede und Antwort zu stehen hat. Die Ausübung dieser Rechte bedarf zwar der Zustimmung der Ausschußmehrheit; entsprechende Anträge der Opposition haben jedoch gute Aussichten, die Unterstützung der Mehrheit zu finden. Zweitens können alle Mitglieder des Ausschusses den ihnen aufgrund Art. 38 G G zustehenden Informationsanspruch instrumentalisieren und die Bundesregierung sowie die bei den Ausschußberatungen anwesenden Beamten zu Einzelheiten des Gesetzentwurfs befragen, die ihnen - wie dargelegt - grundsätzlich diejenigen Informationen nicht vorenthalten dürfen, die zu einer sachverständigen Beurteilung des Gesetzentwurfs notwendig sind (oben § 10 III.; detailliert § 12 II.) Beide Wege ermöglichen zwar in der parlamentarischen Praxis der Opposition, Informationsdefizite auszugleichen, auch Schwachstellen des Regierungsentwurfs aufzuspüren; sie haben indes den strukturellen Nachteil, daß die Mitglieder und Beauftragten der Bundesregierung es weitgehend in der Hand haben, Art und Umfang der Preisgabe ihres Amtswissens zu bestimmen (näheres § 10 III.) und zudem die Auskünfte auf solche Sachverhalte und Wertungsfragen zu beschränken, die aus ihrer Sicht relevant sind. Aus diesem Grunde ist - drittens wesentlich, daß das parlamentarische Verfahrensrecht mit dem Institut der Anhörung ein Instrument bereithält, das den Ausschüssen ermöglicht, Informationen zu gewinnen, die nicht der Relevanzbeurteilung der Bundesregierung unterliegen. Da an solchen Informationen vor allem die Opposition interessiert ist, sind die entsprechenden Verfahrensregeln folgerichtig minderheitsfreundlich konzipiert, indem der federführende Ausschuß zu überwiesenen Vorlagen eine Anhörung von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen durchführen muß, wenn dies ein Viertel der Ausschußmitglieder, also die qualifizierte Minderheit (dazu § 10 III.), beantragt (§ 70 Abs. 1 GO-BT). Von diesem Verfahrensrecht macht die Opposition auch regen Gebrauch, so daß sich das Instrument der Anhörung zu einem wesentlichen Informationsmittel entwikkelt hat, indem heute praktisch „zu jedem Gesetzentwurf von einiger Bedeutung" ein Hearing stattfindet (Zeh: 1989, S. 1099: näher: Bücker: 1989b, S. 97; Schüttemeyer: 1989, S. 1145; Weßels: 1987, S. 285). Viertens schließlich kann jeder Ausschuß einen Unterausschuß einrichten (§ 55 GO-BT), und zwar auch zu dem Zweck, daß dieser im Wege projektbezogener Arbeitsweise die Beratungen eines Gesetzentwurfes vorbereitet, wobei für dessen Verfahren die Regeln über Ausschüsse entsprechend gelten (oben § 10), allerdings mit der Besonderheit, daß er über das Ergebnis seiner Beratungen ausschließlich dem Ausschuß, der ihn eingesetzt hat, nicht dem Plenum berichtet. Die Einsetzung eines Unterausschusses kann insbesondere in Verfahren, die komplexe Gesetzesmaterien betreffen, aus der Sicht sowohl der Mehrheit als auch der Minderheit von Interesse sein, weil die relativ intensive, auf den Gesetzentwurf konzentrierte Arbeit eines solchen Gremiums, dem in der Regel nur wenige Mitglieder angehören, geeignet ist, das Verfahren zu beschleunigen und
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gleichzeitig die bestehenden Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten des Ausschußverfahrens nochmals zu verdichten. (d) Auf der Basis der in den Verfahren der Arbeitsgruppen und des Ausschusses oder des Unterausschusses gewonnenen und bewerteten Informationen können die Fraktionen und die einzelnen Mitglieder des federführenden Ausschusses zu jeder Vorschrift des Regierungsentwurfs Änderungsanträge stellen, über die nach den geschilderten Regeln (oben § 10 V.) beraten wird. Zudem bezieht der federführende Ausschuß die ihm schriftlich übermittelten Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse ein, die - analog der im federführenden Ausschuß praktizierten Arbeitsweisen - den Gesetzentwurf unter jeweils fachspezifischen Blickwinkeln beraten. Diese Stellungnahmen geben die Auffassungen der mitbeteiligten Fachausschüsse wieder, die von diesen jeweils mit Stimmenmehrheit, also mit Zustimmung der Regierungsfraktionen, beschlossen sind; angefügt sind i.d.R. ferner die im mitberatenden Fachausschuß abgelehnten Änderungsanträge der Opposition, die freilich nicht Bestandteil der Stellungnahme sind. Die Voten der mitberatenden Fachausschüsse bieten den Mitgliedern des federführenden Ausschusses normalerweise keine zusätzlichen Beratungs- und Entscheidungsaspekte. Dies liegt daran, daß bereits in den fraktionsinternen Abstimmungsprozessen die Positionen der Fraktionen festgelegt und dementsprechend die Auffassungen der einzelnen - federführend und mitbeteiligt eingeschalteten - Fraktionsarbeitsgruppen harmonisiert werden (hierzu § 10 VI.), die sodann die jeweilige Fraktionsmeinung sowohl in dem federführenden Ausschuß als auch in den mitberatenden Ausschüssen einheitlich vertreten. Infolge dieser fraktionsinternen Abstimmungsprozesse enthalten die - mit der jeweiligen Mehrheit - beschlossenen Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse in der Regel nur solche Änderungsempfehlungen, die auch die Mehrheit im federführenden Ausschuß als Änderungsanträge einbringt; entsprechendes gilt für die von der Opposition gestellten Anträge. Diese Verfahrensweise bietet den Vorteil, daß einerseits die fraktionsinterne Befassung der jeweils zuständigen Arbeitsgruppen die Prüfung des Gesetzentwurfs unter allen fachlich relevanten Aspekten ermöglicht und andererseits die erforderliche Koordinierung zwischen den federführend und mitberatend beteiligten Gremien jeweils durch die Fraktionen gesteuert und erreicht wird: Die verschiedenen Stränge der Willensbildung fließen auf diese koordinierte Weise in dem federführenden Ausschuß zusammen, der sodann über die dem Plenum zu unterbreitende Beschlußempfehlung mehrheitlich entscheiden kann. Hierzu beschließt der federführende Ausschuß entsprechend den dargestellten Regeln (oben § 10 V.) zunächst über die von den Fraktionen und den Mitgliedern des Ausschusses zu den einzelnen Vorschriften des Regierungsentwurfs gestellten Änderungsanträge. Im Ergebnis erfahren auf diese Weise ca. zwei Drittel der Regierungsentwürfe Änderungen (Übersichten bei Schindler: 1988, S. 587), wobei diese rein quantitative Betrachtung freilich keine Aussage darüber zuläßt, ob die Gesetzentwürfe im Verlaufe der Ausschußberatungen „gravierend" geändert werden oder nicht. Im Anschluß an die Abstimmung über die Einzelvorschriften stimmt der Ausschuß sodann nach Mehrheitsregeln über den Gesetzentwurf insgesamt und die dem Plenum zu unterbreitende Beschlußempfehlung ab, die so formuliert sein muß, daß die Vollversammlung ihr mit „Ja" zustimmen oder sie mit „Nein" ablehnen kann (§46 GO-BT). Sie lautet daher bei Regierungsentwür-
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fen zumeist: „Der Bundestag wolle beschließen, den Gesetzentwurf ... nach Maßgabe der folgenden Änderungen..., im übrigen unverändert anzunehmen". Diese Beschlußempfehlung wird mit dem schriftlichen Bericht (I.), den die Berichterstatter zumeist auf der Grundlage eines vom Sekretariat des Ausschusses erarbeiteten Entwurfs erstellen, dem Plenum vorgelegt, wobei Beschlußempfehlung und Bericht als Bundestagsdrucksache gedruckt und an die Mitglieder des Parlaments, den Bundesrat und die Bundesministerien verteilt werden.
(3) Die Beratungen des Haushaltsausschusses gemäß § 96 GO-BT Sofern das Plenum dem Haushaltsausschuß den Regierungsentwurf zur Beratung nach § 96 GO-BT überweist (II.), prüft dieser die zu erwartenden finanziellen Auswirkungen des vorgesehenen Gesetzes einschließlich der vom federführenden Ausschuß empfohlenen Änderungen. Beratungsziele sind dabei zum einen die Feststellung, ob der Gesetzentwurf mit dem laufenden Haushalt und künftigen Haushalten vereinbar ist, zum anderen die Erarbeitung eines Vorschlages, auf welche Weise die nach Inkrafttreten des Gesetzes zu erwartenden „Mindereinnahmen oder Mehrausgaben" künftig gedeckt werden können (i.e. § 96 Abs. 4 GO-BT). Beide Verfahrensziele setzen die exakte Ermittlung der finanziellen Auswirkungen, aber auch detaillierte Kenntnisse des Bundeshaushaltes voraus. Diesen Erfordernissen trägt die Praxis des Haushaltsausschusses durch folgende Vorkehrungen Rechnung: Der Haushaltsausschuß verfügt zum einen über ein ausgefeiltes Berichterstattersystem, das darin besteht, daß zu jedem Haushaltsplan eines jeden Ministeriums ( = sog. Einzelplan) jeweils ein Mitglied aus jeder Fraktion im Ausschuß als Berichterstatter bestellt wird, und zwar grundsätzlich für die Dauer der gesamten Wahlperiode, während der die Berichterstatter in ständigem Kontakt mit „ihrem" Ressort stehen, sich in deren Einzelpläne detailliert einarbeiten und deren Struktur daher genau kennen (zu Einzelheiten: Eickenboom: 1989, S. 1187); diese arbeitsteilige, die Mitglieder der Mehrheits- und Minderheitsfraktionen gleichbehandelnde ausschußinterne Organisation bietet nicht nur ein Höchstmaß an Spezialisierung eines jeden Ausschußmitgliedes, sondern ermöglicht auch, daß die Berichterstatter aufgrund der ihnen offenstehenden Informationen des jeweiligen Bundesministeriums Erkenntnisse über die finanziellen Auswirkungen eines Regierungsentwurfes besitzen sowie Möglichkeiten der Deckung in Erfahrung bringen können. Zum weiteren nehmen an den Sitzungen des Haushaltsausschusses ständig Beamte des Bundesministeriums der Finanzen teil, welches bereits in der Phase der Vorbereitung des Regierungsentwurfs die finanziellen Auswirkungen geprüft hat und auf dessen Stellungnahme die Kostenangaben fußen, die das Vorblatt des Regierungsentwurfes enthält (hierzu II.). Daher haben alle Ausschußmitglieder, insbesondere die Berichterstatter, während der Ausschußberatungen Gelegenheit, Details zu den finanziellen Aspekten zu erfragen, wobei von Seiten des Bundesministeriums der Finanzen in der Regel umfassende Auskünfte gegeben werden, die die Ausschußmitglieder zumindest auf Vollständigkeit und Schlüssigkeit überprüfen.
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Darüber hinaus verfügt der Haushaltsausschuß über enge Kontakte zum Bundesrechnungshof, der zu den Sitzungen des Ausschusses einen ständigen Beobachter sowie fachlich zuständige Abteilungs- und Prüfungsgebietsleiter entsendet, denen nach den Ausschußusancen der Vorsitzende auf ihre Bitte oder auf Fragen der Ausschußmitglieder das Wort erteilt. Der Bundesrechnungshof, der weder an Weisungen der Bundesregierung noch an solche des Parlamentes gebunden ist und dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit genießen (Art. 114 Abs. 2 GG; ferner Eickenboom/Heuer: 1985, S. 997; Zavelberg: 1990, S. 102), steuert vielfach weitere Informationen zu den finanziellen Auswirkungen eines Gesetzentwurfes bei, und zwar auf zweifachem Wege: zum einen, indem er aus eigener Initiative zu den finanziellen Folgen eines Gesetzentwurfs Ermittlungen anstellt und über deren Ergebnisse dem Parlament, vornehmlich dem Haushaltsausschuß, berichtet, zum anderen, indem er auf Bitten von Mitgliedern des Haushaltsausschusses - auch einer Minderheitsfraktion - mündlich oder schriftlich Auskunft gibt. Die Ermittlung und Bewertung der finanziellen Auswirkungen eines Gesetzentwurfes durch den Haushaltsausschuß fußt daher auf drei Säulen: der Sachkompetenz der spezialisierten Ausschußmitglieder, den Informationen der Bundesregierung, insbesondere des Bundesministeriums der Finanzen, sowie den Berichten des unabhängigen Rechnungshofes. Dieses System ermöglicht dem Haushaltsausschuß zumeist die genaue Quantifizierung der Kosten eines Gesetzes, weshalb die diesbezüglichen Sachverhaltsfeststellungen in der Mehrzahl der Fälle im Haushaltsausschuß nicht streitig sind und einvernehmlich getroffen werden. Anders ist dies freilich hinsichtlich der Feststellung der Vereinbarkeit der Folgekosten mit der Haushaltslage und dem zu unterbreitenden Deckungsvorschlag, da insoweit - häufig umstrittene - Wertungsfragen im Spiel sind, nämlich: ob und in welchem Umfang den im Regierungsentwurf vorgesehenen Maßnahmen Priorität vor anderen Projekten einzuräumen ist, deren Verwirklichung zur „Dekkung der Mindereinnahmen oder Mehrausgaben" zurückzustellen ist. Die diesbezüglichen Feststellungen und Vorschläge trifft der Ausschuß in - notfalls streitiger - Abstimmung, für die die allgemeinen, dargelegten Regeln gelten (oben § 10 V.). Diese Beschlüsse werden sodann in einem Bericht an das Plenum dargestellt, der ebenfalls als Bundestagsdrucksache verteilt wird. In der Regel erteilt der Haushaltsausschuß Regierungsentwürfen das Testat, sie seien mit der Haushaltslage vereinbar; die Verweigerung dieser Feststellung ist selten und kommt allenfalls dann vor, wenn der federführende Ausschuß kostenwirksame Änderungen empfiehlt, ohne diese zuvor mit den „Haushältern" der Mehrheitsfraktionen abgestimmt zu haben: In diesen Fällen allerdings wird die durch § 96 GO-BT begründete besondere Stellung des Haushaltsausschusses evident, weil die Vorlage als „erledigt" gilt, wenn weder er noch das Plenum die Möglichkeit einer Deckung bejaht (§ 96 Abs. 4 Satz 4 und 5 GO-BT).
(4) Die zweite und dritte Lesung Die Beschlußempfehlung und der Bericht des federführenden Ausschusses sowie der Bericht des Haushaltsausschusses nach § 96 GO-BT bilden die Basis für die zweite und dritte Lesung des Regierungsentwurfs, die zumeist aufgrund entsprechenden Vorschlages des Ältestenrates auf denselben Sitzungstag terminiert werden.
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Die zweite Lesung hat dabei drei Funktionen: Zum einen dient sie der allgemeinen Aussprache, sofern eine Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages sie verlangen; den Rednerinnen der Fraktionen bietet sie insoweit Gelegenheit, die grundsätzlichen Positionen und Bewertungen plenaröffentlich darzustellen. Zum weiteren bezweckt sie die Aussprache über die Details jeder „selbständigen Bestimmung" (§ 81 Abs. 2 GO-BT), also jedes einzelnen Paragraphen oder Artikels des Entwurfs, wobei die Berichterstatter das Recht besitzen, jederzeit das Wort zu ergreifen (§28 Abs. 2 GO-BT). Darüber hinaus können die Fraktionen und jedes einzelne Parlamentsmitglied zu jeder Bestimmung des Entwurfs Änderungsanträge stellen (§ 82 Abs. 1 GO-BT). Über diese und die Bestimmungen des Entwurfs in der Fassung der Beschlußempfehlung des federführenden Ausschusses stimmt das Plenum im Anschluß an die Aussprache ab. Überraschungsergebnisse stellen sich hierbei in der Regel nicht ein, weil die formierte Mehrheit des Plenums der mit den Stimmen ihrer Fraktionsmitglieder im federführenden Ausschuß beschlossenen Beschlußempfehlung folgt. Dieses Verfahren trägt einerseits dem Sinn und Zweck der bundestagsinternen Arbeitsteilung Rechnung (oben § 10 II. und VI.), führt aber andererseits dazu, daß die Debattenbeiträge und die Änderungsanträge keineswegs bezwecken, den politischen Gegner argumentativ zu überzeugen; sie dienen vielmehr ausschließlich den Zielen, die eigene Position gegenüber der Öffentlichkeit darzustellen und zu dokumentieren (hierzu § 10 III.) sowie das eigene Abstimmungsverhalten öffentlich zu begründen. Die in der zweiten Lesung gefaßten Beschlüsse bilden die Grundlage für die sodann erfolgende dritte Beratung, die gemäß §§ 84 bis 86 GO-BT durchgeführt wird, und zwar zumeist in unmittelbarem Anschluß an die zweite Lesung (Ritzel/ Bücker: § 83 Anm. I b zu Ausnahmen: § 84 Satz 1 GO-BT). Von dieser unterscheidet sie sich dadurch, daß sie grundsätzlich nicht mehr der Detailberatung jeder einzelnen Vorschrift, sondern allenfalls der allgemeinen Aussprache dient; diese wird indes nur dann eröffnet, wenn in zweiter Beratung keine allgemeine Aussprache stattgefunden hat und sie vom Ältestenrat empfohlen oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages verlangt wird. Auch in der dritten Lesung können noch Änderungsanträge gestellt werden, jedoch nicht von einem einzelnen Abgeordneten, sondern ausschließlich von den Fraktionen oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages - freilich mit der Beschränkung, daß sich diese Anträge nur auf diejenigen Bestimmungen beziehen dürfen, zu denen in zweiter Beratung Änderungen beschlossen wurden (§ 85 Abs. 1 GO-BT). Da diese Bedingung selten erfüllt ist und die allgemeine Aussprache bereits zumeist in die zweite Beratung integriert wird, verläuft die dritte Lesung in der Regel relativ zügig, indem unmittelbar in die Schlußabstimmung eingetreten wird (§ 86 GO-BT), durch die mit der erforderlichen Mehrheit der Gesetzesbeschluß i.S.v. Art. 77 Abs. 1 Satz 1GG gefaßt wird.
c) Der Abschluß des Verfahrens Für den weiteren Gang des Verfahrens, an dem nunmehr der Bundesrat maßgeblich beteiligt ist, ist von entscheidender Bedeutung, ob es sich bei dem beschlossenen Gesetz um ein Zustimmungs- oder ein Einspruchgesetz handelt.
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Übersicht: Gang der Gesetzgebung
Zustimmungsgesetze sind alle diejenigen Gesetze, für die das Grundgesetz die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates ausdrücklich vorschreibt (z.B. Art. 84 Abs. 1 G G und Art. 105 Abs. 3 GG). In diesen Fällen hat der Bundesrat eine ausgesprochen starke Stellung, weil das Gesetz nur dann zustandekommt, wenn er ihm durch Beschluß zustimmt; schon sein Schweigen führt dazu, daß das Gesetz scheitert (Stein: 121990, S. 323). Bei Verweigerung der Zustimmung können Bundestag und Bundesregierung den Vermittlungsausschuß anrufen (oben § 10 V.; zu Einzelheiten Handschuh: "1991, S. 90). Stimmt der Bundestag oder der Bundesrat dessen Vermittlungsvorschlägen nicht zu, so kann das Gesetz nicht in Kraft treten.
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Hat hiernach der Bundesrat die Möglichkeit, Zustimmungsgesetze endgültig zu blockieren, so ist seine Position bei Einspruchsgesetzen-dies sind alle diejenigen Gesetze, für die das Grundgesetz die Zustimmungsbedürftigkeit nicht ausdrücklich normiert - relativ schwach ausgestaltet, weil der Bundestag sich über einen Einspruch des Bundesrates hinwegsetzen kann. Bei Einspruchsgesetzen hat der Bundesrat, sofern er mit der vom Bundestag beschlossenen Regelung nicht einverstanden ist, die Befugnis, innerhalb von drei Wochen den Vermittlungsausschuß anzurufen (Art. 77 GG). Macht er von diesem Recht Gebrauch, so gestaltet sich das weitere Verfahren wie folgt: (1) Schlägt der Vermittlungsausschuß eine Änderung des Gesetzes vor, so hat der Bundestag erneut Beschluß zu fassen; sofern der Bundesrat mit diesem nicht einverstanden ist, kann er binnen zwei Wochen Einspruch einlegen (dazu sogleich). (2) Empfiehlt der Vermittlungsausschuß keine Änderung des Gesetzes, so muß der Bundestag nicht mehr befaßt werden; der Vermittlungsvorschlag wird vielmehr ausschließlich vom Bundesrat erneut beraten, der wiederum die Möglichkeit hat, innerhalb von zwei Wochen Einspruch einzulegen. Ruft der Bundesrat den Vermittlungsausschuß nicht an oder legt er im Anschluß an das Vermittlungsverfahren innerhalb der Zwei-Wochen-Frist keinen Einspruch ein, so ist das Gesetz zustandegekommen. Beschließt der Bundesrat fristgerecht die Einlegung des Einspruchs, so kann der Bundestag diesen zurückweisen. Er muß hierfür freilich eine Mehrheit aufbringen, die derjenigen im Bundesrat entspricht: Hat dieser mit einfacher - und dies heißt beim Bundesrat: mindestens mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Stimmen (Art. 52 Abs. 3 GG) - den Einspruch beschlossen, so kann der Bundestag ihn ebenfalls nur mit der Mehrheit der gesetzlichen (nicht nur: der anwesenden) Mitglieder zurückweisen; hat der Bundesrat den Einspruch mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen, so bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden, mindestens jedoch der Mehrheit seiner gesetzlichen Mitglieder (d.h. im 12. Deutschen Bundestag: 332 Stimmen). Die Beteiligung des Bundesrates an den Gesetzgebungsverfahren des Bundes ist vom Grundgesetz nicht nur aus Gründen des föderativen Staatsaufbaus, sondern auch aufgrund sehr pragmatischer Erwägungen vorgesehen (hierzu Bryde: 1989b, S. 861): Bei den Beratungen im Bundesrat werden die Gesetze - wie E. Stein (:121990, S. 324) mit Recht feststellt - vor allem „auch unter verwaltungstechnischen Aspekten gründlich durchleuchtet, wobei häufig sachliche Fehler aufgedeckt werden, die dann der Bundestag ohne weiteres korrigiert. Dem Bundesrat kommt hierbei zugute, daß die Gesetze vorwiegend von den Ländern ausgeführt werden, die deshalb regelmäßig über größere Erfahrungen im Gesetzesvollzug verfügen", welche sie bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit des Gesetzes in die Beratungen des Bundesrates einbringen können. Dies und das Zurücktreten der parteipolitischen Gegensätze, die im Bundesrat eine weniger große Rolle als im Bundestag spielen (Herles: 1989, S. 231), ermöglicht ihm eine weitgehend sachliche Orientierung, die der Qualität der Gesetzgebung des Bundes insgesamt zugute kommen kann. 2. Verfahren auf Initiative des Bundesrates Der Bundesrat spielt nicht nur in den von der Bundesregierung initiierten Gesetzgebungsverfahren eine entscheidende Rolle, sondern besitzt, wie eingangs er-
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wähnt, auch ein eigenes Gesetzesinitiativrecht, von dem er allerdings weniger häufig als die Bundesregierung und die Fraktionen des Bundestages, jedoch vor allem in Perioden Gebrauch macht, in denen sich seine Mehrheitsverhältnisse von den im Bundestag herrschenden unterscheiden (Übersichten bei Schindler: 1988, S. 549). In diesen Fällen sind Gesetzentwürfe des Bundesrates der Sache nach Oppositionsentwürfe, die zumeist mit der entsprechenden Minderheitsfraktion im Bundestag abgestimmt sind. Das Initiativrecht steht nur dem Bundesrat als ganzem, nicht seinen einzelnen Mitgliedern zu. Bundesratsintern geht die Initiative jedoch von einem einzelnen Bundesland oder mehreren Bundesländern gemeinsam aus, deren Gesetzentwurf, der in der Regel von den Länderadministrationen erarbeitet ist, zunächst von den zuständigen Ausschüssen, sodann vom Plenum des Bundesrates beraten wird. Beschließt der Bundesrat, den Entwurf einzubringen, so leitet er ihn zunächst der Bundesregierung zu, damit diese Gelegenheit hat, ihre Auffassung zu dem Entwurf zu erarbeiten und darzulegen (Art. 76 Abs. 3 GG). Hierfür steht ihr eine Frist von drei Monaten zur Verfügung, innerhalb derer das für die betreffende Materie zuständige Bundesministerium (i.e. II.) eine Stellungnahme ausarbeitet, die das Kabinett beschließt. Alsdann leitet die Bundesregierung den Entwurf und ihre Stellungnahme dem Bundestag zu. Das weitere Verfahren verläuft nach den dargelegten Regeln (oben, II.), freilich mit der Besonderheit, daß sich in den Fällen, in denen ein Entwurf materiell der Opposition zuzurechnen ist, parlamentsintern die Rollen tauschen, indem nunmehr in der Regel die Mehrheit die Contre-rôle übernimmt, die Schwächen des Entwurfs in den Vordergrund ihrer politischen Strategie stellt und mit entsprechenden Argumenten ihre ablehnende Haltung motiviert.
3. Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages Das Gesetzesinitiativrecht, das von den Fraktionen oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages ausgeübt werden kann (II.) 3 , nehmen in der Praxis sowohl die parlamentarische Mehrheit als auch die Minderheit wahr (statistische Angaben bei Schindler: 1988, S. 549), allerdings mit strategisch unterschiedlichen Zielsetzungen. Bei der Mehrzahl der von den Regierungsfraktionen vorgelegten Gesetzentwürfe handelt es sich nicht um eigenständige, sondern um von der Bundesregierung ausgearbeitete Entwürfe, die insbesondere in zwei Fällen von den Mehrheitsfraktionen in den Bundestag eingebracht werden: zum einen dann, wenn Regierungsentwürfe in einer Wahlperiode nicht mehr abschließend beraten werden konnten und infolge des Diskontinuitätsgrundsatzes (hierzu § 10 II.) als formal erledigt gelten; sofern die politische Konstellation im darauffolgenden Bundestag identisch geblieben ist, bringen die Mehrheitsfraktionen gelegentlich solche Gesetzesentwürfe inhaltlich unverändert „erneut", nunmehr aber als Fraktionsentwürfe, ein (Handschuh: 1991, S. 54). Da Gesetzentwürfe aus der Mitte des Bundestages - anders als Regierungsentwürfe - nicht nach Art. 76 Abs. 2 GG zunächst dem Bundesrat zugeleitet werden müssen (hierzu II.), bietet dieses Verfahren den Vorteil der Zeitersparnis, weil der neue Bundestag seine Beratungen unmit3
Vgl. in diesem Zusammenhang nochmals Fn 2.
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telbar nach Beginn der Wahlperiode aufnehmen kann, ohne daß eine erneute Stellungnahme des Bundesrates, der sich mit dem in der vorgängigen Wahlperiode eingebrachten inhaltsgleichen Regierungsentwurfs ohnehin bereits befaßt hat, abgewartet werden müßte. Z u m anderen nutzen die Regierungsfraktionen das Gesetzesinitiativrecht in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit zur Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens: Sofern ihnen und der Bundesregierung der sog. erste Durchgang eines Regierungsentwurfs im Bundesrat (oben, II.) als zu zeitraubend erscheint, nutzen die Mehrheitsfraktionen die verfahrensrechtliche Befugnis, einen mit dem Regierungsentwurf inhaltlich übereinstimmenden Fraktionsentwurf einzubringen, der die sofortige und damit zügigere Beratung im Bundestag ermöglicht. Dieses Verfahren ist nicht unproblematisch, weil es in der Sache zu einer Verkürzung des Rechts der Stellungnahme des Bundesrates (oben, II.) führt; verfassungsrechtlich ist es jedoch nach herrschender Auffassung zulässig (streitig, Bryde: 1989b, S. 870 m.w.N. in Fn 43), was im Ergebnis deshalb vertretbar ist, weil der Bundesrat im übrigen unverändert seine Zustimmungs- oder Einspruchsrechte im sog. Zweiten Durchgang (oben I.) besitzt. Während es hiernach den Mehrheitsfraktionen bei der Einbringung von Gesetzentwürfen in erster Linie um die Beschleunigung des parlamentarischen Verfahrens geht, steht für eine Minderheitsfraktion bei der Vorlage von Gesetzentwürfen , die wegen der formierten Mehrheitsverhältnisse im Bundestag so gut wie keine Chance besitzen angenommen zu werden, im Vordergrund, ihre Auffassung zu einer bestimmten Problemstellung öffentlich zu dokumentieren, und zwar auch mit der beabsichtigten Wirkung, daß Bundesregierung und Mehrheitsfraktionen sich gezwungen sehen, zu der von der Opposition favorisierten, in dem Gesetzentwurf unterbreiteten Problemlösung öffentlich Stellung zu nehmen und „Farbe zu bekennen". Für diese Zielsetzung ist relevant, daß die Geschäftsordnung eine Reihe von Vorschriften bereithält, die auch einer Minderheitsfraktion garantieren, daß ihre Gesetzesvorlagen im Plenum des Bundestages öffentlich debattiert werden: So kann sie zum einen zur Beschleunigung der Beratung auf das erwähnte, in § 20 Abs. 4 GO-BT verankerte Recht rekurrieren (oben § 10 V.), ferner durchsetzen, daß über ihren Gesetzentwurf eine allgemeine Aussprache stattfindet (§§ 79, 81 Abs. 1 und 84 GO-BT), und schließlich die namentliche Abstimmung initiieren (§ 52 Satz 1 GO-BT), durch die öffentlich dokumentiert wird, wie die einzelnen Mitglieder des Parlaments zum Inhalt des Gesetzentwurfs stehen.
III. Verfahren der Haushaltsgesetzgebung und -kontrolle Eine besondere Rolle spielen diejenigen Verfahren des Bundestages, die das Budgetrecht, also die Feststellung des Haushaltsplans des Bundes und die Kontrolle der Haushaltsführung der Bundesregierung betreffen. Sie verlaufen in öffentlichen und nichtöffentlichen, im Plenum und in den Ausschüssen geführten Verfahrensabschnitten, die so ausgestaltet sind, daß die gesetzgebenden Aufgaben und die parlamentarischen Funktionen der nachlaufenden, begleitenden und mitsteuernden Kontrolle (dazu unter III.) miteinander verschränkt sind. Die Haushaltsverfahren sind insoweit zum einen ein Beleg für die These, „daß Gesetzgebung in den umfassenden Kontrollprozeß einverteilt ist und tendenziell zu
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einem seiner Bestandteile wird" (Zeh: 1989, S. 1091 sowie oben § 10 V.); zum anderen bieten sie Paradigmata dafür, welche Verfahren zur Kontrolle von Regierungshandeln die Parlamentspraxis entwickelt hat (hierzu und zum folgenden Birk: 1983, S. 865; Eickenboom: 1989, S. 1184; Mandelartz: 1982, S. 7; v . Mutius: 1984, S. 147). 1. Haushaltsgesetz Die rechtliche Grundlage für die Haushaltsführung der Bundesregierung bildet der Haushaltsplan, der für jeweils ein Rechnungsjahr (= Kalenderjahr) gilt und in den alle Einnahmen und Ausgaben des Bundes eingestellt sind. Er wird insofern zutreffend als „Schicksalsbuch" der Nation bezeichnet, als in ihm nicht nur die Mittel für Personalausgaben und Verwaltungsaufwendungen des Bundes etatisiert sind, sondern u. a. auch diejenigen für die Investitionen des Bundes, für den Verteidigungs-, Umwelt-, Verkehrs- und Sozialbereich, für die Wirtschafts-, Wohnungsbau- und Forschungsförderung sowie für die Beteiligung des Bundes an kostenintensiven Forschungs-, Entwicklungs- und Technikprojekten. Seine in „Zahlen und Zweckbestimmungen" gefaßten Festlegungen (Eickenboom: 1989, S. 1185) sind für die Verteilung der dem Bund zur Verfügung stehenden Mittel maßgebend, definieren die finanziell zu fördernden Interessen und bestimmen die Gestaltungsspielräume der Bundesregierung und ihrer Administration entscheidend. Nach Art. 114 GG ist der Haushaltsplan, der derzeit ein Volumen von ca. 435 Mrd DM aufweist, durch Gesetz festzustellen, das nach dem Prinzip der Vorherigkeit (Art. 114 Abs. 2 GG) grundsätzlich vor Beginn des jeweiligen Jahres, für das es gelten soll, beschlossen werden muß. Dieser zeitlichen Vorgabe tragen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, die an dem Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, seit 1983 - von einer das Jahr 1991 betreffenden Ausnahme abgesehen - durchgängig Rechnung, indem das für das Folgejahr geltende Haushaltsgesetz spätestens im Dezember des Vorjahres verabschiedet wird (zur früheren Praxis: Rüttger: 1982, S. 165). Die jährlichen Haushaltsverfahren stehen dementsprechend unter einem hohen Termindruck, der verlangt, daß sich die Verfahrensbeteiligten an gesetzlich vorgeschriebene und eingespielte Fristen halten. a) Die Aufstellung des Bundeshaushaltes Die Einbringung des Entwurfs des Haushaltsgesetzes steht ausschließlich der Bundesregierung zu, die - abweichend von Art. 76 Abs. 1 G G - das alleinige Initiativrecht besitzt. Die Aufstellung des Entwurfs des jährlichen Haushaltsplanes obliegt dabei dem Bundesminister der Finanzen, der mit den entsprechenden Vorarbeiten bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt beginnt, indem er zu Beginn des Vorjahres den Bundesministerien seine für die Haushaltsaufstellung maßgebenden Richtlinien übermittelt. Die Ressorts erstellen hieraufsog. Voranschläge ihrer jeweiligen Einzelpläne, die in Aufbau und Gliederung nach einheitlichen, durch die Bundeshaushaltsordnung (BHO) vorgeschriebenen Ordnungsprinzipien zu gestalten sind: Sie haben alle im Haushaltsjahr • zu erwartenden Einnahmen, • voraussichtlich zu leistenden Ausgaben sowie
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• die benötigten Verpflichtungsermächtigungen zu enthalten, worunter die BHO „die Ermächtigungen zum Eingehen von Verpflichtungen zur Leistung von Ausgaben in künftigen Jahren" versteht (§6 BHO). Die Einzelpläne sind in Kapitel und Titel zu gliedern (§ 13 Abs. 2 BHO): Die Kapitel betreffen dabei die Einnahmen, Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen für Verwaltungseinheiten (Bundesministerien, oberste Bundesbehörden) und größere Aufgabenbereiche. In den einzelnen Titeln werden die Einnahmen und Ausgaben exakt spezifiziert. Soweit sie Einnahmen betreffen, sind deren Entstehenungsgrund und Höhe aufzuführen, soweit sie auf Ausgaben bezogen sind, werden in ihnen deren Höhe und der Zweck festgelegt, für den die Ausgaben geleistet werden dürfen. Die Titel, die nach feststehenden Einteilungen gegliedert werden, bilden dabei die Herzstücke der einzelnen Pläne (vgl. das nachfolgende Beispiel). Das Bundesministerium der Finanzen prüft alsdann die Voranschläge und erstellt auf der Basis dieser Vorarbeiten den Entwurf des Haushaltsplanes, der aus den Einzelplänen und dem Gesamtplan besteht (§ 13 Abs. 1 BHO), welcher die Zusammenfassung der Einnahmen, Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen (sog. Haushaltsübersicht), ferner die Berechnung des Finanzierungssaldos sowie den Kreditfinanzierungsplan enthält (zu Einzelheiten: Piduch: § 13 BHO Anm. 8 bis 13). Bei der Prüfung der Voranschläge stellt sich regelmäßig eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Summe der in den Einzelplänen veranschlagten Einnahmen und den von den Ressorts für notwendig (oder als wünschenswert) befundenen Ausgaben heraus (Hölscheidt: 1989a, S. 61). Da der Haushalt nach Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG „in Einnahme und Ausgabe auszugleichen" ist, fällt dem Bundesfinanzministerium die Aufgabe zu, die Ausgabenansätze der Fachressorts auf das „Machbare" zu reduzieren und auch einen Ausgleich zwischen den divergierenden Interessen der Einzelressorts herbeizuführen. Dies geschieht möglichst im Benehmen mit den jeweils beteiligten Bundesministerien, und zwar in sog. Ressortgesprächen, die auf Beamtenebene geführt werden. Soweit hierbei Streitfragen zwischen den Fachressorts und dem Bundesfinanzministerium offenbleiben, werden diese in sog. Chefbesprechungen, an denen die politische Leitung des einzelnen Ressorts und des Bundesministeriums der Finanzen beteiligt ist, notfalls im Kompromißwege geklärt. Auf der Grundlage dieser Vorbereitungen stellt der Bundesminister der Finanzen sodann den kabinettsreifen Entwurf des Haushaltsgesetzes und des Haushaltsplanes auf, der in der Regel Anfang Juli von der Bundesregierung beraten und beschlossen, sodann dem Bundesrat und dem Bundestag gleichzeitig zugeleitet wird (Art. 110 Abs. 3 GG).
b) Die Beratungen des Bundestages Das weitere bundestagsinterne Verfahren nach der Zuleitung des Regierungsentwurfs verläuft im Grundsatz analog denjenigen Regeln, die für die Verfahren gelten, die Gesetzentwürfe der Bundesregierung betreffen (oben, II.). Abweichend hiervon weist es jedoch einige Besonderheiten auf, die namentlich daraus resultieren, daß die Regierungsvorlage sämtliche Politikbereiche tangiert und gleichwohl innerhalb eines knapp bemessenen Zeitrahmens beraten werden muß. Im einzelnen:
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Beispiel: Auszug aus dem Entwurf des Haushalts 1991 Einzelplan 31 - Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft Kapitel 3103: 3103 Ausbildungsförderung, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
Titel
Zweckbestimmung
Funktion
Soll 1991 1000 D M
Soll 1990 1000 D M
Ist 1989 1000 DM
Titelgruppen Tgr.01
Bundesausbildungsförderungsgesetz
(2750000) (1675000) (1509604)
Die Ausgaben sind gegenseitig deckungsfähig. Einnahmen fließen den Ausgaben zu. Erläuterungen Mit dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 6. Juni 1983 (BGBl. I S . 645), zuletzt geändert durch das 12. BAföGAndG vom 22. Mai 1990 (BGBl. I S. 936), werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß junge Menschen denb Bildungs- und Berufsweg, der ihrer Neigung und Eignung entspricht, möglichst unabhängig davon wählen können, ob sie selbst oder ihre Eltern die dafür erforderlichen Mittel aufbringen können. Auf individuelle Ausbildungsförderung besteht ein Rechtsanspruch. Das Gesetz sieht nach der Art der Ausbildung und Unterbringung gestaffelte pauschalierte Bedarfssätze vor. Auf die Bedarfssätze sind Einkommen und Vermögen des Auszubildenden, seines Ehegatten und seiner Eltern anzurechnen, soweit sie die im Gesetz festgelegten Freibeträge übersteigen. Mit Beginn des Förderungszeitraums 1983/84 wurde die Schülerförderung begrenzt auf notwendig auswärts untergebrachte Schüler, auf Auszubildende des 2. Bildungswegs und - als Übergangsregelung - auf solche Schüler, die sich bereits in einem förderungsfähigen Teil der Schulausbildung befunden haben. Gleichzeitig wurde die Studentenförderung auf Volldarlehen umgestellt. Die Aufwendungen für diese Leistungen werden zu 65 v.H. durch den Bund und zu 35 v.H. durch die Länder getagen. Das Gesetz wird im Auftrag des Bundes von den Ländern durchgeführt, die die bei ihnen entstehenden Verwaltungsausgaben tragen. 652 11 -141
Ausbildungsförderung für Schüler
652 12 -142
AusbildungsförderungfürStudierende-Zuschuß
852 12 -142
AusbildungsförderungfürStudierende-Darlehen
Tgr.02
Zuschüsse an Studentenförderungswerke Die Ausgaben sind übertragbar.
720000
385000
308231
1020000
180000
12791
1010000
1110000
1188582
Die Ausgaben sind übertragbar.
Die Ausgaben sind übertragbar.
(107225)
(90000)
(86525)
Einnahmen fließen den Ausgaben zu.
(1) Die erste Lesung Die Fraktionen nehmen Ende August/Anfang September ihre vorbereitenden Arbeiten auf, indem die jeweiligen Arbeitsgruppen sich mit denjenigen Einzelplänen befassen, die ihren Zuständigkeitsbereich berühren.
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
Diese fachspezifischen fraktionsinternen Beratungen dienen zunächst der inhaltlich-politischen Vorbereitung der ersten Lesung, die in der Regel auf Mitte September terminiert wird. Für sie ist jeweils eine volle Sitzungswoche reserviert, weil - abweichend von den sonstigen Gesetzgebungsverfahren - bereits die erste Lesung einer umfassenden allgemeinen Aussprache dient. Sie wird von der Bundesregierung und den Mehrheitsfraktionen zur Darstellung und Begründung der Eckwerte des vorgelegten Haushaltes, von der Opposition traditionell zu einer Generalauseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung genutzt. Einzelheiten des Haushaltsentwurfs stehen dabei nicht im Vordergrund, allenfalls seine Schwerpunkte und Grundlagen, die die Wertentscheidungen und Prioritätensetzungen der Bundesregierung in den diversen Bereichen der Staatsaufgaben erkennen lassen (Eickenboom: 1989, S. 1185). Die erste Lesung schließt mit der Überweisung des Regierungsentwurfs an den Haushaltsausschuß. Anders als in den sonstigen Gesetzgebungsverfahren werden die Fachausschüsse - obwohl ihre Zuständigkeit berührt ist - nicht mitberatend befaßt; sie haben jedoch das Recht, sich gegenüber dem Haushaltsausschuß gutachtlich zu äußern (§ 95 Abs. 1 GO-BT), und machen von dieser Befugnis in dem weiteren Verfahrensgang auch regelmäßig Gebrauch.
(2) Das Verfahren des Haushaltsausschusses Der Haushaltsausschuß berät die insgesamt 28 Einzelpläne und ca. 10 000 Titel des Haushaltsentwurfs in 12 Sitzungen innerhalb von fünf bis sechs Sitzungswochen. Ein solches Pensum ist nur aufgrund arbeitsteilig durchgeführter, straff rationalisierter Vorarbeiten zu bewältigen, für die die organisatorische Voraussetzung durch das erwähnte Berichterstattersystem (II.) geschaffen ist, welches zur Vorbereitung der Beratungen des Haushaltsausschusses genutzt wird, indem die Berichterstatter eines jeden Einzelplanes im September mit den jeweiligen Ministerien Gespräche führen, in denen nicht nur die Schwerpunkte, sondern auch die Details des Einzelplanes erörtert werden und jeder Titel zur Disposition steht. Für diese Gespräche gilt nach den ehernen Grundsätzen des Haushaltsverfahrens, daß alle Berichterstatter eines Einzelplanes - unabhängig davon, ob sie Mitglied einer Mehrheits- oder Minderheitsfraktion sind - „strikt gleichmäßig von dem betreffenden Ressort unterrichtet werden müssen" (Eickenboom: 1989, S. 1188). Im Verlaufe dieser Gespräche erarbeiten die Berichterstatter Änderungsempfehlungen, die dem Haushaltsausschuß in schriftlicher Form vorgelegt werden und für diesen wesentliche Beratungsgrundlage sind (dazu sogleich Näheres). Auf der Basis dieser Berichterstattergespräche bereiten sodann die Haushaltsarbeitsgruppen der Fraktionen die Beratungen des Haushaltsausschusses zu jedem Einzelplan fraktionsintern vor. (a) An den entsprechenden Sitzungen der Arbeitsgruppen der Regierungsfraktionen nehmen - insoweit in Übereinstimmung mit den auch in den übrigen Gesetzgebungsverfahren praktizierten Usancen - Vertreter der jeweiligen Fachressorts und des Bundesministeriums der Finanzen teil, die für weitere Erläuterungen und die Beantwortung von Fragen aller Gruppenmitglieder zur Verfügung stehen. Die Gruppensitzungen dienen insoweit zum einen einer detaillierten Erörterung der Einzelpläne; zum anderen geht es darum, die Empfehlungen der
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„eigenen" Berichterstatter zu beraten, divergierende Auffassungen der Gruppenmitglieder einem Konsens zuzuführen, sowie Änderungsanträge zu erarbeiten, die die Gruppe in die Beratungen des Haushaltsausschusses einzubringen beschließt. (b) Die Sitzungen der Arbeitsgruppen der Minderheit haben demgegenüber andere Schwerpunkte: Sie dienen zwar auch der Beratung der Berichterstattervorschläge sowie der Strukturierung der unterschiedlichen gruppeninternen Meinungen und der Formierung einer einheitlich im Ausschuß zu vertretenen Auffassung; mehr noch haben die Beratungen jedoch das Ziel, die Schwachstellen und Angriffspunkte der Einzelpläne herauszufiltern. Bei dieser Aufgabe befindet sich die Haushaltsgruppe einer Minderheitsfraktion in einer vergleichsweise günstigen Situation, weil sich insoweit der angeführte eherne Grundsatz auszahlt, der als zentrales Element der Budgetkontrolle bewirkt, daß die Opposition über deren Berichterstatter am Amtswissen der Administration partizipiert und die hieraus resultierenden Erkenntnisse dazu nutzen kann, jeden einzelnen Titelansatz auf Zweckmäßigkeit, Notwendigkeit und die zugrundeliegenden Sachentscheidungen und politischen Wertungen zu überprüfen. Zudem erleichtert die streng systematische Gliederung der Einzelpläne in Kapitel und Titel mit jeweils relativ detaillierten Angaben zur Zweckbestimmung die Kontrolle, so daß sich in dieser Phase die stringenten Ordnungsprinzipien der BHO als wesentliche Rahmenbedingungen für die Budgetkontrolle erweisen, weil sie für die nötige „Haushaltsklarheit" sorgen. (c) Die Beratungen des „Plenums" des Haushaltsausschusses zu den Einzelplänen können sodann aufgrund der Vorbereitung durch die Berichterstatter und die Arbeitsgruppen der Fraktionen relativ zügig geführt werden (hierzu und zum folgenden Eickenboom: 1989, S. 1191). Sie verlaufen zumeist nach einem konstanten Schema, indem regelmäßig zunächst die jeweils zuständigen Berichterstatter, sodann der Bundesminister, dessen Einzelplan zur Debatte ansteht, die Schwerpunkte des Entwurfs erläutern und die zwischen den Fraktionen strittigen Fragen ansprechen. Sodann ruft der Vorsitzende den Einzelplan seitenweise auf, wobei jedes Ausschußmitglied zu jedem Titel das Wort ergreifen kann. In der Regel werden jedoch diejenigen Titel, zu denen die Berichterstatter keine Änderungen vorschlagen, ohne weitere Aussprache beschlossen; dasselbe Verfahren wird praktiziert, soweit die jeweiligen Berichterstatter einvernehmlich die Änderung eines Titels empfehlen. Zu - kontroversen - Erörterungen kommt es demnach i.d.R. nur dann, wenn die Berichterstatter unterschiedliche Empfehlungen unterbreiten und die Fraktionen im Ausschuß Änderungsanträge stellen. In diesen Fällen erhalten zunächst die Berichterstatter zur Begründung, sodann weitere Mitglieder des Ausschusses das Wort, wobei auch die Möglichkeit besteht, die anwesenden Mitglieder der Bundesregierung und ihre Beauftragten sowie die zuständigen Abteilungs- und Prüfungsgebietsleiter des Bundesrechnungshofes (oben II.), die ebenfalls bei den Beratungen zugegen sind, zu befragen. Über die Änderungsanträge wird nach Mehrheitsregeln abgestimmt. Soweit der Haushaltsausschuß auf diese Weise oder aufgrund der einvernehmlichen Berichterstattervorschläge Titel der Einzelpläne modifiziert, werden die beschlossenen Änderungen in Beschlußempfehlungen zusammengestellt, die dem Plenum zugeleitet und als Bundestagsdrucksache publiziert werden. Das Gesamtvolumen der vom Haushaltsausschuß empfohlenen Änderungen ist in absoluten Zahlen gemessen - zumeist beträchtlich, bezogen auf den Umfang
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3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
des Etats jedoch relativ gering. Für die Bewertung dieses Befundes ist wesentlich, daß ca. 90 v.H. eines jährlichen Haushaltes a priori durch gesetzliche Verpflichtungen, aufgrund derer bestimmte Ausgaben zwingend geleistet werden müssen (und entsprechende Ansätze daher nicht verändert werden dürfen), sowie durch vertragliche Bindungen oder langfristig getroffene haushaltspolitische Entscheidungen festgelegt sind, die sich vor allem in Gestalt der vom Parlament in früheren Haushaltsjahren bewilligten Verpflichtungsermächtigungen manifestieren. Gleichwohl bieten alle Einzelpläne, insbesondere die sog. Gestaltungshaushalte, zu denen vor allem die des Bundesministers für Wirtschaft, des Bundesministers der Verteidigung und des Bundesministers für Forschung und Technologie zählen (Hölscheidt: 1988, S. 61), erhebliche Umschichtungs-, Kürzungs- oder sonstige Änderungsmöglichkeiten, die der Haushaltsausschuß auch nutzt. Bei den diesbezüglichen Festlegungen spielen die erwähnten Stellungnahmen der Fachausschüsse, deren Voten überwiegend darauf abzielen, die Ausgabenansätze des Einzelplanes ihres korrespondierenden Ministeriums zu erhöhen, keine entscheidende Rolle. Sie werden zwar in die Beratungen förmlich einbezogen, jedoch nur dann erörtert, wenn eine Fraktion oder ein Berichterstatter sich ihren Inhalt ausdrücklich zu eigen macht und entsprechende Anträge stellt. Diese leicht stiefmütterliche - Behandlung der Voten der Fachausschüsse führt bisweilen zu Spannungen zwischen diesen und dem Haushaltsausschuß, die freilich letztlich ihre Ursache darin haben, daß die Geschäftsordnung - indem sie in § 95 Abs. 1 den Fachausschüssen die Mitberatung verwehrt - dem Haushaltsausschuß aus gutem Grund eine Sonderstellung vorbehält: Diese besteht - wie P. Eickenboom (:1989, S. 1186) treffend ausgeführt hat - darin, „daß der Haushaltsausschuß anders als die Fachausschüsse nicht über Politikausschnitte entscheidet, sondern über ein Gesamttableau der Politik". Er muß deshalb auch die autonome Befugnis besitzen, ressortübergreifende Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen und die fachpolitischen Partikularinteressen dem Ziel des Ausgleichs des Gesamthaushaltes unterzuordnen. (3) Die zweite und dritte Lesung Im Anschluß an die Beratungen des Haushaltsausschusses und auf der Basis seiner Beschlußempfehlungen und seines Berichtes findet alsdann - Ende November/Anfang Dezember - die zweite und dritte Lesung des Haushalts im Plenum des Bundestages statt, für die wiederum eine Sitzungswoche reserviert ist. Die hierbei erfolgende Aussprache nutzen die Fraktionen zur öffentlichen Darstellung ihrer Positionen, wobei die Minderheit in der Regel ihre wesentlichen Änderungsanträge, mit denen sie im Haushaltsausschuß unterlegen ist, einbringt, ohne freilich die Chance zu besitzen, daß diese nunmehr angenommen werden. Das Verfahren der zweiten und dritten Lesung, für das im übrigen die dargestellten allgemeinen Regeln gelten (oben II.), schließt sodann mit dem mehrheitlich zu fassenden Beschluß des Bundestages, der regelmäßig den Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses folgt. c) Der Abschluß des Verfahrens Im Anschluß hieran erfolgt die Zuleitung des vom Bundestag beschlossenen Haushaltsgesetzes an den Bundesrat nach Art. 77 Abs. 1 Satz 2 GG, der sich Mit-
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te Dezember mit der Vorlage im sog. zweiten Durchgang befaßt. Hierbei steht ihm zwar die Möglichkeit offen, den Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 GG anzurufen (dazu II.); von dieser Befugnis macht er indes - auch wenn seine Mehrheit mit Regelungen des vom Bundestag beschlossenen Haushalts nicht einverstanden sein sollte - so gut wie keinen Gebrauch, und zwar deshalb nicht, weil den Bundesländern an einem schnellen Inkrafttreten des Haushaltes gelegen ist, da ihnen „aufgrunddessen ja Finanzmittel zufließen" (Hölscheidt: 1989a, S. 86). Dementsprechend kann die Verkündung des Haushaltsgesetzes in aller Regel jeweils rechtzeitig zum 1. Januar erfolgen.
2. Verfahren der begleitenden Haushaltskontrolle Der durch das Haushaltsgesetz festgestellte Haushaltsplan ermächtigt die Verwaltung, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen (§ 3 BHO), so daß der Vollzug und die Ausführung des Haushaltsplans grundsätzlich ausschließlich Sache der Exekutive ist. Sowohl die BHO als auch die jährlichen Haushaltsgesetze sehen jedoch vor, daß auch in der Vollzugsphase parlamentarische Mitwirkungsrechte bestehen. Sie beziehen sich zum einen auf Situationen, in denen sich im Laufe des Haushaltsjahres herausstellt, daß der Haushaltsplan aufgrund unvorhergesehener Ereignisse in Einzelbereichen nicht eingehalten werden kann, also Abweichungen notwendig sind; zum anderen stehen dem Bundestag beim plangemäßen Vollzug des Haushaltes begleitende und mitsteuernde Kontrollrechte zu, wobei die Ausübung dieser Rechte, deren Skala von bloßen Informationsansprüchen bis hin zu Mitentscheidungsbefugnissen reicht, zum Teil dem Plenum, zum Teil dem Haushaltsausschuß überantwortet ist. Im einzelnen: a) Plenarverfahren Einzelne haushaltswirksame vertragliche Vereinbarungen darf die Exekutive, sofern der Haushaltsplan hierzu keine ausdrückliche Ermächtigung bereithält, grundsätzlich nicht ohne Einwilligung des Bundestages eingehen. Hierzu gehören die Veräußerung von Anteilen des Bundes an einem Unternehmen und von bundeseigenen Grundstücken, sofern diese einen erheblichen Wert oder besondere Bedeutung haben (§§ 64 Abs. 2, 67 Abs. 7 BHO). Zu solchen Geschäften hat der Bundesminister der Finanzen die vorherige Zustimmung des Bundestages einzuholen, der seinerseits entsprechende Anträge an den Haushaltsausschuß zur Beratung überweist und auf der Grundlage von dessen Beschlußempfehlung über den Antrag beschließt. In anderen Fällen der Planabweichung besitzt der Bundestag kein Entscheidungs-, wohl aber ein Unterrichtungsrecht. So hat die Bundesregierung den Bundestag zum einen über erhebliche Änderungen der Haushaltsentwicklung zu informieren (§ 10 Abs. 2 BHO) ; zum anderen sind über- und außerplanmäßige - also im Haushaltsplan nicht vorgesehene - Ausgaben, die gemäß Art. 112 GG nur mit Zustimmung des Bundesministers der Finanzen geleistet werden dürfen, von diesem dem Bundestag mitzuteilen, was in vierteljährlichen Übersichten, in Fällen grundsätzlicher oder erheblicher finanzieller Bedeutung unverzüglich zu geschehen hat (§ 37 Abs. 4 BHO). Der Bundestag überweist auch diese Mitteilun-
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gen dem Haushaltsausschuß zur Beratung, der prüft, ob die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der über- oder außerplanmäßigen Ausgabe vorliegen, die darin bestehen, daß diese nur im Falle eines unvorhergesehenen und unabweisbaren Bedürfnisses geleistet werden darf (Art. 112 GG, § 37 Abs. 1BHO). Formal gesehen handelt es sich bei dieser Prüfung um die nachträgliche Kontrolle durch Kenntnisnahme der Zustimmungsentscheidung des Finanzministers, bei der der Bundestag kein Mitentscheidungsrecht besitzt. Gleichwohl entfaltet diese Form der Kontrolle Wirkungen: zum einen präventive, weil sie den Finanzminister zu einer restriktiven Zustimmungspraxis veranlaßt, die insbesondere das Kriterium der Unabweisbarkeit ernst nimmt, welches nur dann erfüllt ist, wenn die Ausgabe so dringlich ist, daß eine Entscheidung des Haushaltsgesetzgebersdurch ein Nachtragshaushaltsgesetz - nicht mehr möglich ist (BVerfGE 45, S. 1). Zum anderen eröffnet die Mitteilung dem Bundestag die Möglichkeit, zu der Zustimmungsentscheidung des Bundesfinanzministers in Form einer Entschließung Stellung zu nehmen „und bei einer etwa zu weit gehenden Handhabung die Regierung zu mahnen, in Zukunft restriktiver zu verfahren" (Piduch: Art. 112 GG Anm. 12). Soweit im Laufe des Haushaltsjahres - abweichend vom Haushaltsplan - weitere Ausgaben, die einen Betrag von 10 Mio DM überschreiten, notwendig werden, für die nicht die Voraussetzungen der „Unvorhersehbarkeit" und der „Unabweisbarkeit" (Art. 112 GG) bestehen, darf der Bundesfinanzminister einer überoder außerplanmäßigen Ausgabe nicht zustimmen (i.e. Eichenboom: 1989, S. 1204). Der Bundesregierung bleibt dann nur die Möglichkeit, einen Nachtragshaushalt einzubringen, der durch Gesetz festzustellen ist. Das diesbezügliche Verfahren richtet sich im wesentlichen nach den für das jährliche Haushaltsgesetz maßgebenden Bestimmungen (oben III.), so daß das Parlament seine vollen Budgetentscheidungsrechte ausüben kann. b) Delegation von Rechten des Bundestages auf den Haushaltsausschuß Ein Teil der dem Bundestag als ganzem zustehenden Mitwirkungs- und Kontrollrechte delegiert dieser auf den Haushaltsausschuß. Das praktische wichtigste Beispiel bilden insoweit die bei einzelnen Titeln ausgebrachten qualifizierten Sperrvermerke (oben § 9, IV.), aufgrund derer die Leistung einer Ausgabe nur mit Einwilligung des Bundesfinanzministers und des Haushaltsausschusses erfolgen darf. Zwar geht die BHO davon aus, daß die Aufhebung eines qualifizierten Sperrvermerks der Zustimmung des Bundestages als ganzem bedarf (§ 22 BHO); dieser überläßt indes sein Entscheidungsrecht durch das jährliche Haushaltsgesetz - in verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch nicht unumstrittener Weise (einerseits Schäfer: 41982, S. 266, andererseits Kewenig: 1970, S. 37) - regelmäßig dem Haushaltsausschuß. Qualifizierte Sperrvermerke werden im Laufe des Haushaltsgesetzgebungsverfahrens (oben III.) insbesondere dann ausgebracht, wenn zu diesem Zeitpunkt • Unterlagen fehlen, die für die Beurteilung der betreffenden finanzwirksamen Maßnahme erforderlich sind, • keine ausreichenden Folgekostenrechnungen vorliegen oder • Projekte, für die Mittel etatisiert werden, aus der Sicht des Haushaltsausschusses konzeptionelle, aber behebbare Schwächen aufweisen (i.e. Eickenboom: 1989, S. 1208; Walther: 1980, S. 382).
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Ein Beispiel hierfür bieten die Haushaltsberatungen 1988 über die Ausstattung der Bundesbehörden mit IuK-Techniken, gelegentlich derer sich herausstellte, daß die Einzelplanungen der verschiedenen Ressorts nicht aufeinander abgestimmt waren. In dieser Situation beschloß der Haushaltsausschuß, die Ansätze der Titelgruppen „Kosten der Datenverarbeitung" in allen Einzelplänen in Höhe von 20 v.H. qualifiziert zu sperren und für die Einwilligung in die Aufhebung dieser Sperre die Vorlage eines einheitlichen Konzeptes durch die Bundesregierung zufordern (Bußmann: 1974, S. 10). In solchen und ähnlichen Fällen hat der Haushaltsausschuß ein wirksames Instrument der begleitenden Kontrolle in der Vollzugsphase des Haushaltes in der Hand: Die Bundesregierung kann die Ausgaben ohne Einwilligung des Haushai tsausschusses nicht leisten, die dieser nur und erst dann erteilt, wenn er über die Einzelheiten des betreffenden Projektes informiert und mit diesen einverstanden ist.
c) Sonstige Kontroll- und Informationsinstrumente des Haushaltsausschusses Darüber hinaus wird der Haushaltsausschuß durch den Bundesminister der Finanzen laufend über den Haushaitsvollzug unterrichtet. Hierzu werden ihm zum einen regelmäßig Übersichten über wesentliche Daten der Ist-Situation, über Einnahmen und Ausgaben, über die Verschuldung und solche Vorgänge vorgelegt, die - wie die Übernahme von Bundesbürgschaften - mit Risiken für den laufenden oder künftige Haushalte verbunden sind. Zum anderen erhält der Ausschuß - auf Anforderung einzelner Mitglieder oder der Fraktionen, auch der Opposition - Berichte zu Details des Vollzuges, und zwar sowohl von der Bundesregierung als auch vom Bundesrechnungshof. Darüber hinaus werden dem Haushaltsausschuß diejenigen Berichte, die der Bundestag anfordert (i.e. unten IV.) und haushaltswirksame Materien betreffen, zur (Mit-)Beratung überwiesen. Schließlich sind alle Beschaffungsvorhaben des militärischen Bereichs mit einem Volumen von über 50 Mio DM der Berichterstattergruppe zum Einzelplan 14 (= Verteidigungshaushalt) zur Prüfung und Kenntnisnahme vorzulegen. Alle diese Informationsinstrumente sichern dem Haushaltsausschuß einen relativ umfassenden Überblick über den Haushaltsvollzug und eröffnen ihm auch Möglichkeiten, auf den Gang der Ausgabenpolitik der Bundesregierung Einfluß zu nehmen, weil diese sich an die Vorgaben des Ausschusses zumindest politisch bei qualifizierten Sperrvermerken: rechtlich - gebunden sieht. Diese auf den ersten Blick günstige parlamentarische Ausgangslage hat indes eine nicht unproblematische Kehrseite: W e r - w i e der Haushaltsausschuß - die Prozesse der Administration parlamentarisch mitsteuert, übernimmt auch einen Teil der Verantwortung für deren Folgen und läuft damit Gefahr, seine Möglichkeiten einer unbefangenen nachgängigen Kontrolle zu beschränken (Schäfer: 41982, S. 267). Dies ist u.a. auch der Grund dafür, daß solche Beteiligungen und Mitwirkungen des Haushaltsausschusses „von der Exekutive keineswegs als eine unerwünschte Einmischung in höchsteigene Angelegenheiten aufgefaßt" werden, sondern diese oft genug bereit ist, „den Haushaltsausschuß und damit das Parlament in die Verantwortung einzubeziehen" (Eickenboom: 1989, S. 1205). Gegenüber diesen Bedenken hat sich indes das praktische Bedürfnis nach begleitender Kontrolle durchgesetzt, weil nur sie den aus der Sicht des Parlamentes not-
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wendigen ständigen Rechenschaftszwang der Exekutive sicherstellt und im übrigen die Praxis lehrt, daß parlamentarische Mitsteuerung keineswegs mit einem Verzicht auf effiziente nachträgliche Kontrolle einhergeht (grundsätzlich: § 1 III.).
3. Die nachträgliche Haushaltskontrolle Nach Abschluß des Haushaltsjahres hat der Bundesminister der Finanzen dem Bundestag und dem Bundesrat über alle Einnahmen und Ausgaben sowie über das Vermögen und die Schulden „zur Entlastung der Bundesregierung Rechnung" zu legen (Art. 114 Abs. 1 GG). Darüber hinaus prüft der Bundesrechnungshof „die Rechnung sowie die Wirtschaftlichkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung", über deren Ergebnis er dem Bundestag berichtet (Art. 114 Abs. 2 GG). Dies geschieht in den j ährlich vorzulegenden „Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Haushalts- und Wirtschaftsführung", die der Bundestag ebenso wie den Entlastungsantrag des Bundesfinanzministers (Art. 114 Abs. 1 GG) dem Haushaltsausschuß überweist. Für die Beratung der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes hat der Haushaltsausschuß einen ständigen Unterausschuß eingerichtet, der den - mißverständlichen - Namen „Rechnungsprüfungsausschuß" führt, der indes nicht nur die Rechnungen der Bundesregierung kontrolliert, sondern sich mit jedem einzelnen Vorgang, den der Bundesrechnungshof moniert, unter allen Aspekten der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung befaßt. Dem Rechnungsprüfungsausschuß gehören ausschließlich Mitglieder des Haushaltsausschusses an, worin deshalb ein Vorteil erblickt wird, weil diese mit den Materien aufgrund ihrer vorgängigen Befassung im Verfahren der Haushaltsgesetzgebung und bei der Ausübung der begleitenden parlamentarischen Kontrolle (dazu III.) vertraut sind. Die jährlichen Bemerkungen des Bundesrechnungshofes berät der Rechnungsprüfungsausschuß in ca. acht bis zehn Sitzungen, denen sowohl die zuständigen Prüfungsgebietsleiter des Bundesrechnungshofes als auch Vertreter derjenigen Ressorts beiwohnen, auf deren Haushaltsführung sich die Monita des Bundesrechnungshofs beziehen, und mit denen die Details der entsprechenden Vorgänge erörtert werden. Weder der Rechnungsprüfungs- noch der Haushaltsausschuß noch der Bundestag besitzen das Recht, bei festgestellten Verstößen Sanktionen zu verhängen. Formal ist das Verfahren lediglich auf die Kenntnisnahme der Bemerkungen des Bundesrechnungshofes ausgerichtet. Gleichwohl bleibt diese Form der nachträglichen Kontrolle nicht ohne Wirkungen, weil der Rechnungsprüfungsausschuß bei festgestellten Mißständen einvernehmlich seine Erwartung verdeutlicht, daß die für den Verstoß Verantwortlichen zur (disziplinar-, schadensersatzrechtlichen) Verantwortung gezogen und zumindest pro futuro die als problematisch oder rechtswidrig bewerteten Verfahrensweisen der Verwaltung abgestellt werden. Die Bundesregierung kommt diesen Erwartungen in aller Regel schon deshalb nach, weil sie andernfalls zu befürchten hat, daß der Haushaltsausschuß bei den nächstfolgenden Beratungen des Bundeshaushaltes durch Kürzung entsprechender Titelansätze der Auffassung seines Rechnungsprüfungsausschusses schmerzlich wirkenden Nachdruck verleiht.
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IV. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung Neben der Kontrolle durch Mitbeteiligung an der Gesetzgebung und der Haushaltsverfahren verfügt das Parlament über eine Reihe von Möglichkeiten, auf allen Politikfeldern Regierungshandeln mitzusteuern und nachträglich zu kontrollieren. Die entsprechenden Rechte werden teils in den Ausschuß-, teils in den Plenarverfahren ausgeübt.
1. Verfahren in Fachausschüssen Die Fachausschüsse haben hierzu insbesondere auf der Basis ihres Selbstbefassungsrechts (oben § 10 V.) eine Praxis entwickelt, die sowohl auf die frühzeitige Unterrichtung über Planungen und Aktivitäten ihrer korrespondierenden Bundesministerien als auch auf Informationen über den Vollzug von Rechtsvorschriften durch die Exekutive sowie die nachträgliche Kontrolle ausgerichtet sind. Formale Instrumentarien hierzu sind insbesondere • die erwähnte ständige Teilnahme von Vertretern des jeweiligen Ressorts an den Ausschußsitzungen, • deren mündliche Auskünfte, ferner • schriftliche, von den Ausschüssen angeforderte Berichte der Ressorts sowie • Unterrichtungen der Bundesregierung, die das Plenum einfordert (unten IV.) und den zuständigen Ausschüssen zur Beratung überweist. Die Fachausschüsse können deshalb auf ein sehr dichtes Informationsnetz zurückgreifen, dessen Maschen • aus den permanenten kommunikativen Kontakten zwischen Fachausschuß und Fachressort, die einen ständigen Begründungs- und Rechtfertigungszwang der Exekutive sicherstellen, • aus Unterrichtungen über Langzeitvorhaben der Bundesregierung, • aus der Beteiligung der Fachausschüsse an den Gesetzgebungsverfahren, sowie • aus Berichten über den Normenvollzug sowie Aktivitäten der Ressorts geflochten sind. Diese Rahmenbedingungen haben - wie Kewenig (:1970, S. 31) zutreffend feststellt - die parlamentarische Kontrolle aus der „Enge der nachherigen Aufsicht über fremde Aufgaben gelöst" und in ein „Zusammenwirken verschiedener Instanzen", der Bundesregierung und des Parlaments, überführt. Diese Praxis ist Ausdruck der Tatsache, daß die Erfüllung der Staatsaufgaben dem Bundestag und der Bundesregierung zur „gesamten Hand" (Friesenhahn: 1958, S. 38) zusteht, woraus sich letztlich rechtfertigt, daß die Fachausschusse nicht nur nachträglich kontrollierend tätig werden, sondern - wie das Beispiel des Haushaltsausschusses belegt - auch mitsteuernd auf die Arbeit der Bundesregierung und -Verwaltung Einfluß nehmen. Die hierzu in den Ausschußverfahren bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten werden sowohl von den Mehrheits- als auch den Minderheitsfraktionen wahrgenommen (oben § 10 V.). Den Mehrheitsfraktionen kommt insoweit das Prinzip der NichtÖffentlichkeit der Ausschuß verfahren entgegen, das ihrem Interesse Rechnung trägt, die kontrollierenden und mitsteuernden Aktivitäten aus den
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dargestellten Gründen (§ 10, III.) weniger in öffentlich geführten Parlamentsverfahren zu entwickeln und sie in die nicht öffentlich tagenden Gremien zu verlagern; den Minderheitsfraktionen eröffnen die Ausschußverfahren, die in der Regel weniger kontradiktorisch als die Plenarverfahren geführt werden, dagegen den partiellen Zugang zum Amtswissen der Bundesregierung und sichern ihnen die Möglichkeit, alternativ angelegte Formen der Kontrolle verwirklichen zu können.
2. Zitierrecht, Berichte der Bundesregierung, Kleine und Große Anfragen, Fragestunden Insbesondere einer Oppositionsfraktion ist jedoch nicht nur an nichtöffentlichen, sondern auch und vor allem an öffentlichen Formen der parlamentarischen Kontrolle und Informationsgewinnung sowie an der öffentlichen Darstellung ihrer Bewertung des Regierungshandelns gelegen (oben I.). Im Hinblick hierauf ist wesentlich, daß das parlamentarische Verfahrensrecht Vorschriften bereithält, die plenarbezogene Kontroll- und Informationsbeschaffungsverfahren betreffen. Ihre Ausgestaltung im einzelnen folgt freilich - wie im folgenden zu zeigen ist nicht einheitlichen Prinzipien; insbesondere sind die Interessen der parlamentarischen Minderheit in sehr unterschiedlicher Weise berücksichtigt. a) Zitierrecht Bei dem sog. Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 GG, dem eine Antwortpflicht der herbeigerufenen Mitglieder der Bundesregierung korrespondiert, sind die Rechte der parlamentarischen Minderheit nur schwach ausgebildet. Zwar kann jede Fraktion oder fünf vom Hundert der anwesenden Mitglieder des Bundestages die Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung zu einer Sitzung des Plenums beantragen (§ 42 GO-BT); die Entscheidung hierüber ist jedoch Sache der Mehrheit, die den Antrag frei, d.h. auch aus Gründen politischer Opportunität, ablehnen kann. Von dieser Ablehnungsbefugnis macht die Mehrheit auch Gebrauch (Angaben bei Schindler: 1988, S. 366), so daß Anträge einer Minderheitsfraktion, ein Mitglied der Bundesregierung zu einer Plenarsitzung herbeizurufen, überwiegend keinen Erfolg haben - außer demjenigen, daß schon die Einbringung des Antrages per se als Politikum bewertet und öffentlich registriert wird. Solche Anträge werden deshalb im Plenum auch relativ selten zur Informationsgewinnung gestellt; die (Minderheits-)Fraktionen greifen insoweit eher auf die Möglichkeiten des nichtöffentlichen Ausschußverfahrens zurück, das ihnen - erfolgversprechender - die Interaktion mit dem betreffenden Mitglied der Bundesregierung sicherstellt. b) Berichte und Unterrichtungen der Bundesregierung Mehrheitssache ist auch die Anforderung von Berichten der Bundesregierung durch das Plenum des Bundestages. Solche Berichtspflichten werden auf zwei Wegen konstituiert: zum einen durch spezielle gesetzliche Vorschriften, zum anderen durch „einfachen" Parlamentsbeschluß. Im ersten Fall ist die Bundesregie-
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rung rechtlich, im zweiten nur politisch verpflichtet, den jeweiligen Bericht vorzulegen. In beiden Fällen bedarf die Festlegung der Berichtspflicht der Zustimmung der parlamentarischen Mehrheit, die hierbei „ihre eventuell regierungskritischen Erwägungen in konziliant verbrämter Form und Sprache äußern" (Steffani: 1989, S. 1365) und zudem ihre Verfahrensherrschaft auch dazu nutzen kann, der Bundesregierung Gelegenheit zu geben, zu einem komplexen Thema parlamentsöffentlich Stellung zu nehmen, so daß die Festlegung der Berichtspflicht bisweilen weniger dem Kontrollinteresse als vielmehr der öffentlichen Darstellung der Regierungsmeinung dient. All dies macht das Instrument der Berichtspflicht aus der strategischen Sicht der Opposition wenig attraktiv. Gleichwohl haben die - zahlreichen - Berichte als Informations-, Kontroll- und Evaluierungsinstrumente gerade in der jüngeren Vergangenheit wachsende Bedeutung auch für die Opposition gewonnen, weil - wie W. Ismayer (:1990, S. 553) zu Recht feststellt - „mit dem Ausbau des Sozialstaates und bei zunehmenden umweit- und technologiepolitischen Anforderungen ... die Regierungsberichte zahlreicher und auch differenzierter" geworden sind: Sie enthalten in der Regel - trotz der bisweilen im Vordergrund stehenden Beschreibung der „Erfolgsbilanz" der Bundesregierung auf dem betreffenden Politikfeld - sowohl eine Fülle von Angaben zum Vollzug von Gesetzen und Programmen, die eine Wirkungskontrolle ermöglichen, als auch Angaben über kurz-, mittel- und langfristige Planungen und Absichten der Bundesregierung. Sie bieten daher zum einen gelegentlich „Basis und Anlaß für programmatisch und konzeptionell orientierte große Plenardebatten" (Ismayer: 1990, S. 556) und können zum anderen in die Arbeit der jeweils zuständigen Ausschüsse integriert werden, denen das Plenum oder - im vereinfachten Verfahren nach § 80 Abs. 3 GO-BT - der Präsident die entsprechende Unterrichtung zur Beratung überweist. c) Kleine und Große Anfragen Liegt die Entscheidung über die Ausübung des Zitierrechts und die Konstituierung einer Berichtspflicht ganz in den Händen der parlamentarischen Mehrheit, so sind demgegenüber die Regeln über die Kleine und Große Anfrage minderheitsfreundlicher ausgestaltet: Die entsprechenden Vorschriften verwirklichen das Prinzip der Gleichheit der Fraktionen, indem jede Fraktion unabhängig von ihrer Größe (ebenso wie fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages) solche Anfragen an die Bundesregierung richten kann 4 . Die Ausübung der insoweit bestehenden Anfragerechte bedarf keines besonderen Antrages, über die der Bundestag mehrheitlich zu entscheiden hätte; vielmehr löst die Einbringung der Kleinen und Großen Anfrage per se die geschäftsordnungsrechtlich vorgesehenen Wirkungen aus, ohne daß die Mehrheit Kompetenzen besäße, diese zu verhindern. Die geschäftsordnungsrechtlichen Folgen der Kleinen Anfrage bestehen dabei darin, daß der Präsident des Bundestages die Bundesregierung auffordert, inner4
Im 12. Deutschen Bundestag sind, wie erwähnt (§ 10, VII.), auch die Gruppe der PDS/ Linke Liste und die Gruppe von Bündnis 90/DIE G R Ü N E N berechtigt, Kleine und Große Anfragen einzubringen.
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halb von 14 Tagen schriftlich zu antworten (§ 104 Abs. 2 GO-BT). Schon diese relativ knapp bemessene Frist indiziert, daß Kleine Anfragen vornehmlich dazu dienen, Auskunft über eng umgrenzte Themenbereiche zu erhalten. Auf entsprechende Informationen ist vor allem die Opposition angewiesen, die daher in signifikant stärkerem Maße als die Regierungsfraktionen auf dieses Instrument zurückgreift (Schindler: 1988, S. 646). Kleine Anfragen bieten - sofern die Bundesregierung sie beantwortet (oben § 10 III.) - ein Mittel, zu überschaubaren Sachverhalten relativ aktuelle und auch umfassende Informationen zu erhalten, insbesondere dann, wenn sie zu einer aus mehreren Anfragen bestehenden Serie geschaltet werden, die dem Ziel dient, zu einem Sachverhaltskomplex durch eine Vielzahl, das Thema variierender und seine Facetten auslotender Fragen Antworten zu erhalten, die ein mosaikartig zusammengesetztes, möglichst komplettes Informationsbild ergeben. Andererseits haben Kleine Anfragen einen nur relativ geringen Publizitätswert (a.A. Steffani: 1989, S. 1333): Sie und die Antworten der Bundesregierung werden zwar als Bundestagsdrucksache veröffentlicht, können indes nicht als Verhandlungsgegenstände auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt und dementsprechend dort nicht öffentlich beraten werden (§ 75 Abs. 3 GO-BT). Demgegenüber bietet die Große Anfrage, die in der Regel komplexe Themenstellungen betrifft, die dargelegte, auch von einer Minderheitsfraktion durchsetzbare Möglichkeit der Plenardebatte (oben I.). Insoweit räumt das Recht der Großen Anfrage der Opposition eine relativ starke Verfahrensstellung ein, welche diese auch dazu nutzen kann, neuartige Fragestellungen in die parlamentarischen Beratungen einzuführen und bestimmte Politikfelder thematisch und politisch zu „besetzen": Die in der 10. und 11. Wahlperiode zu beobachtende signifikante Zunahme von Großen Anfragen, die umweltpolitische und technikrelevante Themen betrafen und überwiegend von der Fraktion DIE GRÜNEN gestellt waren (Schindler: 1988, S.650ff.), bildet ein Beispiel hierfür. Obwohl die Große Anfrage hiernach in erster Linie ein Instrument der Opposition ist, so wird sie bisweilen auch von den Mehrheitsfraktionen genutzt, nämlich vor allem dann, wenn diese der Bundesregierung Gelegenheit geben wollen, zu einem komplexen Thema parlaments-öffentlich Stellung zu nehmen. In diesem Fall gilt für die Zielrichtung der Großen Anfrage ähnliches wie gelegentlich bei der Festlegung einer Berichtspflicht (oben IV.): Sie dient dann weniger dem Kontrollinteresse als vielmehr der öffentlichen Darstellung der Regierungsmeinung.
d) Fragestunde Während das Recht der Kleinen und Großen Anfrage nur einer Fraktion oder mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zusteht und somit Ausdruck des strukturierten Parlamentarismus ist (konkret § 10 VII.), dienen die in jeder Sitzungswoche durchzuführenden Fragestunden des Plenums dem individuellen Informationsrecht der einzelnen Parlamentarier, die berechtigt sind, für die Fragestunden bis zu zwei kurz gefaßte Fragen zur mündlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten, und zwar zu denjenigen Bereichen, für die diese unmittelbar oder mittelbar verantwortlich ist.
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Die Fragen werden vom Präsidenten in der Fragestunde aufgerufen und von dem zuständigen Bundesminister oder seinem Vertreter beantwortet, wenn der Fragesteller anwesend ist; dieser hat das Recht „nachzuhaken", indem er bis zu zwei Zusatzfragen stellen kann. Auf diese Weise ergeben sich bisweilen prägnante Diskurse, die sowohl der Kontrolle von Details des Verwaltungshandelns dienen als auch zu relativ präzisen Informationen führen, die vor allem die Opposition dadurch weiter komplettieren kann, daß mehrere ihrer Mitglieder zu ein- und demselben Themenkomplex eine Vielzahl von Einzelfragen stellen oder das Fragerecht dazu nutzen, um nach (unvollständigen) Antworten auf Kleine oder Große Anfragen weitere Informationen von der Bundesregierung zu erhalten.
3. Sonstige Verfahren zur Kontrolle und Informationsbeschaffung Den angeführten klassischen Informations- und Kontrollinstrumenten des Zitierrechts, der Berichtspflicht, der Kleinen und Großen Anfrage sowie der Fragestunde ist gemeinsam, daß sie auf parlamentarische Partizipation am Amtswissen der Bundesregierung abzielen. Die Kehrseite dieser Ausrichtung besteht darin, daß auf diesem Wege nur solche Informationen gewonnen werden können, die der Relevanzbeurteilung durch die Bundesregerung unterliegen, die es - wie dargestellt (oben § 10 I I I . ) - d e facto weitgehend in der Hand hat, Inhalt und Umfang der von ihr dem Parlament unterbreiteten Informationen zu bestimmen. Begünstigt wird diese Verfahrensherrschaft der Bundesregierung vor allem dadurch, daß die Mitglieder des Bundestages im Zusammenhang mit der Ausübung der dargestellten Kontrollrechte keine formellen Möglichkeiten besitzen, die Information auf ihre Vollständigkeit zu überprüfen, weil insoweit der Zugang zu den Unterlagen der Regierung, zu ihren Akten, Datenbanken und sonstigen Dokumentationseinrichtungen, verwehrt ist (§10 VIII.; auch § 5 V.), die einen Vergleich zwischen dem preisgegebenem und dem tatsächlich vorhandenem Amtswissen ermöglichen würden: Ob und in welchem Umfang relevante Informationen vorenthalten, Alternativen ausgeblendet, Daten einseitig ausgewertet worden sind - all dies kann daher mittels des Zitierrechts, der Berichtspflicht und des regierungsgerichteten Fragerechts alleine nicht ermittelt werden. Vor diesem Hintergrund ist für die Effizienz der parlamentarischen Kontrolle wesentlich, daß die Verfahrensordnung Rechte zur Selbstinstruktion und zur Informationsgewinnung durch Dritte bereithält, und zwar in der Weise, daß die Beschaffung relevanter Informationen auch zugunsten der parlamentarischen Minderheit erfolgt. Diesem Ziel dienen zwar die erwähnten Institute der EnqueteKommission (behandelt in § 10 V.) und der Anhörung (oben II.); sie weisen jedoch eine entscheidende Schwachstelle auf, weil sich mit ihrer Hilfe nur solche Informationen zusammentragen lassen, die entweder allgemein zugänglich sind oder von den Informationsträgern freiwillig preisgegeben werden: Über durchsetzbare Informationsansprüche verfügen weder die Enquete-Kommissionen noch die Ausschüsse in den Anhörungsverfahren. Effiziente Kontrolle setzt indes voraus, daß das kontrollierende Parlament nicht nur auf die Kooperationsbereitschaft der zu kontrollierenden Regierung und sonstiger Dritter angewiesen ist, sondern auch über eigene Informationsansprüche verfügt, die notfalls gegen den Willen des Informationsträgers durchgesetzt werden können. Solche parlamentarischen Informationsansprüche gibt es indes nicht
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umfassend (hierzu § 10 III; auch § 12), wohl aber in wesentlichen Teilbereichen, nämlich • indenPetitionsverfahren, • in Verfahren, die der Kontrolle der Bundeswehr dienen, sowie • in den Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse. Die insoweit maßgebenden Verfahrensvorschriften dieser Kontrollinstrumentarien sind jedoch nach unterschiedlichen Prinzipien ausgestaltet, welche insbesondere die - im Rahmen der parlamentarischen Kontrollaufgabe relevanten Rechte der Minderheit - in divergierender Weise berücksichtigen. Im einzelnen:
a) Informationsrechte des Petitionsausschusses Der Petitionsausschuß, der für die Vorbereitung von Beschlüssen des Bundestages über Beschwerden nach Art. 17 GG zuständig ist, verfügt über Informationsrechte aufgrund des Gesetzes nach Art. 45c des Grundgesetzes: Hiernach kann er Informationsansprüche zum einen gegen die Bundesregierung, die Behörden des Bundes sowie die bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts geltend machen, indem diese auf sein Verlangen Akten vorzulegen, Auskunft zu erteilen und Zutritt zu ihren Einrichtungen zu gestatten haben. Zum weiteren sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden verpflichtet, dem Petitionsausschuß auf dessen Bitte Amtshilfe zu leisten, und schließlich ist der Petitionsausschuß berechtigt, den Petenten sowie Zeugen und Sachverständige anzuhören (zu Einzelheiten Burmeister: 1987, S. 73, Schick: 1987, S. 103, sowie Graf Vitzthum/März: 1989, S. 1221). Der Petitionsausschuß ist auf diese Weise in die Lage gesetzt, gegenüber der Bundesregierung Informationsansprüche zu realisieren, soweit diese sich nicht ausnahmsweise auf entgegenstehende Geheimhaltungsgründe berufen kann; darüber hinaus ermöglicht ihm dieses Regelungssystem, sich durch die Anhörung von Petent, Zeugen und Sachverständigen unabhängig von der Darstellung der Bundesregierung ein eigenes Bild von einem Vorgang zu verschaffen. Die Ausübung aller dieser Informationsrechte setzt indes einen mit Stimmenmehrheit zu fassenden Beschluß des Petitionsausschusses voraus, wobei die Mehrheit durch keine Regel gebunden ist, entsprechenden Anträgen von Mitgliedern der Minderheit Folge leisten zu müssen. Mehrheitssache ist darüber hinaus auch die Beschlußfassung über die Beschlußempfehlung, die der Petitionsausschuß dem Bundestag zu unterbreiten hat. Sie lautet - sofern die Petition erfolgreich ist - , sie der Bundesregierung „zur Berücksichtigung", „zur Erwägung" oder „zur Kenntnisnahme" zu überweisen (Schick: 1987, S. 106), beinhaltet also nicht, daß das Parlament der Regierung Direktiven erteilt. Denn ein rechtlich bindendes Weisungsrecht gegenüber der Exekutive besitzt weder der Petitionsausschuß noch der Bundestag als ganzer. In der Praxis werden die Empfehlungen des Bundestages allerdings von der Bundesregierung weitgehend befolgt.
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b) Kontrolle der Bundeswehr: Wehrbeauftragter und Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß (1) Stehen hiernach dem Petitionsausschuß unter den dargelegten Voraussetzungen eigene Aufklärungsrechte zu, so verwirklicht das Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages (WBeauftrG) ein Kontrollmodell, das entsprechende Ermittlungsrechte auf ein Hilfsorgan des Bundestages - den Wehrbeauftragten (Art. 45b GG) - verlagert und die Ergebnisse von dessen Tätigkeit für Zwecke der parlamentarischen Kontrolle nutzbar macht. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, der vom Parlament gewählt wird und dem derzeit 67 Angehörige der Bundestagsverwaltung zuarbeiten, wird zum einen auf Weisung des Bundestages oder des Verteidigungsausschusses, zum anderen aufgrund eigener Entscheidung tätig, wenn ihm - insbesondere durch Mitteilungen von Mitgliedern des Bundestages oder durch Eingaben von Soldaten - Umstände bekannt werden, die auf eine Verletzung der Grundrechte der Soldaten oder der Grundsätze der Inneren Führung (vgl. hierzu Busch: 1991b, S. 78) schließen lassen. Im Rahmen seiner Ermittlungen steht dem Wehrbeauftragten das Recht zu, vom Bundesminister der Verteidigung und allen diesem unterstellten Dienststellen und Personen Auskunft und Akteneinsicht zu verlangen; darüber hinaus kann er sich durch Truppenbesuche „vor Ort" ein eigenes Bild über bestimmte Vorgänge verschaffen und bei seinen Erhebungen auch die Amtshilfe der Gerichte und Verwaltungsbehörden des Bundes, der Länder und der Gemeinden beanspruchen. Über das Ergebnis seiner Ermittlungen legt der Wehrbeauftragte dem Plenum oder dem Verteidigungsausschuß Einzelberichte vor; er stellt ferner in sog. Jahresberichten die Schwerpunkte und die Ergebnisse seiner Tätigkeit im jeweils vorangegangenen Kalenderjahr dem Bundestag dar. Diese Berichte bieten dem Parlament wesentliche Informationen über die Interna der Bundeswehr und eröffnen daher für diesen Bereich Kontrollmöglichkeiten, die denjenigen vergleichbar sind, die dem Bundestag aufgrund der Tätigkeit des Bundesrechnungshofes für den Bereich des Haushaltes zur Verfügung stehen (oben III.). Die parlamentarischen Weisungen an den Wehrbeauftragten, in einer Einzelangelegenheit tätig zu werden, bedürfen der Zustimmung der Mehrheit, die an entsprechende Anträge der Minderheit nicht gebunden ist. Gleichwohl besitzt die Minderheit nicht unerhebliche Einwirkungsmöglichkeiten, weil ihre Mitglieder den Wehrbeauftragten auf problematische Sachverhalte hinweisen und diesen veranlassen können, „nach pflichtgemäßen Ermessen" tätig zu werden (§ 1 Abs. 3 WBeauftrG). (2) Stärker minderheitsschützend sind demgegenüber diejenigen Regeln ausgeprägt, die dem Verteidigungsausschuß eigene Informationsbefugnisse zuweisen: Nach Art. 45a G G hat dieser, wie erwähnt (§ 10 V.), auch dig Rechte eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, wobei er auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet ist, eine Angelegenheit auf dem Gebiet der militärischen Verteidigung zum Gegenstand seiner Untersuchung zu machen (Art. 45a GG). Beschließt er dies, so verfügt er über erhebliche Selbstinstruktionsrechte, die sowohl gegenüber der Bundesregierung als auch gegenüber den Verwaltungen des Bundes und sonstigen Informationsträgern durchgesetzt werden können (i.e. Berg: 1982): So kann er aufgrund der entsprechend anzuwendenden Vor-
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Schriften der Strafprozeßordnung (Art. 45a GG i.V.m. Art. 44 Abs. 2 GG, Einzelheiten hierzu bei Engels: 1991, S. 72ff.) zum einen von der Bundesregierung die Vorlage von untersuchungsrelevanten Beweismitteln, insbesondere Akten, und den Zutritt zu ihren Einrichtungen fordern, zum anderen die Gerichte und Verwaltungsbehörden um Rechts- und Amtshilfe ersuchen, darüber hinaus von jedem Verfügungsberechtigten, also auch von Privaten, die Herausgabe von Unterlagen, die für die Beweiserhebung geeignet und erforderlich sind, verlangen sowie schließlich Zeugen und Sachverständige vernehmen, die - soweit sie nicht ausnahmsweise ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht besitzen (§§ 52 bis 55 StPO) - zur Aussage verpflichtet sind und sich bei einer Falschaussage nach § 153 des Strafgesetzbuches strafbar machen. Die gegen die Bundesregierung, sonstige Beweismittelinhaber sowie gegen Zeugen und Sachverständige gerichteten Informationsansprüche kann der Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß notfalls zwangsweise (mit Hilfe der Gerichte) durchsetzen (lassen), weil ihm insoweit die durch die Strafprozeßordnung begründeten Zwangsmittel, insbesondere die Vorführung von Zeugen und die Beschlagnahme sächlicher Beweismittel, zur Verfügung stehen. Die Ausübung aller dieser Beweis- und Zwangsrechte bedarf ausschußintern zwar auch der Zustimmung der Mehrheit; diese ist indes nach § 10 Abs. 2 der IPA-Regeln, die dem Untersuchungsverfahren zugrundegelegt werden, in ihrer Entscheidung gebunden, indem sie entsprechende Anträge der qualifizierten Minderheit (oben § 10 III.) nicht frei, also nicht aus Gründen der Zweckmäßigkeit, sondern nur dann ablehnen darf, wenn die beantragte Beweiserhebung oder der Einsatz des beantragten Zwangsmittels rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich ist, z. B. weil der benannte Zeuge nicht ermittelt werden kann (Engels: 1991, S. 142ff.). Das Beweisantragsrecht eröffnet daher der Minderheit entscheidende Möglichkeiten, auf den Umfang der Ermittlungen sowie auf Verlauf und Ergebnis der Untersuchung Einfluß zu nehmen.
c) Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 GG Dies gilt auch für diejenigen Untersuchungsausschüsse, die der Bundestag nach Art. 44 GG einsetzt (vgl. oben § 10 V.): Für deren Verfahren gelten dieselben Regeln wie für den Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß, so daß sie wie dieser über eigene Beweiserhebungs- und Zwangsrechte verfügen (Art. 44 Abs. 2 GG). Sie sind deshalb nicht auf die freiwillige Kooperationsbereitschaft der Informationsträger angewiesen und können daher auch gegen deren Willen ihre Informationsansprüche durchsetzen. Von dieser Beweiserhebungsbefugnis müssen sie im übrigen Gebrauch machen, wenn dies die qualifizierte Minderheit (oben § 10 III.) im Ausschuß beantragt und die Erhebung des Beweises zulässig und tatsächlich möglich ist. Da zudem der abschließende, dem Plenum des Bundestages vorzulegende Bericht auch die von der Mehrheitsmeinung abweichenden Auffassungen zu enthalten hat (Einzelheiten bei Engels: 1991, S. 165ff.), ist gerade aus Sicht einer Minderheitsfraktion das Untersuchungsverfahren nach Art. 44 GG in dem Konzert der parlamentarischen Kontroll- und Informationsmittel das wirksamste Instrument. Es vereinigt alle Rahmenbedingungen, die für eine effektive Kontrolle von Regierung und Verwaltung notwendig sind, indem
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• bei Einsetzung, Verfahren und abschließendem Bericht eines Untersuchungsausschusses die Verfahrensherrschaft der Mehrheit beschränkt und die Position der qualifizierten Minderheit gestärkt, • bei der Beweiserhebung grundsätzlich das Öffentlichkeitsprinzip (oben I.) verwirklicht und • das Recht begründet ist, Informationen unabhängig vom guten Willen des Kontrollierten zu erhalten. Daß von diesem Kontrollinstrument trotz dieser Vorzüge nur relativ zurückhaltend Gebrauch gemacht wird, hat mehrere Gründe: Zum einen sind die Verfahren sehr aufwendig und zeitintensiv und binden deshalb die personellen Ressourcen gerade einer Minderheitsfraktion in erheblichem Maße; schon mit Rücksicht hierauf kommt ein Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, den zu stellen jede Fraktion und fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages befugt sind, allenfalls dann in Betracht, wenn die weniger aufwendigen Kontrollinstrumente (IV.) keinen Erfolg versprechen oder erschöpft sind. Zum weiteren wirken taktische Überlegungen retardierend, weil ein Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nur dann opportun ist, wenn die Antragsteller sich die Chance ausrechnen, aufgrund der Gewichtigkeit des Untersuchungsthemas sowie der vorhandenen Beweismittel könne im Laufe der Beweisaufnahme sowohl eine sachgerechte Untersuchung geführt als auch Kapital auf Kosten des politischen Gegners gewonnen und zugleich mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß die Untersuchung gegen die Antragsteller gewendet werden kann. Vor allem der letztgenannte Aspekt stärkt die Neigung zum nur zurückhaltenden Einsatz dieses Instruments - ebenso wie die Erwägung, daß sein zu häufiger Gebrauch seine Wirksamkeit in den Augen der Öffentlichkeit allzu sehr verbraucht. Gleichwohl ist die Existenz der Regeln über das parlamentarische Untersuchungsrecht aus der Sicht einer Minderheitsfraktion, die über das Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages verfügt, von eminenter Bedeutung, weil schon der klug angebrachte Hinweis auf die Möglichkeit einer parlamentarischen Untersuchung bisweilen die Bundesregierung dazu bewegen kann, aus der - berechtigten oder unberechtigten - Furcht vor einem solchen Verfahren dem Parlament Informationen zu geben, die sie „an sich" lieber zurückhalten würde (Thaysen: 1988b, S. 14). So gesehen ist das parlamentarische Untersuchungsrecht der entscheidende Eckstein, der das Gebäude der Kontroll- und Informationsmittel zusammenhält.
V. Stärkung der Kontroll- und Informationsmöglichkeiten als Reformaufgabe Ob dieses System der Kontroll- und Informationsinstrumentarien für die Wahrnehmung und Erfüllung der Funktionen und Aufgaben des Parlaments ausreichend und geeignet ist, das beschriebene Informationsgefälle zwischen Regierung und Parlament (hierzu § 10 III.; § 12) abzubauen, ist in der jüngeren Vergangenheit - auch - von Parlamentsmitgliedern nachhaltig bezweifelt worden. So schrieb 1983 die damalige Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher (1983, S. 48): „Jeder Abgeordnete, der zeitweise Regierungsämter innehatte und dann als einfacher' Abgeordneter ins Parlament zurückgekehrt ist, weiß ein trauriges Lied vom plötzlichen und vollständigen Verlust seines ,Herrschaftswissens' zu singen, von der schier aussichtslosen Ungleichgewichtigkeit zwischen Parlament und
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Exekutive auch in puncto Kompetenz und Information, von dem ständig um sich rotierenden Sitzungsunwesen sowie der diffusen Verzettelung im täglichen Arbeitspensum. All dies zusammen genommen macht eine gründliche und umfassende Vorbereitung und Durchführung der Kontroll- und Initiativfunktion des Parlaments kaum möglich ... Infolge seiner unzureichenden Ausstattung mit Hilfskräften und -mittein ist der einzelne Abgeordnete nicht wirklich in der Lage, der Bürokratie Paroli zu bieten. Es hapert nicht nur daran, daß es hier kein Gleichgewicht gibt. Es fehlt den Abgeordneten auch das Instrumentarium, dieses zu erreichen." In der hieran anknüpfenden parlamentsinternen Diskussion um die Funktionsund Leistungsfähigkeit des Parlaments und die Gestaltungsmöglichkeiten seiner Mitglieder kristallisierten sich drei Themenschwerpunkte heraus: (1) H. Hamm-Brücher und die ihre Anliegen aufgreifende Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform (hierzu Werner: 1990, S. 404) thematisierten das notorische Ungleichgewicht zwischen „dem" Parlament und der Exekutive, als dessen Ursachen siei.w. • den fehlenden Ausbau der parlamentarischen Informations- und Kontrollrechte, • die Abwertung der Gestaltungs-, Informations- und Kontrollmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten durch die verfahrensrechtlich begründete „Übermacht" der Fraktionen und ihrer Führungen sowie • die mangelhafte technische und personelle Ausstattung des einzelnen Parlamentariers ausmachten (i.e. s.u.). (2) Während demnach diese Kritik schwerpunktmäßig sowohl an dem Verhältnis „Parlament und Regierung" als auch an der innerparlamentarischen Konfliktlinie, die zwischen den einzelnen Abgeordneten und den Fraktionen sowie ihren Führungen verläuft (dazu § 10 III.; auch § 1 III.), ansetzte, kritisierten-zweitens - andere Parlamentarierinnen die dem Bundestag nur unzureichend zur Verfügung stehenden technischen und sachlichen Ressourcen und drangen auf deren Ausbau, um auf diesem Wege dem konstatierten Informationsvorsprung der Exekutive beizukommen (problematisierend § 12). (3) Drittens schließlich griff die innerparlamentarische Diskussion die Kritik auf, das Instrumentarium der parlamentarischen Kontrolle und Informationsbeschaffung habe sich insbesondere gegenüber den neuen, vor allem den technischen, naturwissenschaftlichen und sozialen Herausforderungen als ineffektiv erwiesen; von diesem Ansatz aus erlebte der - schon ältere - Gedanke eine Renaissance, dem Parlament wirksame Instrumente der Technikfolgenabschätzung verfügbar zu machen (hierzu unten; grundsätzlich auch § 16). Im einzelnen:
1. Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform Entsprechend ihrem Ansatz zielte die Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform sowohl auf den Ausbau der Kontroll- und Informationsrechte des Parlaments als auch auf eine Stärkung der Stellung des einzelnen Abgeordneten und die Zurückdrängung des steuernden Einflusses der Fraktionen. Sie trat folgerich-
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tig zunächst für eine stärkere Betonung der in Art. 38 G G verankerten Rechte der Abgeordneten ein und konnte insoweit einen ersten Erfolg verbuchen, indem der Bundestag im Dezember 1986 ihrem Antrag folgte, die in Art. 38 G G verbürgte Gewissensfreiheit des Abgeordneten auch im Text der Geschäftsordnung hervorzuheben (nunmehr § 13 Abs. 1 GO-BT). Der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform war freilich bewußt, daß diesem - eher als symbolisch zu bewertenden - Schritt weitere mit dem Ziel folgen mußten, die rechtliche Stellung des einzelnen Parlamentariers - mit auch praktisch wirksamen Konsequenzen auszubauen. Sie legte hierzu zu Beginn der 11. Wahlperiode ihre programmatischen Zielsetzungen vor, die sich • auf den Ausbau der Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten, • auf das Ziel einer offeneren und lebendigeren, nicht von den Festlegungen der Fraktionen fest formierten Gestaltung der Debatten des Plenums sowie • auf eine deutliche Stärkung des politischen Gewichts „des" Parlaments und seiner Kontrollaufgaben gegenüber der Exekutive bezogen (i.e.BT-Dr. 1 1 / 4 1 1 - n e u - ) . Der Weg, auf dem die Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform diese Ziele zu erreichen suchte, war die von ihr favorisierte Reform der Regeln der parlamentarischen Verfahrensordnung. Hierzu unterbreitete sie im Verlaufe der 11. Wahlperiode insgesamt 49 Anträge (BT-Dr. 11/2206; 11/2207; 11/2208; 11/2209), durch die sie die programmatischen Zielsetzungen konkretisierte: Zur Stärkung der Arbeits-, Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten schlug sie zum einen - als pragmatisch zu charakterisierende - Änderungen der Geschäftsordnung vor, beispielsweise die, daß • den Ausschußmitgliedern die Tagesordnungen der Ausschußsitzungen rechtzeitig zugestellt werden und • die Enquete-Kommissionen ihre Berichte so frühzeitig vorlegen, daß sie vor Ablauf der Wahlperiode vom Plenum beraten werden können. Zum weiteren - und wichtiger - favorisierte sie materielle Reformen, die darauf abzielten, den parlamentsinternen Einfluß der Fraktionsführungen sowohl im Ältestenrat als auch bei der Gestaltung der Debatten zu begrenzen, wozu insbesondere die - durch eine Reihe von Einzeländerungen der §§ 30ff. G O - B T zu bewirkende - Flexibilisierung der Redeordnung des Plenums beitragen sollte. Darüber hinaus mahnte die Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform den weiteren Ausbau der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten an, indem sie insbesondere daraufdrang, • in der Geschäftsordnung hervorzuheben, daß die Initiative zur Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung auch von einem einzelnen Parlamentarier ausgehen kann, • geschäftsordnungsrechtlich die Pflicht eines jeden Bundesministers oder seines Vertreters zu verankern, an den Beratungen des korrespondierenden Fachausschusses ständig teilzunehmen, • die sog. Kabinettberichterstattung (wieder) aufzunehmen, durch die das Plenum regelmäßig über die Beschlüsse der Bundesregierung zeitnah (und zeitlich vor der Bundespressekonferenz) informiert werden sollte, sowie • die Bundesregierung zu verpflichten, zu den von ihr eingebrachten Gesetzentwürfen alle Materialien (Berichte, Gutachten, Ergebnisse von exekutiv-intern durchgeführten Anhörungen) anzuführen.
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Der 11. Bundestag stimmte - der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (vgl. BT-Dr. 11/5962) folgendden Anträgen der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform weitgehend nicht zu. Zwar wurden einige der pragmatischen Verfahrensvorschläge akzeptiert (nunmehr: §§ 56 Abs. 4,61 Abs. 1 GO-BT), auch Anregungen zur Flexibilisierung der Redeordnung aufgegriffen und einzelne Maßnahmen - wie die sog. Befragung der Bundesregierung (BT-Dr. 11/5999) - eingeführt. Die Mehrzahl der substantiellen Änderungsanträge zum Ausbau der Informations- und Kontrollmöglichkeiten sowie zur Beschränkung der „Übermacht" der Fraktionen wurde indes abgelehnt oder zurückgestellt (BT-Dr. 11/5962, S. 4ff.). Sucht man nach den Gründen für das Scheitern der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform, so liegen diese - erstens - in den vorherrschenden parlamentarischen Binnenstrukturen: Die Mehrzahl der Abgeordneten schätzt Bedeutung und Notwendigkeit der Fraktionen aus den geschilderten Gründen (oben § 10 II.) höher ein als die Anhänger der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform; der Geschäftsordnungsausschuß fand insoweit deutliche Worte, indem er gegenüber demjenigen Antrag, der auf eine Schwächung der Steuerungsfunktion der Fraktionen im Altestenrat abzielte, ausdrücklich betonte, Fraktionen seien „nicht überflüssige Fremdkörper in Parlamenten, sondern notwendige politische Gliederungen" (BT-Dr. 11/5962, S. 18). Zweitens dürfte für den fehlenden Erfolg der Interfraktionellen Initiative ursächlich sein, „daß die Initiatoren ein klassisch-liberales Parlamentarismuskonzept zum Maßstab nahmen" (Lange: 1988, S. 109), das auf die „klarere" Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive rekurriert und die Kontrollfunktion des „ganzen" Parlaments hervorhebt: Diese Konzeption koinzidiert nicht mehr mit den vorherrschenden Strukturmerkmalen des fraktionierten Parlaments und seiner formierten Gliederung in Regierungsfraktionen und Opposition (konkret § 10 III.; § 1 III und § 4 III.), die einen Rückgriff auf die traditionelle Gegenüberstellung von „Gesamtparlament und Regierung" ausschließen. Drittens - und hiermit zusammenhängend -: Die favorisierte Stärkung der Informations- und Kontrollrechte hätte sich aus den dargelegten Gründen vor allem zugunsten der parlamentarischen Minderheit ausgewirkt, so daß sich a priori das dem parlamentarischen Regierungssystem inhärente Problem stellte, daß der rechtliche Ausbau parlamentarischer Kontrollmöglichkeiten allenfalls in Ausnahmefällen mehrheitsfähig ist (vgl. § 10 III.).
2. PARLAKOM Gemessen an den Reformergebnissen, die der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform zuzuschreiben sind, ist der zweiten Reformlinie, die nicht auf Änderungen der Verfahrensregeln, sondern auf die Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der Abgeordneten durch IuK-Techniken - Stichwort: PARLAKOM (oben § 10 VIII.) - setzt, jedenfalls bislang größerer Erfolg beschieden. Gleichwohl läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Realisierung der PARLAKOMPläne nicht beurteilen, ob und in welcher Weise die mit der Einführung der IuKTechniken anvisierten Ziele erreicht werden. Zwar steht die Phase der Ausstattung aller Abgeordnetenbüros mit IuK-Techniken kurz vor ihrem Abschluß; bislang werden diese Techniken jedoch, wie erwähnt, weitgehend nur zur rationelleren Bewältigung der alltäglichen Büroarbeit genutzt. Die weiteren Stufen der Nutzung, die zu einer umfassenden Kommunikationsinfrastruktur innerhalb des
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Bundestages führen und zu qualitativen Verbesserungen der Informationsgewinnung, -Sammlung und -auswertung sowie zu dem Abbau parlamentarischer Informationsdefizite beitragen sollen, sind indes bislang nicht flächendeckend realisiert. Dies gilt insbesondere für den - von der PARLAKOM-Studie als Stufe 3 bezeichneten - „Bereich aufwendiger analytischer Anwendungen" der IuK Techniken, durch die den Abgeordneten und den Ausschüssen die für sie relevanten Informationen aufbereitet und erschlossen werden sollen (GMD/ORGA: 1986, S. 34f.). Das Kernproblem, das sich insoweit stellt, besteht dabei nicht darin, daß den Mitgliedern des Bundestages zu wenige Informationsquellen potentiell zur Verfügung stehen, sondern eher umgekehrt darin, daß die Informationsflut derzeit kaum zu bewältigen ist (Beckmann: 1986, S. 18; Bericht der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform, BT-Dr. 10/3600, S. 22): Die Auswahl der zu nutzenden Quellen, die Sichtung des gewonnenen Materials, die Selektion der relevanten Daten und ihre Bewertung sind Prozesse, die administrative, technische und wissenschaftliche Zuarbeit erfordern, weil - wie L. Kißler (:1989, S. 1018) dies treffend ausgedrückt hat - „aus Datenbergen ... erst dann handlungsrelevante Information wird, wenn sie für die Abgeordnetenarbeit kleingearbeitet sind". Anspruchsvolle Datenbank-Recherchen und umfassende technikgestützte Analysen sind m.a.W. nur dann möglich, wenn der Bundestag über das hierzu ausgebildete Personal verfügt, wofür nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 900 zusätzliche Stellen erforderlich sind (Lange, H.-J.: 1988, S. 136 sowie 1987b, S.64) 5 . Damit aber stellen sich dem technischen Reformansatz neue Probleme in den Weg: So würde die erhebliche Aufstockung des Personals zum einen der bisherigen Linie widerstreiten, Fraktions- und Parlamentsdienste nicht zu einer Gegenbürokratie auszubauen (hierzu § 10 VIII. ; Hinweise auch in § 5 V.) Zum weiteren würden Ausweitungen der Hilfsdienste in der genannten Größenordnung möglicherweise in eine neue Legitimitätskrise münden, weil zwar der Einfluß der regierungsgeleiteten Informationen zurückgedrängt, gleichzeitig aber die Gefahr implementiert würde, daß die Parlamentsmitglieder in zusätzliche Abhängigkeiten von mitarbeitenden Experten, von - unkontrolliert zusammengestellten und aufbereiteten - Daten und von intransparenten Sachzwängen geraten, die ihre politischen Entscheidungen beeinflussen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wem bundestagsintern das zusätzliche Personal zugewiesen werden soll. Von ihrer Beantwortung hängen nicht nur organisatorische Folgewirkungen, sondern auch Konsequenzen für die Binnenstruktur - und damit für die parlamentsinterne Machtverteilung - ab: Werden die Fraktionsdienste verstärkt, so profitieren hiervon in erster Linie die Fraktionseliten (i.e. § 10 III.) so daß deren Informationsvorsprung vor den einzelnen Abgeordneten sich weiter vergrößern würde; im Ergebnis würde dieser organisatorische Ansatz dann exakt den Zielen der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform zuwiderlaufen, deren Anliegen, wie gezeigt, gerade auch darin bestand, den Einfluß der Fraktionen zurückzudrängen. Werden dagegen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages personell in erheblichem Umfang aufgestockt, so berührte dies die parlamentsinterne Kon5
Diese auf den Angaben der PARLAKOM-Studie der GMD/ORGA (1986) beruhende Schätzung berücksichtigt noch nicht die Erweiterung des Bundestages nach dem 3. Oktober 1990 auf 662 Mitglieder.
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fliktlinie zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen weil vornehmlich letzteren die hierdurch eröffneten Informationsinstrumentarien zugute kämen (dazu § 10 VIII.). Die verbleibende dritte Möglichkeit - nämlich die Anzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen jedes einzelnen Abgeordneten zu erhöhen - verspricht demgegenüber, sowohl dessen Position bundestagsintern zu stärken als auch die Stellung des Parlaments insgesamt gegenüber Regierung und Verwaltung aufzuwerten (Kißler: 1989, S. 1019). Diese personenbezogene Lösung würde sich im Ergebnis zwar mit den von der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform favorisierten Zielen decken, insoweit aber auch - wie diese - denselben Einwänden ausgesetzt sein, so daß ihre Realisierung gegenwärtig wenig wahrscheinlich ist. Diese antagonistischen, bislang nicht abschließend diskutierten Aspekte stellen zwar nicht den parlamentsinternen Einsatz der IuK-Techniken insgesamt in Frage, weil er angesichts des Vorsprungs von Regierung und Verwaltung, von Wirtschaft und Verbänden sowie der fortschreitenden, von dem einzelnen Abgeordneten bei der Parlaments- und Wahlkreisarbeit zu bewältigenden Informationsflut unabdingbar geworden ist. Sie zeigen aber zum einen, daß die Einführung der IuK-Techniken nicht nur eine rein technische Seite, sondern auch Konsequenzen für die parlamentarische Binnenstruktur hat (Lange, H.-J.: 1988, S. 124ff.), zum anderen, daß technikgestützte Informationssysteme alleine parlamentarische Informationsdefizite nicht zu beheben vermögen.
3. Institutionalisierung einer Beratungskapazität für Technikfolgenabschätzung und -bewertung Dementsprechend sind denjenigen Parlamentarierinnen, die auf eine „technische Reform" der Parlamentsarbeit setzen, die modernen Informations- und Kommunikationssysteme - entgegen der anders lautenden Behauptung von H.J. Lange (1987a, S. 8) - auch nie als „das Instrumentarium schlechthin" erschienen, das „alle Informationsprobleme zu lösen" in der Lage wäre. In der parlamentsinternen Diskussion um die IuK-Techniken war vielmehr von Anbeginn - nicht zuletzt aufgrund der PARLAKOM-Studie (dazu § 10 VIII.) klar, daß zur Behebung von Informationsdefiziten nicht alleine technische Lösungen ausreichen, sondern zusätzliche Hilfskräfte und - wichtiger - intensivere Nutzungen des vorhandenen Kontroll- und Informationsbeschaffungsinstrumentariums sowie qualitativ verbesserte Formen der Politikberatung erforderlich sind. Die Diskussion, die diese Aspekte thematisiert, spitzt sich dabei vor allem auf die Fragen zu, ob das Parlament auf den naturwissenschaftlich-technischen Gebieten über ausreichende Informationen und Kontrollmöglichkeiten verfügt und im Zusammenhang „mit technischen Entwicklungslinien das verfassungsrechtliche Gebot, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen, erfüllt" (Jaeger, D.: 1990, S. 3, zu diesem Aspekt ferner Graf von Westphalen: 1990, S. 138ff.). Die hierzu von der Lehre aufgestellte, von den Analysen Ulrich Becks (: 1988, S. 256-293) beeinflußte These, das Instrumentarium der parlamentarischen Kontrolle und Informationsbeschaffung habe sich gegenüber den neuen technischen und naturwissenschaftlichen Herausforderungen als generell ineffektiv erwiesen, erscheint dabei allerdings als überzogen, weil sie vernachlässigt, daß die parla-
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mentarischen Verfahren zur Informationsbeschaffung und Kontrolle nicht mehr nur - wie G. Sommer (:1990, S. 49) meint - entsprechend den klassischen Erfordernissen des 19. Jahrhundert ausgeformt, sondern durchaus den modernen Ansprüchen angepaßt worden sind. Beispiele für diese veränderten parlamentsinternen Prozesse sind • die zunehmende Bedeutung des Selbstbefassungsrechts der Fachausschüsse, die auf diesem Wege mit Planungsentscheidungen der Exekutive frühzeitig und begleitend befaßt sind (oben § 10V. und IV.); • die diffizil ausgestalteten Informationsbeschaffungs- und Kontrollverfahren des Haushaltsausschusses dem - u.a. aufgrund des externen Sachverstandes des Bundesrechnungshofes - bei den haushaltsmäßigen Planungsentscheidungen komplexe Informationen über deren Folgen zur Verfügung stehen und der mit der verstärkten Nutzung des Instruments der qualifizierten Sperre (III.) auf die ständig wachsende Anzahl der Langzeitprogramme, insbesondere auf naturwissenschaftlichtechnischen sowie umweit-, Verkehrs- und forschungspolitischen Gebieten reagiert und auf diese Weise abschnittsweise Kontrollen des Parlaments sichert (Eickenboom: 1989, S. 1209); • die seit Mitte der achtziger Jahre intensivere Ausschöpfung der Instrumentarien der Großen Anfrage und der Konstituierung von Berichtspflichten für Zwecke der Information über umweit- und technologiepolitische Fragestellungen (oben IV.); • der seit der 10. Wahlperiode zu beobachtende sprunghafte Anstieg der Zahl der Anhörungen; • die zunehmende Bedeutung der Untersuchungsausschüsse für die parlamentarische Behandlung von umweit- und technologierelevanten Fragestellungen (Plöhn: 1988, S. 106); • schließlich: die Arbeit der Enquete-Kommissionen „Zukünftige KernenergiePolitik" (1979-1983), „Neue Informations- und Kommunikationstechniken" (1981-1983), „Chancen und Risiken der Gentechnik" (1984-1989) sowie „Technikfolgenabschätzung und -bewertung (1985-1990) mit ihrem hohen Stellenwert für die Bearbeitung ökologischer und technischer Fragestellungen. Diese Ansätze rechtfertigen - soviel ist der angeführten Kritik zuzugeben - indes nicht den Schluß, sie seien Ausdruck einer geschlossenen Konzeption parlamentarischer Behandlung und Entscheidung technologie-relevanter Fragestellungen. Denn zum einen erscheint fraglich, ob und inwieweit die „ressortspiegelbildliche Arbeitsteilung der Bundestagsausschüsse mit dem streng hierarchischen Prinzip der Federführung den mehr und mehr ressortübergreifenden Problemen gerecht wird" (Jaeger, D.: 1990, S. 3). Zum anderen stellt die Mehrzahl der angeführten Verfahren nicht sicher, daß das Parlament konzeptionelle Souveränität gewinnt: Die Leistungsfähigkeit der Großen Anfragen und Berichte ist schon deshalb begrenzt, weil sie ausschließlich zu regierungsgeleiteten Informationen führen, diejenige der Anhörungen, weil sie in der Regel lediglich „Momentaufnahmen" vermitteln (vgl. Bericht der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgenabschätzung und-bewertung", BT-Dr. 11/4606, S. 11) und mit ihnen daher nicht dem Problem beizukommen ist, daß Planungen einerseits in Langzeitprozessen entwickelt und andererseits die Halbwertzeiten des Wissensstandes zunehmend kürzer werden. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse schließlich sind zum einen vornehmlich auf personen-, nicht auf sachbezogene Kontrolle angelegt und betreffen zum anderen die ex post-Ermittlung von Sachverhalten, nicht die Zukunftsgestaltung. Diese konzeptionellen Schwä-
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chen sind zwar den Enquete-Kommissionen nicht inhärent; ihre Arbeitsweisen, Funktionen und Wirkungen sind indes parlamentsspezifischen Grenzen unterworfen, die einer Umsetzung der gewonnenen Ergebnisse eher hinderlich sind: Die Ursachen hierfür liegen vor allem darin begründet, daß ihre Arbeit organisatorisch nicht mit derjenigen der Fachausschüsse verkoppelt ist, sie dem Parlament keine Beschlußempfehlungen unterbreiten können (§ 5 V . ) und sie im übrigen mit der Erfüllung des Enquete-Auftrages aufgelöst werden, so daß der Sachverstand ihrer Mitglieder dem Parlament in der Regel gerade zu dem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung steht, zu dem ihre Anregungen z.B. in Gesetzentwürfe umgesetzt und von den Fachausschüssen beraten werden (BT-Dr. 11/4606, S. 11). Diese Befunde waren Mitte der achtziger Jahre für die Fraktionen Anlaß, die Informations- und Beratungssituation des Bundestages auf den Gebieten der technisch-wissenschaftlichen Entwicklung, ihrer Voraussetzungen, Möglichkeiten und Folgewirkungen einhellig als defizitär einzustufen (hierzu die Berichte auf B T - D r . 10/5844, S. 5ff.; 11/4606, S. 6; 11/5489, S. 12). Dieser Konsens bezog sich nicht nur auf wissenschaftlich-technische Problemstellungen im engeren Sinne, sondern hierüber hinausgreifend auf alle „bedeutsamen Folgedimensionen einer Technik, wie z.B. wirtschafts-, sozial-, umweit- und gesundheitspolitischer Aspekte, die mit Techniken stets untrennbar verbunden sind" (BT-Dr. 11/4606, S. 11). Für diese Themenfelder wurde einmütig diagnostiziert, • „daß die Veränderungen und Entwicklungen in Wissenschaft, Forschung und Technik in ihren Folgen weitreichend und tiefgreifend sind, so daß eine Intensivierung der parlamentarischen Beratung in diesen Bereichen immer dringlicher geworden ist", und • „daß der Deutsche Bundestag hierzu seinen Inforfnations- und Wissensstand über wesentliche technische Entwicklungen verbessern muß" (hierzu Bericht auf BT-Dr. 10/5844, S . 6 f . ) . Zur Verwirklichung dieser Zielvorgaben setzte der 10. Bundestag im März 1985 die Enquete-Kommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen, Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung" u.a. mit dem Auftrag ein, Vorschläge zu erarbeiten, ob und in welcher organisatorischen Form das Thema, welches dieser Kommission ihren Namen gab, im Bundestag weiterbehandelt werden kann. Die Enquete-Kommission schlug hierzu in ihrem Bericht vom 14. Juli 1986 (BTDr. 10/5844, S. 5) die Ergänzung der Geschäftsordnung um einen § 56a) folgenden Wortlauts vor: „1. Zur Unterstützung von Beratungen und Entscheidungen über technikbezogene Gestaltungsaufgaben setzt der Deutsche Bundestag eine .Kommission zur Abschätzung und Bewertung von Technikfolgen' ein. 2. Die .Kommission zur Abschätzung und Bewertung von Technikfolgen' kann dem Deutschen Bundestag bestimmte Beschlüsse empfehlen, die sich im Rahmen ihres Auftrages bewegen müssen. Empfehlungen bedürfen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages in der Kommission. 3. Die Zusammensetzung der Kommission regelt sich gemäß § 56 Abs. 2 und 3 GO-BT." Dieses in § 56a) G O - B T skizzierte TA-Modell basierte auf folgenden Eckpfeilern (i.e. Graf von Westphalen: 1990, S. 148ff.):
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Es knüpfte - erstens - an vorhandene parlamentarische Strukturen, nämlich: das Institut der Enquete-Kommissionen, an, indem die Zusammensetzung der TAKommission entsprechend § 56 Abs. 2 und 3 GO-BT geregelt werden sollte. Zweitens suchten die Verfasser des Konzepts die erkannten Schwächen der Enquete-Kommissionen nach § 56 GO-BT dadurch zu meiden, daß die TA-Kommission als ständiges Gremium institutionalisiert und ihr zudem eine permanente, die Wahlperioden überdauernde wissenschaftliche Arbeitseinheit zu geordnet werden sollte; diese Vorschläge zielten zum einen auf die Sicherung einer kontinuierlichen Beratung, zum anderen darauf ab, daß die wissenschaftliche Arbeitseinheit sowohl eigene TA-Projekte bearbeiten als auch externe Forschungsergebnisse parlamentsgerecht aufbereiten sollte. Drittens schließlich sah die vorgeschlagene Regelung - zur wirksamen parlamentarischen Umsetzung der Arbeit der TA-Kommission - vor, daß diese - anders als die Enquete-Kommissionen das Recht besitze, dem Bundestag Beschlüsse zu empfehlen; dieses Recht sollte jedoch an die Voraussetzung gebunden sein, daß die Empfehlungen jeweils die Zustimmung der Mehrheit der „Mitglieder des Deutschen Bundestages in der Kommission" (Abs. 2 Satz 2 des vorgeschlagenen § 56a) finden - wobei dieses Erfordernis den naheliegenden Einwand entkräften sollte, Beschlußempfehlungen einer enquete-ähnlichen Kommission seien mit den parlamentarischen Prinzipien schon deshalb nicht vereinbar, weil den nichtparlamentarischen Mitgliedern die Legitimation fehle, dem Bundestag Beschlußempfehlungen zu unterbreiten (hierzu § 10 V.). Das in § 56a) Ziff. 2 vorgesehene Beschlußempfehlungsrecht erwies sich indes in der weiteren parlamentsinternen Diskussion (i.e. Graf von Westphalen: 1990, S. 154ff.) als eine entscheidende Hürde, die - neben anderen Gründen - mitursächlich dafür war, daß das skizzierte TA-Konzept nicht verwirklicht wurde. Denn bald nach Veröffentlichung des Institutionalisierungsvorschlages wurden „Bedenken" laut (Bericht auf BT-Dr. 11/4606, S. 12), die sich vor allem darauf bezogen, daß die vorgeschlagene TA-Struktur einer Verwischung der Grenzen zwischen der den Parlamentariern vorbehaltenen Entscheidungsbefugnis und der den sachverständigen Kommissionsmitgliedern zustehenden Rolle der Politikberatung Vorschub leisten könne. Dieser Aspekt erschien zum weiteren deshalb als besonders problematisch, weil das vorgesehene Beschlußempfehlungsrecht mit der grundlegenden Regel brach, nach der Ausschüsse nur dann dem Plenum Beschlüsse empfehlen dürfen, wenn sie hierzu im einzelnen - durch die Überweisung einer Vorlage - beauftragt sind (dazu § 10, V.); demgegenüber sollte die TA-Kommission relevante Problemstellungen (allerdings nur im Rahmen ihres weitgesteckten - Auftrages) definieren, aufgreifen und bearbeiten sowie hierzu dem Plenum Beschlüsse empfehlen können. Mit dieser „Kompetenzüberdehnung" (BT-Dr. 11/4606, S. 13) kollidierte das TA-Konzept indes in der Tat mit den herkömmlichen geschäftsordnungsrechtlichen Strukturprinzipien, weil insoweit nicht nur das sensible Verhältnis „Plenum und Ausschüsse" (dazu oben § 10, III.), sondern auch die Steuerungsfunktion der Fraktionen berührt war, die einen allenfalls beschränkten Einfluß auf Auswahl und Festlegung der im einzelnen zu bearbeitenden TA-Projekte gehabt hätten. Da zudem seit „Beginn der TA-Debatte im Bundestag immer die Befürchtung seitens der Regierungsmehrheit formuliert wurde, die vorgeschlagene neue Einrichtung werde in erster Linie zu einem zusätzlichen Instrument der Opposition zur Behinderung der Forschungund Technologiepolitik" (Graf von Westphalen: 1989a, S. 25), muß zumindest im Nachhinein konstatiert werden, daß das vorgeschlagene TA-Konzept zwischen
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sämtliche der eingangs dargestellten (oben § 10 III.) parlamentsinternen Konfliktlinien geriet und schon deshalb seine Chancen, realisiert zu werden, von Vorneherein nicht als hoch einzuschätzen waren. Nachdem der 10. Bundestag den Bericht und den TA-Institutionalisierungsvorschlag der von ihm eingesetzten Enquete-Kommission nicht mehr beraten hatte, beauftragte der 11. Bundestag die erneut eingesetzte Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung, Technikfolgenabschätzung und -bewertung" u.a., die gegen den Institutionalisierungsvorschlag der Enquete-Kommission der 10. Wahlperiode geäußerten Bedenken aufzugreifen und unter Berücksichtigung ihrer eigenen Erfahrungen Empfehlungen zu einer TA-Konzeption vorzulegen. Unter den Mitgliedern dieser Kommission herrschte zwar Einvernehmen über die Notwendigkeit der Institutionalisierung einer ständigen Beratung für Technikfolgenabschätzung, nicht mehr jedoch darüber, auf welchem organisatorischen Weg diese sicherzustellen sei. Hierzu empfahlen die Kommissionsmitglieder drei unterschiedliche Modelle (Bericht dieser Enqucte-Kommission auf BT-Dr. 11/4606, ferner die Anträge auf BT-Drsn. 11/4377; 11/4749 und 11/4828; zusammenfassend Jaeger, D . : 1990, S. 3): (1) Die den Regierungsfraktionen angehörenden Abgeordneten und ein Teil der sachverständigen Mitglieder schlugen vor, • dem Ausschuß für Forschung und Technologie zusätzlich die Aufgabe der Technikfolgenabschätzung zu übertragen, • sowie eine externe, über ein Ausschreibungsverfahren auszuwählende wissenschaftliche Einrichtung mit der parlamentarischen Zuarbeit zu betrauen. (2) Die Mitglieder der Fraktion der SPD und ein anderer Teil der sachverständigen Kommissionsmitglieder favorisierten demgegenüber • die Einsetzung eines „Ausschusses für parlamentarische Technikberatung", • dem eine wissenschaftliche Einheit beim Deutschen Bundestag zuarbeiten und • den ein vom Parlament zu berufendes Kuratorium beratend unterstützen sollte. (3) Die Kommissionsmitglieder der Fraktion D I E G R Ü N E N und ein Sachverständiger schlugen vor, • eine Stiftung „Technikfolgenabschätzung und -bewertung" einzurichten, in deren Lenkungsgremium Abgeordnete und Vertreterinnen anderer gesellschaftlicher Gruppen vertreten sein und der ein wissenschaftliches Institut „zwecks dialogischer Begleitung der Studien und zwecks ,Übersetzung' der wissenschaftlichen Studien für Parlamentarierinnen und Öffentlichkeit" zuarbeiten sollten. • Darüber hinaus sah dieses TA-Modell vor, beim Bundestag eine dauerhafte Beratungsinstitution aufzubauen, die beim Präsidium angesiedelt werden und vorzugsweise für die Vergabe „kleinerer" TA-Studien zuständig sein sollte, und • der eine wissenschaftliche Arbeitseinheit der Bundestagsverwaltung zuarbeiten würde. D e r Ausschuß für Forschung und Technologie, dem diese Vorschläge zur Beratung überwiesen wurden, empfahl dem Bundestag in seinem Bericht vom 26. Oktober 1989 (BT-Dr. 11/5489), dem von den Regierungsfraktionen vorgeschlagenen TA-Konzept zuzustimmen. Der Bundestag folgte dieser Beschlußempfeh-
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lung am 16. November 1989, so daß seit diesem Zeitpunkt das unter (1) skizzierte TA-Modell praktiziert wird. Gemessen an dem von der Enquete-Kommission „Technikfolgenabschätzung und -bewertung" der 10. Wahlperiode vorgelegten TA-Konzept bleibt das nunmehr beschlossene hinter den seinerzeit hochgesteckten Erwartungen sicherlich zurück: Insbesondere ist nunmehr die ursprünglich favorisierte Idee, beim Deutschen Bundestag eigene Beratungskapazitäten zu schaffen, zugunsten der externen Lösung aufgegeben, die weder sicherstellt, daß die Zuarbeit „parlamentsgerecht" erfolgt, noch vorsieht, daß der Opposition ein qualifiziertes Minderheitsrecht für die Anregung und Auswahl von Studien der Technikfolgenabschätzung und -bewertung zusteht. Da zudem die nunmehr für die Erstellung der TA-Studien ausgewählte „Abteilung für angewandte Systemanalyse (AFAS)" des Kernforschungszentrums Karlsruhe weitgehend aus dem Haushalt des Bundesministeriums für Forschung und Technologie finanziert wird, bleibt abzuwarten, ob in Zukunft der Bundestag über TA-Studien verfügen wird, die autonome, nicht regierungsgeleitete Informationen präsentieren und zu den zahlreichen, von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen und veröffentlichten TA-Untersuchungen (hierzu die aufschlußreiche Antwort der Bundesregierung auf BT-Dr. 11/ 4323 - neu - ) Alternativen bieten.
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§ 12 Exekutive Berichtspflicht in der Technikfolgen-Abschätzung Raban Graf von Westphalen* I. Rechtliche Steuerung der Forschungs- und Technologiepolitik? - II. Die Verpflichtung der Exekutive zur Information des Parlaments über TechnikfolgenAnalysen. Grundlagenliteratur Hans-Jürgen Hett (1987): Die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen, das Grundrecht der Informationsfreiheit und die Informationspflichten der Exekutive. Frankfurt/M. u.a. Otto-Ernst Kempen (1975) : Grundgesetz, amtliche Öffentlichkeitsarbeit und politische Willensbildung. Berlin. Bernd Lutterbeck (1977): Parlament und Information. München u.a. Siegfried Magiera (1979): Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes. Berlin. Hans-Josef Vonderbeck (1981): Parlamentarische Informations- und Redebefugnisse. Berlin. In §§ 1,16 und 17-20 wird auf die verfassungsrechtlich gebotene, politisch unumstrittene Verpflichtung der Legislative hingewiesen, Analysen mit dem Ziel einer möglichst umfassenden Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung in eigener Zuständigkeit zu betreiben (Graf von Westphalen: 1989a -I- b; 1990). Die Forderung, Technikfolgeanalysen in eigener Zuständigkeit, d.h. im Rahmen parlamentarischer Geschäftsautonomie und als Ausdruck legislativer Souveränität zu gestalten, wird auch durch die Überlegung geleitet, daß der den technischen Fortschritt tragende, ihn zu verantwortende Gesetzgeber auf technischen Sachverstand angewiesen ist; die Erzeugung dieses Wissens im vorparlamentarischen Raum allerdings die Gefahr in sich birgt, den Gesetzgeber in seinen Entscheidungen zu präformieren.
I. Rechtliche Steuerung der Forschungs- und Technologiepolitik Eine weitere Begründung für Technikfolgen-Abschätzung als staatliche Aufgabe ergibt sich unter einem anderen Gesichtspunkt: Der parlamentarischen Verantwortung für das Recht als klassische Handlung- und Gestaltungsmöglichkeit des Staates. Das Recht entwickelt sich nicht unabhängig von anderen gesellschaftlichen Subsystemen, sondern steht mit ihnen in ständiger reflexiver Wirkung; dies gilt auch in bezug auf die Technik: Recht als normative Ordnung wird von der realen Tat-
* Hinweise zu diesem Abschnitt verdanke ich Frau Irene Heuser.
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sachenweit - und damit der Technik - mitgestaltet (Aarnio: 1991; Roßnagel: 1991). Mit anderen Worten: Auch mit Blick auf das Rechtssystem und seine Fortentwicklung ist der Gesetzgeber gehalten, sich in den Stand größtmöglichen Annäherungswissens über die möglichen Folgen und Wirkungen seiner Entscheidungen im Rahmen des Prozesses technischer Realisation als gestaltungsmächtigster Kraft gesellschaftlicher Formierung zu bringen: Als Instrument dazu kann eine richtig verstandene Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertungsanalyse einen Beitrag leisten (Paschen/Gresser/Conrad: 1978; Böhret/Franz: 1982; Zöpel: 1988; Graf von Westphalen: 1990, S. 125ff.; Ders./Neubert: 1988a, S. 259ff.; Roßnagel: 1993; Ropohl/Schuckardt/Wolf: 1990m.w.N.). Der Staat fördert Forschung, Wissenschaft und industrielle Nutzung in ausschlaggebender Form (dazu z.B. die jährlichen Forschungsberichte der Bundesregierung) und definiert über diese Förderung die Ziel- und Zweckstrukturen des Wissenschafts- und Forschungsbetriebes. Mit dem Hineinwachsen des Staates in die Rolle des zentralen Trägers technologischer Entwicklung wird Wissenschaft im Dienste eines spezifischen Fortschrittsverständnisses und im Sinne technologisch-industrieller Innovation funktionalisiert. Ökonomische Profitabilität, Erschließung und Sicherung industrieller Märkte, wirtschaftliches Wachstum und damit politische Stabilität als mutmaßlich bedeutsamste Ziele innovativer Technikentwicklung lassen den Staat eine maßgebliche Rolle als Initiator und Förderer von Forschungsprozessen einnehmen. Der Wissenschaftsprozeß fungiert zunehmend als offizielle Wissenschaft (Hilpert: 1989), die-programmatisch gelenkt und materiell gefördert-Instrument exekutiver innovationssteuernder Forschungs- und Technologie-Politik ist (Fleck: 1990m.w.H.). Bereits der Umstand, daß Grundlagenforschung und Technologieentwicklung heute zunehmend von staatlichen Initiativen dominiert und folglich öffentlichrechtlich regelungsbedürftig werden, zwingt - in Ergänzung der verfassungsrechtlichen Ausführungen der folgenden § 16 und §§ 17-20 dazu, Forschungs- und Technologiepolitik dem parlamentarischen Staatsleitungsteilhabe-Erfordernis zu unterwerfen, d. h. diese Politikbereiche zu parlamentarisieren. Mit Blick auf die erwartbare Wirkung einer solchen Maßnahme ist allerdings zu berücksichtigen, daß staatliche Forschungs- und Technologie-Politik wie auch kommerzielle Technikförderung durch Industrie und Wirtschaft den Bereich politisch-parlamentarischer Gestaltung und Kontrolle in einem Ausmaß zu präformieren drohen, infolge dessen parlamentarische Alternativen und Korrekturen praktisch bedeutungslos werden können. Kritiker wie Ulrich Beck (: 1988, S. 256ff.) etwa spitzen diese eigenmächtige VorVerfügung über politische Entscheidungen dahingehend zu, daß der technische Entwicklungs- und Produktionsprozeß einen neuartigen Gefahrentypus hervorgebracht hat, der nicht mehr von den politischen Systemen moderner Industriestaaten zu bewältigen ist: Es werden im politischen Raum lediglich Legitimationsmechanismen angewandt, um öffentliche Akzeptanz für Entscheidungen zu erzeugen, die längst außerhalb des parlamentarisch-politischen Zuständigkeitsbereichs getroffen sind. Das „System der organisierten Unverantwortlichkeit" macht - so diese Kritik jeden essentiellen Kontrollversuch hinfällig. Wenige Hinweise auf die staatlichen
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Maßnahmen zur Förderung einer Schlüsseltechnik, von der ausschlaggebende Impulse zur strukturellen Veränderung der Gesellschaft ausgehen werden, der Informationstechnik, mögen diese Überlegungen veranschaulichen. Im Bericht „Informationstechnik 2000" der Bundesregierung aus dem Jahre 1987 ist die Einschätzung der Regierung nachzulesen, nach der die „Informationstechnik eine neue Kulturtechnik (ist), die das Zusammenleben der Menschen grundlegend verändert und auf die Wirtschaftskraft und die Wettbewerbsfähigkeit der Staaten entscheidenden Einfluß ausübt." (Ausschuß für Forschung und Technologie des Deutschen Bundestages: 1987 S. 1). In der Unterrichtung des Deutschen Bundestages über das „Zukunftskonzept Informationstechnik" hat die Regierung ihre Einschätzung wiederholt: „Kaum eine andere technische Entwicklung führt gegenwärtig zu derart tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in allen Lebensbereichen wie die Informationstechnik" (:1989, S. 12). Teilt man die von der Regierung in diesem Bericht angesprochenen technikinduzierten Dimensionen gesamtgesellschaftlichen Wandels, dann muß es - nach allen hier formulierten Anschauungen zur verfassungsrechtlichen Verantwortung des Parlaments - überraschen, daß der Deutsche Bundestag etwa durch eigene parlamentarische Leitentscheidungen an der Ausgestaltung dieses revolutionären Umbruchs der Gesellschaft, durch welchen „erstmalig in der Menschheitsgeschichte Information und Kommunikation zum Wesensinhalt eines Zeitalters" (Schwarz-Schilling: 1988, S. 182) werden, nicht beteiligt ist; vielmehr verzichtet das Parlament auf jede Mitwirkung. In der Beschlußempfehlung und dem Bericht zum „Zukunftskonzept Informationstechnik" vom 25.10.1990 wird die Bundesregierung aufgefordert, die Datensicherheit zu verbessern, die Einführung der Informationstechnik in mittelständische Unternehmen zu stützen, die internationale Wettbewerbssituation auf diesem Sektor zu beachten und die Grundlagenforschung durch ein Förderungskonzept, welches der „besonderen Bedeutung (...) der Informationstechnik gerecht wird", vorzulegen. Im übrigen habe die Bundesregierung durch „begleitende Technikfolgenabschätzung in ausgewählten Gebieten die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechniken in Deutschland zu beobachten und erforderlichenfalls nachzujustieren" (sie!). Der Bundesminister für Forschung und Technologie, aber auch die „neugeschaffenè Einrichtung für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag" (Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages - TAB) hätten diese Aufgabe „insbesondere zu erfüllen" (BT-Drs. 11/8271, S. 4).
II. Die Verpflichtung der Exekutive zur Information des Parlaments über Technikfolgen-Analysen Diese Aufforderung des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung sei zum Anlaß genommen, die Frage zu prüfen, ob nicht der parlamentarischen Exekutivkontrolle - wie vorstehend dargestellt (hierzu § 1 1 I V . ) - e i n e exekutive Veröffentlichungspflicht entsprechen muß, welche die prinzipielle Öffentlichkeit des politischen Willensbildungsprozesses - Grundbedingung für die Funktionsfähigkeit jeder Demokratie - sichert. Zunächst erscheint eine Pflicht der Bundesregierung zur Durchführung einer Technikfolgen-Abschätzung vor Veröffentlichung ihrer Gesetzesinitiativen im
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Zusammenhang mit dem Recht auf Einbringung von Gesetzesvorlagen in den Bundestag gemäß Art. 76 Abs. 1 G G naheliegend und muß insofern vor dem Hintergrund der Gesetzgebungsaufgaben und der verfassungsrechtlichen Stellung der Bundesregierung bewertet werden. Die Bundesregierung ist in Ausübung ihres Rechts auf Einbringung von Gesetzesvorlagen in den Bundestag nach Art. 20 Abs. 3 GG an Verfassung, Gesetze und Recht gebunden, und daher sind gerade die grundrechtlichen Bestimmungen der Verfassung als Maßstab technischer Entwicklungen heranzuziehen (i.e. § 16 II. und III.). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthalten die Grundrechtsnormen nicht nur subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegenüber dem Staat, sondern sie „verkörpern zugleich eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt" (B VerfGE 39,1 (42) - die sogenannte Wertordnungslehre (allgemein § 11.; auch § 6 II.). Gemäß dieser Funktion der Grundrechte als Schutzpflichten ist die Bundesregierung vor allem nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 G G verpflichtet, alle Gefahren, die von technischen Systemen für die Würde der Menschen, ihr Leben, ihre Gesundheit und die Ausübung ihrer Freiheitsrechte ausgehen können, abzuwehren bzw. in verantwortlicher Weise Regelungen zum Schutz der Rechtsgüter und Allgemeinheitsinteressen herbeizuführen (vertiefend § 16 II.; § 18). Um dieser Schutzfunktion nachzukommen, können mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen, die beispielsweise aus der gesetzlichen Zulassung technischer Anlagen und ihrem Betrieb entstehen können, nicht ausgeschlossen werden - sonst würde jede staatliche Zulassung die Nutzung von Technik verhindern - , jedoch sind Folgenabschätzungen im Vorfeld jedes Gesetzgebungsverfahrens zwingend. Die Durchführung einer derartigen Technikfolgen-Abschätzung durch die Bundesregierung ist nicht ausdrücklich normiert; eine diesbezügliche Verpflichtung leitet sich aber aus der Stellung der Bundesregierung und damit aus dem staatsorganisatorischen Kompetenzgefüge ab. In der Verfassungstradition hat die Zunahme von Staatsaufgaben im Prozeß technischer Realisationen zu einem ständig wachsenden Informationsbedarf zur Erfüllung der Staatsaufgaben geführt (Magiera: 1979, S. 232), welcher aufgrund des umfangreichen Apparates der Ministcrialbürokratie nur von der Bundesregierung als „der informierten Gewalt par excellence" (Leisner: 1968; S. 729) gedeckt werden kann. Gerade im Bereich der technischen Probleme zeigt sich, daß die Bundesregierung als Hauptakteur im Gesetzgebungsprozeß (Bryde: 1989b, S. 862) mit Hilfe der Ministerialbürokratie die schwierigen fachlichen Vorarbeiten für einen Gesetzesentwurf mit technischen Fragestellungen weit besser leisten kann als dies z.B. den Ausschüssen des Bundestages bei den ihnen zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln möglich ist (zu den Ausschüssen § 10 V. und § 11 II.). Aufgrund dieses Informationsvorsprungs der Bundesregierung erwächst ihr die Aufgabe, bei Entscheidungen über technische Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten stets die Auswirkungen auf gesellschaftliche Zielvorstellungen, auf die Rechte und Würde der Individuen wie der Allgemeinheit, auf Lebensstile, eine humane Gestaltung der Arbeit und auf den Umgang mit der Natur zu berücksichtigen. Staatsorganisatorisch ist daher die Durchführung von Technikfolgen-Abschätzungen dem Bereich der staatsleitenden Tätigkeiten der Bundesre-
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gierung verpflichtend zuzuordnen (vgl. die Maßnahmen der Regierung in BTDrs.il/4323-neu-). 1. Parlamentarisches Informationsrecht - exekutive Antwortpflicht Diese Verpflichtung leitet zu der Frage über, ob die Bundesregierung gehalten ist, die Ergebnisse einer von ihr durchgeführten Technikfolgen-Abschätzung an das Parlament weiterzuleiten und wie gegebenenfalls der Umfang einer derartigen Informationspflicht ausgestaltet sein muß, die in allgemeiner Form zunächst an das Zitierrecht nach Art. 43 Abs. 1 anknüpft (Kempen: 1975; Magiera: 1979, S. 308). Eingeschoben sei der Hinweis, daß die nicht in Kraft getretene Paulskirchenverfassung von 1848/49 und die preußische Verfassung von 1850 eine Art parlamentarisches Informationsrecht enthielten; demgegenüber kannten die Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Reichsverfassung von 1919 in dieser Hinsicht keine Bestimmungen. Nach einer streng auf den Wortlaut dieser Verfassungen abstellenden Ansicht ist diesen zunächst eine scharfe Trennung zwischen dem „Zitierungs-" und dem „Interpellationsrecht" (Fragerecht des Parlaments) zu entnehmen und - mangels einer ausdrücklichen Verankerung des Interpellationsrechts im Grundgesetz - die Gewährleistung einer Informationspflicht der Bundesregierung zu verneinen (Lutterbeck: 1977, S. 119ff.). Auch die in §§ lOOff. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOßT) enthaltenen Interpellationsrechte werden als autonome Parlamentsrechte mit eigener Funktion, aber ohne positive verfassungsrechtliche Verankerung angesehen, mithin eine Publizitätsverpflichtung der Regierung nicht uneingeschränkt bejaht. Allerdings steht dieser Auffassung grundsätzlich entgegen, daß nach der herrschenden Meinung das Fragerecht des Parlaments und die Antwortpflicht der Regierung dem Zitierungsrecht des Art. 43 Abs. 1GG als dessen konkretisierenden Ausprägungen bzw. als „akzessorische Parlamentsrechte" (BVerfGE 13, 125) aufgefaßt werden (Vonderbeck: 1981, S. 20; die Kommentare zum Grundgesetz Art. 43 Abs. 1 nachgewiesen in den Hilfsmitteln B). Man darf darüber hinaus vermuten, daß in Verbindung mit einer Antwortpflicht der Bundesregierung auch eine Informationspflicht der Bundesregierung besteht. So verpflichtet etwa Art. 53a Abs. 2 GG die Regierung, den gemeinsamen Ausschuß über ihre Planungen für den Verteidigungsfall zu unterrichten, läßt aber ausdrücklich die Rechte des Bundestages und seiner Ausschüsse nach Art. 43 Abs. 1 GG unberührt; mit dieser „Nichtberührungsklausel" setzt das GG voraus, daß dem Bundestag neben einem Herbeirufungsrecht auch ein Informationsrecht gegenüber der Bundesregierung zusteht. Die korrespondierende Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament wird ebenfalls durch Art. 53 GG belegt, der zwar unmittelbar zunächst nur das Verhältnis von Bundesregierung und Bundesrat regelt, aber nach dem Grundgedanken des Art. 35 Abs. 1 GG (Rechts- und Amtshilfe aller Behörden des Bundes und der Länder) als ausdrückliche Bestätigung einer allgemeinen Aufklärungspflicht der „informierten Gewalt" gegenüber den weniger informierten Verfassungsorganen zu sehen und daher auch gegenüber dem Bundestag anzunehmen ist.
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Ausschlaggebend für eine verfassungsrechtliche Begründung des Publizitätsgebots für die Bundesregierung ist die Gewährleistungspflicht aller Staatsgewalten für den demokratischen Charakter des parlamentarischen Regierungssystems und das aus diesem zu folgernde Gebot der Offenheit der Ausübung von Staatsgewalt. Aus ihm leitet sich die Regierungspflicht zur „innerorganschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit" gegenüber dem Parlament ab (Ridder: 1975, S. 59f.). Die vorgetragenen Überlegungen führen zu dem Ergebnis, daß eine allgemeine Verpflichtung der Bundesregierung besteht, zusammen mit der Einbringung von Gesetzesvorlagen ihr Wissen um die Wirkungen und Folgen des Gesetzgebungsvorhabens an das Parlament weiterzuleiten, - hier: Technikfolgenanalysen - welcher nur in Ausnahmefällen ein Auskunftsverweigerungsrecht entgegensteht, dann nämlich, wenn die Funktionsfähigkeit des „Kern- oder Initiativbereichs" (Magiera: 1979, S. 323) entscheidend berührt wird.
2. Exekutive Publizitätspflicht und parlamentarische Opposition Eine ähnliche Wertungsperspektive exekutiver Informationspflicht ergibt sich, wenn man die verfassungsrechtliche Stellung der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem berücksichtigt. Obwohl im Grundgesetz als auch in der Geschäftsordnung des Bundestages und im Parteiengesetz eine ausdrückliche Erwähnung oder Normierung der parlamentarischen Opposition fehlen, wird sie als Verfassungsinstitution anerkannt. Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts werden das „Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition" im Rahmen der Grundrechte und der Bestimmungen über den Minderheitenschutz sowie die allgemeine Oppositionsfreiheit als „wesentliche Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" bezeichnet (BVerfGE 2, lff.). Ein normativer Bezug zum Institut der parlamentarischen Opposition besteht bereits durch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2; Art. 28 Abs. 1 GG) des Grundgesetzes. Zum Kernbestand der parlamentarischen Ordnung gehören die Verhinderung eines Einparteiensystems durch konkreten Minderheitenschutz und eine alternative Herrschaftsorganisation, welche erst durch eine chancengleiche parlamentarische Betätigung der jeweiligen Minderheitspartei gewährleistet ist (Zeh: 1987a, S. 391ff.). Die durch die parlamentarische Opposition ermöglichte reale Machtwechselchance ist auch als „inneres Bewertungsprinzip" der parlamentarischen Demokratie anzusehen („Alternanzdemokratie", Schneider, H.-P.: 1989a; S. 1064). Aus diesem verfassungsrechtlichen Auftrag, nämlich einen politischen Machtwechsel zu ermöglichen, bezieht die parlamentarische Opposition in erster Linie ihre Existenzberechtigung und richtet letztlich ihre sonstigen Funktionen - Kritik, Kontrolle, Alternativenbildung - danach aus. Weiterhin besteht eine Verbindung des Instituts der parlamentarischen Opposition zum Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 2 und 3; Art. 28 Abs. 1 GG) insofern, als die mit diesem Verfassungsgrundsatz postulierte „klassische Gewaltenteilung" zwischen Legislative und Exekutive durch die im parlamentarischen System gebildete politische Handlungseinheit aus Regierung und Parlamentsmehrheit partiell aufgehoben und durch das Wechselspiel zwischen Regierungsmehrheit und parlamentarischer Opposition ersetzt wird. Insofern konkretisiert sich die verfassungsrechtliche Stellung der parlamentarischen Opposition durch die Wahrnehmung demokratischer und rechtsstaatlicher Funktionen.
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3. Kap. : Der Deutsche Bundestag
Eine Möglichkeit zum Machtwechsel durch die parlamentarische Opposition setzt als objektive Rahmenbedingung das Prinzip der Chancengleichheit von Regierung und Opposition voraus. Ebenfalls erfordert die Oppositionsfunktion in der kritischen Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik umfassende Information als Grundlage einer verantwortungsvollen und sachkundigen Bewertung des jeweiligen exekutiven Vorhabens. Weiterhin hängen die Erfüllung der Aufgaben der Kontrolle der Regierung bzw. des Parlaments wie die Bildung von Alternativen zur Regierungspolitik von der Kenntnis der Grundlagen ab, auf welche die Regierung ihre Entscheidungen stützt. Daher hat der Zugang zu Regierungsinformationen für die parlamentarische Opposition eine wesensgemäße, verfassungsrechtlich gebotene Bedeutung. Sowohl das Grundgesetz als auch die G O - B T enthalten Regelungen, wonach Informationsverlangen auch von einer Minderheit der Abgeordneten an die Regierung gerichtet werden können (i.e. § 10 III. und VII.; § 11IV.). So folgt aus dem Recht der Opposition, Untersuchungsausschüsse nach Art. 44 des Grundgesetzes als schärfstes Informationsinstrument auch gegenüber der Regierung einsetzen zu können, zudem, daß sie ein umfassendes Informationsrecht besitzen. Aufgrund des Prinzips der demokratischen Partizipation im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Stellung und Funktion der Opposition sowie der am Minderheitenschutz orientierten Ausgestaltung des Grundgesetzes kann somit auch die Opposition als Minderheit im Bundestag ihr Informationsrecht gegenüber der Bundesregierung geltend machen. Auf unsere Fragestellung bezogen ist im Ergebnis mithin eine Verpflichtung der Bundesregierung zu sehen, Technikfolgenan^lysen durchzuführen und ihre Ergebnisse grundsätzlich auch der Opposition in vollem Umfang zur Verfügung zu stellen.
3. Reformvorschlag: Die Institutionalisierung exekutiver Publizitätspflicht im Gesetzesvorblatt Demzufolge wäre zu diskutieren, ob der festgestellten exekutiven Publizitätspflicht im Rahmen von Gesetzgebungsvorhaben mit technischen Bezügen nicht durch eine Ergänzung der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien ( G G O I , II hier: § 40) nachzukommen wäre, nach welcher die exekutive Bewertung der erkennbaren, gewollten und nichtgewollten, zeitversetzten und synergistischen Folgen ihrer Rechtssetzungsvorhaben jedem Gesetzentwurf in einer Übersicht („Gesetzesvorblatt") voranzustellen ist. Nach jetziger Regelung enthält das Gesetzesvorblatt die (A) Erörterung der Zielsetzung des Gesetzes, (B) Lösungen, (C) Alternativen und (D) die Kosten (Schindler: 1983, S. 971; Ders.: 1986, S. 1010; Schneider: 1982, S. 67f.; näheres § 11 II.). Die Studien und Materialien, auf welchen diese Bewertung fußt, sollte zum notwendigen Bestandteil der Kabinettsvorlagen an die gesetzgebende Körperschaft werden. Das Institut der „Vorblätter" geht zurück auf Maßnahmen zur Parlamentsreform 1969 (Oberreuter: 1981; Thaysen: 1972; BT-Drs. 5/4373). Seinerzeit wies der Bundestagspräsident von Hassel in der Debatte darauf hin, daß diese Paria-
3. Kap.: Der Deutsche Bundestag
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mentsreform den Weg für die Abgeordneten freimachen sollte, um „Zeit für große, für bedeutende, für entscheidende (...) Fragen zu gewinnen" (Stenogr. Protokoll vom 27.3.1969, S. 12349ff.,hierS. 12402 (B)). Die parlamentarischen Verfahrensordnungen sollten dem Umstand angemessen Rechnung tragen, daß die Probleme der Technik wie ihre Chancen und Risiken, Wirkungen und Folgen die entscheidenden Fragen für den Gesetzgeber in der Gegenwart geworden sind. Mit Recht stellte die Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" in ihrem Bericht vom 30. Mai 1989 fest: „Um die von der Regierung angestrebten Maßnahmen parlamentarisch ordnungsgemäß bearbeiten und kontrollieren zu können, ist das Parlament auf umfassende Erkenntnisse - auch über mögliche Handlungsalternativen - angewiesen. Das Parlament darf sich dabei nicht darauf beschränken, gesetzliche Regelungen erst dann zu treffen, wenn unerwartete oder unkorrigierbare Technikfolgen bereits eingetreten sind. Es ist vielmehr verfassungsrechtlich verpflichtet, in grundlegenden normativen Bereichen die wesentlichen Entscheidungen zu treffen. Hierzu gehört auch die Gestaltung der Rahmenbedingungen des technischen Wandels. Diese Aufgabe kann der Bundestag aber bislang nicht ausreichend wahrnehmen. Deshalb bestehen zum Teil auch starke verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die gegenwärtige Situation. Zentrale technologiepolitische Entscheidungen, deren Auswirkungen weit über den Bereich der Technik selbst hinausreichen, werden bislang häufig ohne rechtzeitige Einbeziehung des Parlaments durchgesetzt" (BT-Drs. 11/4606, S. 5). An diese Einsicht haben heute parlamentarische Reformvorhaben anzuknüpfen, vor allem dann, wenn gegen die jetzige externe Lösung parlamentarischer Politikberatung im Bereich der Technikfolgen-Abschätzung (kritisch § 11 V.) erhebliche Bedenken formuliert werden (Graf von Westphalen: 1990) und ein Scheitern dieser Einrichtung aufgrund ihrer gegenwärtigen Konstruktion noch nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, vor allem auch, solange die beratende Einrichtung nicht hinreichend parlamentsspezifisch arbeitet. Das aber hieße zunächst: rechtliche und rechtswissenschaftliche Technikfolgen-Abschätzung zu betreiben (Roßnagel: 1993).
4. Kapitel: Parlament und Gesellschaft § 13 Parlament und Gesellschaftliche Interessen Leo Kißler I. Gesellschaftliche Interessen in der parlamentarischen Demokratie . . . 1. Was heißt „gesellschaftliche" Interessen? Dimensionen des Interessenbegriffs 2. Interessenorganisationen und politische Repräsentation: Die parlamentsbezogene Interessenvermittlung 3. Interessenorganisation und Parlamentsöffentlichkeit: Die parlamentarische Politikvermittlung II. Die Organisation gesellschaftlicher Interessen im Deutschen Bundestag 1. Der Abgeordnete als Interessenvertreter: Die interne Lobby 2. Die Fraktion als parlamentarische Organisationsform von gesellschaftlichen Interessen 3. Das Sozialprofil des Bundestages als Abbild gesellschaftlicher Interessen III. Der Bundestag als Adressat von gesellschaftlichen Interessen 1. Interessenvermittlung durch Pressure-Strategien 2. Interessenvermittlung durch mittelbare Einflußnahme auf den parlamentarischen Prozeß 3. Interessenvermittlung durch informelle Kommunikation 4. Interessenvermittlung als Einflußchance
315 315 319 324 326 326 329 331
. . . .
IV. Das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentsfunktionen und parlamentarischer Interessen- und Politikvermittlung 1. Die Repräsentationsfunktion : Aushöhlung der politischen Repräsentation durch ungleiche soziale Interessenrepräsentation? . . . 2. Die Öffentlichkeitsfunktion : Parlamentsöffentlichkeit versus neue „Arkanhaltung" 3. Strukturelle Entmachtung des Parlaments durch Gouvernementalisierung der Interessenvermittlung?
333 333 335 336 338 339 340 342 345
§ 14 Bürgerbewegungen und Parlament Wolfgang Ullmann I. Grenzen der Repräsentation 1. Außerparlamentarische Artikulation gesellschaftlicher Selbstorganisation
347 347
312
4. Kap. : Parlament und Gesellschaft
2. Grenzen deg Wachstums und Determinismus der Akkumulation . . . . 3. Die Dynamisierung der sozialen Zeitparameter
351 352
II. 1. 2. 3. 4.
354 354 355 359
Bürgerbewegungen: Begriff, Struktur, Praxis Begriff Bewegung als außerparlamentarische Machteroberung Demokratiekrise und Systemopposition Alternative Partei und Bürgerbewegungen als politische Vereinigungen
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III. Wahlrecht und Wahlpraxis 1. Kommunale, territoriale und nationale Wahlteilnahme 2. Wahlrecht und Wahlgesetz 3. Finanzierung und Chancengleichheit
368 368 370 372
IV. Bürgerbewegungen und Parlament 1. Bürgerbewegungen im Rahmen parlamentarischer Geschäftsordnung . 2. Interfraktionelle Arbeitsweise 3. Fraktionen und Basisgruppen 4. Innerparlamentarische und außerparlamentarische Opposition . . . .
373 373 375 376 377
V. 1. 2. 3.
379 379 382
Bürgerbewegungen und Verfassung Verfassungsinitiativen von Bürgerbewegungen Basisdemokratische Partizipationsrechte Bürgerbewegungen als Politisierung gesellschaftlicher Selbstorganisation
385
§ 15 Bundestag, Medien und Öffentlichkeit Jürgen Bellers I. Die Ursprungsidentität von Parlament und Öffentlichkeit
388
II. Die Differenzierung von politischem und medialem System als Ursache von Konflikten zwischen beiden Systemen
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III. Die Differenzierung von politischem System und medialem System-Möglichkeiten der Kooperation 1. Die Ressourcenfunktion 2. Die Innovationsfunktion 3. Die operative Funktion
395 396 397 397
IV. Wie Parlamentarier Journalisten sehen-und umgekehrt
398
V. Die interne Öffentlichkeit des Bundestages: Die „Neuen Medien" und das Parlament
400
VI. Wieviel Öffentlichkeit verträgt das Parlament, wieviel Öffentlichkeit braucht es?
402
4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
313
§ 16 Parlament und Technik Raban Graf von Westphalen I. Politik und Technik 1. Zur Tradition des Technokratiegedankens 2. Der „technische Staat" a) Helmut Schelsky: Demokratie und Technik b) Zur Legitimation des technischen Staates 3. Zwei Varianten der Technokratiediskussion a) Expertokratie b) Normativität technischer Möglichkeiten 4. Vorläufiges Fazit
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II. Staat und Technik 1. Zum Begriff der Technik a) Gesellschaftsformierende Kraft der Technik b) Die Vernachlässigung der „Technik" in der deutschen humanistischen Bildungstradition c) Technik als soziotechnisches Handlungssystem 2. Politisches System und demokratische Techniksteuerung 3. Grundrechtsschutz und technische Entwicklung
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III. Parlament und Technik
425
417 419 420 423
4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
314
§ 13 Parlament und gesellschaftliche Interessen Leo Kißler Einleitung. - 1 . Gesellschaftliche Interessen in der parlamentarischen Demokratie. - II. Die Organisation gesellschaftlicher Interessen im Deutschen Bundestag. - III. Der Bundestag als Adressat von gesellschaftlichen Interessen. - IV. Das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentsfunktionen und parlamentarischer Interessen- und Politikvermittlung Grundlagenliteratur Alemann, Ulrich von (1987): Organisierte Interessen in der Bundesrepublik. Opladen. Herzog, Dietrich / Rebenstorf, Hilke / Werner, Camilla / Weßels, Bernhard (1990): Abgeordnete und Bürger. Opladen. Lange, Hans-Jürgen (1988): Bonn am Draht. Marburg. Müller, Emil-Peter (1988): „Interessen der Sozialpartner im XI. Deutschen Bundestag". In: ZParl, S. 187ff. Sarcinelli, Ulrich (1987b): „Politikvermittlung und demokratische Kommunikationskultur". In: Ders. (Hg.), Politikvermittlung. Stuttgart, S. 19ff. Steinberg, Rudolf (1989): „Parlament und organisierte Interessen". In: Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 217ff. Weber, Joachim (1987): „Politikvermittlung als Interessenvermittlung durch Verbände". In: Sarcinelli, Ulrich (Hg.), Politikvermittlung. Stuttgart, S. 203ff. Weßels, Bernhard (1987): „Kommunikationspotentiale zwischen Bundestag und Gesellschaft: öffentliche Anhörungen, informelle Kontakte und innere Lobby in wirtschafts- und sozialpolitischen Parlamentsausschüssen". In: ZParl, S. 285ff. siehe auch Hilfsmittel Teil B, IV. Das Verhältnis von Parlament und gesellschaftlichen Interessen ist für die parlamentarische Demokratie konstitutiv, zugleich aber prekär. Dies soll am Beispiel des Deutschen Bundestages gezeigt werden. Hierfür gilt es zunächst, die verbreitete Vorstellung zu verabschieden, zwischen gesellschaftlichen Interessen und Parlament gehe der Austausch nur in eine Richtung. „Lobbyismus", „Verbandsfärbung" des Parlaments und „Einfluß" mächtiger Interessenorganisationen auf die parlamentarische Arbeit markieren nur die eine Seite der Medaille: In der parlamentarischen Demokratie verkörpert das Parlament die zentrale Organisationsform und Vermittlungsinstanz von gesellschaftlichen Interessen im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß. Diese Transformationsaufgabe kommt in der politischen Repräsentationsfunktion zum Ausdruck. Sie dient der Interessen Vermittlung aus der Gesellschaft in das politische System. Aber der Vermittlungsprozeß geht auch in die andere Richtung. Vom Parlament zu den gesellschaftlichen Interessen. Es handelt sich um parlamentarisch organisierte Politikvermittlung in die Gesellschaft. Diese Vermittlungsaufgabe erfüllt das Parlament im Rahmen seiner Öffentlichkeitsfunktion.
4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
315
Wer die normativen Grundlagen und empirischen Befunde des Verhältnisses zwischen Parlament und gesellschaftlichen Interessen untersucht muß deshalb genauer fragen: Was heißen parlamentarische Öffentlichkeit und politische Repräsentation heute, und inwieweit taugen sie zur Organisation und Vermittlung gesellschaftlicher Interessen? Für wirklichkeitsnahe Antworten auf diese Ausgangsfrage birgt die Assoziation der Themenstellung mit „Verbandseinfluß" eine weitere Klippe. Der eingeschränkte Blick auf das Einflußpotential der Verbände unterstellt, gesellschaftliche Interessen seien identisch mit den organisierten Interessen und diese wiederum mit der parlamentarischen Mitwirkung von Interessenorganisationen. Bekanntlich gibt es jedoch Interessen in der Gesellschaft, die nicht oder nur schwach organisiert sind und eine Masse von Interessenorganisationen, die nicht in der „Lobbyliste" des Parlaments auftauchen. Gleichwohl aber sind sie von Bedeutung für den stillen Wert des Parlaments als Einrichtung der Interessen- und Politikvermittlung. Deshalb wird eingangs zu fragen sein: Was heißt überhaupt „gesellschaftliche Interessen" und wie definiert sich ihr Verhältnis zum Parlament? (I.). Von der Vermittlung ist die Organisation gesellschaftlicher Interessen zu unterscheiden. Die Darstellung des empirischen Befundes am Beispiel des Deutschen Bundestages orientiert sich deshalb an zwei weiteren Fragestellungen: Wie organisiert der Bundestag gesellschaftliche Interessen? (II.), und wie vermittelt er diese in die Politik? (III.). Die Interessenvermittlung durch das Parlament kann aus der Bedeutung des Bundestages als Organisationsform und als Adressat von gesellschaftlichen Interessen durch intermediäre Einrichtungen (z. B. Verbände) erschlossen werden. Wie werden die normativ zugeschriebenen Parlamentsfunktionen der Politikund Interessenvermittlung auf der Grundlage von politischer Repräsentation und Parlamentsöffentlichkeit in der Praxis des Deutschen Bundestages eingelöst? Empirisch begründete Antworten können die zunehmend technisch- organisatorische Umgestaltung dieser Funktionen im Zuge der Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechniken (IuK-Techniken) nicht außen vorlassen. Eröffnen die neuen Techniken neue Möglichkeiten parlamentarischer Interessenorganisation und -Vermittlung oder führen sie eher an die Leistungsgrenzen des Parlaments auf diesem Gebiet? (IV.) Wie unsere Ausgangsfragen zeigen, handelt es sich beim Verhältnis zwischen Parlament und gesellschaftlichen Interessen um ein weites Feld, das Orientierungsprobleme schafft. Diese werden im Rahmen des folgenden Beitrags nicht zu lösen sein. Es geht deshalb nicht um fertige Antworten, sondern um eine erste Annäherung an das Thema.
I. Gesellschaftliche Interessen in der parlamentarischen Demokratie 1. Was heißt „gesellschaftliche" Interessen? Dimensionen des Interessenbegriffs „Interesse" gehört zu jenen Begriffen, für die gilt, was schon Augustinus über die „Zeit" gesagt hat: Wir wissen so lange, was damit gemeint ist, bis man uns danach fragt. Dabei handelt es sich zweifellos um einen sozialwissenschaftlichen Kernbe-
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4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
griff. An der Frage, wie Interessen in der Gesellschaft entstehen und auf diese einwirken, entzünden sich jene Ansätze der soziologischen Gesellschaftsanalyse, die in der Entstehung und Austragung von Interessenkonflikten den Motor für die Gesellschaftsentwicklung sehen. Für die Politikwissenschaft als "eine Wissenschaft vom Interesse" geht es zentral um das Problem des Interessenwettbewerbs und der Interessendurchsetzung im politischen Bereich. Dabei meint Interesse zunächst einmal dabeisein, Teilnahme an etwas, aber auch - wie im englischen Wort interest noch enthalten - Vorteil und Gewinn. Dieser doppelte Wortsinn eröffnet einen ersten Zugang zum Begriff: Interesse ist handlungsorientiert („Teilnahme") und zielbestimmt („Vorteil"). Handlungsoricnticrung und Zielbestimmung von Interessen können resultieren aus dem Bestreben nach individueller Bedürfnisbefriedigung, aus materiellen Mangellagen und Knappheitssituationen sowie aus den subjektiven Empfindungen von Mangel und Knappheit und den Rechtfertigungen für die Durchsetzung von Bedürfnissen. Der Interessenbegriff umfaßt demnach eine individuelle, eine materielle und eine ideelle Dimension (von Alemann: 1987, S. 26ff.). Individuelle Bedürfnisbefriedigung, materielle Nutzenmehrung und ideelle Rechtfertigung benennen nicht nur Entstehungsgründe für die Herausbildung von Interessen (-zielen). Sie verweisen auch auf die Handlungsorientierung von Interesse, wie sie in der soziologischen Begriffsdefinition zum Ausdruck kommt: Danach meint Interesse „die für bestimmte Personen, Gruppen, Klassen oder ganze Gesellschaften einer historisch-spezifischen Entwicklungsstufe gemeinsame, ihnen bewußte oder unbewußte Gesamtheit der materiellen und (materiell oder ideell begründeten) institutionellen Möglichkeiten, ihre individuellen und sozialen Lebensformen zu erhalten oder zu erweitern" (Hartfiel: 1972, S. 308). Mit dieser Begriffsbeschreibung ist zweierlei gesagt: zum einen, daß „gesellschaftliche" Interessen immer die Interessen einer bestimmten Gesellschaft darstellen. Gesellschaftliche Interessen sind sozial verortet. Zum andern handelt es sich um „institutionelle Möglichkeiten", das heißt, Interessen sind institutionell verfestigt und zum großen Teil organisiert. Unter organisierten Interessen verstehen wir „freiwillig gebildete soziale Einheiten mit bestimmten Zielen und arbeitsteiliger Gliederung (Organisationen), die individuelle, materielle und ideelle Interessen ihrer Mitglieder im Sinne von Bedürfnissen, Nutzen und Rechtfertigungen zu verwirklichen suchen" (von Alemann: 1987, S. 30). Solche in der Regel mit einer Leitungsinstanz ausgestatteten Interessenorganisationen haben ihren gesellschaftlichen Ort und ein politisches Handlungsfeld. Die gesellschaftliche Verortung von organisierten Interessen führt auf das unwegsame Gelände einer „organisierten" Gesellschaft. Die Deutschen, so heißt es, seien „Vereinsmeier". Auf etwa 1000 Einwohner der ehemaligen Bundesrepublik kommen etwa 3 bis 4 Vereinigungen, was eine Gesamtzahl von mindestens 200000 ergibt. Der nicht organisierte Bundesbürger gehört zu einer kleinen Minderheit, wobei die Mitgliedschaft vor allem in freiwilligen Vereinigungen (z.B. Sportvereinen) von hoher Attraktivität ist. Was aber unterscheidet die Mitgliedschaft in einem Sportverein, einem Kleintierzüchterverband von der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, politischen Partei oder religiösen Gemeinschaft? Für die Vermessung des Geländes zwischen unterschiedlichen Interessenorganisationen bieten Genese, innere Struktur und Funktion der jeweiligen Organisation Orientierungsmarken.
4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
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Antworten auf die Fragen, wie Interessenorganisationen entstehen, wie die innerverbandliche Willensbildung vonstatten geht, welche Organisationsziele mit welchen Mitteln verfolgt werden, sind jedoch von begrenztem Aussagewert. Sie geben Auskunft über die politische Relevanz der jeweiligen Interessenorganisation, weniger jedoch über ihren sozialen Ort. Dieser wird in der Klassengesellschaft markiert von Interessenlagen, die sich entlang der gesellschaftlichen Klassenstruktur entwickeln, in der Schichtgesellschaft verläuft die Interessenbildung schichtspezifisch. Die Gegenwartsgesellschaft der Bundesrepublik zeichnet sich allerdings dadurch aus, daß sich ihre interessenbildende Sozialstruktur nicht mehr auf einen Begriff bringen läßt. Etikettierungen, wie z.B. Industriegesellschaft, Freizeitgesellschaft, Wohlstandsgesellschaft oder auch Informationsgesellschaft beziehen sich immer nur auf ein kennzeichnendes Merkmal für gesellschaftliche Konfliktlinien, die in Interessenbildung münden können. So generierte der für die Klassengesellschaft kennzeichnende Konflikt zwischen Kapital und Arbeit spezifische Interessenorganisationen der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften. Eine für die Industriegesellschaft typische Konfliktlinie verläuft zwischen industrieller Produktionsweise und Ökologie, in der Wohlstandsgesellschaft zwischen arm und reich. Die soziale Verortung von organisierten Interessen in einem Konfliktmodell 1 (von Alemann: 1987, S. 72ff.) wird jedoch zunehmend problematischer. Ein solches Modell steckt zwar Konflikt- und damit Handlungsfelder für Interessenorganisationen ab, die über die Konfliktstruktur der Klassengesellschaft hinausweisen. Mit anderen Worten: Es wird der Tatsache gerecht, daß die traditionelle Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit überlagert wird durch soziale Disparitäten (wie z.B. im Bereich von Wohnung, Verkehr etc.), die quer liegen zu Klassenstrukturen und die durchaus geeignet sind, Interessen zu generieren. Allerdings bleibt die Rückführung gesellschaftlicher Interessen auf sozialstrukturelle Konfliktlagen (Cleavages) den herrschenden industriegesellschaftlichen Vergesellschaftungsmodi sozialer Klassen- und Schichtbildung verhaftet. Es verortet die organisierten Interessen auf den Konfliktfeldern der tradierten Industriegesellschaft. Damit wird zwar erklärt, warum es Gewerkschaften, politische Parteien und Automobilclubs gibt. Die Erklärungskraft eines solchen Modells für die Interessenorganisationen jenseits industriegesellschaftlicher Konfliktlinien, wie z.B. Bürgerinitiativen, „freiwilliger Assoziationen" (Habermas: 1989, S. 470) ist jedoch schwach. Die Auslotung gesellschaftlicher Interessen bedarf deshalb eines Koordinatensystems, das den Weg durch die neue Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen (Konflikt-)Verhältnisse weist. Dabei sind es vor allem zwei Entwicklungstrends, die eine sozialstrukturelle Begründung von organisierten Interessen erschweren: • das A u f k o m m e n neuer Formen der Vergesellschaftung (grundlegend Berger/ Hradil: 1990) und • die Integration der DDR-Gesellschaft in die alte Bundesrepublik.
1
Vgl. z.B. das von Himmelmann: 1983 vorgestellte Konfliktmodell, das 6 Konfliklinien unterscheidet: Kapital versus Arbeit, Bürger versus Statt, Staat versus Privatwirtschaft, Konsumenten versus Produzenten, Individuum versus Öffentlichkeit und Industriesystem versus Umwelt.
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4. Kap. : Parlament und Gesellschaft
Die bundesrepublikanische Gesellschaft zeichnet sich durch zunehmende Differenzierung aus. Ausbau des Sozialstaats, soziale und geographische Mobilität, Bildungsexpansion, zunehmende Frauenerwerbstätigkeit lassen auseinandertriften, was in der Industriegesellschaft zusammengehörte: Produktionsweise und Vergesellschaftungsformen. „Die Industriegesellschaft, verstanden als ein lebensweltliches Modell, bei dem Geschlechtsrollen, Kleinfamilien, Klassen ineinander verschachtelt sind, verabschiedet sich bei laufendem, ja mehr noch: durch den laufenden Motor der Industriedynamik. Die gleiche Produktionsweise, das gleiche politische System, die gleiche Modernisierungsdynamik erzeugen ein anderes lebensweltliches Gesicht der Gesellschaft: andere Netzwerke, Beziehungskreise, Konfliktlinien, politische Bündnisformen der Individuen" (Beck: 1990, S. 92). Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Ausdifferenzierung pluraler Lebensstile und neuer sozialer Milieus als Vergesellschaftungsformen. Die soziologische Lebensweltforschung unterscheidet acht soziale Milieus: ein stabiles technokratisch-liberales (8% der Bevölkerung), ein stabiles konservativ-gehobenes (7,9%), ein abnehmendes alternativ-linkes (2,6%), ein zunehmendes hedonistisches (12,2%), ein zunehmendes aufstiegsorientiertes (25,4%), ein abnehmendes kleinbürgerliches (24,4%) Milieu sowie das abnehmende traditionelle (6,7%) und das zunehmende traditionslose (12%) Arbeitermilieu (Clemens: 1990, S. 22ff.). Auch wenn die sozialstrukturelle Rückbindung solcher auf der Grundlage von sozio-kulturellen Standards abgegrenzten sozialen Milieus noch aussteht, so lassen sich doch erkennbare Gemeinsamkeiten von neuen sozialen Milieus ausmachen, die interessenbildend sind: eine „emanzipatorische" Integrationsideologie, die personelle Rekrutierung aus Beschäftigten in „modernen" Sektoren (neue Berufe 2 , Humandienste, High-Tech-Arbeit) und die Vernetzung mit Alltagsformen der Vergemeinschaftung (z.B. Lebensstilgruppen). Dieser Trend zur Industrieproduktion ohne Industriegesellschaft wird nunmehr überlagert und (möglicherweise) konterkariert durch die Angliederung einer in ihren sozialstrukturellen Verhältnissen nicht weniger unübersichtlichen Gesellschaft, für die uns die Begriffe fehlen. Ob als „vormodern", als „Ständegesellschaft" oder „roher Kommunismus" bezeichnet, sämtliche Etikettierungen bleiben vorläufig. Der Diskurs um die sozialstrukturellen Grundlagen der in die alte bundesdeutsche Gesellschaft zu integrierenden DDR-Gesellschaft beginnt gerade erst. Bei aller Verschiedenheit der sozialstrukturellen Verhältnisse - eines haben beide Gesellschaften gemeinsam: die industrielle Produktionsweise. Deshalb werden Konfliktlinien, die sich an diesem Strukturmerkmal ausrichten, ihre interessenpolitische Bedeutung behalten und eher vergrößern. Daraus folgt: organisierte Interessen auf den Konfliktfeldern „Kapital versus Arbeit" und „Industriegesellschaft versus Umwelt" werden eher einen politischen Bedeutungszuwachs erfahren . Worin aber liegt die politische Relevanz von Interessenorganisationen? Die soziale Verortung von gesellschaftlichen Interessen ist ein wichtiger, keineswegs aber hinreichender Ausweis für deren politische Bedeutung. Sportvereine, Automobilclubs, religiöse und kulturelle Vereinigungen haben „Politik" zwar nicht auf ihre Fahnen geschrieben. Sie sind deswegen aber noch lange nicht unpo2
Gemeint sind damit Tätigkeiten, die im weiteren Sinne mit Kommunikation, Information, Gesundheit, Bildung zu tun haben und die den Erwerb von „kulturellem Kapital" (Bourdieu) voraussetzen.
4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
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Ii tisch. Ihre politische Bedeutung liegt allerdings weniger in der Aggregierung und Transformation gesellschaftlicher Interessen in politische Willensbildungsund Entscheidungsprozesse (Interessenvermittlung) als vielmehr in der Vermittlung von politischen Normen und gesellschaftlichen Werten gegenüber den Mitgliedern (Politikvermittlung). Sie vermitteln „Politik" in ihrer Eigenschaft als Sozialisationsagenturen. Davon zu unterscheiden sind Interessenorganisationen, deren Zielsetzung in der Aggregierung und Vermittlung von gesellschaftlichen Interessen in die Politik besteht. Ihr Handlungsfeld liegt im intermediären Bereich, zwischen Bürgern (Gesellschaft) und staatlichen Institutionen (politischem System). Zu den wichtigsten intermediären Interessenorganisationen im bundesdeutschen System zählen die politischen Parteien, Verbände, Bürgerinitiativen und Massenmedien. Und schließlich sind gesellschaftliche Interessen auch organisiert in den staatlichen Institutionen selbst. Die zentrale staatliche Einrichtung der Interessenorganisation auf der Grundlage von politischer Repräsentation und organisierter Öffentlichkeit ist das Parlament. Das Verhältnis von intermediären Interessenorganisationen und parlamentarisch organisierten Interessen ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. 2. Interessenorganisationen und politische Repräsentation: Die parlamentsbezogene Interessenvermittlung Eingangs wurde die Transformationsaufgabe des Parlaments als Vermittlungsprozeß dargestellt: Das Parlament vermittelt kraft seiner Repräsentationsfunktion gesellschaftliche Interessen in die Politik und umgekehrt - es vermittelt kraft seiner Öffentlichkeitsfunktion Politik in die Gesellschaft hinein. Dieses parlamentarisch vermittelte Verhältnis zwischen Gesellschaft (Bürgern) und politischem System ist für den Parlamentarismus konstitutiv. Es gründet historisch im politischen Räsonnement eines wirtschaftlich erstarkten Bürgertums privater Warenproduzenten, das im Parlament seinen organisatorischen Ausdruck fand. Mit dem Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit und mit der Entwicklung von der parlamentarisch-repräsentativen zur parteienstaatlichen Demokratie ist dieser politische Kommunikationszusammenhang zerrissen. An seine Stelle hat sich ein intermediärer Bereich zwischen Gesellschaft und politisches System geschoben, der von Organisationen besetzt wird, die die Vermittlungsaufgabe von Politik und gesellschaftlichen Interessen nunmehr mit dem Parlament teilen: Parteien, Verbände und Bürgerinitiativen (auch § 4 III.). Eine besondere Bedeutung kommt im intermediären Bereich den Massenmedien zu; denn die Vermittlungsleistung von Parlament und Interessenorganisationen gründet im Informationsaustausch zwischen diesen Einrichtungen und den Bürgern, mit anderen Worten: Sie ist das Ergebnis politischer Kommunikation. Weil diese weitgehend medienvermittelt ist, kann die Aufgabenerfüllung von Parlament und Interessenorganisationen nur mehr als Ergebnis der massenmedialen Vermittlungsleistung zwischen Bürgern und politischem System begriffen werden (näheres § 15). In diesem Vermittlungsprozeß übernimmt das Parlament seine politische Kommunikationsaufgabe zum einen als Adressat von interessenspezifischer Informa-
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4. Kap.: Parlament und Gesellschaft
tion, die ihm aus der Gesellschaft durch die intermediären Organisationen zugeht, und zum anderen als Sender von parlamentarischer Information, die das Parlament, vermittelt durch die Interessenorganisationen, an den Bürger adressiert. Im ersten Fall handelt das Parlament im Rahmen seiner Repräsentationsfunktion und im zweiten Fall als Öffentlichkeitsorgan. Bei der parlamentarischen Interessenvermittlung durch politische Repräsentation sind die intermediären Organisationen vor allem als „Transmissionsriemen" zwischen Gesellschaft und politischem System gefordert. Ihre Vermittlungsleistung kann anhand dreier Fragen beurteilt werden: (1) Wie ist der Informationsaustausch zwischen Interessenorganisation und Bürger (als Träger gesellschaftlicher Interessen) beschaffen? (2) Wie wird innerorganisatorisch Information verarbeitet und: (3) Wie sieht das Kommunikationsverhältnis zwischen Interessenorganisation und Parlament aus? Auf diesen drei Kommunikationsfeldern entscheidet sich die Vermittlungsleistung intermediärer Organisationen bei der Transformation von interessenbezogener Information in parlamentarische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Auf allen Kommunikationsfeldern weisen die Interessenorganisationen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf, die ihrer rechtlichen Fundierung und Aufgabenzuschreibung geschuldet sind. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit", heißt es in Art. 21 Abs. 1 GG (problematisiert in § 41.). Damit ist für die Vermittlungsaufgabe der politischen Parteien zweierlei gesagt: Zum einen haben sie als Medien im Kommunikationsprozeß zwischen Bürgern und politischem System an die Stelle des öffentlichen Räsonnements zu treten, das im klassisch-liberalen Repräsentationsmodell diesen Kommunikationszusammenhang stiftete. Zum anderen begrenzt die Verfassungsvorschrift den Vermittlungsauftrag an die Parteien auf eine Mitwirkungspflicht, woraus folgt, daß sie diese Aufgabe mit anderen Einrichtungen zu teilen haben. Zu diesen zählen vor allem die großen Interessenverbände. Darunter werden im folgenden Großorganisationen verstanden, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern (oben I.) gesellschaftliche Interessen aggregieren und in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse einbringen. Nicht gemeint sind damit ad-hoc-Verbände, die mit einer einzigen Forderung gegründet werden und sich nach deren erfolgreicher oder nicht erfolgter Durchsetzung wieder auflösen. Ebenso wenig erfaßt werden die nicht an politischer Einflußnahme und Kommunikation orientierten Interessenorganisationen. Den Verbänden kommt im Unterschied zu den politischen Parteien kein öffentlicher Status zu. Sie ziehen ihre formelle Legitimität „aus der Inanspruchnahme der im Grundgesetz verankerten Freiheitsrechte, wie z.B. der Vereinigungs-, Meinungs- und Koalitionsfreiheit, nicht zuletzt jedoch aus der unangefochtenen Geltung des durch allgemeinen Konsens hinreichend tolerierten Prinzips: dem der verbandspluralistischen Gesellschaft selber" (Massing: 21970, S. 343). Entscheidend für die politische Vermittlungspraxis der Parteien ist die Diskussion mit den Mitgliedern. Deren parteiförmig aggregierte Interessen sind klassen- und schichtenspezifisch determiniert, mit milieuabhängiger Affinität zur jeweiligen Partei (für die einzelnen Parteien von Alemann: 1990, S. 95ff.). Die Tatsache, daß die großen Parteien beanspruchen, sogenannte Volks- und Mitgliederparteien zu sein, spricht für ihre vielfältige, das heterogene gesellschaftliche
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Interessenspektrum umfassende Informationsaufnahme aus der Gesellschaft. Hinzu kommt das Aufkommen neuer Parteien, wie z.B. die GRÜNEN/BÜNDNIS 90. Es erweitert das kommunikative Adressatenfeld des Parteiensystems auf die neuen sozialen Bewegungen und Bürgervereinigungen und verstärkt die Antennen der politischen Parteien, auch der alten, für zuvor nicht oder nur schwach empfangene Botschaften aus parteiferneren gesellschaftlichen Interessenbereichen. Gleichwohl handelt es sich bei den interessenbezogenen Informationen, die den Parteien aus unterschiedlichen sozialen Schichten und soziokulturellen Milieus zugehen, häufig nur um das Echo auf von ihnen vorformulierte Themen. Diese werden dann mit dem Gestus, „das Ohr am Volk" zu haben wieder aufgegriffen. Starke Indizien sprechen allerdings dafür, daß die eigentliche Definitionsmacht über interessenbezogene Themen politischer Kommunikation in der „Zuschauer-und Fernsehdemokratie" weniger bei den politischen Parteien, als vielmehr auf Seiten der Massenmedien liegt. Zwar üben die Parteien (und Verbände) über die Besetzung der Kontrollgremien Einfluß auf die öffentlich-rechtlichen Medien aus. Aber auch hier verlieren sie an Boden mit der Einführung des Privatfernsehens. Hinzu kommt der Verlust parteieigener Medien im Pressebereich bei gleichzeitig zunehmender Abhängigkeit von der massenmedialen Meinungsbildung im immer schwierigeren Wettbewerb um die Stimmen beweglicher Wechselwähler. Ebensowenig wie die politischen Parteien sind die großen Interessenverbände „Sprachrohre" eines gesellschaftlichen Publikums von Interessenträgern. Für die Verbände kommt ein weiterer Gesichtspunkt hinzu: Ihre Informationsaufnahme aus der Gesellschaft ist in hohem Maße selektiv. Bestimmte gesellschaftliche Interessen sind nicht oder nur schwach organisiert, andere gar nicht organisierbar. Gesellschaftliche Interessen sind nur dann verbandsförmig organisiert, wenn sie organisations- und konfliktfähig sind (Offe: 21970, S. 167ff.). Nicht organisierbar sind insbesondere solche Interessen, die der Gesamtheit der Individuen und nicht eindeutig abgrenzbaren gesellschaftlichen Status- und Funktionsgruppen zuzurechnen sind. Mangels Konfliktfähigkeit nicht oder schwach organisiert sind die Interessen gesellschaftlicher Randgruppen, wie z.B. von ethnischen Minderheiten, Geisteskranken etc. Die Interessenrepräsentation durch Verbände ist demnach ungleich und in hohem Maße selektiv. Die seiegierende Informationsaufnahme aus der Gesellschaft führt zu einem sozialen Schließungsprozeß, der die Konturen einer Zweidrittel-Gesellschaft abbildet. Für die Interessenvermittlung des Restdrittels fallen die Verbände nahezu aus. Trendverstärkend wirkt die Tatsache, daß trotz „Verbandspluralität" die Spitzenverbände in den industriellen Beziehungen (Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) ein nahezu faktisches Monopol der organisierten Einflußnahme auf staatliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in der Wirtschaftsund Sozialpolitik ausüben. Die Defizite der Interessenrepräsentation von Parteien und Verbänden sind Bedingung und Folge zugleich von Ungleichheitslagen in der innerorganisatorischen Informationsverarbeitung. Mit den politischen Mitwirkungsmöglichkeiten der großen Interessenorganisationen nach außen hin korrespondieren keine entsprechenden Einflußchancen der Mitglieder im Innern. Wie bei den politischen Parteien waltet auch verbandsintern das „eherne Gesetz der Oligarchie". Ge-
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meinsam ist beiden Interessenorganisationen die schichtenspezifische Interessenselektion und deren Verfestigung durch organisationsinterne Oligarchisierung der Informationsverarbeitung. An dieser Filterwirkung ändert auch die Erhöhung des Frauenanteils an Führungspositionen nichts (zur aktuellen Situation Ballhausen/Brandes/Karrer/ Schreiber: 1986); denn die „Verweiblichung" der Oligarchie setzt das Gesetz der Oligarchisierung nicht außer Kraft. Wie in den Parteien so ist auch in den Verbänden der Zugang zur innerorganisatorischen Informationsverarbeitung schichtenspezifisch verteilt. Organisationsmitglieder mit höherem Sozialstatus besetzen häufiger Führungspositionen. Die Kommunikation zwischen Organisationsspitze und einfachen Mitgliedern beschränkt sich auf unbeantwortbare Information. „Innerparteiliche Demokratie reduziert sich auf formaldemokratische Prozeduren. Dröge Verlautbarungen statt fruchtbarer Kontroverse, lokalbornierter Klüngel statt Mut zur Öffnung, Entsorgung politischer Themen statt politische Streitkultur lähmen das Parteileben und führen zu ,toter Hose', statt,lebendigem Ortsverein'" (Rudolph: 1990, S. 6). Was hier von einem Mitglied eines SPD-Bezirksvorstands kritisiert wird, gilt sicherlich nicht nur für seine Partei. Auch die Verbändeforschung weist nach, wie demokratisch gebotene und für die innerverbandliche Interessenberücksichtigung erforderliche Kommunikation zum Instrument demonstrativ oder manipulativ entfalteter Publizität gegenüber den Organisationsmitgliedern degeneriert (für den Deutschen Bauernverband Ackermann: 1970, S. 38f). An die Stelle der Kommunikation mit den Bürgern und den Organisationsmitgliedern tritt der Informationsaustausch zwischen den Interessenorganisationen. Dieser ist unterfüttert durch • symbiotische Formen der Verankerung in sozio-politischen Milieus, aus denen sich „Vorfeldorganisationen" (wie z.B. die Gewerkschaften) der politischen Parteien (z.B. für die SPD) rekrutieren (von Alemann: 1990. S. 107ff.) und • ein enges Netz der Zusammenarbeit zwischen Parteien, Verbänden und Exekutivspitzen einschließlich der Parlamente bis hin zu korporatistischen Arrangements zwischen Großorganisationen und staatlichen Institutionen, wie sie kennzeichnend sind für das bundesdeutsche System der Interessenvermittlung. Diese Faktoren prägen auch das Verhältnis zwischen Interessenorganisationen und Parlament. Die über die Köpfe von Partei- und Verbandsbürgern kurzgeschlossene Kommunikation mit dem Parlament ist publizitätsfeindlich und fördert jene oft beklagte Kumpanei zwischen innerverbandlichen und staatlichen Oligarchien. Diese stützt sich auf Bürokratisierungsgesetzlichkeiten, wie sie auf beiden Seiten herrschen, und einen dadurch bedingten ähnlichen Arbeitsstil. Hinzu kommt die Rekrutierung von verbandlichen und staatlichen Führungsgruppen aus denselben sozialen Schichten (für das Parlament weiter unten III.). Zwischen den Oligarchien bilden sich informelle Loyalitätsmuster und ein technokratisch getönter „esprit de corps" heraus - der Stoff, aus dem eine „moderne" Arkanhaltung entsteht. Mit dem Vordringen korporatistischer Strukturen auf immer weitere politische Handlungsfelder versteinern die Strukturen der politischen Kommunikation „zu einem geschlossenen Elitekartell" (von Alemann: 1987, S. 177). Im gleichen Maß wie hierdurch die Relevanz von Parlament, Parteien, Verbänden als kommunikationsstiftenden Einrichtungen abnimmt, kommt es nicht nur zu Attraktivitäts-
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einbüßen, sondern in der Regel auch zu Mitgliederverlusten. Diese drücken sich bei Großorganisationen vor allem in „Organisationslücken" im Bereich der Jugendlichen aus. So verloren z.B. die DGB-Gewerkschaften in einem Jahrzehnt (1974-1984) ein Zehntel ihrer jugendlichen Mitglieder. Abnehmende Attraktivität kommt aber auch in „Parteienverdrossenheit" und in einem Parlamentsverständnis zum Ausdruck, das eine breite diffuse Zustimmungshaltung gegenüber dem Parlament signalisiert - anstelle seiner positiv kritischen Akzeptanz (empirischer Nachweis bei Schüttemeyer: 1986, S. 238ff). Das Verhältnis von Parteien und Verbänden zum Parlament weist aber auch gravierende organisationsspezifische Unterschiede auf. So sind die Parteien durch ihre Fraktionen direkt im Parlament vertreten. Die Verbände dagegen müssen sich politischen Einfluß über ihre innere Lobby (dazu II.) und durch PressureStrategien (dazu III.) sichern. Die Vermittlungsdefizite von Parteien und Verbänden öffnen aber auch neue Räume für politische Kommunikation, die an den Interessenorganisationen vorbei geführt wird und neue Formen politischer Öffentlichkeit hervorbringt. Deren Träger sind Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen. Beide sind nicht identisch, stehen aber politisch-historisch in einem engen Bezug (grundlegend Raschke: 1985). Soziale Bewegungen bilden den Humus, aus dem Interessenorganisationen und Bürgerinitiativen wachsen, so die politischen Parteien der Linken aus der alten Arbeiterbewegung, die GRÜNEN vor allem aus der Umweltbewegung. Die neuen sozialen Bewegungen verkörpern die in gesellschaftlichen Konfliktfeldern verankerten Standbeine, die Bürgerinitiativen dagegen die Spielbeine eines umfassenden Politisierungsprozesses, der sich durch zwei Aspekte auszeichnet: „Einmal die Entwicklung veränderter Ansprüche und Formen politischer Partizipation (...), zum anderen die Veränderungen in der Alltagskultur und Lebenspraxis" (Clemens: 1990, S. 23). Bürgerinitiativen erfüllen im Verhältnis zu Parteien und Verbänden kompensatorische und regenerative Aufgaben (Armbruster: 1979, S. 83f). Im Interessenvermittlungsprozeß teilen sie mit den Interessenorganisationen ein typisches Merkmal: Bürgerinitiativen sind Initiativen von Bürgern für Bürger(-interessen). Innerorganisatorisch waltet, wie bei Parteien und Verbänden, die „Herrschaft des Mittelstandes (vertiefend § 141.). Die Vermittlungsleistung von Bürgerinitiativen zwischen gesellschaftlichen Interessen und politischem System hängt jedoch maßgeblich vom Organisationstyp ab. Die lose organisierte Bürgerinitiative mit funktional differenzierter Aufgabenverteilung, relativ offener Führungsstruktur und einem ausgeprägten informellen Kommunikationsgeflecht ist auf dauernde Rückkopplung mit der gesellschaftlichen Umwelt angewiesen. Demgegenüber nimmt die formal institutionalisierte, vom Organisationstyp her einem Interessenverband gleichende Bürgerinitiative eher den Charakter eines sozialen (Aus-)Schließungsinstruments an, wenn es um die Interessenberücksichtigung von sozialen Unterschichtangehörigen geht (weiterführend § 14 II.). Demnach organisieren Parteien, Verbände und Bürgerinitiativen überwiegend Mittelschichtenkommunikation. In der herrschenden Mittelschichtgesellschaft mit wachsenden Anteilen von neuen Armen, Randständigen und Ausgegrenzten organisieren diese Einrichtungen die politische Kommunikation zwischen Bürgern und Parlament an starken gesellschaftlichen Minderheiten vorbei. Inwieweit Bürgerinitiativen und neue Bewegungsparteien auch für diese Gruppen In-
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teressen vermitteln können, bleibt offen. Milieuverhaftung und Rückbindung an Alltagskulturen allein reichen nicht hin, um politische Kommunikation nicht mehr nur für, sondern mit und durch die Ausgegrenzten zu führen. Das Problem liegt im notwendigerweise mediatisierenden Charakter von organisierter Kommunikation und damit von Interessenvermittlung durch Organisationen. Mit der Organisation kommt die schichtenspezifische innerorganisatorische Herrschaftsstruktur. Die Interessenselektion setzt sich fort in der innerorganisatorischen Filterung von organisierten Interessen. Hierin unterscheiden sich stark formalisierte Bürgerinitiativen kaum von traditionellen gesellschaftlichen Interessenorganisationen. Im Unterschied zu diesen verfügen Bürgerinitiativen allerdings über ein ausgeprägteres Sensorium für interessenspezifische Themen der Alltagspraxis unterhalb der Oberfläche neuer sozialer Bewegungen. Damit erweitern sie das Interessenspektrum im organisierten Vermittlungsprozeß zwischen Bürgern und Parlament. Hierbei kommt ein weiterer Unterschied zum Tragen. Bürgerinitiativen sind, im Vergleich zu Parteien und Verbänden, temporär begrenzt und haben zumeist ein staatliches „Gegenüber" im kommunalen oder regionalen Umfeld. Ihre Ansprechpartner sind Kommunal- und Landesparlamente. Gegenüber dem Bundestag artikulieren Bürgerinitiativen Bürgerinteressen häufig in Form von Petitionen, kaum jedoch durch die Kanäle des parlamentsinternen Lobbyismus oder durch Pressure-Strategien. Mehr als die anderen Interessenorganisationen sind Bürgerinitiativen für ihre Vermittlungsleistung auf politische Bewegungsöffentlichkeit und deren Kommunikationsmedien angewiesen: Kundgebungen, Flugblätter, Anzeigenkampagnen etc. Sie konterkarieren und kompensieren damit die Publizitätsfeindlichkeit der Verbands- und parteiförmigen Interessenvermittlung. Mit ihrer Öffentlichkeitsorientierung tragen Bürgerinitiativen zur Politikvermittlung bei (i.e. § 14IV.). Welchen Beitrag leisten Parlament, Verbände und Parteien?
3. Interessenorganisationen und Parlamentsöffentlichkeit: Die parlamentarische Politikvermittlung Ob die interessengeladene Informationsaufnahme aus der Gesellschaft durch intermediäre Einrichtungen gelingt, und inwieweit organisierte Interessen kommunikativ in parlamentarische Politikbearbeitung vermittelt werden, hängt entscheidend von der politischen Kommunikationsleistung des Parlaments ab. Das Parlament stiftet Kommunikation mit einem gesellschaftlichen Publikum von Bürgern auf der Grundlage seiner Öffentlichkeitsfunktion (Kißler: 1976). Diese umfaßt die Publizität der parlamentarischen Politikbearbeitung und die Teilnahme eines gesellschaftlichen Publikums. Die rechtsstaatlich gebotene und demokratisch erforderliche Parlamentsöffentlichkeit ist die Kehrseite der politischen Repräsentation von gesellschaftlichen Interessen durch die Parlamentarier. „Öffentlichkeit ist das Medium, in dem der Vertreter für jedermann erkennbar verantwortlich handelt" (Meyer, H.: 1989, S. 122). Parlamentarische Öffentlichkeit dient dadurch der Vermittlung von Politik gegenüber den Bürgern. Damit ist ein komplexes Problemfeld umschrieben, für das kennzeichnend ist, „daß jedes demokratische System spezifischer Verfahren und Institutionen bedarf, durch die Politik zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen den
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Führungseliten und den Bürgern, vermittelt wird" (Sarcinelli: 1987b, S. 19). Im politischen System der Bundesrepublik richtet sich dieser Vermittlungsanspruch vorrangig an das Parlament und an die politischen Parteien. Weitere wichtige Politikvermittlungsagenturen sind die Interessenverbände. Parteien und Verbände durchwirken die Gesellschaft. Soweit sie in gesellschaftliche Konfliktfelder und Interessenlagen hineinreichen, geben sie „Frühwarnsysteme" für das politische System ab. Die oben skizzierten Tendenzen zur Selektion und Filterung von Interessen durch die Interessenorganisationen wirken jedoch desensibilisierend und können zum Verlust von Systemempfindlichkeit für gesellschaftliche Interessenlagen und Konfliktfelder führen. Vermittels Publizität des Partei- und Verbändehandelns wirken die Interessenorganisationen aber auch auf die Gesellschaft zurück und entfalten damit Responsivität (von Alemann: 1990, S. 113). Die Interessenorganisationen erfüllen diese Kommunikationsaufgabe auf zwei Wegen: zum einen in Arbeitsteilung mit dem Parlament. Hierin liegt die Chance, die parlamentarische Öffentlichkeit auf gesellschaftliche Bereiche hin zu erweitern, die ansonsten parlamentarisch inszenierter Kommunikation verschlossen blieben, aber auch das Risiko, das Parlament zu paralysieren. Zum anderen erledigen die Interessenorganisationen die Kommunikationsaufgabe in Kooperation mit dem Parlament mit der Folge, daß sie die parlamentarische Vermittlungsleistung stärken und gleichzeitig riskieren, deren Defizite mit zu verantworten. Parlamentarische Politikvermittlung auf der Grundlage von Parlamentsöffentlichkeit erfüllt drei Aufgabenbündel (Kißler: 1989, S. 996ff.): (1) Politische Sozialisation (Bildungsfunktion) (2) Demokratische Beteiligung (Partizipationsfunktion) (3) Rationalisierung von Herrschaft (Legitimationsfunktion). Die dem Parlament von jeher zugeschriebene „Teaching Function" steht im direkten Bedingungszusammenhang mit der parlamentarischen Interessenvermittlung: „Die Öffentlichkeit der Ständeversammlungen ist ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel und das Volk lernt daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen (Hervorhebungen von L. K.)". Was Hegel (1821/ 1970 VII., S. 482) für die Ständeversammlung behauptet, gilt auch für das Parlament. Die Interessenorganisationen beteiligen sich an dieser Bildungsaufgabe, soweit sie politische Kommunikation auf der Grundlage von Organisationsöffentlichkeit herstellen. Deren oben angedeutete Defizite schließen nicht aus, daß Parteien und Verbände politisch bilden, z.B. über partei- oder verbandsnahe Bildungseinrichtungen . Die politische Sozialisationsaufgabe, soweit sie im Rahmen der Öffentlichkeitsfunktion erfüllt wird, dient auch der demokratischen Beteiligung. Wer sich beteiligen will, muß wissen, woran und wozu er partizipiert, er muß die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsgrundlagen kennen, seine Interessen abzuschätzen wissen und fähig sein, diese in Entscheidungsprozesse einzubringen. Demokratischer Beteiligung sind deshalb parlamentarische Information und Möglichkeiten der Informationsbeantwortung vorausgesetzt. „Teilnahme bedeutet gleichzeitig Einbindung. Die Möglichkeit demokratischer Mitwirkung durch die Interessenverbände (und andere Interessenorganisationen, Ergänzung von L. K.) fordert die Integration der durch sie vertretenen Interessen und verpflichtet sie gleichzeitig auf rationale Formen politischer Entscheidungsfindung und -ausführung, die auf Verhandlung, Kompromiß und Kooperation angelegt
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sind. Wie für die Interessenorganisationen gilt auch für die Organisationsmitglieder: Ihre Integration setzt Partizipation voraus. Die Sozialisationsleistung der Interessenorganisationen beruht auf einem Politikvermittlungsprozeß nach innen, der in einem Spannungsverhältnis zur effizienten Interessenvermittlung nach außen stehen kann. Was organisationspolitisch geboten ist, dient noch lange nicht der innerorganisatorischen Demokratie. Wenn die Mitglieder eine Akklamationstruppe für die Verbandsführung darstellen, dann kann das Beteiligungsdefizit auch dazu dienen, „gesetzgeberische oder verwaltungsmäßige Entscheidungen, an denen die Verbandsrepräsentanten mitgewirkt haben, der eigenen Gruppe gegenüber zu vermitteln, zu erläutern und mögliche Widerstände gegen ihre Verwirklichung auszuräumen" (Weber, J.: 1987, S. 211). Parlamentarische Öffentlichkeit ist demnach durchaus ambivalent. Sie kann der pseudo-partizipativen Integration von Interessenträgern, aber auch deren Beteiligung an politischer Kommunikation dienen. In diesem Fall trägt sie dazu bei, die Entfremdung zwischen Bürgern und politischen Einrichtungen zu überwinden. Sie schafft Vertrauen. Nur als Öffentlichkeitsorgan ist das Parlament deshalb auch Legitimationsorgan für politische Herrschaft. Legitimationsbegrüdung findet vor allem auf der Grundlage von Wahlen statt. In einem politischen System, wo die Bürgerbeteiligung auf den Wahlakt beschränkt bliebe, ohne eingebunden zu sein in einen permanenten Austausch von Meinungen, Kritik und Interessenartikulation bliebe ungeklärt, wie die Wahl Ausdruck einer rationalen Wählerentscheidung sein kann. Nur wo der Disput nicht in der Demonstration bereits getroffener Entscheidungen versandet, sondern durch beantwortbare Information über das Entscheidungsprogramm die Bürger in den Entscheidungsprozeß mit einbezieht, ist politisches Entscheidungshandeln rational. Rationale Herrschaft ist legitim. Inwieweit wird die parlamentarische Praxis der Interessen- und Politikvermittlung diesen Kriterien gerecht? Mit einigen Schlaglichtern auf den empirischen Befund der politischen Interessenrepräsentation und parlamentarischen Öffentlichkeit wird im folgenden geantwortet. Gegenstand der Untersuchung ist der Deutsche Bundestag.
II. Die Organisation gesellschaftlicher Interessen im Deutschen Bundestag Der Bundestag als Einrichtung parlamentarischer Interessen- und Politikvermittlung organisiert gesellschaftliche Interessen und ist zugleich Adressat von organisierten Interessen. Das parlamentarische Subjekt der Vermittlungstätigkeit ist der Abgeordnete.
1. Der Abgeordnete als Interessenvertreter: Die interne Lobby „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", heißt es in Art. 38 Abs. 1 GG. Damit wird der Abgeordnete zum
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Subjekt der parlamentarischen Öffentlichkeit und politischen Interessenrepräsentation erklärt. Die Verfassungsvorschrift des freien Mandats definiert den Abgeordneten zum Interessen Vertreter, allerdings nicht zum Vertreter von Partikularinteressen. Er entscheidet für das ganze Volk, ungeachtet der Tatsache, daß er nur von einem Teil desselben gewählt wurde. Die Anerkennung der Entscheidungen von individuell bestellten Amtswaltern als Entscheidungen des Parlaments setzt jedoch eine allgemeine Rückbindung der Abgeordnetentätigkeit an das Volk voraus, die über den Wahlakt hinausgeht. Hierin wurzelt die kommunikative und die organisatorische Funktion des freien Mandats. Die organisatorische Funktion des freien Mandats besteht darin, daß dieses dem Bundestag die zur Wahrnehmung seiner Gesetzgebungsaufgabe notwendigen Entscheidungsmöglichkeiten und -alternativen verschafft. Interessenabwägung setzt nämlich die Loslösung von spezifischen Interessen und den mit ihnen an das Parlament herangetragenen vielfaltigen Ziel- und Zweckkonflikten voraus. Das freie Mandat trennt gewissermaßen das Amt des Abgeordneten von seiner Person. Es entlastet ihn dadurch im Entscheidungsprozeß von sachfremden Problemen und anderen Rollenbezügen (z.B. als Verbandsmitglied) und erlaubt die Konzentration auf die Rolle des Amtswalters (weiterführend § 41. und II.). Während die organisatorische Zweckbestimmung des freien Mandats die Loslösung des Abgeordneten von Einzelinteressen ermöglichen soll, besteht seine kommunikative Funktion in der Öffnung der Abgeordnetentätigkeit gegenüber einem möglichst breiten gesellschaftlichen Interessenspektrum. Mit anderen Worten: Die organisatorische Funktion des freien Mandats geht von der Tatsache aus, daß der Abgeordnete als Person zugleich Interessenträger ist, während die kommunikative Aufgabe den Abgeordneten zum Adressaten von gesellschaftlichen Interessen definiert. Die Verfassungsvorschrift berechtigt den Abgeordneten nicht nur auf Meinungen, Vorstellungen u.a.m. einzugehen, sie verpflichtet ihn auch dazu. Seinem Status als „Vertreter des ganzen Volkes" wird er nur dadurch gerecht, daß er sich um Ausgleich der unterschiedlichen Interessenanforderungen bemüht; denn diese gehören zu den entscheidungserheblichen, im „Gewissen" (Art. 38 Abs. 1, Satz 2 GG) zu reflektierenden Umständen. Die Voraussetzung hierfür schafft das freie Mandat, indem es die Kommunikationskanäle zwischen Parlament und Bürgern über die sozialen Klassen- und Schichtgrenzen hinweg offen hält und damit das Spektrum an gesellschaftlichen Interessen, die an den Abgeordneten adressiert werden können, nicht wie beim imperativen Mandat auf eine bestimmte Gruppe verengt. Die vom freien Mandat begründete kommunikative Vermittlungsposition des Abgeordneten bestimmt auch sein Verhältnis zur Fraktion. Der Abgeordnete unterliegt der Fraktionsdisziplin. Im Unterschied zum Fraktionszwang ist damit ein „Pflichtreflex" der Beachtung gegenüber Anleitungen und Vorgaben der Fraktion gemeint (aus der umfangreichen Literatur Kasten: 1985, S. 475ff.). Diese starke Position des Abgeordneten gegenüber parlamentsexternen Partikularinteressen und parlamentsinternen Fraktionsinteressen, wie sie das freie Mandat einräumt, steht im Spannungsverhältnis zum Parteienprivileg des Art. 21 GG und zur Geschäftsordnung des Bundestages, die die Abgeordnetenposition zugunsten des Fraktionsparlaments schwächt (Hamm-Brücher: 1989, S. 686ff.; problematisiert in § 4 III.).
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Wie sieht der Abgeordnete selbst seine Position im Bezugsfeld von Partikularund Fraktionsinteressen? Nach einer Umfrage, die die interfraktionelle Initiative Parlamentsreform im Jahre 1984 unter den Abgeordneten des Deutschen Bundestages durchführte, gehen mehr als ein Drittel der Abgeordneten davon aus, daß sie das Verfassungsgebot nach Art. 38 Abs. 1 G G nicht ausreichend wahrnehmen können. „Das repräsentative Element des gewählten Volksvertreters wird eigentlich nur noch im Rahmen der Wahlkreissarbeit, bei der enger Kontakt mit den Bürgern erforderlich ist, spürbar. Dort liegt die letzte Domäne seiner Unabhängigkeit, die sich allerdings alsbald verflüchtigt, sobald er Bonner Boden betritt" (Hamm-Brücher: 1989, S. 695f). Deshalb kann auch nicht verwundern, wenn eine im Winter 1988/89 durchgeführte Befragung der Abgeordneten des 11. Deutschen Bundestages ergeben hat, daß in der Hierarchie der Reformziele „die Stärkung der Stellung des einzelnen Abgeordneten" an oberster Stelle rangiert (39%) (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 126). Die gleiche Untersuchung belegt auch, daß nur eine Minderheit der Abgeordneten sich als Vertreter der Partei (15%) oder als Sprecher gesellschaftlicher Gruppen versteht (9%). Allerdings ist auch das klassische Rollen Verständnis, Inhaber eines freien Mandats zu sein, nicht weit verbreitet (17%). Entgegen dem Verfassungsbild vom „Vertreter des ganzen Volkes" begreifen sich die meisten Abgeordneten (47%) als „Vertreter ihrer Wähler". Dieser Rollenperzeption der Abgeordneten entsprechen weitgehend die Rollenerwartungen der Wähler. Diese sehen im Bundestag weder eine Versammlung von Parteifunktionären noch von Interessenvertretern. Man erwartet eine Orientierung am und den direkten Kontakt zum Wähler. Inwieweit diese Erwartungen enttäuscht werden, kann ein Blick auf die tatsächliche Rollenerfüllung klären. Was tun die Abgeordneten wirklich? Dreiviertel der Abgeordneten sehen ihren Tätigkeitsschwerpunkt in der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und Regierungskontrolle. Nur eine kleine Minderheit widmet sich an erster Stelle „der Artikulation bestimmter gesellschaftlicher Interessen" (7%). Haben demnach die Abgeordneten taube Ohren gegenüber organisierten gesellschaftlichen Interessen? In der Tat steht die Selbstzuschreibung von Tätigkeitsschwerpunkten durch die Abgeordneten im Kontrast zum hohen Anteil von Vertretern bestimmter gesellschaftlicher Interessen im Bundestag. Abgeordnete die „hauptberuflich oder ehrenamtlich Funktionen in einem Verband ausüben oder ausgeübt haben (z. B. Geschäftsführer von Verbänden, Verbandsvorsitzende auf Kreis-, Bezirks- und Bundesebene, Verbandsmitglieder, Verbandsangestellte, Gewerkschaftssekretäre und Vertreter der innerparteilichen Interessengruppen)" (Schindler: 1986, S. 205), machen mehr als die Hälfte (58,1%) der Mitglieder des 10. Deutschen Bundestages aus. Neben diesen Verbandsvertretern im engeren Sinn sitzen auf den Abgeordnetenbänken „einfache" Verbandsmitglieder. 59,7% der Abgeordneten des 11. Deutschen Bundestages waren gewerkschaftlich organisiert, davon der weitaus größte Teil (43,5%) in DGB-Gewerkschaften (Müller, E.-P.: 1988, S. 194f.). Nun folgt aus der Mitgliedschaft in einer Interessenorganisation noch nicht automatisch die einseitige Interessenberücksichtigung in der parlamentarischen Arbeit, wohl aber „ein offenes Ohr und Verständnis für die Belange ,ihres' Verbandes" (Steinberg: 1989, S. 227).
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Die parlamentarische Arbeit findet vor allem in den Fraktionen und Ausschüssen statt. Deren „Verbandsfärbung" zeigt, inwieweit sie gesellschaftliche Interessen organisieren und um welche Interessen es sich dabei handelt. 2. Die Fraktion als parlamentarische Organisationsform von gesellschaftlichen Interessen Die Fraktionen verkörpern die verlängerten Arme der Parteien in das Parlament (dazu § 4 III.; § 10 VI.). Mit ihnen transportieren die Parteien gesellschaftliche Interessen ihrer Mitglieder und Wähler in den parlamentarischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß. U m welche Interessen handelt es sich? Die Parteien vermitteln gesellschaftliche Interessen an die Fraktionen durch ihre sozialstrukturelle Verankerung. Diese kann, wie oben ausgeführt wurde (I.), an sozialen Konfliktlagen festgemacht werden, deren Entwicklung in vier Phasen die Parteienlandschaft veränderte: (1) Bis in die 60er Jahre hinein waren die folgenden Konfliktlinien zwischen gesellschaftlichen Interessenlagen prägend: Arbeit versus Kapital und religiös versus säkular. (2) Diese haben sich in der zweiten Phase überlagert und sind schließlich zu einem stabilen Rechts-/Links-Gegensatz verschmolzen: Ein arbeitnehmerorientiertes, säkulares, aufstiegsorientiertes und dem neuen Mittelstand verbundenes Lager stand dem religiös geprägten, konservativen Lager des alten Mittelstandes und Unternehmertums gegenüber. „Außerhalb dieser beiden Lager war politisches Niemandsland, so daß die drei im Bundestag vertretenen Parteien (einschließlich CSU) in den 70er Jahren 98-99% der Stimmen bei Bundestagswahlen auf sich vereinigen konnten" (von Alemann: 1990, S. 91). (3) Gesellschaftlicher Wertewandel (von materialistischen zu postmaterialistischen Werten), neue Vergesellschaftungsformen (plurale Lebensstile und neue Sozialmilieus) und andere Formen der Interessenorganisation (Bürgerinitiativen und neue soziale Bewegungen) legten in der dritten Phase eine weitere Konfliktlinie quer zur traditionellen Rechts-/Links-Achse und brachten Bewegung in die Parteienlandschaft. Zwar behalten die traditionellen Konfliktlinien weiterhin prägende Kraft für die Mitgliederrekrutierung der Parteien. So kommen ca. ein Drittel der SPD-Mitglieder aus der Arbeiterschaft, die C D U rekrutiert ein Viertel (die CSU ein Drittel) ihrer Mitglieder aus Selbständigen, die FDP-Mitgliedschaft repräsentiert vor allem die Angestellten, Selbständigen und Beamten. Sie gehen aber einher mit der Erosion traditioneller Parteimilieus und der Herausbildung neuer Kommunikationsnetzwerke und erklären die Erweiterung des Parteienspektrums durch die G R Ü N E N . (4) Die Tatsache, daß im ersten gesamtdeutschen Parlament die westdeutsche Partei der G R Ü N E N nicht mehr und mit der PDS eine sich als „Klassenpartei" verstehende Organisation vertreten ist, kann als Ausdruck einer Revitalisierung der alten Konfliktkonstellation gewertet werden. Diese vierte und erst eingeleitete Veränderungsphase in der Parteienlandschaft findet ihre sozialstrukturelle Grundlage in der „Rückkehr" der Industriegesellschaft im Zuge der DDR-Integration. Jede der vier skizzierten Phasen gestaltet den Interessenbezug der Bundestagsfraktionen anders. Kennzeichnend für die erste Phase ist ein parlamentarischer
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Bedeutungsverlust von Interessen, die sich, wie in der Weimarer Republik, an der nationalen (Zentrum versus Peripherie) und an der agrarisch-industriellen Konfliktlinie (Stadt versus Land) bilden. Die zweite, „sozialliberale" Phase bringt eine Annäherung der beiden großen Fraktionen in der Orientierung an gesellschaftlichen Interessenlagen auf der Grundlage einer abgeschwächten sozialen Differenzierung der Parteien (Nachweise bei Veen/Gluchowski: 1988, S. 226ff.). Kennzeichnend für die dritte Phase ist schließlich die Ausweitung des parlamentarisch vertretenen, fraktionell organisierten gesellschaftlichen Interessenspektrums über traditionelle Konfliktlinien und Milieubindungen der Parteien hinaus. In der vierten Phase schließlich zeichnet sich eine Re-Orientierung des Parlaments an industriegesellschaftlichen Konfliktlinien und eine Konzentration auf entsprechende gesellschaftliche Interessenlagen ab. Diese Entwicklung findet nicht nur ihren Ausdruck in der Rückbindung der Parlamentsfraktionen an gesellschaftliche Interessen durch die politischen Parteien. Diese verkörpert nur die eine Seite der Interessenorganisation durch die Fraktionen. Ihre zweite Seite besteht in der Integration organisierter Interessen in die Bundestagsfraktionen. Der gesellschaftlichen Interessenbindung der Parteien entspricht die Verteilung der organisierten Interessen auf ihre Fraktionen. Durch alle Wahlperioden hindurch findet sich in der CDU/CSU-Fraktion ein erheblicher Anteil an Verbandsvertretern aus Arbeitgeber-, Wirtschafts- und mittelständischen Verbänden. Die SPD-Fraktion organisiert vor allem die Interessen aus dem Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsbereich. Diese fehlen wiederum fast völlig in der FDP-Fraktion und sind schwach (7,7%) in der CDU/CSU-Fraktion vertreten, während sie bei den GRÜNEN fast die Hälfte der Abgeordneten im 11. Bundestag gestellt haben. Insgesamt ist die Verbandsfärbung der Fraktionen beeindruckend. Verteilt man die Vertreter (nicht einfache Mitglieder) sämtlicher im 10. Bundestag organisierter Interessen (= 58,1% der Abgeordneten) auf die einzelnen Fraktionen, dann setzten sich die Fraktionen der CDU/CSU zu mehr als zwei Dritteln (70,6%), der SPD zur Hälfte (50,5%), der FDP zu einem guten Drittel (34,3%) und der GRÜNEN zu mehr als einem Viertel (28,4%) aus Verbandsvertretern zusammen. Wie ist diese Verbandsfärbung der Bundestagsfraktionen zustande gekommen? Verbände bauen ihre Lobby auf zwei Wegen in die Fraktionen ein: mittelbar durch die interessenmäßigen Gliederungen in den Parteien selbst, wie z.B. die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen in der SPD, durch zahlreiche und nur zum Teil institutionalisierte Querverbindungen zwischen Parteien und parteinahen Interessenverbänden (wie z.B. zwischen Wirtschaftsrat und CDU). Dies eröffnet den Interessenorganisationen Einflußmöglichkeiten auf die Kandidatenaufstellung der Parteien bei Parlamentswahlen. Die Offenheit der Bundestagsfraktionen gegenüber parteinahen Interessenorganisationen erklärt sich vor allem aber durch deren direkte Beteiligung bei der Auslese von Wahlkreiskandidaten und bei der Aufstellung von Landeslisten. „Das geltende Wahlrecht garantiert zumindest den starken, gut organisierten Verbänden, eine ausreichende Zahl von Verbandsführern, Verbandsfunktionären und einfachen Mitgliedern aussichtsreich zu nominieren" (Steinberg: 1989, S. 237). Die Vertreter der Unternehmerverbände, Mittelstandsvereinigungen, Gewerkschaften, Beamten, Landwirte, Heimatvertriebenen besetzen dann als Fraktionsexperten die für ihre Interessenorganisation relevanten Bundestagsaus-
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schüsse. Das Ausmaß der Ausschußbesetzung durch Verbandsvertreter ist allerdings unterschiedlich groß. Die Verbandsdichte ist im Rechts- oder Verteidigungsausschuß relativ gering. Sie liegt im Wirtschaftsausschuß bei 48%, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung bei 63% und liegt bei den Domänen einer Statusgruppe, wie z. B. Landwirtschaft, Familie, Gesundheit noch höher (von Beyme: 1990, S. 187). Die Ausschüsse entwickeln sich dadurch zu „Verbandsinseln" für organisierte Interessen. Dies wird vor allem bei der Besetzung von Vorsitzenden- und Stellvertreterpositionen in den Ausschüssen deutlich. Von den zwischen 1949 und 1985 vergebenen 118 Führungspositionen gingen 50% (42% der Stellvertreterpositionen) an Interessenvertreter. Insbesondere in jenen Ausschüssen, deren Arbeit stark organisierte Interessen unmittelbar tangiert, (wie z.B. der Wirtschaftsausschuß) übernimmt den Vorsitz regelmäßig ein Abgeordneter mit einschlägigem beruflichen oder verbandlichen Hintergrund. Dadurch bilden sich „regelrechte ,Arenen', begrenzte und abgegrenzte Schauplätze von Interessen und Politikbearbeitung" (Weßels: 1987, S. 309). Diese Tendenz spiegelt die Spezialisierung und Arbeitsteilung des politisch-parlamentarischen Prozesses wider und wird verstärkt durch die Berufsstruktur des Parlaments als einem wesentlichen Element seines Sozialprofils.
3. Das Sozialprofil des Bundestages als Abbild gesellschaftlicher Interessen Aus der sozialen Zusammensetzung des Bundestages läßt sich erschließen, welches gesellschaftliche Interessenspektrum das Parlament, über die organisierten Interessen hinaus, abdeckt. Die Frage, ob seine Sozialstruktur ein Spiegel- oder Zerrbild der gesellschaftlichen Interessenlagen darstellt, ist für seine Leistungsfähigkeit als Organ der Interessen- und Politikvermittlung von Bedeutung; denn das Sozialprofil des Bundestages bringt den Umfang der sozialen Repräsentation von gesellschaftlichen Interessen zum Ausdruck. Daraus zieht das Parlament die Kraft zur politischen Repräsentation. Und schließlich beantwortet die sozialstrukturelle Zusammensetzung des Bundestages die Frage, wohin der parlamentarische Vermittlungsprozeß in der Gesellschaft reicht, mit anderen Worten: welche gesellschaftlichen Schichten und Gruppen an der Parlamentsöffentlichkeit teilhaben. Das Sozialprofil konditioniert demnach die für parlamentarische Interessen- und Politikvermittlung maßgeblichen Parlamentsfunktionen der politischen Repräsentation und parlamentarischen Öffentlichkeit. Der Bundestag ist weit davon entfernt, eine 'Gesellschaft en miniature' zu sein. Ein Blick in den Plenarsaal genügt. Dort agieren vornehmlich Männer. Auch wenn sich der Frauenanteil - bei großen Unterschieden zwischen den einzelnen Fraktionen - erhöht hat, so liegt er doch noch erheblich unter dem Organisationsgrad von Frauen in den politischen Parteien. Von den 662 Mitgliedern des 1. gesamtdeutschen Bundestages ist jedes fünfte weiblich. Damit konnte der durchschnittliche Frauenanteil der ersten 10 Wahlperioden (= 8,6%) mit nur 2 Bundestagswahlen fast verdoppelt werden. Allerdings nehmen die weiblichen Bundestagsmitglieder bislang kaum parlamentarische Führungspositionen in Fraktionen und Ausschüssen ein. Deshalb bleibt ihr Einfluß auf die dort organisierten Interessen und deren parlamentarische Vermittlung bescheiden. Außerordentlich stabil bleibt die parlamentarische Sozialstruktur in drei weiteren Dimensionen. Der Bundestag ist ein Parlament von öffentlich Bediensteten.
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Mehr als ein Drittel der Abgeordneten des 11. Bundestages sind Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes (Müller, E.-P.: 1988, S. 190, Tab. 1). D e r nach wie vor (zu) hohe Beamtenanteil hat in deutschen Parlamenten Tradition. Erlag schon im Paulskirchen-Parlament bei 57,9% (Eyck: 1973, S. VII). D e r hohe Beamtenanteil mag die soziale Repräsentation des Bundestages schwächen. Er ist aber für die parlamentarische Interessen vermittlungsauf gäbe auch vorteilhaft, unterstellt man, daß die materielle Absicherung des Beamten eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber organisierten Interessen sichert. Hinzu kommt, daß der deutsche Beamte mehr als andere Berufsgruppen gelernt hat, in Gemeinwohlkategorien zu denken, eine Fähigkeit, die dem parlamentarischen Interessenausgleich dienen und gegen den Machtanspruch stark organisierter Interessen immunisieren könnte. Ein nach wie vor ungebrochener Trend zur Akademisierung (67,4% der Abgeordneten des 11. Bundestages hatten Universitätsabschluß, gegenüber 4,3% der erwachsenen Bevölkerung) kennzeichnet darüber hinaus das parlamentarische Sozialprofil (Müller, E.-P.: 1988, S. 216). Mit der Akademisierung des Abgeordnetenamtes holt der Bundestag nur nach, was in den Interessenorganisationen schon länger als Karrierevehikel gilt - eine Hochschulausbildung. Im Gewand der Interessenvertreter kommen deshalb auch die Akademiker ins Parlament. Wenn der Bundestag „gebildeter geworden" ist (Müller, E.-P.: 1988, S. 200ff.), dann ist dies auch Ausdruck der Verwissenschaftlichung von Politik. Politikbearbeitung im Parlament wurde zum Geschäft von Experten. Mit Experten sind in der Regel wissenschaftlich vorgebildete Spezialisten gemeint. Als Abgeordnete ohne Verbandshintergrund verkörpern sie quantitativ die größte Gruppe im Bundestag: die Experten für das Allgemeine. In Kooperation und engem Kontakt mit den Verbandsvertretern, den Experten für das Besondere, tragen sie dazu bei, daß vor allem die Ausschußarbeit (dazu § 11 II.) Expertenangelegenheit bleibt. Und schließlich weist das Sozialprofil des Bundestages die Tendenz zur sozialen Nivellierung auf. Fast ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung kommt aus der Arbeiterschaft, dagegen 1,7% der Abgeordneten des 11. Bundestages. Zusammen mit den Hausfrauen (2,7% der weiblichen Abgeordneten) - eine der großen Bevölkerungsgruppen - zählen die Arbeiter in der Bundestagstatistik zu den „politischen Randgruppen" (Müller, E.-P.: 1988, S. 190). Diese extreme Unterrepräsentation in der parlamentarischen Sozialstruktur wird auch nicht durch die oben dargelegte Überrepräsentation organisierter Arbeitnehmerinteressen im Bundestag ausgeglichen. Denn die gesellschaftliche Selektion und innerorganisatorische Filterung von gesellschaftlichen, in diesem Fall Arbeitnehmerinteressen durch die Organisationen (oben I.) begründet die Differenz zwischen gesellschaftlichen und organisierten Interessen und zwischen beiden auf der einen und den durch die jeweilige Organisation vermittelten Interessen auf der anderen Seite. Daraus folgt: Arbeitnehmervertreter ersetzen nicht die fehlenden Arbeitnehmer im Parlament. Die angezeigten Trends reichen durch sämtliche Wahlperioden hindurch. Denn, trotz leicht gestiegenem Risiko des Mandatsverlustes, verfügt der Bundestag über eine bemerkenswert geringe personelle Mobilität (Kaack: 1988a, S. 169ff.). Dies hält sein Profil als sozial nivelliertes, „verbeamtetes" Akademikerparlament stabil.
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Seine Interessen- und Politikvermittlung ist mittelschichtorientiert. Zwar hatte der Bundestag bis zur 12. Wahlperiode vor allem durch die Fraktion die G R Ü N E N seine Sensibilität für die interessenbezogenen Themen eines in den neuen sozialen Bewegungen und Milieus politisch und sozial verorteten außerparlamentarischen Publikums vergrößert. Aber das verengte Adressatenfeld eines „Mittelschichtparlaments" konnte er nicht erweitern. Die soziale Repräsentation gesellschaftlicher Interessen im Bundestag kann deshalb die eingangs skizzierten (I.) Vermittlungsdefizite der Interessenorganisationen nicht kompensieren. Vielmehr verstärkt sie den sozialen Schließungsprozeß der schichtenspezifischen Interessenselektion durch Parteien und Verbände. Auf einen Nenner gebracht: Der Bundestag organisiert die gesellschaftlichen Interessen der nivellierten Mittelschichtgesellschaft. Er wird darüber hinaus zum Adressaten von Interessen, soweit diese stark genug organisiert sind und parlamentsbezogen agieren.
III. Der Bundestag als Adressat von gesellschaftlichen Interessen Gesellschaftliche Interessen werden in organisierter Form von den Verbänden in politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse eingebracht. Der Bundestag verfügt über das Gesetzgebungsmonopol auf Bundesebene (Art. 77 Abs. 1, Satz 1 GG). Dies macht ihn zu einem wichtigen Adressaten von Verbandsaktivitäten mit dem Ziel, die organisierten Interessen der Mitglieder zur Geltung zu bringen und ihnen parlamentarischen Einfluß zu verschaffen. Die Verbände treten als Pressure-Groups auf. Das öffentliche Gehör für Verbandsinteressen gewährt der Bundestag auf unterschiedlichen Kanälen: • auf dem Weg institutionalisierter Kommunikation. Deren zentraler Ort ist die öffentliche Anhörung; • daneben existieren mittelbare und unmittelbare Formen der institutionalisierten Einflußnahme von Interessenorganisationen; • auf dem Weg ausgeprägter informeller Kontakte zwischen Verbänden und Mitgliedern des Bundestages.
1. Interessenvermittlung durch Pressure-Strategien Die Verbände vemitteln organisierte Interessen als Pressure-Groups. Sie üben mit Instrumenten der unmittelbaren und in Formen der mittelbaren Einflußnahme „Druck" auf das Parlament aus. Zu den Pressure-Instrumenten der unmittelbaren Einflußnahme zählt der Lobbyismus. Dieser stellt die klassische Form des Verbandseinflusses dar. Die direkte Kontaktaufnahme zwischen Verbandsvertretern zu Abgeordneten in der Lobby des Parlaments spielt heute kaum noch eine Rolle. Neben der oben beschriebenen eingebauten Lobby, die in der „Verbandsfärbung" des Bundestages zum Ausdruck kommt, verfügt der externe Lobbyismus über institutionalisierte Einflußformen. Dazu zählen • förmliche Kontakte zwischen Verbänden und „nahestehenden" Abgeordneten im Rahmen von Arbeitskreisen und Kontaktgruppen in den Fraktionen,
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• Abgeordnetensprechstunden, • Enquete-Kommissionen (Braß: 1990, S. 65ff.; dazu § 10 V.), • nicht-öffentliche Anhörungen von Interessenvertretern durch die Bundestagsausschüsse (Weßels: 1987, S. 290f.; hierzu § 11 II.). Die organisierten Interessen finden einen privilegierten Zugang zum Parlament durch die öffentliche Anhörung (Hearing) der Bundestagsausschüsse nach § 70 Abs. 1 GO-BT, in der Sachverständige und Interessenvertreter zu Wort kommen. Nach dem Vorbild des amerikanischen Kongreßhearings seit 1952 eingerichtet, haben die Bundestagsausschüsse von öffentlichen Informationssitzungen zunächst nur zögerlich Gebrauch gemacht. Seit der 5. Wahlperiode gewinnt jedoch die öffentliche Anhörung an Bedeutung. Heute passiert kaum noch eine Gesetzesvorlage von Gewicht den zuständigen Ausschuß ohne öffentliche Anhörung. Diese ist keineswegs nur mit Gesetzgebungsvorhaben befaßt. Zwar überwiegt quantitativ das „legislative Hearing", öffentliche Anhörungen mit investigativem Charakter sind selten. Jedoch behandeln nur gut die Hälfte (56%) der Anhörungen konkrete Gesetzentwürfe. Fast ein Drittel (30%) befassen sich mit Gutachten und Berichten zu spezifischen Kritikbereichen oder mit Politikfolgen, und eine nicht unerhebliche Anzahl (15 %) steht im Zusammenhang mit Politikplanung (Weßels: 1987, S. 291). Wer bei der öffentlichen Anhörung gehört werden will, muß dies publik machen. Die Verbände sind in einer beim Präsidenten des Bundestages geführten Liste registriert. Diese umfaßt jeweils Name und Sitz des Verbandes, Zusammensetzung von Verband und Geschäftsführung, Interessenbereich, Mitgliederzahl, Namen der Verbandsvertreter und Anschrift der Geschäftsstelle bei Bundestag und Bundesregierung. Die „Lobbyliste" weist inzwischen weit über 1000 Verbände auf (1991 waren 1512 Verbände registriert). Gleichwohl ist ihr Informationswert äußerst gering. Sie gibt keine Auskunft über die Zahl der von den Verbänden tatsächlich Repräsentierten und das darin ruhende Einflußpotential. Die Listeneintragung sagt auch nichts über Verbandseinnahmen, Mitarbeiterzahl, Werbeaufwendungen, finanzielle Zuwendungen an Parteien und Abgeordnete aus (Steinberg: 1989, S. 256). Immerhin dokumentiert die Liste die Vielfalt organisierter Interessen, von denen die Ausschüsse eine spezifische Auswahl treffen. Entsprechend unterschiedlich setzt sich die geladene Expertenschaft zusammen. Allerdings spielen „unabhängige Experten" insgesamt eine untergeordnete Rolle. „Eingeladene sind fast ausschließlich Experten in dem Sinne, daß sie kompetent sind, bestimmte Interessen zu artikulieren und zu vertreten" (Weßels: 1987, S. 293). Ein Vergleich der Ausschußthemen mit den eingeladenen Interessenvertretern zeigt, daß offenbar das „Betroffenheits-Prinzip" ein wichtiges Auswahlkriterium darstellt. Allerdings wird dabei auch die Überrepräsentation von Arbeitgeberund Unternehmerorganisationen deutlich (Weßels: 1987, S. 296). Die öffentliche Ausschußanhörung markiert aber nur eine Station in einem längeren Politikbearbeitungsprozeß, der mit der öffentlichen Anhörung von Interessenvertretern in seine parlamentarische Endphase kommt. Seine Dynamik gewinnt dieser Prozeß in der Regel nicht aus der Mitte des Parlaments, sondern durch externe Kraftzentren: die Ministerialbürokratie, politischen Parteien, Massenmedien. Diese bilden deshalb auch die bevorzugten Einfallstore für mittelbare Formen der institutionalisierten Verbandsein Wirkung.
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2. Interessenvermittlung durch mittelbare Einflußnahme auf den parlamentarischen Prozeß Mittelbare Formen der Einflußnahme von Interessenorganisationen auf die parlamentarische Politikbearbeitung sind außerhalb des Parlaments institutionalisiert. Gehör finden die Interessenorganisationen bereits im Vorfeld öffentlicher Ausschußsitzungen, im Referentenstadium von Gesetzen. Die förmliche Einflußnahme im konzeptionellen Bereich, rechtlich abgesichert in § 24 der gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien Teil II (abgedr. in: Steinberg: 1989, S. 234), öffnet den Verbänden ein breites Mitwirkungsfeld und beschleunigt den parlamentarischen Durchlauf der Gesetzesentwürfe. Allerdings beschränkt diese Vorschrift auch die Mitwirkungsmöglichkeiten auf solche Verbände, deren Wirkungskreis sich über das gesamte Bundesgebiet erstreckt. Kommunale und regionale Interessen finden deshalb nur insoweit einen direkten Zugang zur Vorbereitung von Gesetzentwürfen in Bundesministerien als sie zu den Bundesspitzen der verbandlichen Organisation und von diesen in den ministeriellen Politikbearbeitungsprozeß transportiert werden. Zur Beschleunigung des parlamentarischen Durchlaufs von Gesetzentwürfen trägt auch die große Anzahl der bei sämtlichen Ministerien angesiedelten Beiräte und Expertenkommissionen bei, die zum Teil mit Interessenvertretern besetzt sind. Die Verbandsmitwirkung im Problemdefinitions- und Konzeptionalisierungsstadium wird weiterhin gewährleistet durch die eingebaute innere Lobby. Wie der Bundestag, so weist auch die Ministerialbürokratie eine Verbandsfärbung auf. Diese ist in sogenannten Daseinsvorsorgeministerien besonders ausgeprägt. Dies verweist auf den Umstand, daß die Verbandsmitwirkung von beiden Seiten gewollt ist. Ihr liegen nicht nur Pressure-Strategien der Interessenorganisationen, sondern auch eine spezifische Nachfragepolitik der Ministerien zugrunde, die aus der Allzuständigkeit des modernen Daseinsvorsorgestaates folgt (Weber, J.: 1987, S. 212). Die Absprache, Kontaktpflege und Öffnung politischer Entscheidungsprozesse gegenüber den entscheidungsbetroffenen gesellschaftlichen Interessenorganisationen sind zur Voraussetzung für politische Effizienz im allgemeinen und für gesellschaftliche Effektivität von Gesetzen im besonderen geworden. Dies gilt auch für die Politikvermittlung durch die politischen Parteien. Im Bestreben möglichst viele Wähler und Mitglieder zu binden, müssen sich die Parteien für unterschiedliche gesellschaftliche Interessen öffnen. Sie räumen den Verbänden Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Kandidatenaufstellung ein; denn die Verbandsrepräsentanten binden en bloc Wählerstimmen an die Partei. Sie werden deshalb auf sicheren Listenplätzen abgesichert (Kremer: 1984, S. 123). Dadurch avancieren im Gegenzug die Parteien zu Adressaten der Verbandsmitwirkung am politisch-parlamentarischen Prozeß. Die Verbände wirken jedoch nicht nur bei der Gesetzgebung, sondern auch bei der Interpretation und Anwendung von Gesetzen mit. Auch die Judikative steht im Kräftefeld organisierter Interessen. Diese nehmen Stellung zu bestimmten, die Verbandsinteressen tangierenden Verfahren. Soweit es sich um Verfahren des Bundesverfassungsgerichtes handelt, entsprechen solche förmlichen Stellungnahmen der ständigen Gerichtspraxis. Darüber hinaus nehmen die Verbände auch verdeckt Einfluß, indem sie z. B. „Musterprozesse" führen lassen (Steinberg: 1989, S. 238).
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Zum wichtigsten Einfallstor des mittelbaren Verbandseinflusses auf den parlamentarischen Prozeß gehört die Medienöffentlichkeit. Die Parlamente sind zu ihrer Funktionserfüllung in hohem Maße auf die Massenmedien angewiesen. Parlamentsöffentlichkeit ist, sieht man von der amtlichen Parlamentsberichterstattung ab, medienvermittelt. Politikvermittlung insgesamt kann als „kommunikatives Kunstprodukt" begriffen werden (Sarcinelli: 1987b, S. 24; hierzu § 15). Auf der anderen Seite der Medaille können die Verbände über die Massenmedien Einfluß ausüben, indem sie • die Aufsichtsgremien der Funkmedien kontrollieren. Dies trifft vor allem für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkräte zu, in denen die „relevanten gesellschaftlichen Kräfte" vertreten sind. Geringer ist dagegen der Verbandseinfluß im parlamentarischen Modell der Aufsichtsgremien, da diese die Mehrheitsverhältnisse der jeweiligen Landesparlamente widerspiegeln; • durch Öffentlichkeitsarbeit selbst an der inhaltlichen Medienproduktion teilnehmen. Zur „Pflege des Meinungsklimas" (Weber, J.: 1987, S. 214) verfügen große Verbände über eigene Public-Relations-Abteilungen, Pressedienste, wissenschaftliche Forschungsinstitute u.a.m. Sie organisieren Kongresse, unterhalten ständigen Kontakt zu Verlegern, Journalisten, Wissenschaftlern und anderen Multiplikatoren. Sie schalten Anzeigen in der regionalen und überregionalen Presse und setzen durch Fernsehauftritte ihre wichtigsten Repräsentanten ins rechte Licht. An der Verbandsbeteiligung in den Rundfunkorganen und an der Medienpräsenz von Verbandsvertretern tritt das Ungleichgewicht der organisierten Interessenvermittlung deutlich zutage: die mediale Selektion und Kanalisierung von bereits verbandsförmig vorselektierten gesellschaftlichen Interessen. Das Ergebnis ist die Einengung der Verbandsmitwirkung auf wenige große, einflußreiche Interessenorganisationen .
3. Interessenvermittlung durch informelle Kommunikation Die Interessenvermittlung durch die Verbände ist durch ein dicht geflochtenes Netz informeller Kontakte, Beziehungen und Kooperation abgesichert. Es dient einerseits der mittelbaren Einwirkung auf den parlamentarischen Entscheidungsprozeß. Hier sind vor allem die informellen Konsultationen zwischen Ministerialbeamten und Verbandsvertretern zu nennen. Auf der Grundlage von Dauerkontakten und ständigen Arbeitsbeziehungen zwischen für ein bestimmtes Problemfeld zuständigen Referenten im Ministerium und im Verband bilden sich Loyalitätsmuster und Identifikationspotentiale heraus, die den Ministerialbeamten in die „Rolle eines Betreuers und Fürsprechers" (Steinberg: 1989, S. 235) für bestimmte Verbandsinteressen bringen. Dadurch können Meinungsverschiedenheiten zwischen verschiedenen Referaten eines Ressorts und zwischen verschiedenen Ressorts entstehen, die von den Verbänden nach dem Motto „divide et impera" genutzt werden. „Als Folge dieses engen Verhältnisses von Ministerialverwaltung zu Verbänden dürfte bei vielen Gesetzentwürfen die Kabinetts- und später die Parlamentsvorlage das Ergebnis von Verhandlungen zwischen den beteiligten Ressorts und wenigen einflußreichen Verbänden darstellen" (Steinberg: 1989, S. 235). Bei solchen „wasserdichten" Gesetzentwürfen ist eine unmittelbare Verbandseinwirkung im parlamentarischen Prozeß kaum noch möglich, aber
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auch nicht mehr nötig. Dies relativiert die Bedeutung der informellen Kommunikation zwischen Abgeordneten und Verbandsvertretern. Gleichwohl ist diese für die parlamentarische Praxis mindestens ebenso prägend und für das Verständnis des Verhältnisses von Parlament und organisierten Interessen eher noch wichtiger als die oben dargelegte rechtlich abgesicherte formelle Kommunikation. Die Bahnen der informellen Kommunikation bleiben jedoch weitgehend abgedunkelt. Schon die institutionalisierten Kontakte werden wenig ausgeleuchtet. Zwar besteht neben der „Lobbyliste" die Pflicht, nach öffentlichen Ausschußanhörungen gegenüber dem Parlament zu berichten und dabei (gemäß § 66 Abs. 2 GO-BT) die Beiträge der Interessenvertreter offenzulegen. Diese Berichtspflicht wird jedoch in der Praxis kaum beachtet (Steinberg: 1989, S. 225 mit Belegen in Anm. 37). Auch für die Verbesserung der Transparenz im Bereich der nicht institutionalisierten Kontakte gibt es Verhaltensregeln (Grundzüge in § 44a Abs. 2 A b G ) , die den Abgeordneten zur Offenlegung von Verbandsaufgaben, Beraterverträgen , zur Rechnungsführung über Spenden u.a.m. verpflichten. Mit der großen Relevanz der informellen Abgeordneten-Verbändebeziehungen kontrastiert ein recht kleiner Befund an wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen. Bekanntlich sind die Abgeordneten sehr kontaktfreudig. Der Aufbau und die Pflege von Kommunikationsbeziehungen gehört zum Kernbereich ihres Rollenverständnisses. Die Analyse ihres Zeitbudgets zeigt, daß „die Abgeordneten für Informations- und Kontakttätigkeiten während der Sitzungswochen immerhin ein Viertel, während der sitzungsfreien Wochen sogar über 40% der Arbeitszeit" aufwenden (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 95). Trotzdem sind sie der Auffassung, zu wenig Zeit für „Kontakte mit der Öffentlichkeit" zu haben. Damit ist jedoch noch nichts über die Kontaktpersonen bzw. -Organisationen und über die Qualität des Kontakts ausgesagt. Schlüsselt man die Kontakte auf, wird deutlich, daß an erster Stelle die Medienkontakte rangieren. Dies unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Massenmedien für parlamentarische Interessen- und Politikvermittlung. Auf der Rangskala von Kontakten zu Organisationsbereichen gesellschaftlicher Interessen setzen die Abgeordneten die „Gewerkschaften" und „soziale, karitative und sozialpolitische Organisationen" an die ersten Stellen. Allerdings hängt die Häufigkeit von Organisationskontakten zu bestimmten Verbänden von der Fraktionszugehörigkeit ab. So pflegen die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion insbesondere Kontakte zu Unternehmer- und Arbeitgeberverbänden (bei der CSU stehen an erster Stelle jedoch soziale und kulturelle Organisationen). Ähnlich ist das Bild bei der FDP, anders jedoch bei den Abgeordneten der SPD-Fraktion. Deren bevorzugte Kontaktpersonen finden sich im Bereich sozialer und kultureller Organisationen, in den Gewerkschaften und in den Betriebsräten großer Wirtschaftsunternehmen. Spezialisierter erscheint dagegen das Kontaktprofil der G R Ü N E N . Hier rangieren Bürgerinitiativen vor sozialen und kulturellen Organisationen, gefolgt von der Wissenschaft (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 32f.). Das informelle Kommunikationsnetz zwischen Bundestag und Interessenorganisationen ist dicht. Es kommt durch die nachgewiesene starke „Außenorientierung" der Abgeordneten, aber auch durch die Kontaktsuche und -pflege der politischen und wirtschaftlichen Führungsschicht zustande. Vor allem aber wird es über die Bundestagsausschüsse geknüpft.
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Für eine Bewertung der Kontakte ist folgender Befund ausschlaggebend: Die Bundestagsausschüsse weisen im informellen Bereich zu Interessenvertretern ein Kontaktprofil auf, dessen Konturen das oben für die formellen Beziehungen gezeichnete Bild ergänzen. Die informellen Kommunikationskanäle folgen der gleichen Topographie funktionaler Differenzierung wie die formelle Kommunikation zwischen Ausschüssen und Verbänden. „Die Domäne informeller Kontakte der Vertreter von Wirtschaftsverbänden sind der Wirtschafts- und Finanzausschuß, der Landwirtschaftsvertreter ist der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, und Gewerkschaftsvertreter suchen am häufigsten informellen Kontakt zu den Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung" (Weßels: 1987, S. 298 mit empirischen Nachweisen). Die Defizite ungleicher Interessenvermittlung, wie sie anhand der Einladungspraxis zu den öffentlichen Anhörungen zutage treten, werden demnach durch die informelle Kommunikation zwischen Abgeordneten und Interessenorganisationen nicht ausgeglichen, sondern eher verstärkt. Offenbar folgt die ungleiche Berücksichtigung organisierter Interessen im formellen und informellen Bereich der gleichen Auswahl- und Handlungslogik auf Seiten der Abgeordneten. Diese gründet in den Kriterien, die über die Einflußchancen der unterschiedlichen Interessenorganisationen letztlich bestimmen.
4. Interessenvermittlung als Einflußchance Die dargelegten institutionalisierten, rechtlich abgesicherten Kommunikationsformen zwischen Parlament und organisierten Interessen sowie das informelle Kommunikationsnetz zwischen Abgeordneten und Verbandsvertretern öffnen Einflußchancen. Diese sind jedoch zwischen den unterschiedlichen Interessenorganisationen ungleich verteilt. Wie kommt es, daß bestimmte Großverbände, vor allem im wirtschaftlichen und sozialpolitischen Bereich, über einen privilegierten Zugang zum Parlament verfügen, andere, wie sich an der Einladungspraxis zu öffentlichen Anhörungen nachweisen läßt, dagegen weniger Chancen haben, parlamentarisches Gehör zu finden? Was die deutliche Überrepräsentation von Unternehmerorganisationen in der Anhörungspraxis der Bundestagsausschüsse anbelangt, kann diese auf spezifische Verbandsressourcen zurückgeführt werden: Verfügung über Produktivvermögen, organisatorische Handlungsautonomie (z.B. Tarifautonomie), Anhäufung von Sachverstand und vergleichsweise bessere Artikulationsmöglichkeiten (Weßels: 1987, S. 296). Soweit zur Angebotsseite. Aus der Parlamentsperspektive gesehen, spielen sicherlich weitere Kriterien bei der Interessenberücksichtigung eine Rolle, die dem parlamentarischen Nachfragebedarf entspringen (dazu Steinberg: 1989, S. 243ff.). Nachgefragt werden Interessenorganisationen, die • möglichst viele Wählerstimmen mobilisieren können (z. B. Deutscher Bauernverband), was nicht von der Mitgliederzahl abhängt; • eine gewisse programmatische Affinität zu den parlamentarischen „verbandsnahen" Gruppen aufweisen; • über einen Informationsstand und ein Ausmaß von Sachkunde verfügen, ohne deren Nutzung parlamentarische Politikbearbeitung schwerlich auskommt;
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• auf gesellschaftlichen Konfliktfeldern Interessen aggregieren und organisieren, deren Ausgleich und Vermittlung für Politikakzeptanz und für Systemloyalität als notwendig erachtet werden; (Die unterschiedliche Politikvermittlungskompetenz der Verbände spiegelt sich demnach in der unterschiedlichen Interessenberücksichtigung durch das Parlament wider); • entsprechende Finanzmittel einsetzen können, um durch kostenaufwendige Öffentlichkeitsarbeit, Kongresse, Gutachten etc. sich mittelbar Einfluß zu verschaffen oder durch finanzielle Zuwendungen an Parteien und einzelne Abgeordnete in Form von „Wahlkampffonds" bis zur „Pflege der Bonner Landschaft" das unmittelbare Einflußpotential zu vergrößern. Wenn die ungleiche Ressourcenverteilung auf der verbandlichen Angebotsseite die ungleiche Interessenberücksichtigung auf der parlamentarischen Nachfrageseite erklärt, so darf dennoch eines nicht unterschlagen werden: die Machtressourcen begründen Einflußchancen. Ob und wie diese genutzt werden und ob sie tatsächlichen Einfluß bewirken, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Den tatsächlichen Einfluß von Verbänden auf parlamentarische Politikbearbeitung nachzuweisen ist ein schwieriges Unterfangen. Zwar gibt es eine Reihe von Fallstudien, die den Entstehungsprozeß von Gesetzen und die Verbandsmitwirkung rekonstruieren (Literaturhinweise bei Weßels: 1987, S. 297, Anm. 29). Insgesamt handelt es sich aber noch um ein weitgehend unbestelltes Forschungsfeld. Daß organisierte Interessen vermittels ihrer Machtressourcen tatsächlich auch Einfluß haben, scheint vor allem dann evident, wenn wir den Blick vom Verbandseinfluß auf konkrete Gesetzgebungsvorhaben weg und auf die allgemeine Funktionserfüllung des Parlaments richten. Hier zeitigt die oben dargestellte Ausgestaltung des Verhältnisses von Bundestag und organisierten Interessen strukturelle Folgen für die parlamentarische Interessen- und Politikvermittlung.
IV. Das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentsfunktionen und parlamentarischer Interessen- und Politikvermittlung Die Frage nach den Auswirkungen der Verbandsfärbung des Parlaments (interne Lobby) und der Pressure-Strategien (externe Lobby) auf die Parlamentsfunktionen stellt sich auf zwei Problemebenen: auf einer empirisch-praktischen Ebene der Aufgabenerfüllung des Bundestages als Organ der Interessen- und Politikvermittlung. Inwieweit tangieren die vom Parlament organisierten und die auf das Parlament einwirkenden gesellschaftlichen Interessen seine Funktionen • als Repräsentationsorgan • als Öffentlichkeitsorgan und schließlich • seine Stellung im Institutionengefüge des politischen Systems? Auf einer zweiten prognostischen Ebene führt die Ausgangsfrage jedoch über den empirischen Befund der parlamentarischen Aufgabenerfüllung hinaus. Das Parlament sieht sich im Spiegel gesellschaftlicher Interessen mit sozialen Konfliktfeldern und gesellschaftlichem Wandel konfrontiert. Es ist aber nicht nur Akteur, sondern auch Gegenstand von Wandel. Parlamentsreform ist so alt wie die Institution selbst (aktuell: § 11 V.) Auch wenn der Bundestag bislang - trotz mehrfacher Ansätze - die Kraft zur grundlegenden Selbstreform nicht aufbrachte , so führten ihn doch merkliche Korrekturen (wie z. B. die Kleine Parlamentsre-
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form von 1969, die Neufassung der Geschäftsordnung von 1980 und das Abgeordnetengesetz von 1976), aber auch ein schleichender Institutionenwandel an eine Wegmarkierung, die über die Zukunft des Parlamentarismus in Deutschland entscheidet. Das Parlament agiert nicht in einem politischen und sozialen Vakuum. Formell verbunden und informell vernetzt mit den exekutiven Einrichtungen, den Interessenorganisationen und politischen Parteien hängt, angesichts der technischen Aufrüstung dieser Einrichtungen, der Weg, den der Bundestag nehmen wird, maßgeblich davon ab, wie er mit den neuen Informations- und Kommunikationstechniken umgeht. Diese prägen nachhaltig das Bild des Bundestages als interessenvermittelndes Repräsentations- und als politikvermittelndes Öffentlichkeitsorgan im Rahmen eines technisch modernisierten Parlamentarismus. 1. Die Repräsentationsfunktion: Aushöhlung der politischen Repräsentation durch ungleiche soziale Interessenrepräsentation? Die politische Repräsentation gesellschaftlicher Interessen durch den Bundestag ist weder durch ein Honoratiorenparlament zu gewährleisten, noch setzt sie die maßstabsgetreue Abbildung der gesellschaftlichen Interessenlandschaft im parlamentarischen Sozialprofil voraus. Unbestritten bleibt jedoch, daß die politische Repräsentationsfunktion ihre Kraft aus der sozialen Repräsentation zieht. Diese bewegt sich zwischen zwei Polen: • der Repräsentation der Mehrheit auf der Grundlage des Mehrheitswahlrechts. Sie wirkt systemstabilisierend und outputorientiert. • der „proportionalen" Repräsentation auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts. Sie wirkt minderheitenfreundlich und ist inputorientiert. Das Sozialprofil des Parlaments verhält sich dann „zur Gesamtheit der Gesellschaft" ähnlich, „wie eine Landkarte zum Territorium" (Hofmann/Dreier: 1989, S. 181). Daß der Bundestag eher im Kraftfeld des ersten Pols steht, zeigt ein Blick auf das parlamentarische Sozialprofil (oben II.). Schaut man genauer hin, dann wird aber auch ein weiteres deutlich: Das Problem der ungleichen Interessenrepräsentation durch das Parlament reicht hinter die Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem zurück. Es ist unerheblich, ob nach Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht gewählt wird, wenn die zur Wahl stehenden Kandidaten selbst bereits vorselektierte organisierte Interessen repräsentieren und die Mitwirkung der einflußreichen Interessenorganisationen an der Kandidatenaufstellung nur eine weitere Auswahl aus den ausgewählten Interessen vornimmt. Diese doppelte Selektion von gesellschaftlichen Interessen, wie sie im Sozialprofil und in der Verbandsfärbung des Bundestages zum Ausdruck kommt, tangiert dessen politische Repräsentationsfunktion nicht erst dann, wenn das Parlament zu einer Institution mutiert, aus der „der Geist gewichen ist". Mit dieser Metapher von Max Weber läßt sich ein gesellschaftlicher Zustand des „passiven Anarchismus" angesichts von Institutionen erklären, deren „Versprechungen und Verheißungen (...) nicht mehr von den Einwohnern der Institutionen getragen, akzeptiert und ernst genommen (werden)" (Offe: 1990, S. 36), wie sie etwa für die ehemalige D D R kennzeichnend waren. Die Aushöhlung der politischen Repräsentationsfunktion beginnt schon im Vorfeld der politischen Entfremdung des Bürgers. Unter der Oberfläche einer allgemeinen, diffusen Zustimmungshaltung des Bürgers zum Parlament zeichnet sich eine bemerkenswerte Entwicklung ab.
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Der Bundestag verliert an Ansehen. Rund 60% der Bürger haben Ende der 80er Jahre eine schlechtere Meinung über den Bundestag als fünf Jahre zuvor (Wiedemeyer: 1991, S.l). Er gehört, zusammen mit Verwaltungsbehörden, Gewerkschaften, Berufsverbänden und Bürgerinitiativen, zu denjenigen Institutionen, in denen die Bürger ihre Anliegen am wenigsten vertreten sehen. Der Bundestag nimmt auf der Rangskala von „interessierten Repräsentationseinrichtungen" nur einen schlechten Mittelplatz ein (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 54f.), obgleich er das oberste staatliche Repräsentationsorgan darstellt - das „Gravitationszentrum des Verfassungsstaates" (Hofmann/Dreier: 1989, S. 177). Zwar löst das „Sozialprofil" des Bundestages in der Bevölkerung kaum Emotionen aus. Aber: Die Bürger und vor allem diejenigen, die sich vom Parlament nicht vertreten fühlen, wollen einen sozialstrukturell anders zusammengesetzten Bundestag. Sie votieren in ihrer Mehrheit nicht für eine Art „Ständeparlament", nur ein Viertel der Wähler wünscht sich seinesgleichen im Bundestag. Aber die regionale Herkunft und Schichtzugehörigkeit der Abgeordneten sind wichtige Kriterien für eine Kandidatenrekrutierung, die den Wählervorstellungen entspricht. Vor allem Arbeiter sprechen sich für eine verbesserte Repräsentation ihrer sozialen Schicht im Bundestag aus (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 56ff). Die in den Mängeln sozialer Repräsentation wurzelnde Distanz zum Bundestag ist empirisch belegt und wird auch auf Abgeordnetenseite als Problem erkannt. Die Abgeordneten suchen verstärkt den persönlichen Kontakt zum Wähler. Die Wahlkreisarbeit hat für sie einen hohen Stellenwert (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 20ff.), ohne allerdings die strukturell angelegten Defizite der Interessenrepräsentation durch das Parlament ausräumen zu können. Jede Überlegung, die im Parlament selbst und nicht an der Art und Weise, wie es zustandekommt, ansetzt, greift zu kurz. Dies gilt gerade auch für die an die Einführung neuer Informations- und Kommunikationstechniken (i.e. § 11 V.; § 10 VIII.) geknüpften Erwartungen, die Information der Abgeordneten und die Kommunikation mit dem Bürger zu verbessern. Unter bestimmten Rahmenbedingungen (Lange, H.-J.: 1988, S. 146ff.) könnte die technische Aufrüstung der Abgeordnetenbüros die Informationsbasis des Abgeordneten gegenüber Regierung und Ministerialbürokratie stärken, kaum jedoch die politische Kommunikation mit sozial unter- oder nicht repräsentierten Gruppen verbessern. In der Informatisierung des Bundestages liegt perspektivisch keine „technische" Lösung des Repräsentationsproblems, wohl aber „langfristig die totale Technisierung der Politik. Der Volksvertreter, der seinen Wählern aus Gründen der Effektivität nur noch elektronisch präsent ist, der die Sorgen und Nöte seiner Wähler (sowie sie ihn .gefiltert' erreichen) mit aufwendigen Analyseprogrammen interpretiert und dann errechnet bekommt, was politisch relevant ist" (Lange, H.-J.: 1987b, S. 176), gehört nicht mehr in die Sparte der politischen Science-Fiction. Im Unterschied zur technischen Modernisierung der Interessen- und Politikvermittlung durch das Parlament mit gleichwohl weitreichenden politisch-strukturellen Folgen, setzen politisch-strukturelle Lösungsangebote auf die Möglichkeiten der neuen Techniken. Das maßgebliche Kennzeichnen für technikgestützte Strukturreformen ist der Primat politischer Ziele. Im Anschluß an Toffler (: 1980, S. 428ff.) wird es für die Stärkung der Repräsentationsfunktion des Parlaments auf drei politische Prinzipien ankommen:
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(1) den Einfluß von minoritären gesellschaftlichen Interessen auf parlamentarische Politikbearbeitung zu gewährleisten. In einer hochgradig differenzierten und stratifizierten Gesellschaft setzt dies nicht nur neue Formen der Interessenaggregierung und -Vermittlung voraus, sondern auch neue Formen ihres parlamentarischen Zugangs; (2) diese neuen Zugangsformen durch die Delegation eines repräsentativen Samples der Bevölkerung in das Parlament zu etablieren. Dieses würde sich dann je zur Hälfte aus gewählten politischen und aus delegierten sozialen Repräsentanten zusammensetzen. Die Kombination von direkten und repräsentativen Elementen bei der sozialstrukturellen Zusammensetzung des Parlaments würde nicht nur das parlamentarische Sozialprofil verändern und die „Verbandsfärbung" ausgleichen. Sie würde auch die Einflußpotentiale von herrschenden Pressure-Strategien schmälern, teilweise zurückverlagern an die betroffenen Wähler und damit (3) den Weg freimachen für eine Aufteilung von Entscheidungszuständigkeiten; denn auch die bestens ausgestattete Datenbank des Bundestages könnte ein Problem nicht lösen: die prinzipielle Beschränkung der Informationsverarbeitungskapazität von Entscheidungsträgern. Die politisch Verantwortlichen im allgemeinen und die Abgeordneten im besonderen sind der Implosion von Entscheidungsprozessen nicht mehr gewachsen. Der Ausweg könnte in der technisch ermöglichten Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen unter weitgehender Mitwirkung der Entscheidungsbetroffenen liegen - ein Weg, der bislang ohne politisch-strukturelles Gegenstück - im Bereich der industriellen Produktion bereits beschritten wird. Über die Toffler'sche Konzeption einer semi-direkten Demokratie als Grundlage für die reformierte Interessenrepräsentation durch das Parlament läßt sich trefflich streiten. Skepsis ist vor allem gegenüber einer elektronischen Abstimmungsdemokratie angebracht. Die durch die IuK-Techniken ermöglichte und nach „Abkühlungsphasen" (in denen die emotionale Überfrachtung eines Themas sich abbaut) wiederholte Abstimmung über Referenden verkörpert jedoch nur ein Instrument dieser Konzeption. Denkbar wäre auch, die mit einem konkreten Mandat versehenen Repräsentanten stimmberechtigt in das Parlament zu entsenden. Wenn sie dort 10 oder 20% der Stimmen als Paket hielten, wäre die Entscheidung der gewählten Abgeordneten mit diesem Referendumsblock konfrontiert. Wie auch immer die Reform der Repräsentationsfunktion des Parlaments im Detail aussehen mag, der sicherlich nicht im Ganzen zu adaptierende Ansatz von Toffler hat einen entscheidenden Vorteil: Er bemüht politische Phantasie und sucht nach deren technischen Realisierungschancen. Er sprengt die Grenzen von Ansätzen einer Technikfolgen-Abschätzung, die unterschwellig einem TechnikDeterminismus verhaftet bleibt und sich in spekulativen Detailstudien verliert. Und schließlich trägt er der Tatsache Rechnung, daß die technische Modernisierung des Parlaments seine politische Reform nicht ersetzen kann.
2. Die Öffentlichkeitsfunktion: Parlamentsöffentlichkeit versus neue „Arkanhaltung" Politische Repräsentation von gesellschaftlichen Interessen und die parlamentarische Politikvermittlung wurden oben als Aufgaben für parlamentarisch organi-
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sierte politische Kommunikation definiert. Der Bundestag erfüllt diese Aufgabe im Rahmen seiner Öffentlichkeitsfunktion. Das Verhältnis des Bundestages zur Öffentlichkeit gilt als Achillesverse des bundesdeutschen Parlamentarismus. Es gerät einem Parlament, dem man nachsagt, in Bonn bleibe nichts geheim, außer es geschehe im Bundestag, immer wieder zu Kritik. Dabei sind es vor allem zwei Punkte, an denen selbst die Würdigung des Bundestages im Rahmen einer Podiumsdiskussion zur 40-Jahr-Feier nicht vorbei gekommen ist (Porzner/Oberreuter/Thaysen: 1990, S. 50ff.): • die parlamentarische Politikbearbeitung in den „Dunkelkammern" der Ausschüsse (Loewenberg: 1990, S. 61; näheres § 10 III.) • die Mängel der Debatte als zentralem Kommunikationsmedium (Johnson: 1990, S. 64ff.). Die Abgeordneten selbst beklagen, „zu wenig Zeit für Kontakte mit der Öffentlichkeit zu haben, obwohl dieser Tätigkeitsbereich ohnehin den bereits größten Teil ihres Zeitbudgets ausmacht" (Herzog/RebenstorfAVernerAVeßels: 1990, S. 90). Aber es liegt eben nicht allein an den Abgeordneten, sondern an den Strukturmängeln der Verhandlungsöffentlichkeit, wie sie in ihren institutionellen Grundlagen, der Sitzungsöffentlichkeit und Parlamentsberichterstattung, zu Tage treten (dazu Kißler: 1989, S. 1001ff.). Das Ergebnis ist ein zwar fleißiges, aber unscheinbares Parlament. Der im Lichte der Verhandlungsöffentlichkeit sichtbar werdende Teil seiner Tätigkeit gleicht der Spitze des Eisberges. Aber selbst diese wird nicht ins rechte Licht gesetzt. Wenn die eigentlichen Schauplätze der parlamentarischen Politikbearbeitung abgedunkelt bleiben und das Plenum des Bundestages kaum ein Ort politischer Kommunikation darstellt, dann ist dies die Folge einer parlamentsinternen Herrschaftsstruktur, an der die Organisation gesellschaftlicher Interessen durch das Parlament, die eingebaute Lobby, maßgeblichen Anteil hat. Die Verbandsvertreter machen, neben den Führungsgruppen (Fraktionsführung, Ältestenrat) und den „Hinterbänklern", eine gewichtige Gruppe im Bundestag aus. Das zentrale parlamentarische Medium der Politikvermittlung ist die Debatte. Mit der Art und Weise, wie im Bundestag debattiert wird, sind auch die Abgeordneten in hohem Maße unzufrieden (Belege bei Rose/Hoffmann-Göttig: 1982, S. 66). Sie spüren, daß der herrschende Debattenstil die Öffentlichkeitswirkung ihres Tuns erheblich einschränkt. Wer prägt den Debattenstil? Stilprägend für die Arbeit des Bundestages sind die Berufspolitiker. Das Mandat als Beruf zu betreiben, entspricht heute der Vorstellung der meisten Abgeordneten (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 96) und ist das Ergebnis einer gewachsenen Professionalisierung der Parlamentsarbeit. Die dem Berufspolitiker zugeschriebene Managerauffassung von Politik und ein gruppenspezifischer Korpsgeist führen zu forcierter Arbeitsteilung, Bürokratisierung und Hierarchisierung des parlamentarischen Prozesses. Dominanz des Sachverstandes, Ablösung des Rhetorikers durch den Experten sowie das „Redemonopol" in den Fraktionsführungsgruppen bei wichtigen Debatten sind die Folgen. Verwurzelt in der deutschen Parlamentstradition nährt der Korpsgeist die Tendenz zur entpolitisierten, nur noch bei spektakulären Gesetzgebungsvorhaben kontroversen Debatte. Im Debattenalltag jedoch wird der Plenarsaal zum Ort, wo sich Experten aus Verbänden und Berufspolitiker zur
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Aussprache vor leeren Bänken treffen. Im Plenum des Bundestages spiegelt sich demnach die zunehmende Arbeitsteilung, Spezialisierung und Verwissenschaftlichung von Politik in den Ministerialbürokratien und in den großen Interessenorganisationen wider. „Wenn der Bundestag dieser Entwicklung nicht nacheiferte" - so wird rechtfertigend argumentiert - „würde er immer mehr die Fähigkeit verlieren, sich unabhängig von den Ministerien und privaten Interessengruppen ein Urteil zu bilden" (Loewenberg: 1990, S. 62). Ob diese Fähigkeit noch verlorengehen kann, darf in Anbetracht des oben dargelegten eingebauten Lobbyismus und des institutionell abgesicherten und informellen Einflußpotentials mächtiger Interessenverbände bezweifelt werden. Die Expertenmacht im Parlament hat für die Parlamentsöffentlichkeit ihren Preis: Im „Schichtwechsel" der Experten (Schneider, H.-P.: 1980, S. 32) verkommt die parlamentarische Debatte zum inszenierten Auftritt, der mit eingeübtem Rollenspiel Spontaneität und Improvisation erstickt und den politischen Gehalt der Ausführungen auf ihren publizistischen Wert reduziert. Die Art und Weise, wie im Bundestag debattiert wird, ist jedoch nur ein Symptom für jene grundlegende Entwicklung, an der die Verbandsmitwirkung am parlamentarischen Prozeß Anteil hat und die zum Verlust des Subjekts von Parlamentsöffentlichkeit führt, nämlich der Opposition. Mit der historischen Verschiebung der politischen Konfliktlinie, die einst zwischen Gesamtparlament und Regierung verlief, in das Parlament hinein, ging die Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion maßgeblich von der regierungsstützenden parlamentarischen Mehrheit auf die parlamentarische Minderheit über. Die Opposition wurde zum Subjekt der Parlamentsöffentlichkeit. Ihre Aufgabe besteht in der Umsetzung von Kontrollöffentlichkeit in politische Kommunikation (Kißler: 1989, S. 1006ff.). In der Praxis der Politikbearbeitung im Parlament und vorparlamentarischen Raum wird die Opposition jedoch weitgehend eingebunden. Wenn nur zwei Mal in 40 Jahren die relative Mehrheit im Bundestag durch freie Wahlen wechselte, dann mag dies das Bestreben der Opposition erklären, hinter verschlossenen Türen „mitzuregieren". Die Grundlage der Integration der parlamentarischen Opposition ist jedoch in der Dominanz des Sachverstandes in Politikbearbeitungsprozessen zu suchen, die zur Domäne von Experten aus Ministerialbürokratien, Interessenvertretern, Regierungs- und Oppositionsfraktionen geworden sind. Deshalb wird die Mehrzahl der Gesetze (in manchen Legislaturperioden über 90%) von den beiden großen Fraktionen, bei einigen Enthaltungen und Gegenstimmen angenommen (von Beyme: 1989, S. 113). Das publizitätsfeindliche „Mitregieren der Opposition" wurde auch nicht durch die partielle Wiederbelebung der Kontrollöffentlichkeit durch die Fraktion der G R Ü N E N außer Kraft gesetzt. Zurück bleibt der Eindruck von einer „obskuren Zusammenarbeit" (Loewenberg: 1990, S. 63) zwischen politischen und Verbandseliten, die das Subjekt der Parlamentsöffentlichkeit neutralisiert. Mit den neuen IuK-Medien kommt, wie bei der Repräsentationsfunktion, auch für die Behebung von Mängeln der parlamentarischen Politikvermittlung, scheinbar eine technische Lösung in Sicht. Die neuen Medien könnten den Abgeordneten von Alltagsroutinen entlasten und ihn für seine Öffentlichkeitsaufgabe freimachen. Entscheidend jedoch ist, wozu der Abgeordnete seinen verbesserten Informationshaushalt einsetzt: für die kompetentere und noch fleißigere Arbeit in den
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Arkanbereichen der Ausschüsse und Fraktionen oder für eine Schärfung der Kontroll- und Informationsinstrumente im Plenum. Zieht man in Betracht, daß • die Abgeordneten ihr Tätigkeitsfeld weniger im Plenum, als vielmehr in den Ausschüssen sehen, • dieses herrschende Selbstverständnis auch das Verständnis der großen Gruppe von Verbandsvertretern ausmacht, deren Domäne naturgemäß die Ausschußarbeit darstellt und schließlich • die parlamentarischen Karrierewege nicht durch das Plenum, sondern durch die Ausschüsse führen, dann liegen die Folgen der Informatisierung des Bundestages auf der Hand. Sie schreibt die Rolle des Ausschußexperten als Normalrolle des Abgeordneten fest und verstärkt die in der „Verbandsfärbung" angelegte Tendenz zum publizitätsfeindlichen Expertenparlament. In ihrer Entwicklungslogik ließe sich dann auch die Debatte durch Computerkonferenzen ersetzen. Die „Architektur" des elektronischen Parlaments sieht das Plenum als Ort politischer Kommunikation nicht mehr vor.
3. Strukturelle Entmachtung des Parlaments durch Gouvernementalisierung der Interessenvermittlung? Die politisch angelegten und technisch verstärkten Strukturdefizite der politischen Interessenrepräsentation und parlamentarischen Politikvermittlung werden mitverursacht durch die formelle und informelle Mitwirkung der Interessenorganisationen. Sie zeitigen Folgen für die Stellung des Bundestages im politischen System. Diese wird, wie am Beispiel der Verbandsmitwirkung bei der Gesetzgebung gezeigt werden kann, markiert von zwei Trends: erstens durch die Gouvernementalisierung der Interessenvermittlung und zweitens durch die dadurch verschärfte strukturelle Entmachtung des Parlaments. Die offenkundigen Schwächen der parlamentarischen Interessenrepräsentation „kompensieren" die Interessenorganisationen dadurch, daß sie ihre Interessen zunehmend am Parlament vorbei vermitteln. Ihre bevorzugten Kooperationspartner und Kontaktpersonen finden sich in den Ministerien. Im Parlament wird dann „nachgebessert", was im vorparlamentarischen Interessenclearing nicht erreicht werden konnte. Darüberhinaus nutzen vor allem solche Interessenorganisationen, denen ein privilegierter Zugang zur Ministerialbürokratie fehlt, die oben dargelegten institutionalisierten Kanäle und informellen Kommunikationsbeziehungen. Die mächtigen Interessenorganisationen sind eingebunden in eine symbiotische Verklammerung mit den staatlichen Einrichtungen, die neo-korporatistische Züge trägt und ein wirkungsvolles Agieren am Parlament und selbst an den politischen Parteien vorbei erlaubt: „Die Großverbände sind selbstbewußte Kooperationspartner des Staates geworden, die aus der Rolle des Bittstellers in der Lobby des Parlaments herausgewachsen sind. Parlament und Parteien werden für manche Interaktion zwischen Exekutive und organisierten Interessen kaum mehr benötigt" (von Alemann: 1990, S. 108). Die gouvernementalisierte Interessenvermittlung durch die großen Interessenverbände paralysiert das Parlament auf seinem originären Feld: der Gesetzgebung. Zwar muß nach wie vor jedes Gesetz formell durch das Parlament hin-
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durch. Die Gouvernementalisierung der Interessen Vermittlung garantiert jedoch nicht nur eine geräuschlose Passage durch den parlamentarischen Prozeß. Sie deckt auch den Machtverlust des Parlaments schonungslos auf. Über Macht, verstanden als Definitionsmacht in Regelproduktionsprozessen (Burns/Flam: 1987), verfügen die Abgeordneten (auch die Interessenvertreter) im Parlament nur noch rudimentär. Die möglichen Alternativen zum Gesetzentwurf, wie er in das Parlament eingebracht wird, sind im Vorfeld ausgeräumt; denn jede grundlegende Änderung der Gesetzesvorlage im Parlament würde den schwierigen Interessenkompromiß gefährden. „So schrumpft die Rolle des Parlaments von der des nahezu unumschränkten Gesetzesschöpfers in der Praxis zur rechtlich unentbehrlichen Legitimation bereits getroffener Entscheidungen Anderer. Zu diesen Anderen zählen ganz wesentlich auch die Verbände organisierten Interesses" (Steinberg: 1989, S. 249). Der Bundestag wird demnach nicht überflüssig, sondern zu einer Gesetzgebungsmaschinerie, mit der „16 Gesetze in Anwesenheit von 12 stimmberechtigten Abgeordneten in 7 oder 8 Minuten in zweiter und dritter Lesung zur Verabschiedung" gebracht werden (Ellwein: 1990, S. 178; §5 V.; § 11 II.). Reformvorstellungen, die auf eine Straffung des Gesetzgebungsprozesses abheben und dabei den vorparlamentarischen Bereich der Gesetzesvorbereitung außer Acht lassen, greifen jedoch zu kurz. Die strukturelle Entmachtung des Parlaments als Gesetzgebungsorgan ist die Folge eines Interessenvermittlungssystems, das die politische Kommunikation zwischen Verbands- und Exekutiveliten kurzschließt. Parlamentsreform, die den Bundestag in das Zentrum des Politikbearbeitungsprozesses rücken möchte, muß deshalb • die Selektions- und innerorganisatorischen Filtermechanismen der Interessenverbände so verändern, daß ein breiteres Spektrum von gesellschaftlichen Interessen erfaßt und politisch vermittelt werden kann; • die politische Repräsentation von gesellschaftlichen Interessen und die parlamentarische Politikvermittlung in die Gesellschaft hinein durch den Ausbau von Minderheitenrechten und die Stärkung der Abgeordnetenposition verbessern. Parlamentsreform meint deshalb Selbst-Reform des Bundestages, aber auch Verbändereform. In Anbetracht des dargelegten Verbandseinflusses muß jedoch bezweifelt werden, ob der Bundestag hierfür die Kraft aufbringt. Verstärken wird sich eher die „Neigung zu parlamentarischem Eskapismus (...), eine gewisse Mutlosigkeit dieser Institution und ihrer Mitglieder, sobald es um das Parlament selbst, sobald es um Prinzipien des Parlamentarismus geht. (...) Eine Neigung zur Preisgabe von Parlamentarismus, schon bevor es zur zumindest nicht auszuschließenden Probe kommt" (Thaysen: 1990, S. 77). Aber stehen das Parlament und das System, dem es seinen Namen gibt, nicht längst auf der Probe angesichts der enormen parlamentarischen Gestaltungsaufgaben, die der wissenschaftlich-technische Umbruch der Gesellschaft mit sich bringt? Kommt dieser doch scheinbar unaufhaltsam, weil auf den leisen Sohlen des „Unpolitischen" daher.
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§ 14 Bürgerbewegungen und Parlament Wolfgang Ulimann I. Grenzen der Repräsentation. - II. Bürgerbewegungen: Begriff, Struktur, Praxis. - III. Wahlrecht und Wahlpraxis. - IV. Bürgerbewegungen und Parlament. V. Bürgerbewegungen und Verfassung. Grundlagenliteratur Arendt, Hannah (dt. 1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1991): Staat, Verfassung, Demokratie. Frankfurt/M. Dutschke, Rudi (1981): Mein langer Marsch. Hamburg. Guggenberger, Bernd (1984): „Die neue Macht der Minderheit". In: Ders. / Offe, Claus (Hg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Opladen, S. 207ff. Ders. / Preuß, Ulrich K. / Ulimann, Wolfgang (1991): Eine Verfassung für Deutschland. München. Hintze, Otto (1911/1962): „Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung". In: Ders., Staat und Verfassung. Göttingen, S. 117ff. Langer, Jaroslav (1988): Grenzen der Herrschaft. Opladen. Preuß, Ulrich K. (1990): „Staatstheorie und Risikobegriff". In: Schäffer, Roland (Hg.), Ist die technisch-wissenschaftliche Zukunft demokratisch beherrschbar?. Bonn, S. 107ff. Thaysen, Uwe (1990): Der Runde Tisch oder: Wo blieb das Volk?. Opladen. Ulimann, Wolfgang (1992): Verfassung und Parlament. Berlin. Wassmuth, Ulrike (Hg.) (1989): Alternativen zur alten Politik. Darmstadt.
I. Grenzen der Repräsentation 1. Außerparlamentarische Artikulation gesellschaftlicher Selbstorganisation Das Parlament ist die Mutter der Parteien. Woher aber kommen die Bürgerbewegungen? An wen wenden sie sich, und welchen Zielen streben sie zu? Die parlamentarische Debatte vollzog sich niemals nur zwischen Regierung und Opposition. Seit den englischen Anfängen des Parlamentarismus gibt es Whigs und Tones, Fraktionen, die unterschiedliche politische Positionen gegenüber der Regierung und gegeneinander vertreten. Die Dynamisierung der Gesellschaft nach 1789 führte zwangsläufig dazu, daß die innerparlamentarischen Fraktionen Brückenköpfe der außerhalb des Parlamentes um die staatliche Macht ringenden liberalen, konservativen und revolutionären Parteien wurden. Bürgerbewegungen dagegen entstehen schon in der Gesellschaft und agieren auch dort. Was liegt näher, als ihr Wesen von dieser Genetik her, und das heißt zunächst, negativ zu bestimmen als außerparlamentarisches und unparlamentari-
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sches Signal von Betroffenheiten, von Bürger- und Bürgerinneninteressen, die von Parlamenten und Parteien nicht angemessen beachtet und politisch zum Zuge gebracht worden sind. Was liegt im Rahmen einer solchen Sichtweise näher, als das politologische Thema der Bürgerbewegungen abzuhandeln als die Frage nach dem Umgang mit Minderheiten im System der von der Mehrheit beherrschten repräsentativen Demokratie? Dagegen ist gewiß nichts einzuwenden, wenn nur eines von vornherein klargestellt ist: Die Bürgerbewegungen sind nicht richtig verstanden, wenn man in ihnen lediglich ein Mangel- oder Krisensymptom innerhalb des Systems der repräsentativen bzw. der Mehrheitsdemokratie sieht. Es kommt vielmehr darauf an klarzustellen: Die Bürgerbewegungen sind ein Anzeichen dafür, daß in unserer Gesellschaft Bereiche sich politisch zu artikulieren beginnen, die jenseits der Organisationsmöglichkeiten der Repräsentation liegen. Historisch tritt dies in der hier behaupteten politischen Tragweite erstmals in den Soldaten- und Arbeiterräten in der Schlußphase des ersten Weltkrieges in Erscheinung. Man darf sich nicht täuschen lassen: Die Tatsache, daß die kommunistischen Parteien in Rußland und Deutschland die Soldaten- und Arbeiterräte als Vehikel ihrer Machtergreifung zu benutzen suchten und sie schließlich auch nutzen konnten, bedeutet keineswegs, daß die Entstehung dieser Räte interpretierbar wäre im Sinne der marxistischen Klassenkampftheorie. Schon die Tatsache, daß sie nicht allein aus Vertretern der Arbeiterklasse bestanden, sondern ohne die Initiativen der Soldaten gar nicht erst zustandegekommen wären, zeigt an, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelt als um Institutionen der Klassenrepräsentation. Die Soldaten- und Arbeiterräte waren vielmehr die politisch wirksame Selbstorganisation einer aus dem bisherigen sozio-politischen Kontext dissoziierten Gruppe. Es ging dabei ganz gewiß nicht um „menschenrechtliche Emphatik" (Böckenförde: 1991), sondern darum, daß für die betroffenen Soldaten und Arbeiter die bisherigen Fronten jeden Sinn verloren hatten. Ihre gesellschaftliche und persönliche Situation hatte sehr viel mehr mit den Soldaten und Arbeitern auf der anderen Seite der Fronten gemeinsam als mit der der gegeneinander kämpfenden nationalen Mächte - eine Einebnung traditioneller Fronten, die von den mittlerweile erreichten Dimensionen der Materialschlacht selbst bewirkt war. Ganz ähnlich die Ökologie-, Friedens- und Menschenrechtsinitiativen seit dem Ende der 60er Jahre. In jedem Fall ist es eine lokal und temporal identifizierbare Dissoziation gegenüber einem bis dahin fraglos wirksamen Kontext und Konsens, der zur gesellschaftlichen Selbstorganisation führt, jenseits von und ungeachtet parlamentarischer Mehrheiten und Minderheiten. Beide Grundbegriffe der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie werden durch die Bürgerbewegungen auch deswegen relativiert, weil diese, oft zahlenmäßig äußerst geringfügig, eine öffentliche Resonanz erzielen, die in keiner Proportion zu dieser Geringfügigkeit steht. Dieses Phänomen der proportionslosen Resonanz dokumentiert denn auch, daß Bürgerbewegungen etwas anderes sind als lediglich Wortmeldungen einer nichtrepräsentatierten Minderheit. Sie sind Selbstorganisation des im Gefüge einer funktionierenden Repräsentationsganzheit nicht Repräsentierbaren, von etwas, das nicht etwa wegen politischer Gegnerschaft nicht repräsentiert werden kann, sondern einfach weil es jenseits der Grenzen dieser Ganzheit liegt.
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Ist es doch Konsens der Historiker, daß das Repräsentativsystem unserer parlamentarischen Tradition das Ergebnis einer Entwicklung von Körperschaftsstrukturen und Körperschaftsrechten ist, wie sie nur unter christlichen Voraussetzungen möglich war (s.a. § 1 II.). Bedurfte es dafür doch als wichtigster Voraussetzung der Autonomie, die die Kirche als Körperschaft seit dem 11. Jahrhundert für sich durchsetzen konnte, aber nicht ohne damit ein Paradigma zu liefern für zahlreiche andere Körperschaften, die in ihrem Umkreis und oft gegen sie entstanden. Gemeinsam war all diesen Körperschaften, daß sie selbst gegen andere ihresgleichen Selbständigkeit in Anspruch nahmen, nicht mehr bereit waren, sich einer kosmischen Organologie einzugliedern, dennoch aber in sich selbst eine Teil-Ganzes-Struktur ausbildeten, in der sehr wohl ein Teil das Ganze repräsentieren konnte. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine weit verbreitete Gemeinüberzeugung der Demokratietheorie zu korrigieren. Seit C. Schmitts Verfassungslehre hat man sich angewöhnt, Repräsentation als Gegenbegriff gegen Identität zu verwenden. Bürgerbewegungen kämen dann in der Rolle des rechtsstaatlich nicht unbedenklichen Versuchs zu stehen, Repräsentation durch die Identität von Regierenden und Regierten ersetzen zu wollen. Die Unrichtigkeit dieser Annahme kann am Begriff der Identität verdeutlicht werden. Versteht man Identität im Rahmen der logischen Zuordnung von Allgemeinem und Besonderem, dann repräsentiert jedes unter den Allgemeinbegriff fallende Besondere dieses Allgemeine. Versteht man Identität ontologisch im Sinne der Idee, dann wird diese von allem durch die an ihr Partizipierendem repräsentiert. Von ganz etwas anderem geht die politische Repräsentation aus. Sie hat notwendigerweise zum Inhalt einen Vorgang der Autoritätstranslation samt einer darin implizierten Delegation von Rechten. Sie setzt also ganz besondere Verfahrensstrukturen voraus, die solche Translationen und Delegationen allererst ermöglichen. Abermals ist es das Körperschaftsrecht der Kirche, welches hier paradigmatisch wirksam geworden ist und darum noch heute die institutionellen und strukturellen Sachverhalte am instruktivsten klarzustellen vermag. Zu korrigieren ist dabei die in der Literatur immer wieder nachgesprochene Meinung, der bei Tertullianus, De ieiunio 13 erstmalig auftretende Terminus „repraesentatio" sei zugleich die älteste Dokumentation einer Art von Repräsentativverfassung (Hintze: 1911/1962, S. 145). Tertullianus spricht an dieser Stelle aber lediglich vom gemeinsamen Handeln verschiedener griechischer Synoden, in denen sich das Wesen christlichen Lebens (totum nomen Christianum) durch Vereinigung und gemeinsamen Handlungsvollzug manifestiert habe. Um ganz etwas anderes aber handelt es sich bei dem Versuch des Konziliarismus nach 1415, der lateinischen Kirche eine Repräsentativverfassung zu geben, indem die oberste Autorität der Kirche an das Konzil übertragen wurde, welches laut Dekret vom 30.3.1415 die ganze Kirche repräsentierte. Wie allgemein bekannt, ist dieser Versuch gescheitert. Die oberste Autorität der lateinischen Kirche war seit 1100 notorisch die des Papstes in Rom, und sie erwies sich als nicht transferierbar, so daß noch das 1. und das 2. Vatikanische Konzil in ihren dogmatischen Aussagen über die Kirche vom nichtrepräsentativen Charakter des Petrusamtes als einer unmittelbaren, unwiderruflichen und unübertragbaren Institution Christi ausgegangen sind.
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Das Gegenbeispiel der Französischen Revolution drängt sich unmittelbar auf. Hier gelingt die Übertragung von Souveränität und höchster Autorität vom Königtum auf den Dritten Stand, weil die politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht des 3. Standes die Gesellschaft so weit dominierte, daß die Staatsordnung des Ancien Régime ihr weichen mußte. Es ist insofern zutreffend, wenn 1789 als das Durchbruchsdatum der klassischen Repräsentativverfassung gilt. Denn die Französische Revolution ist es, die - anders als die einzelnen Elemente der Repräsentation im vorrevolutionären Europa - die neue, nationale Demokratie als eine der Grundstruktur und dem Wesen nach repräsentative Verfassung durchgesetzt hat. Hierin unterscheidet sie sich auch grundsätzlich von ihrer Vorgängerin und Mitveranlasserin, der Amerikanischen Revolution 1775-1783, die vielleicht, folgt man Peter Smith's Darstellung derselben (Smith: 1976), dann wohl das historisch wirksamste Paradigma für das aufgestellt hat, was wir hier Grenzen der Repräsentation genannt haben. Als der Stamp Act von 1765 (Sondersteuer, die von den Bewohnern der englischen Kolonien in Nordamerika erhoben werden sollte, F. P. Smith 1976 I., S. 189ff.) die Gegensätze der wirtschaftlichen Interessen zwischen Mutterland und Kolonien einmal ans Licht gebracht hatte, begann jene Entwicklung, die von der englischen Politik während des Revolutionskrieges gerade durch deren Erfolge eher intensiviert als bekämpft oder gar besiegt wurde: Die Kolonien waren - auch wenn die konservativen Anhänger der Krone, die sogenannten amerikanischen Tories, das zu bestreiten versuchten - durch Monarchie und Parlament Englands nicht mehr repräsentierbar. So gesehen erscheint es nicht weniger als zufällig, wenn die Präambel der US-Verfassung (abgedruckt bei Franz: 31975, S. lOff.) nicht das Prinzip der Repräsentation aufruft, sondern in der verfassunggebenden Gewalt derer, die von sich sagen „Wir das Volk der Vereinigten Staaten", aktuell die Teilung der Staatsgewalten vollzieht. Man muß mehr als ein bloßes Wortspiel in der Tatsache sehen, daß der Satz „Wir sind das Volk" zum Inbegriff der Opposition gegen die Herrschaft einer Partei werden konnte, die unter dem Vorwand, Repräsentantin der Arbeiterklasse zu sein, ein Monopol auf die politische Macht beanspruchte. Im 5. Abschnit dieser Darlegungen soll die Frage nach dem Verhältnis von Bürgerbewegung und Repräsentativverfassung eigens thematisiert werden. An dieser Stelle beschränken wir uns darauf, unsere Argumentation unter dem Gesichtspunkt der prinzipiellen Grenzen von politischer Repräsentation zusammenzufassen. Nicht Repräsentation oder Identität, Basis oder politischer Überbau stehen sich gegenüber, sondern Repräsentation in traditionellen Institutionen oder Selbstorganisation physisch oder sozial dissoziierter Segmente der Gesellschaft. Dabei darf nicht angenommen werden, solche Dissoziation müsse immer auf nicht delegierbaren Notständen beruhen. Es kann sich ebensooft um ein irgendwann die politische Herrschaftssphäre tangierendes geschichtliches Anderssein handeln wie das der amerikanischen Kolonien oder der 1968er Studentengeneration, welches Grenzen der Repräsentation sichtbar werden läßt. Die Alternative, die an dieser Stelle auftritt, ist nicht ohne politische Tragweite. Denn entweder wird an einer solchen Grenze ein Ausnahmezustand konstatiert, der eine Begrenzung der Demokratie oder gar ihre Suspension in Diktatur rechtfertigt, oder die Wirklichkeit der Demokratie und damit ihr Begriff werden so erweitert, daß zur Repräsentation jene politische Selbstorganisation tritt, die als Präsentation und Manifestation des bzw. der Nichtrepräsentierten die Repräsentation herausfordern, komplettieren und damit ganz neu legitimieren kann.
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2. Grenzen des Wachstums und Determinismus der Akkumulation Häufig kann man den Einwand hören, der Gebrauch des Begriffes der Selbstorganisation in den Human Wissenschaften, sei, wenn er nicht rein metaphorisch gemeint sei, ein methodisch unerlaubter Physikalismus. Aber diese Einrede verkennt zweierlei. Auch wer die Einführung von „checks and balances" als einen Eckwert der Demokratietheorie behauptet, bedient sich, meist ohne es selbst zu bemerken, physikalischer Vorstellungen, die in diesem Fall der mechanistischen Physik Newtons entstammen, in höchst angemessener Weise. Ist doch das Entstehungszeitalter dieser Physik zugleich das Zeitalter der „Großen Mächte" (Ranke). Warum also sollte die politische Philosophie dieser Zeit sich nicht der Termini einer ihr so kongenialen Physik bedienen? Nichts anderes tun wir, wenn wir von Selbstorganisation sprechen. Wir bedienen uns dabei nur der Sprache heutiger Physik, sofern diese aufgehört hat, den Mechanismus von Druck und Stoß starrer Körper als Basis allen Weltgeschehens vorauszusetzen. Die Physik des Komplexen (Nicolis/Prigogine: 1987) tut das Gleiche, was von der anderen Seite Saint-Simon intendierte, als er die Soziologie als „politische Physik" definierte: Einen Begriff von Geschehenszusammenhängen einzuführen, der so reich und differenziert ist, daß er auch im Physikalischen den reduktionistischen Mechanismus hinter sich läßt, in den Humanwissenschaften aber deren Abgleiten in Subjektivismus und Moralismus ausschließt. Für die Frage der prinzipiellen Grenzen von Repräsentation ist es wichtig, sich klarzumachen, daß das Funktionieren der Repräsentation genau das voraussetzt, was die Physik des Komplexen „konservative Systeme" nennt. Wir dagegen, die wir uns die Grenzen der Repräsentation bewußt machen wollen, sind genötigt, die Gesellschaft nicht als ein konservatives, sondern als ein dissipatives System zu betrachten. „Die Entwicklung eines derartigen Systems besteht in einem Wechselspiel zwischen dem Verhalten seiner Akteure und den durch die Umwelt auferlegten Zwängen. Gerade hier findet das menschliche System zu seiner einmaligen Spezifik. Im Gegensatz zu den Molekülen, den Akteuren eines physikalischchemischen Systems oder selbst zu den Ameisen oder den Mitgliedern anderer Tiergesellschaften, entwickeln Menschen wirklich individuelle Vorhaben und Wünsche" (Nicolis/Prigogine: 1987, S. 316). Das nichtlineare Verhalten solcher komplexer Humansysteme ist eine weitere, objektiv diagnostizierbare, aber dem öffentlichen Bewußtsein wie der politischen Philosophie noch weithin unbekannte Ursache der Grenzen von Repräsentation. Die zahlreichen Lösungsmöglichkeiten der das Funktionieren dieser Systeme beschreibenden nichtlinearen Gleichungen führt auf Singularitäten und Bifurkationen, deren Abhängigkeit von Zeitparametern irreversible und unterschiedliche Geschichtsverläufe programmiert. Die zyklischen Perioden konservativer Systeme sind hierdurch ein für allemal ausgeschlossen. Wie aber soll etwas repräsentiert werden, was durch seinen Zeitparameter sich jeder Abbildbarkeit auf einem anderen Systemteil entzieht? Man denke allein an das auch schon von Physikern behandelte Problem der Zufallsverteilungen sozioökonomischer Singularitäten (Gierer: 1981). Dabei handelt es sich um die auffälligen Effekte von Selbstverstärkung und Verknappung bei der Verteilung von Reichtum, Einkommen allgemein und Verdienst im Besonderen. Der für das Problem der Repräsentation springende Punkt dieser Phä-
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nomene ist der nicht-Gaußsche von der Normalverteilung abweichende Charakter solcher Singularitäten. Diese mathematische Charakteristik bedeutet soziologisch, daß es sich hier um nicht vorhersehbare Selbstverstärkungs- und Verknappungseffekte handelt, die aber im Endeffekt eine stabile Ungleich Verteilung trotz evidenter positiver Wachstumsgrößen einer bestimmten Ökonomie ergeben können. Eine Art Repräsentation auf diesem Feld muß immer wieder daran scheitern, daß die Modellierbarkeit, von der man hier sprechen könnte, rein mathematischer Natur ist. Die Gesellschaft aber ist kein Computerbildschirm. Sie muß ihre Artikulationsmöglichkeiten immer neu selbst organisieren. Erst wenn durch deren Wiederholbarkeit dissipative und komplexe Strukturen sich in konservative transformiert haben, können Institutionen der Repräsentation entstehen, und in der Regel tun sie es auch. Der bekannteste und sozialgeschichtlich bisher einschneidendste Fall einer solchen Singularität ist die durch den Club-of-Rome-Bericht von 1972 ins Bewußtsein gehobene Grenze des industriellen Wachstums. Man kann davon ausgehen, daß die Tatsache selbst und ihre Entdeckung in einem inneren Zusammenhang stehen. Offenkundig war die menschliche Gesellschaft am Beginn der 70er Jahre ah einem Knotenpunkt ihrer Evolution gelangt, von dem aus die weiteren Verläufe schon deswegen nicht vorhergesehen werden konnten, weil sie sich in keiner Weise aus dem bisherigen Verlauf extrapolieren ließen (Mesarovic/Pestel: 1974). Hier wird die Grenze der Repräsentation abermals in zwei Hinsichten offenkundig. Zuerst darin, daß die offenbar gewordene Singularität der Menschheitsevolution nichts anderes war als die Entdeckung der Tatsache, daß die Gesellschaft in der globalen wie in der regional-nationalen oder lokalen Bedeutung des Wortes sich als ein hochkomplexes System erwiesen hat, das in keinem denkbaren Sinn von irgendeinem einzelnen Entscheidungs- oder Machtsubjekt steuerbar, wohl aber hochanfällig ist für unbeabsichtigte und unvorhersehbare Stör- oder gar Katastrophenfälle als Ergebnis von monopolistischen Steuerungsversuchen, (Gebhardt/Artzt: 1990). Ein solches hochkomplexes System aber ist etwas kategorisch Verschiedenes gegenüber jener Teil-Ganzheits-Struktur, wie sie oben als Voraussetzung jeder Art von Repräsentation beschrieben worden ist. Hierzu kommt, daß die in den Grenzen des Wachstums bewußt gewordene Irreversibilität von Zeit eine Unabgeschlossenheit beinhaltet, die als solche dem zyklischen Charakter von Repräsentationsvorgängen widerspricht. Solche Zyklen, wir wissen es nun, reproduzieren sich nur in einer relativen Ferne von Singularitäten, wie sie hier zu beschreiben sind. Aber ganz gewiß schließt das nicht aus, daß unsere Gesellschaft in absehbaren Zeiträumen auch solche Zyklen wieder ausbildet. Den Bürgerbewegungen scheint hierbei eine wichtige Vermittlungsfunktion zuzufallen.
3. Die Dynamisierung der sozialen Zeitparameter Knapp 20 Jahre nach der Veröffentlichung jenes Berichtes über die Grenzen des Wachstums hat sich der Club of Rome abermals zu Wort gemeldet. Sein Text von 1990 „Die globale Revolution" resümiert, welche Folgen die damals konstatierte Irreversibilität mittlerweile gezeitigt hat (Club of Rome: 1990).
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Im Vordergrund steht dabei, daß diese Irreversibilität keineswegs ein marginales Merkmal unserer Situation ist. Irreversibilität der im Wechselspiel menschlicher und außermenschlicher Kräfte ausgelösten Wirkungen hat inzwischen eine Interdependenz der Handlungs- und Wirkungsebenen in Kraft gesetzt, die abermals einer Systemstruktur gehorcht, die der Repräsentation weithin oder vollständig inkongruent ist. Erweisen sich doch umgekehrt alle im Repräsentativsystem die politische Willensbildung beherrschenden Parteien als dem konservativen System des Nationalstaates zugehörig. Das gilt nicht nur für die Konservativen im engeren Sinne, sondern auch für die liberalen und die sozialdemokratischen Parteien. Mögen sich die einen restriktiv, status-quo-orientiert, die anderen affirmativ-liberal, die dritten änderungs- und neuerungswillig auf den Nationalstaat beziehen - gemeinsam ist ihnen allen dreien, daß sie das Bestehen des nationalstaatlichen Herrschaftssystems voraussetzen, um dessen Machtbesitz sie konkurrieren. Denn ob es um Umwelt-, Energie-, Bevölkerungs-, Ernährungs- oder Entwicklungsprobleme geht: In jedem dieser Bereiche besteht ein Wechselspiel mit allen anderen, das sich in institutionell festzulegende Grenzen nicht einschließen läßt. Man kann es sich an den drei großen Umweltkatastrophen der 80er Jahre veranschaulichen: Weder bei der Methylisocyanatverseuchung im indischen Bhopal 1984, noch bei Tschernobyl 1986 oder der Riesenölpest nach der Exxon-Havarie vor Alaska 1989 deckte sich der Kreis der Betroffenen oder Opfer mit einer der herkömmlichen Repräsentativkörperschaften, nicht zuletzt deswegen, weil die Opfer im letzten Fall, dem der Exxon, hauptsächlich Tiere waren, gleichzeitig aber menschliche Lebensqualität in hohem Maße mitzerstört wurde. Und hier beginnen offenkundig veränderte Zeitparameter eine ganz neue soziopolitische Wirkung zu entfalten. Die neue Ereignisform vom Menschen veranlaßter Naturkatastrophen zieht nach sich Langzeitwirkungen, die sich schon auf einem sehr niedrigen Niveau wissenschaftlicher Standards als unabschätzbar erweisen. Die hier sich eröffnenden generationenweiten Zeiträume können im üblichen Gesetzgebungsverfahren nur als Risikokalkulation und Technikfolgenrecht im Rahmen der Umwelt- und Strahlenschutzgesetzgebung Berücksichtigung finden. Auf diesen Wegen gar nicht bearbeitet werden aber kann die Auseinandersetzung zwischen Interessen, die an einem bestimmten Platz und zu einer bestimmten Zeit auch dann noch konkurrieren, wenn allen Umwelt- und Strahlenschutzgesetzen genügegetan ist. Aber nicht nur in den Fällen Bhopal, Tschernobyl und Exxon ist eine kritische Größe erreicht. Die mit ihnen gestellten Existenzfragen sind nicht mehr im einzelstaatlichen legislativen und exekutiven Rahmen zu behandeln. Die mittlerweile gewachsene Besorgnis angesichts von Klimafolgen der industriellen und privaten CO 2 - Emissionen hat einen zusätzlichen Effekt der Zeitverkürzung. Denn offenkundig verstärkt sich der Treibhauseffekt mit einer bisher eher unterschätzten Schnelligkeit. Also hat auch in dieser Hinsicht nur dann eine Abhilfe Aussicht auf Erfolg, wenn sie im globalen Maßstab in Angriff genommen wird. Wie aber soll das geschehen können, wenn nicht durch eine weltweite Vernetzung aller schon arbeitenden und Kooperationswünsche und -bereitschaft signalisierenden Initiativen? Zu solchen globalen Dringlichkeiten und Prioritäten kommt noch jene aus dem gewachsenen Entwicklungstempo resultierende fortwährende Umgestaltung der Arbeitswelt, die den Zeitplan unserer Biographien dadurch verändert, daß im
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Laufe eines Einzellebens in der Regel mehrere Berufe erlernt und ausgeübt werden. Dies ist die Ursache für eine merkliche Verkürzung der Planungszeiträume im Bereich schon einer einzigen Generation. So kann man davon ausgehen, daß jedes menschliche Leben heute durch mehrere zur Zeit noch völlig unkoordinierte Kalender bestimmt wird: den historischen mit seiner Wochen- und Feiertagseinteilung; den sozialen der Teilung in Arbeit und Freizeit, den infrastrukturellen der Verkehrs- und Umweltbedingungen. Der politische Kalender der Legislaturperioden und Wahlen wird demgegenüber von Marginalisierung bedroht. Auch wer nicht willens ist, Parteipolitik in Bausch und Bogen zu verwerfen, wird dem Club-of-Rome-Bericht 1991 darin zustimmen, daß die genannten Herausforderungen der globalen Revolution ein Umdenken von der Rivalität des gesellschaftlichen Stimmen- und Lobbygewinnes weg in Richtung auf ein Umdenken auf die Unerläßlichkeit parteiunabhängiger und -übergreifender Konsensfindung (Club of Rome: 1990, S. 106) verlangen. Damit diese Tendenz, die immer mehr nötigenden Charakter annimmt, nicht als Einfallstor für autoritäre, diktatorische Regime wirkt, haben die Bürgerbewegungen eine besondere Verantwortung dafür, daß solche Konsensfindung demokratisch im Diskurs der Bürger- und Bürgerinnenpartizipation statt autoritär oder gar diktatorisch durch Indoktrination, Bevormundung und schließlich bürokratisch gelenkten Terror zustandekommt.
II. Bürgerbewegungen: Begriff, Struktur, Praxis 1. Begriff Eine Diskussion der prinzipiellen Grenzen der Repräsentation kommt zu dem gleichen Ergebnis wie die politologische Recherche: „Das vielbeklagte Repräsentationsdefizit ist insoweit als prinzipielles Leistungsvermögen unserer repräsentativen Organe und Kräfte durchaus strukturbedingt, entwicklungsimmanent und wohl auch irreversibel" (Guggenberger: 1984, S. 229f.). Kann diese Ausgangslage der Entstehung von Bürgerbewegungen als gesicherte Erkenntnis gelten, dann muß auch die Definition derselben diesem Faktum Rechnung tragen. Darum kann die Definition des Begriffes „Bürgerbewegungen" nur in zwei Stufen gegeben werden: Auszugehen ist von der Bürgerinitiative, die überall dort im Gebrauch der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 8 und 9 GG) entsteht, wo das Spiel gesellschaftlicher Kräfte Problemlagen schafft, die im Rahmen vorhandener Verfahren, Institutionen, Repräsentationsgremien nicht regelbar sind. Solche Initiative ist demnach eine zeitlich und lokal begrenzte Aktivität, die von Haus aus durchaus vor- oder unpolitisch bleiben kann. Die politische Dimension erreicht sie in dem Maße, wie ihre Thematik und ihr Sachgehalt längerfristige und überlokale Bedeutung und gesamtgesellschaftliche Resonanz gewinnen. Dann vollzieht sich der Schritt von der zeitlich und lokal begrenzten Bürgerinitiative zur Bürgerbewegung als politischer Vereinigung, die durchaus als wählbare Gruppierung im Sinne des Parteiengesetzes an Landtags- und Bundestagswahlen teilnimmt. Das schließt ein, daß eine solche politische Vereinigung als Vereinigung von Bürgern und Bürgerinnen dann auch ein so weitgehendes Ziel wie die
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„solidarische Selbstorganisation der Gesellschaft" (Satzung von Bündnis 901, Präambel) anstreben kann. An dieser letzten Formulierung wird besonders deutlich, daß der Wirkungsbereich von Bürgerbewegungen genau der Schnittbereich von Staat und Gesellschaft und so für deren wechselseitiges Verhältnis besonders belangvoll sein dürfte. Wahrscheinlich aber liegt hier auch der Grund für jene Schwierigkeiten, die zu den bekannten Kontroversen über die Definition von Bürgerinitiativen in der einschlägigen Literatur geführt haben. Nicht als zufällig kann man es ansehen, wenn schon einer der ersten Definitionsversuche dabei den Begriff der Selbstorganisation der unmittelbar Betroffenen, die ebenso wie ihre Aktionsformen im System der politischen Institutionen nicht vorgesehen sind" (Offe: 1972, S. 159), verwendet. Eine weitergehende Analyse empirischen Materials konnte diesen ersten Definitionsanlauf nur bestätigen: „Bürgerinitiativen stellen daher eine bürgerliche Form sachlich, zeitlich und sozial begrenzter kollektiver Selbstorganisationen zur unmittelbaren, öffentlichen Durchsetzung von Partizipation an Entscheidungsprozessen dar" (Lange, R.-P.: 1973, S. 285f.). Der über diese Definitionen ausgetragene Streit betraf im Wesentlichen die Unterscheidung der Bürgerinitiative von einer spontanen Selbsthilfeaktion oder ihre Identifikation mit einer solchen (Thaysen: 1982, S. 20). Weithin übergehen kann man die Frage - obwohl sie einen breiten Raum in der einschlägigen Diskussion einnimmt - danach, ob Bürgerinitiativen bzw. -bewegungen links oder rechts, progressiv oder konservativ, systemkonform oder systemüberwindend wirksam werden. Hier handelt es sich um nichts anderes als darum, ein offenkundig neues Element politischer Willensbildung und -artikulation dem herkömmlichen Organisations- und Bewertungsspektrum zuzuordnen. Charakteristisch, wie dabei von marxistischer Seite angemerkt wird, daß Bürgerinitiativen nur dann im Klassenantagonismus wirksam werden könnten, wenn sie sich einordneten in den „ökonomischen Kampf der Arbeiterklasse" - was auch immer darunter verstanden werden mag!" (Faßbinder: 1972, S. 82). Hier zeigt sich, daß und wie die Bürgerbewegungen Gegenstand der Kritik werden, weil sie sich unverkennbar abheben von einem älteren Begriff von „Bewegung", den man freilich in Erinnerung rufen muß, damit deutlich werden kann, was Bürgerbewegungen von ihm unterscheidet. 2. Bewegung als außerpalamentarische Machteroberung 1917/18, gegen Ende des 1. Weltkrieges, konnte all das, was über die prinzipiellen Grenzen von Repräsentation gesagt wurde, als geschichtliche Realität erfahren werden. Natürlich geschah es auch in diesem Fall wie in analogen Situationen. Auch wenn Ereignisse die geschichtliche Landschaft schlagartig verändern - was in Erscheinung tritt, hat eine Vorgeschichte, die freilich mit ihrem Manifestwerden in ein ganz neues Licht tritt.
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D a s Bündnis 90 ist aus dem Zusammenschluß der DDR-Bürgerbewegungen „Neues Forum", „Initiative Friedens- & Menschenrechte" und „Demokratie Jetzt" hervorgegangen; seit der Bundestagswahl 1990 im Parlament vertreten (dazu Glaeßner: 1991, S. 124ff.; s.a. § 10 VI. u. VII. zur geschäftsordnungsrechtlichen Stellung der Gruppen im Deutschen Bundestag).
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Schon seit dem Beginn des Jahrhunderts hatte sich in Wissenschaft und Kunst eine Diastase zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und Bewußtsein von ihr angebahnt, deren allerdings katastrophales Ausmaß erst die Hilflosigkeit der Regierungen am Beginn des Weltkrieges enthüllte. Aber schon als Einstein und Planck - mehr gegen ihren Willen als mit begeistertem Optimismus, wie man mittlerweile weiß! - aufgrund ihrer Experimente die neuen Theorieansätze der Relativitätsund Quantenphysik entwarfen, schon da kündigte sich die Erschütterung einer bisher unangezweifelten Selbstverständlichkeit an: die der Übereinstimmung von autonomer Ethik (im Sinne Kants) und dem Determinismus einer alle materielle Wirklichkeit umfassenden Kausalität. Ganz ähnlich sah sich eine durchschnittliche Wahrnehmung herausgefordert durch die publikwerdenden Neuerungen in Musik und Malerei. Mochten Zwölftontechnik und abstrakte Malerei noch so tief in allgemein akzeptierten Traditionsvoraussetzungen verankert sein - die Konsequenzen, die sie aus diesen zogen, sind noch heute dem Durchschnittsbewußtsein kaum zu vermitteln. Wie aber, als auch auf dem Feld der Politik feststand, daß der großangelegte Versuch Woodrow Wilsons, der Kriegskatastrophe mit einer ganz neuen Verbindung von Wissenschaft und Politik zu begegnen (Smith: 1976, S. 128ff.), an der Blindheit nationaler Interessen ebenso scheiterte wie der auf das Feld der Justiz begrenzte Versuch, durch die Verurteilung Wilhelms II. als eines der Hauptverantwortlichen am Kriegsausbruch erste Schritte auf dem Boden eines neuen Friedensrechtes der Völker zu tun? Ernst Jünger hat in seiner 1939 publizierten Erzählung „Auf den Marmorklippen" dieses Panorama in einem hochartifiziellen und zugleich primitiven Jäger- und Sammlermilieu von Männerbünden gespiegelt, in welchem Privatkriege von Privatarmeen geführt werden, deren Hauptwaffen Hundeherden, Streitäxte, Menschcnfallen sind: ein besonders eklatantes Beispiel für die Unfähigkeit, die politischen, technologischen und rechtlichen Konsequenzen der Weltkriegssituation für Staat und Gesellschaft zu erfassen. Jüngers Freund Carl Schmitt hat viel später (1950) in seinem Völkerrechtstraktat „Der Nomos der Erde" wenigstens den Versuch unternommen, diese Situation von Fronten ohne rational und politisch formulierbare Kampfziele auf den völkerrechtlichen Begriff zu bringen, indem er an die Stelle der Repräsentation die Souveränität zum Leitbegriff eines neuen „Nomos der Erde" erhebt, mittels dessen es möglich werden soll, künftige Kriege, durch neue weltpolitische „Freundschaftslinien" auf abgrenzbare Territorien zu orientieren - ganz gleich, welches die Konsequenzen für die dort Ansässigen sind. Es mag offen bleiben, wie die ex cathedra prätendierte Souveränität sich zu den wirklichen und wirksamen geschichtlichen Mächten verhält - nicht überschätzt werden kann die Bedeutung der Tatsache, daß wir hier die Szenerie vor uns haben, auf der jene zwei Bewegungen entstanden, welche die Mitte und zweite Hälfte des Jahrhunderts in Atem hielten; die das Prinzip der Repräsentation auf eine höchst unerwartete Weise anwandten, indem sie die politische Partei zu einer ganz neuen und schrecklichen Waffe politischen Kampfes umgestalteten. Es waren die Kommunistische Partei mit der Leninschen Bolschewiki an der Spitze und die Nationalsozialisten, die auf zunächst voneinander unabhängigen, dann aber mehr und mehr sich wechselseitig beeinflussenden Wegen Prinzip und Praxis von Parteien völlig neu organisierten, indem sie Partei als Repräsentanz einer Bewegung verstanden, einer Bewegung, die, nicht mehr an einen einzelnen Staat gebunden, als Weltbewegung Totalitätsansprüche gegenüber allen Bereichen
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von Staat und Gesellschaft rechtfertigte. Wer seine politischen Ziele in welcher Form auch immer mit dem Konzept von „Bewegung" verbindet, ist seither verpflichtet, sich über sein Verhältnis zu diesen so folgenreichen Bewegungen zu erklären. Wie bekannt, hat Lenin sein Konzept einer Avantgardepartei der Arbeiterbewegung („Partei neuen Typus") zuallererst in Abgrenzung gegen die deutsche und westeuropäische Sozialdemokratie formuliert; gegen deren Politik, der politischen Durchsetzung aktueller Arbeiterinteressen Priorität einzuräumen gegenüber dem Fernziel des Kommunismus, das nur über die revolutionäre Diktatur des Proletariates sollte erreicht werden könne. Aber es verdient ernster genommen zu werden als es der Fall zu sein pflegt, daß Lenin an zwei Tendenzen aus der Anfangszeit des Kommunismus anknüpfen konnte: an die Aussage des Kommunistischen Manifestes, daß die Kommunisten, ohne eine besondere Partei gegenüber anderen Arbeiterparteien sein zu wollen, doch den Anspruch erhoben „das Interesse der Gesamtbewegung zu vertreten"; zweitens ebensosehr an jene Elemente in den Statuten des Bundes der Kommunisten, die - vor allem laut Artikel 2 und 4 dieser Statuten (Verpflichtung zur revolutionären Praxis; Geheimnamen) - d i e s e m Bunde das Gepräge einer konspirativen Organisation gaben. Lenin hat diese Gedanken aus der Mitte des 19. Jahrhunderts Anfang des 20. so umgeformt, daß sich ein höchst originelles Organisationskonzept ergab (in der Schrift „Was tun?": 1902). Ohne daß damals jemand hätte ahnen können, welche Wirkungen dieses Konzept würde entbinden können, enthielt es doch bereits alles, was ihm nach dem Oktober 1917 seine unvorhersagbaren Siege einbrachte: Den Vorrang der Ideologie vor aller Praxis (die Zeitung „Iskra" als Keim einer gesamtrussischen Parteiorganisation erhält in Lenins Parteikonzept „Was tun?" allerhöchste Priorität); die begrenzte Zahl von Berufsrevolutionären als Organisationskern einer straff zentralistischen Führung; das Prinzip der Parteidisziplin für alle Mitglieder über deren verbindliche Zuordnung zu bestimmten Organisationseinheiten. Überall, wo eine starke Sozialdemokratische Partei existierte, war dieses von Lenin konzipierte Avantgarde- und Elitemodell als ultraradikale Abspaltung nicht durchsetzungsfähig, mochte es zunächst auch soviel Einfluß erlangen wie in Deutschland von 1918 bis 1933. Ganz anders in Rußland, wo dieses Programm eine Mehrheit in der Führung der sozialdemokratischen Partei gewann. Das ermöglichte es Lenins Bolschewiki, 1917 als ideologisch entschiedenste und organisatorisch straffste Kraft trotz mangelnder Wahlerfolge - am 8.12.1917 bei der Wahl für die verfassunggebende Versammlung erst 25% (ausführlich Langer: 1988, S. 208ff.) - die schwache parlamentarische Demokratie beiseitezuschieben und die Macht diktatorisch an sich zu reißen. Fortan vertrat diese Partei per Ideologie und per ausgeübter Macht den Anspruch, führende Repräsentantin einer proletarischen Weltbewegung zu sein. Ein Anspruch, der in seinem Machtbereich so lange nicht zu widerlegen war, wie er die Macht besaß, von Lenin über Stalin bis zu Breshnew immer neu selbst zu definieren, was jene Weltbewegung sei. Dies gelang um so erfolgreicher, als es weltpolitische Kontrahenten in Westeuropa und Nordamerika gab, die durch ihre Opposition gegen sie dieser Weltbewegung nur zu sehr zur Bestätigung verhalfen. Die Tragweite des Phänomens „Partei als Repräsentation einer Weltbewegung" wird um so schwerwiegender, als fast gleichzeitig in Deutschland eine zweite Spielart entstand, die durch ihre Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
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und aller mit ihm verbundenen Unmenschlichkeiten Politik und Wissenschaft derart herausgefordert hat, daß sie bis heute darauf noch nicht hinlänglich zu antworten vermögen. Besteht diese Herausforderung doch gerade darin, daß der nicht einmal 4 Jahre dauernde Vernichtungskrieg zwischen beiden Bewegungen es war, der die bisher umfangreichste Destruktion von Menschenrecht und Menschenwürde heraufgeführt hat. Denn bei allen Strukturanalogien zwischen beiden Bewegungen sind ihre Verschiedenheiten ebenso offenkundig. Hatte der Kommunismus immerhin in der Arbeiterbewegung eine reale historische Basis, so war der Nationalsozialismus eine nur sich selbst reproduzierende Bewegung, allein dem Ziel gewidmet, ihre Herrschaft auf immer wieder andere Menschen und Menschengruppen auszudehnen. Daraus erklärt sich auch ihre ausgesprochene Verachtung für Programm- oder Ideologiefragen. Mit ihrem Namen, der Nationales, Soziales, Deutsches mit Arbeiterpartei verband, bekundete sie einzig und allein den Anspruch, die Beerberin sämtlicher Parteiprogramme von Rechts bis Links zu sein - einerseits eine Vergleichgültigung aller bisherigen Parteiendifferenzen, andererseits die Vorwegnahme jener Aufzählungs- und Bindestrichprogramme, die mittlerweile überall anzutreffen sind. Diese Ideologiegleichgültigkeit wurde noch durch das Führerprinzip bestärkt und übertroffen, das durch Stalin auch im Kommunismus Eingang fand und den Willen des Führers, nicht etwa bestimmte, identifizierbare Befehle, zum obersten Gesetz erhob. Ein SA-Ideologe konnte sich darum über die Nazibewegung so aussprechen: „So reicht die Einheitsfront des Systems für uns von der Deutschnationalen Volkspartei bis zur SPD. Der Gegner KPD stand außerhalb des Systems" (Arendt: dt. 1955, S. 494). Nicht Arbeiterbewegung bzw. Klassenkampf gegen die Bewegung des Imperialismus wie bei den Kommunisten, sondern Bewegung gegen System lautete die Grundformel der Nazipolitik. Das bedeutete aber, daß diese Bewegung es sich vorbehielt, ihre Freundschafts- und Feindschaftslinien gegen das, was sie „System" nannte, an immer neuen Fronten zu eröffnen und eben darin Bewegung als Bewegung zu affirmieren. Bewegung ist auf diese Weise Kampf gegen immer neu festzulegende Gegner. Es besteht Anlaß, gegen die gerade nach dem Zusammenbruch auch der kommunistischen Bewegung verbreitete Tendenz, die totalitären Bewegungen mit einer realitätsblind gewordenen senilen Bürokratenschicht zu identifizieren, an Hannah Arendts freilich beunruhigendem Resümee festzuhalten: „Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat erscheint" (Arendt: dt. 1955, S. 492). Wir haben durch ein Phänomen dieser Größenordnung erfahren: Es ist tatsächlich möglich, Partei als Repräsentanz einer Bewegung so zu praktizieren, daß eine Mehrheit den Anspruch akzeptiert, durch diese Partei werde die Totalität einer ganzen Welt organisiert - unabhängig davon, ob diese Welt fiktiv oder real ist. Aus dieser Erfahrung aber folgt: Seither sind alle Parteien der Öffentlichkeit gegenüber, an die sie sich wenden wollen, verpflichtet klarzustellen: Wie verhält sich ihr Programm zum Relativismus der Bindestrichtaktik? Wie stellen sie sich zu allen Tendenzen, die Repräsentanz einer Weltbewegung zu beanspruchen? Wie verhalten sie sich im Konflikt zwischen einer klaren und darum notwendigerweise partiellen Interessenvertretung und den Zielen einer staatstragenden
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Volkspartei? Noch viel energischer aber müssen Bürgerbewegungen, die mit diesem Begriff und Titel ernst machen wollen, sich fragen lassen: Inwiefern beanspruchen sie, Bürger und Bürgerinnen gerade als „Bewegung" zu organisieren und zu integrieren? Läuft es auch bei ihnen auf universale Repräsentationsansprüche hinaus oder sind sie imstande, speziell lokalisierbare und abgrenzbare gesellschaftliche Bewegungen zur Sprache zu bringen? Und welches sind die Zeitparameter dieser Artikulation? Auf welche Zeitpunkte und Epochen beziehen sie sich hierbei, wenn ihr Kalender ein anderer ist als der der Wahl- und Legislaturperioden?
3. Demokratiekrise und Systemopposition Man sollte meinen, allein schon diese Fragen hätten genügt, um die Tradition des Parteienstaates und der Parteiendemokratie in eine Grundlagenkrise zu führen. Hatten doch die politisch und moralisch bedeutendsten aller deutschen Hitlergegner, der Kreisauer Kreis, eine Verfassung für Deutschland und Europa entworfen, die den Parteienstaat ersetzte durch Strukturen einer nach Verbänden und Korporationen föderal geteilten Souveränität. Als dann aber in ihrem Gefolge die Gesellschaft Imshausen nach 1945 diese Konzepte in irgendeiner Form in realpolitisches Handeln umzusetzen beabsichtigte, scheiterte sie alsbald an den ganz andersartigen Realitäten Nachkriegsdeutschlands (Schwiedrzik: 1991). Was eintrat, war die Restauration des Parteienstaates von vor 1933 selbst im mittel- und osteuropäischen Machtbereich der Sowjetunion. Als ob die Katastrophe des 2. Weltkrieges das politische Denken im Zustand einer tiefen Erschöpfung hinterlassen hätte, bemühte man sich, die Instrumente politischer Willensbildung wiederzubeleben, durch deren Unterdrückung die Nazis ihre Alleinherrschaft begründet hatten. Daß dies aber mindestens in kommunistischen Ländern ohne Widersprüche nicht würde realisiert werden können, zeigte sich im Zwang zum Blockparteiensystem, daß die nicht-kommunistischen Parteien jedenfalls jeder politischen Selbständigkeit beraubte. Aber auch unter den demokratischen Bedingungen Westdeutschlands zeigte die Festlegung der SPD auf die Oppositionsrolle bis in die zweite Hälfte der 60er Jahre, welch offenkundiges Ungleichgewicht zwischen den Parteien bestand. Von 1966 an aber waren die Signale einer kommenden Grundlagenkrise der Demokratie weltweit nicht mehr zu überhören. Und auch wenn es vornehmlich die studentische Jugend war, die sie laut werden ließ - das Urteil griffe fehl, die weltweite Bewegung von Japan bis in die USA sei nur eine Wiederaufnahme jener Jugendinitiativen gewesen, die das Jahrhundert seit seinem Anfang in mehreren Wellen begleitet hatten. Es ist die Kafka-Konferenz von Liblice bei Prag im Jahre 1963 gewesen, die frühzeitig und deutlich ausgesprochen hat, wogegen eine beunruhigte Öffentlichkeit in immer deutlichere Opposition trat: Es war die nicht mehr zu leugnende Tatsache, daß erschreckender Weise - unbeschadet aller offenkundigen Unterschiede zwischen diktatorischen oder nichtdiktatorischen Herrschaftssystemen - ein Gefühl der tiefen Entfremdung die moderne Gesellschaft allerorts ergriffen hatte, genau bis in jene Situationen absurder Hoffnungslosigkeit, wie sie Kafkas Schrifttum kennzeichneten und darum weltweit attraktiv machten - auch in den Ländern, wo Optimismus offizielle Parteidoktrin war.
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Man nennt einen solchen Stimmungswandel gern das Schwinden eines Grundkonsenses. Ein Ausdruck, der mit dem Phänomen allzu stimmungshaft und psychologisch umgeht. War es doch gerade der demokratische Grundkonsens, der eine weltweite Protestwelle gegen die US-amerikanische Vietnampolitik auslöste: Allzu offenkundig war der Widerspruch, in den der Einsatz von Napalm und Herbiziden gegen das ostasiatische Bauernvolk zu den Menschen- und Grundrechten der freiheitlichen Tradition geraten war. Für die Studenten von Tokio, Berlin und Paris aber bewies dies Vorgehen nur, was sie selbst an der unbegreiflichen und unsäglichen Lebens- und Praxisferne des universitären Spezialistentums täglich wahrnahmen: die Beanspruchung von Autorität, wo sie faktisch längst nicht mehr vorhanden war. Dies aber wurde ihnen zum Paradigma für den Zustand der ganzen Gesellschaft: Parlamente können nicht mehr Ausdruck gesellschaftlichen Bewußtseins werden, wo die in ihm vertretenen Parteien allesamt, regierende und oppositionelle, nur noch Instrumente zur Stabilisierung einer bestehenden Ordnung sind. Opposition, die diesen Namen verdient, kann dann nur außerparlamentarische Opposition sein. Charakteristisch für die endsechziger Jahre ist es, daß trotz der Radikalität dieser außer-, ja antiparlamentarischen Opposition diese ihr eigenes Programm weitgehend an Tradition und Vokabular des Kommunismus orientiert hat, obwohl die Sowjetunion und ihre osteuropäischen Satelliten in ihrem Umgang mit den Prager Reformern alles taten, um diese Tradition zu diskreditieren. Um diskussionsfähig zu bleiben, mußte das Oppositionsprogramm einem Transformations- und Abstraktionsprozeß unterworfen werden, der es unter so widerspruchsvollen Umständen nicht aller Wirklichkeitsbezüge beraubte. So mußte inmitten einer egalitären Einheitsgesellschaft das Wort „Klassenkampf" synonym für Emanzipationsprozesse überhaupt werden. Wie aber sollen solche Emanzipationsprozesse organisiert und strukturiert werden, wenn das Ergebnis etwas anderes als die bekannten Parteiapparate sein sollte? Sie sollen Berufspolitiker ausschließen, Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten sollen immer dergestalt dominierend repräsentiert sein, daß irgendein Apparat sich gegenüber der „Bewegung" niemals selbständig etablieren kann. (Dutschke: 1981, S. 44) Bemerkenswert, welche Bedeutung dem Wort „Selbstorganisation" in diesem Kontext zukommt. Mittlerweile ein Grundwort der physikalischen Theorie komplexer Systeme, wird es hier von der 68er Opposition noch ganz idealistisch gebraucht, als Gegensatz gegen Fremdorganisation. Natürlich - mit diesem Ausdruck ließ sich der Wille zur Emanzipation besonders passend zur Sprache bringen. Aber der Bezug auf das bewußte Selbst des Einzelnen signalisiert eine merkwürdig individualistische Tendenz der damaligen Opponenten. Und auch wenn sie mit Rudi Dutschke vom „langen Marsch durch die Institutionen" sprachen, dann prägten sie das legendäre Ereignis der chinesischen Revolutionsgeschichte um in die Beschreibung einer individuellen politischen Biographie. Natürlich blieb der Wille, einem ganzen Gesellschaftssystem opponierend entgegenzutreten davon unbeeinträchtigt, etwa wenn die Nichtbeteiligung an der Bundestagswahl mit der Absicht erläutert wurde, durch die Selbstorganisation von eigenen Clubs und anderen Institutionen eine eigene Subkultur, ein Gegenmilieu insLebenzu rufen (Dutschke: 1981, S. 56).
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Gerade in solchen Absichten wird besonders deutlich, wie Opposition hier ganz gewiß als Systemopposition ernstgemeint war. Aber eben deswegen ist dies ein besonders lehrreiches Beispiel für die Schwächen einer politischen Philosophie, der der Systembegriff als polemisches Hauptwerkzeug zur Abgrenzung der eigenen Position dient. Natürlich eignet er sich, wenn es darum geht, eine kritische Sicht von Außen summarisch zu behaupten. Aber wie schnell wird dabei die Illusion hervorgerufen, diese generelle Kritik sei mittels dieses Begriffes erzeugt, der in Wirklichkeit nur Ausdruck einer bestimmten Lage einer bestimmten Gruppe ist. Im übrigen aber teilt er alle Grenzen, die dem Denken in Alternativen, in binären Formeln des Schemas Negativ-Positiv eigen sind. So ist es nicht zuletzt dieser Schematik geschuldet, wenn weitere polemische Ortsbestimmungen sich ausbreiten, denen trotz kritischer Tendenz ein gefährlich illusionärer Charakter anhaftet, so wenn der Parteienstaat als „imperialistische Staatsmacht" apostrophiert oder der Technokratie das Attribut „faschistisch" beigelegt und dabei der bedenklichen marxistischen Tradition gefolgt wird, zwischen Faschismus und Nationalsozialismus nicht zu unterscheiden und von der zerstörerischen Wirklichkeit des Letzteren grundsätzlich zu abstrahieren. Und was das bedauerlichste ist: Der illusionäre Charakter solcher Kennzeichnungen wirkt sich auch auf die Gegenposition aus, von der die Systemopposition getragen werden soll. Wie soll solche Opposition politische Kraft entfalten, wenn sie „Selbstorganisation" idealistisch-individualistisch versteht und dies noch dadurch bekräftigt, daß sie sich selbst immer wieder als „revolutionäres Bewußtsein" einem anonymen Apparat, als „revolutionäre Existenz" der Trägheit der Institutionen entgegenstellt. Das läuft letztenendes oder meist schon sehr früh auf moralische Abgrenzungen von trivialer Abstraktheit hinaus. Die Demokratisierung der Gesellschaft und die Vergesellschaftlichung von Demokratie in dem von ihr intendierten Umfang vermochte diese Art von Systemopposition nicht herbeizuführen. Aber wenn sie dennoch der westlichen Gesellschaft einen nicht wieder umkehrbaren Impuls der Liberalisierung mitteilte, dann vollbrachte sie das in der Kraft eines nicht mehr parteigebundenen Freiheitsverständnisses .
4. Alternative Partei und Bürgerbewegungen als politische Vereinigungen Die Zeit nach 1970 war nicht nur in Deutschland entscheidend dafür, daß Bürgerbewegungen hinauswuchsen über lokale und regionale Initiativen. Aber nicht nur das. Ihre Politisierung erreichte auch darin eine neue Qualität, daß sie sich nicht mehr auf Opposition zu Bestehendem, zu Parteien und Parlamentarismus beschränkten, sondern in der Stiftung eigener, handlungsfähiger Organisationen eine neue Form politischer Willensbildung initiierten. Hier liegt die historische Realitätsbasis für den oben unter 1.2. erläuterten Zusammenhang zwischen den im Club-of-Rome-Bericht bewußtgemachten Grenzen des Wachstums, den ökonomischen Auswirkungen der Ölkrise von 1973 und dem jetzt stürmisch einsetzenden Prozeß der Politisierung ökologischer Fragen. Insbesondere beginnt die Wirtschaftskrise der ehemals kommunistischen Länder dadurch akut und manifest zu werden, daß die von einem brutalen Industrieexpansionismus erzeugten Umweltschäden mit den Mitteln der kommunistischen
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Staatswirtschaft nicht mehr saniert werden konnten, eine Tatsache, auf die durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 noch ein besonders grelles Licht fallen sollte. Nicht minder wichtig aber für den grundsätzlichen und epochalen Charakter der Politisierung von Bürgerbewegungen nach 1970 war, daß sie sich vollzog auf dem Hintergrund des krassen Völkerrechtsbruches, durch den 1968 von den Truppen des Warschauer Paktes der gerade begonnene Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei unterdrückt wurde. Damit erklärt sich, wieso gerade in Prag als wichtige Vorbilder späterer Bürgerbewegungen der „Klub engagierter Parteiloser" oder die „Charta 77" entstanden oder die an politischer Bedeutung alle anderen überragende Gründung der Solidarnosc in Polen, die im Kern eine parteiuhabhängige Gewerkschaft ist und sein will, aber kraft der aktiven Unterstützung durch die Intelligenz den Charakter einer staatsweiten Bürgerbewegung angenommen hat (Pumberger: 1989;Sawicki: 1989). Da aber auch in den nichtkommunistischen Ländern Westeuropas eine Fülle von mehr oder weniger erfolgreichen Umweltinitiativen von sich reden machten, wurden die Jahre um 1980 auch zu solchen einer Hochkonjunktur der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Bürgerbewegungen in der deutschen Politologie. Thaysen (:1982) liefert eine detailgesättigte Diskussion aller zu Bürger-, Staats- und Verwaltungsinitiativen einschlägigen Fragen; Guggenberger-Kempf dokumentieren in ihrem Sammelband von 1984 einen repräsentativen Querschnitt der bereits abgelaufenen Debatte über das Verhältnis der Bürgerinitiativen zum Repräsentativsystem. Obwohl die Herausgeber den neuen politischen Bewegungen offen oder gar sympathisierend gegenüberstehen, herrscht in beiden Publikationen die Außenansicht vor, bei Thaysen zusätzlich aus dem wissenschaftlichen Auftrag resultierend - die Optik der Landespolitik, bei Guggenberger - Kempf die Frage nach dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheiten im Repräsentativsystem. Um so wichtiger ist es hier, auf die eben damals entstandene bisher umfassendste theoretische Begründung des Politikansatzes der Bürgerbewegungen durch den tschechischen Mitbegründer des „Klubs engagierter Parteiloser" Jaroslav Langer hinzuweisen. (: 1988, S. 271ff.) Auch dort, wo man die historische Hauptthese der Abhandlung, die Lehre vom erreichten Ende des Parteien-, des Repräsentativund überhaupt jedes hierarchischen Herrschaftssystems nicht zu akzeptieren bereit ist - die von Langer analysierten Phänomene des Akzeptanzverlustes von Partei- und Repräsentativgremien wird man schwerlich als irrelevant beiseiteschieben können. Und daß die in allen politischen Institutionen sich zur Zeit immer noch verstärkende Tendenz zur Hierarchisierung von Herrschaft in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum grundlegenden Horizontalismus der Demokratie befindet - das darf nicht länger verharmlost werden. Die parlamentstheoretische Bedeutung dieser Entwicklung ist besonders instruktiv an jenen beiden Bürgerbewegungen zu erläutern, die in den letzten Jahren eine besondere Rolle in der deutschen Politik gespielt haben: die Partei Die Grünen dadurch, daß sie die deutsche Parteienlandschaft am nachhaltigsten seit dem Ende des 2. Weltkrieges verändert hat und die Bürgerbewegungen der DDR, die 1989/1990 als Opposition gegen die SED-Herrschaft die entscheidenden Anstöße dafür gaben, daß der Zusammenbruch der Parteidiktatur in einen Prozeß der Demokratisierung und der Selbstorganisation der vorher entmündigten Bürger und Bürgerinnen mündete. Ihre Präsenz in den Parlamenten kann als hinlänglich da-
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für erachtet werden, daß erste theoretische Schlüsse nicht als voreilige Verallgemeinerungen zurückgewiesen werden können. Das Auftreten der Grünen ist ein historisches Signal gewesen. Zum erstenmal wiederholt sich in diesem Jahrhundert, daß eine Parteineugründung das Spektrum der konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Parteien des 19. Jahrhunderts verläßt und dennoch jene Konstellation sich wiederholt, in der Parteiname und -programm identisch sind. Die Grünen präsentieren sich als diejenige Partei, deren Politik nichts anderes zum Ziel hat als die ökologische Frage ebenso zu thematisieren wie es mit der sozialen in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschah. Dabei ist klar: Auch hier handelt es sich nicht um eine zusätzliche Einzelfrage, sondern genau wie im Fall des Sozialen um eine Dimension von Politik und Gesellschaft überhaupt. Nach welchem Konzept gehen die Grünen mit dieser von ihnen thematisierten Dimension um? Die Präambel des Statuts antwortet hierauf, daß die Grünen die grundlegende Alternative zu den herkömmlichen Parteien seien. Natürlich muß dieses Konzept einer alternativen Partei, gewissermaßen einer Antiparteienpartei, zuallererst Folgen für das Verhältnis von Partei und Parlament haben. Bekannt ist die häufig diskutierte Standbein- und Spielbein-Theorie, die Basis als „Standbein" und das Parlament als „Spielbein" des politischen Handelns, im Statut § 9 Abs. 5 sich niederschlagend als Verbot für Bundestagsund Landtagsabgeordnete, Mitglied eines Landes- oder Bundesvorstandes zu sein. In die gleiche Richtung zielt die bekannte Praxis, in der Mitte einer Legislaturperiode Parlamentsabgeordnete abzuberufen und durch andere Parteimitglieder zu ersetzen (sogenanntes Rotationsprinzip). Daß unter solchen Voraussetzungen auch das unter Gesichtspunkten demokratischer Grundrechte so problematische imperative Mandat immer wieder gefordert und verteidigt werden konnte, lag nahe genug. § 10 der Satzung benennt das Prinzip, das bei den genannten Regelungen meinungsbestimmend gewirkt hat: das Prinzip der dezentralen Struktur und der Basisdemokratie. Dem Prinzip der basisdemokratischen Meinungsbildung soll die in § 5 Abs. 42.3 angeordnete Zweiteilung des Programms dienen, nach der von einem ersten, den gemeinsamen politischen Willen der Grünen ausdrückenden Teil ein zweiter unterschieden wird, in welchem vorhandene Strömungen andere oder weitergehende Auffassungen darlegen können. Nicht klar ist, wie sich zu diesem basisdemokratischen Konzept einer alternativen Partei ein als Anhang bezeichnetes Frauenstatut verhält, das zwar klare Regelungen zum Zweck einer uneingeschränkten Frauengleichstellung enthält, aber keinerlei Auskunft darüber gibt, warum diese Regelungen nicht Bestandteil der Satzung selbst sind. So bleibt die Frage offen, ob es sich hier um eine über- oder unterprivilegierte Gruppe handelt. Die Frage, inwieweit die parteiinternen Sonderregelungen für Abgeordnete mit deren verfassungsrechtlich (Art. 38 GG) garantierter Unabhängigkeit vereinbart werden kann, ist schon mehrfach Gegenstand leidenschaftlichen Streites gewesen, ohne bisher eine abschließende Antwort gefunden zu haben. Offenkundig hängen all diese Probleme mit dem Ideal der Basisdemokratie zusammen. Denn es ist sehr viel unklar an diesem Wort. Wer ist denn mit „Basis" gemeint? Die Parteibasis oder die Wählerschaft? Aber kann es in einer Demokratie eine andere Basis als jenen Demos geben, dessen Herrschaft eben mittels
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demokratischer Institutionen organisiert werden soll? „Basis" aber ist ein Relationsbegriff und impliziert darum immer irgendeine Feststellung darüber, wovon oder im Verhältnis wozu irgendetwas Basis sein soll. Es steht zu befürchten, daß der betonte und geradezu polemische Unterton, mit dem das Wort gebraucht zu werden pflegt, es von etwas abheben soll, was als „bloßer Überbau" abgewertet sein soll. Damit zeigt sich aber, daß dieser Sprachgebrauch von „Basisdemokratie" extrem vertikal und herrschaftsorientiert ist. Aber ist das eigentlich eine genuin demokratische Denkweise? Eine Frage, die auch an das Buch von Langer zu richten ist. Kein Wunder, daß unter Berufung auf basisdemokratische Privilegien, vor allem kaum abgrenzbare Vetorechte und Sperrminoritäten, die in der Satzung vollzogene Institutionalisierung von „Strömungen" den zweiten, als Anhang gedachten Teil des Programmes zum eigentlichen Inhalt der Politik der Grünen werden lassen und die eigentlich intendierte gemeinsame politische Willensbildung an den Rand drängen oder schon im Ansatz verhindern mußte. Noch mehr als die Formierung von Basisdemokratie ist es das Konzept der alternativen Partei, das auf Beziehungen zur im vorhergehenden Abschnitt dargestellten Systemopposition verweist. Das hieße dann freilich: Im Parteienkonzept der Grünen wird der Versuch unternommen, eine neu entdeckte Dimension politischen Handelns im Instrumentarium einer älteren politischen Philosophie zur Geltung zu bringen. Kann dieser Versuch gelingen angesichts der Tatsache, daß die ökologische Dimension über den Menschen prinzipiell hinausgreift bzw. auch die vormenschliche Wirklichkeit nicht mehr als etwas Untergeordnetes betrachtet werden darf? Aber gerade im Bereich dieser Frage liegen die nicht hinterfragbaren Gemeinsamkeiten zwischen den Grünen und den Bürgerbewegungen insgesamt. Mag es noch so sehr zutreffen, daß Ökologie als umfassende Dimension nicht Spezialinteresse einer einzelnen Partei oder vielmehr überhaupt nicht mehr einer Partei sein kann - aber diejenigen, die die strukturändernden Konsequenzen dieser neuen Dimension erkannt haben, werden mit allen denen kooperieren müssen, die, wie es in Abs. 4 der Präambel der Grünen heißt, „eine neue Form der Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen und ihrer Initiativen an politischen und parlamentarischen Planungs- und Entscheidungsprozessen" anstreben. Sie müssen es, weil sie erfahren haben, daß Freiheit des Menschen ohne Schutz des Lebens nicht möglich ist (Abs. 7). Genau das aber waren Grundüberzeugungen, die das politische Engagement in den Bürgerbewegungen der DDR-Opposition von Anfang an bestimmten. Als ihre Gruppierungen im Spätsommer 1989 in der politischen Öffentlichkeit erschienen, hatten sie schon eine mehrjährige Vorgeschichte hinter sich, die nicht Gegenstand dieser Parlamentslehre sein kann (hierzu Müller-Enbergs/Schulz/ Wiegohs: 1991).Unentbehrlich zu ihrer politologischen und parlamentsrechtlichen Würdigung aber ist die Berücksichtigung des dreifachen Herkunftsmilieus dieser Bewegungen in der früheren D D R : christliche und nichtchristliche Friedens- und Menschenrechtsgruppen, die Ökologiebewegung und schließlich die oppositionellen Strömungen in der SED, die von der letzteren ausgeschlossen und dadurch zur Verselbständigung gezwungen waren. Einen Sonderfall stellen dar die Bewegung Demokratischer Aufbruch und die Initiative zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei (SDP 2 ), die sich ursprünglich in nichts, weder im 2
D i e Sozialdemokratische Partei der D D R (SDP) wurde im Okt. 1989 gegründet, benannte sich 1990 in S P D um und fusionierte mit der S P D der alten Bundesrepublik.
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Ausgangsmilieu noch in der Programmatik von den anderen Bürgerbewegungen unterschieden - außer in der Entschlossenheit, so schnell wie möglich echte Parteistrukturen im herkömmlichen Sinne zu entwickeln (darum auch in Müller-Enbergs, Schulz, Wielgohs nicht erfaßt). Im Falle des Demokratischen Aufbruches leitete dieser Kurs einen sofortigen Zerfallsprozeß ein. Die Führungsgruppe des Demokratischen Aufbruchs spaltete sich in solche, die sich der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt anschlössen oder in die SPD eintraten, während der Rest, zunächst noch unter Beibehaltung des Namens Demokratischer Aufbruch das konservative Bündnis „Allianz für Deutschland" formieren half, um dann später in der C D U aufzugehen. Dieser höchst signifikante Aufspaltungsprozeß des Demokratischen Aufbruchs lehrt besser als alle theoretischen Darlegungen: Die Struktur dieser Bürgerbewegungen war so weit wie möglich durch ihre politischen Ziele und Prioritäten bestimmt. Daß das in solcher Klarheit der Fall war, verdient um so mehr gewürdigt zu werden, als diese Bewegungen noch bis ins Frühjahr 1990 unter Bedingungen handeln mußten, auf die die fortexistierenden Strukturen des Staatssicherheitsdienstes massiv Einfluß zu nehmen versuchten. Dabei muß man sich klarmachen, daß schon seit der 1. Phase des Helsinkiprozesses ab 1975 die kommunistischen Regime sich verpflichtet hatten, allzu spektakuläre Menschenrechtsverletzungen, wie sie noch in der Ära Ulbricht an der Tagesordnung waren, künftig zu unterlassen. So wurden allmählich die verdeckte Agententätigkeit, Subversion und Korruption die gegen die Oppositionsgruppen eingesetzten Hauptwaffen. Und mochte man noch so erfolgreich bei der Anwerbung von prominenten Spitzeln sein, die Demokratisierungsinitiativen der Bürgerbewegungen erwiesen sich als resistent gegen alle Unterwanderungsversuche. Es verhält sich im Ganzen so, wie in dem höchst paradigmatischen Versuch des letzten SED-Generalsekretärs Egon Krenz, angesichts der von den Bürgerbewegungen ergriffenen Initiative zur Einberufung des Runden Tisches diese aufzugreifen und als eine Idee der SED Ende November im „Neuen Deutschland" (ND v. 23.11.1989; Glaeßner: 1991, S. 89) zu publizieren. 3 Diese nicht zu trübende Zielklarheit war geschuldet jenen besonderen Umständen, in denen politische Bewegung und Handlungsstruktur ineins fallen mußten. Die ursprünglich, um 1980, dominierende Friedensfrage mußte angesichts der Raketenstationierungen immer auch einen ökologischen Aspekt implizieren. Die Losung „Schwerter zu Pflugscharen" verknüpfte ebenso präzise wie anschaulich Friedensengagement mit einem Impuls mit dem, was im konziliaren Prozeß der Kirchen „Integrität der Schöpfung" genannt wurde: Frieden als Ermöglichung eines menschlichen Umgangs mit der Gesamtwirklichkeit, der diese in Kreativität und Kultur einbezieht. Für die Friedensbewegung hieß das zu thematisieren, wie auf dem Weg der Demokratisierung Spannungen so abgebaut werden können, daß Kommunikation an die Stelle von Konfrontation tritt. In einem Teil der Bürgerbewegungen wurde dieser Vorgang schon 1987 bezeichnet als „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung" (Bickhardt: 1988, S. 16ff.). Zum gleichen Ergebnis führt die umgekehrte Sichtweise von der Ökologie zur Politik. Ökologie, das mußte in der D D R das Verfassungsrecht des freien Informationsrechtes tangieren, seit die kommunistische Administration Umweltdaten zu Staatsgeheimnissen deklariert hatte. Kein Wunder, wenn der erfolgreiche 3
N D , ehemaliges Staatsorgan der S E D .
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Aufbau von Informationsnetzen durch Ökologie- und Friedensgruppen nervöse Aktivitäten der Staatssicherheit zur Folge hatte und im November 1987 sogar wieder zu einem repressiven Zugriff, dem auf die Umweltbibliothek in der Berliner Zionsgemeinde führte. Nur zu verständlich, nachdem Tschernobyl den bereits eingetretenen Gefährdungsgrad ebenso schlagartig wie katastrophal hatte offenbar werden lassen. Die Menschenrechtsfrage schließlich war weltweit thematisiert seit Helsinki 1975, und das von den kommunistischen Machthabern als Verteidigungsstrategie gern angewandte Argument von der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten verlor mehr und mehr an Überzeugungskraft. Folglich mußte unter solchen Bedingungen jede Initiative gegen manifeste Menschenrechtsverletzungen als Opposition gegen ebenso offenkundige Demokratiedefizite politisch wirksam werden. Einmal mehr ein Druck, der nur die Identifikation von politischer und Handlungsstruktur bewirken konnte. Und auf diese Feststellung kommt es hier an: Die oben in Abschnitt 2 aufgestellten Charakteristika der Bürgerbewegung - Selbstorganisation einer lokalisierbaren und abgrenzbaren gesellschaftlichen Bewegung, deren politische Artikulation und Datierung - sie sind in allen drei Fällen mit Händen zu greifen. Die Bürgerbewegungen der früheren DDR wollten nicht eine von ihnen vorausgesetzte Bewegung repräsentieren. Sie waren in jedem Falle diese selbst, als Friedens- wie als Ökologie- oder Menschenrechtsbewegung. Ihre Datiertheit wirkt sich noch aus in ihren Erfolglosigkeiten. Weil sie sich nicht utopisch oder ideologisch, sondern politisch artikulieren wollten und konnten, waren gerade sie es, die im deutschen Vereinigunsprozeß die Verfassungsdiskussion initiiert und getragen haben. Und wenn der weiter unten zu besprechende Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches niemals in Kraft gesetzt worden ist oder noch werden wird, dann eben deswegen, weil er genau auf den Zeitraum des Vereinigungsprozesses nach der 1. freien Wahl datiert und konzipiert war. Natürlich war in dem Moment, da die Bürgerbewegungen ab Januar 1990 von der SED an ihrem organisatorischen Aufbau nicht mehr gehindert werden konnten, auch das Startsignal für Strukturdebatten, der Streit über das Bewegung-Bleiben oder Partei-Werden und damit die Gefahr erheblicher Zerreißproben gegeben. Wenn sie trotz ihrer ganz locker und unvollkommen entwickelten Struktur, ihres ständigen Personalnotstandes diesen Zerreißproben nicht erlegen sind, dann deswegen, weil immer neue Konsequenzen ihrer Anfangsinitiativen sie in Bewegung hielten und darum die Strukturdebatte ins zweite Glied verwiesen: die Aufgaben der Beteiligung an 4 Wahlen, parlamentarische Arbeit auf kommunaler, Länderund Bundesebene und die damit verbundenen wirtschafts-, sozial- und rechtspolitischen Herausforderungen. Am ausgiebigsten und leidenschaftlichsten ist diese Kontroverse in den überregionalen Vertretertreffen des Neuen Forums 4 ausgetragen worden. Das hatte sicherlich auch den Grund, daß - ähnlich wie im Fall des Demokratischen Aufbruchs - sich auch vom Neuen Forum relativ früh eine Gruppe abspaltete, die auf jeden Fall Partei werden wollte („Neue Forum Partei"). Aber diese Separation war nur dem viel intensiveren anderen Bestreben geschuldet, das Neue Forum als
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Das „Neue Forum" war die bekannteste Bürgerbewegung der D D R , welche sich 1990 dem Bündnis 90 gemeinsam mit anderen Initiativen anschloß.
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die paradigmatische Bürgerbewegung zu organisieren, ein Vorhaben, das angesichts der sechsstelligen Mitgliederzahlen des Herbstes 1989 nur zu begreiflich erschien (dazu auch Glaeßner: 1991, S. 46ff.). So kam es auch im Neuen Forum zu angestrengten Versuchen, die Begriffe „Basisdemokratie" und „Bürgerbewegung" verbindlich und politisch wirksam zu definieren. Nach § 3 seines Statutes arbeitet das Neue Forum auf der Grundlage der Basisdemokratie, deren Wesen darin bestehe, daß Meinungsäußerungen und politische Willensbildung sich in einem demokratischen Prozeß von unten nach oben vollziehen. Wie ernst es mit dieser Festlegung gemeint war, zeigt ein als Kommentar zu dieser Statutenbestimmung entworfener Kodex basisdemokratischer Verhaltensweisen, der zu erläutern versucht, wie die eigenständige Artikulation von Interessen, ihre öffentliche Vertretung in Formen demokratischer Meinungsbildung bis hin zu konkreten Handlungsanweisungen zu geschehen hat (Müller-Enbergs/Schulz/Wiegohs: 1991) Aber auch noch außen sollte deutlich werden, was man unter einer Bürgerbewegung im Gegensatz zu Parteien zu verstehen hat: So etwas wie eine dritte Kraft im Parlament, weder Regierung noch Opposition, Gewissen der Nation, Vorentwurf einer angstrebten solidarischen, multikulturellen Gesellschaft (Müller-Enbergs/Schulz/Wiegohs: 1991, S. 42). Weniger der hochgemute Anspruch, der hier so freimütig geäußert wird, ist das auffallende an dieser Formulierung, als die kritiklose und vorbehaltlose Wiederaufnahme des Repräsentationsprinzips, die sich hier vollzieht: Die Bürgerbewegung als Repräsentantin künftiger Gesellschaft. Freilich kann es sich hier nur um die Repräsentation einer imaginären Größe handeln. Und verhält es sich sehr viel anders mit jener postulierten „Dritten Kraft"? Wieso ist sie das, wenn sie doch weder Regierung noch Opposition, aber doch im Parlament sein will, das doch etwas Drittes zwischen Regierung und Opposition nicht kennt? Mit dem Statut der Grünen teilt das des Neuen Forum die ungelöste Frage, was denn unter „Basis" und „Unten" zu verstehen sei. Auch hier bleibt offen, ob unter beidem die Grundorganisationen oder die demokratische Öffentlichkeit zu verstehen seien. Bei „Oben" ist offenbar an so etwas wie Landes- bzw. Bundesebene gedacht - aber wieso ist das „Oben"? Und gibt es zur demokratischen Öffentlichkeit überhaupt ein „Oben"? Die Vermutung drängt sich abermals auf, daß diese mit „Unten" und „Oben" hantierende Begrifflichkeit ganz gegen ihre eigenen Intentionen mehr hierarchie- und herrschaftssphärenorientiert ist, als es der angestrebten Sache der partizipatorischen und kommunikativen Demokratie guttun kann. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der leidenschaftliche Streit um Bürgerbewegung als Gegeninstanz zu Parteien schon in dem Moment überholt war, als eine politische Kooperation auf parlamentarischer Ebene entstand, die sowohl die Grüne Partei - allerdings die der damaligen D D R - w i e die Bürgerbewegungen des Bündnis 90 umfaßte. Diese Feststellung ist auch kein Anlaß zu der kritischen Feststellung, das entspräche nicht der basisdemokratischen Willensbildung von Unten nach Oben, sondern verfahre genau umgekehrt und wolle durch Entscheidungen oben die Basis unten präjudizieren. Parallel zu der parlamentarischen ergaben sich ganz analoge Kooperationen in Basisgruppen - ein Anlaß mehr zur Relativierung j enes Oben und Unten.
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III. Wahlrecht und Wahlpraxis 1. Kommunale, territoriale und nationale Wahlteilnahme Der Streit, ob an Wahlen überhaupt teilgenommen werden solle, ist für Bürgerbewegungen unvermeidlich. Er muß - zumal vor landes- und bundesweiten Wahlen - immer neu geführt werden. Denn wenn es die Grenzen der Repräsentation sind, auf denen die politische Relevanz der Bürgerbewegungen beruht, dann kann es nichts weniger als selbstverständlich sein, daß man sich an einem politischen Meinungs- und Mehrheitsbildungsprozeß beteiligt, an dessen Ende zuwangsläufig die Etablierung einer bestimmten Mehrheits- und Minderheitsrepräsentation steht. Im Blick auf die Bundestagswahlen 1969 hat beispielsweise Rudi Dutschke schon 1967 die ablehnende Position mit Argumenten begründet, die noch heute die Diskussion der Bürgerbewegungen beherrschen. Da man überzeugt sei, daß durch Wahlen im Verhältnis der Gesellschaft zur Macht- und Herrschaftssphäre sich gar nichts ändern könne, muß die außerparlamentarische Opposition den Wahlkampf nutzen, um gegen ihn Bewußtseinsprozesse zu induzieren, mittels deren die Mobilisierung der gesellschaftlichen Oppositionsbasis erweitert und das den konkurrierenden Parteien abgewonnene Potential nicht in die bestehenden Institutionen, sondern in die alternativen Clubs und deren Ansätze zur Selbstorganisation eingebracht wird, so daß der Wahlkampf zum weiteren Ausbau einer Subkultur, eines Gegenmilieus dienen könne. (Dutschke: 1981, S. 56). Daß man von ähnlichen Voraussetzungen damals auch zu ganz anderen Konsequenzen kommen konnte, zeigt Langer (:1988, S. 275ff.). Berichtet er doch über Verhandlungen, die im Juli 1968 nur wenige Wochen vor der gewaltsamen Unterdrückung des Prager Frühlings zwischen Vertretern der herrschenden Kommunisten und denen des Clubs engagierter Parteiloser stattgefunden hatten. Langer schildert, wie die Vertreter einer angesichts schwindender gesellschaftlicher Zustimmung verunsicherten Parteiherrschaft einer Bewegung ratlos gegenüberstanden, die trotz massiver öffentlicher Unterstützung nicht nach Macht und fester Organisation strebte, nicht einmal Genaueres über die Anzahl ihrer Mitglieder und Sympathisanten auszusagen vermochte. Andererseits aber ließ eine solche Bewegung doch die Bereitschaft durchblicken, im Falle von Neuwahlen auf Listen der herrschenden Partei zu kandidieren. Eine Position, die einerseits natürlich das in der damaligen CSFR noch unbestrittene System des kommunistisch dominierten Parteienblocks voraussetzte. Andererseits ging es der tschechoslowakischen Parteilosenbewegung darum, ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber parteitaktischen Gesichtspunkten zu demonstrieren. Sie wollte allein auf Autorität, Kompetenz und gesellschaftliche Resonanz ihrer Initiativen setzen. Ihre Macht sollte einzig und allein in dem Einfluß bestehen, der der selbsterworbenen Autorität ihrer Mitglieder entsprang, wo auch immer sie ausgeübt wurde, ob in Betrieben, Clubs, Parteien oder Pariamenten. Die im Spätsommer und Herbst 1989 aktiv werdenden Bürgerbewegungen der früheren D D R nahmen diese Diskussion auf einem neuen Niveau und unter gänzlich veränderten Ausgangsbedingungen auf. Die erste gemeinsame Verlautbarung aller gegen die SED-Herrschaft opponierenden Bürgerinitiativen (zu ihnen zählte sich damals auch noch die Initiativgruppe Sozialdemokratische Partei in der D D R ) vom 4.10.1989 erklärt unumwunden
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als Ziel der Unterzeichner, gemeinsame Kandidaten für demokratische Wahlen aufzustellen (taz-Journal D D R : 14.12.1989, S. 24). Verschiedene Positionen wurden in dem Moment sichtbar, als es galt, die Entscheidungen des Zentralen Runden Tisches 5 für einen künftigen Wahltermin und das dabei anzuwendende Wahlgesetz vorzubereiten. Besonders von Vertretern des Neuen Forum wurde dabei geltend gemacht, man müsse zunächst Kommunalwahlen durchführen. Einmal deswegen, weil die vorangegangenen Wahlen Kommunalwahlen gewesen seien, und man gerade diesen Wahlen massive Verfälschungen des Ergebnisses nachgewiesen habe. Darüber hinaus sei es erforderlich, die politische Erneuerung an der Basis statt auf höchster staatsparlamentarischer Ebene beginnen zu lassen. Hier zeichnet sich ein Kompromiß ab, mittels dessen die Spannung zwischen Basis- und Repräsentativdemokratie ausgeglichen werden könnte. Kann man doch die kommunale Ebene als die betrachten, auf der Repräsentanten und Repräsentierte zwar nicht identisch, aber jedenfalls auf der gleichen gesellschaftlichen Ebene, im gleichen lokalen Milieu lebend im unmittelbaren Kontakt ohne alle Zwischeninstanzen miteinander umgehen können. Eine Vorstellung, die etwa in den Reformentwürfen des Kreisauer Kreises dazu geführt hat, eine Verfassung zu entwerfen, welche die Direktwahl nur noch auf der örtlichen Ebene, im Rahmen der Selbstverwaltung kleiner und vollständig überschaubarer Gemeinschaften zuläßt (Winterhager: 1985, S. 216). Die Erfahrungen mit Kommunalwahlen in der ehemaligen D D R am 6.5.1990 lehrten aber dann die Bürgerbewegungen sehr bald, daß die politischen Spannungen zur Parteienrepräsentation auf dieser untersten Ebene nicht geringer sind als auf territorialer oder nationaler. Das Spannungsverhältnis von Repräsentation und Basispräsenz ist auch hier schon im vollen Umfang gegeben. Diese Einsicht, daß die Bürgerbewegungen ihr Verhältnis zur Repräsentation auf allen Mandatsebenen klären müssen, kann gar nicht ernst genug genommen werden. Denn es bedeutet, daß sie ihr Politikkonzept nirgendwohin delegieren können, es vielmehr auf kommunaler, auf Landesebene wie Bundesebene selbst politisch zu vertreten wie zu verantworten haben. Langer scheint derjenige zu sein, der die demokratietheoretischen Konsequenzen dieses Sachverhaltes am deutlichsten erkannt und beschrieben hat. Schon ehe der Demokratisierungsprozeß der ehemals kommunistischen Länder die Probe aufs Exempel liefern konnte, haben seine Überlegungen zu einer neuen „Technologie der Freiheit" klargestellt, daß die Diskussionen über die Alternative von parlamentarischer oder außerparlamentarischer Politik der Bürgerbewegungen einem überholten Stand politischen Bewußtseins zugehört, jenem der weiter oben diskutierten Systemopposition. Ist die Komplexität der gesellschaftlichen 5
Nach dem polnischen Vorbild im Dez. 1989 eingerichtetes Gremium, dem Vertreter der Opposition und der Regierung angehörten und welches vor allem Empfehlungen für die administrative Bewältigung der Umbruchsituation vorlegte. D e m Zentralen Runden Tisch, der am 7.12.1989 zum ersten Mal tagte, gehörten folgende Parteien und Gruppierungen an: F D G B : 2 Vertreter; Vereinigte Linke: 2; SDP: 2; Demokratie Jetzt: 2; Neues Forum: 3; Grüne Partei: 2; Initiative Frieden & Menschenrechte: 2; Grüne Liga: 2; Unabhängiger Frauenverband: 2; Demokratischer Aufbruch: 2; SED-PDS: 3; Sorbischer Runder Tisch: 1; Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe: 2; C D U : 3; D B D : 3; N D P D : 3; L D P D : 3 (dazuinsgesamt Glaeßner: 1991, S. 89ff.;Thaysen: 1990;Herles/Rose: 1990).
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Selbstorganisation politischer Willensbildung in vollem Umfang erkannt worden, dann bleibt für die Dualismen des Systemdenkens kein Raum mehr. Das gilt auch für das System der Parteienrepräsentation. Langer (:1988, S. 301ff.) stellt dar, daß der Vertreter/die Vertreterin der nicht parteigebundenen Bürgerbewegung im Parlament einerseits genau der verfassungsrechtlichen Definition des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes entspricht, andererseits durch seine Unabhängigkeit von parteigebundenen Fraktionen ganz neue Gruppierungen der parlamentarischen Meinungsbildung zuläßt, wie sie weit eher aktuellen Bürger- und Bürgerinnenaktivitäten entsprechen. Es wird durch die Bürgerbewegungen nunmehr im Parlament selbst sichtbar, inwiefern Parteien an Grenzen der Repräsentation stoßen. Wenn es weniger darauf ankommt, Wählergruppen und ihre Verbands- und Individualinteressen zu repräsentieren als dem Parlament, Landes- und Bundesregierungen eine Problemsituation des Ganzen der Gesellschaft zu präsentieren, die Verfassungsorgane des Staates mit ihr zu konfrontieren, dann braucht es nicht mehr als Polemik mißverstanden zu werden, wenn behauptet wird: Wenn politische Praxis und politische Philosophie beim status quo der reinen Parteienrepräsentation verharren wollten und ohne die Bürgerbewegungen, wäre das Ganze der Gesellschaft weder auf lokaler, regionaler noch auf gesamtstaatlicher Ebene präsent. 2. Wahlrecht und Wahlgesetz Verlangt die Teilnahme der Bürgerbewegungen am politischen Willensbildungsprozeß eine Änderung des geltenden Wahlrechts? Diese Frage stellte sich solange nicht, wie Bürgerbewegungen die Teilnahme jedenfalls an bundes- und landesweiten Wahlen ablehnten oder, wie im Falle der Grünen, ihre Politisierung durch Gründung einer bundesweit wählbaren Partei vorantrieben. Um so aufschlußreicher war die Diskussion über diese Frage, die am Zentralen Runden Tisch und vor allem in dessen Arbeitsgruppe „Neues Wahlgesetz" geführt worden ist, als es galt, die demokratische Neuwahl der Volkskammer vorzubereiten, die, ursprünglich für den 6.5.1990 vorgesehen, dann bereits am 18.3.1990 stattgefunden hat. Diejenigen, die diese Wahlen vorbereiteten und für deren demokratischen Charakter Sorge zu tragen hatten, sahen sich gegenüber eine Volkskammer, die noch aus einer der undemokratischen Blockparteiwahlen hervorgegangen war. Fragwürdig war die Zusammensetzung dieses Parlamentes aber auch deswegen, weil in ihm als Mandatsträger nicht nur die Vertreter von Blockparteien, angeführt und dominiert von der SED, vertreten waren, sondern auch Angehörige von sogenannten Massenorganisationen (Demokratischer Frauenverband, FDGB, FDJ, Kulturbund, Vereinigung der gemeinsamen Bauernhilfe), die wegen ihrer Doppelmitgliedschaft den Parteien, vor allem der SED, zu zusätzlichen Mandaten („Schleppmandaten") verhalfen. Daß dieser Zustand durch die Wahlen beendet werden müßte, war gemeinsame Überzeugung aller Reform- und Oppositionskräfte. So erklärt es sich denn auch, daß Teile der Opposition, besonders diejenigen, die sich mittlerweile von der gemeinsamen, am 4.10.1989 festgelegten Plattform entfernt und als Parteien konstituiert hatten, zuallererst die neugegründete Sozialdemokratische Partei der DDR, aber auch die am 4.10.1989 noch gar nicht vor-
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handene Grüne Partei, mit aller Schärfe für ein reines Parteienwahlgesetz einschließlich 5-%-Klausel aussprachen. Selbst eine so typische Bürgerinitiative wie die Dresdner „Gruppe der 20", deren schon am 8.10.1989 begonnener Dialog mit der damaligen Dresdner SED-Stadtverwaltung zu den wichtigsten Vorstufen der Runden Tische gehörte, legte der Wahlgesetz-Arbeitsgruppe des Zentralen Runden Tisches einen Entwurf „Grundzüge des neuen Wahlrechts" vor (datiert vom 20.12.1989, Xerokopie in der Handakte des Verfassers), welche Bürgerinitiativen den „Massenorganisationen" aus der SED-Zeit gleichstellt und darum deren Teilnahme an der Wahl ausschließt („Massenorganisationen und Bürgerinitiativen können keine Wahllisten aufstellen", S. 2 ebenda). Wenn diese, wie gerade festgestellt werden konnte, bis in die Bürgerbewegungen hinein Plausibilität findende Kompromißlosigkeit sich dann schließlich doch nicht durchsetzen konnte, dann ist das wohl dem Zusammenwirken von besonders zwei Umständen geschuldet. Die ehemaligen Blockparteien waren nicht geneigt, ihren jungen Konkurrentinnen - SDP und Grüne Partei - das Feld einer von ihrer bisherigen Bevormundung freigewordenen Wählerschaft allein zu überlassen; ein Motiv, das natürlich besonders für die SDP galt. Der andere Umstand aber war das durch die friedliche Revolution und ihre Auseinandersetzung mit einer Partei wie der SED geschärfte Bewußtsein der Bürgerbewegungen. Vergleiche mit den „Massenorganisationen" der SED-Zeit waren schon angesichts der geringen Mitgliederzahlen, die höchstens zeitweise vom Neuen Forum übertroffen wurden, abwegig. Aber viel wichtiger war die inzwischen gewonnene Klarheit darüber, daß Bürgerbewegungen sich darin von Parteien unterscheiden, daß ihr Kern eine lokal und temporal begrenzte Initiative ist, deren politische Bedeutung weniger von ihrer Mitgliederzahl als ihrer gesellschaftlichen Resonanz abhängt (zum Resonanzprinzip Langer: 1988, S. 258ff.). Die endgültige Festlegung im Wahlgesetz für den 18.3.1990 wurde getroffen über eine Liste von Alternativvorschlägen, die die Arbeitsgruppe dem Plenum des Zentralen Runden Tisches am 22.1.1990 vorlegte. Diese Alternativvorschläge spiegeln nochmals die geschilderte Diskussionslage, in der die Fronten sich so versteift hatten, daß die Arbeitsgruppe, um Blockade oder Kampfabstimmung zu vermeiden, auf eine Entscheidung ihrerseits vezichtete und darum dem Runden Tisch 4 Vorschläge präsentierte, die sich ausschließende Grundpositionen und 2 ihnen entsprechende Kompromißvorschläge enthielten. Diejenigen, die für ein ausschließendes Parteienwahlrecht plädierten, versuchten den Vertretern der Bürgerbewegungen dadurch gerecht zu werden, daß ihnen ermöglicht werden sollte, unter Nennung ihrer Herkunftsorganisation auf Parteilisten zu kandidieren. Diejenigen, die die Wahlbeteiligung von Parteien und Bürgerbewegungen favorisierten, schlugen vor, zu dem Satz „Wahlvorschläge können von Parteien eingereicht werden" in einer Fußnote Partei so als politische Vereinigung zu definieren, daß unter diesen Oberbegriff auch Bürgerbewegungen fallen. Daß diese letzte Variante vom Runden Tisch angenommen und damit auch Bestandteil des Wahlgesetzes für den 6.5. bzw. 18.3. wurde, muß als eine Entscheidung von nicht leicht überschätzbarer Tragweite angesehen werden. Nicht nur, weil es den Bürgerbewegungen die Wahlteilnahme und damit trotz ihres schlechten Wahlergebnisses den Einzug ins Parlament ermöglichte. Vielmehr beruht auf dieser Integration der Bürgerbewegungen in ein an Parteien orientiertes Wahlrecht auch die Möglichkeit der Anwendung des Parteiengesetzes der Bundesre-
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publik auf die Bürgerbewegungen aus der früheren D D R . Denn § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes definiert ebenfalls Parteien als „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des Volkes im deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen". Durch die gesellschaftliche Entwicklung ist ein ganz neues Licht auf eine besondere Qualität dieses Parteiengesetzes geworfen worden. Seine Parteiendefinition ist so formal und operiert auf eine Weise mit dem Begriff der politischen Vereinigung, daß die Bürgerbewegungen ohne Änderung des Gesetzestextes in dessen Geltungsbereich und damit auch den des entsprechenden Wahlrechtes integriert werden können. Den hitzigen Debatten um Partei oder Bürgerbewegung, wie sie immer wieder einmal im Interesse der sogenannten basisdemokratischen Position vom Zaune gebrochen werden, ist angesichts dieser Rechtslage die Basis entzogen. Es bestätigt sich damit auch jene Praxis von Bürgerbewegungen, mit Grünen zusammenzuarbeiten, die sich in der früheren D D R ausdrücklich „Grüne Partei" nannten, ohne daß die Bürgerbewegungen dabei auch nur im mindesten willens gewesen wären, von ihrer politischen Praxis und Philosophie deswegen abzuweichen. Auch dann, wenn sich herausstellt, Parteienpluralität ist mit der Vertretung von Bürgerbewegungen als politische Vereinigungen im Parlament vereinbar, gilt dennoch weiterhin für die letzteren: Sie sehen nach wie vor ihre politische Aufgabe nicht in Repräsentanz und Interessenvertretung, sondern in der Sammlung von Erfahrungskompetenz auch dort, wo kein Repräsentativsystem mehr wirksam zu sein oder zu werden vermag.
3. Finanzierung und Chancengleichheit Als eine weitere wichtige Konsequenz der Einordnung von Bürgerbewegungen in Parteien- und Wahlrecht muß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Wahlgesetz für die 1. Bundestagswahl nach der deutschen Vereinigung am 2.12.1990 angesehen werden. Im Sinne der Chancengleichheit aller zur Wahl antretenden Parteien und Vereinigungen verwarf das oberste Verfassungsgericht den Plan, die Wahl in einem einheitlichen Wahlgebiet durchzuführen und allein für die mit der CSU liierte DSU im Gebiet der ehemaligen D D R die Ausnahme einer Listenverbindung zuzulassen. Die Ungleichheiten zwischen Altparteien, den mit ihnen mittlerweile fusionierten ehemaligen Blockparteien und den erst im Herbst 1989 bzw. Frühjahr 1990 gegründeten Gruppierungen wären allzu krass gewesen. Ebenso deutlich ist freilich, daß diese Sonderregelung unter dem Gesichtspunkt der Chancengleichheit bei keiner künftigen Bundestagswahl wiederholt werden darf. Das freilich wirft für die Bürgerbewegungen, die sich seit September 1991 zu einer bundesweit wählbaren politischen Vereinigung Bündnis 90 konstituiert haben, organisatorische und finanzielle Probleme auf, die von einer Lösung weit entfernt sind. Besonders die Finanzfrage führt diese Gruppen in ein besonders unangenehmes Dilemma. Da sie ihrem Wesen nach niemals so mitgliederstark wie eine Massenoder Volkspartei werden können, werden sie zur Finanzierung ihres politischen, publizistischen und organisatorischen Arbeit auf relativ hohe Mitgliederbeiträge
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angewiesen sein. Aber auch das wird ihre Ausgaben immer nur teilweise decken können. Ein vom Zentralen Runden Tisch veranlaßter Ministerratsbeschluß der vorletzten DDR-Regierung vom 21.12.1989 sollte wenigstens die allernötigsten Startbedingungen (Räume, Kraftwagen, Telefone, Papier- und Schreibkapazitäten) als ein Zeichen guten Willens und der Wiedergutmachung vonseiten der SED zur Verfügung stellen. Die inzwischen immens gewachsenen Personal- und Sachausgaben aber wären ohne Inanspurchnahme der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung laut § 18 Parteiengesetz ganz gewiß nicht mehr zu bestreiten. Wie die Grünen in der alten Bundesrepublik geraten die Bürgerbewegungen als in besonderem Maße durch relativ hohe Mitgliederbeiträge finanzierte Gruppierungen in einen erheblichen Nachteil gegenüber den mitgliederstarken Großparteien mit verhältnismäßig niedrigen Mitgliederbeiträgen, die bei der inzwischen durch eine Änderung von § 18 Parteiengesetz eingeführten „Sockelbetragsregelung" erheblich besser bedacht werden. Die im Zusammenhang mit dieser Frage beim Bundesverfassungsgericht anhängige Klage der Grünen gegen Beeinträchtigung der Chancengleichheit führt in prinzipielle Fragen nach der verfassungsrechtlichen Stellung von Parteien und Bürgerbewegungen. Sollen die vorhandenen Ungleichheiten - wie ein Vorschlag vonseiten der Grünen vorsieht - dadurch aufgefangen werden, daß alle Parteien und an Bundestagswahlen beteiligten Vereinigungen unabhängig von Wahlkämpfen eine staatliche Grundfinanzierung erhalten, auf einem wesentlich niedrigeren Niveau als die jetzigen so kompliziert zusammengesetzten und im Einzelfall darum oft genug ungerechten, weithin nur noch scheinbar im Zusammenhang mit Wahlen stehenden Mittelausschüttungen? So plausibel diese Argumentation klingen mag - sie entkräftet nicht alle jene Bedenken, die darauf verweisen, in wie hohem Maße Parteien jetzt schon de facto aus freien gesellschaftlichen Kräften zu staatstragenden Institutionen geworden sind. Sollen sie das durch eine offizielle Gesamtfinanzierung ihrer Arbeit nun auch noch de jure werden? Das Interesse der Bürgerbewegungen aber muß es sein, ihre Organisationsstruktur so effiziert, flexibel und durchsichtig zu gestalten, daß die Finanzierung zwar immer auf verhältnismäßig hohe Mitgliederbeiträge angewiesen bleiben wird, die darüberhinaus anfallenden Kosten aus Beiträgen gesellschaftlicher Sponsoren und aus dem Umkreis des jeweiligen Engagements für die von den Bürgerbewegungen angestoßenen und getragenen Projekte herkommt, unbeschadet staatlicher Wahlkampfkostenerstattungen.
I V . Bürgerbewegungen und Parlament 1. Bürgerbewegungen im Rahmen parlamentarischer Geschäftsordnung Nirgendwo wird das Verhältnis von gesamtgesellschaftlichem und innerparlamentarischem Diskurs deutlicher faßbar als in der Geschäftsordnung, die sich das Parlament selbst gibt. Die im Zusammenhang, der hier interessiert, entscheidende Bestimmung der Geschäftsordnung des Bundestages steht in dessen 10. Paragraphen: „Die Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien ange-
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hören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Schließen sich Mitglieder des Bundestages abweichend von Satz 1 zusammen, bedarf die Anerkennung als Fraktion der Zustimmung". An dieser Bestimmung wird ein bemerkenswerter Abstand zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit offenbar. Nach Art. 21 Abs 1 Grundgesetz wirken die Parteien mit bei der politischen Willensbildung des Volkes. Die Übernahme der 5-%-Klausel aus dem Wahlgesetz in die Geschäftsordnung des Bundestages läßt aus der Mitbestimmung ein Bestimmen über die politische Willensbildung werden. Eine für die Wahl aus politischer Opportunität vorgenommene Einschränkung der Chancengleichheit wird zur parlamentarischen Gesetzlichkeit erhoben, die die dominierenden Fraktionen allen anderen auferlegen. Daß es sich hier um politische Opportunität handelt, die im gegebenen Fall dann doch dem demokratischen Prinzip der Chancengleichheit zu weichen hat, zeigt die Ausnahme, die das Bundeswahlgesetz an der gleichen Stellen wie die 5-%Klausel festlegt, indem es bestimmt, daß diese auf die Parteien nationaler Minderheiten nicht angewandt werden darf (§ 6 Abs. 4 Bundeswahlgesetz). Aus dem gleichen Grund hat das Bundesverfassungsgericht für die Wahl am 2.12.1990 festgelegt, daß diese Klausel für die neuen Gruppierungen aus der früheren DDR nur für das Wahlgebiet der beigetretenen Ostländer angewandt werden dürfe. Denn ohne diese Einschränkung hätten diese Gruppierungen in vielen Teilen der neuen Gesamtbundesrepublik einen Stimmenanteil von nahezu 25% erreichen müssen, um im gesamten Bundesgebiet auf 5% zu kommen (Auszüge aus dem Vertrag zur gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2.08.1990 in Gransow/ Jarausch: 1991, S. 198f.). Es ist hier nicht der Ort, die Stichhaltigkeit der Argumente zu prüfen, die zugunsten der 5-%-Klausel angeführt werden. Was aber hier konstatiert werden muß, ist die genaue Umkehrung der Kräfteverhältnisse, die jener § 10 der Geschäftsordnung des Bundestages dokumentiert. Waren es einst die Fraktionen des Parlamentes, die sich als Unterstützung die außerparlamentarischen Parteien schufen, so sind es numehr umgekehrt die letzteren, die den innerparlamentarischen Diskurs präjudizieren. In wie hohem Maße diese Mehrheitenpolitik der Fraktionen status-quo-orientiert ist, zeigte sich, als am Anfang der 80er Jahre mit den Grünen eine neue Fraktion in den Bundestag einzog. Natürlich mußten die in der Geschäftsordnung vorgesehenen Rechte auch auf sie angewandt werden. Trotzdem vermochte die Majorität der älteren Fraktionen es immer wieder, ihnen wichtige Rechte vorzuenthalten, wie die Stellung eines Vizepräsidenten des Bundestages, die Beteiligung an der Kontrolle der Geheimdienste und an vertraulichen Gesprächen mit der Regierung. Das Ergebnis war der in der Geschäftsordnung des deutschen Bundestages gar nicht vorgesehene Fall einer Fraktion minderen Rechtes oder zweiten Ranges. Einerseits klarer, andererseits komplizierter ist die Situation derer, die als gewählte Abgeordnete für die ostdeutschen Bürgerbewegungen nach dem 2.12.1990 mit nur 8 Mandatsträgern, also weit unter Fraktionsstatus, in den Bundestag einzogen. Ein Fall, auf den Absatz 4 des schon zitierten § 10 der Geschäftsordnung des Bundestages genau zutrifft: „Mitglieder des Bundestages, die sich zusammenschließen wollen, ohne Fraktionsmindesstärke zu erreichen, können als Gruppe anerkannt werden" (dazu§ 10VI. u. VII.).
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Allein was sollen die parlamentsrechtlichen Folgen dieser Anerkennung sein? Die Geschäftsordnung läßt das offen, und so lag es wiederum in der Hand der etablierten Fraktionen, diese Anerkennung inhaltlich auszugestalten. Eine volle Gleichstellung der Abgeordneten der Bürgerbewegungen mit den Fraktionen konnte nicht im Interesse der großen Fraktionen sein. Denn wer wollte nach diesem Präzedenzfall dann andere, durch Sonderinteressen verbundene Abgeordnete der Großfraktionen hindern, sich zu dem Zweck zu verbünden, den in mancher Hinsicht für die Wirkungsmöglichkeiten des Einzelnen günstigeren Status einer anerkannten Gruppe zu erreichen? Andererseits konnte das Karlsruher Urteil zum Wahlgesetz den Gedanken nahelegen, daß die Modifikation der Anwendung der 5-%-Klausel auch Auswirkungen auf die Geschäftsordnung des Bundestages haben und somit die Anerkennung der Abgeordneten der Bürgerbewegungen aus den Ostländern als Fraktion nach sich ziehen müsse. Eine in diesem Sinn von der Gruppe der PDS eingereichte Klage ist mittlerweile abgewiesen worden. Mit einsichtigen Gründen. Denn so sehr das Vorhandensein von Fraktionen bzw. Gruppen minderen Rechtes in einem Parlament der vom Grundgesetzartikel 38 postulierten Gleichheit aller Abgeordneten widersprichtman kann nicht abstrahieren von der Tatsache, daß an Zahl so kleine Gruppen gar nicht in der Lage wären, den vollen Aufgabenbereich aller Ausschüsse und Kommissionen so auszufüllen, wie das die personalstarken Fraktionen vermögen. Im übrigen aber sollte nie vergessen werden: Das erstmalige Vorhandensein von Abgeordneten der Bürgerbewegungen in einem Bundesparlament signalisiert den Beginn einer ganz neuen Epoche der Parlamentsgeschichte. Wenn Langers Behauptung zutrifft: „Der hier geschilderte Einzug der parteilosen Basis in die Parlamente wird zweifelsohne einen sukzessiven Abbau der Privilegien der Parteien zur Folge haben, die außer auf dem Gebiet der Parteienfinanzierung und der Wahlordnungen nicht zuletzt auch in den Geschäftsordnungen der Parlamente durch Begünstigung von Parteifraktionen ihren Niederschlag fanden." (Langer: 1988, S. 301) - wenn dies zutrifft, dann dürfen die Bürgerbewegungen sich nicht wundern, auf harte Gegenwirkungen der bisher Privilegierten zu stoßen. Für die Bürgerbewegungen aber dürfte es wenig Sinn machen, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, um dort für Privilegien zu streiten, deren Besitz sie den Parteien immer vorgeworfen haben. Ihr Augenmerk sollte vielmehr darauf gerichtet sein, durch die Arbeit im Parlament selbst und die in ihr bewiesene Kompetenz zu demonstrieren, daß die Demokratie nur gewinnen kann, wenn Parteien und Bürgerbewegungen kooperieren, statt sich die Existenz streitig zu machen. Denn dieses schließt eine demokratische Konkurrenz um die besten Problemlösungen keineswegs aus.
2. Innerfraktionelle Arbeitsweise Wäre es unter solchen Umständen nicht am folgerichtigsten, Vertreter der Bürgerbewegungen würden in Parlamenten, vor allem auf gesamtstaatlicher Ebene, auf alle Fraktions- bzw. Gruppenrechte generell verzichten und lediglich als fraktionslose Einzelabgeordnete auftreten? Hätte das nicht auch symbolisch veran-
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schaulichen können, daß Bürgerbewegungen irgendwelche Art von Fraktionszwang nicht anzuerkennen willens sind? Diese Erwägung könnte noch durch die andere verstärkt werden, daß selbst in einer kleinen Abgeordnetengruppe mehrere Bürgerbewegungen vertreten seien, und deswegen in der Tat einige Abgeordnete die einzigen Repräsentanten ihrer Gruppe im Parlament sein können. Verfassung und Geschäftsordnung ließen eine solche Praxis jedenfalls zu, versteht jene den Abgeordneten doch ohnehin nicht als Vertreter einer Partei (Art. 38 Abs. 1 G G ) , sondern als Vertreter des ganzen Volkes, an Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen (i.e. § 4 II.). Dem entsprechen auch die Antrags-, Frage- und Rederechte des Einzelabgeordneten, die auszuschöpfen ein Einzelner gar nicht in der Lage sein wird. Wenn die Bundestagsgruppe Bündnis 90/Die Grünen diesen Weg doch nicht gegangen ist, dann wegen der Unumgänglichkeit politischer Aufgaben, die gemeinsame Initiativen voraussetzen wie Gesetzes- oder Änderungsanträge, Ausschußarbeit, die mehrere Sachbereiche tangiert, Pressekonferenzen und öffentliche Anhörungen, ganz zu schweigen von der Koordination und Organisation eines nicht unbeträchtlichen Mitarbeiterstabes. Auch nach der Annahme des Gruppenstatus ist es möglich, sich deutlich von jeder Art Fraktionszwang zu distanzieren. Für das Abstimmungsverhalten können Sachverständigenempfehlungen gegeben werden, die befolgt, aber auch abgelehnt werden können. Es kann eine Einigung darüber geben, daß auch nach Sachentscheidungen, die mit einer Abstimmungsmehrheit der Gruppe vollzogen sind, ein Minderheitsantrag, der freilich als solcher gekennzeichnet sein muß, ins Parlament eingebracht werden kann (Geschäftsordnung der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen). Statt eines Fraktionsvorstandes kann ein geschäftsführender Ausschuß beauftragt werden, der die für die Geschäftsführung nötigen Zeichnungs- und Entscheidungsrechte erhält und die Fraktion bzw. Gruppe auch im Ältestenrat vertritt. Für die Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie könnten die Erfahrungen einer Gruppe - im technischen und nichttechnischen Sinne des Wortes - durchaus von Bedeutung sein, die zusammengehalten wird nicht durch das traditionelle Schwergewicht einer Partei und ihrer Stammwählerschaft, sondern durch den Druck einer Situation, die durch die Mitwirkung der Bürgerbewegungen selbst herbeigeführt worden ist.
3. Fraktionen und Basisgruppen Nicht zu übersehen ist, daß dieser Außendruck für Bürgerbewegungen im Parlament auch Probleme und Schwierigkeiten erzeugt, die zwar auch Parteien nicht fremd sind, aber in deren hierarchischer Struktur durch gut- und langorganisierte Vermittlungsinstanzen besser abgefangen werden können. Es ist die weite Entfernung zwischen dem Debatten-, Ausschuß- und Gesetzgebungsalltag eines Staats- bzw. Bundesparlaments und dem davon nicht nur abweichenden, sondern oft völlig inkommensurablen Milieus der Basisgruppen von
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Bürgerinitiativen. Die Klagen über Kommunikations- und Informationsdefizite der letzteren wollen nicht abreißen und sind darum sicherlich trotz mancher Überspitzungen und Einseitigkeiten im Kerne durchaus berechtigt. Sind sie es doch, die der emotional hoch aufgeladenen Diskussion über vertikale und horizontale Strukturen, der immer neu erhobenen Forderung nach Vernetzung statt Hierarchisierung, den Vorwürfen der Abgehobenheit und Entfremdung immer neue Nahrung geben. Als undemokratisch abzulehnen ist die von den westdeutschen Grünen praktizierte Radikalkur gegen die Spannung oder Entfremdung zwischen Fraktionen und Basisgruppen: Das imperative Mandat in der Abwandlung durch das Rotationsprinzip, das den Abgeordentenstatus auf eine halbe Legislaturperiode begrenzt, um die Ausbildung einer Politikerkaste zu unterbinden. Aber ganz unzweifelhaft ist mit diesen Bestimmungen Art. 38 des Grundgesetzes verletzt. Wird doch durch diese Praxis der Abgeordnete weit über allen Fraktionszwang hinaus als Eigentum der politischen Gruppe behandelt, auf deren Liste er gewählt worden ist; - freilich keineswegs nur von Mitgliedern dieser Gruppe! Wie bleibt angesichts solcher Verfahren der Abgeordnete ein Vertreter des ganzen Volkes? Man kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß diese Rotationspraxis eine fatale Ähnlichkeit aufweist zu jener Art von imperativem Mandat durch organisationseigene Abberufungsrechte, die im § 46 der Geschäftsordnung der alten DDR-Volkskammer standen und leider auch noch das Wahlgesetz für den 18.3.1990 beeinflußt haben (Thaysen: 1990,S. 114f.). Wer diesen Weg ablehnt, ist dann aber auch verpflichtet, offen einzuräumen, daß eine wirklich durchgreifende Lösung für den Abbau dieser Spannungen von den Bürgerbewegungen zur Zeit noch nicht gefunden worden ist. Eines freilich zeichnet sich jetzt schon ab: Ganz wie in den Anfängen des Parlamentarismus und doch auch wieder deutlich unterschieden von ihm bewegen sich Parlamentariergruppe und lokale Basis der Bürgerbewegungen auf eine neue Dimension der politischen Kooperation zu, wie sie in dem Namen Bündnis 90/Die Grünen ausgedrückt ist. Nach den Neugründungen einer Bürgerbewegung Bündnis 90 seit vorigem Herbst hat sie die Zersplitterung der Anfänge im Herbst 1989 endgültig hinter sich gelassen. Dieselben Notwendigkeiten, die die Bundestagsabgeordneten abhielten in der bloßen Vereinzelung aufzutreten, drängen die Basisgruppen in den Ländern in die gleiche Richtung. Damit aber ist die Frage nach einer gemeinsamen horizontalen Struktur, die Bundestagsabgeordnete und Basisgruppenangehörige auf einer allen gemeinsamen Ebene zusammenschließt, natürlich keineswegs beantwortet. Vieles spricht dafür, daß diese Antwort nicht unabhängig von der Frage nach dem Verhältnis innerparlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition gefunden werden kann.
4. Innerparlamentarische und außerparlamentarische Opposition Diese Frage greift deswegen so weit, weil mit ihr der Gesamtkomplex der Beziehung von Parlament und Regierung, Regierung und Opposition thematisiert ist. Außerparlamentarisch - das trifft doch nicht nur für die Aktion oder Demonstration zu, sondern auch für das exekutive Handeln der Regierung und die Praxis der Justiz.
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Hier wird abermals erinnert an die englischen Anfänge des Parlaments, das als solches und im Ganzen in Opposition trat gegen eine zum Absolutismus strebende Monarchie. Das heutige Parlament soll dagegen funktionieren als eine die Regierung kontrollierende, unabhängige Gewalt. Opposition, das ist dann nur ein Teil des Parlamentes, die nicht zur Regierung gekommene Minorität. Genau hieraus bezog die außerparlamentarische Opposition der Endsechziger ihre politische Legitimation. Wie soll es zu einer effektiven Opposition kommen, wenn die innerparlamentarische Opposition nichts anderes ist als eine zu jeder Zeit überstimmbare Minderheit, wechselnde Mehrheiten höchstens bei nicht mehr parteigebundenen Interessenkonflikten auftreten können und somit ihrer Natur nach Ausnahmen bleiben müssen? Es ist leicht einzusehen, in wie hohem Maß diese ganze Konstellation durch die Präsenz der Bürgerbewegungen im Parlament verändert worden ist. Sind diese Bewegungen doch einerseits Teil der innerparlamentarischen Opposition, andererseits aber Opposition gegen diese ganze Gefüge von Mehrheit und Minderheit, dem sie als eine Minderheit ganz neuer Art in einer qualitativen Differenz gegenüberstehen, die deswegen so befremdlich wirkt, weil sie nur schwer mit dem Begriff „Opposition" zur Deckung zu bringen ist. Was dabei die Vertreter der traditionellen Fraktionen besonders irritiert und beunruhigt, ist das Verhältnis dieser sonderbaren Parlamentarier zur Basis der Bürgerbewegungen und zur außerparlamentarischen Aktion. Die Lage wird nicht besser dadurch, daß die Bürgerbewegungen selbst weit entfernt davon sind, sich theoretisch klare Rechenschaft über diese ihre Lage geben zu können. Am verbreitetsten ist in ihren Reihen der anschauliche Vergleich der Basis mit dem Standbein, dem Parlament als Spielbein ihrer Politik. Aber die Anschaulichkeit dieses Vergleiches ist bloßer Schein. Er redet von Beinen, sagt aber nichts über das Subjekt, dem diese Beine gehören. Gerade auf dessen Natur und Standort aber käme es an. Wo eigentlich stehen denn die Bürgerbewegungen in dieser seltsamen Grätsche? Auf all diese Fragen gibt das Bild keine Antwort. Einmal mehr beschränkt es sich auf die Forcierung des Schwerpunktes bei der Basis. Wieder einmal setzt sich gegen all guten Vorsätze vom Denken in der Horizontale ein Basis-Überbau-Schema durch. Aber das Parlament ist kein bloßer Überbau. Es ist die Basis der Gesetzgebung, und darum spielt man dort nicht. Die Unklarheiten in dieser Sache haben die Bürgerbewegungen, seit sie in die Politik eingegriffen haben, hilflos gemacht gegenüber jener Diskussion über das Gewaltmonopol des Staates, die durch den Terrorismus als oppositionelle Gewalt ausgelöst worden ist. Außerparlamentarische Opposition - heißt das in jedem Fall Opposition gegen das Gewaltmonopol des Staates? Ist es nicht an der Zeit, daran zu erinnern, daß der Begriff des Gewaltmonopols ein vordemokratischer ist, den Staat gerade nicht als eine Struktur geteilter, sondern monopolisierter Gewalt begreift, und dies just unter Bedingungen, da die Gesellschaft durchsetzt ist von allen möglichen Monopolen staatlich überhaupt nicht mehr kontrollierter, nicht mehr kontrollierbarer wirtschaftlicher, sozialer, waffentechnischer oder rein technologischer Gewalt - bis hin zu jenen privaten Sicherheitsorganisationen, die weithin der staatlichen Polizei eine höchst erfolgreiche Konkurrenz machen! (dazu auch § 1 II.).
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Vor diesem Hintergrund meinen die Bürgerbewegungen, daß ihre Losung „Keine Gewalt" nicht nur gegen die Staatssicherheit der früheren DDR das wirksamste Politikkonzept darstellte, sondern in nicht geringerem Maß auch in einer durch chaotische Gewalten verunsicherten Gesellschaft. Gewalt breitet sich aus wie eine Infektion, wo der Rechtsweg aufgegeben oder die Kommunikation an kritischen Grenzbereichen der Gesellschaft abgerissen oder abgebrochen worden ist. Die Bürgerbewegungen sehen ihre Aufgabe gerade darin, neue Rechtswege zu bahnen und Kommunikation auch dort zu ermöglichen, wo sie bis zur Stunde als unmöglich gilt. Diesem Vorhaben dienen vor allem die Verfassungsinitiativen, die von den Bürgerbewegungen auf den verschiedensten Ebenen ergriffen worden sind.
V. Bürgerbewegungen und Verfassung 1. Verfassungsinitiativen von Bürgerbewegungen Seit Bürgerbewegungen als politische Vereinigungen an gesamtstaatlichen Wahlen erfolgreich teilgenommen und Sitze in nationalen Parlamenten erlangt haben, ihr eigenes Demokratieverständnis im Rahmen parteiorientierter Geschäftsordnungen zu betätigen gelernt haben, kann ihre Verfassungsgemäßheit im Rahmen der Parteiendemokratie nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Vielmehr gilt, was schon vor fast 10 Jahren festgestellt worden ist: „An einer prinzipiellen Übereinstimmung von Bürgerinitiativen mit den Konstitutionsprinzipien der Bundesrepublik kann kein Zweifel sein". Sind Bürgerinitiativen allgemein eine legitime Anwendung der Grundrechte der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 8 und 9 GG), so gilt das nicht minder von deren Weiterentwicklungen zu Bürgerbewegungen als politische Vereinigungen. Dank des ideologiefreien, in seinem rein formalen Charakter seinem Zweck hervorragend angepaßten Parteiengesetzes der Bundesrepublik Deutschland entstanden keinerlei Probleme für die Zuordnung der Bürgerbewegungen zum traditionellen Spektrum politischer Aktivitäten. Dennoch hieße es, die verfassungsrechtliche Stellung und Bedeutung der Bürgerbewegungen gänzlich mißzuverstehen, würde man sich auf ein Unbedenklichkeitszeugnis beschränken, wie es soeben ausgestellt wurde. Sind doch gerade in den letzten Jahren besonders in Mittel- und Osteuropa verfassungspolitische Initiativen von Bürgerbewegungen ausgegangen, die als solche gewürdigt werden müssen, darüberhinaus aber auf die demokratietheoretische Bedeutung der Bürgerbewegungen ein eigenes Licht werfen. An dieser Stelle wird man ohne Einbeziehung historischer Reflexion den Sachverhalt nicht hinlänglich präzisieren können. Auszugehen ist von der häufig geäußerten Kritik, ihr Fixiertsein auf Fragen von Verfassung und Rechtsstaatlichkeit habe die mittel- und osteuropäischen Bürgerbewegungen gehindert, energisch nach der Eroberung der Macht zu streben. Damit aber hätten sie die sofortige und gründliche Beseitigung der kommunistischen Diktatur verzögert, wenn nicht gar verhindert. Es kann hier nicht diskutiert werden, inwiefern dieser Kritik eine zutreffende Beurteilung der Machtverhältnisse innerhalb der kommunistischen Staaten Osteu-
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ropas im Sommer und Herbst 1989 zugrundeliegt. Auch nur beiläufig wird korrigiert werden können, wie diese Kritik den grundsätzlichen Charakter der Lostung „Keine Gewalt" verkennt und sie allein als taktisches Manöver einer schwachen Minderheit ansieht. Aber die Revolution des Herbstes 1989 war eine friedliche. Sie unterscheidet sich darin grundlegend von jenen ebenso epochalen wie gewaltsamen Umwälzungen, die die europäische Geschichte vom 11. Jahrhundert bis zur Oktoberrevolution von 1917 bestimmt haben. Sie unterscheidet sich schon dadurch von ihnen, daß sie von einer Friedensinitiative ausging. Aber auch ihr Verhältnis zur Verfassungsfrage ist sie ein gänzlich Neues, und genau darum geht es im gegenwärtigen Zusammenhang. Als es nämlich gelang, am 6. Februar 1989 in Polen den Runden Tisch einzuberufen, war schon dies eine Verfassungsänderung neuen Typs (dazu Sawicki: 1989). Konnte doch die Kommunistische Partei Polens nur dann an diesem Runden Tisch verhandeln, wenn sie sich von der Ideologie und Praxis ihres Führungsanspruches trennte und damit das beendete, was von eben dieser Ideologie als „Diktatur des Proletariats" gerechtfertigt und als Überwindung des bürgerlichen Parlamentarismus propagiert wurde. Denn man beachte wohl: Es handelte sich nicht lediglich um den Rücktritt von einer bestimmten, bis dahin besetzten Machtposition, sondern um die darüber weit hinausgehende offizielle und unwiderrufliche Aufgabe eines ideologischen Anspruches, eines Anspruches - der über die Gegenwart prinzipiell hinausging, sodaß seine Widerrufung unabsehbare Wirkungen in der Zukunft haben muß. Wird diese Perspektive hinlänglich beachtet, dann bräuchte man sich nicht im Geringsten mehr zu wundern, daß die vom polnischen Runden Tisch in Angriff genommenen Verfassungsreformen für die im Juni 1989 durchzuführenden Neuwahlen der regierenden, kommunistisch dominierten Koalition 65% der zu vergebenden Parlamentssitze im voraus zugestanden. Sie hatten recht in der Annahme, daß allein schon die Tatsache, daß dieser Beschluß am Runden Tisch gefaßt war, ihre Entmachtung signalisierte. Ähnlich dann ein dreiviertel Jahr später in der DDR. Es war die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt" 6 , die die Initiative zur Einberufung des Runden Tisches ergriff, freilich nicht ohne sich dafür des Konsenses der anderen oppositionellen Gruppen einschließlich der neugegründeten SDP zu sichern. „Demokratie Jetzt" konnte das tun, weil sie am 27.10.1989 in einer öffentlichen Kundgebung die Änderung des Artikels 1 der DDR-Verfassung, nämlich die Beseitigung des Führungsanspruches der marxistisch-leninistischen Partei gefordert hatte. Die Forderung wurde erhoben im Wissen darum, daß ihre Erfüllung ganze Bibliotheken in Makulatur verwandelte und vor allem der diese Führungsposition entsprechende Machtapparat schlagartig obsolet geworden war. Die bisherige Entwicklung hat dieser Voraussetzung in vollem Umfang rechtgegeben. Ganz abwegig also die Meinung, die Bürgerbewegungen hätten sich dem durch die DDR-Verfassung von 1968 dokumentierten und kodifizierten Verfassungszustand traditionalistisch und legalistisch verhalten. Im Gegenteil! Sie wußten, wo der Eckstein lag, der herausgebrochen werden mußte, um den Umbau des ganzen Machtgebäudes in Bewegung zu bringen. Die Haltung der Bürgerbewegungen gegenüber der Verfassung unterschied sich darum spektakulär von der opportunistischen, ja defaitistischen der letzten
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1990 aufgegangen im Bündnis 90.
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DDR-Regierung. Ihr Ministerpräsident Lothar de Maziere versuchte zunächst den Verfassungseid ganz zu umgehen; der Innenminister bekannte sich lauthals im Parlament dazu, die Verfassung niemals geachtet zu haben (Ullmann: 1992, S. 62f.). Gerechtfertigt wurde diese Attitüde mit dem Hinweis, daß es sich ja um eine DDR-Verfassung und also um etwas Verächtliches handeln müsse. Abgesehen davon, daß dies dann auch von dieser Regierung hätte gelten müssen, deren Vertreter sich so leichtfertig äußerten - die Tatsache dieses Verhaltens bezeugt in auffallenden Ausmaß die Unfähigkeit, zwischen dem ideologischen Inhalt und der Tatsächlichkeit einer Verfassung zu unterscheiden. Die Bürgerbewegungen hatten die Verfassung von 1968 (abgedruckt bei Schuster/Evers: 2 1989, S. 243ff.) ihres ideologischen Anspruches entkleidet. Was aber bedeutete ihr Vorhandensein nach diesem Entideologisierungsvorgang? Es ist die gleiche Fragestellung, wie wenn erörtert wird, was wohl mit der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" (Art. 21. Abs. 2 G G ) gemeint sei. Die Verfassung selbst oder eine von ihr vorausgesetzte oder gestützte, sie übergreifende politische Ordnung bzw. ein ihr entsprechendes Wertsystem? Die von ideologischen Bestandteilen gereinigte Verfassung kann all das nicht mehr sein. Aber um so effektiver wird sie ihre Recht und Öffentlichkeit konstituierende Funktion ausüben können. Besteht die doch darin, Grundrechte, Staatsorganisation, Gewaltenteilung und Gewaltenkooperation aufeinander zu beziehen und ihr Zusammenwirken zu organisieren. Das aber wird praktisch nur dann funktionieren, wenn ein Dualismus überwunden wird, den die neokonservative Verfassungslehre z.B. Carl Schmitts als den Widerspruch zwischen den rechtsstaatlichen und politischen Bestandteilen der Verfassung gekennzeichnet hat. Dieser Dualismus ist die Konsequenz der Gegenüberstellung von Repräsentation und Identität. Tendiert die Repräsentation zur liberalen Handhabung der politischen Macht, so die Identität des homogenen Volkes zur Unterordnung der Liberalität unter die Einheitsforderung der Homogenität, so weit daß dies zur Annäherung der Demokratie an die „volksdemokratische" Diktatur führen kann, also an genau jenen Zustand, der in den kommunistischen Ländern die Regel war. Das Verfassungsverständnis der Bürgerbewegungen geht demgegenüber ganz andere Wege. In metaideologischer Perspektive kann die Einheit der Verfassung nicht in jenem mehr oder weniger spannungsreichen Kompromiß zwischen Repräsentation und Identität bestehen. Einheit der Verfassung heißt in dieser neuen, von den Bürgerbewegungen getragenen Betrachtungsweise die Einheit des Aktes, in dem Bürgerinnen und Bürger gemeinsam darüber befinden, wie in den Grenzen ihrer verfassunggebenden Gewalt Menschen-, Grund- und Staatsbürgerrechte sich zu Staatsorganisation und Staatsfunktionen verhalten sollen. Daraus folgt aber auch, daß man ein Verfassungsverständnis hinter sich lassen muß, welches die Verfassung nur als Staatsordnung sehen kann. Im Sinne des hier Dargelegten muß Verfassung vielmehr als Strukturierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft verstanden werden. Es war dieses Verständnis, weswegen die Bürgerbewegungen am Zentralen Runden Tisch der D D R schon in dessen erster Sitzung die Initiative zu dem dann verabschiedeten Beschluß ergriffen, eine Arbeitsgruppe einzusetzen, die sofort mit der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfes beginnen sollte. Im gleichem Beschlußtext vom 7.12.1989 (bei Gransow/Jaransch: 1991, S. 105) steht auch, daß die erarbeitete Verfassung nach Volkskammerwahlen durch einen Volksentscheid zu bestätigen sei. Auch dies im Wissen darum, daß es in der von der SED-
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Diktatur befreiten D D R nur dann zu wirklich demokratischen Verhältnissen kommen kann, wenn Staat und Gesellschaft sich zu einer menschenrechtlich bestimmten Normierung ihres Handelns bereitfinden und festlegen lassen (Verfassungsentwurf des Runden Tisches: 1990; Auszüge bei Gransow/Jaransch: 1981, S. 152ff.). Aus dem gleichen Motiv erklärt sich auch das Verfassungsengagement der Bürgerbewegungen auf Landesebene, das besonders in Brandenburg zu viel beachteten Ergebnissen geführt, aber auch im Freistaat Sachsen die Verfassungsdiskussion maßgeblich beeinflußt hat. Als sich abzeichnete, daß der deutsche Einigungsprozeß nach dem Schema einer Erweiterung bzw. Neugliederung des alten Bundesgebietes durchgeführt wurde, ist es eine gesamtdeutsche Bürgerinitiative gewesen, das am 16.6.1990 in Berlin gegründete Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, die die deutsche Öffentlichkeit damit konfrontierte, daß Präambel und Artikel 146 einen verfassungsgebenden Akt des Gesamtvolkes für ein zwingendes Erfordernis hielten, wenn die Vereinigung aller deutschen Länder auf demokratischem Wege, auf dem Wege freier Selbstbestimmung sich vollziehen soll. Dem dienten eine noch im Sommer 1990 publizierte Neufassung des Artikels 146 mit Vorschlägen für die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung sowie mehrere Kongresse, in deren Arbeitsgruppen Voten gesammelt wurden, auf deren Basis im Frühjahr 1991 ein Verfassungsentwurf entstand, der am ersten Jahrestag der Gründung des Kuratoriums in der Frankfurter Paulskirche der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Von diesem auf der Basis des Grundgesetzes konstituierten Entwurf, der auch Elemente des Textes der Verfassung des Runden Tisches aufnimmt, kann gesagt werden, daß er in besonders authentischer Weise dokumentiert, wie die Bürgerbewegungen einerseits die Traditionen der repräsentativen Demokratie voraussetzen, andererseits aber deren mittlerweile deutlich gewordenen Grenzen hinter sich lassen (Guggenberger/Preuß/Ullmann: 1991).
2. Basisdemokratische Partizipationsrechte Eine Frage wird im Vordergrund stehen, wenn es um die Einzelinhalte der Verfassung geht: Welche Stellung soll eine an Gewaltenteilung und Repräsentation orientierte Verfassung den Bürgerbewegungen zuweisen? Soll sie sich darauf beschränken, sie lediglich zu dulden als Wahrnehmung eines Grundrechtes laut Artikel 8 und 9 Grundgesetz? Oder soll sie ihnen einen eigenen Verfassungsrang zubilligen, wenn auch keinen als Staatsorgan? Es ist die Debatte über das Verhältnis von repräsentativer und plebisziärer Demokratie, in deren Rahmen die Antwort auf die obigen Fragen gesucht wird. Man kann es als einen Mehrheitskonsens der deutschen Verfassungsrechtslehre ansehen, daß vom prinzipiellen Vorrang der Repräsentativdemokratie auszugehen sei. Das gilt auch dort, wo man urteilt: „Die Sachentscheidungen des Volkes, die sogenannten plebiszitären Elemente, haben in der demokratischen organisation der Staatsgewalt durchaus ihren Ort; - nur nicht als grundlegendes Bauprinzip, sondern als balancierendes und korrigierendes Element. Als solche können und sollen sie in die demokratische Verfassungsorganisation hineingenommen werden" (Böckenförde: 1991, S. 389).
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Warum der Repräsentation dennoch der prinzipielle Vorrang erhalten bleiben müsse, wird mit demokratietheoretischen und - geschichtlichen Erwägungen begründet, die geeignet sind, die Diskrepanz solcher Voraussetzungen zur heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeit in ein recht helles Licht zu setzen. Es ist wieder der eingangs kritisierte Gegensatz von Repräsentation und Identität, der den axiomatischen Ausgangspunkt der weiteren Gedankenführung bildet, ein Beispiel mehr dafür, wie Grundlinien der Schmittschen Verfassungslehre auch dort erhalten bleiben, wo man sich von deren Einzellehren längst entfernt hat. Denkt man von der Identität der Herrschenden und Beherrschten aus, als von dem idealen, wenn auch utopischen Ziel aller Demokratie, dann ist es beinahe zwingend, den Volkswillen umgekehrt als ebenso abstrakten Ausgangspunkt, und das heißt als etwas von sich aus Unartikuliertes zu betrachten. Zur Artikulation gelangt dieser Volkswille nur durch eine an ihn herangetragene und ihn zu Äußerung und Artikulation stimulierende Frage. Wer aber soll diese Frage stellen, wenn nicht irgendwelche durch eine ihnen eigene Kompetenz ausgezeichnete Eliten? Aber auch diese werden demokratisch nicht wirken können, wenn es keine Herrschaftsorganisation gibt, deren sie sich für ihre Aktivitäten bedienen können (Böckenförde: 1991, S. 382ff.). Sind derartige Voraussetzungen mit unserer gesellschaftlichen und politischen Erfahrung noch vereinbar? Was den Volkswillen anbelangt, wohl kaum. Wohl muß auch die Demokratie unserer Epoche mit „Volk" den weitesten Horizont demokratischer Gleichheit meinen. Aber sie kann keineswegs dabei unter Volk wie Carl Schmitt das Subjekt einer mit sich identisch seienden Homogenität verstehen. Wie an dem Eröffnungssatz der amerikanischen Verfassungspräambel und dem Ruf der DDR-Revolution „Wir sind das Volk" gezeigt worden ist, entsteht so etwas wie Volk im politisch-demokratischen Sinn überhaupt erst in der Artikulation einer so vorher noch gar nicht existenten Willenseinheit. Denn Wille und Artikulation sind ein und dasselbe. Solcher politisch artikulierter Volkswille ist darum auch qualitativ etwas anderes als eine bestimmte Summierung von lauter Einzelwillen, auf die der Gesamtwille dann individualistisch und gewissermaßen „nominalistisch" reduziert werden könnte. Und hier wird ein weiterer grundsätzlicher Differenzpunkt zur klassischen Verfassungslehre bedeutsam. Verstand diese doch unter der Freiheit des Einzelnen nach idealistischer Weise eine prinzipiell „unbegrenzte Freiheit" (Böckenförde: 1991, S. 121) Eine bemerkenswerte Erinnerung daran, daß die klassische neuzeitliche Verfassungslehre formuliert wurde, als man die dem unbegrenzt freien Menschen gegenüberstehende Natur für ebenso unerschöpflich hielt wie das Potential der unbegrenzten Freiheit. Ganz anders unsere Situation nach der Entdeckung der Knappheit aller Lebensgrundlagen im Zeitalter der Grenzen des Wachstums (Preuß: 1990, S. 119). Daraus aber folgt, daß unsere Überlegungen zum Verhältnis repräsentativer und plebiszitärer Demokratie sich nicht allein an der Verfassung als Staatsordnung, sondern am Verhältnis von Staat und Gesellschaft und deren wechselseitiger Korrelation und Kommunikation orientieren müssen. Implizit galt das zwar schon immer. Denn der Grundrechtsteil jeder Verfassung hat es mit dieser Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat zu tun. Aber schon
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wenn man Grundrechte in bezug auf staatliche Gewährleistungen oder gar als „Staatsziele" interpretiert, gibt man zu erkennen, daß nicht mehr die Gesellschaft, sondern allein der Staat als dominierender Handlungs- und Regelungsbereich der Verfassung verstanden wird. Folge dieser etatistischen Engführung der Verfassungslehre ist, daß die Frage der Partizipationsrechte von Bürgern und Bürgerinnen an der Gesetzgebung sich verwandelt in die der „plebiszitären Elemente" politischer Willensbildung, des Einbruches der identitären in die repräsentative Demokratie. So gesehen kann es sich eigentlich nur um eine Störung der repräsentativen Normalität handeln, und die weitere Diskussion dreht sich zwangsläufig darum, ob eine solche Störung wünschbar oder eventuell wegen einer Ausnahmesituation allenfalls zu tolerieren bzw. um der besseren Motivierung einer politikverdrossenen Bevölkerung gar empfehlenswert sei. Unser Ausgangspunkt ist ein ganz anderer. Wir streiten hier nicht um das Verhältnis identitärer Demokratie („Basisdemokratie") zur repräsentativen Demokratie. Vielmehr geht es hier um die nicht erst zu postulierende, sondern schon sehr reich und differenziert entwickelte Kommunikation zwischen Gesellschaft und Staat in Form von Partizipationsmodellen, von denen Thaysen allein auf Gemeindeebene bereits mehr als ein halbes Dutzend (in sich noch einmal differenzierter) Beispiele vorstellen und diskutieren konnte (Thaysen: 1982, S. 129ff.). Die Frage, auf die es demnach ankommt, ist allein die, ob auf der Basis dieser schon existierenden Partizipationsrechte es nunmehr an der Zeit sei, solche Rechte als legitime Formen politischer Willensbildung in die gesamtstaatliche Verfassung aufzunehmen. Die Bürgerbewegungen bejahen diese Frage, weil schon ihr Vorhandensein und ihre Aktivitäten ein Existenzbeweis dafür sind, daß die von ihnen betätigte Form politischer Willensbildung nicht die repräsentative Demokratie durch utopische Projekte identitärer Alternativen in Frage stellt oder gar destruiert, wohl aber an den Effektivitätsgrenzen der Repräsentation neue politische Handlungsräume eröffnet. Ihre verfassungsrechtliche Ausgestaltung kann grundgesetzkonform an Artikel 20 Abs. 2 sowie an den Präzedenzfall von Art. 29 Abs 3 anknüpfend geschehen. Zu diskutieren bleibt dann lediglich, welcher Gesetzgebungsweg hierzu eingeschlagen werden soll. Die Stiftung Mitbestimmung hat unlängst den Entwurf eines „Volksgesetzgebungsgesetzes" (sogenannter „Hofgeismarer Entwurf") publiziert, der darauf hinausläuft, Bürger- und Bürgerinnenpartizipation einzuführen mittels eines die Verfassung ergänzenden Gesetzes, das mit 2/3 - Mehrheit vom Bundestag zu verabschieden wäre. Der Vorzug dieses Gesetzentwurfes liegt in der sorgfältigen Regelung des Verhältnisses der Bürger-, Bürgerinnengesetzgebung zu den anderen Legislativorganen sowie im umsichtigen Ausschluß Völkerrechts- und verfassungswidriger Initiativen (§2 Abs 3 und § 5 Abs 1 des Entwurfes). Ob freilich der in diesem Entwurf gleichfalls vorgesehene Eingriff in Haushaltsrecht des Parlamentes konsensfähig ist, dürfte sehr zweifelhaft sein (Direkte Demokratie: 1991). Nachdem aber die politische Entwicklung im Gefolge der deutschen Einigung zur Einsetzung einer Verfassungskommission aus Bundestag und Bundesrat geführt hat, bietet sich ein anderer Weg zur verfassungsrechtlichen Konstituierung der Partizipationsrechte an. Der im Juni 1991 veröffentlichte Verfassungsentwurf des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder" enthält als Artikel 82a einen
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Formulierungsvorschlag für Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid, der insofern als eine Ausführung des im 5. Artikel des Einigungsvertrages enthaltenen Auftrages gesehen werden kann, den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes zu überprüfen, um so mehr als dort ebenfalls eine Ergänzung (Art. 9b) vorgeschlagen wird, die als verfassungsrechtliche Legitimation von Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen die Voraussetzung der in Artikel 82a enthaltenen Gesetzgebungsinitiativen darstellt (Guggenberger/Preuß/Ullmann: 1991, S. 114 und 205ff.).
3. Bürgerbewegungen als Politisierung gesellschaftlicher Selbstorganisation Wenn die Bürgerbewegungen voraussetzen, daß nicht mehr die nationale oder ethnische Homogenität des Staatsvolkes es ist, was die Einheit der Verfassunggebung und darum auch der Verfassung garantiert, was ist dann die Gleichheit und die Einheit, in der Staat und Gesellschaft sich aufeinander beziehen und immer wieder auftretende Entfremdungen demokratisch überwinden können? Denn auch wer nicht Homogenität und Identität, sondern Pluralität und Differenz als soziologische Voraussetzung der Demokratie ansieht, muß eine Vorstellung davon haben, auf welcher Ebene solche Pluralität trotz aller ihrer Differenzen demokratisch kommunikationsfähig werden kann. Die Antwort kann mittels einer Überlegung gefunden werden, die Preuß (:1990, S. 117ff.) im Blick auf die Entstehung der Staatssouveränität im 17. Jahrhundert angestellt hat. Zu dieser Souveränität mußte es kommen, wenn nicht der konfessionelle Bürgerkrieg zur völligen Destruktion der Gemeinwesen führen sollte, solange es keinen dritten Ort gab, an dem die sich bekriegenden Konfessionen sich treffen und sich im Blick auf eine gemeinsame friedliche Zukunft vergleichen konnten. Ein solcher Vergleich wurde erst möglich, nachdem der Staat sich einerseits dem in den Konfessionskrieg verwickelten Herrscher gegenüber verselbständigt und ihn damit gewissermaßen neutralisiert hatte, andererseits aber die streitenden Konfessionen als interessengetriebene Individuen vergleichbar geworden waren. Auch heute wieder tobt ein Interessenkonflikt, in dem bis jetzt eine nichtbefangene und nichtinvolvierte Kraft noch nicht sichtbar geworden ist. Oder sollten diese Instanz vielleicht die Vereinten Nationen sein? Aber es ist allgmein bekannt: Wo es um die Überlebenschancen unserer mit mehrfacher Selbstvernichtungskapazität ausgestatteten Risikogesellschaft geht, da sind die Staaten, auch die in der U N O vereinten, allesamt Partei und haben insoweit gerade nicht die Kraft einer direkten friedens- und rechtsstiftenden Instanz. In dieser Lage muß man mit dem Club-of-Rome-Bericht von 1991 urteilen: „Es liegt keineswegs in unserer Absicht, gegen Parteipolitik als solche zu argumentieren, doch es gibt triftige Gründe dafür, in Politik und Wirtschaft verstärkt auf ein Umdenken in Richtung Konsensbildung hinzuwirken. In Anbetracht der ernsten Entscheidungen, die in naher Zukunft anstehen, könnten künstlich geschürte Rivalitäten zwischen den Parteien, die nur auf Stimmenfang bei den nächsten Wahlen abzielen und oft nicht einmal auf tatsächlichen ideologischen Differenzen beruhen, in die Katastrophe führen" (Spiegel Spezial: 2/1991, S. 106). Die Bürgerbewegungen können für sich beanspruchen, daß sie es gewesen sind, die in der Struktur des Runden Tisches einen Weg politischer Selbstorganisation
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des Konsenses über eine gemeinsame Zukunft konkurrierender Segmente der Gesellschaft entdeckt haben. Mit dieser generalisierenden Behauptung wird all denen widersprochen, für die Runde Tische lediglich einen Platz in vordemokratischen Systemem haben, als ein Mittel der „Transformation von geschlossenen politischen Systemen in offene Gesellschaften" (Thaysen: 1990, S. 175). Dies kann schon deswegen nicht zutreffen, weil die Bürgerbewegungen diese Struktur nicht neu zu erfinden, sondern nur wiederzuentdecken und anzuwenden brauchten. Sie hat eine Vorgeschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Sie taucht überall da auf, wo die Aufgabe erkannt wird, geschichtlich Unvereinbares, einander widersprechende Traditionen, zwischen denen es weder logisch noch gesellschaftlich irgendeine Vermittlung gibt, dadurch aufeinander zu beziehen, daß sie gemeinsam einem erweiterten Horizont zugeordnet werden. So Gratian um 1140, als er das mit dem altkirchlichen Kanonrecht unvereinbare päpstliche Dekretalenrecht einer Systematik verschiedener Rechtssysteme einordnet und dabei das erhält, was er concordantia discordantium canonum nennt, das Zusammenstimmen widersprechender Gesetze. Ganz ähnlich Nicolaus von Cusa, als er angesichts der unscheidbaren Parzellierung der spätmittelalterlichen Christenheit den Begriff einer concordantia catholica konzipiert, eines alle Gesellschaftsgruppen erfassendes Ganzen, indem er einen Begriff, den des Katholischen, der bisher allein auf die Kirche angewandt worden war, auf die ganze Gesellschaft bezieht. Die Definition des Runden Tisches aber wurde schon vor dem Ende des 30jährigen Krieges entdeckt, nämlich als Jan Arnos Comenius (1592 -1670) ab 1645 die Bände seines Consultatio catholica betitelten Werkes erscheinen ließ. Um „allumfassende Beratung" (consultatio catholica) - um nichts anderes handelt es sich beim Runden Tisch. Also weder um ein Notparlament, eine Übergangsregierung (auch wenn der Zentrale Runde Tisch beide Funktionen für die DDR zeitweise wahrgenommen hat!), sondern darum, daß der archimedische Punkt und damit eine berufende Autorität gefunden wird, von dem ein gesellschaftlicher Konflikt - oder Entscheidungsbereich so vollständig überblickt werden kann, daß alle an ihm Beteiligten bzw. Betroffenen kommunikationsfähig werden. Daher ist Vollständigkeit die wichtigste Eigenschaft, das, was einen Runden Tisch „rund" macht, in diesem Sinn war der Zentrale Runde Tisch in Berlin bereits am 7.12.1989 vollständig und funktionsfähig - unbeschadet des späteren Hinzutretens anderer Kräfte. Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß die Bedeutung des Runden Tisches keineswegs auf die besonderen Umstände des Zusammenbruchs der kommunistischen Staaten Osteuropas beschränkt ist. Wenn in hochentwickelten westlichen Demokratien eine „konzertierte Aktion" angestrebt oder realisiert wird, wenn besonders auf kommunaler Ebene nach der Methode Planungszelle-Bürgergutachten, und zwar schon seit den 70er Jahren gearbeitet wird - , dann sind das alles Belege für die Funktionsfähigkeit der Rund-Tisch Struktur auch unter voll entwickelten demokratischen Bedingungen. Wenn dagegen z.B. eingewandt wird, es erscheine wenig sinnvoll, mit der Planungszelle eine in ihren Rechten vom Gemeinderat kaum unterscheidbare Pendantorganisation zu schaffen (Thaysen: 1982, S. 179), so liegt dem wiederum jene Verwechslung des Runden Tisches mit einem Repräsentationsgremium zugrunde, der als ein Konsultativorgan dies notorisch nicht ist; dies aufzuklären muß als eine vorrangige Aufgabe von Polilotogie und Rechtswissenschaft angesehen werden.
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Demgegenüber erscheint die Frage, ob man die Rund-Tisch-Struktur als „Ökologischen Rat" (Art. 53b des Frankfurter Entwurfes) oder als „Ökologischen Senat" (Minderheitenvotum des Brandenburger Verfassungsausschusses) konzipiert weniger drängend. Ist die Struktur dieser Selbstorganisation zukunftsfähigen Konsenses einmal so klar erkannt, daß sie in allen einschlägigen Fällen erfolgreich angewandt werden kann, so ist ihre Aufnahme in moderne Verfassungen nur noch eine Frage der Zeit. Denn daß die globale Revolution, die uns auf Menschheitsebene unsere Gleichheit im Abhängen von den gemeinsamen Lebensgrundlagen offenbar gemacht hat, früher oder später auch zu Verfassungskonsequenzen führen wird, ist schon mehr als einmal erklärt worden. So sind angesichts unabschätzbarer Zukunftsrisiken qualifizierte Mehrheiten mit der klar bejahten Konsequenz der Verlangsamung der Entscheidungsfristen gefordert worden und die Einschränkung der Direktwahl auf die überschaubare Kommune (Kafka: 1989, S. 106)-Gedanken, die überraschende Anklänge an das politische Reformprogramm des Kreisauer Kreises von 1942 enthalten (Winterhager: 1985, S. 215). Langer (:1988, S. 305) prognostiziert eine unaufhaltsame Transformation der traditionellen Staatsorganisation in drei Aktionssphären einer völlig enthierarchisierten Gesellschaft, die aus Bürgerbasis, einem allgemeinen Sachverständigenrat (Rund-Tisch-Organ) und einer aus Parlament und Verwaltungsspitze bestehenden Entscheidungssphäre bestehen werde. Das mag angesichts des Kontrastes zu heutigen Gegebenheiten utopisch klingen. Eine nicht allzuferne Zukunft wird erweisen, ob es sich wirklich so verhält. Als das „Ökologische Manifest für ein anderes Europa" (Langer: 1988, S. 320ff.) 1978 schrieb: „Nationalstaaten sind offensichtlich unfähig, viele grundlegende Probleme zu lösen, seien sie global oder lokal. Wir sollten daher eine Föderation autonomer Regionen anstreben, eine jede selbstorganisiert in einer mitbestimmenden und vorausbestimmenden Demokratie", da mochte das nicht weniger utopisch klingen. Und ist dieser Satz nicht mittlerweile eine drängende praktische Forderung geworden? Wenn aber der Club-of-Rome-Bericht den Erfolg von Bürgerinitiativen an Beispielen aus Indien und Klaua zu erläutern vermag (:1991, S. 127) - wieso muß dann in der deutschen Bundesrepublik noch darüber diskutiert werden, ob und wie Bürgerbewegungen in das bestehende Repräsentativsystem zu integrieren seien? Die Bürgerbewegungen ihrerseits plädieren dafür, die Demokratie so auszugestalten, daß in einer pluriformen und multikulturellen Gesellschaft ein Staat entsteht, an dessen Leben alle Bürgerinnen und Bürger unentfremdet partizipieren können.
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§ 15 Bundestag, Medien und Öffentlichkeit Jürgen Bellers I. Die Ursprungsidentität von Parlament und Öffentlichkeit. - II. Die Differenzierung von politischem und medialem System als Ursache von Konflikten zwischen beiden Systemen. - III. Die Differenzierung von politischem und medialem System - Möglichkeiten der Kooperation. - IV. Wie Parlamentarier Journalisten sehen - und umgekehrt. - V. Die interne Öffentlichkeit des Bundestages: Die „Neuen Medien" und das Parlament. - VI. Wieviel Öffentlichkeit verträgt das Parlament, wieviel Öffentlichkeit braucht es?. Grundlagenliteratur Kißler, Leo (1976): Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages. Berlin. Meyn, Hermann ( 2 1992): Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Oberreuter, Heinrich (1979): „Parlament und Öffentlichkeit". In: Langenbucher, Wolfgang (Hg.), Politik und Kommunikation. München u.a., S. 62ff. Roegele, Otto (1985): Die Presse in der deutschen Medienlandschaft. Bonn. Sarcinelli, Ulrich (1987a): Symbolische Politik. Opladen. Stock, Martin (1985): Medienfreiheit als Funktionsgrundrecht. München. siehe auch Hilfsmittel Teil B, IV.
Einleitung I. Die Ursprungsidentität von Parlament und Öffentlichkeit Das Bürgertum, das unsere heutige Gesellschaftsformation politisch, sozial und ökonomisch zu einem großen Teil geprägt hat, organisierte sich in seinen Anfängen als „öffentlich räsonnierende Privatleute" (Habermas: 1962, S. 117). In dieser Form brachte es seine fundamentale Kritik an der feudal-absolutistischen Gesellschaft zum Ausdruck: Man forderte die Möglichkeit öffentlicher Diskussion, um die fürstliche Arkan-Politik bekämpfen und das Gemeinwohl zum Ausdruck bringen zu können. „Politische Kommunikation und politische Repräsentation waren die Kehrseite ein und derselben Münze." (Oberreuter: 1979, S. 62; vertiefend § 13IV.). Herrschaft wurde nicht mehr allein schon deshalb akzeptiert, weil sie aus der Tradition oder von Gott her stammte. Herrschaft mußte durch die menschliche Vernunft legitimierbar und legitimiert sein. Die Vernunft ist jedem Menschen aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion gegeben, sie ist seine Möglichkeit der Selbstbestimmung. Nur das, was vor der Vernunft standhält, soll politisch verwirklicht werden. Politik mußte in diesem liberal-bürgerlichen Sinne auf die vernunftgemäße Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen bezogen sein. Die
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Freiheit des einen ist am besten vereinbar mit der Freiheit der anderen in der Form des Gesetzes, d.h. einer abstrakten Regelung, die von den Bürgern mit Gültigkeit für alle beschlossen wurde. Im allgemein gültigen Gesetz werden die Freiheitsräume der Einzelnen „abgesteckt" (hierzu auch §11.). Der Mensch kann jedoch - so Kant - dem Zustand der Unvernunft, der „selbstverschuldeten Unmündigkeit" - wie er es nannte - , nicht nur durch Eigentätigkeit entrinnen, er bedarf hierzu vielmehr der gemeinsamen und öffentlichen Diskussion mit anderen Bürgern: „Es ist für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten ... D a ß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausweichlich." (zit. nach Habermas: 1962. S. 118) Öffentliche Diskussion ist ein Medium, in dem der Mensch - und damit indirekt auch die Politik-vernünftig werden. Die Vorstellungen des sich emanzipierenden Bürgertums bestanden darin, daß in freier und öffentlicher Diskussion alle Meinungen und Interessen artikuliert würden und sich im vernunftgeleiteten Diskurs das ergeben würde, was für die jeweilige Gesellschaft in der jeweiligen historischen Situation das Gemeinwohl für alle sei. Der Diskurs sollte in jeder Hinsicht öffentlich sein, da nur so die Vernunft aller kontrollieren könne, ob das jeweils zum Ausdruck gebrachte Interesse „gemeinwohlfähig" ist. Eine politische Entscheidung hatte durch den öffentlichen Diskurs und die hier geäußerten Interessen und Meinungen zu gehen, um geläutert zu werden. Der Einzelne sollte in der Öffentlichkeit die Relativität seines eigenen Standpunktes erkennen. Davon erhoffte sich die fortschrittsoptimistische Aufklärung Wirkungen, die die politischen und sozialen Verhältnisse verbessern könnten. Kant sah die „öffentliche Diskussion" noch weitgehend auf die „Republik der Gelehrten" beschränkt, die einen Auftrag zur Aufklärung des Volkes hätten. Schon im 18. Jahrhundert weitete sich die Öffentlichkeit auf eine Vielzahl kritischer oder moralisch-erzieherischer Zeitschriften und dann im 19. Jahrhundert auch auf das Zeitungswesen aus. Eine zentrale Arena der Öffentlichkeit waren die Parlamente in ihren unterschiedlichsten Ausformungen. In Deutschland übernahmen sie jedoch im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten erst historisch spät - im 19. Jahrhundert - ihre öffentlichen Funktionen. Vor allem im Südwesten Deutschlands hatte man schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ständischen Parlamente „durch eine Erweiterung des Wahlrechts ... auf eine breitere Basis gestellt...". (Loewenberg: 1969, S. 26; parlamentsgeschichtlich § 2 und § 3 I. wie II.). Im Sinne dieser Ausführungen - das sei resümierend festgehalten - hat eine „Ursprungsidentität" von Parlament und Öffentlichkeit bestanden. Das notwendigerweise öffentlich beratende Parlament und die Öffentlichkeit selbst (im letzten und vorletzten Jahrhundert nur Zeitungen und Zeitschriften) waren dabei als Gegenpart des (noch feudal beherrschten) Staates gedacht, der durch die öffentliche Diskussion dazu gebracht werden sollte, jenes - öffentlichdiskutiert gefundene - Gemeinwohl zu realisieren. Man ging aus von einer Trennung von Staat und Gesellschaft, wobei Parlament und Öffentlichkeit der Gesellschaft zugeordnet wurden (Habermas: 1962, S. 24ff.).
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II. Die Differenzierung von politischem und medialem System als Ursache von Konflikten zwischen beiden Systemen Die in der Frühzeit des Parlamentarismus fingierte und z. T. auch reale Identität von Parlament und Öffentlichkeit löste sich im 20. Jahrhundert immer mehr auf, als nicht mehr nur wenige „räsonnierten" (vor allem das reiche und elitäre Bildungsbürgertum), sondern immer mehr Bevölkerungsteile, u.a. in Form organisierter Massenparteien (SPD) und in Form von (Groß)-Verbänden, in die Politik einzugreifen begannen. Damit verlor die weitgehende Identität von Öffentlichkeit und Parlament ihre sozialhistorische Grundlage. Es bildete sich eine parlamentarische Öffentlichkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite die veröffentlichte Meinung (Zeitungen, Zeitschriften, sonstige Medien) heraus, die potentiell und tatsächlich miteinander in Konflikt geraten können und gerieten 1 . Denn nur das aus allgemeinen und freien Wahlen nach einem Repräsentationssystem hervorgegangene Parlament ist befugt, auf der Basis einer vorgängigen Diskussion gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen zu treffen. Das Parlament soll dabei ein „Forum sein, auf dem alle für das Gemeinwesen relevanten Meinungen zur Sprache kommen und diskutiert werden" (Morkel: 1966, S. 5) und durch das die Fülle von Meinungen zu einem politischen Gesamtwillen transformiert wird. Die veröffentlichte Meinung und ihre Medien: Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk haben demgegenüber die in einer Gesellschaft bestehenden Positionen und Interessen in ihrer vollen Breite zur Sprache zu bringen und deren Auseinandersetzungen widerzuspiegeln. Dabei ist nicht bedeutend, ob die jeweilige Position einen starken Verband hinter sich hat oder nicht; wichtig ist allein die Tatsache, daß es diese Position oder dieses Interesse oder diese Meinung gibt, wodurch ein Anspruch auf Veröffentlichung und Teilnahme am allgemeinen Diskurs begründet wird. Das Spektrum derjenigen, die an dieser Öffentlichkeit teilnehmen, ist breit und vielfältig: z.B. auch Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind; oder einzelne Persönlichkeiten von öffentlicher Geltung (Schriftsteller, Wissenschaftler usw.). Die Öffentlichkeit des Bundestages ist im Vergleich hierzu bereits „gefiltert"; gefiltert einerseits durch die Wahl, durch die bestimmte Parteien nicht in den Bundestag kommen; und andererseits gefiltert durch die Parteien und die parteiinternen Diskussionsprozesse, als deren Folge die Parteien bereits mit einem z.T. vereinheitlichten Willen im Bundestag auftreten. Die vielfältigen Meinungen in einer Partei kommen in der Bundestagsfraktion kaum noch zum Tragen, da sie im Vorfeld von Parteitagen meist erörtert worden sind. Von dieser öffentlichen Meinung abzugrenzen ist das individuelle, private Meinen im Gespräch mit der Familie oder in der Kneipe. Es ist gerade durch seinen privaten Charakter gekennzeichnet, es intendiert nicht öffentliche Wirkung. Diese Unterscheidung ist wichtig, da der Anspruch auf Privatheit des Meinens Totalitarismus verhindert. Denn in einer liberalen Gesellschaft kann jeder seine Mei-
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„Allgemeine Öffentlichkeit" ist dabei - das sei definitorisch zur Klärung angemerkt - der Inbegriff und die Zusammenfassung alles gesellschaftlich Öffentlichen. Er ist nur als Gegenbegriff zum Privaten zu verstehen. Die parlamentarische Öffentlichkeit ist ein Bestandteil der allgemeinen Öffentlichkeit, ebenso wie Zeitungen und Zeitschriften zu ihr gehören.
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nung äußern, ohne daß er dafür politisch belangt und ohne daß sie zum Bestandteil des öffentlichen Diskurses wird, wenn er es nicht will. Die private Meinung wird - symptomatischerweise in anonymisierter Form ohne Rückschlußmöglichkeiten auf Einzelne - nur durch die Demoskopie relevant für die allgemeine Öffentlichkeit - hier aber mit nicht unerheblichen Wirkungen. Von Medien veröffentlichte demoskopische Ergebnisse können durchaus das Wählerverhalten beeinflussen, z.B. wirkt das Befragungs-Ergebnis, daß ein Kanzlerkandidat nicht - wie zuvor verlautbart - die absolute Mehrheit erreicht, demotivierend auf die Anhängerschaft dieses Kanzlerkandidaten. Die Veröffentlichung von Umfragen kann sogar - im Sinne einer self-fulfilling prophecy erst die Folgen verursachen, die sie vorausgesagt hat. Daher gibt es in der Bundesrepublik informelle Vereinbarungen, demoskopische Ergebnisse in heißen Phasen der Wahlkämpfe nicht mehr zu veröffentlichen. Die Meinung der Journalisten sollte dabei im öffentlichen Diskurs nur eine Meinung unter vielen sein. Die Münchner Schule der Zeitungswissenschaft (O. Groth, H. Wagner, H . Starkulla) schreiben den Medien normativ und empirisch eine „gesellschaftliche Kommunikationsaufgabe" zu, die in der Rechtssprechung auch als „öffentliche Aufgabe" umschrieben wird. „Zwar ist diese öffentliche Aufgabe' nicht positiv formuliert, aber fraglos beruhen auf ihr - durch höchstrichterliche Entscheidungen immer wieder bekräftigt - Würde und Verfassungsauftrag der demokratischen Kommunikationsmedien, und zwar aller Kommunikationsmedien. Was heißt öffentliche Aufgabe' konkret? Heißt das - vordergründig - Recht und Pflicht zur aufgrund von institutionalisierter Privilegierung eigenständigen ,Publizistik'; oder, heißt das Auftrag zur solipistischen .Information, Kontrolle und Kritik des öffentlichen Lebens und maßgebliche Mitwirkung bei der Bildung der öffentlichen Meinung', da ,in unserer modernen Massengesellschaft ... die der Tradition verpflichteten geistigen Kräfte weithin die Führung verloren'haben?... Beileibe nicht, denn alle diese Aufgaben sind in der demokratischen Gesellschaft dem freien Bürger selbst gestellt, und der demokratische Souverän - repräsentiert durch politische, wirtschaftliche und kulturelle ,Professionals' und organisiert in spezifischen Verbänden und Institutionen - ist sachverständig genug und nach der Verfassung gehalten, Staat, Wirtschaft und Kultur, deren Mit- und Gegeneinander in Wort und Tat den Gesellschafts- und Kulturprozeß ausmachen, selbst zu steuern und zu kontrollieren (ausführlich § 13 II. und III.). Nicht also eigenständige Leistung und Kritik aller dieser sozialen Tätigkeiten kommt den Medien prinzipiell zu, sondern kommunikative Vermittlung des individuellen und kollektiven Redens und Beredens und seine öffentliche Präsentation bzw. Repräsentation als Darstellung gesellschaftlicher Zeit-Kommunikation. Deren Anwalt und ehrlicher Makler, nicht aber Träger ist der Journalist prinzipiell, und erfüllt ,seine' Zeitung (weit davon entfernt, sein Organ zu sein) diese soziale Funktion, dann ist sie das gesamtgesellschaftlich offene Forum dieser Kommunikation, das von Publizisten aller Kulturbereiche ... partnerschaftlich bestritten wird. Diese der Demokratie unentbehrliche soziale Funktion stellt dem Medium die öffentliche', d.h. gesamt-gesellschaftliche Aufgabe: Vermittlung, Repräsentation des ganzen sozialen Fühlens, Wollens und Denkens in Wort, Schrift und Bild ..." (Starkulla: 1974, S. 250f.). Die Funktion der Medien ist also nicht, als eine Vierte Gewalt neben dem Parlament zu agieren - mit eigener ihr nur qua Medium zukommender Kritik- und Aufklärungsaufgabe. Die Me-
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dien sind Mittel, Techniken der gesellschaftlichen Kommunikation. Sie müssen zwar über die in einer Gesellschaft bestehende Kritik berichten, sie haben aber als solche nur begrenzt das Recht zu eigener Kritik (z. B. im Rahmen von Kommentarspalten). Dies sei als normative Setzung des Verfassers den folgenden empirischen Ausführungen vorangestellt - eine Setzung, wie sie sich allerdings auf die Münchner Schule der Zeitungswissenschaft berufen kann. Da Journalisten oft diese ihnen funktional vorgegebene Grenze mißachten, kommt es zu Konflikten mit den Politikern und auch mit dem Parlament. Wenn z.B. Journalisten durch einheitliche Berichterstattung und Kommentierung oder durch unablässige Fokussierung auf nur ein Thema ein bestimmtes Meinungsklima erzeugen (ob gewollt oder nicht gewollt), so können sich die politisch Verantwortlichen in ihrer Entscheidungsfreiheit eingeengt fühlen, auch wenn dieses „Meinungsklima" nicht mit den realen Problemlagen einer Gesellschaft übereinstimmt, wie statistische Untersuchungen gezeigt haben. Z.B. brachte ein statistischer Vergleich zwischen der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der 80er Jahre und deren Bild in den Medien eine erhebliche Diskrepanz zu Tage: Die Medien berichteten weitaus negativer, als die Abwärtsentwicklung des Bruttosozialproduktes tatsächlich war. Auch stimmen die Nahund Vor-Ort-Erfahrungen der Bürger meist nicht mit deren Erfahrungen aus den Medien überein (Kepplinger 1989; Institut für Demoskopie 1980; auch NoelleNeumann: 1973, S. 26ff.). Vor diesem Hintergrund sind die insbesondere in und vor Wahlkämpfen zu beobachtenden Kampagnen von Politikern gegen den „linken W D R " oder den „rechten Bayerischen Rundfunk" oder gegen bestimmte Fernseh-Magazine zu sehen. Die Thematisierung kann allerdings nur begrenzt von einzelnen Journalisten gesteuert werden. Denn was thematisiert wird, ist weitgehend durch Sozialisationsprozesse und durch Normen, denen Journalisten institutionell unterworfen sind, bestimmt. Die Publizistik spricht hier von Nachrichtenfaktoren, nach denen von den Agenturen eingehende Nachrichten ausgewählt werden, wie da sind: 1. kurze Dauer des Ereignisses, d.h. Aktualität der Nachricht; 2. einfache und eindeutige Strukturiertheit des Ereignisses; 3. Elite-Status dessen, über den berichtet wird; 4. Zahl der Betroffenen und existentielle Bedeutung des Ereignisses; 5. Überraschung durch ein Ereignis; 6. Negativität des Ereignisses, wie Konflikthaltigkeit, Kriminalitätsgrad, Schaden, Mißerfolge, aber auch exzeptionelle Erfolge (Schulz, W.: 1976). Massenmediale Kommunikation kann zwar unter bestimmten Bedingungen sehr einflußreich sein, vor allem dann, wenn eine Nachricht oder Meinung in einen quasi kommunikativ leeren Raum stößt: Wenn ein Empfänger oder eine Empfängergruppe sich noch keine Meinung zu einem aktuellen Ereignis bilden konnten, hat die Meinungsbildung durch die Medien - da ohne Konkurrenz anderer Meinungsträger - eine präferentielle Wirkungs- und Einflußchance. Dabei kann den bild- und tongestützten Medien (vor allem dem Fernsehen) ein größerer Einfluß zugeschrieben werden, da sie den „ganzen" Menschen erfassen k ö n n e n - m i t allen seinen Sinnen, während die Zeitung eher den Intellekt anspricht. Hertha Sturm weist z.B. darauf hin, daß die schnelle Folge von „Laufbildern" - zumal, wenn sie wiederholt werden - beim Menschen emotional unbewußte Erregungszustände bewirken, die es unmöglich machen, daß man den Abstellknopf drückt (Sturm: 1985, S. 19ff.). Auch zeitigt die unterschiedliche bildliche Präsentation von Politikern differenzierte Wirkungen hinsichtlich der Einstellung zu diesem Politiker.
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Ansonsten ist der Einfluß der Massenmedien aber - insgesamt betrachtet - begrenzt: Der Bürger ist in vielfältige soziale Beziehungen verwoben (Familie, Kollegen, Freizeitgruppen, usw.), die sein Meinen und Verhalten beeinflussen. Die Medien sind nur ein Faktor im Ensemble dieser Kräfte. Oft bestätigen oder verstärken sie nur Meinungen, die bereits aufgrund anderer Einflüsse bestehen. Zum allgemein geteilten Vorurteil gehört es jedoch, daß die Medien sehr wirkungsvoll seien. Journalisten - insbesondere solche mit ausgeprägten ( p a r t e i p o litischen Einstellungen und Überzeugungsabsichten - fühlen sich daher - angesichts einer vermeintlichen Machtfülle, aber in Unkenntnis der Grenzen ihres Wirkens - nur all zu leicht verführt, die mediale Technik zum Herrn werden zu lassen: Die allein dem Parlament und seiner Öffentlichkeit zustehende Entscheidungsbefugnis kann derart durch Journalisten eingeengt werden, daß diese schließlich faktisch entscheiden. Medien wirken - so sei dieser Abschnitt zusammengefaßt - auf Politiker wahrscheinlich nur deshalb, weil die Politiker - fälschlicherweise - glauben, daß die Medien auf die Wähler wirken. Daß aber Kampagnen der Politiker gegen bestimmte Medien nur z.T. gerechtfertigt sind, läßt uns zum zweiten kritischen Punkt des Verhältnisses zwischen Medien und Politik kommen. Ebenso wie sich Journalisten der eigentlich nur der Politik zustehenden Entscheidungskompetenz zu bemächtigen versuchen und auch bemächtigen, ebenso zielen Politiker - die Grenzen ihres Amtes mißachtend darauf, die ihnen kritische Funktion der Medien, wie sie in der Artikulation kritischer Positionen aus der Gesellschaft besteht, einzudämmen oder gar auszuschalten, weil sie die eigene Position zu gefährden vermag. Diese Einflußnahme der Politik auf die Medien kann auf verschiedenen Wegen erfolgen: Politiker können ein „Gegen-Meinungsklima" zu erzeugen versuchen durch public relations und Öffentlichkeitskampagnen. Dazu stehen ihnen große Parteiapparate und z.T. auch eigene Medien zur Verfügung (z.B. Parteizeitschrift). Sarcinelli nennt dies „politisches Marketing". (Sarcinelli: 1987a, S. 215). Illegitim ist es, wenn Politiker versuchen, über die Besetzung von redaktionellen Stellen Einfluß zu gewinnen, da damit die Autonomie des Mediensystems ausgehöhlt wird. Die Möglichkeit hierzu besteht vor allem in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Deutschlands, deren Aufsichtsorgane (Rundfunkräte) gänzlich oder z.T. von Vertretern der Landesparlamente bestellt werden. In einigen Rundfunkanstalten werden mittlerweile selbst Redaktionsstellen nach parteipolitischem Proporz besetzt. Schließlich sind plumpe Drohungen von Politikern und Parlamentariern gegenüber Journalisten zu erwähnen: Verweigerung von Interviews, Hinweis auf die Notwendigkeit, daß die Rundfunkgebühren von den Länderparlamenten genehmigt werden müssen, Einleitung gerichtlicher Verfahren (Beleidigungsprozeß u.dgl.), Drohung mit einem Mediengesetz inkl. rechtlicher Restriktionen für Journalisten, usw. Eine vorbildhafte Einflußnahme der Politik und insbesondere des Bundestages auf die Medien bestünde darin - so ein Vorschlag von Steiger (:1970) - , daß der Bundestag selbst seine Aufgabe - nämlich die großen Fragen der Zeit öffentlich zu diskutieren - wieder aufwertet. Die Publizität des Parlaments schafft sich dann - so ist zu hoffen - automatisch, ohne Wirkungsabsicht das Publikum in Form medial vermittelter öffentlicher Diskussionen. Luhmann (:1974, S. 27ff.) ist im Rahmen seines systemtheoretischen Ansatzes zu der Überzeugung gekommen, den potentiellen und tatsächlichen Konflikt zwi-
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sehen politischem und medialem System glätten zu können, indem er dem Mediensystem eine Selektionsfunktion für das politische System zuschreibt. Medien konzentrieren sich nach seiner Meinung in ihrer Berichterstattung und Kommentierung auf einige wenige Themen, die sie hervorheben. Damit bündeln sie gemäß der gesellschaftlichen Diskussion die zu behandelnden Themen, denn die gesellschaftliche Diskussion zentriert sich meist um wenige Komplexe. Sie begrenzen derart auch die vom politischen System zu entscheidenden Materien zu dessen Vorteil, denn durch diese Begrenzung wird es vor Überlastungen bewahrt. Ein politisches System konkret: unter Zeitknappheit leidende Politiker können sich nicht um alles kümmern, sodaß ihnen die Themen- und Problemauswahl durch die Medien (und damit auch durch die Gesellschaft - so die Münchner Schule der Zeitungswissenschaft) - nur zupaß kommen. Die öffentliche Meinung „muß Themen erzeugen können, die trotz der hohen Komplexität des Systemkontextes in konkreten Interaktionen als Regeln der laufenden Artikulation sinnvoller Erwartungen fungieren können und Bedürfnisse der Gesellschaft in politisch zu entscheidende Probleme übersetzen. Das Problem liegt in der Selektivität der entstehenden Themen im Verhältnis zur Fülle des Möglichen, die sich aus evolutionär zunehmender Komplexität der Gesellschaft ergibt" (Luhmann: 1974, S. 52). Ob das Verhältnis Medien - Politik allerdings so konfliktfrei vonstatten geht, ist zu bezweifeln, da sich Politiker - wollen sie regierungs- und aktionsfähig bleiben - nicht prinzipiell die Themen von der Öffentlichkeit vorschreiben lassen können. Dies ist auch nicht der Fall. Auch Politiker oder das Parlament insgesamt versuchen, bestimmte Themen in die gesellschaftliche Diskussion zu werfen und diese mitzustrukturieren; allerdings gewinnen sie für ihre Themenpräferenz nicht immer die allgemeine Zustimmung. Auch das dem Bundestag zentrale Thema der Parlamentsreform hat nie größere Öffentlichkeit oder gar mediale Prominenz erlangt (näheres § 11V.). Das heutige Grundproblem im Verhältnis zwischen Medien und Politik scheint aber nicht auf der Ebene von wechselseitig bewußter Einflußnahme zu liegen, es gründet vielmehr in der Frage, ob und wie die Art massenmedialer Berichterstattung die Art von Politikgestaltung überhaupt zu ändern vermag. Hier ist insbesondere die wohl unabdingbare Tendenz der bildgebundenen, heutzutage dominanten Medien zu erwähnen, immer über „etwas", über etwas bildlich Reproduzierbares berichten zu müssen. Das hat zu einer gewissen Personalisierung der Berichterstattung geführt - Personen sind bildlich leicht faßbar - , vor allem bezogen auf die politische Prominenz, und das heißt: die Vertreter der Bundesregierung. Massenmedial sind dadurch der Bundestag und Parlamente überhaupt unterrepräsentiert; bei der Opposition ist die Unterrepräsentanz nochmals verstärkt, und wenn Bundestagsvertreter medial auftreten, dann meistens in Gestalt der Fraktionsspitzen. Personalisierung ist also auch mit Hierarchisierung verbunden. Das ist allerdings funktional unabdingbar und sinnvoll, da die gewählten „Spitzen" der Fraktion für diese sprechen können, während „Hinterbänkler" meist nur für sich stehen - oder nur zu dem Spezialthema fraktionsverbindliche Aussagen machen können, mit dem sie von der Fraktion beauftragt wurden. „Spitzen" sind eben nicht nur Funktionäre, sondern auch gewählte Repräsentanten. Die primäre Berücksichtigung von „Spitzen" gehört zu den oben erwähnten Selektionsaufgaben der Medien.
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Die Personalisierung hat eine weitere Folge: Sie reduziert meist komplexe Sachprobleme auf eine Auseinandersetzung zwischen politischen Repräsentanten und vereinfacht sie dadurch. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, daß ein Nachrichtenselektionskriterium des Journalismus die Aktualität der Nachricht ist, was die z.T. zumindest auf kurzfristige Sensationen ausgerichtete Berichterstattung mit sich gebracht hat. Über das, was neu und sensationell ist, wird bevorzugt berichtet, sodaß Nachrichtensendungen oft mit Naturkatastrophen beginnen, anstatt über den weitaus folgenreicheren und ständigen Hunger in der Welt zu berichten. Die Medien hüpfen oft kurzatmig von einem Thema zum anderen, und jedes Thema wird nur oberflächlich gestreift. Aufgabe des Parlaments müßte es demgegenüber sein, langfristige Entwicklungen aufzuzeigen und unter einer generationsübergreifenden Perspektive zu diskutieren. Politiker und Parteiapparate greifen aber den Trend der Medien auf, weil er anscheinend mehr den kommunikativen Bedürfnissen des allgemeinen Publikums entspricht (indem sie z.B. in Wahlkämpfen beliebte Persönlichkeiten hervorheben, oder auf gerade aktuelle Themen „springen"). Der Trend wird dadurch nur verstärkt. Insgesamt ergibt sich aus diesem Zusammenspiel von Politik und Medien (insbesondere den Bildmedien) das, was man als „inszenierte" Öffentlichkeit bezeichnen könnte, in der politische Aktivitäten z.T. nur für die Medien veranstaltet werden, bzw. stets die medienpolitische Verwertbarkeit mit im Auge behalten wird (Sarcinelli: 1987a). Ob dies aber schon den Kern von Politik betrifft, wie Edelmann (:1976) behauptet, ist in Frage zu stellen, denn die Entscheidungszentren (Kabinett, Bundestagsausschüsse u.a.) sind weiterhin nicht öffentlich und können daher auch partiell öffentlichkeitsunabhängig entscheiden. Im Bundestag z.B. besteht nur eine Erklärungs-, keine Verfahrensöffentlichkeit, um eine Unterscheidung von Steiger aufzugreifen (:1970, S. 710ff.). D.h. die Entscheidungen des Bundestages fallen nichtöffentlich; was anschließend erfolgt, ist nur noch deren öffentliche Verkündung und Erklärung in Plenardebatten des Parlaments.
III. Die Differenzierung von politischem System und medialem System Möglichkeiten der Kooperation Die (möglichen) Konflikte zwischen Politik und Massenmedien sollen nicht den Blick dafür verstellen, daß in der Mehrzahl der Fälle gerade in Bonn die Beziehungen zwischen Politikern und Journalisten kooperativ sind. „Was wäre z.B. die politische Presse ohne das Rohmaterial, den Input von Entscheidungsprozessen, den das politische System zur publizistischen Behandlung bereitstellt? Was wären aber, umgekehrt, auch diese Entscheidungen wert, wenn sie zwar z.B. im Parlament gefällt, aber ohne verstärkende, erläuternde und legitimierende publizistische Resonanz in unter diesen Bedingungen unverständliches Regierungs- und Verwaltungshandeln umgesetzt würden? Politik und Publizistik stehen mit anderen Worten in einem gegenseitigen Problemlösungs freilich auch -schaffungszusammenhang; das richtige Stichwort lautet: Interdepedenz" (Saxer: 1981, S. 502). Die Interdependenz ergibt sich schon allein daraus, daß Politiker, insbesondere Parlamentarier und Journalisten eine ähnliche Vorstellung über ihre Rolle (nämlich, Kontrolleure zu sein) haben, ähnlichen sozialen (Mittel-)Schichten entstam-
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men sowie auch darin vereint sind, daß sie auf der Prestigeskala, wie sie aus allgemeinen Bevölkerungsbefragungen hervorgehen, eher im unteren Teil rangieren. Die Kooperation von Medien und politischen Akteuren gilt insbesondere auch für den Bundestag. Zwischen Bundestagsabgeordneten und Bonner Journalisten (oder auch den jeweiligen Wahlkreisjournalisten der Abgeordneten) besteht eine „latente Partnerschaft" (Wittkämper: 1986, S. 719ff.), in deren Rahmen jeder für den anderen bestimmte Funktionen erfüllt. Die begriffliche Konstruktion dieser Funktionen sind das Ergebnis einer großangelegten Umfrage unter Bundestagsabgeordneten, in der diese zu ihrer Einstellung gegenüber den Printmedien befragt wurden (dazu Wittkämper/Bellers: 1986). Drei zentrale Funktionen erfüllen die Medien für die Politik im allgemeinen und für Bundestagsabgeordnete im besonderen: die Ressourcenfunktion (1.), die Innovationsfunktion (2.), und die operative Funktion (3.) (hierzu Bellers/Grimm/ Heiks: 1982, S. lOlff.). 1. Die Ressourcenfunktion Einen Großteil ihrer politischen Informationen beziehen Parlamentarier aus den Medien, insbesondere aus den überregionalen Tageszeitungen (bevorzugt werden hier gelesen: Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Rundschau, Bild) und aus Wochenzeitschriften (Die Zeit, Der Spiegel, der allerdings oft nicht als seriös betrachtet wird) (Herzog/Rebenstorf/Werner/Weßels: 1990, S. 76). Über diese Medien erfahren Parlamentarier nicht nur, was andere Parlamentarier oder Minister oder Verbandsvertreter gesagt oder getan haben, sondern auch, was die Exekutive plant. In dieser Hinsicht hat die Boulevard-Presse naturgemäß eine geringe Bedeutung, so wie deren Bedeutung überhaupt zu hoch eingeschätzt wird, denn die Skandalberichterstattung wird zwar wahr-, aber nicht ernstgenommen. Auch der Rundfunk wird eher zweitrangig genutzt. Herzog u.a. (: 1990, S. 74f.) erklären dies damit, daß die Hauptberichte des Rundfunks zu Zeiten liegen, zu denen Abgeordnete oft an öffentlichen oder nicht-öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, die daher wahrscheinlich mehr auf ihn wirken als die Medien. Die Nutzung von Medien als Informationsquelle wird um so stärker, je weiter der jeweilige Gegenstandsbereich vom Fachgebiet des Abgeordneten entfernt ist. Im Fachgebiet selbst oder dessen Randgebieten ist der Abgeordnete nicht zentral auf die Medien angewiesen, da er über zahlreiche formelle und informelle Kanäle verfügt, über die er sich informieren kann. Hier wird es eher als „faux pas" aufgefaßt, wenn man über eine Angelegenheit erst über die Medien erfährt. Unabhängig hiervon sind Fachöffentlichkeiten von wissenschaftlichen Zeitschriften und Interessenöffentlichkeiten von Verbänden, Teilöffentlichkeiten, mit denen der Abgeordnete bei seinen Entscheidungen kooperiert - und, will er erfolgreich sein, auch kooperieren muß (Oberreuter: 1979, S. 71; dazu § 13 III.). Denn hier konzentriert sich - neben der Ministerialbürokratie - das Fachwissen. Die Publikationsorgane der Verbände werden, wohl wegen ihres gefärbten Charakters aber eher gering zu Rate gezogen. Für einen Abgeordneten ist natürlich auch die Lektüre der Zeitungen seines Wahlkreises wichtig, um über die lokalpolitischen Belange und insgesamt über die Wahlkreisteilöffentlichkeit Kenntnis zu haben.
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Als Informationsressource von geringerer Bedeutung sind die bild- und tongebundenen Medien auch deshalb, weil sie nicht örtlich jederzeit verfügbar sind. Sie werden zwar auch zur Information genutzt, zentral ist hier - wie bei den anderen Medien - allerdings nur, daß der Abgeordnete ein Bild dessen gewinnt, was die Wähler öffentlich thematisieren. Denn über das Wählerwissen informiert zu sein, ist für den Parlamentarier geradezu existenznotwendig, da dieses Wissen und seine adäquate Berücksichtigung eine Voraussetzung für die Wiederwahl ist. Zwar kann und soll ein Abgeordneter auch anderes thematisieren, als seine Wähler wollen, aber es wäre unrealistisch, eine zu große Distanz zwischen Wähler und Gewähltem anzunehmen (ausführlich § 411. und III.; § 13 II.).
2. Die Innovationsfunktion Durch die Lektüre der Medien wird der Abgeordnete mit anderen Positionen und Meinungen konfrontiert; er ist gezwungen, sie mit seiner eigenen kritisch zu vergleichen und ggf. seine Meinung zu ändern. Dadurch wird es möglich, angemessenere Lösungen zu finden. Allein schon durch diese Vermittlungsfunktion (Widerspiegelung der Positionen des gesellschaftlichen Diskurses in den Medien) können die Medien innovativ auf das politische System wirken. Die Innovationsfunktion ist eine direkte Folge der Ressourcenfunktion der Medien. Darüberhinaus können Journalisten selbst gezielt innovativ wirken was durchaus legitim ist, wenn es in Grenzen bleibt und die Spiegel-Funktion der Medien insgesamt nicht beeinträchtigt. So arbeiten insbesondere Wochen-, Fach- und wissenschaftliche Zeitschriften bestimmte Themen sehr intensiv aus, Fachjournalisten bilden sich aufgrund intensiver Studien ein eigenes Urteil, das von Politikern durchaus wahrgenommen und bei der eigenen Entscheidung mit berücksichtigt wird. Auch die Aufdeckung von Skandalen wirkt auf das politische System innovativ. Die Innovationsfunktion hat ihre grundlegende Basis darin, daß sowohl Journalisten als auch Politiker sich gleichermaßen mit der Produktion von Neuem beschäftigen, entweder in der Form von neuen Gesetzen oder in der Form aktueller Nachrichten. In dieser Hinsicht sind beide Akteure für einander funktional.
3. Die operative Funktion Unter diesem funktionalen Aspekt instrumentalisieren Politiker und auch Parlamentarier Medien für ihre eigenen Zwecke. Z.B. lanciert ein Parlamentarier in die Presse die Nachricht, daß er gegen dieses oder jenes Projekt der von seiner Partei getragenen Bundesregierung sei, um so seinem Wahlkreis, der kritisch der Bundesregierung gegenübersteht, zu signalisieren, daß er ähnlich wie dieser denkt. Oder ein Fraktionsvorsitzender läßt sich von einer unbedeutenden Zeitung zu einem bestimmten Thema mit einer zuvor nicht mit den Koalitionspartnern abgesprochenen kontroversen Stellungnahme zitieren um zu testen, wie diese darauf reagieren. Reagieren sie milde, so läßt sich das Projekt weiterverfolgen; reagieren sie harsch, so kann der Fraktionsvorsitzende immer noch erklären, er sei falsch zitiert worden. Das ist allerdings nicht ohne explizite oder implizite Zustimmung der Journalisten möglich oder genauer formuliert: Entdeckt ein Journalist, daß er ohne sein Wissen und gegen seinen Willen instrumentalisiert wurde,
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wird er das nächste Mal vorsichtiger sein. Wollen Politiker die Medien im genannten Sinne über eine längere Zeit auch operativ einsetzen, so bedürfen sie der latenten oder manifesten Zustimmung der Medienseite. Es bedarf einer „latenten Partnerschaft", nach dem Prinzip des Gebens und Nehmens auf beiden Seiten. Der Journalist läßt sich operativ verwenden, dafür erwartet er, daß er von „seinem" Politiker und Abgeordneten bestimmte Informationen erhält, auf die er angewiesen ist. Eine solche Partnerschaft ist allerdings eher typisch für das politisch-mediale System der Bundesrepbulik Deutschland, in anderen Systemenwie z.B. dem der Vereinigten Staaten von Amerika - dominieren Konkurrenz und wechselseitige Kritik zwischen politischem und medialem System. Die wechselseitige Angewiesenheit von Politik und Medien gilt gleichermaßen auch aus der Sicht des Bundestages: So wie die Journalisten auf Informationen und Hintergrundwissen aus dem Parlament angewiesen sind, so ist der Bundestag auf die Öffentlichkeit angewiesen, und das heißt heutzutage: die massenmedial vermittelte, organisierte Öffentlichkeit. Denn will das Parlament sein Ansehen im Wahlpublikum erhalten, und wollen die parteigebundenen Bundestagsfraktionen - auch angesichts immer bevorstehender Wahlkämpfe auf den verschiedensten Ebenen - ihre kontroversen Positionen dem Bürger nahe bringen, bedürfen sie der Medien; denn die Zahl parteigebundener Zeitungen und Zeitschriften ist - im Gegensatz zur Weimarer Republik - seit den 50er Jahren auf ein Minimum geschrumpft. Mit folgenden Foren und Mitteln versucht der Bundestag, öffentlich zu wirken (Kißler: 1976, S. 216ff.): Zunächst sind die großen Plenardebatten zu nennen, z.B. anläßlich von Regierungserklärungen oder anläßlich der Vorlage des Bundeshaushalts oder anläßlich Großer Anfragen, wo meist „Redeschlachten" zwischen den öffentlichkeitswirksamen Matadoren von Regierung und Opposition inszeniert werden (s.a. § 11 II. und IV.). Zu spezifischen Problemen, zu denen der Bundestag auch Fach- und Teilöffentlichkeiten ansprechen will, werden Hearings veranstaltet oder Enquete-Kommissionen eingesetzt, an denen auch Nicht-Parlamentarier als Experten teilnehmen können. „Hier entsteht eine begrenzte, eine fachbezogene Öffentlichkeit, an deren inhaltlicher Gestaltung vor allem die Fachausschüsse ... und die ihnen entsprechenden Arbeitskreise beziehungsweise Arbeitsgruppen der Fraktionen beteiligt sind" (Lohmar: 1975, S. 92; i.e. § 10 V.). Untersuchungsausschüsse zielen insbesondere auf die kritische Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb des Parlaments und wollen mit Hilfe dieser Öffentlichkeiten einen Mißstand aufdecken und zu dessen Beseitigung beitragen (hierzu § 11IV.). Pressemitteilungen, -konferenzen und -gespräche sind kein spezifisches Instrument des Bundestages, sie werden z.B. auch von Verbänden durchgeführt. Durch Pressemitteilungen suchen die Fraktionen quasi die Öffentlichkeit schon vorzustrukturieren in der Hoffnung, die Journalisten übernehmen die Mitteilung in ihrer Tendenz unverändert. IV. Wie Parlamentarier Journalisten sehen - und umgekehrt Die „latente Partnerschaft" bezieht sich nicht auf die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, sondern hier auch nur wieder auf wenige „Prominente". So erklärt es sich, daß Parlamentarier häufig über ihre mangelnde Repräsentanz in den Medien klagen. Das bestätigt eine Statsitik von W. Keim (: 1982): „Über die
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Hälfte aller Bundestagsabgeordneten wurden im Laufe einer vierjährigen Wahlperiode (hier: 1972-1976, J.B.) weniger als 50mal in der Presse zitiert. 23 Abgeordnete wurden nie und 210 nur zwischen ein und 30mal erwähnt. 30mal in einer Wahlperiode bedeutet rund siebenmal im Jahr oder nur alle zwei Monate einmal". Bonner Journalisten orientieren sich allzu leicht auf ein „Telekratie-Establishment", das aus nicht mehr als 50 Abgeordneten und Ministern besteht (Dübber: 1980, S. 149). Aber warum wird auch nicht einmal der „einfache" Abgeordnete in prominenten Fernsehsendungen befragt? Er ist sicherlich in manchen Sachfragen kompetenter als die „Spitze". Der systematische Grund hierfür liegt - neben medientypischen Gründen (Personalisierung, Sensationsberichterstattung) - politisch vor allem darin, daß mit den „Spitzen" zugleich auch gewählte Repräsentanten befragt werden, die nicht nur ihre Meinung vertreten (wie der Hinterbänkler), sondern wie beim Fraktionsvorsitzenden für die gesamte jeweilige Fraktion sprechen. Und das ist natürlich für den Medienrezipienten wichtiger. Aus diesem Grunde sind Amts- und Kommunikationshierarchien im Deutschen Bundestag eng verzahnt. Allerdings ließe sich hier seitens der Journalisten durchaus eine bessere „Mischung" von Spitzenpolitikern und Hinterbänklern erreichen. Aber auch wenn sich ein Bonner Korrespondent hierzu entschlossen hat, stößt er mit diesem Vorsatz oft auf Widerstand bei seiner Heimatredaktion, die auch in Konkurrenz zu den anderen Medien ihren Lesern oder Hörern damit imponieren will, daß es ihr gelungen ist, Spitzenpolitiker zu kontaktieren. Die journalistische Sicht der Bundestagsabgeordneten ist zwiegespalten: Auf der einen Seite gibt es die oben geschilderte Partnerschaft, auf der anderen Seite wird der Politiker und Parlamentarier als „Gegner" gesehen, das Verhältnis beider ist durch Spannung gekennzeichnet. Solche Journalisten weisen sich die berufliche Aufgabe zu, Politik prinzipiell zu kontrollieren. Hier wird auch das (falsche) Bild vom „faulen Bundestag" erzeugt, wenn ständig leere Plenarsitzungen kritisch erwähnt werden (ohne die strukturellen Gründe zu nennen, warum das Plenum oft so leer sein muß, nämlich weil zeitgleich eine Reihe anderer parlamentarischer Gremien tagt (näheres § 1IV.; § 111.). Aus der Sicht der Parlamentarier werden sie von diesen Journalisten entweder ignoriert oder kritisiert, oder es wird falsch berichtet bzw. mit Schwerpunkten, die von den Politikern nicht nach vollzogen werden können. Eine mögliche Reaktion darauf besteht darin, einen eigenen Bundestagssender zu fordern, der über Plenarsitzungen berichtet. Andere wollen das Fernsehen aus dem Bundestag verbannen, weil das Verhalten der Politiker sich bei Fernsehübertragungen derart ändert, daß nicht mehr die Debatte, sondern die Inszenierung vor der Kamera im Mittelpunkt steht: Es werden die berühmten „Fensterreden" gehalten; wenn die Kameras laufen, werden die „einfachen" MdBs von den Spitzenpolitikern verdrängt. Der Bundestagsabgeordnete P. Conradi stellt fest, „daß die Berichterstattung die Ereignisse erschlägt, über die sie berichten soll" - so wenn z.B. das Auftreten eines Spitzenpolitikers von zehn Kamerateams begleitet wird, sodaß dieser für Dritte gar nicht mehr sichtbar ist. Conradi schlägt daher eine Beschränkung des Zugangs der Berichterstatter vor: Ein Kamerateam soll für alle filmen (Sozialdemokratischer Pressedienst 05.01.1990). Andere wollen die Plenarsitzungen des Bundestages wiederum zeitlich so legen, daß sie vergrößerte mediale Präsenz erhalten. Z.B. könnte die Bundesregierung
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in Sitzungswochen auf Pressekonferenzen verzichten, und die P l e n a r d e b a t t e n k ö n n t e n vor Redaktionsschluß stattfinden. D i e Sitzungen selbst wären lebendiger und aktueller zu gestalten, um mit den Journalisten auch die Öffentlichkeit f ü r das P a r l a m e n t zurückzugewinnen (hierzu auch § 11 V . ) . A u c h Ausschußsitzungen k ö n n t e n v e r m e h r t öffentlich stattfinden. Hier k a n n jedoch nicht weiter auf die vorgebrachten Ü b e r l e g u n g e n eingegangen w e r d e n .
V. Die interne Öffentlichkeit des Bundestages: Die „Neuen Medien" und das Parlament Als „ N e u e M e d i e n " w e r d e n vor allem die neuen Kommunikationsmöglichkeiten ü b e r Satelliten und ü b e r Kabelnetze bezeichnet, deren A u f n a h m e k a p a z i t ä t e n infolge neuer technischer Entwicklungen erheblich ausgeweitet w u r d e n , sodaß n u n m e h r m e h r I n f o r m a t i o n e n zugleich auf verschiedenen K a n ä l e n übertragen werden k ö n n e n . D a s wirkt sich u.a. aus in der wachsenden Zahl von Fernsehprog r a m m e n oder auch in der wachsenden Z a h l fernelektronischer Dienstleistungen (Telefax, T e l e k o p i e r e r , Telekonferenz, erleichterter Anschluß an D a t e n b a n k e n , usw.). Im strengen Sinne des Wortes handelt es sich nicht um neue M e d i e n (wie z.B. das M e d i u m Schrift eine Neuerung w a r ) , sondern um n e u e Techniken f ü r bereits seit längerem b e s t e h e n d e Medien, deren Kapazität dadurch erweitert w u r d e und wird. Mit dieser begrifflichen Differenzierung wird die von m a n c h e r Seite b e h a u p t e t e G e f a h r einer technologischen V e r ä n d e r u n g unserer Sozialstruktur und unserer sozialen Verhaltensweisen relativiert. D e n n es handelt sich hier nicht u m eine gänzliche U m s t r u k t u r i e r u n g sozialer Beziehungen, wie sie z.B. durch die E i n f ü h rung des D r u c k s erfolgte, sondern um d e n Einsatz n e u e r Techniken in bestehenden K o m m u n i k a t i o n s s t r u k t u r e n , die allerdings durch die n e u e n Techniken modifiziert werden k ö n n e n . D i e s e Modifikation ist nach den bisherigen U n t e r s u c h u n gen allerdings n u r sehr begrenzt, d a sich die quantitative Häufigkeit der M e d i e n nutzung k a u m geändert hat (sieht man von K i n d e r n und Alten ab); nur bei d e n Nutzungsarten ist es zu gewissen Verschiebungen g e k o m m e n : m e h r Unterhaltung - weniger I n f o r m a t i o n in den n e u e n Sendern und beim Publikum. O b das negativ zu beurteilen ist, kann bezweifelt w e r d e n , da das vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Recht der „informationellen Selbstbestimmung" auch für die Wahl der P r o g r a m m e gelten m u ß . D e r folgende Abschnitt gilt dem Einsatz n e u e r Medien in den internen K o m m u nikationsstrukturen des Deutschen Bundestages. Als „interne Ö f f e n t l i c h k e i t " wird hier vor allem der k o m m u n i k a t i v e Prozeß im Parlament selbst und zwischen Legislative und Exekutive bezeichnet. Ist dieser für d e n einzelnen B u n d e s t a g s a b g e o r d n e t e n transparent? U n d ist e r angesichts der Ministerialbürokratie transparent? V e r m ö g e n die „ N e u e n M e d i e n " ( D a t e n b a n k e n usw.) die T r a n s p a r e n z und interne Öffentlichkeit im Interesse des Bundestages zu e r h ö h e n - o d e r schaden sie e h e r ? Die zentrale u n d i m m e r wieder diskutierte Frage ist: V e r m ö g e n die „ n e u e n Medien" die b e s t e h e n d e n asymmetrischen K o m m u n i k a t i o n s s t r u k t u r e n zwischen Legislative und Exekutive zugunsten der Legislative zu v e r ä n d e r n ? E h e wir diese
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Frage beantworten können, müssen wir den diesbezüglichen status quo im Bundestag schildern. Die wissenschaftlichen Dienste des Bundestages als eine der zentralen Informationsquellen der Bundestagsabgeordneten gelten im Vergleich zu anderen europäischen Parlamenten als gut ausgebaut. Zu nennen sind hier: • • • •
die Bundestagsbibliothek ein sehr umfangreiches Presseausschnittarchiv Dokumentationen zum Bestand und Stand von Gesetzgebungsverfahren wissenschaftliche Mitarbeiter und Assistenten zur Begutachtung bestimmter Fragen • Zugang zu und Zugriff auf mittlerweile mehr als 800 in- und ausländische Datenbanken, die zum Großteil dezentralisiert genutzt werden können und deren Benutzersprache mittlerweile sehr vereinfacht wurde (dazu § 5 V. und § 10 VIII.). Die informatorischen Nachteile des Bundestages (näheres in § 11IV. und V. sowie § 12) können durch die neuen Techniken zumindest teilweise ausgeglichen werden. Der Zugriff auf Datenbanken stellt Wissen schnell, wenn auch nicht immer billig bereit, das mit dem Wissen der Exekutiven konkurrieren kann. Mit dem Bestand an Informationsdiensten und Datenbanken kann der Bundestag sicherlich einen Großteil der erforderlichen Informationen gewinnen. Das Problem heutzutage besteht jedoch nicht darin, genügend Informationen zu haben (die hat man meist mehr als genug: „Informationsflut"); das Problem besteht darin, zur rechten Zeit (und das heißt: schnell) die richtige Information zum gerade behandelten Thema in aufbereiteter und komprimierter Form zu haben. Und hier mangelt es. Dafür fehlt es an Personal, das diese Aufgabe leisten könnte; zudem neigen die Fraktionsspitzen dazu, die Informationen bei sich zu zentralisieren. Es fehlt auch an den auf parlamentarische Bedürfnisse abgestellten Datenbanken. Die meisten Datenbanken sind mit ihren Speicherungskategorien auf die Interessen der Exekutiven oder der Wirtschaft oder der Wissenschaft ausgerichtet, nicht aber auf die spezifischen Interessen eines Kontrollorgans. Daten werden meist von Behörden aus der exekutiven Perspektive erhoben (Kevenhörster: 1984, S. 33). Zudem sind Datenbanken strukturell konservativ, sie können nur das, was in ihnen kategorial vorgegeben wurde, speichern und vermögen daher Neues nicht zu erfassen. Die Bundestagsabgeordnete Skarpelis-Sperk resümiert in einem Vortrag vor dem Siemens-Forum am 13. April 1988: „Mit der Verwendung moderner Informations- und Kommunikationssysteme gewinnen die Regierung - aber auch Großinstitutionen der Privatwirtschaft - gegenüber dem Parlament einen Informationsvorsprung, der qualitativ neuartig und in der Geschichte der Demokratie einmalig ist. Die parlamentarische Kontrollfunktion, deren Effektivität wesentlich davon abhängt, über welche Informationen das Parlament verfügt, wird in der Realität weitgehend blockiert oder muß sich auf Detailkritik und Detailkontrolle beschränken". Angesichts solcher Defizite brachte die Mitte 1984 vom Bundestag in Auftrag gegebene Studie „Möglichkeiten zur Unterstützung der Tätigkeiten der Parlamentarier durch neue Informations- und Kommunikationstechniken und -medien" (Parlakom) folgende Tatbestände zu Tage:
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Im Bundestag besteht ein Mangel an materieller und technischer Amtsausstattung der Abgeordneten sowie ein Mangel an personellen Ressourcen, insbesondere in Form der Zuarbeitung für die MdBs. Die Kommunikation zwischen Abgeordnetem und Wahlkreisbüro ist oft noch mühselig und zeitraubend. Wie das zu verbessern sei, wurde in einem längeren Modellversuch mit Bonner Abgeordneten selbst erprobt (Projekt PARLAKOM; Einzelheiten in § 11V.). Auf der Basis dieser Ergebnisse wurden im Bundestag Arbeitsplatzrechner für die einzelnen Abgeordnetenbüros, eine ISDN-Nebenstellenanlage zur Verbindung mit den Datenbanken in aller Welt, Datenbankabfragestellen auf mehreren Etagen der Abgeordnetenhochhäuser sowie ein Benutzer-Service-Zentrum eingerichtet. Die erhofften Rationalisierungserfolge traten jedoch nicht im gewünschten Umfang ein, sodaß es z. T. zu einer Rehabilitierung der anfangs erwähnten parlamentarischen Informationstechniken kam. Nach Paragraph 12, Abs. 5 des Abgeordnetengesetz haben die Mandatsträger „Anspruch auf die Bereitstellung und Nutzung des gemeinsamen Informationsund Kommunikationssystems am Sitz des Deutschen Bundestages und in den Arbeitsräumen eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages und in den Arbeitsräumen eines Mitglieds des Deutschen Bundestages an einem Ort ihrer Wahl im Geltungsbereich des Abgeordnetengesetzes ... Zur Amtsausstattung ... gehören informations- und kommunikationstechnische Geräte ..., die geeignet sind, die parlamentarische Arbeit der Mitglieder des Deutschen Bundestages in den Bereichen • Bürofunktion • Kommunikation • Informationsgewinnung zu unterstützen". Neben dem EDV-Einsatz sind natürlich noch die „normalen" bürotechnischen Einrichtungen zu sehen: Schreibmaschine, Telephon, Teletex- und Telefaxanschluß usw. Das Problem der informationellen Unterversorgung des Bundestages potenziert sich bei der Parlamentsopposition, die einen schwereren Zugang zu den Ministerien und deren Informationsbeständen hat als die jeweiligen Regierungsfraktionen. Zudem richten Verbände ihre Eingaben präferentiell an die Regierung und deren Parteien. Das kann nur z.T. dadurch ausgeglichen werden, daß die Opposition im Bund auf Ministerien in den von der BundesoppositionsPartei regierten Ländern zurückgreifen kann (Kevenhörster: 1976, S. 409ff.; näheres § 11V.; exemplarisch § 12).
VI. Wieviel Öffentlichkeit verträgt das Parlament, wieviel Öffentlichkeit braucht es? Die Arbeit des Bundestages ist aufgrund der sozialstaatlichen Expansion der Gesetzgebung derart angewachsen, daß sie nur noch strikt arbeitsteilig organisiert werden kann. Hinzu kommt, daß die arbeitsteilige Organisation für den Außenstehenden nur noch schwer durchschaubar ist. Arbeitsteiligkeit neigt zur Abschließung gegenüber Dritten, und es entstehen so eine Vielzahl von Teil- und Fachöffentlichkeiten, die miteinander kaum noch kommunikationsfähig sind.
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Zudem ist die Ausschußarbeit im Bundestag grundsätzlich nicht öffentlich, um die Arbeit von ineffizienten parteipolitischen Kontroversen und fiktiven Legitimationszwängen frei zu halten. Die allgemeine Öffentlichkeit, mit der sich der Wähler identifizieren könnte, diffundiert zunehmend (Thaysen: 1976, S. 45). Mit diesem Tatbestand ist jedoch ein Konstitutivum moderner Demokratie tangiert, nämlich die ständige Kontrollierbarkeit von Herrschaft auch zwischen zwei Wahlterminen. Zudem läuft das politische System bei einer schwach entwickelten allgemeinen Öffentlichkeit Gefahr, daß die Teilpolitiken (und Teilöffentlichkeiten) den Kontakt zueinander verlieren und insgesamt die erforderliche Koordination zwischen ihnen unterbleibt. Ein diskutierenswerter Ausgleich für diese neue Art von (ungewollter) Arkanpolitik ist das Bemühen der Parteien, die politischen Themen auf große Formeln zu reduzieren, die wieder der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich sind. Hierbei wird jedoch implizit davon ausgegangen, daß sich die Kontrolle von Herrschaft durch den Wähler und die allgemeine Öffentlichkeit auf die Diskussion weniger großer Fragen beschränken soll, deren Ausführung man dann dem Bundestag und der Bundesregierung vertrauensvoll überlassen könnte. Die entgegengesetzte Kritik bemängelt ein Zuviel an Öffentlichkeit in der Politik. Politiker und Bundestagsabgeordnete würden sich in ihren Handlungen nur noch an der jeweiligen, durch Demoskopie verstärkten öffentlichen Meinung orientieren und Politik im Sinne autoritativer gesamtgesellschaftlicher Ziel- und Wertorientierung vernachlässigen. Die stete Präsenz der Öffentlichkeit und vor allem die Abhängigkeit der Politiker von ihr haben zu einem Dauerplebiszit geführt, dem die Politik zu ihrem Schaden unterworfen sei. Diese Auffassung ist wohl als übertrieben zu bezeichnen, bedenkt man, daß Bundestag und Bundesregierung durchaus willens waren, gegen die öffentliche Meinung anzuregieren, so z.B. zu Beginn der 80er Jahre, als es um die Realisierung des NATO-Doppelbeschlusses ging. Unbestritten ist, daß die Öffentlichkeit in Ausschüssen ausgeschaltet werden muß, wenn es sich um schutzwürdige Belange Dritter oder um solche Informationen handelt, deren Zweck bei Publikation verfehlt werden würde (z.B. nachrichtendienstliche Informationen; dazu § 11 I.): D a ß das Prinzip der Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen - von den genannten Fällen abgesehen - nicht unbedingt eine sachbezogene Diskussion erschweren muß, zeigen die Erfahrungen des Bayrischen Landtages mit seinen z.T. öffentlichen Ausschußsitzungen. Die Aufgabe, eine Balance zu finden zwischen dem rechten Maß erforderlicher Arkanpolitik und dem rechten Maß notwendiger Kontrolle durch die Öffentlichkeit, wird stets bestehen bleiben und in jeder Zeit anders beantwortet werden müssen. Patentformeln zugunsten des einen oder des anderen Prinzips sind hier irreführend, zumal auch Parlament und Öffentlichkeit nicht als zwei entgegengesetzte Größen zu betrachten sind. Vielmehr ist die spannungsreiche Kommunikation und Partnerschaft zwischen ihnen konstitutiv. Möglicherweise bringen die neuen elektronischen Techniken eine Abhilfe aus diesem Dilemma: Sie können neue Öffentlichkeit und Transparenz schaffen, ohne die Effizienz zu gefährden. Durch das mit Datenbanken erstellte Wissen ist es z.B. sehr vereinfacht, auch einen Überblick über andere Sachgebiete zu gewinnen. So kann evtl. wieder eine Gesamtöffentlichkeit des Bundestages geschaffen werden, die die Fachöffentlichkeiten der Bundestagsausschüsse und Arbeitsgruppen überwindet.
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Auch die kommunikativen Distanzen zwischen Bundestagsabgeordneten und ihren Wahlkreisen sind technologisch nun leichter zu reduzieren: Z.B. wären Telekonferenzen zwischen Bonn und den Wahlkreisorten möglich, die die Mobilitätskosten der Parlamentarier verringern und die kommunikativen Beziehungen zwischen Abgeordneten und Wahlkreis verbessern. Das ist sicherlich noch Zukunftsmusik, aber technologisch schon realisierbar. Es scheiterte bisher an den Finanzierungsnotwendigkeiten. Zudem sollen nicht die möglichen Gefahren dieser Technologien verkannt werden. Eine strukturelle Gefahr besteht in einer dominant auf die Bedürfnisse der Exekutive orientierten Speicherung der neuen „Medien". Dem könnte aber durch rechtzeitige parlamentarische Einflußnahme begegnet werden. Der Aufbau und die Speicherungsweise der Datenbanken sind öffentlich zu kontrollieren. Schließlich sollte nicht verkannt werden, daß die Aufgabe des Parlaments in grundsätzlichen Wertentscheidungen und Orientierungen besteht, die die Exekutive durchzuführen hat. In diesem Sinne hätte der Bundestag sein Selbstverständnis als Redeparlament zu akzentuieren.
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§ 16 Parlament und Technik Raban Graf von Westphalen I. Politik und Technik. - II. Staat und Technik. - III. Parlament und Technik. Grundlagenliteratur Dreier, Horst (1986): „Der Ort der Souveränität". In: Ders. / Hofmann, Jochen (Hg. ), Parlamertarische Souveränität und technische Entwicklung. Berlin, S. llff. Freyer, Hans (1970): Gedanken zur Industriegesellschaft. Mainz. Grawert, Rolf (1982): „Technischer Fortschritt in staatlicher Verantwortung". In: Demokratie in Anfechtung und Bewahrung. FS für Johannes Broermann. Berlin, S.457ff. Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als „Ideologie". Frankfurt/ M. Isensee, Josef (1988): „Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat". In: Ders. / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, Bd. III., S. 3ff. Lenk, Hans (Hg.) (1973): Technokrate als Ideologie. Stuttgart u.a. Murswiek , Dietrich (1985): Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Berlin. Saladin, Peter (1984): Verantwortung als Staatsprinzip. Basel u.a. Schelsky, Helmut (1961b): „Demokratischer Staat und moderne Technik". In: Atomzeitalter, S. 99ff.
I. Politik und Technik 1. Zur Tradition des Technokratiegedankens Überlegungen zum Problem des wechselseitigen Verhältnisses von Politik und Technik weisen unter dem Begriff der „Technokratiediskussion" auf eine Tradition, an deren Anfang man das Werk des französischen Sozialtheoretikers Claude-Henri de Saint-Simon (1760-1825) stellen kann, wenn man einmal die utopische Reisebeschreibung „Nova Atlantis" (1624) des Francis Bacon übergeht, in welcher sich der Zusammenhang von Technik und Herrschaft eindrucksvoll zugunsten eines Primats der wissenschaftlichen Technik thematisiert findet (Bacon: 1875ff./1961ff.). Vorangestellt sei eine Bestimmung des Technokratiebegriffs, der im folgenden näher entfaltet werden soll: Wir sprechen heute zunächst von „technokratisch", wenn der gesamte Sozialkörper einer Gesellschaft der Gestaltung durch die Technik überantwortet und seine Durchdringung und die Mediatisierung seiner Institutionen und Verfahren nach den Prinzipien technischen Herstellens als wünschenswert erscheint. Hierin wurde und wird nicht nur ein Weg gesehen, die Interessenverhaftetheit des politischen Willensbildungsprozesses zu überwin-
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den, sondern letztlich soll das „Politische" technisch-wissenschaftlich aufgelöst und damit überflüssig und entbehrlich gemacht werden. Technische Intelligenz soll an die Stelle politischer Führung treten in der Hoffnung, dies sei die Voraussetzung für die Befreiung der Technik aus wirtschaftlichen, unternehmerischen und politischen Einschränkungen. Die Folge der Freisetzung technischen Vermögens könnte - so in der Vorstellung der „Technocrats", auf die auch der Begriff „Technokratie" zurückgeht, zu einem bisher nicht gekannten gesamtgesellschaftlichen Lebensstandard führen, wären erst die herkömmlichen wirtschaftlichen Steuerungsfaktoren wie z.B. Eigentum, Gewinn und Preis abgeschafft und die Grundübel des unproduktiven kapitalistischen Staatswesens - vor allem: Güterverteilung, Warenbewertung und Geldwirtschaft -eliminiert (Hortleder: 1970; Lenk: 1971;Ropohl: 1973; Möhler: 1974). Aus der Beobachtung des beginnenden Industrialisierungsprozesses schrieb Saint-Simon im „Catechisme des Industrieis" (1823/24) den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten die Rolle zu, Träger des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts zu sein (Saint-Simon: 1957; Lübbe: 1962; Talmon: 1963; Niederwemmer: 1973). In seiner Vorstellung von der „Gesellschaft als Werkstatt" (Petermann: 1979) sollte die arbeitende Elite - Arbeitgeber wie Arbeitnehmer im Unterschied zu Adel und Militär - in extensiver Anwendung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse auf die Politik - die Gesellschaft als Ganzes gerecht ordnen. Der Situation der Zeit nach hieß das in erster Linie: Die Überwindung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und Wohlstand für alle Klassen. Die Wirksamkeit seines technokratischen Staatswesens sah Saint-Simon vor allem dadurch gewährleistet, daß die Staatsverwaltung in der Verantwortung von Industriellen, Fabrikanten und Bankiers überzugehen habe. Seiner Vorstellung nach sollte die Verwaltungstätigkeit der Regierungstätigkeit übergeordnet sein, wobei die Verwaltung der Gesellschaft die Erfindung, Prüfung und Ausführung der für die „Masse" nützlichen Vorhaben umfassen sollte (Saint-Simon: 1957; Schnabel: 1929ff. IV.; List 1930 VI.). Die Sozialtheorie Saint-Simons wie die seiner zahlreichen Erben - vor allem von Philippe Joseph Buchez und August Comte - waren vom gedanklichen Ansatz her „politische" Theorie, das heißt, daß sie auf die Überwindung der klassischen, im Verständnis dieser Denker unzureichenden Politik mit politischen Mitteln zielten. Diese Sichtweise änderte sich zu Anfang dieses Jahrhunderts zuerst in Amerikainsbesondere durch die Beiträge des Nationalökonomen und Soziologen Thorstein Veblen (1857-1929), in welchem man durchaus noch einen geistigen Nachfolger des Saint-Simonismus sehen darf. In seinem in dieser Hinsicht einflußreichsten Werk „The Engineers and the Price System" (1921) vertritt Veblen die Auffassung, daß die gesellschaftlichen Probleme sozial-technisch gelöst werden müßten und als Folge einer technologisch-organisatorischen Revolution in Amerika auch gelöst werden könnten. Den „general staff of the industrial system", den Generalstab des wirtschaftlich-industriellen Systems, bildeten für Thorstein Veblen die Ingenieure, welche - getragen von einem revolutionären Sozialbewußtsein - Wirtschaft und Gesellschaft gestalten sollten, ohne daß es dazu eines politischen, daß heißt auch staatlichen Instrumentariums bedurft hätte. Eine Überlegung, die hinter der Idee der Herrschaft durch Gesellschaftsingenieure steckte, war die, daß sich durch technische Möglichkeiten die wirtschaftliche Produktivität ungeheuer steigern ließe, entzöge man die Gestaltung des tech-
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nischen Fortschritts unternehmerischen und politischen Beeinflussungen. Beide wirkten - so die Auffassung - nur hemmend auf die technologische Entwicklung. Vor allem auch, weil Politiker oder Unternehmer über dieselbe Sache überaus kontroverse Vorstellungen hätten und deshalb nur zu höchst widersprüchlichen Lösungen kommen könnten, was durch das gleichgelagerte Sachinteresse von Ingenieuren weitgehend ausgeschlossen wäre. Beruht in diesem Verständnis traditionelle Politik auf bloßem Meinen und Glauben und führt daher notgedrungen zu willkürlicher Herrschaft, so gründen die Entscheidung und das Urteil der Techniker auf sicheren, unbezweifelbaren und widerspruchsfreien Erkenntnis- und Wissensgrundlagen. Die gesellschaftliche Entwicklung wird von Veblen als technisch beherrschbarer Prozeß angesehen, den es auf der Grundlage wissenschaftlicher Rationalität zu steuern gelte (Koch/ Senghaas: 1970, S. 282ff).
2. Der „technische" Staat a) Helmut Schelsky: Demokratie und Technik Die Debatte um das Problem des Verhältnisses von Technik und Politik wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Frankreich - wovon hier nicht weiter zu handeln ist - und in Deutschland fortgeführt. Besonders im Anschluß an die Arbeiten von Jacques Ellul „La Technique ou l'enjeu du siécle" (1954), Hans Freyer „Über das Dominantwerden technischer Kategorien in der Lebenswelt der industriellen Gesellschaft" (1960) und Helmut Schelskys Arbeiten über den ,demokratischen Staat und die moderne Technik' (1961b) sowie ,den Menschen in der wissenschaftlichen Zivilisation' (1961a) entwickelte sich eine lebhafte Auseinandersetzung, deren argumentative Schwerpunkte anhand der Beiträge Schelskys dargestellt werden sollen (auch: Burnham: 1941; Gehlen: 1957, Marcuse: 1967, Horkheimer/Adorno: 1947/1986). Wir verstehen, so schreibt Schelsky (1961b), politische Herrschaft als das auf Dauer gestellte Verhältnis der Macht von Menschen über Menschen und sehen in dieser Bestimmung das Charakteristische jedweder Staatlichkeit. In der europäischen Aufklärung wandelte sich deren Verständnis als ein unmittelbares und personales Herrschaftsgefüge zur Anschauung von der politischen Herrschaft als Machtausübung qua gesetzlicher, unpersönlicher Normierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Idee der Gleichheit aller vor Recht und Gesetz veränderte das personale Herrschaftsverhältnis zugunsten legaler und legitimer Herrschaft, in deren Rahmen prinzipiell jeder zum Machtausübenden wie zum Machtunterworfenen werden kann. Aber auch demokratische Herrschaft konnte und wollte nicht heißen, das politische Grundphänomen der Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt aufzuheben. In diesem Selbstverständnis entwickelten sich in der Folgezeit zuerst die westlichen, in der Tradition des abendländischen politischen Denkens stehenden Herrschaftssysteme, bevor die demokratische Idee in vielen Schattierungen förmlich ubiquitären Anspruch bekam (s.a. § 1). Diese Form politischer Herrschaft stellt Schelsky mit dem Hinweis in Frage, ob nicht durch die Konstruktion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein neues Grundverhältnis vom Menschen zum Menschen geschaffen wird: Die um-
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fassende Verwissenschaftlichung unseres Daseins mache nicht nur eine neue Zuordnung der Wissenschaft im Verhältnis Mensch und Welt erforderlich, sondern lasse ein neuartiges Verhältnis „Mensch" und „Welt" selbst entstehen. Eine Folge dieses Prozesses sei, daß das Herrschaftsverhältnis sein traditionelles Merkmal der Ausübung der Macht von Menschen über Menschen weitgehend verliere und an die Stelle der politischen Normen und Gesetze Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation träten, die nicht als politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- oder Weltanschauungsnormen nicht weiter verstehbar wären. Damit verliere auch die Idee der Demokratie ihre klassische Substanz: An die Stelle eines politischen Volkswillens trete die Sachgesetzlichkeit, die der Mensch als Wissenschaft und Arbeit selbst produziere. Dieser Tatbestand - so Schelsky weiter - verändere die Grundlagen unserer staatlichen Herrschaft überhaupt; er wandele die Fundamente der Legitimität der Regierung als Herrschaft, die Staatsräson und nicht zuletzt auch die Beziehung der Staaten untereinander. Drei Ursachenzusammenhänge förderten diese Entwicklung im Besonderen: 1) Technische Mittel werden immer dann zu „politischen Machtmitteln, wenn sie aufgrund ihrer Wirksamkeit einen tiefergehenden Einfluß auf eine große Zahl von Mitgliedern der Gemeinschaft ausüben. Immer dann muß der Staat diese neuen Machtmittel seiner Kontrolle unterwerfen, will er nicht das Risiko eingehen, sich mit technisch erzeugten „Nebenherrschaften oder Herrschaftskonkurrenzen" einlassen zu müssen. Historisch gesehen bilden die Verstaatlichung der Eisenbahn, des Rundfunks oder die staatlich kontrollierte Flugzeugindustrie ebenso Beispiele wie die staatlichen Bemühungen auf dem Felde der Forschung, Nutzung und dem Betrieb kerntechnischer Anlagen. Nicht weniger anschaulich ist die Diskussion der letzten Jahre um die Rolle der technischen Bildung im Bereich der Zukunftstechnologien unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Verantwortung für ihre Förderung und ihren institutionellen Ausbau in Lehre und Forschung. 2) Die Entwicklung des Staates zum Träger technischen Fortschritts hat ihren weiteren Grund in dem Umstand, daß der Privatkapitalismus - so Schelsky - in den finanziellen Aufwendungen, wie sie neue Technologien heute beanspruchen, überfordert ist. Direkte staatliche Beteiligung (Finanzierung) oder wenigstens die Übernahme von Risiken durch den Staat (Staatsbürgschaften) sind heute selbstverständliche Bedingungen für die Entwicklung neuer Technologien geworden, zumal wenn sich mit ihrer Nutzung arbeitsmarktpolitische Überlegungen verbinden. 3) Als dritte Ursache tritt der Zwang für den Staat hinzu, die verschiedenen ineinandergreifenden Formen der technischen Möglichkeiten soweit wie möglich zu koordinieren und aufeinander abzustimmen. Eben weil die Technik zunehmend alle gesellschaftlichen Lebensbereiche durchwirkt und insofern auch voneinander abhängig macht, bedürfen die technischen Produkte der staatlich veranlaßten und kontrollierten rechtlichen Gebrauchsnormierung im weitesten Sinne. Je stärker die gemeinschaftliche Existenz auf technischen Leistungen beruht, um so stärker dehnen sich die Bereiche staatlicher Tätigkeiten aus, welche sich in beispielsweise wirtschafts-, Verkehrs-, sozial- oder bildungspolitischer Hinsicht vor dem Hintergrund der allgemeinen Staatszielbestimmungen mit den Voraussetzungen, den Folgen und den Wirkungen gesellschaftlich genutzter Technik befassen. Von der Musterzulassung eines Produktes bis zu dessen Beseitigung als „Ab-
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fall" ist der Staat zu jeder Zeit und in unterschiedlicher Form direkt oder indirekt an der Geschichte dieses Produktes beteiligt. So wie er einerseits auf diesen Prozeß Einfluß nimmt, so wirkt andererseits die technische Produktion auf ihn zurück, verändert seine Form und sein Handeln. Der Staat muß heute - folgert Schelsky aus dieser Lage - den technischen Vollzug unserer Existenz funktional sichern. In diesem Verständnis wird der Staat zwangsläufig zu einem umfassenden technischen Körper: Die moderne Technik wird immer mehr staatlich, der Staat seinerseits wird immer „technischer": Er wird „technischer Staat". Wenn vorstehend dargestellt wurde, daß diese Entwicklung den Staat in seinem Wesen grundsätzlich verändert hat, so darf dieser Hinweis nicht zu dem Mißverständnis führen, wonach dem neuzeitlichen Staat in älterer Zeit spezifische staatliche Techniken, ihre Anwendung und ihre in der Regel monopolisierte Nutzung fremd gewesen wären: Indem wir historisch gesehen vom Staat in seinen Erscheinungsformen als Militär-, Polizei-, Verwaltungs- oder Rechtsstaat sprechen, weisen wir damit auf Techniken hin, deren staatlicher Gebrauch zum prägenden Merkmal für diese verfassungsgeschichtlichen Epochen wurde. Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich von den älteren Zuständen dadurch, daß der Staat heute grundsätzlich alle Formen der Technik in ihrer höchsten Wirksamkeit als staatliches Handeln in sich vereint. Nach Schelsky ist der Staat der Gegenwart ein universaler technischer Körper, der seine Effizienz nicht zuletzt in der Perfektionierung der technischen Möglichkeiten der Gesellschaft unter Beweis stellt. Mit der Auffassung vom Wesen des Staates als eines technischen Körpers verändert sich zwangsläufig die Anschauung vom Ziel und Zweck des Politischen.
b) Zur Legitimation des technischen Staates Die Orientierung an der bestmöglichen Funktions- und Leistungsfähigkeit der im Staat versammelten Techniken verlangt, die Frage nach dem Ziel und dem Sinn des Staates, wie sie uns in der Vorstellung vom Gottesstaat, dem Staat als Instrument einer Klasse oder als Ausdruck des Volkswillens vertraut ist, aufzugeben. Das Ziel des technischen Staates kann nur in der Steigerung und Nutzung der technischen Mittel liegen, über die er verfügt. Hieraus erwachsen dann konsequenterweise auch die ihn rechtfertigenden Begründungen, die auf die Auffassung zulaufen, daß die moderne Technik keiner über sie hinausgehenden Legitimitäten bedürfe; mit ihr herrscht man, weil und solange sie optimal funktioniert. Ersetzt technische Funktionalität in diesem Denken den Zwang traditioneller Herrschaftsformen, so - z . B . - im Rückgriff auf „Gott" oder den „Willen des Volkes", so wandelt sich auch zwangsläufig die Rolle des Politikers. Er ist nicht weiter derjenige, der vor einem weltanschaulichen, ideologischen Hintergrund Entscheidungen zu beeinflussen trachtet oder fällt, die sich auf das politische Gemeinwesen als Ganzes beziehen, sondern er wird im technischen Staat zum Konstrukteur, zum Planer, dessen Tätigkeit sich möglichst eng an die Richtigkeit technischer Prinzipien, an der technischen Sachgesetzlichkeit zu orientieren hat. Je weiter sich Wissenschaft und Technik entwickeln, desto mehr werden sich die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten in Bezug auf eine politische Lage zugunsten einer, der sachgesetzlich besten, Entscheidung auflösen. Politik - s o darf
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man daraus schließen - existiert nur deshalb, weil es noch technische Unvollkommenheiten gibt: Im historischen Moment technischer Vollkommenheit wird sie überflüssig werden. Um deutlich zu machen, inwieweit auch die öffentliche Meinung der Vorstellung vom technischen Staat folgt, weist Schelsky darauf hin, daß sie heute dann relativ einfach zu gewinnen ist, trägt man sein Programm mit dem Anspruch vor, es handele sich um die sachlich-technisch beste Lösung; politisch-strittige Vorstellungen hätten es ungleich schwerer sich durchzusetzen. Damit kommen wir zu einem weiteren zentralen Punkt: Ist die klassische Auffassung von der Demokratie die, in ihr ein Gemeinwesen zu sehen, dessen innere Ordnung und äußere Entfaltung als Ausdruck des Willens der Mitglieder dieser Gemeinschaft zu verstehen sind (hierzu § 1 II.), so entzieht der technische Staat der Demokratie ihre herkömmliche Substanz, ohne dabei antidemokratisch zu sein. Technisch-wissenschaftliche Entscheidungen können keiner demokratischen Willensbildung unterworfen werden, ohne durch sie ineffektiv gemacht zu werden. Im technischen Staat tritt an die Stelle von Herrschaftsdisziplin die Disziplin durch die sachliche Herrschaft; Volkswille verwandelt sich in Sachzwang; das Volk als Ursprung der politischen Herrschaftsgewalt wird zum Objekt der Staatstechnik: Sachverhältnis (technisch) und Systemstruktur (politisch) werden identisch. Dieser Prozeß hat sich nicht gegen ideologische, das heißt selbstinterpretative Ideen und Glaubenssysteme durchzusetzen. Wie die alte Herrschaftsform als äußere Fassung bestehenbleibt, so konstituiert sich der technische Staat, ohne die traditionellen, weltanschaulichen Vorstellungen zu widerlegen. Das technische Argument setzt sich „unideologisch" durch, so könnte man sagen, will man nicht Technik und Wissenschaft selbst als „Ideologie" (Habermas: 1968) verstehen. Mit den Worten Schelskys: Die Verwandlung der Demokratie in einen „technischen Staat" bedarf keiner Revolution im sozialen oder politischen Sinne, keiner Verfassungsänderung, keiner ideologischen Bekehrung. Es bedarf nur der steigenden Anwendung wissenschaftlicher Techniken aller Art, und der technische Staat entsteht im alten Gehäuse. Dieser Umstand erschwert erkenntlich die Bewertung, wieweit wir uns heute bereits einer Situation angenähert haben, in welcher die politischen Beziehungen unter Menschen durch die vom Menschen selbst geschaffenen wissenschaftlich-technischen Sachgesetzlichkeiten abgelöst und ersetzt worden sind. Die Begründung, wonach die Technik den Menschen in seinem Bewußtsein dergestalt präge, daß es als Steuerungsfaktor der gesellschaftlichen Evolution ausfalle, entwickelt sich in der, die Technokratie beherrschenden Auffassung zum alles leitenden Sachzwang: Indem sich der Mensch von den naturhaften Bedingungen seiner Existenz löst, in dem Umfang hat er sich der Sachgesetzlichkeit seiner eigenen technischen Produktion unterworfen (zur Kritik: Koch/Senghaas: 1970; Krauch: 1970; Lenk: 1973; Habermas: 1968; Greiffenhagen: 1971). 3. Zwei Varianten der Technokratiediskussion Werden in diesem Staatsmodell Sachverhältnisse zu Sachgesetzlichkeiten, welche die Strukturen des Systems beherrschend überformen und insofern seine Funktionen steuern, so stellt sich diese Problematik in zwei weiteren, nach wie
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vor aktuellen Varianten der Technokratiediskussion anders dar. Gemeint ist das Verständnis von der Technokratie als „Expertokratie" und die Sichtweise, in der Technokratie als „Normativität technischer Möglichkeiten" (H. Lenk) interpretiert wird.
a) Expertokratie Unter Expertokratie läßt sich der in jeder größeren Organisation oder Behörde, in jedem betrieblichen Unternehmen oder Verein erkennbare Prozeß beschreiben, wonach diese in der bestmöglichen Verfolgung ihres Organisationszweckes zunehmend auf technischem Sachverstand angewiesen sind. Bewußt zu halten ist, daß jedes Sozialsystem heute ganz wesentlich in seiner Leistungsfähigkeit auf der möglichst raschen Nutzung neuen technischen Wissens beruht und - umgekehrt - , daß die Vernachlässigung technisch-innovativer Leistungen zur allmählichen Nichterreichung des Organisationszieles und zum Absterben der Organisation beiträgt. Klassisch findet sich dieser Gedanke, wonach soziale Systeme ihre Eigenkomplexität durch die Hinzuziehung von systemexternem Sachverstand steigern und in Verfolgung dieser Übung zunächst in Abhängigkeit, schließlich unter die faktische Herrschaft der Sachverständigen geraten, in der Arbeit von James Burnham: „The managerial revolution" von 1941. Burnham glaubte konstatieren zu können, daß die Entwicklung der Produktion einer zunehmenden Verwissenschaftlichung unterliege, wobei sie sich gleichzeitig an den langfristigen Zielen des politischen Systems bis hin zur Anpassung orientiere. In der Verschiebung der Bedeutung des Kapitals für den Produktionsprozeß zugunsten des wissenschaftlichen Wissens sah Burnham den Anlaß, daß die Kapitaleigner hinter die von ihnen eingesetzten Manager zurückträten; diese sieht er als herrschende Schicht. Je stärker das politisch-administrative System selbst die Steuerung des Wirtschafts- und Produktionssystems übernimmt, umso mehr gerät es dann zwangsläufig unter die Kontrolle sachorientierter Manager, deren Sachverstand auf dem Wissen um die technische Natur hochdifferenzierter Produktionsvorgänge beruht. Wir befinden uns, so Burnhams Überzeugung, in einem gesellschaftlichen Stadium des Übergangs vom kapitalistischen zum „manageriellen" Herrschaftstyp: Die Sachrationalität des Wirtschaftens und Produzierens wird in der Konsequenz dieses Verständnisses zur Rationalität des politischen Systems überhaupt. Daß die Rationalität des politischen Systems, dessen Zweck in der gesamtgesellschaftlichen Zuweisung von kollektiv-verbindlichen Werten liegt, möglicherweise anderen Rationalitätskriterien folgen muß, als denen, welche für das wirtschaftliche System oder seine Subsysteme in Form von Industriezweigen oder auch Betrieben gelten können, bildet ein hier nicht weiter einzuwendender Gesichtspunkt der Kritik an diesem Expertokratiemodell. Wenn Otto Ullrich in seiner Arbeit „Technik und Herrschaft" (:1979, S. 314ff.) feststellt, daß menschheitsbedrohende Projekte nie entstanden wären, wenn es kein auf den eingegrenzten Sachverstand beruhendes und diese Projekte vorwärtstreibendes Interesse der Wissenschaftler gäbe, so darf man diese Auffassung als Hinweis auf die Virulenz des Expertokratiegedankens in der Technikdiskussion werten. Dieser Eindruck verdichtet sich, wenn Ullrich ausführt, daß eine
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Steuerung und Kontrolle des Scientific Community Systems durch externe Institutionen nicht für möglich gehalten wird, weil ihm die dazu notwendigen Wissensgrundlagen fehlen. In ähnlicher Richtung geht auch die Vorstellung, daß die Politik etwa bei der Erstellung von technischen Großprojekten durch das Forschungs- und Wissenschaftssystem gelenkt wird, wie überhaupt das, was als technischer Fortschritt zu gelten hat, seine Festlegung durch dieses System erfährt. Die These von der zunehmenden Angewiesenheit und Abhängigkeit des politischen Systems von externen technischen Sachverständigen hat mit der wachsenden Bedeutung der Informationstechniker erheblich an Gewicht gewonnen. Nicht nur, daß die Regierung die Computerexperten schwerlich kontrollieren kann, sondern auch, daß die Regierung im Besitz der modernsten Hilfsmittel, der Informationstechnik, durch ein „Parlament ohne diese Hilfsmittel praktisch nicht mehr kontrolliert werden kann" (Steinbuch: 1971, S. 236f.). Daß sich mit steigender Komplexität staatlicher Entscheidungserfordernis der Gestaltungsspielraum der Politik verengt, während die Rolle des Sachverständigen an Bedeutung zunimmt, ist verschiedentlich ausgeführt worden. Vor allem in Hinsicht auf das Fachausschußwesen des Deutschen Bundestages (dazu § 10 V.) glaubte Frisch bereits 1955 feststellen zu können: „Die Unterwanderung des Parlaments durch die Technokratie kommt vor allem in der Ausschußarbeit, wo das politische Moment nicht mehr vorherrschen kann, zum Ausdruck" (S. 36). Die Begründung hierfür fußt in der oben angesprochenen Sichtweise, daß auf Ausschußebene etwaige Gegensätze zwischen den politischen Parteien deshalb weniger konturiert ausfallen, weil die technischen Probleme infolge der an sie gebundenen Sachverhältnisse die „richtige" Lösung bereits vorstrukturieren. Aus dem Blickwinkel des Deutschen Bundestages kommt hinzu, daß der eingeholte Sachverstand in der Regel aus dem Bereich der Regierung oder der ihr nachgeordneten Administration kommt und von daher die legislative Tätigkeit des Parlaments auf eine Angleichung an die exekutiven Vorgaben hinauslaufen kann. Der Gesetzgeber hat im Gegenzug versucht, sich fachmännischer zu machen, in dem er z.B. den Wissenschaftlichen Dienst beim Deutschen Bundestag einrichtete, (i.e. § 10 VIII.), die Möglichkeit zu öffentlichen Anhörungssitzungen eröffnete, oder auch die Einsetzung von Enquete-Kommissionen seit 1969 vorsieht (hierzu § 10 V.). Wenn das Parlament durch Ausdifferenzierung von Verfahren oder Subsystembildung auf diese Weise die interne Entscheidungsfähigkeit zu erhöhen versucht, so führen diese Maßnahmen der Sache nach zur weiteren Abhängigkeit parlamentarischer Tätigkeit vom Expertenwissen. Wurden im Zusammenhang mit der Einrichtung des Wissenschaftlichen Dienstes beim Deutschen Bundestag darauf hingewiesen, daß es sich bei ihm dann um eine überflüssige „Konkurrenzbürokratie" handele, wenn sich der Gesetzgeber auf Entscheidungen über politische Grundprobleme beschränke, so bleibt, daß aufgrund solcher Reaktionen Experten über das nichtdemokratisch kontrollierte parlamentarische Vorfeld den Willensbildungsprozeß des Gesetzgebers möglicherweise „sachorientiert" ausrichten. Allein der Nimbus, den der wissenschaftlich technische Sachverstand heute genießt, veranlaßt zu der Frage, ob demokratisch nichtlegitimierte Experten durch ihre Einflußnahme den parlamentarischen Entscheidungsprozeß nicht hin bis zur de-facto Sachanbindung steuern. Abgesehen von der damit sich stellenden Legitimationsproblematik für das politische System droht, daß seine Funktion im Zuge einer fortschreitenden Technisierung des Parlaments letztlich auf die Ermittlung sachrichtiger Entscheidungen als „Resultate einer komplexen Tatsa-
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chensituation" (E. Forsthoff) verengt wird. Konsequenterweise wird im Rahmen der Expertokratiediskussion dieser Vorgang als die Degeneration der Politik zur (Natur)-Wissenschaft bezeichnet.
b) Normativität technischer Möglichkeiten Als letzte der Varianten zur Technokratiethese sei an die von der Technokratie als „Normativität technischer Möglichkeiten" erinnert. In ihrem Kern vertritt sie die Auffassung, daß der Mensch im Prozeß der Erzeugung von Sachen auch die Ziele seines Tuns mithervorbringt und damit sein Handeln in normativer Hinsicht an den technischen Möglichkeiten selbst orientiert. Damit soll gesagt sein, daß die Ziele und Werte, auf die menschliches Handeln abstellt, nicht „frei", außerhalb und unabhängig vom Prozeß der technischen Perfektionierung gewählt werden, sondern daß sie aus dem jeweiligen Vermögen dazu selbst hervorgehen, indem sie dieses nicht transzendieren, sondern bestenfalls technisch optimieren. Der Mensch produziert sich selbst als „technischen Menschen". Es ist diesem nicht möglich, Ziele und Werte außerhalb der durch die Organisation der Technik vorgegebenen Lebensstrukturen zu entwerfen. (Lenk: 1971): Der Mensch kann sich nur auf die Verbesserung der technischen Funktionen konzentrieren, den Ablauf und die Tätigkeit seiner Apparate perfektionieren; die technische Machbarkeit selbst aber bestimmt, was gemacht werden soll, und auch, daß alles hergestellt wird, was hergestellt werden kann. Machbarkeit und verfügbare Mittel determinieren in diesem Modell den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß. Da in dieser Variante der Technokratiediskussion Technik und Politik zusammenfallen, weil ihre theoretische Grundlage von einer vollständigen Dominanz der Sachen im sozialen Kontext ausgeht, mithin auf einen technologischen Determinismus hinausläuft, welcher Politik, Wirtschaft und Recht zu Variablen technologischer Selbstrealisierung macht, sei auf eine umfangreichere Behandlung dieser Sichtweise verzichtet, da es zum vorausgesetzten Verständnis des Autor gehört, technologische Entwicklungen als einen von wechselnden gesellschaftlichen Interessen gestalteten Prozeß zu interpretieren (weiter unten II.). Keines der im Vorstehenden skizzierten gedanklichen Modelle beansprucht aus sich heraus allein, die Wirklichkeit des Zusammenhanges von wissenschaftlichtechnischem Vermögen einerseits und gesamtgesellschaftlicher Organisationsform andererseits theoretisch zu erschließen. Behauptet aber sei, daß vor allem die expertenorientierte Variante der Technokratiethese auf bedeutsame Merkmale und Entwicklungstendenzen der industriellen Gesellschaft der Gegenwart hinweist. Die Struktur des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland gründet in den verfassungsrechtlichen Vorgaben vom Primat der Politik. Die Vorschriften zur Staatsorganisation lassen erkennen, daß die Verfassung von einer pluralistischen Gesellschaft ausgeht, die mit jeder Form von totalitärer Herrschaft und damit auch in ihrer Form als Herrschaft durch Sachzwänge unvereinbar ist. Die dargestellten Varianten der Diskussion zum Verhältnis von Politik und Technik (zur Kritik: Lenk/Ropohl: 1976; Habermas: 1968; Koch/Senghaas: 1970) sollen den Lesern zunächst erste Anhaltspunkte liefern, die es ermöglichen, etwa jene einflußreichen gegenwärtigen Argumentationen zu diskutieren, wonach die
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„Macht der Technokratie (...) die Entmündigung der Sinne und damit die Entmündigung des Urteils des Bürgers in der entwickelten Gefahrenzivilisation (ist). Das Ende der Demokratie ist kein Knall, sondern der leise Übergang in eine autoritäre Technokratie, in der der citoyen vielleicht gar nicht bemerkt, daß die Kernfragen des Überlebens sich längst seiner Mitbestimmung entzogen haben" (Beck: 1988, S. 269). Dahinter steht die Anschauung, daß die „industriegesellschaftliche Antwort auf die Risikogesellschaft (...) die Intensivierung der Technokratie ist" (Beck: 1988, S. 268). Den historischen Hintergrund dieser Bewertung liefert die Sichtweise, wonach die „moderne Religion des Fortschritts, so widersprüchlich sie sein mag, (...) ihre Epoche gehabt" hat. Zwei geschichtliche Entwicklungen haben mit den siebziger Jahren diese Epoche beendet: „Während die Politik mit dem Ausbau des Sozialstaates auf immanente Grenzen und Widersprüche stößt und ihren utopischen Impetus verliert, stauen sich die gesellschaftlichen Veränderungsmöglichkeiten im Zusammenwirken von Forschung, Technologie und Wirtschaft. Bei institutioneller Stabilität und gleichbleibenden Zuständigkeiten wandert so die Gestaltungsmacht aus dem Bereich der Politik in die Subpolitik ab. In den zeitgenössischen Diskussionen wird die , andere Gesellschaft' nicht mehr durch die parlamentarischen Debatten neuer Gesetze erwartet, sondern durch die Umsetzung von Mikroelektronik, Gentechnologie und Informationsmedien. An die Stelle politischer Utopien ist das Rätseln um Nebenfolgen getreten. Die Gestaltung der Zukunft findet versetzt und verschlüsselt nicht im Parlament, nicht in den politischen Parteien, sondern in den Forschungslabors und Vorstandsetagen statt. Alle anderen - auch die Zuständigsten und Informiertesten in Politik und Wissenschaft - leben mehr oder weniger von den Informationsbrocken, die von den Planungstischen technologischer Subpolitik fallen". In den Forschungslabors werden „die Strukturen einer neuen Gesellschaft umgesetzt" (Beck: 1986, S. 357f.).
4. Vorläufiges Fazit Diese und ähnliche zeitkritische Hinweise (von Alemann/Schatz: 1986; Keverhörster: 1984; Hartwich: 1986; Chladek/Wittkämper: 1991) veranlassen, Fragen nach der tatsächlichen parlamentarischen Kompetenz im Prozeß der Durchtechnisierung der Gesellschaft, ihrer Lebensund Arbeitszusammenhänge, ihrer Institutionen, Verfahren und Verhaltensweisen unter dem besonderen Gesichtspunkt technik-induzierter Wirkungen und Folgen auf die parlamentarischen Einrichtungen des deutschen Regierungssystems mit einer allgemeinen Darstellung ihrer Funktionen, Organisationen und Verfahrensweisen zu verbinden, woran sich dieses Lehrbuch orientiert. Man muß nicht Anhänger geschichtsphilosophisch getönter Untergangsprophezeiungen sein, schreibt Horst Dreier, um zu erkennen, daß in der „Epoche internationaler Überformungen staatlicher Hoheit, supranationaler Entwicklungen von Technik, Wissenschaft und Wirtschaft und angesichts gleichzeitig beständig wachsender überdimensionaler Ordnungs-, Leistungs- und Verwaltungsaufgaben die Kapazität staatlicher Eingriffs-, Steuerungs- und Lenkungsmöglichkeiten im Schwinden begriffen ist: Die Zusammenführung mehrerer solcherart depotenzierter Anstalten will dann nur mehr als ,Konzert der gelähmten Leviathane' (H. P. Schwarz) erscheinen. Von der Beherrschung und der Kontrolle der gesam-
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ten staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung durch die demokratisch legitimierten Hoheitsträger kann gerade im Bereich der Folgeprobleme technischer Großanlagen oder der Gentechnologie wohl kaum ohne weiteres ausgegangen werden. (...) Die auch im Umweltbereich als zunehmend defizitär empfundene Begrenzung staatlicher Leistungsfähigkeit hat objektive Gründe. Der eine ist ohne Zweifel in der neuen Qualität der ,Herausforderungen' zu suchen: der Staat des späten 20. Jahrhundert ist mit Problemkonstellationen und Problemdimensionen konfrontiert, die sein - aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen stark limitiertes - Instrumentarium als hoffnungslos veraltet erscheinen lassen müssen. Doch ist das nicht alles, vielleicht nicht einmal das Wichtigste. Hinzu kommt, daß der allgemein verbreiteten Zurechnung aller möglichen Phänomene auf den Staat, seiner nicht zuletzt aufgrund der Parteikonkurrenz künstlich extrem gesteigerten Allzuständigkeit, aus der pari passu eine Allverantwortlichkeit und damit infolge der wohl kaum noch umkehrbaren Ausweitung der Staatsaufgaben eine umfassende ,Ausfallhaftung' wird, keine Allkompetenz entspricht (...). So wäre im Zeitalter der Technik der Begriff der Souveränität neu zu durchdenken. Meinte er früher die letztinstanzliche Macht- und Kraftquelle eines von anderen Herrschaftsträgern weitgehend unabhängigen Gebildes, bezeichnet er heute - nach der Übernahme der evolutionären Führungsstafette durch Wirtschaft, Technik und Wissenschaft - einen eher symbolischen Zurechnungszeitpunkt für Entwicklungsprozesse, die im politischen wie im .gesellschaftlichen' Bereich liegen. Der Staat haftet offenbar weit über die Grenzen seiner Verantwortungsfähigkeit, seiner Kompetenz und seiner Steuerungskapazität hinaus. Es kommt zu einer Überanstrengung der politischen Institutionen" (Dreier: 1986, S. 40f.). Auf die damit aufgeworfene Frage nach dem Primat der Politik versus der Dominanz der Technik im evolutionären Prozeß von Staat und Gesellschaft kann vor dem Hintergrund der vorgetragenen Problemerörterung zusammenfassend folgende Überlegung angeboten werden: Die Verantwortung für die technologischwissenschaftliche Weiterentwicklung ist der Politik in dem Maße zugewachsen, wie die technische Effizienz zu einer Bedingung der Wahrnehmung und Erfüllung anderer Staatsaufgaben wurde. Da der technische Fortschritt zum Träger der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung insgesamt geworden ist, steht die innere und äußere Stabilität des gesellschaftlichen Ordnungsgefüges in abhängiger Verbindung zu ihr. Von daher zählen wir Gestaltung und Steuerung der Technik zu den obligatorischen Staatsaufgaben (Saladin: 1984; Bull: 21977).
II. Staat und Technik 1. Zum Begriff der Technik Wenn dieses Lehrbuch die Fragestellung nach dem Einfluß, den Wirkungen und Folgen von technologischen Hervorbringungen in ihrer Bedeutung für Funktion und Struktur parlamentarischer Institutionen aufnimmt (Thaysen/Davidson/Livingston: 1988, S. 17, S. 555), so in der Auffassung, daß die Technik mit der Entwicklung der modernen Industriegesellschaft zur ausschlaggebenden, primären Gestaltungskraft geworden ist.
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a) Gesellschaftsformierende Kraft der Technik Die Sichtweise, daß technische Hervorbringungen gesellschaftsprägend wirken, ist keineswegs neu. So schrieb 1620 der bereits erwähnte englische Philosoph Francis Bacon (1561-1626) über die Erfindung von Buchdruck, Kompaß und Schießpulver: „Diese drei haben den ganzen Zustand der Dinge in der Welt durchaus umgewandelt. Sie haben den Wissenschaften, der Kriegskunst und der Schiffahrt eine neue Gestalt verliehen und hieraus ist eine solche Umänderung in anderen Dingen erfolgt, daß keine Staatsumwälzung, keine Religion, keine Constellation einen durchgreifenderen Einfluß in die menschlichen Angelegenheiten hätte haben können, als diese drei mechanischen Erfindungen." (:1830/1971, S. 96). Bei Bacon findet sich im übrigen bereits der Gedanke, daß der technische Fortschritt durch technische Erfindungen forciert werden könne. Aber erst mit der Beschleunigung technischen Voranschreitens wurde durch die sich gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts abzeichnenden und in der „industriellen Revolution" zur Wirkung kommenden Verbindung von mechanischer Technik, systematischer Naturwissenschaft und industrieller Realisierung (Graf von Westphalen: 1984) die Einsicht von der gesellschaftsprägenden Kraft der Technik wie das auf ihrer Weiterentwicklung beruhende Geschichtsverständnis, nach welchem Geschichte als ein beständiger und dynamischer Akzelerationsprozeß zu begreifen ist, zum beständigen und erklärenden Bestandteil der allgemeinen (europäischen) Geschichtsschreibung (Spencer: 1896, S. 320ff.; Ellul: 1954, S. 85; Freyer: 1965, S. 295; Gehlen: 1961; S. 102ff.; Toynbee: 1934ff., X., S. 361ff.). Auch indiziert die übliche Periodisierung der Universalgeschichte in die „erste Revolution" - Seßhaftwerden des ackerbauenden Menschen im Neolithikum - und eben die zweite industrielle Revolution die kulturprägende Bedeutung technischer Hervorbringungen: „Der Übergang zur Industriekultur (...) hat eine Bedeutung, die sich nur mit der des Neolithikums vergleichen läßt. Das heißt: kein Sektor der Kultur und kein Nerv im Menschen wird von dieser Transformation unergriffen bleiben (...) (Gehlen: 1956, S. 294). Im II. Teil seiner religions-soziologischen Arbeit über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" (1904-05/1988) kommt Max Weber gegen Ende des Kapitels zu folgendem Schluß: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teil daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden - nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen - , mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmt wird bis der letzte Zentner fossiler Brennstoffe verglüht ist.". (S. 203f.). Und in einer Bemerkung von 1908 findet sich die Auffassung, daß der Produktionsapparat, so „wie er heute ist, und mit den Wirkungen, die er ausübt (...) das geistige Antlitz des Menschengeschlechts fast bis zur Unkenntlichkeit verändert hat und weiter verändern wird." (: 1904-05/1988, S. 60). Solche und verwandte Auffassungen, in welchen die moderne Technik als wirklichkeitsmächtige, geschichtsbildende, soziale Kraft figuriert, haben - nach Hiroshima und Auschwitz erheblich intensiver - an vielen Orten der geistigen Auseinandersetzung um den Charakter dieses Jahrhunderts ihren Niederschlag ge-
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funden. Verwiesen sei hier nur auf: M. Heiddegger, Th. Adorno, M. Horkheimer, A. Weber, H. Marcuse, R. Spaemann, K.M. Meyer-Abich, G. Anders, G. Picht und W. Schulz. Daß die technikphilosophischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts - „elektronische Revolution", „technetronische Gesellschaft", „systemtechnologisches" Zeitalter - eine möglicherweise noch folgenreichere Zäsur in der Menschheitsgeschichte als die vorangegangenen Revolutionen zur Folge haben, wird von einer Reihe von Sozialwissenschaftlern nicht ausgeschlossen oder bejaht. (Pollok: 1964; Boulding: 1964; Toffler: 31971, Postman: 1992). Derartige Überlegungen verbinden sich heute vielfach mit der Besorgnis, daß das technologische Vermögen der Menschen und seine unvorhersehbaren Folgen zur nuklearen oder ökologischen Selbstvernichtung der Menschheit führen können (Mesarovic/Pestel: 1974; Gehlen: 1957; Jonas: 3 1987).
b) Die Vernachlässigung der „Technik" in der deutschen humanistischen Bildungstradition. Die gesellschaftsformative Bedeutung von Technik steht in einem nicht unerheblichen Mißverhältnis zu ihrer analytisch-theoretischen Berücksichtigung auch im Rahmen der Wissenschaft, welche Grundfragen menschlicher Existenz in Staat und Gesellschaft zu ihrem besonderen Gegenstand erklärt hat: der Wissenschaft von der Politik. Auf zwei diesen Sachverhalt - er beschränkt sich keineswegs auf die Politikwissenschaft - erklärende Faktoren sei hingewiesen: Zunächst ist an die kulturphilosophische Tradition der deutschen Klassik und ihrer Idee der „Humanität" zu erinnern, in welcher - erheblich ausgeprägter als in anderen europäischen Ländern oder gar in Nordamerika (Hortleder: 1973) die geistige Auseinandersetzung mit realer Technik (Materie) deshalb als geringschätzig eingestuft worden ist, da Technik" in ihrem Begriff von Kultur nicht als eigenständiger, positiver Wert figuriert. Kunst, Literatur, Wissenschaft oder Bildung erscheinen diesem Verständnis nach als alleinige Faktoren der „Menschwerdung", als Voraussetzungen, den Menschen gemäß seiner Bestimmung zum Menschen als „höheres", geistiges Wesen zu formen. Die äußere, rein stoffliche und materiell-zweckhafte Welt der Sachen (Technik) gilt der Humanitätsidee nur als bloßes Mittel zur Entfaltung der inneren, geistigen Anlagen als eigentlichen Zweck des Menschseins. Man muß, so Theodor Litt 1958, die „Humanitätsidee in dieser extremen, dieser durch W. v. Humboldt gelehrten und gelebten Gestalt, ins Auge fassen, um die Größe der Abweichung zu ermessen", durch die die moderne Technik sich von der durch das „Humanitätsideal vorgezeichneten Richtung entfernt. Ist diese durch die ausschließliche Zuwendung zum ,Menschen' gekennzeichnet, so hat jene ihre mit gleicher Ausschließlichkeit kanonisierte Leitkraft an der ,Sache'". (:1955: S. 15). In der Folge hat die humanistische Zerlegung der Lebenswelt des Menschen in „Inneres" und „Äußeres", in den Bereich der literarischen, ästhetischen und historischen Bildung einerseits und den nützlichen, mechanisch-zweckhaften Bereich der Technik andererseits (Zbinden: 1970; Roth, H.: 1964; Tuchel: 1967) zu jener herablassenden Haltung beigetragen, mit welcher der eigentlich Gebildete
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in Deutschland auf Natur- und Technikwissenschaften blickt(e) (Gehlen: 1957; König, R.: 1960;Kogon: 1976; Schmelzer: 1968) Die Auffassung, daß diese bildungsphilosophischen und bildungssoziologischen Voraussetzungen die Struktur des deutschen Schul-, Hochschul- und Ausbildungswesens maßgeblich seit Beginn des 19. Jahrhunderts (Graf von Westphalen: 1979, 1985a; Schelsky: 1961a+b; Tuchel: 1967) gestaltet haben, sichtbar im Fächerkanon der technisch orientierten Fachhochschulen oder im Zuschnitt der Fakultäten nicht-technischer Universitäten, veranlaßt zu der Vermutung, daß in diesen Bedingungen eine Ursache für die Vernachlässigung der „Technik" in den Geisteswissenschaften im allgemeinen und der Politikwissenschaft im besonderen zu sehen ist. Der zweite, hier anzudeutende Faktor hängt mit dem eben Dargestellten eng zusammen und bezieht sich auf die erwähnte Anschauung von der Zweckneutralität der Technik als bloßes wertindifferentes sittlich-neutrales Mittelsystem. Diese überaus verbreitete Sichtweise erlaubt den Schluß, daß der Gebrauch von „Technik" ein Problem des entweder „guten" oder „schlechten" Gebrauchs einer Sache sei. Technik sei weder „gut" noch böse, sondern indifferent gegenüber ihrem Zweck und insofern Gegenstand menschlicher Entscheidungsfreiheit: Ein zum Guten ausfallender Handlungsentschluß müßte demnach eine „gute" Technik im Gefolge haben: „Das jedenfalls ist offenbar: Technik ist nur, an sich weder gut noch böse. Es kommt darauf an, was der Mensch daraus macht, zu was sie ihm dient, unter welcher Bedingung er sie stellt (...). In ihr selber liegt keine Idee (...)" (Jaspers: 1949, S. 161,149; auch Spranger: 1925; Sombart: 1935; S. 26). Dieses Lehrbuch nimmt dagegen die Position ein, daß alle technischen Hervorbringungen „je nach dem Zweck, deretwegen sie entwickelt wurden, auch sittlich positiv oder negativ ,gezeichnet' (sind): angebracht oder unangebracht, fragwürdig oder unbedenklich, anzuerkennen oder zu verwerfen. Gilt der Zweck als verderblich, so pervertiert es auch (...) die Bedeutung ,seines' Produkts" (Kogon: 1976, S. 51; Sachsse: 1972; Rapp: 1978; Ropohl: 1985; Lenk: 1982; Lenk/Ropohl: 1987). In der zweckneutralen, indifferenten Interpretation von Technik, durch welche das Problem der Verantwortlichkeit für, wie das Problem der Beherrschbarkeit von Technik folgerichtig zum Randthema werden, stecken auch - so die Vermutung (Berger, R.: 1991) - ein Teil der Gründe für die politikwissenschaftliche Vernachlässigung von „Technik" sowohl in der politischen Philosophie und Theorie, der System- und Institutionenlehre wie auch - in abgeschwächter Form - in der Policyforschung: „Technik" haftet in diesen Traditionen der Charakter politik-neutraler, geistloser und kulturunbedeutsamer Versachlichung an. In keiner der vorliegenden Einführungen in das parlamentarische Regierungssystem (von Beyme: 61992; Ellwein/Hesse: 6 1987; Thaysen: 1976; Rudzio: 31991) findet die Frage nach Wirkung und Bedeutung technischer Hervorbringungen für Bildung, Aufbau, Arbeitsorganisation und -verfahren staatlicher Organe nach Innen, wie für ihre Beziehungen untereinander und ihre Aufgaben im Rahmen des Verfassungsgefüges eine deutliche Akzentuierung (Thaysen/Davidson/Livingston: 1988; S. 3,505).
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c) Technik als soziotechnisches Handlungssystem Vor diesem Hintergrund sei der Begriff von Technik, wie er in diesem Beitrag zugrunde gelegt wird, umrissen: Jede Technik kann als materialisierter, versachlichter Handlungszweck, als „Sache" aufgefaßt und als sozio-technisches Handlungssystem interpretiert und analysiert werden (Dürkheim: 1976; Linde: 1972). Technik in ihrer jeweils konkreten Fassung erscheint zunächst als Ergebnis gesellschaftlicher Konfigurationen: Jede gesellschaftlich-historische Formation erzeugt ihre „Sachen", ihre sozio-technischen Systeme. Diesem Verständnis inhärent ist die Sichtweise, daß jede Sache („Technik") in und aus ihrer historischen Erscheinung (Form) Auskunft gibt über den Zweck als Formursache ihrer Existenz. Ohne gesellschaftlich vermittelte, kontextuelle Zweckbestimmung verwirklicht sich „nichts", nimmt „nichts" materielle Sachgestalt an, wird (naturwissenschaftliches) Wissen nicht zur Sache - zur „Technik". Die Disponibilität der Zwecksetzung enthält die Disponibilität der Sachverhältnisse und damit die Absage an eine „Sachlogik" der Technik und zugleich auch an die Ideologie des „Sachzwanges", wie einleitend dargestellt. Eine Folgerung daraus ist: Der historisch-genetische Prozeß von Technik ist der diskursiven politisch-parlamentarischen und gesellschaftlichen Beeinflussung prinzipiell zugänglich. Technik wird als Menge historisch-gesellschaftlicher Sachen bestimmt, worunter alle Gegenstände subsumiert werden, die Produkte menschlicher zweck- und zielgerichteter Arbeit sind. Die begriffliche Fassung von „Technik" muß weitergehend berücksichtigen, daß diese Sachwelt nur als Ausdruck wie als Ergebnis ihres spezifischen, historisch-sozialen Entstehungszusammenhanges einerseits, wie ihres jeweiligen gesellschaftlichen Verwendungszusammenhanges andererseits angemessen beschrieben werden kann. Mit dieser Auffassung unterscheiden wir den Bereich der „Artefakte" von dem der naturgegebenen, vorfindlichen „Dinge". Es liegt in der Konsequenz dieser Differenzierung von Dingen gegenüber Sachen, letztere als vorübergehende, ständig im Umbau begriffene Vergegenständlichungen der menschlichen Geschichte zu begreifen und zu erkennen, daß diese Hervorbringungen den geschichtlichen Prozeß, aus dem sie entstanden sind, durch Form, Gestalt und Nutzung ihrerseits rückprägen. Gemachte Sachen („Artefakte") als Inbegriff aller absichtsvollen Arbeit des Menschen tragen, wie angedeutet, ihren Zweck in sich. Genauer: Sachen werden durch den von Menschen gewollten Zweck bestimmt: Er etabliert ihre Funktion und Form, ästhetische Gestalt wie technische Architektur, konstituiert und organisiert darüber Sozialbeziehungen; knapper formuliert: Sachen vergesellschaften (Linde: 1982; Hochgerner: 1986). Auf die gesamtgesellschaftsstrukturierende Funktion von Sachen als Produkte menschlicher Arbeit hat bekanntlich Karl Marx verschiedentlich hingewiesen. Er begriff sie als „Konsolidation unseres eigenen Produktes zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt und unsere Berechnungen zunichte macht" (19741. ,S. 203f.). Anschaulich verdichtet sich Marx' Auffassung vom determinierenden Charakter der Sachen in seinem Satz: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" (1974 II., S. 501f.). Dieser Satz sei zitiert, um kenntlich zu machen, daß die Bestimmung des Verhältnisses von technischem Wissen und Technik wesentlich davon abhängig ist, welche Bedeutung man den über die Sachen vermittelten, verhal-
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tensbeeinflussenden Sozialbezügen einräumt. Zur Vertiefung dieser Auffassung sei an die Definition von „Sachen" in der Soziologie E. Dürkheims erinnert, die in ihrem Kern wohl als eine „Soziologie der Sachverhältnisse" anzusprechen ist. Dürkheim stellt die Sachen auf die gleiche kategoriale Ebene wie die immateriellen Verhaltensregeln. Eine sittliche und rechtliche Norm unterscheidet sich für ihn daher nicht grundsätzlich von einem Werkzeug, einer Wohnstätte, von Kleidung oder Verkehrswegen, da er davon ausgeht, daß es sich in beiden Fällen um gesellschaftlich-historisch verfestigte Artikulationsformen handelt, die in der Form ihrer Gestaltung Handlungsmuster vorgeben, in welche das aktuelle Handlungspotential gegossen werden muß. Auch Dürkheim geht davon aus, daß es eine unserem Handeln vorauslaufende, von den Sachen ausgehende Handlungskanalisation gibt, die vom individuellen Willensentschluß weitgehend unabhängig, die Handlungsformen, wenn nicht bestimmend, so doch zumindest entscheidend steuert (Dürkheim: 1976). Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses vom Stellenwert der Sachen im sozialen Kontext sei die These formuliert, daß Sachen strukturierende Bestandteile von sinngeordneten Sozialsystemen sind. Von ihnen geht eine verhaltensleitende, sozialstrukturierende und gestaltende Kraft aus, welche - je nach Standpunkt - von der Handlungsdetermination einerseits bis zur mitwirkenden Beeinflussung andererseits gehen kann. In jedem Fall steht die Frage nach dem intendierten Zweck jedweder Versachlichung im Mittelpunkt analytischen Interesses. Wenn die soziale Wirksamkeit konkreter technischer Modi abhängig ist von den vorausgegangenen Prozessen ihrer Konstruktion - sie also weniger Manifestation technischer Funktionslogik sind - dann ist eine selbstverständliche Konsequenz, daß die Folgen soziotechnischer Systeme auch als Folgen der gesellschaftlichen Präformierung von Technik zu verstehen sind. Derartige Überlegungen sollten für die Behandlung der parlamentarischen Institutionen fruchtbar gemacht werden.
2. Politisches System und demokratische Techniksteuerung Der Staat - das politische System - steht „der Technik" in höchst unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Rollen gegenüber. Er handelt als Kunde wie als Auftraggeber von Technik; die Politik legt direkte und indirekte technikfördernde Programme auf und markiert deren Forschungsprofil nach Präferenzgesichtspunkten wie Grundlagen-, Vorsorge- oder wirtschaftsbezogener Technikforschung. Mit den Programmen wendet sich das politische System einem differenzierbaren und höchst unterschiedlich behandelbaren Adressatenkreis zu. Über die Definition von Vergabe und Vertragsbedingungen im Rahmen der Projektförderung werden die nichtstaatlichen Forschungseinrichtungen ebenso vom System beeinflußt, wie es über Zuschüsse für kleine oder mittlere Betriebe versucht, deren Forschungskapazität zu stärken. Gleichzeitig taucht das politische System in der Rolle des techniknachfragenden Verbrauchers auf, z.B. auf den Sektoren Verkehr und Energie und vor allem im Bereich der Wehrtechnik. Über das technische Recht, Patentrecht und das Lizenzwesen greift der Staat in den technischen Prozeß ein, ebenso wie durch Schaffung von Monopolen oder die Stützung von Technologietransfereinrichtungen.
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In allen Maßnahmen kann sich das politische System am Prinzip der Subsidiarität oder dem der Staatlichkeit orientieren, wobei vor allem durch den Wechsel des politischen Personals unterschiedliche Auffassungen in dieser Frage vorübergehend zum Grundsatz werden und damit andersartige Rollendifferenzierungen eröffnen. Das gesamte Steuerungspotential des politischen Systems wird wiederum begrenzt durch die Gesamtrechtsordnung des Sozialsystems. Versteht man die Grundrechte der Verfassung zuerst als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen (dazu § 11.; § 201. und II.), so korrespondiert damit ihre objektivrechtliche Bestimmung als negative Kompetenzbestimmung für den Gestaltungswillen des politischen Systems. Dieses ist in seinen Maßnahmen durch positive wie negative Kompetenzen von vornherein eingeschränkt. Damit wird gesagt, daß das politische System in seiner Rolle als technikförderndes System der Technik zugleich in der Rolle des grundrechtsschützenden, grundrechtsgewährleistenden und zur Konkretion von Grundrechten Verpflichteten gegenübersteht, was zu gänzlich gegenläufigen Handlungen führen kann, gleichwohl sie in demselben Grundrechtszusammenhang verankert sind. Demokratie-, Sozial- und Rechtsstaatsprinzipien sind ebenso wie die Aufrechterhaltung der bundesstaatlichen, föderalen Ordnung Leistungsanforderungen an das politische System, denen es immer auch und zugleich nachkommen muß, um seine funktionalen Spezifikationen, nämlich staatsrichtungsleitend zu entscheiden und diesen Entscheidungen kollektiv verbindliche Wirkung zu verschaffen, aufrechtzuerhalten. Diese wenigen Hinweise sollen deutlich machen, daß „die Technik" einem hoch differenzierten, verhaltensvariablen und in bestimmten Grenzen auch strukturvariablen Gesellschaftssystem mit ausgeprägtem Rollenprogramm gegenübersteht, dessen Entscheidungsleistung als Folge der gleichzeitigen Berücksichtigung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Zwecke verschieden ausfallen kann und muß: Je größer die Fähigkeit des Staates ist, dem Entscheidungsdruck der Sachverhältnisse durch Aufbau innersystemischer Komplexität zu begegnen, desto größer ist seine Fähigkeit, die Entscheidungsanforderungen auch selektiv - und das meint: unterschiedlich - behandeln zu können. Wie das politische System entscheidet, ergibt sich dann erst im jeweiligen Entscheidungsprozeß; das Ergebnis ist also nicht grundsätzlich erwartbar. Angemerkt sei, daß Unbestimmtheit und Umbestimmbarkeit politischer Leistung in allen nichttechnokratischen Staatsformen die Beziehung von Politik und Technik zum prinzipiellen Spannungsverhältnis macht: Zielt Technik auf eindeutige, die weitere technische Entwicklung langfristig und zuverlässig determinierende Entscheidung, so orientiert sich Politik bereits an einem anderen Begriff der „Zeit": Ihr muß es vor allem darum gehen, möglichst viele Bedingungen des Entscheidungsverfahrens aufzunehmen, um die innersystemische Entscheidungskomplexität aufzubauen, über die sie der Umweltkomplexität und den an sie gestellten Entscheidungserfordernissen möglichst gerecht wird; nur so erhält das politische System auf Dauer seine Macht (Luhmann: 1984,1986,1989). Ungewißheit zu erzeugen, ist eine Möglichkeit für das politische System, Zeit zu gewinnen. Eine andere ist, dem Entscheidungsdruck entweder durch Subsystembildung zu b e g e g n e n - z . B . durch die Einsetzung einer Enquete-Kommission - oder die Umweltanforderungen thematisch so umzudeuten, daß ihre Behandlung zum Gegenstand anderer Systeme - vorzüglich zu solchen des Rechtssystem wird.
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Die Neigung des politischen Systems, technikpolitische Themen zu rechtlichen, insbesondere zu verwaltungsrechtlichen Gegenständen umzudeuten, ist ein Verhalten, für welches vor allem die letzten zwei Jahrzehnte der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe von Beispielen bereithält. Eben weil der Sozial- und Rechtsstaat, wie ihn die Bundesrepublik Deutschland repräsentiert, Technik nur als Sonderinteresse behandeln darf, steigen die Anforderungen an die Ausgestaltung der Eigenkomplexität des politischen Systems: Es muß vor allem über zeitliche, sachliche und soziale Autonomie verfügen, um die abverlangten Entscheidungen unter Wahrung verfassungsrechtlicher und politikprogrammatischer Präferenzen zu erbringen. Erhöht sich der Wert der Technik für das politische System dadurch, daß die Form ihrer Entwicklung, der Modus ihrer Förderung und die Art ihrer Wirkung zunehmend für mehr oder weniger alle vom politischen System bearbeiteten Politikfelder in unterschiedlicher Weise von Bedeutung werden - oder weitergehend: diese Staatsaufgaben zu Variablen des technischen Fortschritts werden -wie es vorstehend behauptet wurde - , dann droht dem politischen System der Verlust der Fähigkeit, nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben entscheiden zu können, steigert es nicht dramatisch seine Eigenkomplexität und damit seine Entscheidungsleistung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß für die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes die Identifizierung mit der Technik strukturell ausgeschlossen ist. An dieser Stelle wird die Tragweite der angedeuteten Überlegung offenkundig: Die Aufgaben, die dem politischen System aus der technischen Beherrschung immer größerer Wirkungskreise zuwachsen, können auf technik-induzierte Systembedingungen stoßen, welche zugleich die normative Leistungsgrenze des sozialen Rechtsstaats markieren: Die normativen Grundentscheidungen des repräsentativ verfaßten demokratischen Systems werden von den strukturellen Erfordernissen technischer Realisationen - den Sachverhältnissen - überformt und entleert (Roßnagel: 1983,1984a, 1992; ausführlich §§ 17 bis 20). In sehr ähnlicher Form stellt diese Besorgnis die Enquete-Kommission ,Neue Informations- und Kommunikationstechniken' ihrem Zwischenbericht voran: „Der vom Bundestag formulierte Auftrag der Enquete-Kommission geht von der zutreffenden Annahme aus, daß die Entwicklung und Anwendung von Technologien steuerbar ist". Und die Kommission folgert: „Diese Annahme widerspricht nicht dem Befund, daß der real verfügbare Handlungsspielraum in komplexen und arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaften in vielem immer enger wird, und daß es schwieriger wird, Alternativen für folgenreiches politisches Handeln zu erkennen und durchzusetzen. Es besteht jedoch kein Anhaltspunkt für die Annahme, die technologischen Entwicklungen entfalteten aus sich heraus Eigengesetzlichkeiten für ihre Anwendung und für die daraus resultierenden ökonomischen, politischen und sozialen Folgewirkungen" (BT-Drs. 9/2442, S. 8). Die vorstehenden Überlegungen sollen verdeutlichen, daß dieser Auffassung der Enquete-Kommission - wenngleich mit Modifikationen - gefolgt werden kann. Es bleibt allerdings als zentrales Problem, ob das politische System angesichts der ihm zugewachsenen Verantwortung für die technischen Prozesse, die selbst zur Bedingung der Erfüllung anderer Staatsaufgaben geworden sind, hinkünftig und auf Dauer autonom genug gestaltet ist, um eigene, vom Verständnis technischer Rationalität sich absetzende, politische Rationalitätskriterien entwickeln zu können. Denn nur dann wird das politische System seine größer gewordene Gestaltungskraft gesellschaftsordnend wahren und technikbestimmt umsetzen können,
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wenn es „gegenüber der Eigendynamik der technischen Entwicklung eine ihm eigene Autonomie entfalten kann" (Grawert; 1982, S. 457). Gelingt die Erhaltung systemeigener und vorrangiger Wertpräferenzen nicht, so läuft die weitere Entwicklung auf eine mehr oder weniger starke Synchronisierung des Verständnisses von technischer und politischer Rationalität hinaus, eben weil die Sachen und die an sie gebundenen Sachverhältnisse nicht nur zum Gegenstand der Politik geworden sind, sondern darüberhinaus begonnen haben, in Form der Forschungs- und Technologiepolitik zur bestimmenden Leitpolitik zu werden. Die These, wonach die Weichen „in Richtung autoritärer Technokratie gestellt" seien (Beck: 1988, S. 272), erhielte dann verstärkt aktuelle und analytische Bedeutung für die Behandlung des Zusammenhangs von Politik und Technik.
3. Grundrechtsschutz und technische Entwicklung Die Grundrechtsverbürgungen des Grundgesetzes weisen dem Staat eine originäre Verantwortung für die Gestaltung gesellschaftlich erheblicher Techniken, wie für deren Wirkungen, Folgen, Risiken und Gefahren zu. Aus der Interpretation der Grundrechte als Abwehrrechte ergibt sich dies zunächst nur bezüglich solcher technischer Gefahren, die vom Staat selbst zu verantworten sind, also nur für staatlich genutzte oder genehmigte Technologien. Mit der Deutung der Grundrechte als verfassungsrechtliche Richtlinien und Impulse für alle staatlichen Gewalten hat sich darüberhinausgehend eine positive Verpflichtung des Staates entwickelt, alle notwendigen Schritte zu einer möglichst umfassenden Sicherung und Weiterentwicklung der Grundrechte zu unternehmen (BVerfGE 36,321ff.). Damit obliegt dem Staat die zweifelsfreie Verpflichtung, alle Gefahren, die vom Techniksystem für die Würde des Menschen, ihr Leben, ihre Gesundheit und ihre Freiheitsrechte ausgehen können, durch geeignete Zulassungs- und Kontrollregelungen ebenso abzuwehren, wie die Gefahren für die 'Volksgesundheit, für die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie für die rechts- und sozialstaatlichen, demokratischen und förderalen Strukturen des politischen Lebens. Die Pflicht zur Gefahrenabwehr umfaßt dabei nicht nur alle zur Beseitigung akuter Gefahren notwendigen Schritte, sondern auch eine Risikovorsorge mit der bereits erkannte - oder erkennbare - Gefahren vermieden werden (Murswiek: 1988, S. 309ff.). Bezüglich dieser verfassungsrechtlichen Pflichten kann sich der Staat nicht darauf berufen, die Entwicklung und Nutzung der Technik durch Dritte, insbesondere die Wirtschaft oder andere Privater, sei nicht von ihm zu verantworten: Da die grundrechtlichen Grundlagen der Verfassung zugleich die Rechtsbasis jeder technischen Entwicklung sind, ist Dritten von vornherein nur ein eingeschränkter Verhaltensbereich zur Selbstgestaltung überlassen (Grawert: 1982, S. 457ff.) Die gleiche Einsicht vermittelt der Hinweis, daß die Kontroll- und Verantwortungsbefugnisse des Staates angesichts allgemeinerheblicher technischer Risiken weit über die Selbstkontrollverpflichtung Privater hinausgehen. Findet jene ihre Grenzen bereits in der privatrechtlichen Sachherrschaft und den positiven wie ne-
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gativen Berechtigungen und Verpflichtungen des - etwa erwerbswirtschaftlich Tätigen, so orientiert sich die staatliche Kontrolle am gemeinen Wohl. So selbstverständlich und unverzichtbar die privaten Wirkungskontrollen gegenüber der Erforschung, Nutzung und dem Vertrieb ihrer technischen Verfahren und Produkte auch sind oder sein sollten, so bleibt, daß hier letztlich immer privatnütziges Handeln vorliegt. Private Kontrollen, so P. Kirchhof, mögen „staatlicher Überwachung zuvorkommen. D e r für privates Erwerbsstreben zumindest teilweise wirksame Grundsatz, daß die Summe wettbewerbender individueller Anstrengungen auch den Ertrag für die Allgemeinheit am deutlichsten mehrt, gilt für die Überwachung der Technik nicht" (: 1988, S. 100). Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bestimmt und beschränkt Staatszweck wie Staatsaufgabe, begründet und begrenzt die Legitimität staatlichen Handelns in den Werten personaler Ethik. Unter juristischem Blickwinkel besagt diese Bestimmung von Staatsaufgaben vor allem: In den Bereichen, in denen der einzelne nicht (mehr) in der Lage ist r seine Würde vor Beeinträchtigung zu sichern, sind die Organe des Staates verpflichtet, schützend tätig zu werden. Da die Würde des Menschen als Inbegriff personaler Ethik nicht vorgegeben, sondern aufgegeben ist, leiten sich heute aus diesem Grundrecht nicht nur Rechtspflichten (Individualschutz), sondern auch positive Leistungsverpflichtungen für den Staat her (Bull: 2 1977, S. 155ff.; auch § 6 III.; § 71.). Diese (neuere) Interpretation der Grundrechte unterlegt dem Grundgesetz eine objektive Wertordnung und sieht in der Vorsorgepflicht des Staates einerseits und dem Leistungsanspruch des Bürgers andererseits ein rechtliches Grundverhältnis, wie es im Sozialstaatsprinzip seine nachdrücklichste Auffaltung erfährt (hierzu §11. und §6 I I I . ) . Nicht zuletzt sei daran erinnert, daß die richtungweisenden Techniken der Gegenwart - mehr noch die der Zukunft - auf zielgerichteten Grundlagenforschungen beruhen, die ihrerseits in einem erheblichem Umfang auf staatliche Initiierung und Förderung angewiesen sind. Im Ergebnis kann es nur heißen, daß das Subjekt der Verantwortung für die Gestaltung wie für die voraussehbaren und vermeidbaren Folgen von Wissenschaft und gesellschaftlich erheblichen Techniken der Staat ist und zwar auch in den Fällen, wo Risiken von Privaten veranlaßt werden (weiterführend § 17, § 18 und Schluß). Leitet sich aus diesen Zusammenhängen allgemein die staatliche Verantwortung für Gestalt, Form, Richtung und die Folgen technischen Voranschreitens ab, so erwächst eine im engeren Sinne parlamentarische Verantwortung aus der Tendenz dieser Techniken, in die Grundrechte hineinzuwirken und sie im Kern zu verändern. Grundrechtsausgestaltung, vor allem in Form restriktiver Grundrechtssteuerung ist aber nach Auffassung herrschender Lehre Aufgabe und somit Verantwortung der Legislative. Unter dem Eindruck der Gestaltungskraft technischer Entwicklungen hat der Gesetzgeber nicht nur deren Zulassung qua Recht zu steuern und in ihren Auswirkungen zu begrenzen oder zu kompensieren, sondern er hat weiter zu berücksichtigen, daß diese - etwa - das Rechtssystem selbst verändern, indem sie den Verfassungsnormen und -begriffen eine faktische, die Verfassungsprinzipien verändernde Bedeutung geben, ohne daß diese durch demokratischen Konsens und verfassungsgesetzgeberischen Willen legitimiert ist (Graf von Westphalen/Neubert: 1988a, S. 257ff). So wird z.B. niemand ausschließen können, daß die Sicherungsmaßnahmen, welche mit der Nutzung und dem Ausbau der Atomenergie zwangsläufig' einhergehen, ohne Bedeutung für die
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Interpretation der Freiheitsrechte des Grundgesetzes (Roßnagel: 1983, S. 84) sind. Oder niemand kann - um ein zweites Beispiel zu nennen - die Möglichkeit verneinen, daß die gentechnischen und reproduktionsmedizinischen Fortschritte den Konsens über den Begriff der Menschenwürde in seiner geschichtlichen Substanz verändern werden. Daß dies nicht Fragen selbstverständlicher Verfassungsentwicklung sind, sondern solche des gewollten und nichtgewollten und somit solchen des,guten' und .schlechten' Verfassungswandels, bedarf hier nicht der weiteren Ausführung.
III. Parlament und Technik Neben dem Gesichtspunkt legislativer Grundrechtssteuerung, der bezogen ist auf die Grenzen des rechtlich Gebotenen und Zulässigen, wird Verantwortung in parlamentarisch-normativen Leitentscheidungen (in Ansehung von Kriterien der Sozial-, Umwelt- und Verfassungsverträglichkeit) über technische Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten sowie deren politisch-diskursiver Begründung vor dem Souverän praktisch. Zu diesem Ergebnis führt auch die Auslegung der „Wescntlichkeitstheorie" und der sich aus ihr herleitenden „Parlamentsvorbehalte" im Technikrecht (BVerfGE 149,126; Löffler: 1985: i.e. § 18 II.). Unter den Bedingungen fortschreitender Industriegesellschaften ist das Parlament bei der Entscheidung über Techniken zwar nur ein Akteur unter anderen. Aufgrund der ihm aber nicht nur normativ zugeschriebenen, sondern auch faktisch zustehenden Kompetenzen kommt ihm als Institution und Träger zurechenbarer Verantwortung für die Folgen von Techniken eine besondere und spezifische Bedeutung zu. Im verfassungsrechtlichen Ordnungsgefüge der Bundesrepublik obliegt dem Parlament neben der Wahl des Bundeskanzlers gem. Art. 63 G G vor allem die Aufgabe der laufenden parlamentarischen Kontrolle der Regierungstätigkeit (s.a. § 11 IV.). Für diese Aufgabe stehen zwar umfangreiche Instrumente zur Verfügung, deren tatsächliche Nutzung und damit faktische Wirksamkeit hängen aber nicht zuletzt von den politischen Machtkonstellationen und dem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung ab. Damit verlagert sich die inhaltliche Kontrolle vor allem auf die von der Bundesregierung gem. Art. 76 Abs. 1 G G eingebrachten Gesetzes vorlagen. Angesichts der Vielzahl der Vorlagen, vor allem aber des in ihnen verkörperten Sachverstands der Ministerialbürokratie kann von einer verfassungsrechtlich gebotenen Kontrolle im Grunde nur sehr eingeschränkt gesprochen werden (näheres § 11 II.-IV.). Gegen diesen Befund steht die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, wonach sich aus den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes „dynamische" Schutzpflichten ergeben, die es gebieten, rechtliche Regelungen so auszugestalten, daß auch die Gefahr von Grundrechtsverletzungen eingedämmt bleibt. Ob, wann und mit welchem Inhalt sich eine solche Ausgestaltung von Verfassungs wegen gebietet, hängt von der Weise, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgutes sowie schon von den vorhandenen Regelungen ab (...). Bei der „Art und Schwere dieser Folgen (gem.: Aus der Nutzung der Kernenergie, d.Verf.) muß bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts genü-
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gen, um die Schutzpflicht auch des Gesetzgebers konkret auszulösen" (BVerfGE 49; 89,137; dazu auch §20). Sieht man diese Auffassung im Zusammenhang mit der - oben erwähnten - maßgeblich vom Gericht entwickelten ,Wesentlichkeitslehre', welche in ihrem Kern besagt, daß die Verfassungsprinzipien den Gesetzgeber verpflichten, „losgelöst, vom Merkmal des Eingriffs, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlichen Regelungen zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen", darf man zu dem Urteil kommen, daß der Legislativen verfassungsrechtlich geboten ist, laufend zu prüfen, in welchen Bereichen staatliches Handeln einer Rechtsgrundlage im förmlichen Gesetz bedarf, da sich eine Bejahung oder Verneinung dieser Frage nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und die Intensität der geplanten oder getroffenen Regelung ermitteln läßt. Bereits der Hinweis des BVerfG auf die vom Einzelfall abhängige Anwendbarkeit der Wesentlichkeitstheorie weist darauf hin, daß die mit ihrer Hilfe angestrebte Abgrenzung der Aufgaben und Kompetenzen angesichts der Verwendung des rechtlich und philosophisch unbestimmten Begriffs „wesentlich" durchaus noch problematisch ist, doch lassen sich unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Grundlagen (Rechtsstaats- und Demokratieprinzip) sowie der Entstehung der Theorie (Erweiterung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes über Eingriffe in Freiheit und Eigentum hinaus) mit ihrer Hilfe jedenfalls solche Entscheidungen eindeutig der Legislative zuweisen, bei denen die beabsichtigte Regelung grundsätzliche Bedeutung für die gesamte Gesellschaft hat und auch Auswirkungen auf die Grundrechte haben kann. Wie die staatsrechtliche Diskussion und die Urteile des Bundesverfassungsgerichts erweisen, kann sich das Parlament im Ergebnis in „wesentlichen" Fragen der Technikentwicklung weder unter Hinweis auf Planungskompetenzen der Exekutive, die Entscheidungsfreiheit der Wirtschaft noch die Rechtsetzung der Gerichte von seiner Pflicht zur Verantwortung - auch für die Entscheidungen anderer! - freimachen (ausführlich weiterführend §§ 17 bis 2Q). Die Bedingung der Möglichkeit, Verantwortung zu tragen, ist geknüpft an die Wahrnehmung der dem Parlament nach unserem Verfassungsrecht und Demokratieverständnis zustehenden Handlungsmöglichkeiten, in denen das Praktisch-Werden von Verantwortung angelegt ist. Mit dieser Begründung bildet „Verantwortung" als Verfassungsgrundsatz parlamentarischer Regierungsform (i.e. § 1) den normativen Bezug der Staatsanschauung dieses Lehrbuches (Scheuner: 1970; Saladin: 1984). Satzung, Gestaltung und Nutzung rechtlicher Regeln sind das vorzügliche Medium des Parlaments in der Realisierung des Schutzes vor Risiken, der Freiheitseinschränkungen zur Risikoabwehr und der Verpflichtung einzelner zur Gefahrenertragung in Verfolgung des Prinzips des Gemeinwohls. Die grundrechtliche Risikosteuerung ist zu verstehen als Ausdruck und Folge parlamentarisch-normativer Leitentscheidungen und konkretisiert sich - unter Berücksichtigung des staatlichen Kompetenzgefüges - auf den verschiedenen Stufen gesetzlicher (und anderer) Steuerung. Dabei ist stets die Frage zu prüfen, ob und wann sich staatliche Verantwortung zur Gestaltung der technischen Entwicklung zu parlamentarischer Verantwortung verdichtet. Dies gilt zum einen, in Ansehung der Exekutive und zum anderen in Würdigung der Belange der Betroffenen („Betroffenenvorbehalt") - nicht nur jetziger sondern auch zukünftiger Generationen (insgesamt Grawert: 1982).
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Gerade die Erkenntnis des Umstandes, daß über soziotechnische Systeme und ihre Nutzen wie Risiken nicht so gehandelt werden kann, als wären sie neutrale, objektiv beschreibbare Artefakte bzw. Daten und Meßwerte - wie vorstehend dargestellt - , beinhaltet die Chance der diskursiven Aufhellung der Interessen- und Wertgebundenheit technischer Gegebenheiten. Angesichts der faktischen Politisierung von Wissenschaft und Technik ist es - aufgrund eines zu vermutenden „Wertungsvorsprungs" der Legislative - deren Aufgabe, ein Bewußtsein dafür zu schaffen, daß sich mit Entscheidungen über technische Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten auch immer Entscheidungen über gesellschaftliche Zielvorstellungen und Grundwerte, über die Rechte und Würde von Individuen und Gruppen, über Lebensstile, die humane Gestaltung der Arbeit und die Art und Weise des Umfangs mit der Natur verbinden. Insofern bildet die Frage nach einer heute notwendigen Parlamentarisierung des technologisch-induzierten Fortschrittsprozesses von Staat und Gesellschaft ein weiteres, zentrales Element des normativen Horizont der vorgetragenen Überlegungen (auch §12).
5. Kapitel: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung § 17 Parlament und technische Entwicklung Alexander Roßnagel I. Wirkungen der Technik II. Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Einflußnahme
431 . . . .
433
§ 18 Rechtsetzung und technische Entwicklung Alexander Roßnagel I. Staatliche Verantwortung für technische Risiken
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II. Parlamentsvorbehalt im Technikrecht
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III. Unbestimmte Rechtsbegriffe und die Regeln der Technik 1. Atomrecht 2. Immissionsschutzrecht 3. Gentechnikrecht
442 442 444 445
IV. Selbststeuerung der Technik
447
V. Technisches Risiko und Sicherheit
447
§ 19 Technische Beratung und Normung Alexander Roßnagel I. Zur Geschichte technischer Politikberatung und Normung
451
II. Technische Beratungsgremien
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III. Öffentlichrechtliche Normungsausschüsse
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IV. Private Normungsverbände . . . . • 1. Nationale Normungsverbände 2. Internationale Normungsverbände
454 455 456
V. Rechtliche Geltung der Regeln der Technik
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VI. Politische und verfassungsrechtliche Bewertung
458
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5. Kap. : Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung
§ 20 Technik und parlamentarische Souveränität Alexander Roßnagel I. Wirkung der Technik im Grundrechtsbereich
461
II. Legislative Verantwortung für die Sicherung der Grundrechte
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III. Parlamentarische Regulierung technischer Dynamik 1. Institutionen 2. Verfahren 3. Inhalte
465 465 466 467
5. Kap.: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung
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§ 17 Parlament und technische Entwicklung Alexander Roßnagel I. Wirkungen der Technik. - II. Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Einflußnahme. Grundlagenliteratur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt/M. Enquete-Kommission „Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen" des Deutschen Bundestages (1986): Einschätzung und Bewertung von Technikfolgen. Gestaltung von Rahmenbedingungen der technischen Entwicklung. Bonn, BT-Drs. 10/5884. Forsthoff, Ernst (1971): Der Staat der Industriegesellschaft. München. Grimmer, Klaus / Häusler, Jürgen / Kuhlmann, Stefan / Simonis, Georg (1992): Politische Techniksteuerung, Opladen. Meyer-Abich, Klaus Michael (1988): Wissenschaft für die Zukunft. München. Roßnagel, Alexander / Wedde, Peter / Hammer, Volker / Pordesch, Ulrich (1990): Digitalisierung der Grundrechte? Opladen. Roßnagel, Alexander (1993): Rechtswissenschaftliche Technikfolgenforschung. Baden-Baden. Weingart, Peter (Hg.) (1989): Technik als sozialer Prozeß. Frankfurt/M. siehe auch Hilfsmittel Teil B, V., 1. und 3.
I. Wirkungen der Technik Seit dem zweiten Weltkrieg beeinflußt das Auto die Entwicklung der Städte stärker als alle Raumpolitik. Die Entdeckung der Kernspaltung und die Entwicklung der Atomwaffe determinieren die Außenpolitik nachhaltiger als alle Bemühungen der Diplomatie. Die Folgewirkungen der Mikroelektronik laufen jeder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik den Rang ab. Das Fernsehen dürfte die heutige Studentengeneration intensiver geprägt haben als alle bildungspolitischen Großtaten (zu diesen Beispielen Meyer-Abich: 1984b, S. 222f.). Die stärksten Kräfte zur Gesellschaftsveränderung gehen derzeit von Wissenschaft und Technik aus (dazu § 16 II. und III.). Beide sind dynamisch und auf permanente Fortentwicklung angelegt. In der „technischen Realisation" (Forsthoff: 1971, S. 30ff.) führen sie dadurch in immer kürzeren Abständen zu immer revolutionierenderen Umgestaltungen der sozialen und natürlichen Umwelt. Sie verändern nachhaltig die Bedingungen individueller Entfaltung, die Chancen und Zwänge wirtschaftlichen Handelns, die Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie die Strukturen und die Verteilung sozialer und existenzieller Risiken. Die Kontrolle technischen Handelns ist zum „Angelpunkt jeglicher Machtkontrolle in modernen Gesellschaften" geworden (Popitz: 1986, S. 129). In der Vergangenheit haben Parlamente die Entwicklung der Technik und ihre Folgen kaum gezielt zu beeinflußen versucht. Sie haben durch Mittelfreigabe für
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Forschung und Entwicklung - vor allem im Bereich der Militärtechnik und für den Aufbau großer Infrastrukturen der Daseinsvorsorge - zu deren Entwicklung beigetragen. Ansonsten haben sie sich darauf beschränkt, durch Regelungen möglicher Konflikte um Technik (z.B. Patentrecht) die Dynamik privatwirtschaftlicher Technikentwicklung und - nutzung freizusetzen. Lediglich soweit die Erfahrung mit Unfällen oder Emissionen Maßnahmen zum Schutz Dritter vor unmittelbaren Schäden notwendig erscheinen ließ, waren sie Anlaß einschränkender parlamentarischer Rechtssetzung. Die ökologischen oder sozialen Folgen technischer Entwicklung waren dagegen kaum Gegenstand parlamentarischer Beratungen und Entscheidungen. Diese Haltung entspringt einer Gleichsetzung von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt (vertiefend § 16 I.). Wer davon ausgeht, daß die technische Entwicklung unterm Strich zu mehr Freiheit, Wohlstand und Sicherheit führt, sieht keinen Grund, deren Dynamik zu bremsen. Sich darauf zu beschränken, technische Risiken nachträglich zu begrenzen, war insoweit vertretbar, als die möglichen Schäden begrenzt und reversibel oder zumindest kompensierbar waren, es also möglich war, aus Fehlern zu lernen und diese zu korrigieren. Spätestens seit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki ist jedoch klar, daß technischer Fortschritt auch ungeheure Zerstörung bedeuten kann. Moderne Techniksysteme vermögen Wirkungen hervorzurufen, die zeitlich und räumlich von den Menschen nicht mehr beherrscht werden können. Ihre langfristigen Folgen sind in der Lage, die kulturelle Identität und das Selbstverständis einer Gesellschaft zu verändern sowie die Grundlagen allen Lebens zu gefährden. Zugleich sind aber Gesellschaft und Staat auf Technik und ihre Entwicklung angewiesen. Gesellschaftliches Zusammenleben, wirtschaftlicher Wohlstand und Verbesserung der Lebensverhältnisse setzen eine hochentwickelte Technik voraus. Wissenschaft und Technik sind zu einem entscheidenden Faktor wirtschaftlicher Entwicklung und internationaler Konkurrenz geworden. Der Staat kann viele Aufgaben wie die Daseinsvorsorge für seine Bürger, die Gewährleistung ausreichender Sicherheit oder den Schutz der natürlichen Mitwelt ohne sie nicht erfüllen. Moderne Gesellschaften können auf Technik nicht verzichten und setzen sich durch ihre Nutzung doch größten Risiken aus. In ihnen ist die Entwicklung der Technik zugleich zu fördern und zu begrenzen. Die Gleichsetzung von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt ist nicht mehr möglich. Staat und Gesellschaft müssen daher Technik bewerten und gestalten. Diese Gestaltungsaufgabe trifft vor allem das Parlament. Es muß als zentrales Organ staatlicher Willensbildung auf die Veränderung von Natur und Gesellschaft durch die Technikentwicklung im Rahmen seiner Möglichkeiten Einfluß nehmen. Soweit die Verwirklichungsbedingungen von Grundrechten betroffen sind, ist es eine vorrangige Aufgabe des Parlaments, durch Technikgestaltung Gefährdungen zu vermeiden und Verbesserungen zu bewirken. Sich darauf zu beschränken, entstandene Risiken nachträglich zu begrenzen, genügt hierfür weder faktisch noch verfassungsrechtlich. Wenn es seine Leben und Freiheit bewahrende, schützende und fördernde Aufgabe ernst nimmt, muß es prognostisch die Auswirkungen der technischen Veränderungen zu seinem Thema machen und diese nach eigenen Kriterien zu beeinflussen suchen.
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II. Möglichkeiten und Grenzen parlamentarischer Einflußnahme Prinzipiell stehen dem Parlament mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, auf die Entwicklung der Technik Einfluß zu nehmen: In erster Linie vermag das Parlament die technische Entwicklung durch seine gesetzgeberische Tätigkeit auf dem Gebiet des Technikrechts zu beeinflussen. Es kann Technik ohne jede staatliche Prüfung zulassen, oder es kann ihre Herstellung und Nutzung von staatlichen Kontrollverfahren abhängig machen und Anmeldungen, Genehmigungen, Bewilligungen, Erlaubnisse und ähnliches vorschreiben. Diese Einflußmöglichkeit wird in § 18 näher behandelt. Wie wir noch sehen werden, ist die technische Normung und die technisch-wissenschaftliche Beratung staatlicher Entscheidungsträger für die weitere technische Entwicklung von hervorragender Bedeutung. Das Parlament kann daher auf einer zweiten Ebene diese Entwicklung beeinflussen, indem es rechtliche Regeln für beide Bereiche erläßt, die beispielsweise die Errichtung, Aufgabe, Zusammensetzung und Verfahrensweise der jeweiligen Gremien näher bestimmen. Die technische Normung und die technisch-wissenschaftliche Beratung werden in § 19 erörtert. Um seiner Verpflichtung zur Daseinsvorsorge und zur Bereitstellung großer und verzweigter Infrastrukturen nachkommen zu können, muß der Staat selbst Technik betreiben, initiieren und entwickeln. Etwa in den Bereichen des Verkehrs, der Kommunikation, des Kriegswesens und der Raumfahrt entscheidet der Staat weitgehend selbst über die Fortentwicklung der Technik. In diesen Bereichen könnte das Parlament über die Bewilligung und die Kontrolle öffentlicher Haushalte auch die technische Entwicklung mit beeinflussen. Viele Techniken würden ohne staatliche Unterstützung und Subventionierung nie entwickelt. Marktkräfte allein würden solche Technik nicht hervorbringen. Privaten Investoren erscheinen die Risiken des Fehlschlags - im wirtschaftlichen und technischen Sinne - untragbar, die notwendigen Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen viel zu hoch. Dies gilt für viele Bereiche der Grundlagenforschung - wie etwa die Informations- und Kommunikationstechnik - sowie für großtechnische Projekte - wie etwa die Kernenergie. Schließlich können manche Techniken auf dem Markt nur bestehen, wenn der Staat entsprechende Markteinführungshilfen - wie etwa Steuererleichterungen oder Kaufsubventionen - gewährt. Indem das Parlament die Gelder zur Förderung oder Subventionierung der Technikentwicklung bewilligt, könnte es auf Tempo und Modalitäten der Entwicklung Einfluß nehmen. Viele umweltbelastende oder sozial unverträgliche Techniken werden hergestellt, vertrieben und genutzt, weil sie sich betriebswirtschaftlich rechnen. Dies ist jedoch oft nur deshalb der Fall, weil sich die Kosten für negative Folgen, nicht im Preis ausdrücken, sondern - im Widerspruch zum Verursacherprinzip - von der Allgemeinheit getragen werden. So schlagen sich zwar die Kosten des Straßenbaus in Form der Mineralölsteuer auf den Preis von Kraftstoffen nieder, nicht aber die Kosten für die vielfältigen Schäden, die der Straßenverkehr durch Flächenverbrauch, Lärm und Luftbelastung verursacht. Ebenso wie das Parlament gewünschte Technikentwicklungen fördern kann, vermag es auch unerwünschte Produkte, Produktionsverfahren und Nutzungsformen durch Verteuerung zu behindern. Durch Steuern, Abgaben und Beiträge könnte es dazu beitragen, bisher externalisierte Kosten verursachergerecht zuzuordnen.
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Besondere Impulse zur Technikentwicklung können auch von staatlichen Großforschungseinrichtungen oder technischen Sonderbehörden wie dem Bundesumweltamt, dem Bundesgesundheitsamt und dem Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik ausgehen. Solche Institutionen erzeugen außerhalb wirtschaftlicher Zwänge Wissen über Technik und ihre Folgen, das über die öffentliche Kommunikation auf die Technikentwicklung zurückwirken kann. Indem das Parlament die Errichtung solcher Institutionen fordert oder ermöglicht, vermag es Akzente dafür zu setzen, was hinsichtlich der technischen Entwicklung als wissenswert gilt. Die technische Entwicklung - auch soweit sie von Privaten ohne unmittelbare staatliche Unterstützung vorangetrieben wird - bedarf rechtlicher und institutioneller Rahmenbedingungen. Indem das Parlament Regelungen und Institutionen zum Schutz technischer Erfindungen, zur Möglichkeit ihrer Verwertung oder ihrer nationalen und internationalen Verbreitung schafft, nimmt es indirekt Einfluß nicht nur auf die Diffusion von Technik, sondern auch auf deren Entwicklung. Allerdings sind jeder parlamentarischen Einflußnahme von vornherein Grenzen gesetzt. Diese rühren vor allem von dem spezifischen Gegenstand her, sind in rechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen oder in den internen Strukturen des Parlaments begründet. Manche sprechen daher dem Parlament eine Kompetenz zur Gestaltung der Technik ganz oder weitgehend ab (z.B. Wolf: 1987). Einige der wichtigsten Grenzen seien kurz angedeutet: Zum einen benötigt regulatorische Technikpolitik viel Wissen über künftige Technikfolgen. Dieses zu erwerben, stößt aber bereits aus sachlichen Gründen auf Schwierigkeiten, insbesondere • weil die Inventions- und Innovationszyklen der Technik immer kürzer und zugleich die Folgen immer komplexer werden. Das Tempo der Veränderungen ist oft zu schnell, um die vielfältigen tatsächlichen Auswirkungen kognitiv zu erfassen und erst recht um die künftig möglichen Folgen zu erkennen. Die zunehmende Dynamik der technischen Entwicklung macht die Abschätzung künftiger Folgen immer dringender, aber zugleich auch immer schwieriger; • weil wegen der Multifunktionalität vieler Techniksysteme die künftigen Anwendungszwecke und -bedingungen nur sehr schwer abzuschätzen sind. Wie aber soll eine Technik gesteuert und normiert werden, die vielfältig verwendbar ist, deren Verwendungszwecke von vornherein nicht feststehen, sondern oft erst in der ganz konkreten Anwendung - am einzelnen Arbeitsplatz - festgelegt werden? • weil die sozio-technischen Wechselwirkungen von Technikfolgen sehr komplex sind. Die Durchsetzung der sozialen und technischen Voraussetzungen vieler Techniksysteme wird ein sehr langwieriger und komplexer Prozeß sein. Niemand kann heute die vielfältigen Wechselwirkungen künftiger Technikanwendungen und heutiger Steuerungseingriffe sicher vorhersagen; • weil die Technikfolgen oft erst sehr spät eintreten und daher wenig präzise prognostizierbar sind. Die Beschränktheit des Wissens um künftige Technikrisiken und um nützliche Anwendungen begrenzt nicht nur die Reichweite bewußter Techniksteuerung, sondern kann sie sogar ausschließen; • weil die Bewertungsgrundlagen vieler Technikfolgen sich im Laufe der Zeit ändern und dadurch zu bestimmten Zeiten und unter bestimmten Bedingungen
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Entwicklungen als problematisch wahrgenommen werden und zu anderen Zeiten oder unter anderen Bedingungen nicht; • weil trotz der permanten Vervielfachung des menschlichen Wissens der Horizont des bewußten Nichtwissens, der noch ungelösten Probleme noch rascher wächst (Lyotard: 1986, S. 157ff.). Damit steigt sowohl die Unsicherheit über die möglichen Folgen von Steuerungseingriffen als auch die Dringlichkeit, die Suche nach Problemlösungen - auch durch Technikentwicklung - zuzulassen. Doch nicht nur sachliche Gründe des Regelungsgegenstandes, sondern auch die internen Strukturen des Parlaments erschweren ihm, seine verfassungsrechtlichen Pflichten zu erfüllen. „Nach einhelliger Meinung aller Fraktionen" - so stellt die Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung" fest - „verfügt der Deutsche Bundestag nicht über ausreichende Möglichkeiten, sich die ... erforderlichen Informationen über die Chancen und Risiken wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen zu beschaffen" (Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung", BT-Drs 11/4606, S. 6 ; näheres § 11 V.; § 12 und §16 III.). • Das von der Sache geforderte Denken in vernetzten Folgewirkungen und zukunftsgerichteten Alternativen wirkt für den parlamentarischen Prozeß komplexitätssteigernd. Die Informationsaufnahme- und -Verarbeitungsstruktur des Parlaments entspricht jedoch nicht den Notwendigkeiten systematischer, kontinuierlicher Beobachtung komplexer, langfristiger und dynamischer Sachverhalte. Die Eigenkomplexität des Parlaments insgesamt wie des einzelnen Abgeordnetenbüros ist zu gering, um die anfallenden Informationen adäquat aufnehmen und verarbeiten zu können. Viele Abgeordnete pflegen einen eher kreativ-chaotischen Arbeitsstil. Ihre Informationsgewinnung ist mehr oder weniger zufällig. Sie leiden an einer Flut irrelevanter Informationen und einem Defizit relevanter, für die konkrete Parlamentsarbeit aufbereiteter Informationen (hierzu näher Mambrey/VorwekAVurch: 1991, S. 57ff.; Bull: 1989b, S. 43; Lutterbeck: 1977, S. 78ff.). • Außerdem befindet sich der Gesetzgeber in einer chronischen Zeitnot. Der Bundestag behandelt unter den Bedingungen der „Knappheit der Zeit und der Vordringlichkeit des Befristeten" nur Probleme mit hohem unmittelbarem Entscheidungsdruck. Für eine systematische, langfristige, kontinuierliche Zukunftsgestaltung bleibt unter diesen Bedingungen wenig Raum. • Schließlich wirkt immer noch nach, daß das Parlament in einer bildungsbürgerlichen Auffassung von Technik deren Gestaltung nicht als zentrale politische Aufgabe, sondern allenfalls als politische Marginalie verstand. Es fehlte das Verständnis für Technik als sozio-technisches System (hierzu näher § 16 II.). Zwar haben viele Abgeordnete inzwischen die gesellschaftliche Bedeutung technischer Entwicklungen erkannt. Ihnen und dem Parlament insgesamt fehlen aber noch immer die zu einer parlamentarischen Technikgestaltung notwendigen Strukturen und Instrumente. Zudem bedarf regulatorische Technikpolitik einer ausreichenden Steuerungsmacht. Doch selbst wenn das Parlament über das Wissen um künftige Technikfolgen verfügen würde, fehlen ihm oft die Ansatzpunkte, um die technische Entwicklung zu beeinflussen, weil • das Parlament faktisch kein ,souveräner' Gesetzgeber, sondern bestenfalls ein Organ der Kontrolle im Gesetzgebungsprozeß ist (Schulze-Fielitz: 1986, S. 76ff.; ausführlich § 11 II.). Dieser wird nämlich durch eine Vielfalt von Instan-
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zen geprägt. Die Gesetzesinitiative ist nahezu ausschließlich auf die Ministerialbürokratie übergegangen. Sie erörtert ihre Entwürfe in der Entstehungsphase mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und den „beteiligten Fachkreisen und Verbänden". Das Parlament legt nur formell den Gesetzestext abschließend und legitimierend fest. Dabei ist es wesentlich von außerparlamentarischen Vor- und Maßgaben abhängig. Es kann nur - mehr oder weniger intensiv - diese Vorgaben partiell kontrollieren und punktuell verändern; • die technische Entwicklung heute vor allem durch private Gewinninteressen, bürokratisches Machtbewußtsein und wissenschaftlichen Forscherdrang gesteuert wird, die in unserer Verfassungsordnung und unserem politischen System parlamentarischer Einflußnahme weitgehend entzogen sind; • über technische Entwicklungen in vielfältigen fragmentierten Entscheidungen unterschiedlicher Entscheidungsträger entschieden wird. Deren Entscheidungsverhalten - etwa Kaufentscheidungen am Markt - kann das Parlament durch die oben genannten Möglichkeiten allenfalls indirekt beeinflussen; • viele Techniksysteme auf nationaler Ebene kaum noch wirksam beeinflußt werden können. Z u m einen kann der Weltmarkt relativ harte Rahmenbedingungen für die Gestaltung der Technik setzen. Zum anderen kann die Regelungskompetenz auf die Ebene der Europäischen Gemeinschaften verlagert werden. Zum dritten setzt die transnationale Geltungskraft vieler technischer Normen der politischen Intervention durch nationale Instanzen Grenzen. Schließlich werden viele Entscheidungen zur Technikentwicklung in anderen Ländern oder gar in anderen Kontinenten getroffen, wirken sich aber weltweit aus. Zwar besitzt das Parlament vielfältige Möglichkeiten, die technische Entwicklung zu beeinflussen. Doch sind die Reichweiten dieser Möglichkeiten begrenzt. Diese Grenzen zwingen dazu, die Erfolgschancen parlamentarischer Technikgestaltung nüchtern einzuschätzen. Unzutreffend sind dagegen Einschätzungen, die jeweils einen Aspekt überbetonen. Werden nur die theoretischen Möglichkeiten, Einfluß auf die technische Entwicklung zu nehmen, in den Vordergrund gerückt, wird das Parlament mit Erwartungen konfrontiert, die es nicht erfüllen kann (z.B. die gut gemeinten Vorschläge in Einemann/Kollatz: 1988, S. 27ff., 30ff.; Bechmann: 1984: S. 217ff.). Die Parlamentspraxis muß dann aus methodischen Gründen immer als defizitär erscheinen. Ebenso übertrieben ist es, nur die Grenzen zu betonen und dem Parlament jegliche Möglichkeit, nennenswerten Einfluß auf die technische Entwicklung auszuüben, zu bestreiten. 1 Die Frage, ob das Parlament seiner Verantwortung gerecht wird, wird durch diese Betrachtungsweise obsolet. Zugleich geht dadurch jedes Kriterium, die parlamentarische Praxis zu bewerten, verloren. Um beide Fehlschlüsse zu vermeiden, ist daher präzise zu bestimmen, welchen Beitrag die dargestellten Einflußmöglichkeiten jeweils zur Erfüllung parlamentarischer Verantwortung zu leisten vermögen. Da das Parlament für sein Aufgabenverständnis und seine Erkenntnis- und Handlungsinstrumente selbst verantwortlich ist, muß es immer wieder mit der Frage konfrontiert werden, ob es alle ihm verfügbaren Möglichkeiten ausschöpft, zumindest die gesellschaftlich relevantesten Technikentwicklungen und ihrer wichtigsten Folgen zu beeinflussen (Roßnagel: 1992, S. 55ff.) 1
S. zur These der begrenzten Steuerungskraft des Rechts Wolf: 1987, S. 357ff.; allgemein Voigt: 1983; Görlitz/Voigt: 1987. Kritisch zu dieser Kritik z.B. Schuppert: 1990, S. 217ff.
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§ 18 Rechtsetzung und technische Entwicklung Alexander Roßnagel I. Staatliche Verantwortung für technische Risiken. - II. Parlamentsvorbehalt im Technikrecht. - III. Unbestimmte Rechtsbegriffe und die Regeln der Technik. IV. Selbststeuerung der Technik. - V . Technisches Risiko und Sicherheit. Grundlagenliteratur Breuer, Rüdiger (1976): „Direkte und indirekte Rezeption technischer Regeln durch die Rechtsordnung". In: A ö R , S. 46ff. Eberstein, Hans Hermann (1987): Einführung in die Grundsätze des sicherheitstechnischen Rechts. Heidelberg. Fischer, Precht(1989): Umweltschutz durch technische Regelungen. Berlin. Grimmer, Klaus (1988): „Technik und Recht". In: J f R , S. 144ff. Ipsen, Jörn / Murswiek, Dietrich / Schlink, Bernhard (1990): „Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung durch das Verwaltungsrecht". In: VVDStRL 48, S. 177ff. Marburger, Peter (1979): Die Regeln der Technik im Recht. Köln u.a. Müller-Foell, Martina (1987): Die Bedeutung technischer Normen für die Konkretisierung von Rechtsvorschriften. Heidelberg. Murswiek, Dietrich (1985): Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik. Berlin. Rittstieg, Andreas (1982): Die Konkretisierung technischer Standards im Anlagenrecht. Köln u.a. Roßnagel, Alexander (Hg.) (1984b): Recht und Technik im Spannungsfeld der Kernenergiekontroverse. Opladen. Ders. (1986): „Die rechtliche Fassung technischer Risiken". In: Umwelt- und Planungsrecht, S. 46ff. siehe auch Hilfsmittel Teil B, V., 2.
Der vorrangige Regelungsgegenstand parlamentarischer Einflußnahme war bisher die technische Sicherheit und das zentrale Einflußmedium das Technikrecht. Schränken wir daher das Problem „Parlament und Technik" ein und fragen danach, wie das Parlament technische Risiken im engeren Sinne durch das Medium der Rechtsetzung steuert. Unter Risiko versteht man gemeinhin die Möglichkeit eines Schadens. Beide Bestandteile des Begriffs sind zu beachten. Maßstab der Möglichkeit ist die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, Maßstab des Schadens ist sein potentielles Ausmaß nach Art und Höhe. Da absolute Sicherheit, oder anders ausgedrückt: völlige Risikofreiheit in der Verwendung von Technik nicht möglich sind, kann das Parlament technische Risiken nicht völlig verbieten. Es kann sie nur begrenzen. Es muß also unterscheiden zwischen zulässigen und unzulässigen Risiken. Die entscheidende Frage für die rechtliche Zulassung von Technik ist daher: Wie sicher ist sicher genug? Der heikelste Punkt in der rechtlichen Bewertung technischer Risiken ist die Frage, welches Risiko die Rechtsordnung dem unbeteiligten
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Bürger auferlegen darf. Welchen möglichen Schaden ist er mit welcher Wahrscheinlichkeit zu dulden verpflichtet?
I. Staatliche Verantwortung für technische Risiken Ein Staat, der Technik zuläßt, ist für deren Sicherheit verantwortlich. Er ist verpflichtet, sowohl die Rechtsgüter seiner Bürger als auch die Interessen der Allgemeinheit vor Schäden zu schützen (BVerfGE 49, 89ff.; 53, 30ff.; 56, 54ff.; 79, 174ff.; 77, 170ff.). Er hat daher alle Gefahren, die von Techniksystemen für die Grundrechte, insbesondere für Leben und Gesundheit der Menschen, ausgehen können, durch geeignete Zulassungs- und Kontrollregelungen ebenso abzuwehren wie die Gefahren für die Volksgesundheit, für die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie für die rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen des politischen Lebens. Über diese statische Abwehraufgabe hinaus, die auf den Schutz des Bestehenden gerichtet ist, verpflichten die zu schützenden Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip den Staat auch zur Risikovorsorge. Diese zielt auf die Verminderung des technischen Risikos und damit auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen und der Entfaltungschancen in einer technisierten Welt. Neben diesen zu schützenden Individual- und Allgemeininteressen, die auf eine Beschränkung technischer Risiken zielen, sind dem Staat auch Ziele vorgegeben, die er nur mit Hilfe technischer Systeme verwirklichen kann. In einer Welt, in der die gesellschaftliche Abhängigkeit es dem einzelnen nicht mehr möglich macht, allein auf sich gestellt seine Bedürfnisse zu befriedigen, ist der Staat zur umfassenden ,Daseinsvorsorge' für seine Bürger verpflichtet. Dem BVerfG gilt daher etwa die Sicherheit der Energieversorgung ebenso als ein „Gemeinschaftsgut höchsten Ranges" (BVerfGE 30,292 (323)) wie die Sicherung der Vollbeschäftigung (BVerfGE 21, 245 (251)). Die Erfüllung dieser Ziele ist dem Staat nicht möglich, ohne Technik und die mit ihr verbundenen Risiken zuzulassen. Sicherheitsanforderungen, die diesen Zusammenhang außer acht lassen, könnten letztlich sogar die Rechtsgüter gefährden, die sie eigentlich schützen wollen. Schließlich sind auch die Grundrechte der Technikanwender und -nutzer auf freie Entfaltung, wirtschaftliche Betätigung, Ausübung des Berufs und Schutz des Eigentums in Rechnung zu stellen. Sie erlauben zwar nicht eine Verletzung der zu schützenden Allgemeininteressen und Grundrechte. Sie können aber nicht unberücksichtigt bleiben, soweit es um die Feststellung geht, ab wann ein technisches Risiko eine solche Verletzung darstellt. Diese drei verfassungsrechtlichen Zielbestimmungen - Gefahrenabwehr und Risikominimierung, Daseinsvorsorge und Wirtschaftsentwicklung sowie die Grundrechte der Techniknutzer und -anwender - fordern eine verhältnismäßige Zuordnung. Seinem Schutz- und Vorsorgeauftrag kann das Parlament nur durch Einschränkung der beiden anderen Interessenbündel gerecht werden. Insofern hat es technische Risiken zu begrenzen. Es kann sie aber auch nicht völlig verbieten, um nicht seine anderen beiden Ziele zu verfehlen. Innerhalb dieses Wertungsrahmens überläßt das Verfassungsrecht die konkrete Grenzziehung zwischen zulässigen und unzulässigen Risiken der politischen Risiko-Nutzen-Abwägung des Gesetzgebers.
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II. Parlamentsvorbehalt im Technikrecht Diese Grenzziehung ist politisch sehr schwierig. Daher kann es dem Interesse von Politikern entsprechen, dieser Entscheidung auszuweichen. In der Praxis sind vielfältige Formen der Nichtentscheidung zu beobachten. Entweder wird das Problem nicht als entscheidungsbedürftiger Tatbestand zur Kenntnis genommen. So hat das Parlament über viele Jahre hinweg keine Regelungen zur Zulassung gentechnischer Methoden getroffen. Oder es werden Regelungen getroffen, die keine Entscheidung beinhalten. Der Gesetzgeber verwendet sogenannte „unbestimmte Rechtsbegriffe", deren Bedeutungsgehalt so weit ist, daß ihnen nicht entnommen werden kann, was präzise geregelt wurde. So werden im Technikrecht meist sogenannte „Technische Standards" verwendet und mit ihrer Hilfe zum Beispiel bestimmt, daß die Risiken zulässig sind, die dem „Stand der Technik" entsprechen. Diese „technischen Standards" verweisen auf spezifische Erkenntnisse, Meinungen, Verabredungen oder Gepflogenheiten unter Naturwissenschaftlern und Technikern. Trifft das Parlament keine Entscheidung, entscheiden andere - Produzenten, Konsumenten, Bürokratien oder Gerichte über Technikentwicklung und -nutzung, allerdings nicht im Rahmen demokratischer Willensbildung. Daher stellt sich die Frage, inwieweit der Gesetzgeber verpflichtet ist, die Grenze zwischen zulässigen und unzulässigen Risiken selbst zu ziehen? Darf er die technische Entwicklung sich selbst überlassen oder die Entscheidungen über technische Risiken anderen Institutionen übertragen? Zur Bestimmung dessen, was in die nicht delegierbare Entscheidungsverantwortung des Parlaments fällt, hat das BVerfG den Wesentlichkeitsgrundsatz (i.e. § 9 II. auch § 16 III.) entwickelt: Es soll allein Aufgabe des Gesetzgebers sein, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung ... alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" (BVerfGE 49, 89 (126)). Dieser Grundsatz ist noch kein ausgeformtes verfassungsrechtliches Institut, sondern erst der Ansatz für ein solches. Die konkreten Konturen dieses Parlamentsvorbehalts sind noch immer umstritten. Die so bestimmte Prärogative des Parlaments hat zwei verfassungsrechtliche Wurzeln und erfüllt diesen entsprechend zwei Fuktionen, nämlich eine freiheitsund grundrechtssichernde sowie eine demokratiesichernde Funktion. Bereits zur Zeit der konstitutionellen Monarchie setzte sich der rechtsstaatliche Grundsatz durch, daß Eingriffe in Freiheit und Eigentum einer gesetzlichen Grundlage bedürfen (vertiefend § 2IV.). Der Vorbehalt des Gesetzes sollte individuelle Rechtspositionen dadurch schützen, daß die Allgemeinheit des Gesetzes Gerechtigkeit sichert und willkürliche Diskriminierung oder Privilegierung verhindert. Freiheitsbeschränkungen sollten letztlich von den Betroffenen selbst ausgehen, indem über sie das von ihnen gewählte Repräsentationsorgan entscheidet. Das BVerfG hat den Gesetzesvorbehalt inzwischen allerdings von dem unscharfen Kriterium des Eingriffs gelöst und auf die Schutzpflichten für Grundrechte und grundrechtsrelevante Leistungen des Staates erweitert. Entscheidend für die „Wesentlichkeit" einer Maßnahme ist heute ihre Grundrechtsrelevanz. Mit der Entwicklung des rechtsstaatlichen Gesetzesvorbehalts aufs engste verknüpft, aber dennoch aus einem anderen gedanklichen Ansatz abgeleitet ist der demokratische Parlamentsvorbehalt. Er fordert, daß in einer Demokratie die wichtigen Leitentscheidungen durch die Vertretung des Souveräns getroffen wer-
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der. Während sich der Gesetzesvorbehalt in seiner rechtsstaatlichen Ausprägung gegen die Exekutive richtet, wendet sich der demokratische Gesetzesvorbehalt fordernd an das Parlament, seine Gesetzgebungsaufgabe nicht zu vernachlässigen. Er will die Führungsrolle des Parlaments auch unter den Bedingungen des modernen Industriestaats wahren und parlamentarische Entscheidungskompetenzen nicht nur gegenüber Regierung und Verwaltung, sondern gegenüber allen staatlichen und privaten Entscheidungsträgern sichern. Gerade in einer demokratischen Verfassungsordnung, die auf plebiszitäre Formen der Willensbildung verzichtet und das Prinzip der Repräsentation verabsolutiert, ist es für die Demokratie lebenswichtig, daß das Parlament bei der politischen Richtungsbestimmung eine wichtige Rolle spielt und das Parlamentsgesetz ein Hauptinstrument politischer Führung ist. Als „wesentlich" gelten somit die „Leit- und Richtungsentscheidungen für das politische Leben und die staatliche und gesellschaftliche Ordnung" (Böckenförde: 2 1981, S. 383). Unabhängig von der Anbindung an Grundrechte weist der demokratische Parlamentsvorbehalt allgemein die „Ordnung wichtiger Lebensbereiche zumindest in ihren Grundzügen" der ausschließlichen Verantwortung des Gesetzgebers zu (B VerfGE 41,251 (260)). Da viele moderne Techniksysteme sowohl die Verwirklichungsbedingungen der Grundrechte vieler Menschen erweitern oder beschränken und sich nachhaltig auf die Ordnung und Entwicklung von Staat und Gesellschaft auswirken, sind die Entscheidungen, ob und unter welchen Bedingungen sie zuzulassen sind, wesentlich. Sie sind somit vom Parlament in Form eines Gesetzes zu treffen. Die Verantwortung des Gesetzgebers ist jedoch mit einem einmaligen Tätigwerden nicht erschöpft. Sie bleibt auch nach dem Erlaß des Gesetzes weiter bestehen. Hat sich nämlich der Gesetzgeber in einer Prognose geirrt, oder hat sich nachträglich seine Entscheidungsgrundlage geändert, also bei neuen Erkenntnissen oder Entwicklungen, kann er zu einem „Nachbessern" seiner ursprünglichen Entscheidung verpflichtet sein. Insbesondere im Bereich der technischen Entwicklungen ist der Gesetzgeber zur permanenten Wachsamkeit aufgerufen und zur Wahrung seiner Verantwortung verpflichtet, wenn von der Verfassung geschützte Rechtsgüter gefährdet sind (BVerfGE 49,89 (130f.); 65,1 (56)). Die Rechtsprechung des B VerfG zum Wesentlichkeitsgrundsatz wird in der Literatur teilweise heftig kritisiert. Vor allem drei Kritikpunkte werden geltend gemacht: Zum einen sei wegen der Unbestimmtheit dessen, was „wesentlich" ist, für den Bürger nicht berechenbar, welche Entscheidungen von ihm erfaßt werden. Der Wesentlichkeitsgrundsatz sei „eine theoretisierende Bemäntelung freier richterlicher Dezision: Wesentlich ist, was das BVerfG dafür hält." (z.B. Kloepfer: 1989, S. 196 sowie S. 190ff.) Weiterhin wird kritisiert, daß die Rechtsprechung des BVerfG die Entscheidungsfreiheit des parlamentarischen Gesetzgebers einschränke, da sie einem Delegationsverbot gleichkomme. Schließlich wird geltend gemacht, sie gefährde die Führungsfunktion der Regierung, da sie in wesentlichen Fragen deren Handlungsfähigkeit einschränke. Dieser letzten Kritik ist das BVerfG insoweit nachgekommen, als es festgestellt hat, daß die parlamentarische Demokratie keinen „Totalvorbehalt" des Parlaments kennt. Aus ihr kann kein Auslegungsgrundsatz hergeleitet werden, der alle konkreten Kompetenzzuordnungen überspielt (BVerfGE 49, 89 (124ff.)). Soweit das Grundgesetz anderen Staatsgewalten eigene Entscheidungsbefugnisse zuweist, begründet der Wesentlichkeitsgrundsatz selbst bei Entscheidungen von so großer Tragweite wie etwa der NATO-Nachrüstung weder eine Entschei-
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dungsprärogative noch ein Zustimmungserfordernis des Parlaments (BVerfGE 68,1 (86ff.)). Gegenüber der - teilweise berechtigten - Kritik an der „Wesentlichkeitsrechtsprechung" des BVerfG ist jedoch an ihr Grundanliegen zu erinnern: Auch wenn das Grundgesetz keinen „Gewaltenmonismus" kennt, bildet das Parlament doch nach wie vor das Gravitationszentrum des demokratischen Verfassungsstaates. Die Zuordnung der politischen Leitentscheidungen zum Parlament hat drei - verfassungsrechtstheoretische - Gründe, die sich aus der Legitimations-, Repräsentations- und Kommunikationsfunktion des Parlaments ergeben (ausführlicher Roßnagel: 1987, S. 26ff. sowie § 1 II. und III.). Zum einen kommt dem vom Parlament beschlossenen Gesetz gegenüber dem Handeln anderer Staatsorgane die unmittelbarere demokratische Legitimation zu. In ihm soll sich der politische Wille des Volkes durch die Vermittlung des Parlaments zu einem Staatswillen bilden. Zum anderen hat das Parlament aufgrund seiner besonderen Organisationsstruktur, vor allem aufgrund seiner Funktion, unterschiedliche Wertvorstellungen und Interessen zu repräsentieren, einen erheblichen Wertungsvorsprung gegenüber Regierung und Verwaltung. Schließlich ermöglicht die Öffentlichkeit des Gesetzgebungsverfahrens, daß wichtige politische Entscheidungen offen sind für Argumente, Einwände und Alternativen der Opposition und Einflußnahmen der Öffentlichkeit - in Anhörungen, in den Parteien, in den Medien - ausgesetzt sind. Gerade für die Gestaltung der technischen Entwicklung besteht weniger die Gefahr, daß ein nach dem Wesentlichkeitsgrundsatz bestimmter Parlamentsvorbehalt die staatliche Machtbalance aus den Fugen bringen könnte. Vielmehr ist die gegenteilige Befürchtung begründet, daß die Autonomisierung des Technikbereichs einen schleichenden Macht- und Bedeutungsverlust des Parlaments bewirkt. Der Wesentlichkeitsgrundsatz hat zwei Stoßrichtungen. Er legt nicht nur auf der Tatbestandsseite den notwendigen Zuständigkeitsbereich der gesetzgebenden Gewalt fest. Er verlangt vielmehr auf der Rechtsfolgenseite auch, daß der Gesetzgeber „das Wesentliche selbst festlegt" und nicht an die Exekutive delegiert (BVerfGE 57,294 (321)). „Das Erfordernis hinreichender Bestimmtheit (ist) die notwendige Ergänzung und Konkretisierung des aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes" (BVerfGE 58, 257 (278)). Der Wesentlichkeitsgrundsatz fordert somit eine hinreichende Regelungsdichte des Gesetzes. Je gravierender die Folgen für die Grundrechte sein können, desto konkreter und bestimmter muß die Norm ausgestaltet sein. Gerade für das Technikrecht aber wird von der herrschenden Meinung in der Literatur geltend gemacht, daß diese Anforderungen kaum zu erfüllen seien. Zum einen verfüge der Gesetzgeber nicht über den erforderlichen Sachverstand. Von ihm könne nicht gefordert werden, alle technischen Detailanforderungen für die verschiedensten Techniksysteme selbst festzulegen. Z u m anderen vollziehe sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt vorwiegend in der Industrie. Deren Kenntnisse und Erfahrungen müßten in geeigneter Weise für die rechtliche Normierung fortlaufend nutzbar gemacht werden. Drittens würden sich die Regelungsgegenstände infolge der ständigen technisch-wissenschaftlichen Entwicklung der Erfassung durch gesetzliche Detailanforderungen weitgehend entziehen. Die Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens verhindere die erforder-
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liehe fortwährende Anpassung. Starre gesetzliche Vorschriften würden die Entwicklung der Sicherheitstechnik sogar behindern. Die dauernde Anpassung der Sicherheitsvorschriften an die Weiterentwicklung von Wissenschaft und Technik sei daher nur möglich, wenn der Gesetzgeber gerade keine Detailregelungen trifft, sondern diese der Exekutive und Verwaltung überläßt. Vielmehr soll durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe wie „allgemein anerkannter Regeln der Technik", „Stand der Technik" oder „Stand von Wissenschaft und Technik" das rechtlich Gebotene an die technische Entwicklung angekoppelt werden. Nur durch diese sogenannten technischen Standards könne der Gesetzgeber die notwendige Flexibilität erzielen, um die rechtlichen Sicherheitspflichten automatisch dem jeweiligen technischen Fortschritt anpassen (für die herrschende Meinung z.B. Rittstieg: 1982, S. 137; Marburger: 1979, S. 293; Breuer: 1976, S. 49,61, 66.). Inwieweit diese Argumente zutreffen, wird noch zu untersuchen sein. Die Rechtsprechung hat diese Sichtweise übernommen und für das Recht der Technik eine Ausnahme von dem Grundsatz anerkannt, daß der Gesetzgeber die wesentlichen Fragen selbst und ausreichend bestimmt zu entscheiden habe. Gerade um die Grundrechte in der raschen Umwälzung von Wissenschaft und Technik jeweils „bestmöglich" zu sichern, fordere der dynamische Grundrechtsschutz für diesen besonderen Regelungsbereich eine unbestimmte, „in die Zukunft hinein offene" Normierung von Sicherheits- und Belastungsstandards (BVerfGE 49, 89 (136f.)). In das Gesetz unbestimmte Rechtsbegriffe aufzunehmen, deren Konkretisierung der Verwaltung und den Gerichten überlassen werde, sei ausreichend, wenn „der Gesetzgeber ansonsten gezwungen wäre, entweder unpraktikable Regelungen zu treffen oder von einer Regelung gänzlich Abstand zu nehmen" und „letztlich beides zu Lasten des Grundrechtsschutzes ginge" (BVerfGE 49,89 (137); 79,174 (195); BVerwGE 71,150 (154)).
III. Unbestimmte Rechtsbegriffe und die Regeln der Technik Der Gesetzgeber verwendet im Technikrecht durchgängig die Regelungsstruktur technischer Standards. Welche Steuerungsleistung mit dieser Regelungsstruktur erzielt werden kann, wollen wir am Beispiel einiger moderner Technologien näher untersuchen. Wir haben gesehen, daß die entscheidende Frage - auch im Sinne des Wesentlichkeitsgrundsatzes - lautet: Wie sicher ist sicher genug? Für die empirische Geltung dieses Grundsatzes im Bereich technischer Sicherheit ist daher bedeutsam, wer diese Frage letztlich beantwortet. 1. Atomrecht Jede atomtechnische Anlage bedarf nach § 7 Abs. 1 Atomgesetz (AtomG) einer Genehmigung. Die Bedeutung, die Sicherheitsanforderungen an solche Anlagen zukommt, wurde der Öffentlichkeit vor allem durch die Unfälle in Harrisburg und Tschernobyl bewußt. Der Gesetzgeber hat als wichtigste Genehmigungsbedingung für den Unfallschutz in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG festgelegt, daß durch die Auslegung der Anlage „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen ist". Nähere Hinweise, wie festzustel-
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len ist, welche Vorsorgemaßnahmen „erforderlich" sind, fehlen. Die entscheidende Frage hat der Gesetzgeber also nicht selbst beantwortet. Die schwierige Abgrenzung zwischen „erforderlicher Vorsorge" und zu duldendem Restrisiko hat er vielmehr den Normanwendern, also vor allem der Exekutive überlassen. Sie „müssen das Regelungsdefizit der normativen Ebene ausgleichen". „Das Gesetz überläßt es damit weithin der Exekutive, ..., über Art und insbesondere Ausmaß von Risiken, die im Einzelfall hingenommen oder nicht hingenommen werden, zu befinden; auch über das Verfahren zur Ermittlung solcher Risiken trifft es selbst keine näheren Regelungen.... Diese Beurteilung in die Hand der Exekutive zu geben, deren rechtliche Handlungsformen sie für die erforderliche Anpassung sehr viel besser ausrüsten als den Gesetzgeber, dient... einer Dynamisierung des Rechtsgüterschutzes" (BVerfGE 49, 89 (135, 138140)). Wenn diese aber zu bestimmen versucht, welches Risiko zulässig sein soll, hilft ihr das Gesetzesgebot, die Anlage solle dem Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, wenig weiter. Denn „Wissenschaft und Technik" vermögen nur im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung bestimmte Risiken aufzuzeigen. Sie können jedoch nicht angeben, ob gegen diese Risiken Schadensvorsorge erforderlich ist oder nicht. Sie vermögen nur die Beurteilungsgrundlage zu liefern. Die für die Abgrenzung der erforderlichen Schadensvorsorge von dem zu duldenden Restrisiko entscheidende Frage: „Wie sicher ist sicher genug?" können sie jedoch nicht beantworten. Ob die Möglichkeit eines Schadens zu dulden oder abzuwehren ist, ist keine feststellbare Tatsache, sondern eine rechtliche Wertung. Für diese Wertung verweist das BVerfG auf den „Maßstab der praktischen Vernunft". Angesichts der großen Gefahrenpotentiale kann eine atomtechnische Anlage nur zugelassen werden, „wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß solche Schadensereignisse eintreten". Es begründet diesen „Maßstab der praktischen Vernunft" mit der Erkenntnis: „Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursachen in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen" (BVerfGE 49,89 (143)). Welche Unfallabläufe konkret zu berücksichtigen, welche Möglichkeiten eines Versagens der Sicherheitstechnik in Betracht zu ziehen, welche Schadensbilder somit für die Bestimmung der erforderlichen Vorsorge zu beachten sind, sagen weder der Gesetzeswortlaut noch das BVerfG noch der Stand von Wissenschaft und Technik. Auch die in § 28 Abs. 3 der Strahlenschutz-Verordnung (StrlSchV) getroffene Entscheidung der Exekutive, die Anlage müsse so geplant sein, daß bei einem Störfall keine höhere Belastung entstehen dürfe als 50 mSievert pro Jahr, hilft nur sehr bedingt weiter. Denn entscheidend ist, wie die künftige Einhaltung dieser „Störfallplanungsdosis" im Genehmigungsverfahren berechnet wird. Wie die Exekutive bestimmt, ob alle Möglichkeiten sehr großer Schäden „praktisch ausgeschlossen" sind oder ob die Störfallplanungsdosis eingehalten wird, hängt ab von der Methode, mit der sie das Risiko einer Anlage feststellt und bewertet. Diese Art und Weise der Risikodefinition, - ermittlung und -bewertung ist die „Sicherheitsphilosophie" der Genehmigungsbehörde. Mit ihrer Hilfe bestimmt die Behörde, welche Unfallmöglichkeiten überhaupt berücksichtigt werden oder unbeachtet bleiben, mit welchen Methoden sie identifiziert werden und mit welchen Mitteln und mit welchem Grad an Zuverlässigkeit sie ausgeschlossen
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werden müssen (hierzu näher unter V.). Diese Sicherheitsphilosophie ist nicht in § 7 Abs. 2 AtomG enthalten. Zur Vollendung des Regelungsprogramms dieser Vorschrift ist sie aber unerläßlich. Sie ist das Bindeglied zwischen den rechtlichen Zulassungskriterien und den technischen Beschaffenheitsanforderungen. Nicht die rechtliche Norm des § 7 Abs. 2 AtomG, sondern diese „Sicherheitsphilosophie" ist der eigentliche, praktisch relevante Genehmigungstatbestand (ausführlich Roßnagel: 1993, S. 139ff.). Sie ist für Kernkraftwerke implizit niedergelegt in den behördeninternen Sicherheitskriterien 1 und Störfall-Leitlinien 2 für Druckwasserreaktoren der KonvoiBaulinie des Bundesministers des Innern. 3 Für andere atomtechnische Anlagen wie Wiederaufarbeitungsanlagen, Zwischenlager oder Konditionierungsanlagen ist sie ohne Rückgriff auf behördeninterne Richtlinien von den zuständigen Landesministern als Genehmigungsbehörden zu entwickeln. Woher haben aber Bundes- und Landesminister ihre Sicherheitsphilosophie? Sie stützen sich in ihren atomtechnischen Entscheidungen vor allem auf Empfehlungen sachverständiger Beratungsgremien, hier vor allem auf die Empfehlungen der Reaktorsicherheitskommission. Für die Beschaffenheitsanforderungen an einzelne Komponenten der Kerntechnik wird auf die Regeln des Kerntechnischen Ausschusses verwiesen (zu diesen § 19 II.).
2. Immissionsschutzrecht Alle relevanten Industrieanlagen - wie etwa Chemieanlagen, Kraftwerke oder Fabriken - bedürfen einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung. Wie die Unfälle in Seveso oder Sandoz gezeigt haben, sind die rechtlich geforderten Sicherungsmaßnahmen für das technische Risiko, dem Menschen und Natur ausgesetzt werden, von großer Bedeutung. Dennoch hat der Gesetzgeber als Voraussetzung des Unfallschutzes in § 5 Abs. 1 Nr. 1 Bundesimmissionsschutz-Gesetz (BImSchG) lediglich vorgeschrieben, daß sichergestellt sein muß, daß „schädliche Umwelteinwirkungen und sonstige Gefahren ... nicht hervorgerufen werden können". Mehr hat er nicht festgelegt. Vielmehr hat er in § 7 Abs. 1 BImSchG die Bundesregierung ermächtigt, diese Betreiberpflicht durch Rechtsverordnung zu konkretisieren. Dies hat die Bundesregierung hinsichtlich des Unfallschutzes in der Störfallverordnung (StörfallV - vom 20.9.1991 - BGBl I, S. 1891) getan. Aber auch sie bleibt hinsichtlich der Frage, gegen welche Störfälle welche Sicherungsmaßnah1
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Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke des Bundesministers des Innern vom 21.10.1977, B A n Z N r . 206 v. 3.11.1977. Leitlinien zur Beurteilung der Auslegung von Kernkraftwerken mit Druckwasserreaktoren gegen Störfälle im Sinne des § 28 Abs. 3 der StrlSchV (Störfall-Leitlinien) vom 18.10.1983, Beilage zum B A n Z Nr. 245 vom 31.12.1983 Diese Praxis hat eine gewisse rechtliche Anerkennung in der Vorschrift des § 28 Abs. 3 Satz 4 StrlSchV gefunden. Danach darf die Genehmigungsbehörde vermuten, daß die Störfallplanungswerte eingehalten werden, „wenn der Antragsteller bei der Auslegung der Anlage die Störfälle zugrundegelegt hat, die nach den vom Bundesminister des Innern nach Anhörung der zuständigen obersten Landesbehörden im Bundesanzeiger veröffentlichten Sicherheitskriterien und Leitlinien für Kernkraftwerke die Auslegung eines Kernkraftwerks bestimmen müssen".
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men zu treffen sind, um die Schadensmöglichkeiten unterhalb einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu halten, recht unbestimmt. Zur Verhinderung von Störfällen wird in § 4 StörfallV beispielsweise gefordert, die „Anlage so auszulegen, daß sie auch den bei einer Störung ... zu erwartenden Beanspruchungen genügt", „Maßnahmen zu treffen, damit Brände und Explosionen ... vermieden werden", „Anlagen mit ausreichenden Warn-, Alarm- und Sicherheitsausrüstungen auszurüsten" und „die sicherheitstechnisch bedeutsamen Anlagenteile vor Eingriffen Unbefugter zu schützen". Ergänzend bestimmt § 3 Abs. 4 Störfall V, daß „... dem Stand der Sicherheitstechnik entsprechen" müssen. Dem Normanwender helfen solche Forderungen wenig. Er benötigt weniger qualitative Zielangaben als vielmehr quantitative Detailanweisungen, wie stark etwa die Halterung einer Betondecke, die Berstscheibe eines Druckkessels oder die Wand eines druckführenden Rohres sein müssen. Diese Beschaffenheitsanforderungen findet er in technischen Regelwerken. Zur Konkretisierung dieser unbestimmten Anforderungen greift der Praktiker daher auf die überbetrieblichen technischen Normen zurück, die von privaten Normungsverbänden wie etwa dem Deutschen Institut für Normung (DIN) oder dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) aufgestellt werden, oder er sucht Rat in den Technischen Regeln, die von öffentlich-rechtlich konstituierten Sachverständigenausschüssen wie etwa dem Deutschen Dampfkesselausschuß ( D D A ) oder dem Druckbehälterausschuß (DBA) herausgegeben werden. Die enthalten implizit die Sicherheitsphilosophie, die für die Bestimmung erforderlicher Sicherheit notwendig ist. Da den Rechtsanwendern andere Maßstäbe fehlen, bestimmen in der Praxis weitgehend diese Regeln der Technik die Grenze des zulässigen Risikos.
3. Gentechnikrecht Im Bereich der Gentechnik, also der Methoden zur Charakterisierung, Isolierung und Bildung neuer Kombinationen von genetischem Material, hat das Parlament lange Zeit seine Verantwortung für die Risiken der Technik nicht wahrgenommen. Der Erlaß eines Gentechnikgesetzes ( G e n T G - v o m 11.5.1990-BGB1 I, S. 1180; siehe auch Hilfsmittel B), V., 2.) wurde erst beschleunigt, als der Verwaltungsgerichtshof Kassel im November 1989 festgestellt hatte, daß gentechnische Anlagen nur genehmigt werden könnten, wenn das Parlament zuvor eine gesetzliche Grundsatzentscheidung über die rechtliche Zulässigkeit gentechnischer Verfahren getroffen habe ( V G H Kassel, NJW1990, S. 336). Die erforderliche Sicherheit gentechnischer Anlagen hat das Parlament in § 7 G e n T G geregelt. Darin werden gentechnische Anlagen in vier Sicherheitsstufen unterteilt. Diese unterscheiden sich danach, ob in ihnen gentechnische Arbeiten stattfinden, bei denen nach dem „Stand von Wissenschaft und Technik" von keinem, einem „geringen", einem „mäßigen" oder einem „hohen" „Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt auszugehen ist". Welche Anlagen jeweils unter diese Kategorien fallen, welche Sicherheitsanforderungen an die gentechnischen Anlagen zu stellen sind, und welche Sicherheitsmaßnahmen bei gentechnischen Arbeiten zu stellen sind, hat der Gesetzgeber jedoch nicht selbst geregelt (näher Sander: 1990). Er hat vielmehr die Bundesregierung ermächtigt, diese Fragen in Form von Rechtsverordnungen zu regeln und hierfür lediglich vage Vorgaben aufgestellt -
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wie etwa die, die Zuordnung zu den Sicherheitsstufen „anhand des Risikopotentials" zu treffen. Die Bundesregierung hat die Sicherheitsanforderungen in der Gentechnik-Sicherheits-Verordnung (GenTSV - vom 24.10.1990 - BGBl I, S. 2340) festgelegt. Die Zuordnung einer gentechnischen Arbeit zu den vier Sicherheitsstufen soll „auf der Grundlage einer Gesamtbewertung" (§ 4) entsprechend „ihrem Gefährdungspotential" und „unter Beachtung des Standes der Wissenschaft" (§ 7) erfolgen. Allerdings nennt die GenTSV in den §§ 4 bis 7 einige Kriterien, die für diese Einordnung zu berücksichtigen sind, und enthält in ihrem Anhang 1 Listen mit Beispielen für diese Zuordnung. Die für die jeweilige Sicherheitsstufe erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen werden in §§ 8 bis 13 GenTSV in Form allgemeiner Verhaltens- und Beschaffenheitsanforderungen beschrieben. Ergänzend fordert § 8 Abs. 1 „die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderlichen Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Insbesondere sind die allgemein anerkannten sicherheitstechnischen, arbeitsmedizinischen und hygienischen Regeln, die sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse sowie allgemeine Empfehlungen der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit zu beachten". Weitere spezifischere Anforderungen finden sich in Anhang II der Verordnung. Aber auch dort wird auf den Stand von Wissenschaft und Technik verwiesen oder die Sicherheit von nicht näher definierten Geräten wie „Hochleistungsschwebstoff-Filter" abhängig gemacht. Wenn auch die Sicherheitsanforderungen in der GenTSV präziser beschrieben sind als etwa in der StörfallV, muß der Normanwender zur Auslegung der technischen Standards oder zur Bestimmung von Anforderungen an geforderte Geräte auf die Regeln der Technik zurückgreifen. Allerdings hat der Gesetzgeber in § 4 GenTG vorgesehen, eine „Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit" (ZKBS) zu errichten, die nach § 5 GenTG „sicherheitsrelevante Fragen" zu prüfen und zu bewerten und hierzu Empfehlungen abzugeben hat. „Bei ihren Empfehlungen soll die Kommission auch den Stand der internationalen Entwicklung auf dem Gebiet der gentechnischen Sicherheit angemessen berücksichtigen". Den Stellungnahmen der ZKBS kommt für die Bestimmung der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen eine Schlüsselrolle zu. Denn die Zuordnung gentechnischer Arbeiten zu den jeweiligen Sicherheitsstufen erfolgt aufgrund der Anhörung der Kommission. Das Gleiche gilt für die erforderlichen Labor- und Sicherheitsmaßnahmen bei den gentechnischen Arbeiten der jeweiligen Sicherheitsstufe. Auch ist ihre Stellungnahme für die Genehmigung und Anmeldung von gentechnischen Arbeiten im geschlossenen System wie auch für die Genehmigung von Freisetzen und Inverkehrbringen von ausschlaggebendem Gewicht. Denn die Stellungnahmen der ZKBS sind bei den Genehmigungsentscheidungen zu „berücksichtigen". Im Falle der Abweichung von der ZKBS-„Empfehlung" hat die Verwaltungsbehörde hierfür ihre Gründe gesondert darzulegen 4 . Auch im Bereich der Gentechnik hat der Gesetzgeber die für die technische Sicherheit wichtigen Fragen nicht selbst beantwortet. Dies zeigt sich bereits daran, daß das GenTG über 40 Verweisungen und Verordnungsermächtigungen enthält; vor allem sind es gerade die zentralen Fragen - beispielsweise die Fixierung
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Siehe hierzu die „Verordnung über die Zentrale Kommission für Biologische Sicherheit" vom 30.10.1990, B G B l 1,S. 2418.
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von bestimmten Sicherheitsniveaus - die durch das Gesetz nicht erfaßt werden. Vielmehr werden die wesentlichen Sachentscheidungen durch die ZKBS getroffen , die sich hinsichtlich der Sicherheitstechnik wiederum auf die technischen Regeln der privaten Normungsverbände stützt.
IV. Selbststeuerung der Technik Die drei beispielhaft betrachteten Technikgesetze und ihre Konkretisierungen zeigen, daß die zentrale Frage, wie sicher ist sicher genug? schrittweise von unterschiedlichen Instanzen beantwortet wird. Der Gesetzgeber nimmt auf ihre Beantwortung noch den geringsten Einfluß. Er beschreibt seine Anforderungen lediglich in den unbestimmten Begriffen der technischen Standards. Lediglich im GenTG hat er zusätzlich Errichtung und Aufgaben der ZKBS geregelt. Von einer parlamentarischen Techniksteuerung kann keine Rede sein. Der Gesetzgeber überträgt die Verantwortung fast vollständig auf die Exekutive, die sich allerdings ohne inhaltliche Vorgaben weitgehend überfordert sieht, Anforderungen an die technische Sicherheit zu stellen. Sie bedient sich daher der Regeln technischer Normungsverbände (Immissionsschutzrecht, Atomrecht) oder wissenschaftlicher Beratungsgremien (Gentechnikrecht) oder entscheidet selbst auf der Grundlage von Empfehlungen solcher Gremien (Atomrecht). Inhaltlich wird die Frage nach dem zumutbaren Restrisiko somit weitgehend von diesen Gremien beantwortet. Verantwortet wird sie formell von der Exekutive. Doch entlastet diese sich durch die Voten und Regeln der Normungsverbände und Beratungsgremien. Verantwortung verflüchtigt sich so im Dunstkreis von Politik, Verwaltung, wissenschaftlicher Politikberatung und technischer Normung. Über die unbestimmten Rechtsbegriffe der technischen Standards trifft das Recht keine eigenständige Entscheidung. Indem es seine Anforderungen zum Beispiel vom „Stand der Technik" abhängig macht, bindet es das normative Sicherheitsniveau an die rechtlich nicht beeinflußte Entwicklung der Technik. Dadurch verzichtet das Recht auf eine eigene Normativität und setzt Technik zur Selbststeuerung frei. Nicht die abstrakten qualitativen Zielvorgaben der rechtlichen Normebene enthalten die praktisch-relevanten Steuerungskonzepte, sondern die Regeln der Technik. Letztlich entscheidet die Technik über das zulässige technische Risiko. Sie steuert sich in diesem Regelungsmodell selbst.
V. Technisches Risiko und Sicherheit Inwieweit dieses Steuerungsmodell verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, wird im folgenden Kapitel untersucht. Hier soll kurz nach seiner politischen Leistungsfähigkeit gefragt werden. Inwieweit ist es in der Lage, Interessenausgleich, Verhaltenssicherheit, Akzeptanz und Legitimität zu erzeugen? Die Frage: Wie sicher ist sicher genug? wird in den technischen Normen, Empfehlungen der Beratungsgremien oder in den auf ihnen aufbauenden verwaltungsinternen Richtlinien letzlich durch die Wahl von „Sicherheitsphilosophien" beantwortet. Der Begriff der Sicherheitsphilosophie, wie er in der Sicherheitstechnik etabliert ist, hat nun wenig mit der Verwendungsweise des Wortes Philosophie zu tun, wie sie etwa durch die philosophische Klassik geprägt worden ist.
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„Philosophie" steht hier nämlich nur für einen mehr oder weniger logischen Verbund praktisch brauchbarer Grundannahmen. Idealerweise ist eine Sicherheitsphilosophie ein Axiomensystem, mit dessen Hilfe bestimmt wird, wie die Sicherheit einer Anlage oder Handlung festgestellt und bewertet wird. In der Praxis sollen Sicherheitsphilosophien vor allem Risikoprobleme strukturieren, unübersichtliche Risikofelder ausgrenzen, ein praktikables Konzept von Sicherheit begründen und riskante Anlagen oder Handlungen für die Behörden genehmigungsfähig machen (Radkau: 1989. S. 91ff.). Wie immer Juristen die rechtlichen Begriffe durch andere rechtliche Begriffe zuspitzen, sie müssen für die Ingenieurpraxis in technische Begriffe übersetzt werden. Sie müssen so operationalisiert werden, daß am Ende etwa festgestellt werden kann, wie dick genau die Wand des Druckbehälters sein muß, um als sicher zu gelten. Die juristische Norm muß also in der Sprache der Technik reformuliert werden. Das zentrale Bindeglied, das diese Operationalisierung ermöglicht und in der Sprache der Technik an die juristischen Begriffe anschließt, ist die jeweilige Sicherheitsphilosophie. Die praktizierten Sicherheitsphilosophien folgen alle einer deterministischen Betrachtungsweise. Nach dieser werden bestimmte Störfallabläufe unterstellt und geprüft, ob die jeweilige Anlage sie sicher zu beherrschen vermag. Als „erforderlich" gelten die Maßnahmen, die notwendig sind, um die Auslegungsstörfälle zu „beherrschen". Der Auswahl der Auslegungsstörfälle und der Wahl der Sicherheitstechnik liegen keine expliziten Ermittlungen und Bewertungen des potentiellen Schadensausmaßes und seiner Wahrscheinlichkeit zugrunde. Sie gründen vielmehr auf der Erfahrung, die Experten aus technischen Unfällen gewonnen haben. Die nicht berücksichtigten Störfallabläufe und die Möglichkeit eines Versagens der Sicherheitstechnik gelten als hinzunehmendes Restrisiko. In der Literatur werden zwar vielfältige Spielarten probabilistischer Sicherheitsphilosophien diskutiert, an einzelnen Referenzanlagen wurden auch schon probabilistische Risikostudien durchgeführt, von der Genehmigungspraxis werden diese Sicherheitsphilosophien jedoch als weitgehend unpraktikabel abgelehnt (näher Roßnagel: 1993, S. 153ff.). Sie zielen im Gegensatz zu deterministischen Vorgehensweisen auf eine explizite Bestimmung des Schadensausmaßes und der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts. Wenn probabilistische Risikostudien alle Unfallmöglichkeiten und deren Schadensabläufe identifizieren und verfolgen sollen, werden sie verhältnismäßig aufwendig und teuer. Als nicht praktikabel gelten sie aber wohl auch aus einem politischen Grund: Auf ihrer Grundlage müßte das zulässige Risiko durch Risikogrenzwerte oder -grenzkurven bestimmt werden und Risikostudien würden das verbleibende Restrisiko trotz Sicherheitsmaßnahmen explizit beziffern. Beides würde das Risiko der zugelassenen Anlage und die Verantwortung für dieses deutlicher werden lassen. Die deterministische Bestimmung des zulässigen Unfallrisikos hat sich weitgehend bewährt für vertraute technische Systeme mit verhältnismäßig geringem Schadenspotential. Denn der traditionelle Weg, Risiken nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum zu verringern, ist vertretbar, wenn die Kosten eines Irrtums nicht zu hoch sind. So gewonnene Erfahrung mit vielen gleichgelagerten Fällen schafft die Grundlage für die Beurteilung, ob die Anforderungen auch ausreichende Sicherheit gewährleisten. In diesem gesamtgesellschaftlichen Lernprozeß bildet sich eine breite soziale Bewertung der technischen Risiken. Gemeinsame gesellschaftliche Erfahrung mit der Technik ermöglicht einen Konsens über die
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Zumutbarkeit von Risiken - etwa die eines Kraftfahrzeugs. Vor dem Hintergrund eines breiten Konsenses über die Nutzung einer fast allen vertrauten Technik mag auch ein Gesetzgeber Interessenausgleich, Verhaltenssicherheit, Akzeptanz und Legitimität erreichen, der nicht selbst entscheidet, sondern auf Wertvorstellungen in der Gesellschaft verweist. Funktionsdefizite weisen jedoch das beschriebene Steuerungsmodell und die mit ihm verbundene deterministische Vorgehensweise bei Techniksystemen auf, die sich schnell verändern und die große Schadenspotentiale beinhalten. Gesellschaftliche Erfahrungsbildung nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum ist bei ihnen nicht möglich. Entweder werden vollendete Tatsachen geschaffen, bevor Irrtumserfahrungen zu Korrekturen führen können, oder die Irrtumskosten sind so hoch, daß sie den Rahmen sprengen, in dem der Versuch überhaupt sinnvoll sein kann. Ohne Erfahrungsbildung können aber die Sicherheitsanforderungen nicht verläßlich bestimmt werden. Es bleibt nur die Möglichkeit theoretischer Berechnungen oder subjektiver Schätzungen. Die aber sind notwendigerweise kontrovers. Ohne ausreichende Erfahrung fehlt die Grundlage für einen Konsens über die Zumutbarkeit von Risiken - sowohl zwischen den Experten als auch innerhalb der Bevölkerung. In diesen Fällen macht sich das Entscheidungsdefizit durch den demokratischen Gesetzgeber besonders bemerkbar. Interessenausgleich, Verhaltenssicherheit, Akzeptanz und Legitimität lassen sich durch die Entscheidungsverlagerung auf einen Teil der Experten und Interessierten nicht erzielen. Einige Schlußfolgerungen für die Rechtssetzung im Technikrecht, die aus diesen Erkenntnissen zu ziehen sind, werden in den folgenden Kapiteln dargestellt (§ 19 VI. und § 20 III.). Zuvor ist jedoch noch zu untersuchen und zu bewerten, wie denn technische Beratung und Normung erfolgt.
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§ 19 Technische Beratung und Normung Alexander Roßnagel I. Zur Geschichte technischer Politikberatung und Normung. - II. Technische Beratungsgremien. - III. Öffentlichrechtliche Normungsausschüsse. - I V . Private Normungsverbände. - V. Rechtliche Geltung der Regeln der Technik. - VI. Politische und verfassungsrechtliche Bewertung. Grundtagenliteratur Brinkmann, Werner (1984): Rechtliche Aspekte der Bedeutung von technischen Normen für den Verbraucherschutz. Köln. Brohm, Winfried (1987): „Sachverständige Beratung des Staates". In: Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, Bd. II., S. 207ff. Denninger, Erhard (1990): Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Normsetzung im Umwelt- und Technikrecht. Baden-Baden. Lübbe-Wolff, Gertrude (1991): „Verfassungsrechtliche Fragen der Normsetzung und Normkonkretisierung im Umweltrecht". In: Z G , S. 219. Lundgreen, Peter (1979): „Technisch-wissenschaftliche Vereine zwischen Wissenschaft, Staat und Industrie 1860 bis 1914". In: Technikgeschichte, S. 181ff. Müller-Graff, Peter Christian (Hg.) (1991): Technische Regeln im Binnenmarkt. Baden-Baden. Ropohl, Günter / Schuchardt, Wilgart / Laruschkat, Helmut (1984): Technische Regeln und Lebensqualität. Düsseldorf. Schwierz, Matthias (1986): Die Privatisierung des Staates am Beispiel der Verweisungen auf die Regelwerke privater Regelgeber im Technischen Sicherheitsrecht. Frankfurt/M. u.a. Sonnenberg, Gerhard (1968): Hundert Jahre Sicherheit. Beiträge zur technischen und administrativen Entwicklung des Dampfkesselwesens in Deutschland 1810 bis 1910. Düsseldorf. Wolf, Rainer (1986): Der Stand der Technik. Opladen.
Das Parlament trifft keine inhaltliche Entscheidung über das zulässige technische Risiko, sondern beschreibt seine Anforderungen in Form technischer Standards. Da auch die Exekutive nicht aus eigener Kompetenz zu bestimmen vermag, was „Stand der Technik" oder „Stand der Erkenntnisse" ist, schaffen sich die Behörden eigene sachverständige Beratungsgremien oder beziehen sich auf technische Normen. Allein auf Bundesebene bestehen unter unterschiedlichen Bezeichnungen wie „Ausschüsse", „Komissionen" oder „Beiräte" über 500 Beratungsgremien. Nur in den seltensten Fällen sind diese - wie etwa die Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit (ZKBS) - in den jeweiligen Technikgesetzen vorgesehen oder geregelt. Überwiegend werden sie - wie etwa die Reaktorsicherheitskommission (RSK) - von den Ministerien ohne gesetzliche Grundlage, also ohne jede
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Mitwirkung des Parlaments, durch verwaltungsinternen Organisationserlaß gegründet, und ihre Mitglieder werden vom zuständigen Minister berufen. Die Tätigkeit ist zum Teil ehrenamtlich, zum Teil wird sie entgolten. Die Aufgabe der Beratungsgremien besteht überwiegend darin, Normsetzungen oder Einzelentscheidungen der Exekutive durch Empfehlungen vorzubereiten, zum Teil sollen sie aber auch - wie etwa der Kerntechnische Ausschuß (KTA) - technische Regeln verabschieden. Von solchen Ausnahmen abgesehen, werden technische Regeln von privaten Vereinen erlassen. In der Bundesrepublik gibt es etwa 210 solcher Organisationen, die technische Regeln erarbeiten. Teilweise sind es Berufsverbände wie der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) oder der Verband Deutscher Elektrotechniker (VDE) oder es sind Vereine, die sich - wie etwa das Deutsche Institut für Normung (DIN) - als Vereinszweck die technische Normung gewählt haben. Die Mitgliedschaft in diesen Verbänden und Vereinen ist meist beschränkt, die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich.
I. Zur Geschichte technischer Politikberatung und Normung Von Anfang an - von der Dampfkesselgesetzgebung seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute - trafen staatliche Regulationsversuche auf Bestrebungen der Techniker und der Industrie, den Bereich der technischen Sicherheitsmaßnahmen als Aufgabe wirtschaftlicher Selbstorganisation von Staatseingriffen möglichst freizuhalten. Der 1856 gegründete Verein der Deutschen Ingenieure (VDI) und die seit 1866 bestehenden privaten Dampfkesselüberwachungsvereine, die Vorläufer der heutigen Technischen Überwachungsvereine (TÜV), sahen es als eine wesentliche Aufgabe an, die bis dahin staatliche technische Überwachung zu privatisieren und die technische Normung selbst durchzuführen. Ab 1870 setzte sich zunehmend die bis heute bekannte Arbeitsteilung durch. Danach verantwortete der Staat formell die gesetzlichen Anforderungen und die Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen, inhaltlich bestimmten private technische Normen die geforderte technische Ausgestaltung und prüften private Kontrolleure deren Einhaltung. Mit dieser Entwicklung korrespondierend rekrutierte der Staat für die neu sich stellenden technischen Fachfragen keinen eigenen Sachverstand, sondern setzte auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den technischen Fachverbänden und der Industrie. Statt den erforderlichen Sachverstand auf staatlicher Seite zu verdoppeln, sollte der in der Industrie bereits vorhandene Sachverstand dann, wenn Bedarf bestand, für die rechtliche Steuerung der Technik und ihre Überwachung genutzt werden. Das erforderliche technische Wissen sollte dem Staat in Form von Beratungsgremien oder Technischen Ausschüssen zur Verfügung stehen. Staatliche Entscheidungsfindung im Bereich der Technik blieb dadurch weitgehend von Wissen abhängig, das nur in der Industrie und den technischen Berufsverbänden vorhanden war. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich jedoch zunehmend gezeigt, daß der Staat eines eigenen, von der Industrie unabhängigen SachVerstandes bedarf. Aus diesem Grund wurden zahlreiche wissenschaftliche Bundesoberbehörden gegründet wie etwa das Bundesgesundheitsamt, das Bundesumweltamt, das Bundesamt für Strahlenschutz oder das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstech-
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nik. Solche neuen wissenschaftlich-technischen Behörden sind ein Reflex auf unbewältigte Problemkonstellationen, die die technische Entwicklung geschaffen hat, und die mit dem bisherigen vertrauensvollen Zusammenspiel zwischen staatlicher Verantwortung und inhaltlicher Definitionsmacht der „interessierten Kreise" nicht mehr bewältigt werden können. Durch die Gründung dieser Behörden wird versucht, die Verantwortung für spezifische Technikfolgen zu institutionalisieren und vom politischen System auf die jeweils neue Problembürokratie zu verlagern. Auch das Parlament hat sich keinen spezifischen technischen Sachverstand geschaffen. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages ist nicht auf die Beantwortung technischer Fachfragen ausgerichtet. Vielmehr versuchen die Abgeordneten, durch unmittelbaren Kontakt mit den an der Gesetzgebung Interessierten oder in Anhörungen vor Bundestagsausschüssen sich sachkundig zu machen. Ein erster Versuch, technischen Sachverstand beim Deutschen Bundestag zu etablieren, wurde in den 70er und 80er Jahren in der Frage der Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung unternommen. Der Vorschlag, hierfür eine eigene wissenschaftliche Einheit zu errichten, ist jedoch gescheitert. Durchgesetzt wurde lediglich ein dreijähriger Modellversuch mit einer kleinen wissenschaftlichen Einrichtung außerhalb des Bundestages (hierzu näher § 11V.) Betrachten wir an jeweils einem typischen Beispiel die Aufgaben, Zusammensetzung, Arbeitsweise und Entscheidungsfindung in technischen Beratungsgremien, öffentlichrechtlichen Normungsausschüssen und privaten Normungsverbänden.
II. Technische Beratungsgremien Wählen wir als Beispiel für ein durch bloße Verwaltungsvorschrift errichtetes Beratungsgremium die Reaktorsicherheitskommission 1 . Sie ist derzeit beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit eingerichtet. E r beruft auch ihre 18 sachverständigen Mitglieder, die bestimmten technischen Fachgebieten angehören sollen, für jeweils drei Jahre. Die Mitglieder sind ehrenamtlich tätig und weisungsfrei. Sie erhalten für ihre Tätigkeit Fachhonorare in einer Gesamthöhe von jährlich etwa 450.000 DM. Die RSK berät den Bundesminister in Angelegenheiten der Sicherheit und der Sicherung atomtechnischer Anlagen und des Kernbrennstoffkreislaufs. Ihre Beratungsthemen werden der RSK entweder vom Minister vorgegeben oder von ihr selbst aufgegriffen. Die RSK beschließt ihre Beratungsergebnisse mit einfacher Stimmenmehrheit als Empfehlungen oder Stellungnahmen an den Minister. Soweit die RSK in staatlichen Kontrollverfahren tätig wird, ist für Empfehlungen zum Standort oder zur Konzeption einer atomtechnischen Anlage sowie zur Inbetriebnahme eine Mehrheit von Zweidritteln erforderlich. Die RSK tagt nichtöffentlich. Die Mitglieder sind zur Vertraulichkeit und Verschwiegenheit verpflichtet. Ihre Empfehlungen werden vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit im Bundesanzeiger veröffentlicht.
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S. die Satzung der RSK (Neufassung) vom 8.12.1987, B Anz 1987 Nr. 239.
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Die RSK ermöglicht dem Bundesminister unmittelbaren und kompetenten Zugang zu dem etablierten Fachwissen in Fragen der Reaktorsicherheit. Sie erlaubt ihm, relativ schnell und sachlich fundiert auch in diffizilen Fachfragen zu entscheiden. Zwar trägt er für seine Entscheidung die formelle Verantwortung, inhaltlich aber entlastet ihn die Empfehlung der Kommission. Da die RSK das einzige Beratungsgremium des Bundesministers in Fragen der Reaktorsicherheit ist, wird sie in allen atomrechtlichen Verfahren tätig und übt einen sehr hohen faktischen Einfluß auf das geforderte Niveau und die Entwicklung der Sicherheitstechnik aus. Denn der Bundesminister führt die Aufsicht über alle Landesgenehmigungsbehörden und kann diese über sein Weisungsrecht nach Art. 85 Abs. 3 G G zur Beachtung seiner jeweiligen Auffassung zwingen. Die Leitlinien, die die RSK allgemein aufgestellt hat, und die Stellungnahmen, die sie zu jedem Verfahren abgibt, beeinflussen alle behördlichen Entscheidungen im Atomrecht unmittelbar. Umso stärker wirkt sich aus, daß in die RSK bisher nur Sachverständige berufen worden sind, die bereits beruflich mit der Durchsetzung oder Entwicklung der Kernenergienutzung und ihrer Sicherheitstechnik beschäftigt sind. Die Tatsache, daß viele sicherheitstechnische Fragen wissenschaftlich umstritten sind, spiegelt sich in der RSK somit nur sehr eingeschränkt wieder. Im Gegensatz zur RSK ist die Zentrale Kommission für die biologische Sicherheit (ZKBS) eines der sehr wenigen Beratungsgremien, deren Errichtung und Entscheidungsbeteiligung durch das betreffende Technikgesetz selbst vorgesehen wird. Nach § 4 GenTG wird sie als „Sachverständigenkommission" beim Bundesgesundheitsamt eingerichtet. Ihre Aufgaben wurden bereits oben (§ 18 III.) beschrieben. Sie setzt sich zusammen aus fünfzehn Mitgliedern. Zehn Mitglieder sollen „Sachverständige" aus den Bereichen Mikrobiologie, Zellbiologie, Virologie, Genetik, Hygiene, Ökologie und Sicherheitstechnik sein, von denen mindestens sechs auf dem Gebiet der Neukombination von Nukleinsäuren tätig sein sollen. Der Bereich Ökologie soll durch zwei Sachverständige vertreten sein. Neben den zehn „Sachverständigen" sollen der ZKBS fünf weitere „sachkundige Personen" aus den Bereichen der Wirtschaft, der forschungsfördernden Organisationen, des Arbeitsschutzes, der Gewerkschaften und des Umweltschutzes angehören. Die Mitglieder der Kommission werden vom Bundesgesundheitsminister im Einvernehmen mit dem Wirtschafts-, Forschungs-, Arbeits-, Landwirtschafts- und Umweltminister auf drei Jahre berufen. Aufgrund der Ermächtigung des § 4 Abs. 3 GenTG hat die Bundesregierung in der ZKBS-Verordnung (ZKBSV - vom 30.10.1990 - BGBl. I, S. 2418) weiter festgelegt, daß für die zehn „Sachverständigen"-Mitglieder die Vorschläge des Wissenschaftsrates, für die weiteren fünf „sachkundigen Personen" die Vorschläge der jeweiligen Bereiche einzuholen sind. Die Mitarbeit in der ZKBS ist ehrenamtlich. Die ZKBS soll „in regelmäßigen Abständen" Sitzungen abhalten, die nicht nur „nicht öffentlich", sondern sogar „vertraulich" sind, d.h. die Sitzungsteilnehmer dürfen keine Auskünfte über Beiträge und das Abstimmungsverhalten einzelner Teilnehmer geben. Über notwendige Mehrheitsverhältnisse bei Abstimmungen gibt die ZKBSV keinen Aufschluß; dies soll in der Geschäftsordnung geregelt werden.
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III. Öffentlichrechtliche Normungsausschüsse Nehmen wir als Beispiel für einen öffentlich-rechtlich konstituierten Normungsausschuß den Kerntechnischen Ausschuß (KTA) 2 . Er ist beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit durch bloßen Organisationserlaß errichtet worden und hat die Aufgabe, „auf Gebieten der Kerntechnik,..., für die Aufstellung sicherheitstechnischer Regeln zu sorgen und deren Anwendung zu fördern". Er beschließt zunächst über Entwürfe sicherheitstechnischer Regeln, die unter Umständen in seinem Auftrag von privaten Normungsorganisationen wie DIN oder VDE erarbeitet wurden, führt ein Änderungsvorschlagsverfahren durch und verabschiedet dann abschließend die jeweilige Regel. Der KTA ist ein heterogenes Gremium aus Sachverständigen und Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen. Er besteht aus 50 Mitgliedern und zwar aus • 10 Vertretern der Hersteller von Atomanlagen, • 10 Vertretern der Betreiber von Atomanlagen, • 10 Vertretern der für den Vollzug des Atomgesetzes zuständigen Landesbehörden und der aufsichtsführenden Bundesbehörde, • 10 Vertretern von Gutachter- und Beratungsorganisationen (6 TÜV, 2 Gesellschaft für Reaktorsicherheit, 1RSK, 1 Strahlenschutzkommission) und • 10 sonstigen Vertretern (5 verschiedene Bundesministerien, 1 gesetzliche Unfallversicherung, 1 Gewerkschaften, 1 Sach- und Haftpflichtversicherer und 1 DINe.V.). Die Mitglieder werden von den zu repräsentierenden Gruppen vorgeschlagen und vom Minister für vier Jahre berufen. Die Mitgliedschaft im KTA ist ein Ehrenamt. Die Kosten und Honorare der Mitglieder werden nicht vom Minister, sondern von den repräsentierten Gruppen getragen. Diese spezifische Zusammensetzung des KTA macht sich vor allem bei der Beschlußfassung über die Aufstellung der KTA-Regeln bemerkbar. Denn für diese ist ein Quorum von 5/6 erforderlich, so daß jede Zehnergruppe eine Vetoposition besitzt und ein hoher Zwang zum Konsens innerhalb der Hersteller, Betreiber, Begutachter und Administratoren von atomtechnischen Anlagen erforderlich ist. Dagegen sind etwa Arbeitnehmerinteressen unterrepräsentiert und atomkritische Stimmen überhaupt nicht vertreten. Sie haben keine Möglichkeit, ihre sicherheitstechnischen Gegenvorstellungen in die Beratungen des KTA einzubringen.
IV. Private Normungsverbände Technische Normen sind für die Entwicklung und Nutzung der Technik unabdingbar. Sie sind ein wichtiger Ordnungsfaktor, der unsere technisch geprägte Welt bereits so sehr bestimmt, daß er kaum noch wahrgenommen wird. Er fällt meist nur dann auf, wenn er fehlt. Daß der Stecker in die Steckdose, das Blatt Pa2
S. Anlage 1 zur Bekanntmachung über die Übernahme des Kerntechniken Ausschusses in die Zuständigkeit des Bundesministers für Umelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom 1.9.1986, BAnz 1986 Nr. 183, geändert durch die Bekanntmachung über die Änderung der Bekanntmachung über die Bildung eines Kerntechnischen Ausschusses vom 23.12.1986, BAnz 1987 Nr. 18.
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pier in den Hefter oder die Mutter auf die Schraube passen, verdanken wir technischen Nonnen (zum Beispiel DIN A4). Durch diese Kompatibilität technischer Geräte machen technische Normen den Verbraucher weitgehend unabhängig von deren Herstellern. Daß man Computer, Drucker und Bildschirm oder Verstärker, Plattenspieler und Boxen jeweils von unterschiedlichen Herstellern kaufen kann, ist das Verdienst der technischen Normung. Ohne sie können technische Geräte und Programme nicht effektiv zusammenwirken und damit nur geringe Verbreitung und Nutzung finden. Sie ermöglicht innerbetriebliche und zwischenbetriebliche Arbeitsteilung, die Standardisierung von Produktion und Produkten und eröffnet den Zugang zum Weltmarkt. Zwar ist die Anwendung einer Norm freiwillig, es sei denn, es wird in Rechtsnormen auf sie verwiesen. Da sich aber alle Hersteller eines Produkts aus Wettbewerbs- und Kompatibilitätsgründen an die Normvorgaben halten, werden ihre Angebote vergleichbar. Indem technische Normen sich am Stand der Technik orientieren, beschreiben sie inhaltliche Berufspflichten, stellen qualitative Standards auf und enthalten Vorgaben zur Gewährleistung technischer Sicherheit.
1. Nationale Normungsverbände Betrachten wir wegen seiner herausragenden Bedeutung für die technische Normung als Beispiel das Deutsche Institut für Normung (DIN). Das DIN ist ein gemeinnütziger, privater Verein, dessen einziger Zweck die Aufstellung technischer Normen ist. Mitglieder können ausschließlich Unternehmen und juristische Personen werden. Ihre Zahl betrug 1986 5.363. Dem DIN entstehen jährlich Kosten in Höhen von etwa 1,2 Milliarden DM. Es finanziert sich zu 18% aus Mitglieds- und Förderbeiträgen, zu 17% aus zweckgebundenen Beiträgen der öffentlichen Hand und zu 65% aus Erlösen durch den Verkauf der erstellten Norm texte. Normung wird in dem,Grundgesetz' der DIN-Normung, DIN 8203, definiert „als planmäßige, durch die interessierten Kreise gemeinschaftlich durchgeführte Vereinheitlichung von materiellen und immateriellen Gegenständen zum Nutzen der Allgemeinheit". Die Ergebnisse der Normungsarbeit werden als „Deutsche Normen" und ihre Gesamtheit als „Deutsches Normenwerk" bezeichnet. 1990 umfaßte das Normenwerk des DIN etwa 25000 Normen und Normentwürfe. Jährlich werden insgesamt 2800 neue Normen und Entwürfe von etwa 40000 Mitarbeitern erarbeitet, die in 3600 Arbeitsausschüssen tätig sind. Das Verfahren der Normung ist minutiös geregelt. Es wird mit einem Normungsantrag eröffnet, der einen Normvorschlag enthalten soll. Der Antrag kann de jure von jedermann gestellt werden. De facto machen von dieser Möglichkeit zumeist nur die Industrie, Behörden und das DIN selbst Gebrauch. Von den 100 Normungsausschüssen prüft der jeweils zuständige den Antrag unter anderem daraufhin, ob Bedarf für diese Norm besteht, entsprechende Normungsvorhaben bereits bearbeitet werden und die Finanzierung der Normungsarbeit gesichert ist. Lehnt er den Antrag ab, entscheidet über ihn letztlich das Präsidium. Nimmt er ihn an, so erstellt er eine Norm-Vorlage. Diese wird im Normungsausschuß beraten und als Norm-Entwurf verabschiedet. Nach weiteren internen Prüfungen 3
Die folgenden Zitate stammen alle aus DIN 820.
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wird dieser über den eigenen Verlag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gegen den Entwurf kann jedermann innerhalb von vier Monaten Stellungnahmen einreichen, die vom Normungsausschuß beschieden werden. Gegen diese Entscheidung kann ein Schlichtungsverfahren eingeleitet werden, über das in letzter Instanz wiederum das Präsidium entscheidet. Das Präsidium ist entsprechend der satzungsmäßig vorgegebenen Mitgliederstruktur von Vertretern der Industrie beherrscht. In den Normungsausschüssen sollen die „Fachleute aus den interessierten Kreisen" angemessen vertreten sein. Als solche gelten „z.B. Anwender, Behörden, Berufsgenossenschaften, Berufs-, Fach- und Hochschulen, Handel, Handwerkswirtschaft, industrielle Hersteller, Prüfinstitute, Sachversicherer, selbständige Sachverständige, Technische Überwacher, Verbraucher, Wissenschaft". Andere Interessen sind nicht vertreten, Verbraucher sind deutlich unterrepräsentiert. Allerdings vermag der 1974 als ständiger Ausschuß gebildete Verbraucherrat einen gewissen Ausgleich herzustellen. Er kann zwar keine Normen aufstellen, aber Normungsanträge einbringen und Stellungnahmen zu Normentwürfen abgeben. Die Beziehungen des DIN zum Staat sind im Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem D I N vom 5.6.1976 geregelt (Beilage zum BAnz 1975 Nr. 114). Danach erkennt die Bundesregierung das DIN „als die zuständige Normenorganisation für das Bundesgebiet... sowie als die Nationale Normenorganisation in nichtstaatlichen Internationalen Normenorganisationen an". Umgekehrt verpflichtet sich das DIN, „bei seinen Normungsarbeiten das öffentliche Interesse zu berücksichtigen". Aus diesem Grund hat es insbesondere darauf zu achten, „daß die Normen bei der Gesetzgebung, in der öffentlichen Verwaltung und im Rechtsverkehr als Umschreibung technischer Anforderungen herangezogen werden". 2. Internationale Normungsverbände Technische Normung findet nicht nur auf nationaler, sondern zunehmend auch auf internationaler Ebene statt. Als nichtstaatliche Internationale Normenorganisationen wurden bereits 1906 die International Electrotechnical Commission (IEC) und 1946 die International Organization for Standardization (ISO) gegründet. Beide Organisationen sind private Vereine nach Schweizer Vereinsrecht mit Sitz in Genf. Sie setzen sich aus nationalen Normenorganisationen zusammen. 1986 waren in der IEC Normenorganisationen aus 42 verschiedenen Ländern und in der ISO aus 90 Ländern vertreten. Die Bundesrepublik Deutschland wird in der ISO durch das DIN und in der IEC durch die Deutsche Elektrotechnische Kommission im D I N und V D E (DKE) repräsentiert. Die Aufgabe beider Organisationen besteht in der Erstellung internationaler Normen für die unterschiedlichsten Gebiete der Technik. In das „Deutsche Normenwerk" des DIN gehen diese internationalen Normen erst ein, wenn das DIN sie übernommen hat. Noch stärker als auf internationaler Ebene macht sich das wirtschaftliche Bedürfnis nach technischer Standardisierung in Europa bemerkbar. Dieses wird insbesondere durch das in Art. 8a des EWG-Vertrags verankerte Postulat, bis zum 31.12.1992 einen gemeinsamen europäischen Binnenmarkt zu schaffen, erheblich verstärkt. Die wichtigsten nichtstaatlichen europäischen Normenorganisationen sind das 1961 gegründete Comitée Européen de Normalisation (CEN) und das 1971 errichtete Comitée Européen de Normalisation Electrotechnique (CE-
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N E L E C ) . Ihre Mitglieder sind die Normenorganisationen bzw. die nationalen elektrotechnischen Komitees aus insgesamt 17 EG- und EFTA-Staaten. Die Bundesrepublik ist im CEN durch das DIN und im C E N E L E C durch die D K E vertreten. Die europäische Normung der Telekommunikationstechnik erfolgt im Europäischen Institut für Telekommunikationstechnik (ETSI), das 1988 auf Initiative der EG-Kommission gegründet worden ist. Von den 1991271 Mitgliedern des ETSI waren 63% Herstellerfirmen, 11% nationale Telekommunikationsverwaltungen, 9% Anwenderund private Dienstleistungsanbieter, 3% Forschungsinstitute und 14% öffentliche Netzbetreiber. Die Aufgabe der europäischen Normungsorganisationen ist zum einen, die „Europäischen Normen" an die internationalen technischen Normen anzupassen, indem sie diese ergänzen und europaweit vereinheitlichen. Zum anderen erstellen sie neue „Europäische Normen", falls internationale Normen nicht vorliegen. Soweit Richtlinien der EG-Kommission zur Harmonisierung der Bedingungen eines europäischen Binnenmarktes auf technische Normen verweisen, erteilt die EG-Kommission den Europäischen Normungsorganisationen präzise Normungsaufträge, um die damit verbundenen Angleichungsarbeiten zu erfüllen. Im Unterschied zu Normen der ISO und des IEC haben die vom CEN und CENEL E C erarbeiteten Normen für die nationalen Normenorganisationen bindende Wirkung. Sie sind unverändert in das „Deutsche Normenwerk" aufzunehmen. Die Bedeutung der europäischen und internationalen Normung wächst ständig. Im Bereich bestimmter „fortgeschrittener" Technologien wie etwa der Informationstechnik und der Telekommunikation findet so gut wie keine nationale Normung mehr statt. In diesen Technikbereichen können kein Wirtschaftsunternehmen, kein nationaler Normungsverband und auch kein Gesetzgeber es sich leisten, die internationalen technischen Normen zu ignorieren.
V. Rechtliche Geltung der Regeln der Technik Die technischen Normen der privaten Normungsverbände sind Richtlinien privater Vereine, die allenfalls ihre Mitglieder binden. Die technischen Regeln der öffentlich-rechtlichen Sachverständigenausschüsse sind unverbindliche Empfehlungen an den zuständigen Minister. Beide werden in den seltensten Fällen durch eine Verweisung im Gesetz oder der Verordnung mit der Rechtsordnung verbunden. Die Berücksichtigung von Empfehlungen ist nur für die ZKBS durch Gesetz vorgesehen. Die Verknüpfung erfolgt in der Regel durch Interpretation der technischen Standards, die der Gesetzgeber benutzt, um das Geforderte zu umschreiben. Die technischen Normen sind keine Rechtssätze und daher für den Rechtsanwender auch nicht verbindlich. Als Konkretisierung technischer Standards gewinnen sie in der Praxis jedoch die Qualität von Rechtsnormen. Denn den Rechtsanwendern fehlen insoweit andere Maßstäbe. Das Wissen, daß die unbestimmten Rechtsbegriffe im Technikrecht durch technische Normen ausgefüllt werden, wirkt auf die Normungsarbeit zurück. Die privaten Normungsverbände berücksichtigen zwar auch das „öffentliche Interesse". Aber gerade der Umstand, daß der Inhalt einer technischen Norm ohne Abstriche zur Rechtspflicht werden kann, bewirkt vielfach, daß das technische Regelwerk nicht in jedem Fall mit dem tatsächlichen Stand der Technik identisch ist, sondern diesem zum Teil nicht unbeträchtlich hinterherhinkt.
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VI. Politische und verfassungsrechtliche Bewertung Das beschriebene Zusammenwirken zwischen technischer Normung und rechtlicher Regulierung mit Hilfe technischer Standards hat entscheidend mit dazu beigetragen, die technisch-wirtschaftliche Dynamik der vergangenen Jahrzehnte freizusetzen. Indem es die technische Entwicklung gegenüber externen Vorgaben absicherte, ermöglichte es, die technische Entwicklung allein an technikimmanenten und wirtschaftlichen Kriterien zu orientieren. Soweit neuerdings externe Anforderungen an die Technik - wie deren Umwelt- oder Sozialverträglichkeit - formuliert werden, überlassen es die gesetzlichen Regelungen weitgehend den beteiligten Kreisen, durch technische Normung diese in die Entwicklung der Technik aufzunehmen oder abzuweisen. In diesem Regelungsmodell erfolgen die wesentlichen Entscheidungen über die gebotene Sicherheit moderner, schadensträchtiger Techniksysteme durch die Empfehlungen technischer Beratungsgremien und die technischen Normen. Umso erstaunlicher ist es, daß der Gesetzgeber, wenn er schon die zentralen Entscheidungen über technische Sicherheit nicht selbst trifft, in der Regel auch keinen Einfluß darauf nimmt, wer in welchem Verfahren wie diese entscheidende Frage beantwortet. Eine Ausnahme bildet hier das GenTG. Ein solches Regelungsmodell ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Soweit die exekutive Normsetzung auf die Empfehlungen sachverständiger Beratungsgremien zurückgreift, ist festzustellen, daß in den meisten Fällen diese Gremien sehr einseitig besetzt sind. Die Exekutive läßt sich im wesentlichen nur von Sachverständigen beraten, die durchsetzungsorientiert mit dem zu regelnden Techniksystem befaßt sind. Gemessen an den im Sinne der Gemeinwohlintention produktiven Prinzipien pluralistischer Repräsentativität, verbandsmäßiger Gegenmachtbildung und der Chance zur Kontrastinformation der Behörde sind die Beratungsgremien überwiegend defizitär (ausführlicher Denninger: 1990, S. 120ff.). Soweit technische Normen faktisch die Grenze des zulässigen Risikos bestimmen, wird diese meist in einem Kompromiß zwischen wirtschaftlichen und öffentlichen Interessen festgelegt. Entweder wird Wirtschaftsinteressen in den Normungsverbänden bereits satzungsmäßig eine Vorrangstellung eingeräumt, oder ihnen kommt in den ehrenamtlich tätigen Fachausschüssen der Normungsverbände faktisch der bestimmende Einfluß zu. Zwar öffnet sich die private technische Normung in jüngster Zeit auch den Fragen der Technikbewertung und erweiterten Schutzinteressen - wie etwa die Errichtung der „Koordinierungsstelle Umweltschutz" im DIN 4 zeigt. Auch ist nicht ausgeschlossen, daß sich Gruppen an der Normung beteiligen, die bisher nicht zu den interessierten Kreisen zählten. Doch sind, da keine Kostenerstattung erfolgt, meist nur Wirtschaftsunternehmen in der Lage, ausreichend viele Vertreter in die sie interessierenden Gremien zu entsenden. Die Grenzen der Grundrechtsgeltung werden faktisch von privaten Vereinen gezogen, ohne daß diese demokratisch legitimiert wären, und ohne daß sie die Intention auf Gemeinwohlrichtigkeit ihrer Ergebnisse organisatorisch absichern. 4
Diese besteht aus drei Mitarbeitern und einer Hilfskraft und verfügt über einen jährlichen Etat zur Vergabe von Gutachten in Höhe von 30000 DM. Die Kosten werden zu 75% vom Umweltbundesamt getragen.
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Die verfassungsrechtliche Verantwortung des Parlaments und der Vorbehalt des Parlamentsgesetzes ist daher stärker zu akzentuieren, als das BVerfG dies in seiner Einschränkung des Bestimmtheitsgebots getan hat (näher, S. 18 II.). Denn der Hinweis auf die Diskrepanz zwischen der ,Dynamik der Technik' und der ,Starrheit des Gesetzes' beantwortet nicht die Frage nach der parlamentarischen Verantwortung, sondern stellt sie erst. Diese zu bestimmen, erfordert zuallererst, das Dauerhafte von dem schnell Wechselnden zu trennen. Bei aller Dynamik des technischen Wandels sind auch grundsätzliche normative Vorgaben und technisch-wissenschaftliche Weichenstellungen zu treffen, die nicht an das technische Entwicklungstempo gekoppelt sind. Die Schwierigkeiten, Technik zu normieren, dürfen jedenfalls nicht dazu führen, daß das Parlament sich seiner demokratischen Verantwortung entzieht und wesentliche Entscheidungen für die gesellschaftliche und politische Weiterentwicklung der Bundesrepublik Deutschland letztlich von der Deutschen Bundespost Telekom oder dem Verein Deutscher Ingenieure getroffen werden. Um die Diskrepanz zwischen Steuerungsbedarf und gesetzlichen Steuerungsmöglichkeiten zu mildern, ist die Rücknahme von Entscheidungskompetenzen des Parlaments und damit korrelierend die Selbstprogrammierung der Verwaltung und die Freisetzung des sich selbst organisierenden Subsystems Technik der falsche Weg. Denn er führt zu einem Funktionsverlust der Demokratie. Vielmehr muß die Schwierigkeit gesetzlicher Technikgestaltung als Aufgabe angenommen werden, andere adäquate gesetzliche Regelungsverfahren und -formen zu suchen. Die Möglichkeiten parlamentarischer Gestaltung der Technik gehen erheblich weiter, als dies bisher praktiziert wird (hierzu § 17 und § 20). Zumindest zwei wesentliche Entscheidungen für die technische Sicherheit sollte das Parlament selbst treffen. Zum einen sind die grundsätzlichen Bestandteile der zu praktizierenden Sicherheitsphilosophie - wie die Präzisierung dessen, was unter Sicherheit oder Schädlichkeit verstanden werden soll, die Bestimmung der Betrachtungsweise, nach der Risiken festzustellen und zu bewerten sind, die Festlegung einer allgemeinen Schwelle, ab der ein Risiko als inakzeptabel gelten soll, sowie die Entscheidung für eine akzeptable Schadensobergrenze (näher Roßnagel: 1993) - als wesentliche Entscheidungen gesetzlich festzulegen. Zum anderen sind, soweit das Parlament sich in seiner Gesetzgebung direkt oder indirekt des Sachverstands technischer Beratungsgremien und technischer Normungsverbände bedient, in dem Technikgesetz selbst die grundsätzlichen Regelungen über deren Aufgaben, Zusammensetzung und Verfahrensweise zu treffen. Der Gesetzgeber muß zumindest dafür Sorge tragen, daß die elementaren Kriterien der Verfahrensgerechtigkeit und die Intention auf Gemeinwohlrichtigkeit organisatorisch gewährleistet sind (näher Denninger: 1990; Lübbe-Wolff: 1991).
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§ 20 Technik und Parlamentarische Souveränität Alexander Roßnagel I. Wirkung der Technik im Grundrechtsbereich. - II. Legislative Verantwortung für die Sicherung der Grundrechte - III. Parlamentarische Regulierung technischer Dynamik.
Grundlagenliteratur B u m s , T o m / U e b e r h o r s t , Reinhard (1988): Creative Democracy. New York u.a. Enquete-Kommission "Gestaltung der technischen Entwicklung" des Deutschen Bundestages (1989): Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung einer ständigen Beratungskapazität für Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung, beim Deutschen Bundestag. Bonn. BT-Drs. 11/4606. Dreier, Horst / H o f m a n n , Jochen (Hg.) (1986): Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung. Berlin. Grimmer, Klaus (1986): „Herstellung des Verfassungsrechts in der Wissenschafts-und Technologiepolitik". In: Recht und Politik, S. 201ff. Hill, Hermann (Hg.) (1989): Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung. Berlin. Lampe, Ernst-Joachim (Hg.) (1989): Verantwortlichkeit und Recht. Opladen. Lawrence, Christian (1989): Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung. Berlin. Petermann, Thomas (Hg.) (1990): Das wohlberatene Parlament. Berlin. Roßnagel, Alexander (1992): „Die parlamentarische Verantwortung für den technischen Fortschritt". In: ZRP, S. 55ff. Saladin, Peter (1984): Verantwortung als Staatsprinzip. Bern u.a. Schultze-Fielitz, Helmuth (1988): Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung. Berlin. Wagner-Döbler, Roland (1989): Das Dilemma der Technikkontrolle. Berlin. Westphalen, Raban Graf von (Hg.) (1988a): Technikfolgenabschätzung als politische Aufgabe. München. siehe auch Hilfsmittel Teil B, V.
Die Auswirkungen technischer Entwicklungen auf Grundrechte beschränken sich nicht nur auf die Erzeugung von Risikolagen. Sie verändern vielmehr die Verwirklichungsbedingungen fast aller Grundrechte. Über die in §§ 18 und 19 dargestellten Probleme parlamentarischer Verantwortung und Regelsetzung im Bereich technischer Risiken hinaus entwickeln sich daher Verantwortungsbereiche und Handlungsnotwendigkeiten des Parlaments auch gegenüber den sozialen Wirkungen der technischen Entwicklung.
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I. Wirkung der Technik im Grundrechtsbereich Betrachten wir beispielhaft einige solcher künftig möglichen positiven und negativen Veränderungen. In allen drei Beispielen dürften das Zusammenwirken technischer Entwicklungen, künftiger Anwendungsbedingungen, gesellschaftlicher Interessen und deren Handlungsstrategien schwerwiegende gesellschaftliche Veränderungen bewirken, die, wenn sie einmal eingetreten sind, kaum wieder rückgängig zu machen sind. (1) Unterstellen wir, die Methoden der Fortpflanzungsmedizin mittels tiefgekühlter Samenbanken, künstlicher Befruchtung im Reagenzglas, Embryonentransfer und pränataler Diagnostik werden künftig weiter perfektioniert. In unserer leistungsbetonten Zeit gewinnen auch leichte Störungen und Handicaps zunehmende Bedeutung für Entwicklung, Integration, Fortkommen und Behauptung. Kann unter diesen beiden Umständen ausgeschlossen werden, daß verantwortungsbewußte Eltern es künftig kaum noch wagen werden, ihrem Kind die Möglichkeit eines solchen Handicaps zuzumuten. Um der optimalen Startchancen ihrer Kinder willen könnten sich verantwortungsbewußte Eltern veranlaßt sehen, auf Eispende und Samenspende, künstliche Befruchtung und pränatale Überwachung zurückzugreifen (hierzu näher Beck-Gernsheim: 1988, S. 104ff.). Wird die Technik der Fortpflanzungsmedizin genutzt, um genetische Anomalien zu vermeiden, wird die Eigendynamik zu einer Qualitätskontrolle des Nachwuchses kaum mehr zu begrenzen sein. Der soziale Anpassungsdruck, der von dieser Technik ausgeübt wird, treibt zu deren immer weiteren Nutzung. Darf der Staat die Eltern wieder auf die traditionelle ,genetische Lotterie' verpflichten, wenn eine gezielte genetische Auswahl möglich ist und praktiziert wird? Kann er die genetische „Konsumentenwahl, die als Selbstbestimmung auftritt", überhaupt noch verhindern, wenn er die Technik soweit sich hat entwickeln lassen, oder fordern dann gar die technischen Möglichkeiten von ihm eine „genetische Fürsorge" zum Wohl des Kindes? (van den Daele: 1985, S. 52,141.) Dürfte sich unter diesen Umständen nicht eher anbieten, Persönlichkeitsentfaltung, Menschenwürde oder Elternrecht,zeitgemäß' zu interpretieren? (2) Künftig dürften nahezu alle Unternehmen, Behörden und Organisationen vom Funktionieren ihrer Computernetzwerke so sehr abhängig sein, daß sie ohne diese nicht mehr weiterarbeiten könnten. Die Computersysteme werden aber gegen die Angriffsformen des 21. Jahrhunderts - ,Viren', .logische Bomben' und sonstige ,Trojanische Pferde' - sehr anfällig sein. Während gegen externe Angreifer technisch ein weitgehender Schutz gewährleistet werden kann, sind bisher gegen solche Angriffe von innen keine ausreichenden technischen Sicherungsmöglichkeiten abzusehen. Die computerabhängigen Unternehmen, Behörden und Organisationen sind dann auf die Vertrauenswürdigkeit ihrer Mitarbeiter angewiesen. Da diese nicht unterstellt werden kann, müssen sie zur Sicherung ihrer ,Nervenzentren' und ,Nervenbahnen' alle die Mitarbeiter überprüfen und überwachen, die Angriffe gegen Computersysteme durchführen könnten (ausführlich Roßnagel/Wedde/Hammer/Pordesch: 2 1990). Ohne Beeinträchtigung von Freiheitsrechten werden die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen jedoch nicht durchgeführt werden können. Sind aber erst einmal ,Sachzwänge' geschaffen - in Form hoher Investitionen oder organisatorisch verfestigter Strukturen und Abläufe - , können diese nicht kurzfristig beseitigt werden - auch nicht, wenn durch unbeeinflußbare Ereignisse plötzlich die Bedro-
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hung von Informations- und Kommunikationstechnik-Systemen ansteigt. Statt das Schadenspotential durch Stillegung dieser Anlagen zu reduzieren, würde sich schon eher anbieten, die Überprüfung und Überwachung der Mitarbeiter und ihres sozialen Umfeldes sowie die präventiven Kontrollen im gesellschaftlichen Raum als verhältnismäßige Maßnahmen zur Sicherung überragender Rechtsgüter zu legitimieren. (3) Um ein letztes - positives - Beispiel zu geben: Angenommen die Politik würde die künftigen Umstrukturierungen im Informationssektor nicht am Leitbild der Kommerzialisierung, sondern der Optimierung der Informationsfreiheit orientieren, könnte eines Tages vielleicht tatsächlich eine sozio-technische Struktur entstehen, die es jedem gestattet, „sich in einer intellektuell außerordentlich reichhaltigen Welt psychisch mobil zu bewegen" (Haefner: 1984, S. 169). Eine breite, nicht kommerzialisierte Informationsinfrastruktur würde auf der Basis künftiger Informations- und Kommunikationstechnik jedem einen leichten und kostenlosen Zugriff auf gesellschaftlich relevante Informationen ermöglichen. Der Zugang zu den Datenbanken und das Finden der gesuchten Information werden durch ,natürlich-sprachliche' Expertensysteme erheblich erleichtert. Viele Bürgergruppen unterhalten eigene kostenlose Informationsdienste, die themenspezifisch Informationen sammeln und aufbereiten. Sie sorgen für die augenblickliche Verbreitung wichtiger Informationen, werden zur schnellen Meinungsbildung in aktuellen Fragen genutzt und erhöhen dadurch die Reaktions- und Organisationsfähigkeit außerparlamentarischen Gruppen (näher Hammer: 1989 S. 61ff.). In diesem Beispiel verändert eine neue technische und organisatorische Infrastruktur die tatsächlichen Grundlagen der „allgemeinzugänglichen Quellen" (Art. 5 Abs. 1 GG) und erweitert damit faktisch die Informationsfreiheit. Zugleich führt sie zu einer größeren sozialen und politischen Chancengleichheit. Auch eine solche Entwicklung wäre nur schwer wieder zurückzunehmen. Die durch die gewählten Techniksysteme, Organisationsformen und Verfahrensabläufe verfestigten Strukturen sperren sich gegen jede radikale Veränderung. Hat Technikeinsatz auf die jeweils beschriebene Weise die Wirklichkeit verändert, wird dies nicht ohne Rückwirkung auf die rechtlichen Begriffe bleiben, die dazu bestimmt sind, diese Wirklichkeit und ihre Entwicklung zu ordnen und gefährdete Interessen zu schützen. Nutzen viele Eltern die Möglichkeiten genetischer Qualitätskontrolle und künstlicher Lebenserzeugung, haben wir uns an die Maßnahmen zur Sicherung der Informations- und Kommunikationstechnik oder an den jederzeitigen, kostenlosen Zugriff auf das publizierte Wissen gewöhnt, so werden sich auch unsere Begriffe von Freiheit, Selbstbestimmung, Privatsphäre oder Elternschaft gewandelt haben. Die stille und allmähliche Veränderung der Rechtsbegriffe wird auch unsere Wertmaßstäbe wandeln. Die veränderte Wirklichkeit wird durch die so gewandelten Begriffsinhalte legitimiert werden. Da uns dann der kritische Maßstab fehlt, werden wir die Verluste und Gewinne für die ursprünglichen Rechtsziele gar nicht mehr als solche wahrnehmen. Die normativen Veränderungen werden sich allenfalls noch dem historischen Rückblick erschließen.
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II. Legislative Verantwortung für die Sicherung der Grundrechte Keines der betrachteten Beispiele ist zwangsläufig zu erwarten. Die Durchsetzung dieser Techniksysteme ist kein naturgesetzlich ablaufender, sondern ein sozialer Prozeß. Durch das rapide Tempo, in dem technische Neuerungen entwikkelt und eingesetzt werden, verläuft dieser derzeit weitgehend unkontrolliert. Inwieweit das Parlament auf solche Veränderungen der Verwirklichungsbedingungen von Grundrechten Einfluß nehmen muß, hat das BVerfG in seiner KalkarEntscheidung erörtert: „Die staatlichen Organe (sind) aus ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht, dem gemeinen Wohl zu dienen, insbesondere (aus) der ... Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Würde des Menschen zu schützen, gehalten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und ihnen mit den erforderlichen, verfassungsmäßigen Mitteln zu begegnen" (BVerfGE49,89 (131)). Entgegen der herrschenden Meinung in der Rechtswissenschaft, die aufgrund der Schwierigkeiten parlamentarischer Rechtsetzung das Parlament von seiner Verpflichtung zur rechtlichen Techniksteuerung weitgehend freispricht (näher § 18 II.), ist angesichts der möglichen Gefährdung von Grundrechten durch die technische Entwicklung die Aufgabe des Grundrechtsschutzes besonders zu akzentuieren. Denn das Bundesverfassungsgericht verpflichtet in diesem Zitat die staatlichen Organe zu einem kontinuierlichen, zukunftsgerichteten Lernprozeß. Zu dessen Strukturierung statuiert es eine Beobachtungspflicht, eine Bewertungspflicht und eine Handlungspflicht. Diese Pflichten treffen aus folgenden Gründen vor allem das Parlament: Soweit Grundrechte nicht nur als subjektive Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe verstanden werden, sondern ihnen auch eine schützende und staatliches Handeln leitende Funktion zuerkannt wird, sind die Veränderungen ihrer Verwirklichungsbedingungen grundrechtsrelevante Tatsachen. Das Parlament ist danach nicht nur zu einer Abwehr von Schäden, sondern auch zu einer aktiven, umfassenden, vorausschauenden Vorsorge für Freiheits- und Gleichheitsrechte verpflichtet. Aus seiner Verantwortung für das Recht hat das Parlament weiter zu berücksichtigen, daß technische Entwicklungen in der Lage sind, das Rechtssystem selbst zu verändern, indem sie den Rechtsbegriffen eine faktisch grundlegende Rechtsziele verändernde Bedeutung geben, ohne daß diese durch gesetzgeberischen Willen legitimiert ist. So ist neben den bereits genannten Beispielen keineswegs auszuschließen, daß die Sicherungsmaßnahmen, die mit der Nutzung und dem Ausbau der Atomenergie unvermeidlich verbunden sind, die Interpretation der Freiheitsrechte beeinflussen (näher Roßnagel: 1984a). Das Parlament hat dafür Sorge zu tragen, daß die Technik, eben weil sie in steigendem Maße die Daseinsverhältnisse bestimmt, die Prinzipien der Rechts- und Sozialstaatlichkeit und das Demokratiegebot nicht überformt. Schließlich verpflichten Rechtsstaat und Demokratie das Parlament, die wesentlichen Entscheidungen, die für das politische Leben und die staatliche und gesellschaftliche Ordnung von grundsätzlicher Bedeutung sind oder Auswirkungen auf die Grundrechte haben, selbst zu treffen. Wenn technische Entwicklungen die Lebensbedingungen heute und für die Zukunft entscheidend prägen, dürfen die Entscheidungen über technische Alternativen nicht der Exekutive oder privaten Interessenten überlassen werden. Sie müssen vielmehr Gegenstand demokrati-
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scher Willensbildung sein (hierzu und zu den Argumenten der Gegenmeinung näher §18 II.). U m seiner Verantwortung gerecht werden zu können, hat das Parlament die möglichen Auswirkungen von technischen Entwicklungen auf die Grundrechte und das Rechtssystem insgesamt systematisch zu beobachten und eine schleichende Aushöhlung von Rechtsnormen zu verhindern, zumindest dieser entgegenzuwirken (z.B. Westphalen/Neubert: 1988a, S. 267ff.). Trotz der möglicherweise dramatischen Effekte für konstitutive Grundsätze unserer Rechtsordnung wurde das Problem der technikinduzierten gesellschaftlichen Folgen vom Parlament bisher kaum als Herausforderung aufgenommen. Die Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung" faßt ihre Untersuchungen so zusammen: „Diese Aufgabe kann der Bundestag ... bislang nicht ausreichend wahrnehmen. Deshalb bestehen zum Teil auch starke verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die gegenwärtige Situation. Zentrale technologiepolitische Entscheidungen, deren Auswirkungen weit über den Bereich der Technik selbst hinausreichen, werden bislang häufig ohne rechtzeitige Einbeziehung des Parlaments durchgesetzt" 1 . Rechtliche Regulierung hat für das Parlament bisher nur die Funktion, Konflikte um Technik zu regeln, sowie die Aufgabe, Rechtsgüter gegen Gefahren zu schützen oder solchen Gefährdungen vorzubeugen (Zur Begründung z.B. Murswiek: 1990). Dabei beschränkt sich Technikrecht überwiegend auf den Nachvollzug technischer Vorgaben. Abgesehen vom Planungsrecht ist das „technikbezogene Verwaltungsrecht nicht Techniksteuerungs- oder Technikgestaltungsrecht, sondern Nebenfolgenbegrenzungsrecht" (Murswiek: 1990, S. 209f.). Präziser gefaßt ist das Technikrecht entweder Technik freisetzendes oder Technikfolgen begrenzendes Recht. Als freisetzendes Recht versucht es, die private Initiative der Entwicklung und Verwertung von Technik zu mobilisieren, indem es einen rechtlichen Handlungsrahmen und eine Infrastruktur bereitstellt. Als begrenzendes Recht versucht es, die unmittelbaren sozialen Kosten der sich entwickelnden Techniksysteme zu verhindern oder zu vermindern, ohne in der Regel die Entwicklung der Technik selbst zu behindern. U m seiner Verantwortung für die Weltveränderungskapazität von Technik gerecht zu werden, darf das Parlament sich nicht darauf beschränken, die technische Entwicklung in dem Sinn zu beeinflussen, daß die mit der Herstellung und Verwendung technischer Systeme verbundenen Risiken für Rechtsgüter ein a k zeptables' Maß nicht übersteigen. Um aber auch die langfristigen sozialen Auswirkungen beeinflussen zu können, ist es vielmehr erforderlich, die Technik nach eigenständigen rechtlichen Kriterien zu steuern. Eine Steuerung aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist erforderlich, weil zum Beispiel • bei einer unkoordinierten Selbststeuerung der Akteure nicht vorhersehbare kumulative und synergistische Effekte entstehen können, die ein einzelner nicht vorhersehen und auch nicht beeinflussen kann; • in einer interessengespaltenen Gesellschaft sozial unverträgliche Auswirkungen gerade durch die Techniknutzung im Eigeninteresse eines der Beteiligten entstehen; 1
Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung", BT-Drs 11/4606, 5; s. auch den Einsetzungsbeschluß des Deutschen Bundestages für die Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung und-Bewertung", BT-Drs 10/2973,4.
5. Kap.: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung
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• der Markt schließlich blind ist für soziale Technikfolgen, die sich nicht in einer veränderten Nachfrage auswirken. Bisher jedoch werden Techniksysteme weitgehend ohne Prüfung ihrer Sozialoder Rechtsverträglichkeit eingeführt. Sollen sie aber in der rechtlichen Techniksteuerung berücksichtigt werden, bedarf es hierfür neuer Ansatzpunkte rechtlicher Regulierung.
III. Parlamentarische Regulierung technischer Dynamik Die Dynamik technischer Entwicklungen, die Komplexität der Anwendungsmöglichkeiten und die Ungewißheit künftiger Technikfolgen sowie der inkrementale Prozeß des ,Werdens' technischer Systeme erfordern für die Gestaltung moderner Schlüsseltechnologien' veränderte Zielsetzungen sowie neue Institutionen, Strukturen und Instrumente, wenn das Parlament seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben gerecht werden will. Dabei ist zu beachten, daß sowohl im Prozeß der Technikgenese als auch im Prozeß der Gesetzesentstehung das Parlament jeweils nur ein Akteur unter anderen ist. In beiden Prozessen spielt es aber eine herausgehobene Rolle, weil es Träger zurechenbarer Verantwortung für die Folgen der Technik ist. Ein realitätsgerechtes Aufgabenverständnis muß daher die reale Funktionsverschiebung reflektieren, die im Prozeß der Gesetzgebung gegenüber dem klassischen Modell der Gewaltenteilung eingetreten ist. Der parlamentarische Teil des Gesetzgebungsverfahrens ist nur noch als Kontrollverfahren angemessen zu begreifen (SchulzeFielitz: 1986, S. 94). Vorschläge zur Optimierung des Gesetzgebungsprozesses im Technikbereich - wie sie im folgenden in Abgrenzung zur gegenwärtigen Praxis unterbreitet werden - müssen sich daher auch an die Ministerialverwaltung wenden , vor allem aber die Kontrollfähigkeit des Parlaments stärken. Ziel parlamentarischer Technikgestaltung muß neben dem Schutz der Grundrechte und der Erhaltung von Zukunftschancen vor allem sein, die Lernfähigkeit des Staates und der Gesellschaft zu sichern, indem es seine Infrastruktur zur Aufnahme und Verarbeitung komplexer Informationen verbessert, seine Methode der Gesetzgebung der technischen Dynamik anpaßt und inhaltlich stärker in den Bereich der Technik eindringt (zum folgenden näher Roßnagel: 1992).
1. Institutionen Um möglichst vorgreiflich lernen zu können, muß das erforderliche Zukunftswissen in organisierten Verfahren erworben und an das Parlament vermittelt werden. Bei der Langfristigkeit und Komplexität der Technikfolgen kann nicht mehr auf spontane Erfahrungsbildung vertraut werden. Auch kann die Komplexität der Aufgaben nicht mehr durch individuelle Lernprozesse bewältigt werden. Für seine Aufgabe der Technikfolgen-Abschätzung und -Gestaltung bedarf das Parlament geeigneter Institutionen. Um Legislaturperioden übergreifende Betrachtungsweisen zu gewährleisten und externen Sachverstand problemspezifisch zu erschließen, könnte zum einen daran gedacht werden, das Instrument der Enquete-Kommissionen verstärkt zu nut-
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5. Kap.: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung
zen und andererseits nach dem Vorbild anderer Länder Ämter zur Technikfolgen-Abschätzung einzurichten (hierzu §§11V., 12und 16III.). Die Beurteilung von Risiken und die Bewertung von Gegenmaßnahmen sind weitgehend von subjektiven Wertungen abhängig. Gerade deshalb ist es erforderlich, daß das Parlament vermeidet, von einer Seite der wissenschaftlichen Kontroverse abhängig zu sein und dadurch möglicherweise relevante Gesichtspunkte zu vernachlässigen. Durch Parallelforschung, Reviewstudien und institutionelle Absicherung kritischer Diskursprozesse sollten jeweils die ungesicherten Behauptungen und impliziten Vorurteile des Gegenstandpunktes herausgearbeitet werden. Durch die institutionalisierte gegenseitige Kritik könnte auch die Attitüde der Irrtumslosigkeit in der Wissenschaft aufgehoben werden.
2. Verfahren In einem dynamischen, komplexen und von Ungewißheit geprägten Handlungsfeld wie der Entwicklung moderner Techniksysteme kann Gesetzgebung nicht mehr auf eine abgeschlossene Kodifikation eines allgemeinen Verhaltensmodells zielen und sich in einer einmaligen gesetzgeberischen Entscheidung sowie gelegentlichen Novellierungen erschöpfen. Vielmehr ist ein auf gesellschaftliche Erfahrungsbildung und Selbstkorrektur angelegter Prozeß anzustreben, der den Gesetzgeber unterstützt, seine „Nachbesserungspflicht" (hierzu § 18 II.) - möglichst vorgreiflich - zu erfüllen. Notwendig sind dynamische und komplexe Gesetzgebungsverfahren, die der Dynamik und Komplexität ihres Regelungsgegenstandes annähernd adäquat sind. Um die Zukunftsoffenheit gesellschaftlicher Lernprozesse sicherzustellen, könnten die ungeplanten, hinsichtlich möglicher Zukunftsfolgen auf impressionistischen Beurteilungen aufbauenden Dauernovellierungen heutiger Technikgesetze ersetzt werden durch Sequenznormen. Diese strukturieren zeitlich die Entwicklung technischer Systeme. Sie sind befristet und binden die einzelnen Entwicklungsschritte an jeweils vorangegangene Folgenanalysen und Sicherungen gegen ungewollte Folgen. Diese legislatorische Vorgehensweise ermöglichte, Fehlentwicklungen relativ schnell zu korrigieren und technische wie systemare Alternativen länger offenzuhalten. Der Gesetzgeber sollte für den jeweiligen Bewertungs- und Entscheidungsprozeß zumindest vier Prüfungsschritte vorsehen und deren jeweils spezifische organisatorische Voraussetzungen gewährleisten. (1) Alternativen entwickeln Eine normative Steuerung der Technikentwicklung ist nur möglich, wenn zwischen der Nutzung und der Nichtnutzung einer bestimmten Technik oder zwischen funktional-äquivalenten Alternativen gewählt werden kann. Zu einer geplanten Entscheidung müßten daher immer auch mögliche Alternativen dargestellt werden. Entscheidungsmöglichkeiten erhält sich der Gesetzgeber nur dann, wenn er bestehende sozio-technische Verzweigungssituationen identifiziert und offenhält. Diesen Entscheidungsspielraum kann er jedoch nur erhalten oder sogar ausweiten, wenn er sich nicht auf ein Technik-System fixiert und sich von diesem abhängig macht, sondern technologiepolitisch neutral möglichst viele technische Alternativen fördert. Wegen der hohen Entwicklungskosten moderner
5. Kap.: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung
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Technologien wird diese Offenheit allerdings nur zeitlich begrenzt gewährleistet werden können. (2) Implikationsanalysen erstellen Für diese Alternativen sind die sozialen, rechtlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen abzuschätzen. Da die wissenschaftliche Kapazität zur Durchführung der erforderlichen zukunftsorientierten Implikationsanalysen weitgehend fehlt, ist sie durch entsprechende Nachfrage und den dauerhaften Aufbau von Forschungsmöglichkeiten zu schaffen. Folgenabschätzungen dieser Art sollten auch dazu beitragen, daß sich die betroffenen gesellschaftlichen Gruppen möglichst frühzeitig mit den technischen Veränderungen auseinandersetzen. (3) Folgen bewerten In einem dritten Schritt sind die Implikationen der technischen Alternativen nach allen relevanten Beurteilungskriterien zu bewerten. Die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig offenen Bewertungsprozesse erfordern eine hinreichend diskursive Erörterung der verschiedenen Alternativen in der Öffentlichkeit und in den gesetzgebenden Körperschaften. Nur wenn alle kontroversen Argumente aufgenommen und bearbeitet werden, sind die Bewertungen intersubjektiv vermittelbar, konsensfähig und demokratisch legitimierbar. (4) Regelungsprogramme entwickeln Aus der Bewertung sind schließlich rechtspolitische Schlußfolgerungen für die konkurrierenden Alternativen zu ziehen. Um die gesellschaftliche Lernfähigkeit im Umgang mit riskanten Technik-Systemen zu erhalten, sind die Entscheidungen zu befristen und vom weiteren gesellschaftlichen Lernprozeß im Umgang mit der Technik abhängig zu machen.
3. Inhalte Werden qualitative, rechtliche Anforderungen auf die Technik projiziert, ohne in der Sprache der Technik reformuliert zu werden, so werden die Techniker die Technik unbeeinflußt von diesen Vorgaben nach eigenen, technikimmanenten Kriterien entwickeln und das jeweilige Ergebnis am Ende als Erfüllung der qualitativen rechtlichen Anforderung präsentieren (zum folgenden ausführlicher Roßnagel: 1993, S. 209ff.). Das unverbundene Nebeneinander von rechtlichen Generalklauseln und technischer Entwicklungsdynamik verhindert eine rechtliche Beeinflussung der Technik, weil Technik und Recht durch unterschiedliche Rationalitäten, unterschiedliche Begriffswelten und eine unterschiedliche „Semantik" geprägt sind. Durch die Aufnahme technischer Standards ins Recht aber wird die „Herrschaft des Ingenieurwissens" zum unmittelbaren legislativen Programm (Wolf: 1987, S. 357ff.). Zwar fehlt dem Parlament die fachliche Kompetenz, durch Rechtssetzung innertechnische Fragen zu entscheiden. Meist wird aber übersehen, daß viele Fragen der Technikentstehung, -entwicklung, -Verbreitung und - nutzung nichttechnischer Natur sind. Jede Technik ist als sozio-technisches System immer in gesellschaftliche und personale Handlungs-, Wissens-, Sach- und Institutionsstrukturen eingebunden und hat jeweils auch unmittelbare Auswirkungen auf Menschen, Organisationen und Gesellschaften. Jede Technikentwicklung und -anwendung erfordert daher nicht nur technisches, sondern immer auch soziales, po-
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5. Kap.: Parlament, Rechtsetzung und technische Entwicklung
litisches und kulturelles Wissen. Wann, wozu, in welchem Ausmaß, zu welchen Kosten, zu wessen Vor- und wessen Nachteil Technik entwickelt, eingesetzt und genutzt werden soll, kann mit den Methoden und Kriterien der Technik- und Naturwissenschaften nicht entschieden werden (hierzu z.B. Weinberg: 1979; Burns/ Ucberhorst: 1988; Dierkes/Hoffmann/Marz: 1992; auch § 16 II.). Zumindest soweit diese nicht-technischen Aspekte berührt sind, enthält jede Entscheidung über Technik auch Wertentscheidungen, für die Naturwissenschaftler und Techniker weder eine besondere Kompetenz noch eine besondere Legitimation beanspruchen können. Solche politischen Entscheidungen sind vor allem in der Auswahl von Techniksystemen zu treffen. Meist stehen zur Befriedigung von Bedürfnissen mehrere funktionsäquivalente Alternativen zur Verfügung. So kann etwa das Bedürfnis, im Winter in warmen Räumen zu leben, weitgehend alternativ durch Energieeinsatz oder Maßnahmen zur Wärmedämmung befriedigt werden. In vielen Fällen konkurrieren auch systemare alternative Technikkonzepte miteinander. Beispielsweise kann die erforderliche Nutzenergie in vielen Anwendungsbereichen alternativ durch das Verbrennen fossiler Energieträger, durch Atomkernspaltung oder durch die Nutzung regenerativer Energiequellen erzeugt werden. In all diesen Fällen muß über die Techniksysteme zwar unter Berücksichtigung ihrer technischen Eigenschaften aber nach außer-technischen Kriterien entschieden werden - möglichst unter Kenntnis und Bewertung ihrer Folgewirkungen (Meyer-Abich: 1988). Ähnliches gilt für die Ausgestaltung der Technik. So wird die Sicherheitsauslegung technischer Anlagen nur zu einem beschränkten Teil nach technischen Kriterien konzipiert. Welche Risiken überhaupt berücksichtigt werden sollen, welches Sicherheitskonzept verfolgt wird, welches Sicherheitsniveau als ausreichend gilt, sind Fragen, die sich nicht nach den disziplineigenen Methoden der Ingenieur- und Naturwissenschaften beantworten lassen, sondern Entscheidungen nach außer-technischen Kriterien - wie etwa Wirtschaftlichkeit oder Grundrechtsschutz-erfordern (Roßnagel: 1993). Die nicht-technischen Entscheidungsanteile an Technikauswahl und Technikgestaltung sollten daher auch der vorrangige Ansatzpunkt für eine parlamentarische Techniksteuerung sein. Werden diese Fragen dem demokratischen Willensbildungsprozeß überwiesen und als dessen Ergebnis rechtsförmig entschieden, dilletieren weder Politik noch Recht in fremden Bereichen, sondern regeln die Aspekte sozio-technischer Systeme, die nicht-technischer Art sind. Werden diese Gegenstand parlamentarischer Beratung und Entscheidung, könnte es dem Parlament gelingen, Einfluß auf die Dynamik der technischen Entwicklung zu gewinnen (skeptischer z.B. van denDaele: 1989).
6. Kapitel: Die Parlamente in Kommunen, Ländern und die Beziehungen zum Europäischen Parlament § 21 Kommunale Demokratie Oscar W. Gabriel / Everhard Holtmann I. Kommunale Demokratie - Zum Wandel der Selbstverwaltungsdoktrin in Deutschland
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II. Das Recht der kommunalen Selbstverwaltung nach dem Grundgesetz .
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III. Die Organisation der kommunalen Ebene IV. Typen der Inneren Gemeindeverfassung in der Bundesrepublik Deutschland 1. Die Beteiligungsrechte der Bevölkerung 2. Die kommunalen Organe, ihre Aufgaben und Beziehungen
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V. Zur Praxis politischer Willensbildung und Entscheidung auf der kommunalen Ebene 1. Systeminduzierte Politisierung: Machtverlust der Gemeindeparlamente 2. Probleminduzierte Politisierung: Parteienstaat statt Sachpolitik?
475 476 478 480 481 483
VI. Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung
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VII. Kommunale Selbstverwaltung im Bundesstaat
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§ 22 Landesparlamente Uwe Jun I. Föderalismus und Landesparlamente
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II. Funktionen und Zuständigkeiten der Landesparlamente 1. Gesetzgebung: Kaum noch eigene Zuständigkeiten? a) Die Rolle der Landtage im Prozeß der europäischen Integration b) Weitgehender Verzicht auf Gesetzgebungskompetenzen . . . . 2. Wahl der Regierung 3. Kommunikation : Die Landtage stehen nur selten im öffentlichen Blickpunkt 4. Kontrolle der Regierung: Wichtigste Aufgabe der Landtage
491 492 495 498 499 501 502
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6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. das Europ. Parlament
III. Der Abgeordnete
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IV. Das Verhältnis von Regierung und Opposition 1. Parteiendemokratie und Bundesstaatlichkeit 2. Der Bundesrat als ausschließliche Kammer der Länderexekutive 3. Die Rolle der Opposition
508 508 510 511
. . .
V. Aussichten: Die Landesparlamente nach der Deutschen Einigung . . .
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§ 23 Parlamentarische Souveränität und europäische Integration Jürgen Bellers I. Die „Geburt Europas" im Schöße der Parlamente
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II. Der Zwang zur europäischen Einigung auf Kosten der nationalen Parlamente
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III. Kurze Geschichte der europäischen Einigung
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IV. Entscheidungsverfahren in den Europäischen Gemeinschaften (EWG, EURATOM, EGKS)
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V. Die Antwort des Deutschen Bundestages auf die europäischen Entwicklungen 1. Das formale Verfahren 2. Fraktionelle und interfraktionelle Regelungen 3. Der neue EG-Ausschuß
521 521 522 525
VI. Resümee
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6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. das Europ. Parlament
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§ 21 Kommunale Demokratie Oscar W. Gabriel / Everhard Holtmann I. Kommunale Demokratie - Zum Wandel der Selbstverwaltungsdoktrin in Deutschland. - II. Das Recht der kommunalen Selbstverwaltung nach dem Grundgesetz. - III. Die Organisation der kommunalen Ebene. - IV. Typen der Inneren Gemeindeverfassung in der Bundesrepublik Deutschland. - V. Zur Praxis politischer Willensbildung und Entscheidung auf der kommunalen Ebene. VI. Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung. - VII. Kommunale Selbstverwaltung im Bundesstaat. Grundlagenliteratur Borchmann, Emil / Vesper, Michael (1977): Reformprobleme im Kommunalverfassungsrecht. Stuttgart u.a. Derlien, Hans Ulrich / Gürtler, Christoph / Holler, Wolfgang /Schreiner, Hermann Josef (1976): Kommunalverfassung und kommunales Entscheidungssystem. Meisenheim. Gabriel, Oscar W. (Hg.) (1989): Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung. München. Gunlicks, Arthur B. (1986): Local Government in the German federal system. Durham. Naßmacher, Hiltrud / Naßmacher, Karl-Heinz (1979): Kommunalpolitik in der Bundesrepublik. Opladen. Püttner, Günter (Hg.) ( 2 1982). Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Berlin u.a., 6 Bde. Schimanke, Dieter (Hg.) (1989): Stadtdirektor oder Bürgermeister. Basel u.a. Voigt, Rüdiger (Hg.) (1984): Handwörterbuch zur Kommunalpolitik. Opladen. Wehling, Hans Georg (1986a): Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. siehe auch Hilfsmittel Teil B, VI., 1.
I. Kommunale Demokratie Zum Wandel der Selbstverwaltungsdoktrin in Deutschland In einer vor 30 Jahren veröffentlichten „Parlamentslehre" hätte man nach einem Beitrag über die „Kommunale Demokratie" wohl vergeblich gesucht. Schon die in dieser Bezeichnung hergestellte Verbindung zwischen den Begriffen Kommune und Demokratie ist der deutschen Selbstverwaltungstradition fremd. Vielmehr wurden der „Staat" und die „kommunale Selbstverwaltung" lange Zeit als klar voneinander getrennte Sphären angesehen. Noch die Weimarer Reichsverfassung spiegelte diese Antinomie wider, indem sie die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 127) neben den Bestimmungen über den Schutz der Familie und der Jugend, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit usw. in den Abschnitt über das Gemeinschaftsleben aufnahm. In Anknüpfung an die
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6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. das Europ. Parlament
Selbstverwaltungsdoktrin des vordemokratischen Deutschland sah man im Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden kein Strukturmerkmal einer dezentralen demokratischen Staatsorganisation, sondern ein gegen den Staat gerichtetes Abwehrrecht grundrechtsähnlicher Prägung (zur Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung und der Selbstverwaltungsdoktrin: Gunlicks: 1986a, S. 5ff.; Wehling: 1986a, S. 17ff.). Die Weichen f ü r den Bruch mit dieser Selbstverwaltungstradition wurden durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz gestellt, welche die Demokratisierung des politischen Lebens zu einem Hauptziel f ü r die N e u o r d n u n g Nachkriegsdeutschlands deklarierten und der kommunalen E b e n e eine Schlüsselstellung beim Aufbau einer demokratischen Infrastruktur des gesamten politischen Systems zuwiesen. Die Überlegungen über den Neuaufbau der Demokratie von der kommunalen Basis her wurden bereits 1945 praxisrelevant, als die Westmächte damit begannen, politisch unbelastete Deutsche f ü r A u f g a b e n in den kommunalen Verwaltungen heranzuziehen. Schon im Januar 1946 fanden in der amerikanischen Besatzungszone die ersten Kommunalwahlen statt, bis zum E n d e dieses Jahres wurden auch in der britischen und französischen Z o n e die von den Militärbehörden eingesetzten Organe durch demokratisch legitimierte Kommunalvertretungen ersetzt. Die Verabschiedung demokratischer Kommunal Verfassungen, die an die Stelle der nach dem Führerprinzip konstruierten Deutsche Gemeindeordnung von 1935 traten, war eine der ersten Aktivitäten der 1946/1947 neugewählten Landtage. Als der Parlamentarische Rat (dazu Hilfsmittel B), I., 2.d)) am 1. Sept e m b e r 1948 in Bonn seine Arbeit a u f n a h m , bestand auf der lokalen E b e n e bereits eine weitgehend funktionsfähige politische Infrastruktur (zur Entwicklung der k o m m u n a l e n Selbstverwaltung zwischen 1945 und 1949 u.a. Gunlicks: 1986, S . 2 6 f f . ; Stammen: 3 1977). In den Beratungen des Parlamentarischen Rates gehörte die Ausgestaltung des Selbstverwaltungsrechts der Kommunen nicht zu den großen Streitfragen. Das Ziel der Dezentralisierung der politischen Machtstrukturen war von den Siegermächten vorgegeben, es entsprach darüber hinaus auch den tatsächlichen politischen Gegebenheiten in den drei Westzonen. Z u d e m dürfte das Selbstverwaltungsrecht der K o m m u n e n schon im Hinblick auf die lange Selbstverwaltungstradition Deutschlands nicht zur Disposition gestanden haben. Wie die Weimarer Reichsverfassung räumt das Grundgesetz den K o m m u n e n das Recht zur Selbstverwaltung ein. Allerdings zeigt sich an seiner verfassungssystematischen Eino r d n u n g und an der Formulierung der betreffenden Grundgesetzbestimmung der Bruch mit den bis dahin vorherrschenden Vorstellungen.
II. Das Recht der kommunalen Selbstverwaltung nach dem Grundgesetz Bereits die A u f n a h m e des Artikels 28 in den Abschnitt „ D e r Bund und die Länder" verdeutlicht die f ü r das Grundgesetz charakteristische, neue Sicht der kommunalen Selbstverwaltung als Bestandteil der demokratischen Staatsorganisation. Dies unterstreicht auch der gesamte Inhalt des Artikels 28, der neben dem in Absatz 2 geregelten Selbstverwaltungsrecht der K o m m u n e n eine weitere wichtige Bestimmung, die sogenannte Homogenitätsklausel, enthält (Art. 28, Abs. 1). Sie macht die Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates (i.e. § 6 IV und VI.), im Sinne des Grundgesetzes f ü r die verfas-
6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. das Europ. Parlament
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sungsmäßige Ordnung in den Ländern verbindlich. Da die Bezeichnung „in den Ländern" zugleich die Gemeinden und Gemeindeverbände einschließt, unterwirft das Grundgesetz die innere Ordnung der Kommunen den für das nationale politische System maßgeblichen Gestaltungsgrundsätzen (ausführlicher hierzu Gabriel: 1979a). Die Ausgestaltung des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung gehört in Deutschland traditionell zu den Gesetzgebungskompetenzen der Länder. Aus diesem Grunde enthält das Grundgesetz nur sehr allgemeine Bestimmungen über die Organisation und die Aufgaben der Gemeinden und Gemeindeverbände. Für die Organisation der Inneren Gemeindeverfassung eröffnet es zwei Möglichkeiten: eine Verfassung nach den Grundsätzen der repräsentativen oder der unmittelbaren Demokratie. Das direktdemokratische Prinzip findet seinen Ausdruck in der Möglichkeit, an die Stelle einer gewählten Kommunalvertretung eine Gemeindeversammlung treten zu lassen. Als zweite Variante der inneren Ordnung der Gemeinden sieht das Grundgesetz eine repräsentativdcmokratischc Verfassung vor. Soweit die Gemeindeangelegenheiten nicht von einer Gemeindeversammlung geregelt werden, ist in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine demokratisch gewählte Volksvertretung einzurichten. Obwohl der Wortlaut des Grundgesetzes keines dieser beiden Prinzipien favorisiert, hat sich in der Praxis das repräsentativ-demokratische Modell durchgesetzt. In Anbetracht der vagen Bestimmungen des Grundgesetzes und der Länderverfassungen über die innere Ordnung der Gemeinden verfügt der Gesetzgeber bei seiner Konkretisierung über einen großen Gestaltungsspielraum. Dies führte zu einer außerordentlichen Vielgestaltigkeit der institutionellen Strukturen. Auch wenn sich die Strukturen zum Teil nur geringfügig voneinander unterscheiden und auf fünf Grundmuster reduzieren lassen, weist jedes Land der (alten) Bundesrepublik einen besonderen Typus Innerer Gemeindeverfassung auf. In den neuen Bundesländern ist die Neuordnung der Kommunalverfassung noch nicht abgeschlossen (Schmidt-Eichstaedt: 1989 sowie Püttner: 2 1982; zur Kommunalverfassung in den neuen Bundesländern Schmidt-Eichstaedt/Stade/Borchmann: 1990). Die Vielfalt der institutionellen Regelungen schlägt sich in der Praxis der kommunalen Demokratie allerdings nur begrenzt nieder; denn der tatsächliche Ablauf der kommunalen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hängt nur bedingt von den institutionellen Rahmenbedingungen ab (Derlien/Gürtler/Holler/Schreiner: 1977; anders Banner: 1989). Andere Faktoren - wie die Gemeindegröße oder lokale politische Traditionen - spielen in dieser Hinsicht eine wichtigere Rolle (Wehling: 1986a, S.74ff.). Im Gegensatz zur Inneren Gemeindeverfassung erweist sich der Zuschnitt der kommunalen Aufgaben als ziemlich einheitlich (hierzu: Gunlicks: 1986, S. 84ff.; Köstering: 21982; Schäfer/Stricker: 1989). Obwohl das Grundgesetz die kommunalen Zuständigkeiten etwas detaillierter beschreibt als die Innere Gemeindeverfassung, macht es auch in dieser Hinsicht nur allgemeine Vorgaben für den Landesgesetzgeber, und insbesondere für die politische Praxis. Nach herrschender Lehre ist das Aufgabenfeld der Kommunen durch die folgenden Prinzipien zugleich gesichert und beschränkt (zum folgenden Gabriel: 1979a, S. 30ff.): (1) Nach dem Grundsatz der Allzuständigkeit bzw. der Universalität des kommunalen Wirkungskreises haben die Gemeinden das Recht, alle in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Aufgaben zu erfüllen. Sie benötigen hierzu keinen besonderen gesetzlichen Auftrag. Dies unterscheidet sie von den Gemeindeverbänden, denen der Gesetzgeber bestimmte Aufgaben ausdrücklich übertragen muß.
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6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. das Europ. Parlament
(2) Das Örtlichkeitspinzip begrenzt die Zuständigkeiten der Kommunen auf die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Was als eine örtliche oder als eine überörtliche Aufgabe anzusehen ist, läßt sich im Einzelfalle allerdings kaum eindeutig festlegen. (3) Das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit besagt, daß die Gemeinden bei der Erfüllung ihrer Selbstverwaltungsaufgaben nicht im Auftrage des Staates, sondern aus eigener Kompetenz tätig werden. Im Gegensatz zu den staatlichen Auftragsangelegenheiten erledigen sie diese Aufgaben unabhängig von fachlichen Weisungen und Kontrollen durch den Staat. (4) Die Kommunen haben das Recht, ihre Angelegenheiten selbständig zu regeln. Die Tätigkeit der kommunalen Organe erschöpft sich also nicht in der bloßen Ausführung staatlicher Gesetze, sie schließt vielmehr die Befugnis zur eigenständigen Gestaltung und Rechtssetzung ein. (5) Die Gemeinden üben ihr Selbstverwaltungsrecht im Rahmen der Gesetze aus. Als Teil der öffentlichen Verwaltung ist die kommunale Selbstverwaltung im Rechtsstaat an Gesetze gebunden, d.h. ihre Handlungen müssen mit diesen im Einklang stehen. Auf der einen Seite schützt der Gesetzesvorbehalt den kommunalen Aufgabenbestand, auf der anderen Seite begrenzt er ihn. Eingriffe in das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen dürfen zwar nur durch ein Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes erfolgen, jedoch verleiht das Grundgesetz dem Gesetzgeber die Kompetenz, den Gemeinden bestimmte Aufgaben zu entziehen oder zu übertragen oder die Art der Aufgabenerfüllung zu reglementieren. Die im Grundgesetz enthaltenen Bestimmungen über die Aufgaben der Kommunen bleiben unbestimmt und interpretationsbedürftig. Insofern ist es nicht weiter überraschend, wenn über die praktischen Implikationen des kommunalen Selbstverwaltungsrechts Kontroversen bestehen. Dennoch gibt es einige relativ unumstrittene Kernelemente des kommunalen Selbstverwaltungsrechts, welche die A r t der kommunalen Aufgaben und die Form ihrer Erledigung betreffen. Demnach enthält der Art. 28, Abs. 2 G G eine institutionelle Garantie des Selbstverwaltungsrechts der Kommunen. Er schützt nicht jede einzelne Gemeinde und nicht jede kommunale Aufgabe, wohl aber die Einrichtung „kommunale Selbstverwaltung". Dadurch garantiert er eine in Kreise und Gemeinden gegliederte Staatsorganisation und räumt den Kommunen das Recht ein, ihre Aufgaben als Rechtssubjekte mit eigenen hoheitlichen Befugnissen zu erfüllen. Die gemeindlichen Hoheitsrechte umfassen die Satzungshoheit, die Personalhoheit, die Gebietshoheit, die Finanzhoheit, die Planungshoheit und die Organisationshoheit. Von diesen ist die Finanzhoheit besonders bedeutsam, da sie eine eigenverantwortliche Einnahme- und Ausgabewirtschaft der Kommunen begründet und damit die Voraussetzungen für eine autonome Erfüllung der kommunalen Aufgaben schafft. In materieller Hinsicht bezieht sich das Selbstverwaltungsrecht auf einen Kernbestand von Aufgaben, als deren Schwerpunkt man die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Daseinsvorsorge ansieht. Staatliche Eingriffe in diesen traditionellen „Wesenskern" der kommunalen Aufgaben verstoßen gegen die im Grundgesetz enthaltene institutionelle Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. O b die verfassungsmäßigen Garantien die Institution kommunale Selbstverwaltung wirksam schützen und es den kommunalen Organen in der politischen Praxis ermöglichen, ihre Hoheitsrechte effektiv auszuüben, ist umstritten. Als wichtigste Einschränkungen des Selbstverwaltungsrechts der Kommunen wird deren
6. Kap.: Parlamente in Kommunenu. Ländernu. das Europ. Parlament
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Einbindung in einen umfassenden staatlich-kommunalen Planungs-, Leistungsund Finanzierungsverbund gesehen, in dem die substantielle Regelung politischer Fragen durch staatliche Gesetze erfolgt und den Kommunen vornehmlich die Aufgabe zukommt, die staatlichen Vorgaben in einer den örtlichen Verhältnissen angemessenen Form umzusetzen. Allerdings belegt die empirische Forschung die verbreitete These von der Außensteuerung der Kommunen bislang nicht (dazu die Befunde bei Reissert: 1984; Gabriel/Kunz/Zapf-Schramm: 1990).
III. Die Organisation der kommunalen Ebene Der einheitliche Terminus „kommunale Selbstverwaltung" verdeckt die Tatsache, daß die kommunale Ebene politische Einheiten mit jeweils unterschiedlichen Aufgaben und Binnenstrukturen umfaßt. Im alltäglichen Sprachgebrauch dürfte sich der Begriff „kommunale Selbstverwaltung" in erster Linie auf Städte und Gemeinden beziehen. Neben diesen üben aber auch Gemeindeverbände, von denen die Landkreise besonders bedeutsam sind, Selbstverwaltungsrechte aus. Einige Gemeinden besitzen den Status kreisfreier Städte und erfüllen zugleich die Funktionen von Gemeinden und Landkreisen. Die Gliederung in Gemeinden, Stadt- und Landkreise ist in sämtlichen Flächenstaaten der Bundesrepublik zu finden, und auch die Zuordnung der kommunalen Aufgaben zu diesen Einheiten fällt relativ einheitlich aus (Gunlicks: 1986, S. 36ff.). Dagegen divergiert die weitere Organisation der kommunalen Ebene von Bundesland zu Bundesland beträchtlich. In Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sind zwischen den Gemeinden und Kreisen weitere Gemeindeverbände mit unterschiedlichen Bezeichnungen, Kompetenzen und Organisationsstrukturen angesiedelt (Bogner: 1981). Weitere Unterschiede bestehen schließlich in der Einrichtung von Selbstverwaltungseinheiten unterhalb der Gemeindeebene, d.h. bei den Ortsteilen bzw. Stadtbezirken (Schäfer/von Kodolitsch: 1982ff.) sowie in der Übertragung von Kreisaufgaben auf kreisangehörige Städte (Gunlicks: 1986, S. 39ff). Unter den Selbstverwaltungseinheiten nehmen die Gemeinden in verfassungsrechtlicher wie in politischer Hinsicht eine exponierte Stellung ein. Das im Grundgesetz enthaltene Prinzip der Universalität des kommunalen Wirkungskreises bezieht sich ausschließlich auf die Gemeinden, die auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung eine besondere Rolle spielen dürften. Aus den genannten Gründen konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Gemeindeebene, d.h. die kreisangehörigen Städte und Gemeinden sowie die kreisfreien Städte.
IV. Typen der Inneren Gemeindeverfassung in der Bundesrepublik Deutschland Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Landesparlamente (hierzu § 22) bei ihren Entscheidungen über die Innere Gemeindeverfassung verschiedenartigen Einflüssen ausgesetzt. Aufgrund der langen Selbstverwaltungstradition hatten sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Gliedstaaten des Deutschen Reichs verschiedene Kommunalverfassungen herausgebildet, an die man bei der
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6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. das Europ. Parlament
Neuordnung des Kommunalwesens anknüpfen konnte. Daneben versuchten auch die Besatzungsmächte, ihre politischen Ordnungsvorstellungen in die Beratungen der Landesparlamente einzubringen. Insofern stellten die nach 1945 verabschiedeten Gemeindeordnungen eine Synthese aus deutschen Selbstverwaltungstraditionen und Vorgaben der Siegermächte dar. Während sich erstere in der amerikanischen und in der französischen Zone weitgehend durchsetzten, sind die Gemeindeordnungen in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen deu'tlich von den Vorstellungen der ehemaligen britischen Besatzungsmacht geprägt. In den fünf neuen Ländern ist die Neuordnung der kommunalen Ebene noch nicht abgeschlossen. Derzeit gilt die nach der Volkskammerwahl 1990 revidierte provisorische Kommunalverfassung, keines der fünf Landesparlamente hat bislang eine neue Gemeindeordnung beschlossen. Aus dieser Ausgangslage resultiert ein ausgesprochen heterogenes Erscheinungsbild der kommunalpolitischen Strukturen. Nicht zuletzt aus diesem Umstand erklärt sich die anhaltende Diskussion über die Reform der Gemeindeverfassung, in die Effizienzgesichtspunkte wie demokratietheoretische Überlegungen gleichermaßen einfließen (Borchmann/ Vesper: 1977). Zwei strukturell besonders bedeutsame Problemfelder stehen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung, nämlich einmal die Bestimmungen über die Entscheidungs- und Mitwirkungsrechte der Bevölkerung und zum anderen die kommunalen Entscheidungsorgane, ihre Beziehung zueinander sowie ihre Kompetenzen.
1. Die Beteiligungsrechte der Bevölkerung Da sich die Innere Gemeindeverfassung der meisten Bundesländer nahezu ausschließlich am Grundsatz der repräsentativen Demokratie orientiert, ist die Entscheidungskompetenz über sämtliche Angelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung entweder ausschließlich der Gemeindevertretung oder anteilig der Gemeindevertretung und dem Gemeindevorstand zugeordnet. Im ersten Fall sprechen wir von einer monistischen, im zweiten von einer dualistischen Gemeindeverfassung. Trotz des Primats der repräsentativen Organe verfügt die Bevölkerung formal und faktisch über einige Möglichkeiten, an kommunalpolitischen Entscheidungen mitzuwirken oder diese zu beeinflussen. Nach Art. 28, Abs. 2 G G muß das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Die ausdrückliche Erwähnung im Grundgesetz macht deutlich, daß die Beteiligung an der Wahl der Kommunalparlamente normativ das wichtigste Partizipationsrecht darstellt. Die Kommunalwahlgesetze konkretisieren den von der Verfassung abgesteckten Rahmen (Meyer, H.: 21982). In BadenWürttemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz - mit Abstrichen auch in Niedersachsen - geben sie den Wählerinnen und Wählern durch die Instrumente des Kumulierens und Panaschierens einen beträchtlichen Einfluß auf die personelle Zusammensetzung der Kommunalvertretungen. In Bayern und Baden-Württemberg, ab 1993 auch in Hessen, ist zudem die Direktwahl des (Ober-)Bürgermeisters vorgesehen. Zusätzlich zu den verfassungsrechtlich geregelten Einflußmöglichkeiten der Bürger sehen die Gemeindeordnungen der einzelnen Bundesländer sowie Fachgesetze des Bundes und der Länder weitere Beteiligungsmöglichkeiten vor, die zwar
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überwiegend unterhalb der E b e n e autoritativer Entscheidungen verbleiben, als Artikulations- und Organisationsrechte aber gleichwohl bedeutsam sind. Das wichtigste Element direkter Demokratie im deutschen Selbstverwaltungsrecht stellt der Bürgerentscheid dar. Er überträgt den Bürgern in wichtigen kommunalen Angelegenheiten ein direktes Entscheidungsrecht, das im Erfolgsfalle einen Ratsbeschluß ersetzt. Bis vor kurzem kannte nur die Gemeindeordnung Baden-Württembergs diese Einrichtung, mittlerweile wurden Bürgerentscheide jedoch auch in Schleswig-Holstein und in den fünf neuen Bundesländern eingeführt. Einzelheiten des Verfahrensablaufs regelt die Gemeindeordnung (Ardelt/ Seeger: 1977, S. 106ff.; Beilharz: 1981; Seeger: 1988). Wesentlich umfassender als die Entscheidungsrechte in Sachfragen sind die Möglichkeiten zur Einflußnahme auf die Entscheidungen der kommunalen Organe. Durch die Ausübung eines Initiativrechts verfügt die Bevölkerung über die Möglichkeit, die Kommunalvertretung zur Beschäftigung mit bestimmten Themen zu zwingen. Das Entscheidungsrecht verbleibt in diesem Falle allerdings bei der Gemeindevertretung. U n t e r verschiedenartigen Bezeichnungen und in variierender institutioneller Ausgestaltung sind derartige Einrichtungen in den Gemeindeordnungen aller dreizehn Flächenstaaten der Bundesrepublik vorgesehen, in Nordrhein-Westfalen und Bayern allerdings nur in den schwachen Varianten eines Sammelpetitionsrechts bzw. eines Antragsrechts der Bürgerversammlung an die Kommunalvertretung. In Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein besteht darüber hinaus die Möglichkeit, bei besonders bedeutsamen kommunalpolitischen Entscheidungen, etwa bei kommunalen Planungen oder beim Beschluß über die kommunale Haushaltssatzung, Einwände und Anregungen vorzutragen, mit denen sich die Kommunalvertretung zu beschäftigen hat. Wie ein Blick auf die Praxis zeigt, stellt die Wahlbeteiligung eindeutig das Kernstück des Beteiligungssystems der K o m m u n e n dar. Obgleich die Beteiligung an Stadt- und Gemeinderatswahlen das Niveau der Bundestagswahlen normalerweise nicht erreicht und zudem zwischen den einzelnen Bundesländern relativ große Unterschiede bestehen, werden in der Spitze Beteiligungsquoten von mehr als 80 Prozent erreicht (einige Angaben hierzu bei Cryns/Heimbach: 1987, S. 112ff.). D a weitere Formen kommunalpolitischer Beteiligung empirisch kaum untersucht wurden, sind über ihre Bedeutung in der kommunalen Praxis keine verläßlichen Aussagen möglich. Von dieser Feststellung sind lediglich das Bürgerbegehren und der Bürgerentscheid in Baden-Württemberg auszunehmen. U b e r ihre kommunalpolitische Bedeutung liegen mehrere detaillierte Untersuchungen vor. In der Praxis werden die ohnehin nur schwach entwickelten Einrichtungen direkter Demokratie nur spärlich genutzt (Ardelt/Seeger: 1977; Beilharz: 1981; Seeger: 1988. O b dies an ihrer unzulänglichen Ausgestaltung oder an der begrenzten Beteiligungsbereitschaft der Bevölkerung liegt, läßt sich beim derzeitigen Forschungsstand nicht sagen. Auch wenn die Mitwirkungsbereitschaft auf der lokalen E b e n e stärker entwickelt ist als in der nationalen Politik (Gabriel: 1991a), prägen repräsentativ-demokratische Strukturen den kommunalpolitischen Alltag. Die für das politische Leben einer Stadt oder Gemeinde maßgeblichen Entscheidungen fallen formal wie faktisch in der Kommunalvertretung und der Kommunalverwaltung. Weitere, irreführenderweise mit dem Begriff „Partizipation" belegte Mitwirkungsrechte dienen bei genauer Betrachtung nicht der Einflußnahme auf politi-
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sehe Entscheidungen, sondern der Kornmunikation zwischen lokalen Entscheidungsträgern und der Bevölkerung. Hierzu gehören z.B. Bürgerversammlungen, Anhörungen und die verschiedenen Mitwirkungs- bzw. Einspruchsrechte von an der kommunalen Planung Beteiligten (Mattar: 1983).
2. Die kommunalen Organe, ihre Aufgaben und Beziehungen Die jeweils eigenen Zuständigkeiten der kommunalen Organe und die Bedingungen ihres Zusammenwirkens sind in den deutschen Gemeindeordnungen auf unterschiedliche Weise rechtsförmig geregelt. Doch trotz dieser „beeindruckenden Unterschiedlichkeit" (Schmidt-Eichstaedt: 1985, S. 20) weisen die einzelnen Kommunalverfassungen hinsichtlich der intra-kommunalen Macht- und Kompetenzverteilung grundlegende Gemeinsamkeiten auf: Die Entscheidungsbefugnisse sind, erstens, zwischen Ratsvertretung einerseits und Gemeinde-Verwaltungsleitung andererseits aufgeteilt. Zwar rechnen Rat und Verwaltung lt. strengem verfassungssystematischen Typenzwang zu der einen Selbstverwaltung. Doch läßt sich das klassische Schema politischer Gewaltenteilung (näheres § 1 III), das zwischen rechtsetzender und vollziehender Gewalt trennt, im Grundriß auch auf die kommunalen Institutionen übertragen, denn die gewählte Gemeindevertretung verfügt - zweite wesentliche Gemeinsamkeit aller Gemeindeordnungen - über die letztverantwortliche Beschlußkompetenz in wichtigen Gemeindeangelegenheiten. Diese Kompetenz betrifft vornehmlich die Ausübung der kommunalen Satzungshoheit, und hier wiederum insbesondere die Verabschiedung des Haushalts, die Bauleitplanung sowie die Festlegung gemeindlicher Steuern, Abgaben und Gebühren, ferner die Ratswahl der berufsmäßigen Stadträte (Beigeordnete bzw. Referenten) und damit ein wesentliches Element der Personalhoheit. In Wahrnehmung der erwähnten Beschlußrechte übt die gewählte Vertretungskörperschaft der Gemeindebürger eine genuin parlamentarische Funktion aus, indem sie eine allgemein verbindliche „Entscheidung zwischen Handlungsalternativen" (Treiber/Blankenburg: 1989, S. 109) trifft. Ihrer Rechtsstellung nach sind Gemeinderatsmitglieder allerdings nicht Abgeordneten des Bundestags und der Landtage gleichgesetzt. Wohl sind sie gleich diesen an Aufträge und Weisungen nicht gebunden; aber sie entbehren des Schutzes der Immunität (eingeschränkte Strafverfolgung) und der Indemnität (Nichthaftbarkeit für Folgen von Entscheidungen als Mandatsträger; hierzu ausführlich § 4 II.). Unterschiedlich geregelt sind Art und Ausmaß der Kompetenzausstattung im Innenverhältnis zwischen den Hauptorganen Rat und Verwaltungsspitzc (s. für die Gemeindeordnungen der Bundesrepublik im einzelnen Schmidt-Eichstaedt/Stade/Borchmann: 1990): Ist die Gemeindevertretung das alleinzuständige Verfassungsorgan und verfügt der Hauptverwaltungsbeamte lediglich über übertragene Organkompetenzen, die aus der Allzuständigkeit des Rates abgeleitet sind oder überdies, wie in Nordrhein-Westfalen, dem Rückholrecht des Rates unterliegen, sprechen wir von einem „monistischen" Verfassungstypus. Bei der „dualistischen" Variante tritt neben die Gemeindevertretung ein weiteres Verfassungsorgan mit eigenständigen Kompetenzen in Gestalt des (Ober)Bürgermeisters oder Magistrats hinzu (für diese und die folgende Klassifizierung Köser: 1979, S.
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405ff.). Hinsichtlich der administrativen Steuerung wird üblicherweise zwischen „monokratischer" und „kollegialer" Verwaltungsleitung unterschieden. Im ersteren Fall führt der hauptamtliche Verwaltungschef den kommunalen öffentlichen Dienst durch Einzelentscheidung in eigener Verantwortung. Im kollegialen Führungsmodell teilen sich Bürgermeister und haupt- bzw. ehrenamtliche Beigeordnete in die Verwaltungsleitung. Unterschiedlich ist weiterhin der Wahlmodus der Verwaltungsspitze (Volkswahl des Bürgermeisters in Bayern und Baden-Württemberg, demnächst auch in Hessen; Ratswahl des Bürgermeisters bzw. Gemeindedirektors in allen übrigen westdeutschen Flächenstaaten) sowie die Sitzungsleitung von Gemeinderat und Ausschüssen; den Vorsitz führt entweder der Ratsvorsitzende (Bürgermeister, Stadtverordneten-Vorsteher) oder der Verwaltungschef (der in Bayern und BadenWürttemberg den Ratsvorsitz in Personalunion mit innehat). Einen viel diskutierten - und bis in die Gegenwart wiederholt für reformüberfällig erklärten - Unterfall monokratischer Verwaltungsführung stellt die sog. doppelte Spitze im Geltungsbereich der norddeutschen Ratsverfassung (NordrheinWestfalen, Niedersachsen) dar. Auch hier obliegt dem Gemeinde- bzw. (Ober-) Stadtdirektor die typische Organkompetenz des Hauptverwaltungsbeamten, insbesondere das (namens des Rates ausgeübte) Entscheidungsrecht über einfache Geschäfte der laufenden Verwaltung, ferner die Aufgabe, Beschlüsse des Rates und seiner Ausschüsse vorzubereiten und auszuführen. Die einfache Geschäftsvollzugsbefugnis des Verwaltungschefs steht zwar einerseits unter dem grundsätzlichen Entscheidungsvorbehalt des Rates (Zopes: 1984, S. 23). Andererseits kann der Hauptverwaltungsbeamte in der Regel für sich reklamieren, die rechtlich allein zulässige Entscheidung getroffen bzw. vorgeschlagen zu haben (Schmidt-Eichstaedt: 1985, S. 28). D i e - f ü r tatsächliche Entscheidungsmacht bedeutsame - Möglichkeit der Verwaltungsspitze zum Rekurs auf den Gesetzesvorbehalt spiegelt eine schon Anfang der 60er Jahre von Ernst Forsthoff registrierte Änderung der Gesetzesqualität wider: Moderne Gesetzgebung normiert in wachsendem Maße weite Bereiche des Soziallebens und geht dabei zunehmend dazu über, in die gesetzliche Formulierung solcher Intervention auch Ausführungsbestimmungen aufzunehmen, die herkömmlich „der Ordnung durch die Verwaltung selbst" überlassen wurden (Forsthoff: 1961, S. 274). Eine derartige gesetzliche Absicherung vormals ,freier' administrativer Entscheidungsräume stärkt die Verwaltungsposition gegenüber dem Rat und schränkt umgekehrt dessen Möglichkeiten ein, Vollzugsentscheidungen der kommunalen Ämter zu beeinflussen. Der Bürgermeister seinerseits als anderer Teil der Doppelspitze ist „geborener" Vorsitzender des Rates und des (beschließenden) Hauptausschusses (s. u.). Er vertritt die Gemeinde nach außen, führt bestimmte Ratsbeschlüsse selbständig aus (z.B. bei Durchführung der Geschäftsordnung), besitzt ein (aufschiebendes) Einspruchsrecht gegen Entscheidungen der Ratsversammlung und kann in Einzelfällen, gemeinsam mit einem weiteren Ratsmitglied, an Stelle des Rates entscheiden (Dringlichkeitsentscheidung). Insgesamt folgt die Konstruktion der ,Doppelspitze' der Leitidee einer ,,,kontrapunktische[n]' Auspendelung der Machtfülle des Hauptverwaltungsbeamten durch einen mit besonderen eigenen Kompentenzen versehenen Ratsvorsitzenden" (Schmidt-Eichstaedt: 1985, S. 26) sowie durch ein relativ weitgehendes Rückholrecht der Ratsvertretung. Ratsausschüsse sind als fakultative Unterorgane der Gemeindevertretung in den Kommunalverfassungen sämtlicher Flächenstaaten vorgesehen. Einige Gemein-
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deordnungen schreiben darüber hinaus die obligatorische Einsetzung bestimmter Ausschüsse fest (NRW: Hauptausschuß, Finanz-, Rechnungsprüfungsausschuß Saarland: Finanz-, Rechungsprüfungs-, Personalausschuß-Bayern: Rechnungsprüfungsausschuß in Gemeinden über 5000 Einwohner). Den Ausschüssen sind entweder beratende bzw. vorbereitende Aufgaben oder aber (ausgenommen Niedersachsen) Beschlußrechte zugewiesen. Ratsausschüsse tagen häufiger als Ratsplena, und sie übertragen insoweit schon von ihrem Sitzungszyklus her, wie auch aufgrund ihrer fachpolitischen Spezialisierung, ein typisches Strukturmerkmal sogenannter „Arbeitsparlamente" auf die kommunale Ebene. Der Vorsitz fällt, wie in Süddeutschland, entweder dem Verwaltungschef zu, oder aber er wird ratsseitig bestimmt (so im Geltungsbereich der Norddeutschen Ratsverfassung). Eine herausgehobene Position kommt dem Hauptausschuß in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein sowie dem niedersächsischen Verwaltungsausschuß zu: Der Hauptausschuß soll die Gemeindeverwaltung überwachen, für die Einheitlichkeit der Arbeit der übrigen Ausschüsse sorgen, und er kann auch bestimmte Einzelentscheidungen treffen (Schleswig-Holstein). Ähnlich bestimmt sind die Koordinations- und Querschnittsfunktionen des gleichnamigen Gremiums in Nordrhein-Westfalen (Entscheidung über die Planung bedeutsamer Verwaltungsaufgaben, Eilentscheidungsrecht). Der Verwaltungsausschuß Niedersachsens, der Ratsbeschlüsse vorbereitet und auch eigene beschließende Befugnisse besitzt, ist kein Untergremium des Rates, sondern ein eigenständiges Gemeindeorgan. Ersichtlich sind Organstreitigkeiten schon in den formalrechtlichen Bestimmungen der Gemeindeordnungen mit vorprogrammiert. So gibt etwa die Norddeutsche Ratsverfassung, die dem Stadt- bzw. Gemeindedirektor das Entscheidungsrecht für „einfache Geschäfte der laufenden Verwaltung" überträgt, mit dieser Formulierung lediglich einen unbestimmten Rechtsbegriff vor, der bezüglich der Kompetenzabgrenzung zwischen Rat und Hauptverwaltungsbeamtem auslegungsbedürftig ist. Von der Problemlage her damit vergleichbar sind im Geltungsbereich der dualistischen Süddeutschen Ratsverfassung jene Kompetenzkonflikte zwischen Gemeindevertretung und Bürgermeister, die sich an Personalentscheidungen des Stadtoberhauptes entzünden. Wie an jüngsten Verwaltungsgerich ts-Entscheidungen abzulesen ist, tendiert die Rechtsprechung dahin, das Umsetzungsrecht des Bürgermeisters auch für Stellen im höheren Dienst sowie seinen Handlungsspielraum, die Geschäftsverteilung der Dezernatsleiter zu ändern, weit auszulegen.
V. Zur Praxis politischer Willensbildung und Entscheidung auf der kommunalen Ebene Die Gemeindeordnungen geben für die Machtverteilung unter den kommunalen Organen und für das Procedere kommunalpolitischer Entscheidungsfindung lediglich den normativen Rahmen vor. Die tatsächliche kommunale Praxis folgt jedoch Vorgaben und einer Entwicklungslogik, die sich einmal als probleminduzierte, zum anderen als systeminduzierte Politisierung beschreiben lassen.
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1. Systeminduzierte Politisierung: Machtverlust der Gemeindeparlamente? Die Rechts- und Aufgabenstellung für die kommunale Selbstverwaltung als eine demokratisch legitimierte, normsetzende dritte Stufe öffentlicher Gewalt mit originären und übertragenen Zuständigkeiten läßt es als angemessen erscheinen, die gewählte Vertretungskörperschaft der Gemeinde als vollwertiges Parlament zu betrachten (so zu Recht Schmidt-Eichstaedt: 1985). Auch auf kommunaler Ebene beansprucht der Gemeinderat somit einen Primat der Politik, deren Entscheidungen der Gemeindeverwaltung zum Vollzug übertragen sind. Und ähnlich dem faktischen Verhältnis der Gewalten auf den Ebenen des Bundes und der Länder ist die Praxis kommunaler Politik durch einen Machtüberhang der Exekutive gekennzeichnet: ein Gemeinderat tagt selten häufiger als monatlich, eine Gemeindeverwaltung agiert täglich. Es ist vornehmlich die fachkundige Verwaltung, die Problemlagen thematisiert, sie dadurch „in den Bereich des Politisierten zieht" (Treiber/Blankenburg: 1989, S. 109), Lösungsvorschläge formuliert und dabei auch schon die Konsensfähigkeit einer zur Entscheidungsreife gebrachten Verwaltungsvorlage bei gesellschaftlichen Interessengruppen vorweg auslotet. Ebenso ist „kommunale Außenpolitik", also die Pflege von Außenkontakten mit staatlichen Genehmigungs-, Kontroll- und Subventionsstellen, nahezu ausschließlich Sache der kommunalen Verwaltung (Pehle: 1985, S. 281). Demgegenüber ist die Thematisierungs- und Politikformulierungsfunktion der Ratsversammlung unterentwickelt. Schmidt-Eichstaedt hält die Annahme für realistisch, daß sich das Entscheidungshandeln des Rates „de facto auf prozeßleitende Beschlüsse und auf „Kulminationsbeschlüsse" beschränkt" (:1985, S. 22), was meint: das gewählte Vertretungsorgan gibt zunächst lediglich eine Richtung vor und tritt erst dann wieder beschließend in Aktion, wenn sich der Entscheidungsprozeß auf konkrete Lösungsentwürfe hin verdichtet. Die tatsächlichen Vorbereitungs- und Vorauswahlbefugnisse der Kommunalverwaltung begleiten und beeinflussen folglich die materielle Willensbildung des Rates stetig. Gleichwohl ist fraglich, ob die Eigenmacht der Gemeindeverwaltungen so weit reicht, im Vorfeld der definitiven Ratsentscheidungen denkbare Entscheidungsalternativen immer schon auszusondern (so z. B. Schmidt-Eichstaedt: 1985, S. 21). Wohl ist das Ratsplenum gewöhnlich auf die Rolle eines,Notars' administrativ aufbereiteter Sachentscheidungen beschränkt. Vergleichende Fallstudien haben jedoch nachgewiesen, daß entscheidende Phasen der kommunalpolitischen Programmformulierung unterhalb der Vollversammlung der Stadtverordneten, nämlich auf der Ebene der Fraktions-Arbeitskreise und der Fachausschüsse des Rates, anzusiedeln sind. In diesem institutionellen Zwischenfeld, wo „Basis-Fachkoalitionen", zusammengesetzt aus Fraktionsexperten und parteinahen Verwaltungsfachleuten, sich verstetigen und zu durchsetzungsmächtigen Anforderungskollegien verselbständigen (Banner: 1984, S. 370f.), werden Verwaltungsvorlagen in enger Verschränkung von politischen Mandatsträgern mit Akteuren der Verwaltung zur Entscheidungsreife gebracht. So „versucht die Verwaltung häufig, ihre Vorlagen schon vor der Ausschußphase politisch abzusichern. Weil eine unmittelbare Einleitung von Verwaltungsvorlagen größerer Bedeutung in das vom Gemeinderat und seinen Ausschüssen gebildete formale Entscheidungssystem prinzipiell immer das Risiko ihrer Ablehnung und damit vergeblich erbrachter Arbeitsleistung beinhaltet, ist die Herausbildung informeller, aber dennoch stabiler Kommunikationsmechanismen zwischen den Spitzenvertretern der Vertretungskörperschaft und den Führungskräften der Verwaltung
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unter den gegebenen Verhältnissen offenbar unentbehrlich, um ein Mindestmaß an administrativer Effizienz zu gewährleisten" (Pehle: 1985, S. 89). Dieser, von Gerhard Banner 1972 auf die griffige Formel der „Vorentscheider" gebrachte Mechanismus wird vor allem dann wirksam, wenn kommunalpolitische Entscheidungen von Gewicht (z.B. die Haushaltsaufstellung oder bedeutende Investitionsvorhaben) anstehen, die der vorbereitenden Abstimmung bedürfen zwischen Verwaltungsführung (Verwaltungschef, weitere leitende Beamte) und den Meinungsführern der Ratsfraktionen (Fraktionsvorsitzende, bisweilen weitere lokal einflußreiche Politiker) sowie fallweise auch Repräsentanten örtlicher Wirtschaftsgruppen (Banner: 1984, S. 370, mit weiteren Literaturhinweisen; Holler/Naßmacher: 1976). Aber nicht nur für die Vorlaufphase kommunalpolitischer Leit- und Richtungsentscheidungen wird die These einer „exekutiven Führerschaft" (Kevenhörster) relativiert. Auch bei eher routineförmigen kommunalpolitischen Entscheidungslagen können sich, wie Derlien u.a. Mitte der70er Jahre in einer vergleichenden Studie von vier Mittelstädten im Geltungsbereich unterschiedlicher Gemeindeordnungen gezeigt haben, die Stadtvertretung oder deren Unterorgane bereits bei der Vorbereitung von Verwaltungsvorlagen mit eigenen Vorstellungen durchsetzen: „Wenn keine Alternativen in den Ausschüssen vorgelegt werden, bedeutet dies auch nicht, daß die erwogenen Alternativen nicht bekannt sind oder nicht diskutiert werden. Zumindest die Fraktionen, die den O B und den Wahlbeamten stellen, sind in der Regel über bekannte Lösungsvarianten informiert. Enthält die förmliche Beschlußvorlage nur einen Beschlußvorschlag, ,hat dies beinahe arbeitstechnische Gründe"' (Derlien/Gürtler/Holler/Schreiner: 1977, S. 72f.). In Anlehnung an die Mitte der 70er Jahre von Derlien u.a. empirisch ermittelten (und in der jüngeren Studie Winkler-Haupts 1988 in der Tendenz bestätigten) Befunde schält sich ein typisches Grundmuster kommunalpolitischer Entscheidungsprozesse heraus: Dank ihres Informationsvorsprungs ist die kommunale Administration den Parlamentariern „bei der Initiierung und Vorbereitung von Beschlüssen der Stadtvertretung weit überlegen" (Derlien/Gürtler/Holler/ Schreiner: 1977, S. 116). Umgekehrt können die Ratsfraktionen - zumindest jene, die auf der Beigeordnetenbank Personen ihres politischen Vertrauens plazieren - den Wissensvorsprung der Verwaltung dadurch kompensieren, daß sie über die Wahlbeamten einen „sekundären Kontrollmechanismus" aufbauen (Derlien/ Gürtler/Holler/Schreiner: 1977, S. 116), welcher die administrativen Planungsund Vollzugsschritte verwaltungsintern begleitet. Hieran wird übrigens deutlich, daß die seitens der Ratsparteien betriebene Politisierung der Dezernentenebene nicht allein Effekt einer gezielten personalpolitischen Patronage und parteivermittelten Karriereplanung ist, sondern eben auch im System kommunaler Machtverteilung mit angelegt ist (Derlien/Gürtler/Holler/Schreiner: 1977, S. 74, auch Schmidt-Eichstaedt: 1985, S. 32). Allerdings bleibt trotz solcher ,polykratischer' Verteilung von verwaltungsintemen Informations- und Einflußchancen die Beschlußvorbereitung Sache der Verwaltung, was, neben der Filterwirkung des Vorentscheider-Systems und der Konzentration der parlamentarischen Kleinarbeit in den Ausschüssen, das politische Gewicht des Ratsplenums deutlich einschränkt. Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die hier skizzierte Typik des kommunalen Einflußsystems allgemeine Gültigkeit hat oder ob der reale Ablauf kommunalpolitischer Entscheidungsvorgänge von Land zu Land Unterschiede aufweist, die im Aufbau der jeweiligen Gemeindeordnung begründet sind. Letztere Posi-
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tion wird beispielsweise von Gerhard Banner und Heinrich Lehmann-Grube vertreten, die, aufgrund eigener Erfahrungen als kommunale Wahlbeamte, für das Entscheidungssystem der Norddeutschen Ratsverfassung eine bedenkliche parteipolitische Entscheidungsaufladung feststellen, die bewirke, daß sich die Tendenz zu kostenträchtiger Verselbständigung der Fachpolitik verstärke; andererseits schwinde die Durchsetzungsfähigkeit der einer ausgeglichenen Haushaltsplanung verpflichteten Steuerungspolitik. Banner begründet dieses „Steuerungsgefälle" von den südlichen zu den nord-westlichen Bundesländern mit folgender Dialektik: „Diejenigen Gemeindeordnungen, die der Fach- und Parteipolitik am meisten Spielraum geben, verbessern scheinbar die Durchsetzungschancen der Fraktionen gegenüber der Verwaltung. In Wirklichkeit verbessern sie die Chance der beamteten Fachpolitiker, die Fraktionen in ihrem Sinn zu manipulieren - mit dem Risiko, daß der Haushalt blockiert wird und die Mandatsträger jede kommunalpolitische Handlungsfähigkeit verlieren" (Banner: 1984, S. 370; dazu kritisch Wehling: 1986b, S. 1048f.). Die These eines verfassungstypus-bedingten Steuerungsdefizits der doppelköpfigen Ratsverfassung Niedersachens und Nordrhein-Westfalens wird bei empirischer Überprüfung deutlich abgeschwächt. So kommt Winkler-Haupt in seiner Vergleichstudie in vier Mittelstädten zu dem Ergebnis, daß nicht nur unterschiedliche formale Verfassungsvorgaben, sondern gerade auch Unterschiede in den finanzwirtschaftlichen Rahmendaten (Haushaltseckwerte) und in der Organisation parlamentarischer Behandlung „den Prozeß kommunaler Sparpolitik und das dortige Rollenverhalten der Akteure/Akteursgruppen in unterschiedlichem Maße beeinflussen" (Winkler-Haupt: 1988, S. 197). Bestätigt wird die frühere Aussage Derliens und seiner Mitautoren, daß „die Gemeindeverfassung lediglich das in allen untersuchten Städten sehr ähnliche Muster des kommunalpolitischen Entscheidungsprozesses unterschiedlich akzentuiert, aber nicht grundsätzlich verschieden ausfallen läßt" (Derlien/Gürtler/Holler/Schreiner: 1977, o.S.).
2. Probleminduzierte Politisierung: Parteienstreit statt Sachpolitik? Die Normalerwartung der Gemeindebürgerinnen und -bürger gegenüber der Kommunalpolitik und deren Akteuren ist überwiegend von einem harmoniegeleiteten Vorstellungshorizont bestimmt (Güllner: 1986, S. 33). Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die zeitweilige Spaltung der CSU-Ratsfraktion und -Ortspartei in Augsburg Anfang der 80er Jahre wurde von der eigentlichen CSUKlientel (den CSU-Wählern der vorangegangenen Kommunalwahl von 1978) vornehmlich negativ beurteilt (Institut für Demoskopie Allensbach, vertrauliche Umfrage: Juni 1982). Die in allen verfügbaren Umfragedaten wiederholt bestätigte, mehrheitlich geäußerte Präferenz für Konsens, Sachlichkeit und Ideologiefreiheit in der Kommunalpolitik kontrastiert nun aber ersichtlich zum Selbstverständnis und zur öffentlichen Selbstdarstellung von vielen Kommunalpolitikern die - häufiger in größeren Städten - sich an einem eher konfliktorischen Handlungsmuster ausrichten (mit lokalem Beleg Güllner: 1986, S. 33) Die Gründe für diese Kluft zwischen einem bürgerschaftlichen Wunschbild von Kommunalpolitik und jener Mandatsträger-Orientierung liegen nicht etwa, wie ein populäres Vorurteil nahe legt, wesentlich in lokalen „Entartungen" des Par-
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teienstaates (Stichwort: „Parteienhader") bzw. einer vorgeblich prinzipiellen Unvereinbarkeit von Kommunalpolitik und Parteipolitik begründet. Denn selbst wenn zutrifft, daß kommunalpolitische Problemstellungen typischerweise nicht nach programmatischen Richtungsentscheidungen ausgelegt sind, sondern sachbezogene Einzelfallentscheidungen erfordern, so wird man doch nüchtern feststellen müssen, daß es in aller Regel eben nicht nur eine sachlogische Problemlösung gibt. Vielmehr markiert ein Beschluß ,in der Sache' stets eine Entscheidung zwischen mehreren möglichen Entscheidungs-Alternativen, die voneinander abweichende, z.T. hart kontrastierende Auffassungen über Inhalt, Finanzausstattung und Dringlichkeit der betreffenden Maßnahme repräsentieren. Unterschiedliche Prioritäten und konkurrierende Interessenlagen in der Ortsbevölkerung finden in einem lokalen Mehrparteiensystem folglich ihr sachangemessenes kommunalpolitisches Organisationsprinzip. Die Übertragung dieses parteienstaatlichen Wettbewerbsmodells auf die kommunale Ebene ist mithin demokratietheoretisch wohlbegründet - sie bedeutet freilich auch zu akzeptieren, daß die entsprechenden konfliktbetonten Handlungsorientierungen in Konkurrenz um Wähler-und Abstimmungsmehrheiten auch die kommunale Praxis leiten. Etliche Detailbeobachtungen deuten darauf hin, daß sich die „Parteipolitisierung" von lokaler Politik und Verwaltung in letzter Zeit konsolidiert, weiter vorarbeitet bzw. beschleunigt („Parteipolitisierung" läßt sich, einem Definitionsvorschlag Hans-Georg Wehlings folgend, „bestimmen als das Ausmaß, in welchem es den lokalen politischen Parteien gelingt, die Kommunalpolitik personell, inhaltlich und prozedural zu monopolisieren" (Wehling: 1991, S. 150). So ergab beispielsweise eine empirische Analyse der Strukturen lokaler Konfliktregulierung in 49 Städten in Rheinland-Pfalz, daß zwar ein durch Freie Wählergemeinschaften repräsentierter partei - und konfliktfreier Politikstil nach wie vor beträchtliche Zustimmung findet, zugleich aber sich parteienstaatliche Muster politischer Willensbildung insoweit durchsetzen, als die Bundestagsparteien das Gros der Gemeinderatssitze einnehmen. Bei fortdauernder Dominanz der beiden großen Volksparteien C D U und SPD zeichnet sich im Untersuchungsgebiet seit Ende der 70er Jahre eine Tendenz zur Fragmentierung des lokalen Parteiensystems ab, die sich als Indiz für eine Verstärkung wettbewerbsdemokratischer Konstellationen auf kommunaler Ebene deuten läßt (dazu Gabriel: 1991b, S. 380ff.). Deutlich steigende Tendenz von 1974 auf 1984 wies zudem die parteiloyale Rekrutierung von Verwaltungschef und Verwaltungsleitung auf: In den 49 untersuchten rheinland-pfälzischen Städten ist der parteilose Bürgermeister mittlerweile die rare Ausnahme (Gabriel: 1991b, S. 388). Gewiß halten sich, wie dieselbe Vergleichsstudie belegt, konfliktorische und konsensuale Entscheidungsmuster bei kommunalen Sach- und Personalbeschlüssen im Gesamtbild in etwa die Waage (Gabriel: 1991b, S. 390). Auch sind ferner, wie andere empirische Untersuchungen übereinstimmend erbracht haben, kommunale Investitionsentscheidungen in zentralen Aufgabenbereichen (Wohnen, Verkehr, Kultur usf.) über längere Zeiträume hinweg vornehmlich durch die lokal jeweils gegebene Wirtschafts- und Finanzkraft bestimmt und folgen viel weniger deutlich klassischen parteipolitischen, nach dem gängigen Links-Rechts-Schema ausgerichteten Zielvorgaben (Grüner/Jaedicke/ Ruhland: 1988, Gabriel/Kunz/ Zapf-Schramm: 1990). Dennoch scheint die Aussage zulässig, daß - mit steigender Ortsgröße und wachsendem Dienstleistungsbesatz sich verstärkend - eine im Stil und in den Formen der Parteipolitik ausgeübte Politisierung der Kommunalpolitik in den 80er Jahren an Intensität zugenommen hat.
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Dieser Politisierungsschub ist, wie es scheint, durch einen erhöhten Problemdruck im kommunalen Feld bedingt. Mindestens zwei Ursachen dafür lassen sich benennen. Einmal bilden sich aktuelle Konditionsschwächen des deutschen Parteiensystems auch auf Gemeindeebene ab: Die Wahlmüdigkeit nimmt zu. Die Mobilisierungslücke bei Kommunalwahlen sowie die auch hier im Wählerverhalten sichtbar nachlassende Parteibindung geht vornehmlich zu Lasten der großen Parteien. „Der politische Markt ist heute vielerorts offen" (Feist/Liepelt: 1991, S. 198). Insbesondere die SPD muß in großstädtischen Dienstleistungszentren einen Machtverfall ihrer traditionellen kommunalen Hochburgen registrieren (Feist/Liepelt: 1991, S. 196 f.). Zum anderen werden gesamtgesellschaftliche Widersprüche, die in einzelnen Politikfeldern verstärkt aufbrechen, auf lokaler Ebene spürbar (Hesse, J. J.: 1982, S. 238). Es sind gerade ,kritische' Politikbereiche, wie etwa Wohnen, Umwelt (Abfallwirtschaft), Verkehr, Soziale Dienste, in welchen die persönlichen Lebensumstände der Bürgerinnen und Bürger einschneidend berührt sind. Daher werden hier steigende Leistungsanforderungen an Politik und Verwaltung freigesetzt, teilweise auch soziale Abwehrreaktionen betroffener Bevölkerungsteile (etwa von Anliegern gegen eine bauliche Nachvcrdichtung im Wohnbezirk) hervorgerufen. Andererseits gehören eben dieselben Politikfelder zu den klassischen Aufgabenbereichen im eigenen Wirkungskreis kommunaler Selbstverwaltung. Den Kommunen wird diese ihre Zuständigkeit politisch und finanziell zur Belastung, denn im Fortgang der gesetzlichen Regelungsdichte werden öffentliche Vollzugs- und Leistungsaufgaben vermehrt den kommunalen Gebietskörperschaften übertragen (Hesse, J. J.: 1986, S. 25), ohne daß diesen angemessene Steuerungsinstrumente (z.B. befristete Umwandlungsverbote im Mietwohnungsbestand) und Geldmittel verfügbar gemacht werden (nach Angaben des Bayerischen Gemeindetages liegt der Kostendeckungsgrad für kommunale Aufgaben, die den Kommnunen seitens des Staates übertragen worden sind, bei gerade 35 Prozent). Die „lokale Inzidenz" gesellschaftlicher Problemlagen (J. J. Hesse) und die fortschreitende Kommunalisierung öffentlicher Leistungsfunktionen machen das politisch-administrative System der Städte und Gemeinden zum direkten Adressaten steigender Bürgererwartungen und wachsender Bürgerkritik, da die unzureichende Finanzausstattung zu Einsparungen im freiwilligen Leistungsangebot der Kommunen nötigt. Die Akteure der örtlichen Politik und Verwaltung reagieren auf diesen Problemdruck mit einer zusätzlichen Politisierung des kommunalpolitischen Prozesses, deren Erscheinungsformen, in Kenntnis ihrer bislang ungenügenden empirischen Absicherung, hier abschließend knapp umrissen werden sollen: Die Funktionen und Eigenaktivitäten der örtlichen Parteiverbände verlagern sich vom input- auf den output-Bereich des lokalen Sektors politischer Interessenvermittlung. D.h. im Vergleich mit der Wahrnehmung politischer Beteiligungs- und Integrationsfunktionen wird es aus Sicht der Parteien wichtiger, auf das Leistungsangebot der Kommunalpolitik Einfluß zu nehmen. Mit diesem Perspektivenwechsel lokaler Parteipolitik geht, zweitens, einher, daß die erwähnten ,kritischen' Politikfelder verstärkt parteipolitisch kontrovers besetzt werden. Je entschiedener ein eigenes Parteiprofil aufgebaut wird, sei es bezogen auf ein kommunales Gesamtinteresse (etwa bei Verabschiedung einer neuen Abfallsatzung), sei es mit Blick auf die Interessen sozialer Großgruppen (Mieter, Pendler,
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Kulturverbraucher), um so eher mag man hoffen können, bei Wahlen Mobilisierungsdefizite auszugleichen. So erklärt sich, daß kommunale Betroffenen-Politik immer häufiger medienwirksam inszeniert wird, wobei die Polarisierung zwischen den Ratsparteien härter, die öffentlich ausgetragene Kontroverse im Stil und Umgangston schärfer wird. Jcdoch stößt die Strategie der parteipolitischen Instrumentalisierung der Kommunalpolitik mitunter an ihre Grenze - Konfrontation um des schieren Machtvorteils willen wird, wie das Augsburger Beispiel zeigt, vom Bürger nicht gebilligt. Folglich ist örtliche Parteipolitik bemüht, ihre kommunalpolitischen Initiativen als die jeweils sachpolitisch optimale Lösung vorzustellen. Dies intensiviert wiederum (das ist der dritte Ansatz für Politisierung) das Interesse der Parteien an einer parteikonformen Besetzung der Leitungsstellen in der Kommunalverwaltung; sachpolitischer Beistand der Fachreferate soll dadurch für eigene Konzepte dienstbar gemacht, für alternative Entwürfe konkurrierender Parteien neutralisiert werden.
VI. Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung Im Gegensatz zur ideologischen, konfliktgeladenen, parteigesteuerten Staatspolitik sieht man in der kommunalen Selbstverwaltung, trotz der oben beschriebenen Trends zur Politisierung an einer herkömmlichen Auffassung festhaltend, vielfach einen sachbezogenen, praxisnahen, überschaubaren und harmonisch funktionierenen Bereich. Aus dieser vermeintlichen strukturellen Spannung zwischen Staats- und Kommunalpolitik entwickelte sich in der kommunalrechtlichen Literatur eine Debatte über die Rolle der Kommunalpolitik als Politik oder Verwaltung, in der es nicht zuletzt um die Frage geht, ob die kommunale Vertretungskörperschaft als ein Parlament anzusehen sei. Diese Vorstellung wird von Kommunalverfassungsrechtlern überwiegend zurückgewiesen, weil sich die Rechtsstellung des Organs Kommunalvertretung und die seiner Mitglieder so stark von der eines staatlichen Parlamentes unterscheide, daß die Bezeichnung „Kommunalparlament" unangemessen sei. Als Beispiele für derartige Unterschiede werden u.a. die fehlende Immunität und Indemnität der Kommunalvertreter sowie die staatlichen Aufsichtsrechte gegenüber der kommunalen Vertretungskörperschaft genannt (ausführlich: Wurzel: 1975; Schröder: 1979). Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die betreffenden Positionen ausführlich zu würdigen. Lediglich an zwei Gesichtspunkten kann die Fragwürdigkeit der Differenzierung zwischen staatlichen und kommunalen Parlamenten aufgezeigt werden. Eine der gravierendsten Unstimmigkeiten in der betreffenden Argumentation besteht in der Vermischung von normativen Argumenten und Tatsachenbeschreibungen. So ist z.B. die Beobachtung, daß in Kommunalparlamenten Freie Wählergruppen vertreten sind, als normatives Argument gänzlich belanglos. Zudem stellt sich die Frage, ob z.B. die aus den Wahlgrundsätzen resultierenden Gemeinsamkeiten zwischen staatlichen und kommunalen Parlamenten sowie die Ähnlichkeit zwischen dem kommunalen Satzungsrecht und der parlamentarischen Gesetzgebungsbefugnis nicht ungleich stärker zu gewichten sind, als dies in der kommunalrechtlichen Literatur geschieht. Auf die normativen Aspekte des Problem „Kommunale Demokratie zwischen Politik und Verwaltung" soll hier nicht eingegangen werden (ausführlicher: Gabriel: 1984, S. lOlff.). Statt dessen ist zu fragen, wie die beteiligten Akteure, insbesondere die
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Gemeindebevölkerung und die Inhaber kommunaler Entscheidungspositionen, die politischen und administrativen Komponenten in der Kommunalpolitik gewichten. Erste Untersuchungen über die „Politikfähigkeit" der kommunalen Selbstverwaltung finden sich in einer Ende der sechziger Jahre durchgeführten Repräsentativumfrage in Frankfurt, Münster und Erlangen. In ihr vertraten mehr als zwei Drittel der Befragten die Auffassung, in der Gemeinde solle nicht nach politischen Gesichtspunkten entschieden werden. Über 60 Prozent stimmten der Aussage zu, die Führung der Gemeinde sollte am besten in die Hände unpolitischer Fachleute gelegt werden. Eine starke Minderheit ließ nur ein geringes Verständnis für die demokratischen Attribute der kommunalen Selbstverwaltung erkennen, z.B. für die demokratische Wahl der Gemeindevertretung. Alle diese Einstellungen deuten auf erhebliche Vorbehalte gegenüber parteienstaatlich-wettbewerbsdemokratischen Prinzipien hin. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob die negativen Einstellungen zu parteienstaatlichen Strukturen nicht auch die nationale Ebene betreffen und somit zu den generellen Merkmalen der politischen Kultur der Bundesrepublik gehören. Zwar gibt es Hinweise darauf, daß die Bevölkerung die Rolle der Parteien in der Kommunalpolitik etwas kritischer bewertet als auf der nationalen Ebene, doch ist die Einstellung zu den Parteien im Bund und in den Kommunen wohl am zutreffendsten als ambivalent zu charakterisieren (Gabriel: 1991b). Wie unter den Bürgerinnen und Bürgern, bestehen auch unter den Inhabern kommunaler Führungspositionen keine einheitlichen Vorstellungen von der Rolle der kommunalen Selbstverwaltung. Im Sinne des traditionellen Vorstellungsbildes verstehen sie die Kommunalpolitik mehrheitlich als sachbezogene, konflikt-, ideologie- und parteiferne Regelung von Verwaltungsaufgaben. Eine starke Minderheit räumt jedoch die Existenz einer parteipolitischen Dimension ein und bewertet diese nicht als dysfunktional (ausführlicher Gabriel: 1984; 1991b, Simon: 1988). Vergleicht man die wenigen vorliegenden Daten über die lokale politische Kultur mit entsprechenden Informationen über die nationale Politik, dann scheinen die Einstellungen zur Kommunalpolitik zu einem erheblichen Teil generelle, für alle Ebenen des politischen Systems maßgebliche Wahrnehmungen und Bewertungen zu reflektieren. Die noch in den fünfziger Jahren bestehenden Unterschiede zwischen der lokalen und der nationalen politischen Kultur haben sich offenkundig abgeschwächt. Nicht nur in struktureller, auch in kultureller Hinsicht wurde die kommunale Selbstverwaltung mittlerweile in das politische System integriert. Simon (:1988, S. 102) charakterisiert die Bewertung der kommunalen Selbstverwaltung durch die Bevölkerung und die Führungsgruppen folgendermaßen: „Die administrative Vorstellung von Kommunalpolitik überwiegt. Sie wird aber keineswegs so ausschließlich vertreten, wie gelegentlich unterstellt wird. Vielmehr gibt eine beachtliche Minderheit einem politischen Verständnis der Kommunalpolitik den Vorzug. Beide Grundeinstellungen sind aber in der Regel nicht in einem reinen Typ vorzufinden, sondern in wechselnder Akzentuierung und Vermischung auch mit Elementen der jeweils anderen Einstellung. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß die wenigsten Kommunalpolitiker solche Fragen in den Zusammenhang einer reflektierten Systemvorstellung bringen, sondern eher ad hoc und aufgrund von persönlichen Erfahrungen einzeln bewerten" (Hervorh.d. Verf.).
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VII. Kommunale Selbstverwaltung im Bundesstaat Die Stellung der Kommunalen Selbstverwaltung im repräsentativen Verfassungssystem des Grundgesetzes ist, wie dargelegt, durch die Grundsätze der lokalen Eigenständigkeit und der Einbindung lokaler Verwaltungskraft in den mehrstufigen Staatsaufbau gekennzeichnet. Kommunale Eigenständigkeit realisiert sich in dezentraler Wahrnehmung öffentlicher (staatlicher) Aufgaben sowie in den Einrichtungen örtlicher Selbstregierung. Kommunale Selbstverwaltung ist heute, wie die vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission Verfassungsreform in den 70er Jahren feststellte, eine „dezentralisierte Verwaltungsform zur eigenberechtigten Erledigung öffentlicher Angelegenheiten durch Organe, die von örtlichen Gemeinschaften konstitutiert werden" (BT-Drs. 7/5294, S. 220). Die damit angedeutete verfassungsrechtliche Sonderposition, welche die Kommunale Selbstverwaltung im zweigliedrigen Bund-Länder-Staatsaufbau der Bundesrepublik einnimmt, verpflichtet beispielsweise den Gesetzgeber, bei der Ordnung der Wahlrechtsbestimmungen zu den Vertretungskörperschaften der Gemeinden die vergleichsweise hohe Bedeutung des Persönlichkeitsfaktors bei örtlichen Wahlgängen zu berücksichtigen. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in den 50er Jahren zwar die Übertragung der Fünfprozent-Sperrklausel auf die kommunale Ebene grundsätzlich für zulässig erklärt, aber ein Wahlvorschlagsmonopol politischer Parteien verneint (BVerfGE 6,12, B V e r f G E 11,30). Das Gericht begründete dies damit, daß auch Bewerbern, die mit den heimischen Verhältnissen besonders vertraut sind, eine angemessene Wählbarkeitschance gewährleistet sein muß; daher müsse auch ortsgebundenen, lediglich kommunale Interessen verfolgenden Wählergruppen eine chancengleiche Teilnahme an Kommunalwahlen gewährleistet sein. In der Tat ist die Persönlichkeitswahl immer noch ein spezifisches Strukturmerkmal des kommunalen Parlamentarismus. Dessen politisches Gewicht scheint jedoch generell auf den ersten Blick gemindert, wenn darauf verwiesen wird, daß die Gemeinden als lokale weisungsgebundene Organe staatlicher Auftragsverwaltung fungieren - sie insoweit als Träger öffentlicher Gewalt immer auch „selbst ein Stück ,Staat' sind" (BVerfGE 73, 3) - und gerade auch im eigenen Wirkungskreis durch Bundes- und Landesgesetze, durch zentrale Fach- und Entwicklungsplanungen sowie zweckgebundene Investitionszuweisungen seitens des Staates übersteuert werden. Indes läßt sich die Tatsache, daß heute rund 75 - 80 Prozent aller ausführungsbedürftigen Gesetze des Bundes von Städten, Gemeinden und Kreisen vollzogen werden, nicht nur als Aushöhlung, sondern auch als Einflußchance der Kommunalen Selbstverwaltung deuten: Bund und Länder, die nur über einen vergleichsweise bescheidenen eigenen örtlichen Verwaltungsunterbau verfügen, sind für die Ausführung ihrer gesetzlichen Vorhaben auf die Vollzugsloyalität der Kommunen angewiesen.
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§ 22 Landesparlamente Uwe Jun I. Föderalismus und Landesparlamente. - II. Funktionen und Zuständigkeiten der Landesparlamente. - III. Der Abgeordnete. - IV. Das Verhältnis von Regierung und Opposition. - V. Aussichten: Die Landesparlamente nach der deutschen Einigung. Grundlagenliteratur Böhringer, A n t o n / S c h m i d t , Walter W. (1989): „Die Landtage". In: Bundestag, Bundesrat, Landesparlamente. Rheinbreitenbach, S. 97ff. Friedrich Manfred (1975a): Landesparlamente in der Bundesrepublik. Opladen. Ders. (1989a): „Entwicklung und gegenwärtige Lage des parlamentarischen Systems in den Ländern". In: Schneider, H a n s - P e t e r / Z e h , Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 1707ff. Klatt, Hartmut (1989a): „Bundestag und Landesparlamente". In: Schneider, Hans-Peter / Zeh, Wolfgang (Hg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a., S. 1777ff. Scharpf, Fritz W. / Reissert, Bernd / Schnabel, Fritz (1976): Politikverflechtung. Kronberg/Ts. Stober, Rolf ( 2 1989): „Kompetenzverschiebungen zwischen den Landesparlamenten und den anderen Staatsfunktionen". In: Das Selbstverständnis der Landesparlamente. München, S. 15ff. Thaysen, Uwe (1985): „Mehrheitsfindung im Föderalismus". In: A P u Z B 35, S. 3ff. siehe auch Hilfsmittel Teil B, VI., 2.
I. Föderalismus und Landesparlamente Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist der Föderalismus als Gestaltungs- und Aufbauprinzip der staatlichen Organisation unabänderlich festgeschrieben (zum Föderalismus- Verständnis des Grundgesetzes Isensee: 1990; Hesse, K: 171990). Diesem Grundprinzip inhärent ist die Aufteilung staatlicher Macht zwischen Bund und Ländern. Die Kooperation von Bund und Ländern ist das bestimmende Strukturmerkmal des deutschen Föderalismus, es entspricht einer langen deutschen Verfassungstradition, dessen Wurzeln noch weit vor 1871 liegen, (dazu allgemein § 21.). Der Föderalismus verkörpert also ein traditionales Struktur- und Ordnungsprinzip Deutschlands. Das Prinzip des Föderalismus ermöglicht im Gesamtstaat ein gewisses Maß an Heterogenität und den einzelnen Bundesländern einen eigenen Gestaltungsspielraum. Unumstritten ist daher in der Politikwissenschaft die eigene, wenn auch durch die gesamtstaatliche Verfassungsordnung beschränkte Staatsgewalt der
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Länder; die Gliedstaaten verfügen im Rahmen der Grundprinzipien der Bundesverfassung entsprechend über ein autonomes Verfassungsrecht. Wie das Grundgesetz so sehen auch alle Verfassungen der Bundesländer ein parlamentarisches Regierungssystem vor. Das Bundesverfassungsgericht hat Art. 28 Abs. 1 G G entsprechend dahingehend interpretiert, daß in den Ländern der Grundsatz der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung gegeben sein muß (BVerfGE 24, S. 44ff: (i.e. § 1 II. und III.; §21.). Auch für die fünf neuen Bundesländer galt es daher als selbstverständlich, ein parlamentarisches Regierungssystem mit einem Parlament als oberstem Organ der politischen Willensbildung einzuführen. Für ein parlamentarisches Regierungssystem unabdingbar ist ein Parlament als selbständiges Gesetzgebungsorgan mit originären Kompetenzbereichen, wie sie sie den Landesparlamenten im bundesstaatlichen Gewaltenteilungsprinzip zugewiesen sind. Die Länder und damit die Landtage verfügen also im Bundesstaat über eigene, wenn auch stark eingeschränkte Gesetzgebungszuständigkeiten gegenüber dem Bund. Dieser autonome Handlungsspielraum der Länder hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik allerdings erheblich verringert, wohingegen der Bund seine Gesetzgebungszuständigkeiten auf Kosten der Länder immer weiter ausgebaut hat. Probleme und Aufgaben des sozialen Bundesstaates („Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse") werden als entscheidende Gründe dafür angeführt. D e r Bund konnte eine weiterführende Koordination beanspruchen: Folge davon war eine Unitarisierungdes Bundesstaates (Hesse, K.: 1962). Die Möglichkeiten f ü r eine alternative Politik in den Bundesländern gegenüber der Politik der Bundesregierung sind insgesamt spürbar kleiner geworden: „Das traditionelle Substrat der Eigenstaatlichkeit der Länder - Individualität und Entscheidungsautonomie - schwindet dahin" (Thaysen: 1985, S. 4). Einzelne Landesregierungen sind sogar der Auffassung, daß nunmehr nach dem Vollzug der politischen Einheit in Deutschland der Handlungsspielraum der Länder aufgrund der Finanzpolitik des Bundes als kaum noch existent zu bezeichnen sei (Frankfurter Rundschau vom 2.5.1992). Daraus folgt die Aufforderung der Länder an die Bundesregierung, den eigenständigen Gestaltungsspielraum der Länder auch im geeinten Deutschland zu erhalten und bei einer Änderung des Grundgesetzes den Föderalismus auch im Hinblick auf die europäische Integration zu stärken. Für eine Schwächung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten der Bundesländer wird weiterhin die besondere Ausprägung des kooperativen Bundesstaates, d.h. die wachsende Politik- und Verwaltungsverflechtung zwischen Bund und Ländern sowie die zunehmenden Interdependenzen zwischen den eigentlich autonomen staatlichen Ebenen als noch bedeutsamer angeführt. Politikverflechtung bedeutet also nicht eine durchgehende Zentralisierung zugunsten des Bundes, sondern auch, daß staatliche Aufgaben von den einzelnen Gebietskörperschaften nicht in getrennter Zuständigkeit wahrgenommen werden. Entstanden sind Kompetenverschränkungen, ein Zusammenwirken zunächst autonomer Entscheidungsinstanzen (Scharpf/Reissert/Schnabel: 1976). Besonders kennzeichnend für den deutschen Föderalismus ist die „Kooperation sowohl zwischen den Länderexekutiven wie zwischen ihnen und der Bundesregierung" (Friedrich: 1990a: S. 35). Diese enge Kooperation der Exekutiven hat zwangsläufig Einschränkungen der alleinverantwortlichen Kompetenzwahrnehmung durch das einzelne Land, insbesondere und in erster Linie durch die Landesparlamente zur Folge. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird daher seit langem ein permanenter politischer Funktions- und Bedeutungsverlust der Landesparlamente konstatiert (Friedrich: 1975a, S. 7; 1989. S. 1710f.; Klatt:
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1989a, S. 1785f.; Thaysen: 1985, S. 5f.; Schneider, H.: 1979, S. 129; Geiger: 1988, S. 52). Es stellt sich somit die Frage, inwieweit die Landesparlamente bei der Planung und Programmaufstellung relevanter Politikaufgaben noch miteinbezogen werden? Welche eigenen Aufgaben verbleiben den Landesparlamenten, auch angesichts der Schaffung der europäischen Union? Welche Rechte und Möglichkeiten hat der einzelne Abgeordnete? Zur Klärung dieser Fragen ist es zunächst erforderlich, die einzelnen Aufgaben der Landtage genauer zu explizieren und zu analysieren, inwieweit die Landesparlamente die ihnen zugedachten Aufgaben überhaupt noch wahrnehmen.
II. Funktionen und Zuständigkeiten der Landesparlamente In der Beurteilung über die zu erwartenden Leistungen der Landesparlamente herrscht eine deutliche Divergenz vor, wenn auch im allgemeinen der These beigepflichtet wird, daß die Landesparlamente teilweise erhebliche Kompetenzverluste hinnehmen mußten. Einzelne Autoren gehen ungeachtet dessen weiterhin davon aus, daß die noch vorhandenen Kompetenzen ausreichen, sodaß die Landtage weiterhin eine wirkungsvolle Rolle im politischen Gesamtsystem spielen können (Böhringer/Schmidt: 1989, S. 97ff.; Hahn: 1987, S. 4 und 103; Steffani: 1987, S. 258f.), da auch ein angemessener Wandel der parlamentarischen Funktionen zu beobachten sei. Andere wiederum sprechen von einer Funktionsentleerung der Landesparlamente, von einem Absinken bis hin zur Bedeutungslosigkeit. Die Landesparlamente seien nur noch Legitimationsbeschaffer, sie rechtfertigten politische Entscheidungen, auf die sie letztlich keinen bestimmenden Einfluß hätten (Lhotta: 1991). Durch die Vollendung der politischen Einheit Deutschlands treten jedenfalls neue Probleme hinzu: Schon das Faktum, daß der Bund zur Überwindung der Disparitäten zwischen den „alten" und „neuen" Ländern eine noch stärkere Zentralisierung und Koordinierung anstreben wird, kann zu einer weiteren Schwächung der Funktionen der Landtage führen. Die Finanzknappheit läßt den Spielraum der Landesregierungen und noch mehr der Landtage nicht nur, aber insbesondere in den ostdeutschen Ländern in der gegenwärtigen Situation als denkbar gering erscheinen. Im folgenden soll daher zunächst die Frage geklärt werden: Welche Funktionen nehmen die Landesparlamente wahr, welcher Handlungsspielraum verbleibt ihnen? Im Anschluß an Klatt sollen für die Landesparlamente insgesamt vier Funktionen betrachtet werden: Gesetzgebungsfunktion, Wahlfunktion, Kommunikationsfunktion und Kontrollfunktion (Klatt: 1989a, S. 1785). Die Landtage werden in ihrer Gesamtheit betrachtet, obwohl die Ausgestaltung des parlamentarischen Systems in den einzelnen Landesverfassungen durchaus bemerkenswerte Varianten enthält; auf diese wird im einzelnen noch zurückzukommen sein, obwohl sie „im politischen Leben der Länder keine allzu große Bedeutung erlangt" haben (Schneider, H.: 1979, S. 13).
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1. Gesetzgebung: Kaum noch eigene Zuständigkeiten? Insbesondere bei der Wahrnehmung ihrer Aufgabe als Gesetzgeber kann von einem massiven Kompetenzverlust der gliedstaatlichen Parlamente gesprochen werden, der legislatorische Gestaltungsspielraum der Landtage ist in einem erheblichen Maße eingeschränkt worden (so schon Friedrich: 1975a, S. 54; Klatt: 1989a, S. 1787; Böhringer/Schmidt: 1989, S. 97ff.; zu einzelnen Kompetenzverlusten Stober: 1989, S. 18ff.). Dazu geführt haben zahlreiche Grundgesetzänderungen, die besonders in der Phase der „Großen Koalition" in Bonn beschlossen wurden: Von bisher in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten 36 konstitutionellen Revisionen wirkten sich mehr als 20 Änderungen direkt oder indirekt auf das Bund-Länder-Verhältnis aus. Ausgebaut wurde die finanzielle und planerische Mitwirkung des Bundes bei bisherigen Länderaufgaben, im besonderen geschehen durch die sogenannten Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und b des Grundgesetzes. Gerade bei dieser gemeinsamen Finanzierung und Planung wurde deutlich, wie wenig Berücksichtigung die Landtage bei der Zielfestlegung und Alternativauswahl der Aufgabenerfüllung gefunden haben (Kisker: 1971, S. 120 ff.; Schneider, H.-P.: 1980, S. 24; Klatt: 1989a, 1795f.). Zwar haben hier die Landesparlamente das Recht zur Sachberatung und Stellungnahme zu den Anmeldungsentwürfen der Landesregierungen, diese bleiben jedoch häufig wirkungslos, da die Landesexekutive die Stellungnahme des Parlaments oft nur als unverbindliche Meinungsäußerung versteht. Auch werden den Landesparlamenten die Anmeldungsentwürfe zu den Rahmenplänen häufig erst so spät vorgelegt, daß inhaltliche Mitwirkungsmöglichkeiten ohnehin kaum noch möglich sind. Konstatiert werden kann also eine defizitäre Mitwirkung der Landtage an der Rahmenplanung, zumal in den eigentlichen Planungsausschüssen nur Regierungsmitglieder und Exekutivbeamte sitzen. Die in den Landeshaushaltsordnungen verankerte Regelung, daß das Parlament vor dem Eintreten in die Verhandlungen mit dem Bund und den anderen Ländern informiert bzw. konsultiert werden soll, hat in dieser Form nicht zu einer stärkeren Aufwertung der Landesparlamente geführt. Neben dieser Übertragung von Gesetzgebungszuständikeiten durch Grundgesetzänderungen und durch weitere Eingriffe des Bundes hat das nahezu vollständige Ausschöpfen der Gesetzgebungskompetenzen durch den Bund über die ausschließliche und ungeschriebene Rechtsetzung hinaus zu erheblichen Kompetenzverschiebungen geführt, hier auch durch die Inanspruchnahme konkurrierender, rahmensetzender und grundsatzgebender Zuständigkeitskataloge. Hierbei kann von einem exzessiven Gebrauch des Bundes zu Lasten der Länder gesprochen werden (Stober: 1989, S. 20). Die Länder können nur noch Ausführungs- und Ausfüllungsgesetze erlassen, wobei es sich kaum noch um substantielle Normen handelt, sondern vielmehr um Zuständigkeits- und Organisationsvorschriften, die Gesetzgebung wird vom Bund weitgehend vordeterminiert. Aber nicht nur die deutliche Kompetenzverschiebung in der Gesetzgebung zugunsten des Bundes schränkt die Landesparlamente erheblich ein, sondern auch die Vorfixierung wichtiger politischer Entscheidungen durch Vereinbarungen, Abmachungen und Planungen der Länderexekutiven, an denen die Landesparlamente häufig nur am Rande mitwirken. Hatten also die Landesgesetzgeber im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder lange Zeit noch wesentliche Einwirkungsmöglichkeiten, so haben auch diese durch die ständig wachsende Kooperation der Länderexekutiven an Bedeutung verloren.
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Prägnante Beispiele für diese Exekutiv-Kooperation ist die Konferenz der Ministerpräsidenten oder die einzelnen, immer bedeutsamer gewordenen Fachministerkonferenzen wie die Kultusministerkonferenz, bei der zahlreiche wichtige Entscheidungen in der Schulpolitik ausgehandelt werden, ohne daß der eigentlich autonome Landesgesetzgeber eine entscheidende direkte Einwirkungsmöglichkeit hat. Und dies obwohl damit die Kulturhoheit, die neben der Verwaltungshoheit als eine der beiden Säulen der Länderhoheit angesehen werden muß (Friedrich: 1975a, S. 56) als das Kernstück der Länder angetastet wird. Wenn auch die Landesparlamente als kulturelle Gesetzgeber noch immer ihre herausragende Bedeutung besitzen, so gilt dennoch: Die originären landesindividuellen Gesetzgebungsmöglichkeiten - auch in der Bildungspolitik - sind geschrumpft zugunsten eines auf Konsensbildung angelegten Aushandlungsprozesses der Fachministerien, wobei als zusätzliches Hindernis die vereinbarte Einstimmigkeitsregel eingebaut ist. Diese „faktische Anerkennung des Einstimmigkeitsprinzips" (Scharpf: 1985, S. 328) schwächt desweiteren die Stellung der Landesparlamente, da sie real kaum die Möglichkeit besitzen, einen bereits ausgehandelten Kompromiß der Exekutiven zu desavouieren, ohne nicht Gefahr zu laufen , den Interessen des eigenen Landes zu schaden. Kooperation der Exekutiven als Strukturprinzip des deutschen Bundesstaates beschneidet so den verbliebenen, engen Gesetzgebungsspielraum der gliedstaatlichen Parlamente in den eigenständigen Gesetzgebungsmaterien der Länder. Die zwischen den Landesregierungen und den Landtagen vereinbarte Unterrichtung über die Ergebnisse der einzelnen Konferenzen der Fachminister kann nicht als eine ausreichende Kompensation für den verlorengegangenen Gesetzgebungsspielraum der Landtage angesehen werden. Zu den wenigen eigenständigen Gesetzgebungsmaterien zählt noch die gerade in den letzten Jahren bedeutsam gewordene Zuständigkeit der Länder im Rahmen der Rundfunkfreiheit um den Komplex „Neue Medien"; insbesondere in der Frage der Zulassung und Ausgestaltung von privatem Rundfunk haben die Landtage ein neues Terrain für sich gewinnen können, in dem sie autonome Gesetzesvorhaben durchsetzen können, so daß hier eine Materie von durchaus nicht geringzuschätzendem Gewicht in eigener Landeskompetenz zu regeln ist (hierzu ausführlicher Schodder: 1989, S. 208ff.). Hier haben die Landtage in den letzten Jahren wesentliche Entscheidungen selber getroffen, so in Fragen der Rundfunkorganisation und der Leitgrundsätze für ein ausgewogenes Programm: Als sich den fünf neuen Bundesländern die Aufgabe stellte, eigene öffentlichrechtliche Landesrundfunkanstalten aufzubauen, bestand die Alternative einer Anstalt für jedes Bundesland oder die Einführung von Mehr-Länder-Anstalten. Während sich Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt für eine drei Länder umfassende Rundfunkanstalt entschieden, hat der brandenburgische Landtag ein Landesrundfunkgesetz verabschiedet, das bis zur Fusion mit dem Sender Freies Berlin eine landeseigene Rundfunkanstalt vorsieht. Als Hauptbegründung hieß es aus der Staatskanzlei, daß in dem für die Länder besonders wichtigen und „identitätsstiftenden" Feld des Rundfunks nicht gleich wieder ein neuer Zentralismus durchgesetzt werden sollte (Frankfurter Rundschau vom 26. 2.1991). Bei einem Staatsvertrag über eine Mehrländeranstalt würde sich das einzelne Land so heißt es in der Begründung weiter - mehr oder weniger aus der Rundfunkpolitik verabschieden. An diesem und an dem Beispiel des bis 1992 als Drei-LänderAnstalt sendenden Norddeutschen Rundfunks (zum 1.1. 1992 trat MecklenburgVorpommern als viertes Bundesland dem Staatsvertrag bei), um dessen Pro-
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grammausgestaltung es verschiedene Differenzen zwischen den beteiligten Ländern bis hin zur Androhung der Kündigung des Staatsvertrages gab, wird deutlich, daß mit jeder Form einer Zusammenarbeit der Bundesländer sich eine Einschränkung der Wahrnehmung alleinverantwortlicher Kompetenz für das einzelne Land, insbesondere für das Landesparlament ergibt. Daß sich die Landesparlamente in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen im Jahr 1991 dennoch für die Gründung einer Drei-Länder-Anstalt ( M D R ) entschieden, hat nahezu ausschließlich finanzielle und organisatorische Gründe. Als ein beachtenswertes Exempel für den vorhandenen eigenständigen Handlungsspielraum eines Landtages in der Medienpolitik soll der Rundfunkgebührenstaatsvertrag von 1987 erwähnt werden. (Klatt: 1989a, S. 1797f.). Der geplante Vertrag über eine Erhöhung der Rundfunkgebühren wurde bereits von zehn Landesparlamenten rechtsverbindlich unterschrieben, auch die Landesregierung von Baden-Württemberg befürwortete die neue Regelung, die eine deutliche Gebührenerhöhung vorsah. Doch die Mehrheitsfraktion im Stuttgarter Landtag (CDU) votierte dagegen und setzte gegen vielerlei Widerstände durch, daß die Regierung Baden-Württembergs den Vertragsentwurf nicht unterzeichnete. Da die oben schon genannte Einstimmigkeitsregel gilt, waren neue Verhandlungen zum Rundfunkgebührenstaatsvertrag notwendig geworden. Als Ergebnis der Verhandlungen standen eine neue Struktur der Gebührenerhöhung sowie eine Verschiebung der Erhöhung um ein weiteres Jahr. Wenn auch dieses Beispiel eher als Ausnahme gelten muß, so zeigt es dennoch an, daß bereits präjudizierte Entscheidungen durch die Exekutiven von den Parlamenten in Einzelfällen noch verändert werden können. Zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang der These, daß manche konzeptionelle Auszehrung sich kompensieren ließe, nur müßten die Landtage die vorhandenen Optionen stärker ausschöpfen, was in zahlreichen Fällen nicht geschieht (Stober: 1989, S. 35), einzelne Autoren sprechen daher sogar schon von einer „Selbstentmachtung" der Landesparlamente (Gress: 1990, S. 178f.; Lhotta: 1991, S. 263). Zusätzliche Unterstützung für eine stärkere Kompetenzwahrnehmung erhalten die Landesparlamente durch die vom Bundesverfassungsgericht mit dem Begriff „Parlamentsvorbehalt" umschriebene Kompetenzverlagerung, nach der der Landesgesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen hat (s.a. § 18 II.). Dieser Gesetzesvorbehalt ist zwar prinzipiell anerkannt, dennoch bleiben gegenüber Regierungs- und Verwaltungsvorbehalt Fragen offen, darüberhinaus haben die Parlamente daraus nicht umfassend genug die Konsequenzen gezogen (Böhringer/Schmidt: 1989, S. 102; Stober: 1989, S. 16f.). Die Landesparlamente sollten daher konsequenterweise die politischen Grundentscheidungen des Landes in den originären Gesetzgebungsmaterien selbst festlegen: die noch verbliebenen eigenen Gesetzgebungskompetenzen liegen in den Bereichen Kultur (insbesondere Bildung, Wissenschaft, Erziehung, aber auch Theater, Museen etc.), der öffentlichen Sicherheit (Polizei), des Baurechts, des Rundfunk- und Pressewesens sowie in der Landesverwaltung, der regionalen Wirtschaft und auf dem kommunalen Sektor. Nicht bestritten werden soll, daß die Länder in einigen dieser Bereiche durchaus alternative Politikkonzeptionen verfolgen, jedoch nahezu ausschließlich initiiert von der jeweiligen Landesregierung mit teilweise geringer Einwirkung der Landtage. Als eine wesentliche Ursache für die starke Stellung der Landesregierungen gegenüber den Parlamenten hat der Informationsvorsprung der Exekutive zu gel-
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ten, die auf den hohen Sachverstand der Ministerialbürokratie und des Verwaltungsapparates zurückgreifen kann. Handlungsnotwendigkeiten und -bindungen ergeben sich für die Landesexekutive auch weniger aus der Interaktion mit dem Parlament als vielmehr aus den Voraussetzungen der organisierten Abstimmung mit verschiedenen staatlichen Leitungsbürokratien (Friedrich: 1989, S. 171 lff.). Sodann kann die Landesregierung bei der Planung von entscheidenden politischen Aufgaben auf die Information des bürokratischen Apparates zurückgreifen, was dem Parlament nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist. Zudem werden die Parlamente bei politischen Planungen von der Exekutive häufig so spät informiert, daß die Einwirkungsmöglichkeiten gering bleiben (Schiller/Winter: 1990, S. 247:" Hessens Vorreiterrolle im Bereich der politischen Planung impliziert ebenfalls eine Stärkung der Regierung, da der Landesentwicklungsplan von der Regierung ohne parlamentarische Mitwirkung erarbeitet und festgestellt' und erst dann dem Landtag zugeleitet wird"). Die Mitwirkung der Landtage bei Planungsentscheidungen ist aber geboten, weil ansonsten die Parlamente von der Staatsleitung ausgeschlossen bleiben (Böhringer/Schmidt: 1989, S. 104). Die Gesetzgebungs-und Kontrollfunktion können die Landesparlamente nämlich nur dann sinnvoll wahrnehmen , wenn sie bei der Planung grundlegender politischer Vorhaben beteiligt werden und entsprechende Einwirkungsmöglichkeiten besitzen. Lothar Gaa hat in seiner Bestandsaufnahme über die Mitwirkung des Landtags von Baden-Württemberg bei Planungen in den Jahren 1972 bis 1982 auf das Problem der frühzeitigen Beteiligung der Parlamente aufmerksam gemacht, wobei er als sehr problematisch die Beteiligungspraxis im föderativen Planungsverbund, d.h. die notwendige Einbindung der Landtage bei Planungen von Bund-Länder-Gremien, ansah (Gaa: 1983, S. 65ff.). Mit der Mitsprache bei insbesondere den für das einzelne Bundesland politisch oder in ihrer finanziellen Tragweite wesentlichen Planungen hat eine Parlamentstätigkeit erheblich an Bedeutung gewonnen, sie wird durch die europäische Integration noch weiter an Bedeutung gewinnen.
a) Die Rolle der Landtage im Prozeß der europäischen Integration Neben dem binnenstaatlichen Föderalismus bildet die E G eine zweite Kooperations- und Koordinationsebene vorwiegend der nationalen Exekutiven und ihrer Verwaltungsapparate, sodaß hierfür der Begriff der „doppelten Politikverflechtung" (Scharpf: 1985) geprägt wurde. Da es sich hierbei fast ausschließlich um eine Kooperationsform der Regierungen handelt, ist die Frage aufzuwerfen, inwieweit Parlamente, insbesondere die Landesparlamente der Bundesrepublik Deutschland, am Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß auf europäischer Ebene partizipieren können. Nach Art. 24, Abs. 1 G G kann der Bund per Gesetz Hoheitsrechte - nach allgemeiner Auffassung auch bei ausschließlichen Zuständigkeiten der Länder - auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen. Dieses Integrationsprinzip steht in einem unabweisbaren Spannungsverhältnis zum Bundesstaatsprinzip (ausführlich Tomuschat: 1988). Immerhin wird in der derzeitigen Diskussion um eine Veränderung des Grundgesetzes die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung der Länder an außenpolitischen Prozessen im Rahmen der europäischen Integration zentral berücksichtigt. Ein System abgestufter Mitwirkungsrechte des Bundesrats soll in Zukunft den Ländern eine Mitwirkung an der Willensbildung im
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Bereich der Europapolitik garantieren. Eine entsprechende Zusage der Bundesregierung liegt bereits vor. In das Grundgesetz soll ein neuer „Europa-Artikel" eingefügt werden, der u.a. die Rechte der Länder festschreibt; so soll es in Zukunft der Zustimmung des Bundesrats bedürfen, wenn der Bund Hoheitsrechte auf die europäische oder auf eine zwischenstaatliche Ebene verlagern will (Süddeutsche Zeitung vom 2.5.1992). Dies betrifft die Länder vornehmlich bei der Wahrung ihrer eigenen Gesetzgebungs- und Ausführungskompetenzen. Insgesamt erreicht die Frage, ob die Entwicklung abnehmender Regionalkompetenzen im europäischen Integrationsprozeß aufgehalten oder sogar in eine entgegengesetzte Richtung gelenkt werden kann, eine zunehmend wichtigere Bedeutung für diesen Prozeß (zu dieser Fragestellung insgesamt die Beiträge in dem Sammelband Magiera/Merten: 1988). Um die Wahrung des Bundesstaatsprinzips sinnvoll zu gestalten, erscheint aber nicht nur eine Mitwirkung des Bundesrats, sondern auch der Landtage am europäischen Willensbildungsprozeß zumindest in den Fällen erforderlich, in denen eben ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Bundesländer tangiert sind; denn die wachsende europäische Integration hat in den letzten Jahren zu einer Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen von den Bundesländern hin zur Europäischen Gemeinschaft geführt, so sind beispielsweise im Zuge der Bestrebungen nach Vereinheitlichung von Bildungsabschlüssen in Europa oder der Forderung nach einer eigenen europäischen Rundfunkanstalt weiterhin verbliebene zentrale Landeskompetenzen massiv betroffen. Die Errichtung des europäischen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 wird zu weiteren Kompetenzverlusten nicht nur für den Bundestag und die Bundesregierung, sondern auch für die Landesparlamente und - exekutiven führen (Schweitzer: 1988, S. 20ff.; Geiger: 1988, S. 51ff.; Hrbek: 1986, S. 17ff.;auch§23). Da es auch um Kompensation für bisher ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder geht, muß es als selbstverständlich gelten, daß der bisherige Gesetzgeber, also das jeweilige Landesparlament miteinbezogen, ihm zumindest die Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme eingeräumt wird (Schneider, E.: 1986, S. 65; Göll: 1989, S. 590). Die bisherige Staatspraxis sieht lediglich eine Konsultation des Bundesrates vor, dessen Stellungnahme bei ausschließlicher Gesetzgebungskompetenz der Länder die Bundesregierung vor ihrer Mitwirkung an EG-Entscheidungen einholen muß. Sie darf von dieser Stellungnahme nur aus unabweisbaren außen- oder integrationspolitischen Gesichtspunkten abweichen (Art. 2 im Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte). Bei einer möglichen Abweichung hat sich die Bundesregierung dazu verpflichtet, die maßgeblichen G r ü n d e dem Bundesrat mitzuteilen (weitere Einzelheiten dazu bei Becker, W.: 1989, S. 34ff.). Doch nur die Einbeziehung des Bundesrats (sog. Bund-Länder-Verfahren) erschien schon vor sechs Jahren den Landtagspräsidenten kein tauglicher Weg, daher forderten sie auf der Bremer Konferenz im Juni 1986 ein Verfahren, das die Mitwirkung der Landesparlamente sicherstellt, denn der Bundesrat kann nicht der alleinige Garant der Gesetzgebungszuständigkeiten der Länder sein (Entschließung der Landtagspräsidenten in Hrbek/Thaysen: 1986, S. 245). Die Landtage sollten in den Kommunikations- und Informationsfluß eingebunden werden, um so wenigstens partiell einen Ausgleich für den erlittenen Kompetenzverlust zu erhalten. In einzelnen landesinternen Absprachen wird zwar dem Landtag das Recht zur Stellungnahme in EG-Angelegenheiten eingeräumt, insbesondere in Fragen, in denen das Land über die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz
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verfügt, - hervorzuheben sind die Regelungen in Brandenburg, Niedersachsen und in Rheinland-Pfalz - dennoch ist zu konstatieren, daß gerade in der Mitsprache von EG-Angelegenheiten den Landesexekutiven ein deutlicher Vorteil zuteil wird. Dies zeigt sich schon daran, daß zur Konsultation wichtiger EG-Fragen nur der Bundesrat, in dem nur die Landesexekutiven vertreten sind, herangezogen wird. Als Hauptargument für dieses Verfahren werden immer wieder die raschere Entscheidungsfindung und die Verwaltungserfahrung sowie der hohe Sachverstand der Landesregierungen angeführt (insgesamt zum Entscheidungsprozeß Borchmann: 1987, S. 598ff.). Zwar haben diese Argumente durchaus ihre Berechtigung, dennoch sollte vor einer endgültigen Entscheidung der Bundesregierung die Stellungnahme der Landtage eingeholt werden, da nur so die Entscheidung auf eine breite Legitimationsbasis gestellt werden kann. Ausgeblendet wurden die Landtage schon zuvor beim Länderbeteiligungsverfahren, d.h. daß wie das jetzige Bund-Länder-Verfahren bei EG-Maßnahmen, die innerstaatlich eine ausschließliche Länderkompetenz betreffen, den Bund auf Verlangen zu den Verhandlungen in den Beratungsgremien des europäischen Rates und dessen Kommission zwei Vertreter der Länder hinzuziehen sollte, soweit ihm dies möglich ist (näheres zu dieser zwischen dem Bundeskanzler und dem Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz 1979 getroffenen Vereinbarung bei Borchmann: 1987, S. 593ff.; Hrbek: 1986, S. 29ff.). Mit dieser Vereinbarung wurden primär die Interessen der Länderexekutiven berücksichtigt, die zwar den Interessen der Landesparlamente in diesem Fall nicht unbedingt zuwiderliefen ; aber dennoch läßt sich feststellen, daß mit dem Länderbeteiligungsverfahren eine Stärkung der Landesregierungen beabsichtigt war: „In keinem Land ist das Länderbeteiligungsverfahren durch eine Absprache mit dem Landtag ergänzt worden" (Schneider, E.: 1986, S. 66). Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß insgesamt das Gleichgewichtsverhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen (Gemeinschaft, Bund, Länder) und innerhalb der Ebenen (Regierung, Parlament) neu bestimmt und austariert werden sollte, wobei eine stärkere Mitwirkung der Parlamente in EG-Angelegenheiten ein vordringliches Ziel sein müßte. Gerade in einzelnen Politikbereichen, beispielsweise Kultur, Umwelt, regionale Wirtschaft, Bildung, Wohnungswesen sollte es zudem zu einer Neubestimmung der einzelnen Aufgaben mit klar abgegrenzten Kompetenzen zwischen der Gemeinschaft und den Bundesländern kommen mit stärkerer Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips. Die Bundesländer könnten sohin in ausschließlichen Verantwortlichkeiten ohne Mediatisierung durch Bundesorgane unmittelbar gegenüber Brüssel Stellung nehmen (Schneider, E.: 1986, S. 67). Prädestiniert hierzu sind die Landesparlamente, da sie in diesen Bereichen die Gesetzgebungskompetenzen wieder verstärkt wahrnehmen könnten. Eine Stärkung der Landesparlamente im Bereich der Gesetzgebung kann auch durch eine Ausweitung der Landeskompetenzen bei der Umsetzung von EG-Richtlinien erreicht werden, damit würden die Landtage zumindest partiell einen Ausgleich für bisherige Kompetenzverluste durch Übertragungen von Zuständigkeiten auf die E G bekommen (Kommission „Erhaltung und Fortentwicklung der bundesstaatlichen Ordnung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland: 1990, S. 48f.). Regionale Innovations- und Entwicklungspotentiale könnten somit insgesamt effizienter genutzt werden, was eine deutliche Aufwertung der Landespolitik zur Folge haben dürfte. Der Prozeß der europäischen Integration führt zwar zu materiell bedeutsamen Eingriffen in die Kompetenz der Länder, bietet aber gleichzeitig Möglichkeiten, neue regionale Gestaltungspotentiale zu nutzen (Hesse, J. J./Renzsch: 1991, S. 32ff.).
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b) Weitgehender Verzicht auf Gesetzgebungskompetenzen Die sich beschleunigende Integration der europäischen Staaten mit der Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen an die Europäische Gemeinschaft hat neben den bereits aufgeführten Faktoren dazu geführt, daß die Landtage in ihren Gesetzgebungszuständigkeiten erheblich eingeschränkt sind, einzelne Autoren sprechen sogar schon vom „Minimum, auf das die Landesgesetzgebung qualitativ und übrigens auch quantitativ zusammengeschrumpft ist" (Ellwein/Hesse: 61987, S. 237). Konnte man Mitte der 80er Jahre noch konstatieren, daß der Bund durch eine Aufgaben- und Kompetenzentflechtung bei Mischfinanzierungen (Krankenhausbau, sozialer Wohnungsbau, Graduiertenförderung) sich selbst in der Gesetzgebung beschränkte, so strebt jetzt die Bundesregierung-vermehrt nach der deutschen Einheit - wieder eine gemeinsame Aufgabenerfüllung an, die finanziellen Probleme lassen den finanzschwachen Ländern auch kaum eine andere Möglichkeit. Schon am Ende der 80er Jahre hat z.B. das Wohnungsbau-Sonderprogramm oder das Zwei-Milliarden-Hilfsprogramm für die Hochschulen gezeigt, daß schon entflochtene Mischfinanzierungen wieder in (unechte) Gemeinschaftsaufgaben zurückverwandelt wurden (Klatt: 1989a, S. 1816). Auch in der Forschungs- und Technologiepolitik hat der Bund in den letzten Jahren seine Dominanzposition ausgebaut, auch wenn einzelne Landesregierungen durchaus eigenständige technologie- und innovationspolitische Konzeptionen entwickelt und in entsprechende Programme implementiert haben. Es waren dann aber nahezu ausschließlich die Landesexekutiven, die entsprechende Konzepte und Instrumente einer ländereigenen Technologieförderung ausgearbeitet haben, ohne eingehende Beteiligung der Landesparlamente (insgesamt zur Technologiepolitik der Länder Pollmann, B.: 1987; Hucke/Wollmann: 1989). Der 1990 vom Landtag in Nordrhein-Westfalen eingesetzte Ausschuß „Mensch und Technik", bei dem der Akzent auf der Technikfolgen-Abschätzung liegt, zeigt einen Weg der Landesparlamente zur Verbesserung ihrer Informationsbasis und zur Erhöhung ihrer Kontrollkapazität in diesem im technischen Zeitalter immer wichtiger werdenden Politikbereich auf. Denn nur bei einer angemessenen Verankerung von Technikfolgen-Abschätzung im Parlament, dem zuständigen Ort dieses politischen Diskurses, kann die Politik wieder das Primat gegenüber der Technik bekommen (Mai: 1991, S. 18). Die Länder nehmen insgesamt diese Eingriffe in ihre Kompetenzbereiche hin, da ihnen die finanziellen Bedingungen attraktiv erscheinen: Aus Gründen der effektiveren Aufgabenwahrnehmung nehmen sie Ingerenzen des Bundes in Kauf, bevor sie auf entsprechende Finanzmittel ganz verzichten (Pauker: 1988, S. 64ff.). Daß die gemeinsame Problemlösung von Bund und Ländern tatsächlich in manchen Fällen auch realiter wesentlich effektiver sein kann, zeigt das Beispiel des sozialen Wohnungsbaus. Die Wohnungsknappheit zu Beginn der 90er Jahre ist zu einem großen Teil auf den vorübergehenden Rückzug des Bundes aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus zurückzuführen. Die Abhängigkeit der Länder von der größeren Finanzkraft des Bundes ist für das föderative Finanzverbundsystem der Bundesrepublik kennzeichnend, Kompetenzverluste für die Landtage sind die zwangsläufige Folge. Die Forderung nach einer Zurückübertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten an die Länder kann zwar nicht als chancenlos gelten (Friedrich: 1989, S. 1714), muß aber auf die Ausführungsgesetzgebung beschränkt bleiben. Das Defizit an Politikgestaltung bleibt in der Gesetzgebung für die Landtage bestehen.
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Dennoch sollten die Landesparlamente zumindest die vorhandenen Regelungsund Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, da die Wahrnehmung von eigenveranwortlichen substantiellen Aufgaben- und Entscheidungskompetenzen die vertikale Gewaltenteilung der Bundesrepublik Deutschland stärkt, ja überhaupt erst dann von einer echten vertikalen Gewaltenteilung gesprochen werden kann (Stober: 1989, S. 30). Wenn auch im bundesdeutschen föderativen System der Grundsatz gilt, daß der Bund hauptsächlich für die Gesetzgebung, die Länder über die Verwaltung hauptsächlich für den Vollzug der Gesetze verantwortlich sind, so sollten dennoch die Landesparlamente die ihnen noch zur Verfügung stehenden Kompetenzen in der Gesetzgebung intensiver nutzen als in der jüngeren Vergangenheit. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle noch auf die in vielen Landesverfassungen vorgesehene Volksgesetzgebung durch Volksbegehren bzw. Volksentscheid (ausführlicher hierzu Abelein: 1971, S. 187ff.; Troitzsch: 1979; Degenhart: 1992). Überhaupt sind in den meisten Landesverfassungen die plebiszitären Elemente deutlich stärker gewichtet als in der Bonner Verfassung, so auch in der neuen Verfassung Schleswig-Holsteins (siehe Artikel 41 und 42 LV) oder in einer der neuen Länder, in der Verfassung Brandenburgs (Art. 76-78). Allerdings hat die Möglichkeit des Volkes zur Gesetzgebung für das politische Leben der Bundesländer bisher keine große Bedeutung erlangt, was nicht nur auf den geringen Umfang der Landeskompetenzen, sondern auch auf die Unzulässigkeit von Abstimmungen über den Haushalt sowie über Besoldungs- und Abgabengesetze zurückzuführen ist. Dennoch bietet sich mit den in die Verfassungen aufgenommenen Volksbegehren und -entscheiden einzelnen Bürgergruppen die Möglichkeit, vermehrt an der Politik gestaltend teilzunehmen, was auch heißt, bei einzelnen Gesetzesvorhaben stärker die Interessen der besonders betroffenen Bürger zu berücksichtigen. Der in Bayern im Februar 1991 durchgeführte Volksentscheid über die künftige Abfallpolitik des Landes mit dem starken Engagement der Bürgergruppen zeigt, welche politischen Auswirkungen ein Volksbegehren haben kann bzw. welche Reaktionsmöglichkeiten den Landtagsfraktionen offenstehen (zu diesem bayerischen Volksentscheid Jung: 1992). Der Landtag hat zwar die Gesetzesdiskussion schon im Vorfeld des von den Bürgergruppen initiierten Volksentscheides geführt, dennoch der Exekutive in der Endphase der Diskussion wieder mehr das Handlungsfeld überlassen. Nur durch eine intensivere Nutzung der Kommunikationsmöglichkeiten auch mit den beteiligten Bürgergruppen aber können die Landesparlamente am Prozeß der Entscheidungsfindung wieder aktiver mitwirken, dienen doch plebiszitäre Verfahren vor allem der Beförderung der öffentlichen Diskussion.
2. Wahl der Regierung Eine wesentliche Aufgabe des Parlaments in einem parlamentarischen Regierungssystem besteht in der Wahl des Regierungschefs und in der Bestimmung über den Bestand der Regierung (allgemein § 9 III.). Im folgenden soll gezeigt werden, welche Befugnisse die Landtage bei der Bestellung und Ablösung der Landesregierung haben. Dabei zeigen sich in den verfassungsrechtlichen Bestimmungen durchaus Unterschiede von Land zu Land. In der Frage der Regierungsbildung ist die Rolle des Parlaments häufig nicht nur auf die Wahl des Regierungschefs beschränkt, sondern viele Landesverfassungen
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schreiben daneben die Zustimmung des Landtags zum Amtsantritt des Kabinetts vor, auch die Entlassung der Minister ist in einigen Bundesländern an die Bestätigung durch das Parlament gebunden (Bayern, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland), in Brandenburg kann diese vom Landtag empfohlen werden. In den Stadtstaaten werden sogar alle Regierungsmitglieder vom Parlament gewählt, d.h. jeder einzelne Senator bedarf der Bestätigung des Parlaments. Damit korrespondiert, daß der Erste Bürgermeister in Bremen und Hamburg im Gegensatz zu den Ministerpräsidenten der Flächenstaaten nicht allein die Richtlinien der Politik bestimmt, sondern der Senat als Ganzes. Der Erste Bürgermeister ist lediglich „primus inter pares" (insgesamt zu dem Regierungsstrukturen in den Stadtstaaten Stadtstaaten-Kommission: 1989). Der Regierende Bürgermeister von Berlin bestimmt im Einvernehmen mit dem Senat die Richtlinien der Regierungspolitik. In den Stadtstaaten Bremen und Hamburg gilt zudem das Inkompatibilitätsgebot: das Senatorenamt ist unvereinbar mit dem Mandat des Parlamentsabgeordneten. Stärker als bei der Wahl des Regierungschefs differieren die Regelungen über die Ablösung der Exekutive: Während einige Landesverfassungen entsprechend dem Grundgesetz das konstruktive Mißtrauensvotum aufgenommen haben, begnügen sich andere Landesverfassungen mit dem einfachen Mißtrauensvotum (so Berlin, Bremen, Hessen, Saarland, Rheinland-Pfalz, in Thüringen gegen die gesamte Landesregierung). Die bayerische Landesverfassung kennt überhaupt kein formelles Mißtrauensvotum. D e r Ministerpräsident muß erst dann zurücktreten, wenn die politischen Verhältnisse eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Landtag nicht mehr zulassen. An dieser Bestimmung wird besonders deutlich, daß wie im Grundgesetz auch in den meisten Landesverfassungen die Stabilität der Exekutive im Vordergrund steht. Neben der bayerischen sehen auch andere Landesverfassungen keine Bindung der Amtszeit der Regierung an die Wahlperiode und damit eine Begrenzung und Kontrolle politischer Macht vor: in Rheinland-Pfalz und in Hamburg kann der Regierungschef auch über die Legislaturperiode hinaus weiter amtieren, eine neue Bestätigung ist nicht erforderlich. Die neue Verfassung von Schleswig-Holstein hat dem allgemeinen Parlamentsverständnis dagegen Rechnung getragen und entgegen der bisherigen Verfassung die Amtszeit des Ministerpräsidenten an die Dauer der Legislaturperiode gebunden (Schüttemeyer: 1990, S. 428). Damit wurde die bis dahin dominierende Position der Regierung und insbesondere des Ministerpräsidenten eingeschränkt. Gestärkt im Vergleich zur Rolle des Bundestages im Grundgesetz sind die Landesparlamente durch die Möglichkeit, auch einzelne Minister zum Rücktritt zwingen zu können, entweder durch ein konstruktives Mißtrauensvotum oder durch einen bloßen Mehrheitsbeschluß (so in Berlin, Bremen, Baden-Württemberg, Saarland, Rheinland-Pfalz). Fast alle Landtage haben auch das Recht der Ministeranklage vor dem Verfassungsgerichtshof, was aber in der politischen Praxis keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Im Gegensatz zum Bundestag besitzen die meisten Landtage das Recht zur Selbstauflösung, nur die Verfassungen von Bremen und Baden-Württemberg sehen diese Regelung nicht vor. In einigen Landesparlamenten ist zur Selbstauflösung die absolute Mehrheit erforderlich (etwa in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen, Hamburg), in anderen eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Von dieser Möglichkeit ist des öfteren schon während einer Regierungskrise oder bei unklaren Mehrheitsverhältnissen Gebrauch gemacht worden, so in Nieder-
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sachsen 1970, in Berlin 1981, in Hamburg 1982 oder in Schleswig-Holstein 1988. Das Instrument der Selbstauflösung hat sich als Mittel zur Bewältigung von Regierungskrisen oder zur Überwindung von unklaren Mehrheitsverhältnissen durchaus bewährt. Die im Anschluß an die Auflösung folgenden Neuwahlen haben mit ihren Ergebnissen stets zur Bildung von stabilen Regierungsmehrheiten geführt. Das Selbstauflösungsrecht des Parlaments sollte aber auch nur als ultima ratio verwendet werden, um eine Konflikt- oder Krisensituation zu bewältigen. Insgesamt läßt sich also konstatieren, daß die Landesparlamente durchaus angemessen die Wahlfunktion erfüllen und somit bisher zur Stabilität des Regierungssystems der Bundesrepublik entscheidend beigetragen haben. Das Parlament ist dabei de facto bei der Wahl des Regierungschefs an das Wahlergebnis der Landtagswahl gebunden, so daß die Wahl im Parlament mehr als nur die Ratifikation des bei den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Wählerwillens ist; die Landtagswahlkämpfe werden zumindest bei den beiden großen Massenparteien auf den jeweiligen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten zugeschnitten (Personalisierung des Wahlkampfes), sodaß die Mehrheit im Landtag nur noch formell ihren Spitzenkandidaten zum Ministerpräsidenten wählt (Schneider, H.: 1979, S. 31; Hahn: 1987, S. 7). Die tatsächliche Wahlfunktion besitzen die Landtage bei einem Amtswechsel des Regierungschefs in der laufenden Legislaturperiode, da liegt es in der eigenen Disposition der Mehrheitsfraktion(en) des Landtags, einen Kandidaten zum Ministerpräsidenten zu wählen. So entschied sich die CSU-Mehrheitsfraktion im bayerischen Landtag 1988 für die Wahl von Max Streibl als Nachfolger von Franz-Josef Strauß, der thüringische Landtag 1992 mehrheitlich für die Wahl von Bernhard Vogel zum neuen Ministerpräsidenten. Daß inmitten einer Legislaturperiode sich im Landtag bei der Wahl des Ministerpräsidenten sogar neue politische Mehrheiten ergeben können, zeigte im Jahr 1976 die Wahl des Christdemokraten Albrecht zum niedersächsischen Regierungschef, obwohl in der Landtagswahl zwei Jahre zuvor die Regierungskoalition von SPD und F.D.P. eine knappe Mehrheit errungen hatte. Doch nach dem Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Kübel (SPD) haben einzelne Mitglieder der Mehrheitsfraktionen im hannoverschen Landtag der Regierung eine Absage erteilt. Eine Rarität in den Landesparlamenten ist dagegen die erfolgreiche Anwendung des Mißtrauensvotums; in den letzten 20 Jahren hat kein Ministerpräsident aufgrund eines Mißtrauensantrags sein Amt verloren, einzelne Mißtrauensanträge der jüngsten Zeit sind von der Mehrheit im Parlament abgelehnt worden (etwa in Niedersachsen 1989, Berlin 1990, Thüringen 1992), nach allerdings zum Teil heftiger Debatte.
3. Kommunikation: Die Landtage stehen nur selten im öffentlichen Blickpunkt Die Aufgabe eines Parlaments besteht auch darin, die wichtigen politischen Leitfragen aufzunehmen, zu diskutieren und damit den Meinungs- und Willensbildungsprozeß wesentlich mitzubestimmen. Das Parlament soll mit dazu beitragen, Lösungsvorschläge, Alternativen und Wertungen zu erarbeiten, der Bürger soll informiert werden, hauptsächlich durch die grundsätzlich öffentlichen Plenarsitzungen (i.e. §111. und IV.).
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Allerdings sind in den Landesparlamenten im Gegensatz zum Bundestag politisch brisante Debatten selten auf der Tagesordnung. Die Landtage sind mehr mit Einzelfragen und Detailproblemen beschäftigt, was sich nicht zuletzt aus der Kompetenzverteilung im föderativen System der Bundesrepublik ergibt. Nur selten nimmt daher die Öffentlichkeit Notiz von den Sitzungen des Landtags, die oft nur eine „sehr bescheidene Ausstrahlung" (Friedrich: 1989, S. 1715) haben. Die Diskussionsthemen sind häufig nur für einzelne Experten von Interesse, nur wenige Themen vorwiegend aus den Bereichen der Schulpolitik, der Umweltpolitik oder der inneren Sicherheit finden Anklang bei einer breiteren Öffentlichkeit. Politische Richtungsdebatten werden in den Landtagen zwar in den letzten Jahren häufiger geführt, dennoch wird die Gelegenheit dazu insgesamt noch zu selten benutzt (Friedrich: 1975a, S. 11; Hahn: 1987, S. 7; Schneider, H . : 1979, S. 31). Hinzu kommt, daß die Massenmedien ihre Informationen zunehmend aus den Landespressekonferenzen der Fraktionen beziehen, sodaß die landespolitische Debatte sich zunehmend in die Pressekonferenzen verlagert. Hier wiederum stoßen die Erklärungen der Landesregierung auf ein ungleich breiteres Echo, Veröffentlichungen der Opposition stehen seltener im Blickpunkt des Interesses der Medien. Dies trägt dazu bei, daß insgesamt die Kommunikationsfunktion von den Landesparlamenten faktisch nur unzureichend wahrgenommen wird, einzelne Autoren sehen sie sogar als nicht erfüllt an (so Hahn: 1987, S. 19). Trotz einiger Verbesserungen in jüngster Zeit vernachlässigen die Landtage ihre Aufgabe als öffentliche Diskussionsforen, stattdessen konzentrieren sich die Abgeordneten mehr auf die vertraulichen (nur in Bayern, Berlin und Schleswig-Holstein sind Ausschußsitzungen i.d.R. öffentlich) und fachlich ausdifferenzierten Ausschußsitzungen, in denen sie ihr Ziel der sachlichen Einflußnahme auf die Politik eher verwirklicht sehen. In der Arbeit der Ausschüsse, weniger in den Plenardebatten erfolgt so auch eine angemessene und fachlich prüfende Kontrolle der Landtage gegenüber der Mehrebenenplanung und Programmgestaltung der Regierung.
4. Kontrolle der Regierung: Wichtigste Aufgabe der Landtage Die primäre Funktion der Landesparlamente in der Bundesrepbulik liegt auch quantitativ auf dem Gebiet der Kontrolle von Regierung und Verwaltung (so Friedrich: 1975a, S. 11; Schneider, H . : 1979, S. 39; Hahn: 1987, S. 9f.; Böhringer/ Schmidt: 1989, S. 107). Die Kontrolle der Verwaltungstätigkeit steht durch das sogenannte Verwaltungsprivileg der Länder bei den Landtagen viel stärker im Vordergrund als beim Bundestag. D e n administrativen Kompetenzen insgesamt verdanken die Länder wohl auch ein größeres Maß an politischer Gestaltungsmöglichkeit als durch die vergleichsweise geringen gesetzgeberischen Kompetenzen (Schodder: 1989, S. 229), sodaß sich hier zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine ergiebige Kontrolle anbieten. Auffällig ist zudem, daß einzelne Landesverfassungen die Überwachung der Exekutive als Aufgabe des Parlaments besonders betonen (so z.B. die niedersächsische Verfassung in Art. 3 Abs. 2, die Verfassung von Baden-Württemberg in Art. 27 Abs. 2). In den Geschäftsordnungen der Landtage und in den Landesverfassungen finden sich so auch eine Reihe von Ausgestaltungen der rechtlichen Mittel der Regierungskontrolle. Zuerst zu nennen ist das Zitierrecht des Parlaments und seiner Ausschüsse, das sich aus der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament ergibt.
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Eine Regelung über das Recht des Parlaments, die Anwesenheit von Regierungsmitgliedern im Parlament wie in seinen Ausschüssen zu verlangen, wird in jeder Landesverfassung normiert. Die Hamburger Verfassung statuiert eine allgemeine Auskunftsverpflichtung der Regierung gegenüber dem Parlament sogar auf Verlangen einer Minderheit (Art. 32). Das mit dem Zitierrecht korrelierende Zutritts- und Rederecht der Regierungsmitglieder ist ebenfalls in allen Landesverfassungen geregelt. Zusammenhängend mit dem Zitierrecht zu nennen ist das Recht, Akteneinsicht verlangen zu können, da dieses die Effektivität des Parlaments bei seinen Kontrollbefugnissen erheblich erhöht. Ensprechende Regelungen zur Akteneinsicht haben aber nur in einzelne Verfassungen bzw. Geschäftsordnungen der Landtage Eingang gefunden (Grosse-Sender 1989, S. 1732). Die einzelnen Abgeordneten in den Landtagen haben jedoch insgesamt mehr Kontrollrechte als Bundestagsabgeordnete, insbesondere in den fünf neuen Ländern. Verbessert haben die Landtage in jünster Zeit ihre Kontrollmechanismen durch die Etablierung neuer Berichts- und Kommunikationsmöglichkeiten. Dazu gehört das Selbstbefassungsrecht der Ausschüsse, also die Behandlung von Sachthemen im Ausschuß ohne einen besonderen Plenumsauftrag; hieraus ergibt sich eine größere Effektivität der Informationsbeschaffung über Regierungsvorhaben sowie eine Minderung des Informationsvorsprungs der Exekutive. Denn ohne eine entsprechende Informationsbasis können die Landesparlamente ihre Aufgaben - Festlegung der wichtigsten Entscheidungen in den Kernbereichen der Landespolitik, Kontrolle und Mitwirkung bei planerischen Entscheidungen - nicht erfüllen (zum Problem der Information der Landtage Böhringer/Schmidt: 1989, S. 117ff.; Friedrich: 1989, S. 1715). D a ß Informationen von Regierung und Verwaltung zunehmend an die zuständigen Ausschüsse gegeben werden, zeigt die starke Stellung der Ausschüsse in den Landtagen. Nicht nur, daß die Beratung von Gesetzen nahezu ausschließlich in den fachlich differenzierten und spezialisierten Ausschüssen stattfindet, auch die Regierungs- und Verwaltungskontrolle erfolgt primär durch und in den Ausschüssen, weniger durch das Plenum (zur Arbeit der Ausschüsse in den Landtagen eingehend Friedrich: 1975a, S. 102ff.; zu den rechtlichen Grundlagen auch Grosse-Sender: 1989, S. 1727f.). So hat sich in der politischen Praxis eine enge Zusammenarbeit zwischen Regierung, Ministerialbürokratie und den Landtagsausschüssen herausgebildet, wobei sich die Ausschüsse zumeist auch als kritische Begleiter der laufenden Exekutiventscheidungen verstehen. Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen gilt als ein spezielles Kontrollrecht, wobei in fast allen Landesparlamenten ein Antrags-Quorum von einem Fünftel bzw. einem Viertel seiner Mitglieder ausreicht, um einen Untersuchungsausschuß einzusetzen. In Baden-Württemberg ist die Zustimmung von einem Drittel der Landtagsabgeordneten zur Einsetzung erforderlich. Entscheidend für die Effektivität der Kontrolle ist, daß die Minderheit notwendige Handlungsmöglichkeiten besitzt, weshalb neuere Regelungen geschaffen worden sind, die es der Ausschußminderheit ermöglichen, die von ihr erforderlich gehaltene Beweiserhebung gegen den Willen der Ausschußmehrheit durchzusetzen (dazu Thaysen: 1989, S. 5ff.). Die Untersuchungsausschüsse in den Landtagen haben gerade in jüngster Vergangenheit eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, so beispielsweise der Kieler Untersuchungsausschuß zur Affäre um den damaligen Ministerpräsidenten Barschel, der Niedersächsische Untersuchungsausschuß zur Spielbankaufsicht oder der Brandenburgische Untersuchungsausschuß zur Überprüfung der Kontakte von Ministerpräsident Stolpe mit
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dem Staatssicherheitsdienst der ehemaligen D D R . Bei diesen Untersuchungen wird die Doppelfunktion der Ausschüsse deutlich: zum einen dienen sie der besseren Kontrolle gegenüber der Regierung durch selbständige Faktenermittlung, zum anderen aber auch als politisches „Kampfinstrument", vornehmlich für die parlamentarische Opposition (dazu ausführlich Plöhn: 1991). Wenn auch hier nicht weiter auf die Bedeutung der Untersuchungsausschüsse als Kontrollmittel eingegangen werden kann (ausführlicher Thaysen/Schüttemeyer: 1988; di Fabio: 1988), so soll dennoch angemerkt werden, daß sie ein nicht unbedeutendes Instrument parlamentarischer Kontrolle sind, wenn auch nicht wie gelegentlich im Schrifttum behauptet, das stärkste Instrument. Als ein weiteres wichtiges Kontrollmittel der Parlamente muß das Petitionsrecht gesehen werden, das in allen Bundesländern grundsätzlich gewährleistet, jedoch unterschiedlich ausgestaltet ist (Grosse-Sender: 1989, S. 1739). Das Petitionswesen hat in den Landtagen eine zunehmende Bedeutung erlangt, aus praktisch allen Bereichen werden die Parlamente mit Eingaben von Bürgern befaßt. Seit Ende der 60er Jahre sind die Kontrollmöglichkeiten noch verbessert worden durch eine Verstärkung der Informationsrechte des Petitionsausschusses und durch die Pflicht der Bürokratie zur Aktenvorlage und Auskunft. Die Weigerungsgründe dafür haben eine engere gesetzliche Regelung erfahren. Die Petitionsausschüsse können bei der Bearbeitung von Eingaben auch Zeugen und Sachverständige vorladen, die im Einzelfall sogar vereidigt werden können. In einigen Ländern bestehen Absprachen, wonach die Regierung bis zur endgültigen Entscheidung über eine Petition im Petitionsausschuß von Vollzugsmaßnahmen absieht. Eine Besonderheit gibt es in Rheinland-Pfalz, wo neben dem Petitionsausschuß noch ein Bürgerbeauftragter wirkt, der der Unterstützung des Ausschusses dient. Zu den Kontrollrechten zählt weiterhin einschneidend das Budgetrecht des Parlaments. Zwar haben die Landtage keinen Einfluß auf die Höhe der für sie verfügbaren Steuereinnahmen, die durch Bundesgesetze festgelegt ist, jedoch können sie die Ausgabenseite des Haushalts mitbestimmen. Der Spielraum für die zuständigen Haushaltsausschüsse ist jedoch aufgrund der finanziellen Probleme der meisten Bundesländer deutlich kleiner geworden; zudem sind mehr als 90 Prozent der Ausgaben durch gesetzliche Verpflichtungen bzw. Gemeinschaftsfinanzierungen bereits festgelegt. Bei der Kontrolle über den Haushaltsvollzug stützen sich die Landesparlamente weitgehend auf die Unterstützung der Landesrechnungshöfe. Weitere Kontrollinstrumente der Landesparlamente wie die Großen und Kleinen Anfragen sowie die Aktuellen Stunden besitzen eine unstreitige Effektivität und unterscheiden sich in ihrer Ausgestaltung kaum von denen im Bundestag (i.e. § 11IV.). Ohne diese aufgeführten Kontrollrechte wären die Einwirkungsmöglichkeiten des Parlaments gegenüber der Regierung deutlich geringer und das Recht der Landtage zur Revozierung der Regierung in seiner praktischen Geltung entwertet, denn die Regierung hat die Stellung des von der Gesamtheit beauftragten und vom Parlament revozierbaren Leitungsorgans. Mit der parlamentarischen Kontrolle eng zusammenhängend ist das Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung, die nur eindeutig überprüfbar ist, wenn sie sich nicht in kollektive Entscheidungen verflüchtigt. Da im föderativen System der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der diversen Verflechtungen die Organe des einzelnen Bundeslandes nur noch in ganz wenigen Bereichen autonome Entscheidungen treffen können, sind die Bedingungen für ein responsible government in den Ländern allerdings kaum noch gegeben (Friedrich: 1989, S. 1712f.; Scharpf/Reissert/Schnabel: 1976,
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S. 29ff.; s.a. § 1 II. u. III.). Indem in nicht-öffentlichen Gremien der Politikverflechtung Entscheidungen auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners getroffen werden (Einstimmigkeitsregel), kann die einzelne Landesregierung für gemeinsam getroffene Festlegungen vom jeweiligen Landtag nur bedingt zur Verantwortung gezogen werden. Böckenförde vertritt die These, daß das für die parlamentarische Demokratie spezifische Legitimationsprinzip der zeitlichen Übertragung der Regierungsmacht vermittels Mehrheitsentscheid durch das Prinzip der Allparteienregierung ersetzt wird (Böckenförde: 1980, S. 182ff.). Die einzelnen Landesparlamente jedenfalls haben nur geringe eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten, der Vollzug der politischen Einheit Deutschlands und damit die schwer lösbaren Probleme der fünf neuen Länder haben den Zwang zum Konsens zusätzlich erhöht, die Möglichkeiten der Einwirkung der Landtage nochmals verringert. Die Parlamente in den Ländern der ehemaligen DDR können zur Zeit noch weniger als in den „alten" Bundesländern die Verantwortlichkeit der Politik der Landesregierung kontrollieren, da aufgrund der Knappheit der Finanzmittel selbst den Landesexekutiven nur ein kleiner politischer Gestaltungsspielraum verbleibt. Kaum zur Verantwortung gezogen werden die Landesregierungen von den Landesparlamenten für ihre Entscheidungen bzw. ihr Verhalten im Bundesrat, obwohl es für die Kontrollfunktion des Landtages von hoher Bedeutung ist, die Position der einzelnen Landesregierung im Bundesrat zu einzelnen Gesetzesvorhaben zu überprüfen. Zwar besitzen die Landtage grundsätzlich das Recht zur Kritik und Kontrolle des Verhaltens der Exekutive im Bundesrat, jedoch machen sie recht selten davon Gebrauch. Die Behandlung von Bundesratsfragen spielt in ihrer Parlamentspraxis insgesamt nur eine untergeordnete Rolle, „eine regelmäßige Kontrolle des Regierungsverhaltens im Bundesrat durch Befragen der Minister gilt den Fraktionsführungen in den Landtagen als grundsätzlich inopportun" (Friedrich: 1975a, S. 83f.). Die einzelne Landesregierung stimmt ihr Verhalten im Bundesrat mit dem Landtag zumeist nur dann vorher ab, wenn eine Entscheidung des Bundesrats spezifische finanzielle oder politisch-konzeptionelle Auswirkungen für das eigene Land haben wird. In den meisten Fällen wird der Landtag aber erst nachträglich über die Ergebnisse der Bundesratssitzungen informiert, was entweder durch Berichte der jeweiligen Landesvertretung oder mündlich durch den Bundesratsminister geschieht. In Bayern und Berlin ist zum Zweck der besseren Information ein eigens eingerichteter Ausschuß für Bundesangelegenheiten eingerichtet worden, in Hessen z.B. erfolgt eine mündliche Berichterstattung zumeist im Hauptausschuß (Porz: 1990). Eine vorherige Klärung der Position einer Landesregierung findet weit eher auf intergouvernementaler Ebene mit den von der gleichen Partei geführten Landesregierungen statt. Landesintern gehen vorherige Informationen über Bundesratsangelegenheiten am ehesten an den Vorstand der Mehrheitsfraktion(en), die Opposition wird i.d.R. in den Entscheidungsprozeß nicht miteinbezogen. Da jedoch im allgemeinen die Kontrolle weitgehend von der Opposition wahrgenommen wird, sind somit Bundesratsfragen einer wirksamen Kontrolle zumeist entzogen (zu Reformvorschlägen Porz: 1990, S. 150ff.). Zwar kontrollieren auch die Abgeordneten der Mehrheitsfraktion(en) die Regierung (Leeb: 1989, S. 60), dies geschieht jedoch auch bei Koalitionsregierungen weit überwiegend durch internes Zusammenwirken, während die Opposition eher die öffentlichkeitswirksame Kontrolle ausübt. Der Appell an die öffentliche Meinung ist nach allgemeiner Auffassung sogar das wichtigste Kontrollinstrument der Opposition (Schacht-
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Schneider: 1989, S. 181). Die Kontrolle über das Verhalten der Landesregierung im Bundesrat ist de facto also nur eine nachträgliche Kontrolle, deren Wirksamkeit entsprechend sehr gering zu veranschlagen ist.
III. Der Abgeordnete Stellung und Sozialprofil der Abgeordneten in den Landesparlamenten unterscheiden sich nur geringfügig von denen der Bundestagsabgeordneten (dazu § 4 II. u. § 13 II.). Wie diese besitzen auch die Mitglieder der Landtage Immunität und Indemnität, und sie arbeiten auf der Grundlage des freien Mandats. Nach dem Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 1975 gingen die meisten Landtage nach dem Vorbild des Bundestages zum Vollzeitabgeordneten über - A u s n a h m e n bilden das H a m b u r g e r „Feierabendparlament" und die Stuttgarter „Teilzeitlösung" (Schneider, H . : 1989, S. 3f.). Die Bremische Bürgerschaft und das Berliner Abgeordnetenhaus verstehen sich als Teilzeitparlamente. Die schon in den siebziger Jahren geführte Diskussion um den „Teilzeitparlamentarier" (Friedrich: 1977) wurde zwar zu E n d e der achtziger Jahre wieder aufgenommen (Meyer, H.: 1990), dennoch sind in keinem Landesparlament eindeutige Schritte erkennbar, die d a r a u f h i n d e u t e n , daß eine A b k e h r vom Vollzeitabgeordneten angestrebt wird. Die Diätenregelungen in den fünf neuen Bundesländern lassen darauf schließen, daß sich auch dort der Vollzeitparlamentarier etablieren wird. Wie f ü r die Kandidatur zum Bundestagsabgeordneten so gilt f ü r die Landtagskandidaten, daß langfristig angelegte, solide Parteiarbeit die Basis für den Einzug ins Parlament bildet, „Senkrechtstarter" sind auch in den Landesparlamenten selten zu finden (Holl, S.: 1989, S. 133). Holl errechnete in seiner Studie, daß ein Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg durchschnittlich zehn Jahre Parteiarbeit hinter sich hatte, bevor er ein Mandat im Landesparlament errang. Insbesondere f ü r politische Karrieren innerhalb der beiden großen Parteien ( C D U , SPD) gilt, daß sie ihren Ausgang vom lokalen innerparteilichen Bereich aus nehm e n , so z.B. als Vorsitzender des Ortsvereins oder Kreisverbandes (Holl, S.: 1989, S. 121ff.). Zusätzlich zu ihren Parteiämtern auf lokaler E b e n e haben eine Reihe von A b g e o r d n e t e n vor ihrem Einzug ins Landesparlament Mandate auf kommunaler E b e n e ü b e r n o m m e n . Das Mandat in kommunalen Parlamenten wird auch viel eher als Zwischenstation angesehen als das Landtagsmandat, das nur in Ausnahmefällen das Sprungbrett zur Mitgliedschaft im Bundestag war. Hier ist bisher eher die Tendenz einer Trennung der politischen Karrieremuster feststellbar: „Landtagsmandat auf der einen Seite und Bundestagsmandat auf der anderen Seite" (Dürr: 1977, S. 242). Für die Kandidatur zum Landtagsabgeordneten entschieden sich in den letzten 20 Jahren deutlich zunehmend Angehörige des öffentlichen Dienstes, deren Anteil in einzelnen Landesparlamenten schon über 50 Prozent liegt (zu den Ursachen und Folgen D ü r r : 1977, S. 274f., 296ff.; Holl, S.: 1989,S. 107). Einen nicht zu unterschätzenden Anteil an diesem Faktum hat das Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts, welches festlegte, daß die Alimentation eines Landtagsabgeordneten so zu bemessen sei, d a ß sie für jeden eine Lebensführung zulasse, die der Bedeutung des öffentlichen A m t e s entspreche, worin eine Qualifizierung des Landtagsmandats als Beruf gesehen werden kann ( B V e r f G E 40,296; Friedrich: 1977;
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Schneider, S.: 1989, S. 6f.). Das Urteil verstärkte jedenfalls insgesamt die parteipolitischen Aufstiegs- und Professionalisierungsmechanismen, wovon hauptsächlich die Angehörigen des öffentlichen Dienstes profitierten. Innerhalb der aus der Beamtenschaft rekrutierten Abgeordneten liegt eindeutig die Dominanz beim höheren Dienst. Auch verschiedene, in einzelnen Ländern unterschiedliche Inkompatibilitätsregelungen - insbesondere von kommunalem Wahlamt und Landtagsmandat - haben zu keiner Verringerung des Beamtenanteils in den Landesparlamenten geführt, sondern zu einer Umschichtung: die Berufsgruppe der Lehrer ist in den Landtagen überproportional angestiegen (Gabriel/Jann: 1990, S. 354). Dieser Anstieg trägt wesentlich dazu bei, daß der Anteil der Hochschulabsolventen unter den Landtagsabgeordneten sich deutlich vergrößert hat (zur Akademisierung der Landtage Dürr: 1977, 276ff.; Holl, S.: 1989, 75ff.). Besonders auffällig ist der erhebliche Akademikerschub seit den siebziger Jahren bei den SPD-Fraktionen in den Landesparlamenten (Holl, S.: 1989, S. 235; Dürr: 1977, S. 276). Frauen sind in den Landtagen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert, allerdings hat sich ihr Anteil - nicht zuletzt aufgrund der Quotierungsregelungen in einzelnen Parteien - in den letzten Jahren deutlich erhöht. Gewählt wird der einzelne Abgeordnete entweder direkt in seinem Wahlkreis, oder er gelangt über die Landes- bzw. Bezirksliste seiner Partei in das Parlament. Im Gegensatz zum Bund hatte jeder Wahlberechtigte bei Landtagswahlen lange Zeit in den einzelnen Ländern nur eine Stimme, in den letzten Jahren ist es den kleinen Parteien, insbesondere der F . D . P . gelungen, auch in einigen Bundesländern das Zwei-Stimmen-Verfahren im Wahlrecht zu installieren (Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz; auch in den fünf neuen Bundesländern gilt das ZweiStimmen-Verfahren); parallel dazu wurde durchgesetzt, daß die Verteilung der Mandate nach dem Hare-Niemeyer-Proportionalverfahren errechnet wird, so in Hessen, in Rheinland-Pfalz und im Saarland. In der großen Zahl der Länder gilt aber für die Mandatsverteilung das d'Hondtsche Höchstzahlverfahren, das eher Vorteile für die größeren Parteien mit sich bringt. Die einzelne Legislaturperiode ist von der überwiegenden Zahl der Landesparlamente auf vier Jahre festgesetzt worden; um eine größere politische Kontinuität zu erzielen, haben die Landtage in Nordrhein-Westfalen, im Saarland, in Berlin, in Brandenburg und in Rheinland-Pfalz die Dauer einer Legislaturperiode um ein Jahr auf fünf Jahre erhöht (zu den zwischen den einzelnen Ländern differierenden Wahlrechtsbestimmungen Woyke/Steffen: 5 1987, S. 74ff.; zur Diskussion um einzelne Wahlsysteme in den Ländern Schultze/Ender: 1991, S. 150ff.; allgemeine Hinweise § 31. und II.). Wie der Bundestag, so sind auch die Landtage als Fraktionenparlamente zu bezeichnen, d.h. daß die Fraktionen das parlamentarische Leben weitgehend bestimmen und daß ein großer Teil der politischen Arbeit durch und in den Fraktionen ausgeführt wird. Um die Arbeitsfähigkeit der Landtagsfraktionen weiter zu erhöhen, haben diese in den letzten Jahren eine deutlich höhere personelle, sachliche und finanzielle Ausstattung erhalten (Rösslein: 1989, S. 125ff.). In den meisten Landesparlamenten hat der einzelne Abgeordnete allerdings weitergehende Kontrollrechte als der Bundestagsabgeordnete (zum MdB § 11IV.; § 10 VI.; Friedrich: 1975a, S. 18f.). So kann er als einzelner eine Kleine Anfrage an die Regierung stellen; aufgrund der Hinwendung zu ortsnahen bzw. regionalen Interessen und der aus der Weitergabe an die Lokalpresse möglicherweise resultierenden größeren Popularität nehmen die Landtagsabgeordneten diese Mög-
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lichkeit auch in beachtenswertem Umfang wahr. Die Formalisierung der Fragestunde wird in den Landtagen ebenfalls nicht so restriktiv gehandhabt wie im Bundestag, dies ist schon an der in den Geschäftsordnungen der Landtage festgelegten Erleichterung des Stellens von Zusatzfragen sichtbar; so wird die Anzahl der Zusatzfragen in einzelnen Landtagen nicht beschränkt. Schließlich wird die parlamentarische Kontrollkapazität des Abgeordneten noch erhöht durch die selbständige Antragsberechtigung: So reicht in einigen Landtagen zum Einbringen eines selbständigen Antrags ein Quorum von Abgeordneten unterhalb der Fraktionsstärke aus. Die Kontrolltätigkeit steht insgesamt im Mittelpunkt der Parlamentsarbeit des Landtagsabgeordneten, der somit geraume Zeit darauf verwendet, Informationen zu sammeln und auszuwerten sowie Vorschläge zu erarbeiten, um das ihm zur Verfügung stehende Kontrollinstrumentarium zu nutzen. Damit der Abgeordnete seine Kontrollaufgaben wirksam erfüllen kann, sollte ihm ausreichend Zeit zur Informationsgewinnung und -Verarbeitung gegeben sein. Dies ist eine Herausforderung insbesondere für die Oppositionsfraktion(en), da ansonsten der Informationsvorsprung der Regierungsmitglieder unaufholbar und kaum kontrollierbar wachsen würde.
IV. Das Verhältnis von Regierung und Opposition 1. Parteiendemokratie und Bundesstaatlichkeit Schon bei der Darstellung der Kontrollfunktion der Landesparlamente ist deutlich geworden, daß der alte Dualismus Regierung/Parlament auch in den Landtagen abgelöst worden ist durch den neuen Dualismus Regierung/Opposition. Zurückzuführen ist dieser neue Dualismus auf das Modell der Parteidemokratie bzw. Parteikonkurrenz, d.h. mehrere, mindestens zwei Parteien streben in direkter Konkurrenz die Teilhabe an der Regierungsverantwortung an; jede Partei versucht bei regelmäßig stattfindenden Wahlen eine möglichst hohe Stimmenzahl auf sich zu vereinigen. Die Demokratie der Bundesrepublik muß in ihrer power structure eindeutig als eine Parteidemokratie bezeichnet werden, Gerhard Leibholz hat dafür den Begriff des Parteienstaates geprägt: Parteienstaatlichkeit als Strukturprinzip moderner plebiszitärer Demokratien (Leibholz: 31967, S. 68ff.; i.e. § 1 III.; §4111.; § 8 II.; § 10 VI. u. VII.). So wird die politische Praxis der Bundesrepublik ganz wesentlich von den Parteien und deren Wettbewerb um die Regierungsverantwortung geprägt (Oberreuter: 1986, S. 214ff.), im deutschen parlamentarischen Regierungssystem gilt das Konfliktregelungsmuster der parteipolitischen Konkurrenz. Die einzelnen Parteien verfolgen-wenn auch nicht in allen Einzelfragen - eine wettbewerbsorientierte Strategie. Das zunächst im Bund entstandene bipolare Mehrparteiensystem, die beiden großen Massenparteien CDU (Bayern CSU) und SPD streben entweder alleinverantwortlich oder in Koalitionen die Regierungsmacht an, findet sich in den Bundesländern, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung, so doch insgesamt relativ gleichartig wieder: „Föderalismus und Parlamentarismus der Bundesrepublik werden überlagert von deren Parteiensystem" (Thaysen: 1985, S. 7). Die Landespolitik wird somit zu einem nicht geringen Teil mitgeprägt durch die parteipolitische Frontstellung im Bund, in vielen Politikbereichen ist sogar eine
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Verlängerung der bundespolitischen Fronten in die Landespolitik hinein konstatierbar. Auch die verschiedenen Koalitionsbildungen in den Bundesländern haben sich in der Geschichte der Bundesrepublik häufig am Bonner Muster orientiert, allerdings haben gerade in letzter Zeit landesspezifische Erwägungen eine zunehmend wichtigere Rolle gespielt und zu Abweichungen vom Bonner Modell geführt (so die zur Zeit bestehende sozialliberale Koalition in Rheinland-Pfalz oder die Großen Koalitionen in Berlin und Baden-Württemberg; auch die Ende 1991 gebildete Koalition von SPD/F.D.P./Grüne in Bremen); für Landtagswahlen gilt aber weiterhin, daß sie zu einem nicht unwesentlichen Teil von bundespolitischen Strömungen getragen werden (Fabritius: 1978, S. 2). Die parteipolitische Konkurrenz überformt also bundesstaatliche Interessengegensätze, wenn auch einzelne, gemeinsam getragene Initiativen der Länder nicht immer parteipolitisch motiviert sind, sondern gelegentlich parteiübergreifend eine Verbesserung der Position der Länder im Vergleich zum Bund zum Ziel haben. So haben sich beispielsweise die Ministerpräsidenten auch der SPD-geführten Länder in der Frage der Stärkung der Finanzkraft der fünf neuen Bundesländer im Frühjahr 1991 auf Kompromisse mit der Bundesregierung geeinigt, die den parteipolitischen Leitlinien der SPD-Bundestagsfraktion in der Steuer- und Finanzpolitik zuwiderliefen. Auch daß in einer Krisensituation die Ministerpräsidenten, insbesondere der fünf neuen Länder zusammenarbeiten (Brandenburgs Regierungschef Stolpe spricht von einer „Allparteienkoalition"), und auch die Kooperation mit der Bundesregierung enger gestaltet wird, um die nur kooperativ zu lösenden Probleme zu bewältigen, kann jedoch kaum die oben genannte „Überlagerungsthese" in Zweifel ziehen. Im Zusammenhang mit dem Strukturmuster dieser Konfliktlösung ist die von Gerhard Lehmbruch und Ernst-Wolfgang Böckenförde vertretene These zu erwähnen, wonach der Föderalismus der Bundesrepublik zunehmend den Parteienwettbewerb hemme, die Konkurrenzdemokratie verdränge und zu einer Allparteienregierung führe (Lehmbruch: 1976, S. 124ff.; Böckenförde: 1980, S. 182ff.). Ursächlich dafür sei die strukturelle Gegenläufigkeit von Parteienkonkurrenz und föderativem System, denn für das letztere sei kooperatives Aushandeln ein konstitutives Merkmal, wodurch bei dichter werdender Politikverflechtung der Parteienwettbewerb leerlaufe. Es ist unzweifelhaft, daß in einem föderativen System wie dem der Bundesrepublik Kooperationen der einzelnen Glieder zur Erhaltung des Systems erforderlich sind und daß ein hoher Konsensdruck - zumal bei unterschiedlichen politischen Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat - auf den politischen Akteuren lastet. Jedoch kann daraus nicht unbedingt geschlossen werden, daß Parteienkonkurrenz somit außer Kraft gesetzt ist, zumal trotz aller Kooperationsbemühungen die Parteien diesen auch klare Grenzen setzen. Die Auseinandersetzungen der letzten Jahre zwischen SPD-geführten Landesregierungen und der von der CDU-geführten Bundesregierung z.B. im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik (Kalkar, Hanau, Gorleben, Schacht Konrad) machen deutlich, daß das System föderativ geformter Parteienkonkurrenz den Föderalismus der Bundesrepublik weiterhin treffend kennzeichnet, wenn auch den politisch handelnden Akteuren in einzelnen Fragen eine gewisse Konsensorientierung nicht abgesprochen werden kann. Dementsprechend nehmen im bundesdeutschen föderativen System die Landesexekutiven im Prozeß der Politikgestaltung eine wichtige Schaltposition ein. Innerhalb der Landesexekutive wiederum kommt dem Ministerpräsidenten bzw.
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Ersten Bürgermeister die zentrale Bedeutung zu; Winfried Steffani spricht deshalb von einer „Republik der Landesfürsten" (Steffani: 1983a). Daraus wiederum ergeben sich für die Opposition im Deutschen Bundestag größere Mitwirkungschancen auch im Hinblick auf die Bundespolitik: durch Regierungsverantwortung in den Ländern kann die Bonner Opposition ihre Regierungsfähigkeit für den Bund nachdrücklich untermauern, zumindest ihr regierungsfähiges Angebot verbreitern. Zudem kann sie durch die Mitgliedschaft der Landesregierung im Bundesrat zusätzlich Einfluß auf die bundespolitische Gesamtbalance nehmen, Gegengewichte zur Bundesregierung stärken.
2. Der Bundesrat als ausschließliche Kammer der Länderexekutiven? Eine Besonderheit der deutschen föderativen Ordnung ist die Konstruktion des Bundesrates, ein Bundesorgan, das nicht nur als gesamtstaatliche Repräsentation der Einzelstaaten bezeichnet werden kann, sondern zudem die Einzelstaaten direkt an der Willensbildung des Bundes beteiligt (Friedrich: 1975a, S. 69). „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit" (Art. 50 GG; hierzu § 11II.). Im Bundesrat als „zweiter Kammer" sind ausschließlich Mitglieder der Landesregierungen vertreten. Verfolgt man die Entwicklung des Regierungssystems der Bundesrepublik, so läßt sich eindeutig konstatieren, daß die Beteiligung des Bundesrates an der politischen Konfliktregelung an Gewicht zugenommen hat. Seine verstärkte Mitwirkung an wichtigen politischen Entscheidungen kann als eine von den Ländern erreichte Kompensation für den Verlust an eigenständigen Kompetenzbereichen aufgefaßt werden; eine Kompensation, die allerdings ausschließlich zugunsten der Landesexekutiven wirkt, die politischen Gewichte wurden eindeutig zum Nachteil der Landtage verschoben. Was die Landesparlamente an Selbstbestimmungsrechten in ihren Bereichen verlieren, wächst den Landesregierungen an Mitbestimmungsrechten auf Bundesebene wieder zu, geht sogar soweit darüber hinaus, daß der Bundesrat Lenkungskompetenzen gegenüber den einzelnen Gliedstaaten erhalten hat (Friedrich: 1989, S. 1711; Isensee: 1990, S. 257). Von dieser erheblichen Aufwertung der Landesregierung ist zwar das Landesparlament als ganzes negativ betroffen, jedoch insbesondere die Opposition, denn die Politik der Landesregierung im Bundesrat entzieht sich im allgemeinen ihrer Kontrolle (oben II.). Die Opposition im Landtag ist wegen der Trennung von der Bundesratssphäre kaum hinreichend über Bundesratsangelegenheiten informiert, eine von ihr gewünschte vorhergehende Landtagsdebatte wird von der Landesregierung eher als unerwünschte, den Landesinteressen kaum dienliche Initiative abgetan (so Friedrich: 1990b, S. 135). Die jeweilige Landesexekutive hat auch weniger ein Interesse daran, ihr Verhalten im Bundesrat mit der Opposition abzustimmen als vielmehr mit anderen Landesregierungen, zumeist der gleichen parteipolitischen Richtung. Denn der Zeitdruck für Bundesratsentscheidungen führt zu gouvernementalen Koordinierungszwängen, welche wiederum die Legitimation für das Verhalten der Landesregierung liefern können. Denn eine bereits mit anderen Ländern angestrebte bzw. erreichte Einigung kann kaum vom Landtag insgesamt, noch weniger von der Opposition angetastet werden, so daß die Kontrolle von Bundesratsangelegenheiten fast zwangsläufig ins Leere läuft, zumindest oft nur eine nachträgliche Kontrolle ist, die wirkungslos bleibt.
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Wie aber kann die Rolle des Landtags insgesamt bzw. der Opposition im besonderen bei Bundesratsangelegenheiten verbessert werden? Zum einen, indem die Opposition von sich aus ihre durchaus vorhandenen Kritikmöglichkeiten gegenüber der Regierung stärker als bisher wahrnimmt: Der Landtag kann natürlich die Exekutive wegen des Verhaltens im Bundesrat zur Verantwortung ziehen. Zum zweiten könnte der Bestellungsmodus der Bundesratsmitglieder in der Form verändert werden, daß nicht mehr exklusiv die Landesregierung die Mitglieder ernennt, sondern daß auch die Zustimmung oder Bestätigung des Landtags vorliegen muß (Friedrich: 1990b, S. 134). Auch könnte der einzelne Landtag der Landesregierung Empfehlungen zum Abstimmungsverhalten im Bundesrat geben, die aber gänzlich unverbindlich sind. Die in der Brandenburgischen Verfassung festgeschriebene Unterrichtungspflicht der Regierung in Bundesratsangelegenheiten (Art. 94; „frühzeitig und vollständig") weist den Weg in die richtige Richtung. Daraus werden sich allerdings keine wesentlichen Veränderungen der Struktur des gouvernementalen Bundesstaates ergeben. Die Landesregierungen dürften zudem kaum ein Interesse daran haben, an Reformen mitzuwirken, die ihre privilegierte Position zugunsten der Landesparlamente schwächen würden; somit stoßen mögliche Reformbestrebungen, die auf eine stärkere Beteiligung der Landesparlamente bei Bundesratsangelegenheiten hinwirken, auch auf kaum überwindbare Hindernisse.
3. Die Rolle der Opposition Die parlamentarische Opposition in den Bundesländern wird trotz aller ihrer gegenläufigen Bemühungen häufig als blaß empfunden, ihre öffentlichkeitswirksame Wahrnehmung liegt im allgemeinen weit hinter der der Landesregierung (auch im Schrifttum ist die Landtagsopposition bisher kaum behandelt worden: Ausnahmen z.B. Schmitz: 1971; Oberreuter: 1977; Friedrich: 1990b). Nur selten gelingt es dem Vorsitzenden einer Oppositionsfraktion ins Licht einer größeren Öffentlichkeit zu gelangen, und dies dann mit größerer Chance, wenn er zugleich ein bundespolitisches Amt innerhalb seiner Partei innehat. Die CDU hat in den letzten Jahren die fehlende Bekanntheit des Oppositionsführers dadurch auszugleichen versucht, indem sie in einzelnen Ländern anstatt eines typischen Landespolitikers einen Bundesminister als jeweiligen Herausforderer des amtierenden SPD-Ministerpräsidenten nominierte (Wallmann in Hessen 1987, Töpfer im Saarland 1990, Blüm in Nordrhein-Westfalen 1990). Die Sozialdemokraten versuchten das Problem zu lösen, indem sie den Landesoppositionsführer stärker in die Bundespartei integrierten. Die Landtagsoppositionen insgesamt sind gegenüber den Landesregierungen durch den „für die Länder typischen Vorrang der Verwaltungsaufgaben wie die Landesaufsicht über die Gemeinden" (Friedrich: 1990b, S. 136) und durch die Privilegierung der Exekutive im Bundesrat deutlich im Nachteil. Immerhin ist es den Oppositionsparteien bzw.. einer Oppositionspartei in jüngster Zeit weit häufiger als in der Vergangenheit gelungen, die Landesregierung durch Wahlen unmittelbar abzulösen, das Rollenspiel von Regierung und Opposition funktioniert also gerade in den meisten Ländern reibungslos. Für die Opposition im Bund ergab sich dabei - wie schon dargelegt - der unschätzbare Vorteil, Regierungspartei
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in einem Land zu sein, was sich sowohl inhaltlich als auch insbesondere personell auf die Bundespartei auswirkte: so sind die Ministerpräsidenten der Länder zur wichtigsten Rekrutierungselite für Kanzlerkandidaten der Oppositionsparteien geworden (seit 1976 zur einzigen: alle Kanzlerkandidaten der Opposition waren oder sind Regierungschefs in einem Bundesland). Für im Bundestag nicht vertretene kleine Parteien bieten die Landtage Möglichkeiten, sich zu etablieren bzw. zu reetablieren, wenn sie dort als Oppositionsoder als Regierungspartei Einfluß auf die Landespolitik nehmen und somit bundesweite Beachtung finden können. Aufgrund der gleichgearteten demokratischen Spielregeln und des Innovationspotentials stabilisiert der Landesparlamentarismus auch insgesamt den Parlamentarismus im Bund. Abschließend sie noch darauf verwiesen, daß die Opposition in den Konstitutionen von Hamburg und Schleswig-Holstein zu einem Verfassungsinstitut erhoben worden ist (zum Oppositionsprinzip ausführlicher Schachtschneider: 1989). In Art. 23 Abs. 1 der Hamburger Verfassung und in Art. 12 Abs. 1 der Verfassung des Landes Schleswig Holstein heißt es, „die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie", wobei als ihre Aufgaben die der Kritik, Kontrolle und Alternative genannt werden. Genau in diesen Punkten sollte den Oppositionen in den Landesparlamenten geeignete Voraussetzungen geschaffen werden, damit sie diese Aufgaben wirkungsvoller als in der Vergangenheit wahrnehmen können. Die Opposition wiederum sollte bestrebt sein, ihre Kritik an der Regierungspolitik als auch eigene personelle und programmatische Alternativen durch eine Verbesserung der Kommunikation mit der Öffentlichkeit zu konkretisieren.
V. Aussichten: Die Landesparlamente nach der Deutschen Einigung Der fortschreitende europäische Integrationsprozeß, mehr aber noch der Vollzug der politischen Einheit Deutschlands zeigen deutlich die Gefahr, daß die Erosion landesparlamentarischer Zuständigkeiten kaum noch aufzuhalten ist. Die Vereinigung Deutschlands ist weitgehend von den Exekutiven vorbereitet und implementiert worden, selbst Bundestag, Bundesrat und Volkskammer haben in deren Verlauf nur eine reaktive Haltung eingenommen; die Landtage sind vollkommen dahinter zurückgetreten. Insgesamt ging vom Prozeß der Vollendung der politischen Einheit Deutschlands eine unitarisierende Wirkung aus, bei dem die exekutive Leistungsfähigkeit des bundesstaatlichen Systems im Mittelpunkt stand, und den Parlamenten nur die Rolle des Legitimationsbeschaffers blieb. Auch bei der derzeitigen Suche nach Lösungsansätzen der bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme der fünf neuen Bundesländer spielen die Parlamente nur eine untergeordnete Rolle, stattdessen ist es nahezu ausschließlich der Bundesregierung und den Landesexekutiven vorbehalten, Lösungsvorschläge zu erarbeiten bzw. bereits vorgelegte Konzeptionen zu bestätigen und auszugestalten. Die diversen Regierungsentscheidungen zur Lösung der Finanz- und Strukturkrise der neuen Länder wurden bisher im Großen und Ganzen ohne Beteiligung der Landesparlamente getroffen, nicht einmal entsprechende Beteiligungsformen wurden erarbeitet. Die Exekutiven in den neuen Ländern scheinen gegenwärtig auch kaum primär daran interessiert, einen möglichst breiten Raum an
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Autonomie für die Landespolitik zu bewahren bzw. zu erhalten, sondern konkret steht die Zuweisung von finanziellen Mitteln aus der Bundeskasse zur Erfüllung notwendiger Aufgaben im Hauptinteresse des Landes; schon für die sogenannten „armen" Länder im alten Bundesgebiet gilt, daß Kompetenzverluste des Landes zugunsten finanzieller Zuweisungen von Bundesmitteln in Kauf genommen werden. Die wachsende Abhängigkeit der finanzschwachen Länder von Mittelzuweisungen des Bundes ist als bedenklich anzusehen, zumal der politische Handlungsspielraum der davon hauptsächlich betroffenen Landesparlamente somit immer enger wird: Der deutsche Föderalismus droht noch stärker als bisher zu einem reinen Exekutiven-Föderalismus mit unitarisierenden Tendenzen zu degenerieren. Verstärkt wird diese Entwicklung durch einen zwangsläufig höheren Kooperations- und Konsensbedarf von jetzt 16 Bundesländern, wobei der Zeitdruck der Entscheidungsfindung höher, das Einstimmigkeitsprinzip ein zusätzliches Hindernis sind. Gerade um die vermutlich noch einige Zeit vorhandenen Disparitäten zwischen den west- und ostdeutschen Ländern zu beseitigen, um den grundgesetzlichen Auftrag nach gleichartigen Lebensverhältnissen im gesamten Bundesgebiet nachzukommen, erscheint eine noch engere Kooperation der Länder untereinander und mit dem Bund unausweichlich, ebenso wie neue Kooperations- und Koordinationsformen durch die europäische Integration den binnenstaatlichen Föderalismus vor neue Aufgaben stellen. Die Struktur dieser doppelten Politikverflechtung bevorzugt die Exekutiven, während in diesem Beziehungsgeflecht den Parlamenten droht, wesentliche Mitwirkungsmöglichkeiten am Entscheidungsprozeß zu verlieren. Da aber funktionsfähige Landesparlamente sowohl für die Eigenstaatlichkeit der Länder wie für eine höhere Legitimität des demokratischen Gemeinwesens insgesamt notwendig sind, gilt es Vorkehrungen zu schaffen, um deren Beteiligung am Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß sicherzustellen. Durch spezifische Informationsrechte muß gewährleistet werden, daß die Parlamente unverzüglich und umfassend über Planungen, Verhandlungen zu Staatsverträgen und Abkommen, über Projekte und Entscheidungen der Koordinationsgremien der Exekutive, über EG- und Bundesratsangelegenheiten unterrichtet werden, um so auf die Politikformulierung und -gestaltung Einfluß nehmen zu können. Begleitende Kontrolle, öffentliche Diskussion und Parlamentserklärungen sind sinnvoll nur auf dieser Basis möglich. Zudem sollten die Landesparlamente vorhandene Kompetenzen extensiver ausschöpfen, aber auch den Schwerpunkt ihrer parlamentarischen Arbeit verlagern von der Gesetzgebung hin zu mehr kommunikativer Betätigung und zu wirksamerer Wahrnehmung ihrer Kontrollfunktion sowie Mitwirkung an Planungsaufgaben der Regierung. Zum Funktionieren des parlamentarischen Systems in den Bundesländern ist es unerläßlich, daß die Landtage insgesamt weiterhin ein wichtiger Akteur des politischen Handelns bleiben. Nur noch die Aufgabe der Verwaltungskontrolle wahrnehmende Landesparlamente verlören zunehmend das politische Gewicht im parlamentarischen System der Länder; daher sollten die Landesparlamente im Zusammenhang mit den Landesregierungen auf einen Prozeß der „Reföderalisierung" im Rahmen der europäischen Einigung und auch bei einer möglichen Umgestaltung des Grundgesetzes hinwirken, mit dem Ziel einer Ausweitung, zumindest wirksamerer Wahrnehmungsmöglichkeiten ihrer eigenen Kompetenzen. Die europäische Einigung bietet durchaus geeignete Voraussetzungen, unter dem Zeichen der Stärkung des Subsidiaritätsprinzips Koordinationsmechanismen auf Länderebene zu institutionalisieren, die eine Beteiligung der Landesparlamente bei allen wichtigen politischen Entscheidungen vorsehen.
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§ 23 Parlamentarische Souveränität und europäische Integration Jürgen Bellers I. Die „Geburt Europas" im Schöße der Parlamente. - II. Der Zwang zur europäischen Einigung auf Kosten der nationalen Parlamente. - III. Kurze Geschichte der europäischen Einigung. - IV. Entscheidungsverfahren in den Europäischen Gemeinschaften (EWG, E U R A T O M , EGKS). - V. Die Antwort des Deutschen Bundestages auf die europäischen Entwicklungen. - VI. Resümee. Grundlagenliteratur Maidowski, Ulrich (1988): „Identität der Verfassung und Europäische Integration". In: JuS, Jg. 28, H . 2, S. 114ff. Mehl, Peter (1987): Die Europa-Kommission des Deutschen Bundestages. Kehl u.a. Regelsberger, Elfriede / Wessels, Wolfgang (1984): „Entscheidungsprozesse Bonner Europapolitik - Verwalten statt Gestalten?". In: Hrbek, Rudolf / Wessels, Wolfgang (Hg.), EG-Mitgliedschaft: ein vitales Interesse der Bundesrepublik Deutschland?. Bonn, S. 469ff. Thöne-Wille, Eva M. (1984): Die Parlamente der E G . Kehl u.a. siehe auch Hilfsmittel Teil B, VI., 3
I. Die „Geburt Europas" im Schöße der Parlamente Nachdem 1945 der Zweite Weltkrieg beendet war, herrschte Einigkeit darüber, daß das erneute Ausbrechen eines solchen Krieges für alle Zukunft verhindert werden müßte. Ein Mittel auf dem Weg zu diesem Ziel war der enge politische und wirtschaftliche Zusammenschluß der europäischen Staaten. Der britische Premierminister Churchill war einer der ersten, der dies vorschlug. Bald wurde diese Vorstellung von einer breiten Bewegung in der Bevölkerung getragen, insbesondere im westlichen Teil Deutschlands, dessen Bürger in Europa quasi eine Ersatzidentität für die durch den Nationalsozialismus verloren gegangene Identität als Deutsche suchten. Auch die westeuropäischen Parlamente und - später der Deutsche Bundestag unterstützten diese Bemühungen. Die 1948 erfolgte Gründung des Europarates, der sich aus Vertretern der nationalen Parlamente zusammensetzte, war das erste sichtbare Ergebnis. In diesem Ursprung waren Europa- und Parlamentarismusidee partiell identisch. Man kann geradezu davon sprechen, daß in der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges der Begriff „Europa" zum Gegenbegriff deutscher Diktatur und Unmenschlichkeit und zum Inbegriff alles Freiheitlichen und Demokratischen wurde. Das hochgesteckte Ziel, einen europäischen demokratischen Bundesstaat, eine europäische Föderation mit übernationaler souveräner Regierung und einem legislativ tätigen europäischen Parlament zu schaffen, scheiterte. Der Europarat blieb in einem Vorstadium stecken. Zu stark waren noch die nationalen Interessen, die dem föderalistischen Konzept für Europa widersprachen.
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Damit gerieten aber längerfristig die Notwendigkeit zur europäischen Einigung und die parlamentarische Legitimation von Politik in einen tendenziellen Widerspruch. Denn das nun entstehende Europa ging nicht aus den Parlamenten hervor; es wurde im wesentlichen getragen von nationalen Bürokratien und von Technokraten.
II. Der Zwang zur europäischen Einigung auf Kosten der nationalen Parlamente Das Scheitern der ersten Europa-Bewegung hieß nicht, daß auf das Ziel einer europäischen Einigung verzichtet wurde. Politische, wirtschaftliche und technische Entwicklungen deuteten in eine andere Richtung. Die USA hatten bereits 1948 die Vergabe ihrer Marshall-Plan-Hilfen an westeuropäische Staaten davon abhängig gemacht, daß die Zollgrenzen fallen sollten und in Westeuropa ein einheitlicher Wirtschaftsraum zu bilden sei. Das Konzept eines offenen europäischen und globalen Wirtschaftsraumes wurde vor allem von den B E N E L U X Staaten und der Bundesrepublik aktiv unterstützt. Damit sollte verhindert werden, daß sich die europäischen Nationalwirtschaften wieder wie in den 30er Jahren autarkistisch abschließen könnten, mit all' den negativen politischen und wirtschaftlichen Folgen. Zudem waren die europäischen Wirtschaften immer mehr aufeinander angewiesen: Man exportierte mit rapide wachsenden Steigerungsraten in die Nachbarländer und importierte von dort. Die Erfahrungen mit dem Großmarkt USA hatten gezeigt, daß die Produktion in größeren Einheiten und Mengen für einen kontinentalen Markt kostengünstiger war als für einen national beschränkten Markt. Die Produktion mancher technisch hochkomplizierter Produkte lohnt überhaupt erst für einen großen Markt. Andere großtechnologische Anlagen sind wiederum so kostenintensiv und verlangen derart umfassendes know how, daß sie nur noch in der europaweiten Kooperation mehrerer Nationalstaaten durchgeführt werden können (Beispiel Airbus). Ein einheitlicher Wirtschaftsraum in Westeuropa kann jedoch eine freie Zirkulation der Waren nur dann garantieren, wenn auch ein Mindestmaß rechtlicher, politischer und technischer Bestimmungen zwischen den beteiligten Nationalstaaten angeglichen oder harmonisiert ist. Sonst kann z.B. ein nach deutschen Normen hergestelltes Produkt in Frankreich nicht vertrieben werden, da dort andere Normen gelten. Europa begann sich also seit Beginn der 50er Jahre (Montanunion 1951) zu vereinheitlichen, ohne daß - wie in den ursprünglichen Europakonzeptionen noch vorgesehen - eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle dieses Prozesses auf europäischer Ebene geschaffen wurde. So entstanden eine Vielzahl von wirtschafts- und sozialpolitischen, aber auch technischer Regelungen (z.B. Regelungen zur Maschinensicherheit, Emissionsbegrenzungsregelungen, gemeinsame Normen für Schreibmaschinen und Automobile usw.), die von der Europäischen Gemeinschaft wie auch von europaweit agierenden Verbänden größtenteils außerhalb der parlamentarischen Kontrolle festgelegt wurden (i.e. § 19IV.). Weitere Motive für die europäische Einigung sind ehemals gewesen: • Zusammenschluß der Demokratien gegen die kommunistische Bedrohung aus dem Osten;
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• Stärkung des weltpolitischen Gewichtes Europas gegenüber den Weltmächten U S A und UdSSR; • Westintegration Deutschlands zur Friedenssicherung in Europa.
III. Kurze Geschichte der europäischen Einigung Nachdem weitergehende förderalistische Integrationskonzepte Ende der 40er Jahre gescheitert waren, wurde der Europarat zunächst damit beauftragt, gemeinsame Konventionen für europäische Minimalstandards zu erarbeiten. Mehr als 100 Konventionen sind bisher auf der Basis der Einstimmigkeit vereinbart worden, u.a. die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die Europäische Sozialcharta (u.a. mit Bestimmungen über das Koalitions- und Streikrecht) und die Europäische Kulturkonvention. 1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS; auch Mountanunion genannt) gegründet, die für die späteren EWG-Gründungsstaaten (Frankreich, Deutschland, Italien, Luxemburg, Belgien und die Niederlande) einen gemeinsamen zollfreien Markt für Kohle und Stahl und eine gemeinsame überstaatliche (supranationale) Verwaltung dieser Wirtschaftsbereiche durch die Hohe Behörde der E G K S schuf. Eines der (stillschweigenden) Hauptziele dieser Organisation war es, das seinerzeit militärisch und wehrwirtschaftlich bedeutende Ruhrgebiet der wieder sukzessive souverän werdenden Bundesrepublik Deutschland unter eine internationale Kontrolle zu bringen. 1954 scheiterte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die die Militärpotentiale der sechs genannten Staaten unter einem einheitlichen Oberbefehl zusammenschließen sollte, am Widerstand Frankreichs, das u.a. um seine Souveränität fürchtete. D e r damalige Bundeskanzler Adenauer, für den die Westintegration ein Zentralelement seines außenpolitischen Konzeptes war, suchte nach einem integrationspolitisch weniger ambitionierten Ersatz für die supranationale E V G und fand sie schließlich in der funktionalistischen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die in bescheidenerem integrationspolitischen Maße zunächst nur bestimmte Wirtschaftsbereiche zwischen den sechs E W G Staaten integrieren wollte und nur langfristig eine politische Union anstrebte, mit der ein einheitlicher europäischer Bundesstaat geschaffen werden sollte. Nach dem 1958 in Kraft getretenen EWG-Vertrag (EWGV) wurden bis 1968 alle Binnenzölle zwischen den EWG-Staaten beseitigt und ein gemeinsamer Außenzolltarif gegenüber Nicht-Mitgliedsstaaten aufgebaut, der - nach zeitweiligem Anstieg über das vormalige deutsche Zollniveau - in den 60er Jahren als Folge der seinerzeitigen GATT-Verhandlungen wieder erheblich gesenkt werden konnte. 1964 wurde der gemeinsame Agrarmarkt vollendet und EWG-weit geltende Preise für die wichtigsten Agrarprodukte vereinbart, welche, über den Marktpreisen liegend, die bekannten Nahrungsmittelüberproduktionen bis in die 80er Jahre hinein zur Folge hatten. 1965 kam es zu einer schweren Krise der E W G , als der französische Präsident General de Gaulle nicht den im EWG-Vertrag vorgesehenen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat zustimmen wollte. Die Franzosen nahmen daher ein Jahr nicht an dessen Sitzungen teil („Politik des leeren Stuhls"), bis der sog. Luxemburger Kompromiß verabschiedet wurde, nach dem Mehrheitsent-
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Scheidungen in Angelegenheiten von zentraler Bedeutung für einen Mitgliedsstaat nicht zulässig sein sollten. Nach der Überwindung der Krise belebten Anfang der 70er Jahre eine Reihe von Gipfelkonferenzen der Staats- und Regierungschefs den Integrationsprozeß, auf denen Projekte zu einer Wirtschafts- und Währungsunion (u.a. mit einer gemeinsamen Konjunktur- und Währungspolitik) diskutiert wurden. Mit dem Erdölpreisanstieg 1973/74 und den daraufhin ausbrechenden weltwirtschaftlichen Krisenerscheinungen kam es jedoch zu einer Renationalisierung und Bilateralisierung der EG-Politiken, mit der Konsequenz einer fast zehn-jährigen Lethargie in den Europäischen Gemeinschaften. Fast einzige Lichtblicke waren die Einführung des Europäischen Währungssystems 1979, mit weitgehend festen Paritäten zwischen den meisten EGWährungen und mit gemeinsamen Stützungsaktionen für schwache Währungen. Erst durch das Binnenmarkt-Projekt der Kommission unter Kommissions-Präsident Delors hat die E G Mitte der 80er Jahre die „Euro-Sklerose" überwunden. Ziel dieses Projektes ist es, alle wirtschaftlichen, sozialen, steuerlichen und technischen Hemmnisse im zwischenstaatlichen Verkehr zwischen den EG-Staaten zu beseitigen, um so einen tatsächlich gemeinsamen Markt mit gleichen Steuerhöhen, mit gleichen oder ähnlichen Normen zu realisieren. U.a. werden in diesem Kontext Herstellungsnormen und -vorgaben für gewerbliche Produkte EGweit harmonisiert, z.T. über die EG-Kommission, z.T. aber auch über halbstaatliche technische Normungsorganisationen der Mitglicdstaaten (in Deutschland das Deutsche Institut für Normung DIN; i.e. § 19). Auf dieser technischen Ebene, die aber oft erhebliche politische Auswirkunen hat (z.B. umweltpolitisch relevante Normierungen), werden im außerparlamentarischen Bereich nicht selten Vorgaben gesetzt, denen sich das Parlament dann nur noch nolens-volens anzupassen hat, ohne selbst gestaltend wirken zu können. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands ist es über diesen wirtschaftlich-binnenmarktlichen Bereich hinaus zu - wenn geringen - Fortschritten im Gebiet der politischen Union gekommen, um das wiedervereinigte Deutschland durch intensivierte Integration in die E G einbinden zu können. Nach den Ergebnissen der Konferenz von Maastricht im Dezember 1991 soll Ende der 90er Jahre eine einheitliche europäische Währung eingeführt und die von der E G zu behandelnden Gegenstandsbereiche um die Außen- und Verteidigungspolitik erweitert werden. Auch unter parlamentarischem Aspekt haben sich die außenpolitischen Beziehunen der E G zu Drittstaaten, insbesondere den Assoziierten, entwickelt. Die Assoziation ist eine EG-Mitgliedschaft minderen Rechts, u.a. ohne Beteiligung am europäischen Willensbildungsprozeß. Dies gilt vor allem für die Assoziation von mittlerweile nun fast 70 afrikanischen, karibischen und pazifischen (AKP)-Staaten - größtenteils vormals Kolonien von EG-Staaten - , für die die E G seit 1958 ein spezifisch entwicklungspolitisches System geschaffen hat. Zu diesem System gehören u.a. gemeinsame, paritätisch zusammengesetzte Ministerräte und eine gemeinsame, paritätisch von den Dritte-Welt- und den EG-Staaten bestellte parlamentarische Versammlung, die allerdings nur beratende Funktionen innehat. Für die Außenpolitik stellt diese Parlamentarisierung jedoch einen erfreulichen Fortschritt dar.
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IV. Entscheidungs verfahren in den Europäischen Gemeinschaften (EWG, EURATOM, EGKS) Die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes mit vereinheitlichten rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen war und ist das Ziel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die 1958 als Alternative zu den gescheiterten föderalistischen Projekten, etwa zum Europarat und zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, gegründet wurde. Die Strategie, die von der E W G eingeschlagen wurde - und das ist für unseren Kontext wichtig-, ist explizit antiföderalistisch und wird funktionalistisch genannt. Sic war und ist technokratisch (und in diesem Sinne latent antiparlamentarisch), denn die Vereinheitlichung der technischen und wirtschaftlichen Bestimmungen soll nach Sachgesichtspunkten erfolgen. Demgemäß erhielt die EWG-Kommission - quasi eine Instanz von europapolitischen Sachverständigen - im EWG-Vertrag eine starke Stellung: sie ist die europapolitische Institution, die - weitgehend unabhängig von den nationalen Regierungen und Parlamenten - durch ein nur ihr zustehendes Initiativrecht den europäischen Integrationsprozeß vorantreiben soll. Funktionalistisch bedeutet weiterhin, daß nur so weit europäisch integriert werden soll, wie das im jeweiligen Bereich funktional erforderlich ist. Den Regierungen, die Mitte der 50er Jahre den EWG-Vertrag ausarbeiteten, war aber eine rein funktionalistisch-technokratische Institution zu unkalkulierbar, sodaß sie - zur Wahrung ihrer nationalstaatlichen Interessen - ein politisches Gegengewicht zu der EWG-Kommission einrichteten, nämlich den Ministerrat, der sich aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt und der das einzige legislative Organ der E W G ist. Nur der Ministerrat in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen (Außenminister-, Agrarminister-, Sozialminister-, Entwicklungsminister-Rat usw.) kann - meist einstimmig, aber zunehmend auch mit Mehrheitsentscheid - für die Mitgliedstaaten verbindliche Regelungen erlassen. Denn das Europäische Parlament hatte bis 1975 nur beratende und kontrollierende, keine gesetzgebenden Funktionen, kann seitdem aber auch über die nicht-obligatorischen Ausgaben der EG mitentscheiden (das sind die Aufgaben, die nicht zwingend nach EG-Recht vorgeschrieben sind). Über die obligatorischen Aufgaben - und hier insbesondere über die Agrarpolitik, für die mehr als die Hälfte des EG-Etats von rd. 110 Milliarden D M ausgegeben werden - beschließt der Ministerrat. Der Haushalt der E G kann zwar nur in Kraft treten, wenn auch das Europäische Parlament zugestimmt hat. Auch sind durch die Einheitliche Europäische Akte von 1987 weitere Mitspracherechte geschaffen worden. Nach ihr ist das Europäische Parlament in Angelegenheiten, die das Projekt „EG-Binnenmarkt '93" betreffen, durch eine zweite Lesung in das Gesetzgebungsverfahren eingeschaltet. Die Ergebnisse dieser zweiten Lesung kann die Kommission übernehmen und dem Ministerrat zur Entscheidung vorlegen. Der Ministerrat darf nur auf der Basis einer Vorlage der Kommission entscheiden. Eine vom Parlament abgelehnte Gesetzesvorlage kann der Ministerrat dann nur einstimmig beschließen . In Konfliktfällen kann zudem der Europäische Rat, das halbjährlich zusammentretende Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften - das oberste Organ der E G - die letzte Entscheidung treffen. Der Haupt-Gesetzgeber der EG bleibt jedoch auch in Zukunft der Ministerrat und damit die Vertreter der Exekutive der Nationalstaaten. Die E G ist demnach als unterparlamentarisiert zu beurteilen.
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Die Mischung aus der Notwendigkeit europaweiter Vereinbarungen, funktionalistischer Strategie, rein technischen und technokratischen Vereinbarungen, nationalstaatlicher Interessenwahrung und geringer Kompetenz des Europäischen Parlaments droht die Souveränität der nationalen Parlamente in der EG auszuhöhlen. Teilweise scheint sich die klassische Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive umgedreht zu haben: Die nationalstaatlichen Exekutiven und die Europäische Kommission beschließen über den Ministerrat in der EG Gesetze, die von den nationalen Parlamenten nur noch übernommen werden können. Der Ministerrat kann vor allem in zwei rechtlich für die Mitgliedstaaten verbindlichen Formen Beschlüsse fassen: 1. Verordnungen sind direkt in den Mitgliedstaaten wirkende gesetzesartige Bestimmungen. Sie brauchen nicht durch die nationalen Parlamente in nationales Recht umgesetzt zu werden. 2. Einer derartigen Transformation bedürfen allerdings die sog. Richtlinien des EG-Ministerrates. Hier legt die E G - verbindlich für die nationalen Gesetzgeber - Rahmcnrichtlinien fest, nach denen bestimmte Gegenstandsbcreiche zu regeln sind. Den nationalen Parlamenten bleibt es überlassen, innerhalb bestimmter Fristen den allgemeinen Rahmen - je nach den nationalen Besonderheiten unterschiedlich - i n nationales Recht umzusetzen. Die EG beschränkt sich bei ihren Harmonisierungsbemühungen nicht auf den wirtschaftlichen Bereich. Insbesondere die Kommission verfolgt traditionell eine Strategie des europäischen Zugriffs auf möglichst alle Politikbereiche, um Wettbewerbsverzerrungen, die das Entstehen eines einheitlichen Binnenmarktes behindern, zu beseitigen. Nach dem EWG-Vertrag sollen nur drei Politikbereiche vergemeinschaftet, vom EG-Ministerrat geregelt und von der EG-Kommission verwaltet werden: • die Agrarpolitik: Die Agrarpreise z.B. werden alljährlich in spektakulären Sitzungen des Agrarministerrates für alle 12 EG-Staaten festgelegt - mit Konsequenzen nicht nur für die Landwirte, sondern auch für die Konsumenten, die unter einem im Vergleich zu den Weltmarktpreisen überhöhten Agrarpreisniveau in der E G zu leiden haben; • die Außenhandel- und Handelsvertragspolitik: Die E G hat als Zollunion nicht nur die Zölle zwischen den EG-Mitgliedsstaaten beseitigt (seit 1968), sondern darüberhinaus einen gemeinsamen Zolltarif aller EG-Staaten gegen NichtMitgliedsstaaten aufgebaut. Die Tarife werden u.a. in Verhandlungen mit Drittstaaten von der seitens des Ministerrates hierzu beauftragten EG-Kommission und ihrem Außenhandelskommissar festgelegt. Nur noch die E G darf seit 1973 Handelverträge abschließen, nicht mehr die einzelnen Mitgliedstaaten. • Die Verkehrspolitik gehört nach den Bestimmungen des EWG-Vertrages auch zu den zu vergemeinschaftenden Politiken, da unterschiedliche nationale Verkehrstarifsysteme die Wettbewerbsverhältnisse in der E G verzerren. Bis heute hat sich aber insbesondere die Bundesrepublik gegen eine Vergemeinschaftung der Verkehrspolitiken zur Wehr gesetzt, erst im Rahmen des EG-Binnenmarktes wird es hier zu Vereinheitlichungen kommen. Andere Politikbereiche sollen nicht supranational gestaltet und harmonisiert, sondern über die europäischen Institutionen bei Wahrung der nationalstaatlichen Regelungskompetenz koordiniert werden. Dies gilt vor allem für die
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Wirtschafts-, Konjunktur- und Sozialpolitiken. Auch in der Kultur- und Bildungspolitik wird nicht mehr als eine lockere Rahmengestaltung seitens der E G angestrebt. Der expansive Charakter des EG-Entscheidungsverfahrens ist deshalb besonders problematisch, weil es in der E G keinen Grundrechtskatalog gibt, was auch bereits vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wurde. Der EWG-Vertrag beschränkt sich seiner Zielsetzung gemäß im wesentlichen auf wirtschaftliche Angelegenheiten. Er umschreibt daher nur die „wirtschaftlichen Grundrechte" der EG-Bürger, wie z.B. die Freiheit, sich überall im E G - R a u m niederlassen, überall investieren und überall arbeiten und Produkte sowie Dienstleistungen anbieten zu dürfen - und zwar zu Bedingungen, die keinen EG-Bürger benachteiligen. Die Grundrechte des Grundgesetzes gibt es im EG-Recht jedoch nicht; das BVerfG kam zu folgender Auffassung: EG-Recht könne direkt oder indirekt dann nicht wirken, wenn die Grundrechte des G G tangiert sind. Daher bemüht sich das Europäische Parlament, einen eigenen Grundrechtskatalog für die E G aufzustellen. Zwar gibt es mit der Institution des Europäischen Gerichtshofes, der verbindlich auch mit Wirkung in den Nationalstaaten entscheiden kann, Ansatzpunkte für eine EG-Verfassungsgerichtsbarkeit. Bisher kann der Europäische Gerichtshof jedoch nur letztinstanzlich hinsichtlich der Auslegung des EWG-Vertrages und der wirtschaftlichen Grundrechte, wie sie in diesem Vertrag festgeschrieben sind, entscheiden. Der Entscheidungsprozeß in der E G ist durch die Dominanz des Ministerrates nicht nur weitgehend nationalstaatlich bestimmt, und zwar von den Exekutiven der Nationalstaaten, sondern auch durch zahlreiche, sich überlagernde „package deals" gekennzeichnet und dadurch für Außenstehende und insbesondere für die parlamentarische Kontrolle undurchsichtig. (Lindberg/Scheingold: 1970) Denn „package deals" bedeuten, daß diverse Gegenstandsbereiche auf der europäischen Ebene gebündelt werden und daß nur über die so gebildeten Pakete insgesamt abgestimmt werden kann. In diesen Paketen werden z.B. Fragen der Agrarpreishöhe und Fragen der außenpolitischen Stellungnahme der E G im Malvinas/ Falkland-Konflikt verbunden. Man kann so erreichen, daß jene, die an höheren Agrarpreisen interessiert sind, auch der außenpolitischen Stellungnahme zustimmen, obwohl sie nicht deren Interessen entspricht. Ein solches Entscheidungsverfahren mag zwar funktional sein im Sinne einer Förderung des Integrationsprozesses, ein solches „package deal" ist aber schwer von Außenstehenden durchschaubar und beeinflußbar, zu denen auch die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament gehören. Bestehen Änderungswünsche an einem „deal", so bringen sie ein vorsichtig und komplex gewobenes Ganzes allein schon dadurch zum Scheitern, daß nur ein kleines Teil aus ihm herausgelöst wird. Die Parlamente werden durch solche Pakete faktisch vor vollendete Tatsachen gestellt, an denen nur noch bei Inkaufnahme hoher politischer Kosten etwas zu ändern ist. Staatsrechtlich ist der parlamentarische Kompetenzverlust gedeckt durch Art. 24 des Grundgesetzes, nach dem die Bundesrepublik Teile ihrer Souveränität an internationale oder supranationale Organe abgeben kann.
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Y. Die Antwort des Deutschen Bundestages auf die europäischen Entwicklungen 1. Das formale Verfahren Die Flut nicht mehr zu kontrollierender und zu ändernder Verordnungen und Richtlinien der E G hat auch im Deutschen Bundestag ständig zugenommen. Im Art. 2 des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag wurde daher schon 1957 festgelegt, daß die Bundesregierung verpflichtet ist, Bundestag und Bundesrat laufend über die Verhandlungen im Rahmen des Ministerrates der EWG zu unterrichten. Dadurch sollte erreicht werden, daß die gesetzgebenden Körperschaften nicht erst dann mit einer Verordnung oder einer Richtlinie konfrontiert werden, wenn diese schon fertig auf europäischer Ebene ausgehandelt worden war. Bundestag und Bundesrat wollten sich in der Phase zuvor Einwirkungsrechte sichern. Die Informationspflicht der Bundesregierung ist jedoch nur begrenzt: Sie stellt keine Konsultation dar, und sie braucht nur über die Entwicklungen im Rat, nicht aber über die sonstigen Instanzen der EG zu berichten. Es kam alsbald zu Beschwerden des Parlaments, daß es zu spät unterrichtet worden sei. Unter den Bundestagsabgeordneten aller Parteien herrscht erheblicher Mißmut über ihre mangelnde Beteiligung in EG-Angelegenheiten. Die EG-Unterlagen werden auf zwei Wegen dem Bundestag zur Kenntis gebracht: Auf informellem Wege stellt das in EG-Angelegenheiten federführende Bundeswirtschaftsministerium die Unterlagen den Direktoren bei Bundestag und Bundesrat zu, etwas später erfolgt die gleiche Zustellung offiziell seitens des Bundeskanzleramtes (Thöne-Wille: 1984, S. 108). Um die Fülle der EG-Vorlagen bewältigen zu können, leitet der Bundestagspräsident sie direkt den in Frage kommenden Ausschüssen zu, die z.T. über weniger wichtige Rechtsakte en bloc entscheiden. Bei wichtigeren Akten bekundet der Bundestag entweder seine Zustimmung oder empfiehlt der Bundesregierung, in Brüssel bestimmte Änderungen durchzusetzen. Die innerstaatliche Entscheidungskompetenz ist in EG-Angelegenheiten allerdings gänzlich auf die Bundesregierung übergegangen, das Parlament empfiehlt nur. Die geringen Einflußmöglichkeiten des Parlaments haben zur Folge, daß rd. 2/3 aller EG-Vorlagen vom Bundestag ohne Änderungswünsche zustimmend zur Kenntnis genommen werden. Die Fülle an Vorlagen (mehr als 500 im Jahr) hatte schließlich 1978 zur Konsequenz, daß nunmehr nicht alle EG-Vorlagen als Bundestagsdrucksachen veröffentlicht werden, sondern nur noch dann, wenn der federführende Ausschuß dies empfiehlt. (BT-Drucksache 8/1265; Regelsberger/Wessels: 1984, S. 484f.). Wenn auch nicht in dem Maße, so stellt sich das Problem des Einflusses auf die EG-Politik auch der nationalen Exekutive, die seit Gründung der EWG bestrebt ist, möglichst frühzeitig über Entwicklungen und Initiativen seitens der EWGKommission unterrichtet zu werden, um Einfluß nehmen zu können. Es bildeten sich daher eine Reihe formeller und informeller Beziehungen zwischen Kommission und den nationalen Ministerien, u.a. in Form von Arbeitsgruppen bei den Ständigen Vertretern der nationalen Regierungen beim Ministerrat in Brüssel. In diesen Arbeitsgruppen ist auch die Kommission vertreten, und hier wird ein Großteil der Gesetzesvorlagen in zuweilen langwierigen Verhandlungen zur Ent-
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scheidungsreife gebracht. Das Ja des Ministerrates ist dann oft nur noch eine Formsache. Als das Europäische Parlament noch nicht direkt gewählt wurde, waren dessen Beziehungen zu den nationalen Parlamenten eng, da die Abgeordneten des Europäischen Parlaments in Personalunion zugleich auch Mitglieder des nationalen Parlaments waren. Europäische Erfahrungen sollten derart in die nationalen Parlamente einfließen und nationale Erfahrungen dem Europäischen Parlament zugute kommen. Das gelang jedoch nur in der Theorie, da die Arbeitsbelastungen durch zwei Parlamente nicht zu bewältigen waren (Thöne-Wille: 1984, S. 144). Die 1978 eingeführte Direktwahl zum Europäischen Parlament erfolgt in der Bundesrepublik (in den übrigen EG-Staaten je verschieden) nach dem Verhältniswahlrecht der Bundestagswahlen mit einer 5-%-Klausel, wobei die Parteien Länderlisten oder eine Bundesliste aufstellen können. Mit dem direkt gewählten Europäischen Parlament entfiel die - bei allen Schwächen doch vorhandene - institutionelle Klammer zwischen nationaler und europäischer Ebene weitgehend. Nur noch in wenigen Fällen wurde die rechtlich gegebene Möglichkeit eines Doppelmandates wahrgenommen.
2. Fraktionelle und interfraktionelle Regelungen Die Notwendigkeit einer Verklammerung blieb aber bestehen. Diesem Zweck dienen vor allem die regelmäßigen Konferenzen der Europäischen Parlamentspräsidenten, Treffen der nationalen und europäischen Fraktionen, gemeinsame Arbeitsgruppen, Rederecht von Europa-Abgeordneten in den nationalen Fraktionen und ihre beratende Teilnahme an den Fraktionsvorstandssitzungen. Dazu kommen • die Europabüros der Fraktionen, die die Verbindungen zwischen der nationalen und der europäischen Fraktion organisieren; • gemeinsame Sitzungen der Fachausschüsse; • institutionalisierte Kooperationen der Verwaltungen beider Parlamente, sowie • zahlreiche informelle Kontakte (Mehl: 1987, S. 34ff.). Auch das Europäische Parlament ist an einer solchen Verklammerung mit den nationalen Parlamenten interessiert. Zu diesem Zweck wurde das Europäische Zentrum für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation errichtet, um durch einen genügenden Informationsfluß effektive Entscheidungen zu ermöglichen. Unabhängig hiervon gibt es aber auch Rivalitäten zwischen Bundestag und Europäischem Parlament mit der Folge einer Schwächung des Parlamentarismus in Europa insgesamt. Vor allem nach der ersten Direktwahl zeigte das Europaparlament mehr Selbstbewußtsein, sodaß es zu nicht unerheblichen Konflikten kam. Parlamentarisches Bestreben war und ist es daher auch unter diesem Aspekt, die Kommunikation zwischen beiden Gremien aufrechtzuerhalten und zu intensivieren. 1981 legte der französische Europa-Abgeordnete A. Diligent (Europäische Volkspartei) einen Bericht im Namen des politischen Ausschusses des Europa-
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Parlaments „über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten" vor, der folgende Punkte zur annähernden Lösung dieses Problems enthält: • „Entwicklung ständiger und organischer Beziehungen zwischen dem Europäischen und den nationalen Parlamenten; • gleiche Zugangs- und Informationsmöglichkeiten für sämtliche Parlamentarier in der EG in allen parlamentarischen Institutionen innerhalb der EG; • Gründung eines Verbandes der europäischen Parlamentarier; • Verbesserung der wechselseitigen Konzertierung zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten; • Kontakte zwischen den Vorsitzenden und Berichterstattern der europäischen und nationalen Ausschüsse; • Verbesserung der bestehenden und Schaffung neuer Informationskanäle; Stärkung der Beziehungen der Fraktionen des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente; Koordinierung zwischen bestimmten Dienststellen der Parlamentsverwaltungen; Unterstützung des Europäischen Zentrums für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation; • Zusammenarbeit der Informationsbüros des Europäischen Parlaments in den Hauptstädten der Mitgliedsländer mit den entscheidenden Dienststellen der nationalen Parlamente; • jährlich stattfindende Konferenzen der Präsidenten des Europäischen Parlaments und derjenigen der nationalen Parlamente" (Das Parlament v. 13.08.1983). 1980 beschlossen die Bundestagsparteien spezifische innerfraktionelle Regelungen zur Befassung mit europapolitischen Angelegenheiten, die sich allerdings nur z.T. bewährten und durch neue Regelungen zu Beginn der 90er Jahre ersetzt wurden. In der SPD-Fraktion wurde je einer der stellvertretenden Arbeitskreisleiter mit diesen Fragen beauftragt. E r hat sich regelmäßig mit den diesbezüglichen offiziellen Ansprechpartnern auf der europäischen Ebene zu koordinieren. Im einzelnen war folgendes vorgesehen gewesen: • „In der Bundesrepublik Deutschland fungiert die SPD-Bundestagsfraktion als Verbindungsglied zur Sozialistischen Fraktion des EP, während der Parteivorstand als Verbindungsstelle zum Bund der sozialdemokratischen Partei wirkt; • drei Obleute aus der sozialistischen Fraktion des EP nehmen an den Sitzungen der SPD-Bundestagsfraktion teil, darüberhinaus können die deutschen EPAbgeordneten Arbeitskreis-Sitzungen beiwohnen; • das Thema ,Europa' erscheint regelmäßig als Tagesordnungspunkt auf den Sitzungen der SPD-Bundestagsfraktion; • die sozialdemokratischen Vorsitzenden der entsprechenden Ausschüsse des E P und der Bundestagsfraktion treffen sich regelmäßig in Strassburg bzw. in Bonn. • Für das deutsche Europa-Büro ist der zuständige Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion der direkte Verhandlungspartner auf Fraktionsebene; • die sozialdemokratischen EP-Abgeordneten treffen sich regelmäßig mit sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten bzw. Ministern auf Bundes- und Landesebene; • die vorrangigen Aufgaben des Europa-Büros bestehen in der gegenseitigen Information durch Partei- und Pressemitteilungen, Ausschußpapiere etc., Papie-
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re aus dem EP kommen aufgrund von Übersetzungs- und Verwaltungsproblemen nur verzögert nach Bonn; • da die Artikulation der EP-Abgeordneten in der deutschen Presse bisher nicht kontinuierlich gewährleistet war, haben die EP-Abgeordneten versucht, die regionale Presse ihrer Wahlkreise als Sprachrohr zu benutzen, einmal pro Woche erscheint ... ein Europa-Pressedienst der Partei, der den EP-Abgeordneten besondere Artikulationsmöglichkeiten bietet." (VWD Europa 20.03.1981). Die CDU/CSU ernannte spezielle Koordinierungsbeauftragte. Nach einem Beschluß von 1981 koordinierte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die nationale und europäische Ebene nach folgenden Grundsätzen: „Die Koordination wird auf der deutschen Seite von der Fraktionsführung, der Fraktion und dem Europa-Büro durchgeführt; • auf der Ebene der Fraktionsführung finden regelmäßige Kontakte zwischen dem Fraktionsvorsitzenden und dem Vorsitzenden der EVP-Fraktion statt; • die EP-Abgeordneten haben auf den Sitzungen der CDU/CSU-Fraktion Rederecht, das Thema ,Europa' findet sich regelmäßig auf der Tagesordnung der Fraktionssitzungen; • organisierte Treffen zwischen EP-Abgeordneten und Bundestagsabgeordneten finden wenigstens zweimal pro Jahr statt, bei aktuellen Problemstellungen je nach Bedarf häufiger; • die Koordination auf höchster Ebene ist inzwischen faktisch vom Vorsitzenden der Bundestagsfraktion auf den parlamentarischen Geschäftsführer übergegangen; • das deutsche Europa-Büro besorgt nicht nur die Koordination zwischen der Bundestagsfraktion und dem EP, sondern pflegt auch die Beziehungen zum Europarat und zur WEU, im Verhältnis zum EP hat es vor allem die politische Abstimmung vorzunehmen und die Transformation von Initiativen' zu organisieren; • die EP-Abgeordneten erhalten in den deutschen Medien kaum Gelegenheit zur Artikulation, einen Teil der Pressearbeit übernimmt das Pressebüro der EVP-Fraktion in Brüssel." (VWD Europa20.03.1981). Nicht unerwähnt bleiben soll, daß die Bundesregierung seit 1967 halbjährlich einen Bericht über die Integration in den Europäischen Gemeinschaften vorlegt und die Bundestagsabgeordneten automatisch die Entschließungen des Europäischen Parlaments erhalten. In der Bundestagsverwaltung gibt es ein Büro für interparlamentarische Angelegenheiten, das auch die Beziehungen zum Europäischen Parlament wahrnimmt. Eine andere strategische Möglichkeit zur Lösung des Problems der Koordination von Bundestag und Europäischem Parlament liegt in der Spezialisierung von Bundestagsabgeordneten auf europa-politische Fragestellungen. Hier sind zunächst die Abgeordneten zu nennen, die in den Ausschüssen, die sich mit EG-Politik befassen, von ihren Fraktionen als europapolitische Berichterstatter benannt werden. Sie haben die Aufgabe, aus der Vielzahl der Unterlagen diejenigen auszuwählen, die einer eigenen Beratung im Ausschuß bedürfen. Die anderen werden lediglich summarisch zur Kenntnis genommen. In der Zeit von 1963 bis 1967 wurde diese Selektionsaufgabe dem sog. Integrationsältestenrat überwiesen, die er allerdings aufgrund mangelnder Kompetenzen nur ungenügend wahrnehmen konnte, so daß er wieder aufgelöst wurde.
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Zu dieser Spezialisierung, aber ebenso zum Prinzip der institutionellen Verklammerung gehörte vor allem die Europa-Kommission des Bundestages, die 1983 gegründet wurde, aber nur eine Legislaturperiode währte (Mehl: 1987). Sie setzte sich aus Abgeordneten des Bundestages und des Europäischen Parlaments zusammen und unterschied sich hierin wesentlich vom EG-Ausschuß des Bundesrates. Der Bundestag wollte dadurch den Informationsfluß zwischen den Parlamenten sichern. Die Europa-Kommission hatte den rechtlichen Status einer Enquete-Kommission, da in einem Fachausschuß nur Mitglieder des Deutschen Bundestages hätten teilnehmen können, während in Enquete-Kommissionen die Mitgliedschaft nicht an ein Bundestagsmandat gebunden ist. Aufgabe der Europa-Kommission war es, dem Bundestag Empfehlungen zu seinen europäischen Entscheidungen vorzulegen, sie hatte allerdings kein Antragsrecht im Bundestag, was sich aus ihrem Status erklären läßt. Sollte der Bundestag über die Kommissions-Empfehlungen entscheiden, bedurfte es zuvor der Einschaltung eines Fachausschusses, der Beschlußempfehlungen für das Plenum zu erstellen hatte. Eine Federführung in europapolitischen Fragen konnte die Kommission daher in keiner Weise beanspruchen. Sie wurde aufgrund ihrer schwachen rechtlichen Stellung als Enquete-Ausschuß (und nicht als Fachausschuß) nur peripher in die Arbeit des Bundestages einbezogen (Mehl: 1987, S. 46). Die Kommission tagte zwei Mal im Monat. Auch Vertreter der Bundesregierung, der Bundesländer und der EG-Kommission sowie sonstige Sachverständige wurden zu den Beratungen eingeladen. In der 10. Legislaturperiode wurde die Kommission nicht mehr eingerichtet. Statt der Europa-Kommission wurde der Unterausschuß für Fragen der Europäischen Gemeinschaft des Auswärtigen Ausschusses revitalisiert. Einer Spezialisierung auf die EG sind jedoch enge Grenzen gesetzt, da die Bundestagsausschüsse spiegelbildlich zu den Ministerien gebildet sind und dieser Unterausschuß mangels eines Europaministeriums quasi kein Pendant hat, auf das er Einfluß nehmen könnte. Ebenso spezialisiert sich der Bundestagsabgeordnete gemäß der klassischen Aufteilung, in deren Rahmen EG-Materien nur jeweils unter einem spezifischen Aspekt und partiell vorkommen.
3. Der neue EG-Ausschuß Trotz dieser Probleme hat der Deutsche Bundestag 1991 einen EG-Ausschuß eingesetzt. Er befaßt sich mit allen europapolitischen Fragen, soweit sie nicht gänzlich (wie z.B. in landwirtschaftlichen Fragen) einem anderen Ausschuß zugeordnet werden können. Von Bedeutung ist auch der Unterausschuß „ E G " des Haushaltsausschusses. Aber auch in diesen Fällen ist der EG-Ausschuß mit in den Entscheidungsprozeß einzubeziehen. Die Kompetenzen des EG-Ausschusses sind aber im einzelnen unstrittig. Mit der genannten Ausschußneugründung, aber auch schon in der Zeit zuvor hatte sich der oben geschilderte, z.T. sehr komplizierte und daher kaum umgesetzte fraktions- und parteiinterne Entscheidungsprozeß zur E G restrukturiert: Die CDU/CSU-Fraktion hat 1991 eine Arbeitsgruppe Europa eingerichtet, für die die unterschiedlichen Fraktions-Arbeits-
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gruppen Europabeauftragte benennen. An diese Arbeitsgruppe ist auch das oben erwähnte Europabüro angekoppelt. In der FDP-Fraktion ist wie zuvor auch weiterhin der Arbeitskreis I: Außen- und Sicherheitspolitik, Deutschland-, Europa- und Entwicklungspolitik für europapolitische Fragen zuständig; andere Arbeitskreise werden je nach Bedarf eingeschaltet. Ein freidemokratischer Abgeordnete des Europäischen Parlaments ist mit der Koordination beider Parlamente beauftragt. Die Europa-ParlamentsAbgeordneten können an den Beratungen der FDP-Bundestagsfraktion ohne Stimmrecht teilnehmen. Im FDP-Bundesfachausschuß Außen/Europapolitik sind auch Europa-Parlaments-Abgeordnete vertreten. Die liberalen Parteien in der E G treffen sich regelmäßig. Mit der Auflösung der innerfraktionellen Arbeitskreise der SPD-Bundestagsfraktion wurde 1992 eine Arbeitsgruppe „Europäische Gemeinschaft" - parallel zum analogen Bundestagsausschuß - geschaffen, die die Arbeit des Ausschusses vorbereitet. An den Sitzungen der Arbeitsgruppe können die sozialdemokratischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments beratend teilnehmen. Zudem verfügt die SPD-Fraktion über eine Koordinierungsstelle für Europafragen, die als Anlaufstelle mit dem europäischen Parlament und auch mit den Landtagen in europapolitischen Angelegenheiten zusammenarbeitet und deren Arbeit mit der des Bundestages zu koordinieren versucht. Wegen der geringen zahlenmäßigen Stärke können die kleinen Fraktionen (z.B. Bündnis 90/Grüne) keinen gesonderten Arbeitskreis zur E G gründen. Hierfür sind einzelne Abgeordnete zuständig. Technische Erleichterungen für die deutschen Europa-Parlamentsabgeordneten brachte das 1985 gegründete Europabüro des Europäischen Parlaments in Bonn, das kommunikationstechnologisch mit allen „Schwesterbüros" in der E G verbunden ist, ein Europa-Archiv unterhält und zudem den Europa-Abgeordneten „Durchgangsbüros" für die Zeit ihrer Arbeit in Bonn bereitstellt. Ebenso hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages einen Fachbereich XII. „ E G " eingerichtet, der u.a. auch mit Fragen der Koordinierung zum Europäischen Parlament beauftragt ist. Nach den Ausführungsbestimmungen zu Paragraph 10a des Europaabgeordnetengesetzes können zudem Europa-Abgeordneten Reisekosten innerhalb des Bundesgebietes erstattet und die Mitbenutzung eines Büroraumes am Sitz des Bundestages erlaubt werden (Das Parlament v. 13.8.1983). Schließlich soll in den EG-Revisionsverträgen als Folge der Maastrichter Konferenz von Ende 1991 eine bessere Information und Einbeziehung des Deutschen Bundestages geregelt werden.
VI. Resümee Es gehört zum Konsens, daß die EG demokratisch-parlamentarisch unterentwikkelt ist. Eine einfache und zugleich effektive Lösung dieses Problems bestünde darin, das Europäische Parlament als Parlament mit allen Rechten zu konstituieren und den Ministerrat zu einer Art Zweiter Kammer (Länderkammer) umzubilden.
6. Kap.: Parlamente in Kommunen u. Ländern u. dasEurop. Parlament
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Diese Lösung scheint angesichts der wachsenden Bedeutung der Nationalstaaten und der intergouvernmentalen Koordination in der E G gegenwärtig illusorisch. Die Strategie zur Realisierung des Binnenmarktes (gegenseitige Anerkennung von nationalen Normen, nicht mehr deren EG-weite Harmonisierung; Forcierung des Funktionalismus) spricht eher gegen eine zügige Demokratisierung der E G in absehbarer Zukunft. Was bleibt, sind die oben aufgezeigten Ersatzmechanismen einer verstärkten Kontrolle durch eine Kooperation von nationalen und Europäischem Parlamenten. Diese Ersatzlösungen haben allerdings den Nachteil, daß sie weder demokratischen Anforderungen entsprechen noch effektiv sind. Denn die Zahlen der mitredenden Akteure wird durch diese Kooperation erhöht, so daß der Entscheidungsprozeß ingesamt noch undurchsichtiger und schwieriger wird. Solange sich die nationalen Entscheidungsträger nicht in einem großen Akt dazu durchringen, einen Bundesstaat Europa mit voller Souveränität und eigenem souveränen Parlament zu schaffen, werden die E G und die nationalen Parlamente nicht aus dem Dilemma zwischen einerseits effektivem und andererseits demokratischem Entscheidungsprozeß herauskommen.
Perspektiven: Problemstellungen der Industriegesellschaft Freiheit zum Handeln ist die unabweisbare Grundlage jeder tatsächlichen Verantwortung. Damit ist gesagt, daß die Reichweite der Verantwortung identisch ist mit der Handlung selbst: Wo und wann immer menschliches Denken und Handeln auf das, was faktisch geschieht oder unterbleibt, Einfluß hat, wird es verantwortlich für den Lauf der Geschehnisse - für menschliche Geschichte. Insoweit ist Verantwortung nur als universale, anthropologische und zugleich einem Trägersubjekt zuzurechnende Kategorie zu beschreiben (Ingarden: 1969). Verantwortung ist nur als Verantwortung für die Erfüllung konkreter Aufgaben aus konkreter Zuständigkeit verstehbar und bewertbar. Die jeweiligen geschichtlicher Wandlung unterworfenen personalen oder kollegialen Aufgaben können zunächst nicht Produkt subjektiven Willens allein sein, sondern ergeben sich wesentlich aus der Eigenart der Sachprobleme, denen die Wahrnehmung der Zuständigkeit gilt. Dieses Verständnis impliziert, daß ein zuständiges Subjekt seine charakteristische Rollenausprägung wesentlich aus dem sachlichen Gehalt seiner Aufgaben bezieht. In allgemeiner Hinsicht läß sich formulieren: Aufgaben konstituieren Handlungssubjekte, die sachliche Struktur bestimmt den Rahmen verantwortungsvoller Zuständigkeit. Angesichts des räum- und zeittranszendierenden, menschheitsumspannenden Charakters moderner Wissenschaft und Technik ist zu fragen, wie und durch wen die damit aufgegebene Verantwortung gedacht und erfüllt werden kann. Es entspricht christlich-europäischer geistesgeschichtlicher Tradition, Verantwortung zunächst als individuell-personale Kategorie zu verstehen. So sind als grundlegende, die zwischenmenschliche Lebensgemeinschaft bestimmende Verantwortungs-Bindungen die elterliche, die soziale, religiöse, rechtliche, politische und die Eigenverantwortung zu nennen. Wenn Verantwortung meint, für konkretes Handeln oder Unterlassen Rechenschaft abzulegen, welches nach Maßgabe der jeweiligen Verantwortungs-Instanz beurteilt und ggfs. sanktioniert wird, so setzt dies voraus, daß die zu verantwortende Handlung einem Urheber zurechenbar ist. Das der Verantwortung zugehörige Verursacherprinzip knüpft unmittelbar an die personale Zurechnungsfähigkeit einer Handlung an und bedeutet zunächst Verantwortung für tatsächlich Geschehenes, dessen Folgen aufweisbar sind (Forschner: 7 1989, Sp. 590; Schwartländer: 1974, S. 1579). Die personale Zurechnungsfähigkeit einer Handlung zu einem Subjekt bleibt jedoch nicht - wie dies naheliegen könnte - auf die Instanz des nur sich selbstverantwortlichen Gewissens beschränkt, sondern kann durchaus in einer Dienst- oder Amtsperson verkörpert sein. Gerade das politische resp. rechtliche Amt ist in seiner ursprünglichen Ausprägung vom personalen Ethos getragen (Hennis: 1968a, S. 52). Verantwortung fußt in der Idee der Freiheit des Menschen, welche gebundene, sich im Bedingungszusammenhang normativer Vorgaben und objektiver Verantwortungs-Instanz einerseits und subjektiver Willens- und Handlungsfreiheit des Verantwortlichen andererseits bewegt (Holl: 1980; ders.: 1989. S. 38ff.; Henschel: 1963, S. 129f.). Im Mittelpunkt dieses Verständnisses steht die „Person" (Forschner: 7 1989, Sp. 590; Ströker: 1984, S. 103; Schüler: 1948, S. 22), weichein freier Willensentscheidung ihr Erkennen und Handeln an eine Norm bindet. Erst durch die freie ethische Zuordnung entsteht die Pflicht, verantwortend zu entsprechen. Diese Bestimmung umreißt - wie in § 1 behandelt - den begrifflichen
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Perspektiven: Problemstellungen der Industriegesellschaft
Kern der Menschenwürde im Grundgesetz. Die in diese Definition eingeschlossene Vermittlung des Menschen in seine Umwelt bezeichnet zugleich die anthropologische Voraussetzung der Soziabilität und begründet den für das Praktischwerden von Verantwortung wesentlichen dialogischen Bezug zum Mitmenschen wie allgemein den Bezug zur Lebenswelt. Verantwortung nimmt ihren Ausgang in der dem Menschen eigenen Kultur. Sie ist all ihren Ausformungen und historischen Weiterentwicklungen vorauslaufend tragendes Fundament menschlichen Gemeinschaftslebens (Jonas: 7 1987, S. 234; Gehlen: 5 1986, S. 55; Saladin: 1984, S. 21; Freyer: 1970, S. 195; Schulz: 1972, S. 710). Unabweisbar ist, daß zu den zentralen Prinzipien des heutigen Betriebes von Wissenschaft und Forschung die Ausrichtung auf die möglichst unmittelbare technische Transformation ihrer Ergebnisse in die gesellschaftliche Praxis gehört (Graf von Westphalen: 1985b). Eine zeitliche, sachliche und soziale Differenz zwischen einer „verantwortungsfreien" Theorie und ihrer zu verantwortenden Anwendung ist dem industriellen Wissenschaftsprozeß weitgehend fremd: Die Struktur wissenschaftlicher Forschungsprozesse wird gestaltet durch das Primat ihrer industriellen Nutzung und technischen Realisierung (dazu § 16 II.). Damit haben sich das Zuständigkeitsverhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft und die daran geknüpfte Verantwortlichkeit gewandelt: Die faktischen Sachzusammenhänge technisch-wissenschaftlicher Zivilisationsentwicklung, die Komplexität entsprechender Handlungsmuster, die Unabsehbarkeit insbesondere sekundärer Folgen haben den Versuchen, über einen individual-ethischen Appell zu einer Beherrschung des technischen Fortschrittes beizutragen, ebenso die empirische Grundlage entzogen, wie sie die darauf bezogenen Ethiken problematisch gemacht haben. Das philosophische Interesse wird deshalb heute auf die Formulierung kollektiver Verantwortungsethiken gelenkt - unter der Prämisse, daß sich Sittlichkeit nicht nur in personaler Praxis, sondern auch in der Struktur institutioneller Beziehungen manifestiert (Saladin: 1984; Scheuner: 1970; Magiern: 1979. S.270ff.; Schulz: 1972; 1989). Dazu gehört die Einsicht, daß die Aufgaben, die sich aus der historisch veränderten Rolle von Wissenschaft und Technik und den dadurch veränderten Zuständigkeiten herleiten, zunächst soziale Körperschaften und Institutionen als verantwortliche Träger menschlicher Handlungsmacht konstituieren. Welches sind nun die Probleme, die, aus der Anwendung wissenschaftlicher Technik und deren Diffusion in alle Bereiche menschlichen Daseins hervorgehend , zu einer Vertiefung politischer Verantwortungswahrnehmung zwingen? Die Bedeutung der in der zeitdiagnostischen Diskussion verhandelten Problemstellungen der Industriegesellschaft erlaubt ihre stichwortartige, höchst unvollständige Wiederholung 1 (Graf von Westphalen: 1988b, S. 13ff. m.w.N.; Beck: 1988; 1986), ohne zugleich sagen zu wollen, es handele sich in jedem Fall um Probleme für den Staat: 1. Nicht nur am Beispiel der hochtechnisierten Kriegsführung mit ihrem Potential zur bleibenden Vernichtung allen irdischen Lebens wird überdeutlich, daß die technische Eingriffsmacht des Menschen in immer enger vernetzte Systemzusammenhänge der modernen Welt so gewachsen ist, daß unübersehbare und unkon-
1
D i e anschließenden „ P r o b l e m s t e l l u n g e n " wurden bereits zu verschiedenen Stellen publiziert.
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trollierbar Nebeneffekte auftreten, und daß die davon Betroffenen nicht im erkennbaren, unmittelbaren Handlungszusammenhang mit dem Eingreifenden stehen (Beck: 1988; Spaemann: 1979). In der politischen Philosophie ist das Problem der gerechten Verknüpfung von Individual- und Allgemeinintercsse vornehmlich entweder unter dem Gesichtspunkt der tatsächlich einzuholenden Zustimmung aller vom Handlungsakt Betroffenen oder dem der Etablierung konsensueller Verfahren, mittels derer die Frage nach der Zumutbarkeit im Einzelfall entschieden wird, diskutiert worden. Beide Verfahren sehen sich angesichts der Dynamisierung der Beherrschung der Natur durch den Menschen vor das Problem gestellt, daß infolge der Interdependenz aller ökologischen Systeme die Handlungsncbenfolgen weder theoretisch darstellbar noch praktisch überschaubar sind. Die sittlich-ethische Problematik einer solchen Situation erweist sich darüber hinaus in dem Umstand, daß sich die Folgen einer Reihe von Handlungen auf Betroffene erstrecken, die am Verfahren der Zumutbarkeitszuwcisung nicht beteiligt sein können, weil sie zwar betroffen, aber noch nicht geboren sind. Die neuartige Herausforderung der Ethik durch die Technik ist mithin darin zu sehen, daß gegenwärtige Generationen durch irreversible Entscheidungen über technischc Systeme das Schicksal zukünftiger Generationen einschneidend mitgestalten. 2. Das Leben ist älter als der Mensch. Die herkömmlichen Verfahren der Diskussion und Entscheidung aber das Zumutbare enthalten und bringen keinen Hinweis bezüglich der Frage, welches Leben, welche Tier- und Pflanzenart der Mensch als Nebenfolge seiner Handlungen schädigen oder bleibend vernichten darf und welche nicht. Die geschichtlich sich wandelnde Auffassung dessen, was als ,wertvoll' und was als,wertlos' in Bezug auf das natürliche Wesen des Menschen zu gelten hat, ist und wird gesellschaftlich-generativ erzeugt. Insofern kann eine solche Bestimmung nur als momentane, als vorläufige Interpretation des Schätzenswerten gelten. Da der Mensch die vorgefundene Natur - bis heute zwar vernichten, nicht aber adäquat ersetzen oder vermehren kann, gibt es unter dem Gesichtspunkt zumutbarer Handlungsnebenfolgen noch keinen sittlichen Anhaltspunkt, der es erlauben würde, diese historisch gebildete Wertschätzung prospektiv zur Grundlage für nachfolgende Generationen zu machen. Eben das gilt auch für Handlungen - wie gesagt deren Folgen - in vernünftigen Grenzen gedacht - irreversibel für die kommende Menschheit sind, oder zur Depravierung bis hin zur Mutationsverstümmelung von Lebewesen reichen können. Angesichts dieser Eingriffsmöglichkeiten gewinnt die Natur eine neuartige Bedeutung:War politische Ethik bisher im wesentlichen anthropozentrisch und damit zunächst auf Handlungen und Handlungsfolgen zwischen Menschen ausgerichtet, so gewinnt sie nun eine weitergehende ökologische Relevanz für anderes Leben. Angesichts möglicher unwiderruflicher Folgen und Schädigungen (Klimaveränderungen, Strahlenschäden) geht es auch um den Menschen, aber keineswegs nur (mehr) um ihn. 3. Im sog. „Humanexperiment" ist der Mensch zunehmend selbst zum Gegenstand der Wissenschaft geworden. Zwar hat diese theoretische Neugierde in praktischer Absicht eine lange Tradition, aber die zunehmende Verbreitung und Verbesserung wissenschaftlicher Methoden und die Verfeinerung der technischen Möglichkeiten, den Menschen und seine Natur zu analysieren, sind qualitativ mit früheren Entwicklungsstadien nicht vergleichbar; der Mensch ist in der Lage, seine eigene Natur, seine genetische Identität zu verändern; dieses Vermö-
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Perspektiven: Problemstellungen der Industriegesellschaft
gen enthält Perspektiven, denen wir ratlos gegenüberstehen (Höffe: 1986; auch § 18 III.; §20). 4. Auswirkungen der angewandten Wissenschaft und der Technisierung der natürlichen und sozialen Umwelt sind mit der Problematik der Umweltbelastung durch Abfallstoffe in Luft, Wasser und Boden gegeben. „Ökologische Probleme sprengen Grenzen, denn sie haben die für die meisten Probleme charakteristische lokale Eingrenzbarkeit verloren, es sind globale Probleme. Die Verschmutzung von Luft und Wasser, die Belastung der Flüsse und Meere mit Schadstoffen, die Zerstörung des Ozongürtels, die durch die Abholzung zu erwartende Veränderung des Klimas usw. sind von diesem globalen Typus, daß sie sich nicht innerhalb regionaler und politischer Grenzen halten. Sie haben Auswirkungen für alle jetzt lebenden Menschen und Organismen und vor allem für die nach uns kommenden Generationen. Ökologische Probleme sind global, räumlich, wie zeitlich (Schäfer: 1991, S. 117). 5. Die Entwicklung der Computertechnik, der elektronischen Datenverarbeitung und Informationsverarbeitung hat die Gefahr einer organisationswissenschaftlich-technokratischen Kontrolle des Individuums in Gestalt seiner gesammelten und kombinierten Personendaten erzeugt. Die Gefährdung der Privatheit, des „Datengeheimnisses" hat zur Problematik des Datenschutzes vor kommerzieller und gesellschaftlicher Nutzung persönlicher Daten geführt. Diese Fragestellung weist erhebliche politisch-sittliche Bedeutsamkeit auf, geht es doch um die Würde des Individuums ebenso wie um sein - in der Formulierung des BVerfG - „informationelles Selbstbestimmungsrecht". Damit verbunden sind Problematiken, wie die Konsequenzen aus der Trennung von „Information" und „Wissen", die Mediatisierung der Lebens- und Erfahrungswelt mit ihren Folgen für die Ausbildung personaler und sozialer Identität. 6. „Technokratie" als technisch organisierte Machtausübung, als Sachzwangdominanz und als Gefahr weitgehender Ausrichtung aller sozialen Phänomen und Prozesse unter dem Gesichtspunkt optimaler technischer Leistung und Funktionstüchtigkeit (ausführlich § 161.) ist vorstehend umrissen worden; die dort diskutierten Gefährdungen haben wachsende Bedeutung vor allem unter dem Gesichtspunkt, daß keineswegs als sicher gelten kann, daß durchtechnisierte Gesellschaften nicht zu „Expertokratien" werden, nicht zuletzt, weil unsere Auffassung dazu neigt anzunehmen, die Probleme, von denen hier die Rede ist, seien zunächst technischer Natur, seien Sache des Experten. In diese überaus unvollständigen Problemkonstellationen technisch-wissenschaftlicher Zivilisation ist der Staat „verstrickt". Er hat sie mitkonstituiert. Und bereits aus diesem Blickwinkel gewinnt die Frage, welche Aufgaben und Zielsetzungen bezüglich Wissenschaft und Technik der Staat mit welchen Gründen in Zukunft zu verfolgen hat, und welche er begründeterweise als Optionen ausschließt, eine grundlegende staatslegitimatorische Dimension. Die Anforderungen an die institutionelle Problemlösungsfähigkeit begründen sich aus den skizzierten neuartigen Risikodimensionen, welche Folgewirkungen über den Verantwortungshorizont des zuständigen Entscheidungsträgers hinaus zeitigen oder möglicherweise irreversible Schäden hervorrufen. Notwendiger Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, vom zu verantwortenden Sachverhalt auf mögliche Verantwortungs-Träger hinzudenken und institutionell verantwortungsfähige Träger namhaft zu machen. Dies ist erforderlich, weil das traditionelle Verständnis von Verantwortung, wonach ein verantwortungsfähiges Subjekt in per-
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sonellem Handeln die zu verantwortende Handlung hervorbringt, angesichts der Tragweite vieler Entscheidungen und ihrer Risikodimensionen umgekehrt wird: Einerseits ist die Zurechnung von Verantwortung nach dem Verursacherprinzip vielfach nicht eindeutig möglich. Andererseits erwächst eine besondere präventive politische Verantwortung für die gemeinschaftliche Fürsorge. Zur Bestimmung dessen, was in die nicht delegierbare Entscheidungsverantwortung des Parlaments fällt, hat das BVerfG den Wesentlichkeits-Grundsatz entwickelt (dazu § 18 II.), wonach es alleinige Aufgabe des Gesetzgebers ist, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung ... alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" (BVerfGE 49, 89 (126); Murswiek: 1985, S. 127ff.). Die Grundrechtsrelevanz ist demnach entscheidendes Kriterium für die Wesentlichkeit einer Frage oder Maßnahme und verweist sie in die Prärogative des gesetzgebenden Parlaments: Als „wesentlich" gilt die „Ordnung wichtiger Lebensbereiche zumindest in ihren Grundzügen" (BVerfGE 41,251 (260). Normativ in besonderer Weise gefordert ist die - bereits in der GG-Präambel festgeschriebene (dazu § 1 1 . ) und nach dem Wesentlichkeits-Grundsatz des BVerfG dem Parlament zugesprochene - politische Verantwortung für die Folgen staatlichen und staatsbürgerlichen Handelns angesichts der genannten Grundrechtsgefährdungen. Sie ist begründet im materialen, fundamentalen Verpflichtungscharakter der Verantwortungs-Kategorie, wonach der Reichweite menschlicher Einwirkungsmöglichkeiten konsequent auch die Reichweite der Verantwortung entspricht und zudem die Verpflichtung mit sich führt, künftig zu erfüllende Aufgaben vorausschauend zu erkennen, zu übernehmen und somit gestaltend in die Zukunft zu wirken. Politische Verantwortung meint in diesem Sinne: Geltendmachen von Schutzpflichten und Staatsaufgaben nach Maßgabe der Menschenwürde-Norm. Der Staat - und vor allem das Parlament als institutionelle Mitte - sind daher verpflichtet, für die in den Grundrechten verbürgten Rechtsgüter der Bürger ebenso wie nach dem Sozialstaatsgebot für das Gemeinwesen als Ganzes Sorge zu tragen und bestehende Gefahren durch geeignete Zulassungs- und Kontrollregelungen abzuwehren; überdies richtet sich politische Verantwortung auch auf gestaltende Daseinsfürsorge und Risikoverhütung. Diese normativen Anforderungen lassen sich konsequent aus dem dargelegten Verantwortungs-Verständnis des Grundgesetzes herleiten, wonach die Verantwortung für eine Billigung oder zumindest ein „Geschehen-Lassen" von Grundrechtswirkungen unabweisbar auf die autorisierende resp. unterlassende oder zumindest nicht restrigierende Instanz zurückfällt: Also in einem solchen Falle auf den Staat, der seiner treuhänderischen Wahrnehmung von Herrschaft im Dienste der an der Menschenwürde-Norm und den Grundrechten orientierten Staatsaufgaben nicht angemessen nachgekommen wäre. 2 Wie weit im Grunde diese Schutzpflichten des Staates angesichts der modernen Risikodimensionen reichen, hat D. Murswiek entfaltet, für den eine mögliche Grundrechtsgefährdung rechtlich wie eine tatsächliche Grundrechtsverletzung 2
D e r rechtliche Rückgriff auf den tatsächlichen Verursacher - sofern dieser ermittelbar ist - berührt den dargelegten Verantwortungszusammenhang nicht.
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behandelt werden müßte (Murswiek: 1985, S 127ff.): Wird beispielsweise das durch Art. 2 Abs. 2 G G geschützte Rechtsgut auf Leben und Gesundheit durch einen Privaten - etwa den Betreiber eines AKWs - bedroht, so sind diese Grundrechtsgefährdungen und ihre möglichen Folgen dem Staat deswegen zuzurechnen , weil dieser die Genehmigung erteilt oder zumindest die Betreibung nicht untersagt hat. Käme es zu einer Grundrechtsverletzung - etwa durch einen Störfall, so bestände diese zunächst „also nicht in der Beeinträchtigung des grundrechtlich geschützten G u t e s . . . , sondern in der staatlichen Genehmigung des privaten Eingriffes, der staatlichen Erlaubnis der privaten Verletzung des Schutzgutes" (Murswiek: 1985, S. 90) Und weiter folgert Murswiek: Wenn der Staat mit seinen gesetzlichen Regelungsverfahren Bedingungen für privates Handeln schafft, die eine Beeinträchtigung des Rechtsgüterschutzes zulassen, so hat dies auch zur Konsequenz, daß die betroffenen Bürger verpflichtet wären, die Gefährdung etwa für Leben und Gesundheit - zu dulden, da die Duldung zu den staatsbürgerlichen Grundpflichten gehört (Murswiek: 1985, S. 91; Luchterhandt: 1988, S. 452ff.). Allerdings: Wenn der demokratische Verfassungsstaat gemäß dem Verfassungsgrundsatz „Verantwortung" dem Konstitutionsprinzip der Menschenwürde und dem Grundrechtsgüterschutz verpflichtet ist, entsprechen Billigungen, Genehmigungen oder unterlassene Restriktionen der genannten Art nicht den Maßstäben, nach denen den Trägern staatlicher Gewalt Herrschaft als Amt anvertraut wurde. Demnach ist ein solches Handeln oder Unterlassen nicht nur verfassungswidrig (Murswiek: 1985, S. 98), sondern könnte das Demokratiegebot der verantwortbaren Herrschaft grundsätzlich in Frage stellen. Die geschilderte Problematisierung macht das Diktum von der Gleichsetzung der Risiken der Industriegesellschaft mit denen des Staates (Beck: 1986, 1988) anschaulich. Man braucht angesichts der ökologischen Risiken nicht U. Becks düsterer Analyse zu folgen, der eine „eklatante Institutionenkrise der Industriegesellschaft" (:1991, S. 10) feststellt. Dennoch bleibt der moderne demokratische Staat mit technikinduzierten Problemen konfrontiert, welche dazu zwingen, seine Verfassungsprinzipien einer kritischen Prüfung in Hinblick auf ihre Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit zu unterwerfen. Zurückkommend auf die Prärogative parlamentarischer Verantwortung in der modernen Industriegesellschaft der Bundesrepublik kann zusammengefaßt werden: Da die repräsentative Volksvertretung mit der Entscheidungskompetenz in Fragen der Rahmengestaltung des Gemeinwesens betraut ist, rückt das Erfordernis einer Steuerungsinstanz der öffentlich reflektierenden Aussprache über die Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Gesellschaft in den Vordergrund: das Parlament. Gerlinde Sommer Raban Graf von Westphalen
Autorenverzeichnis Jürgen Bellers, Prof. Dr.; Jg. 1951; Studium der Internationalen Politik, Zeitungswissenschaft und Geschichte in München; 1982-1988 Hochschulassistent für Politikwissenschaft der Universität Münster (Lehrstuhl Prof. Dr. Gerhard Wittkämper); seitdem dort Hochschuldozent. Dieter Engels, Dr. jur.; Jg. 1950; Studium der Rechtswissenschaften, danach wissenschaftlicher Assistent am Institut für Straf- und Strafprozeßrecht der Universität Bonn; seit 1983 in den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, zuletzt Ministerialrat und Sekretär des Haushaltsausschusses; derzeit Leiter der Verwaltung der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag. Oscar W. Gabriel, Prof. Dr. rer. pol. habil., Jg. 1947, o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, VWL und Geschichte an den Universitäten Mainz und Hamburg, 1972 Diplom Examen im Fach Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, 1975 Promotion zum Dr. rer. pol. (Soziologie) an der Universität Hamburg, 1983 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Universität Mainz; 1973/74 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunalwissenschaften der KonradAdenauer-Stiftung, 1974-1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz, 1988 apl. Professor, 1990-1992 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bamberg; seit 1992 an der Universität Stuttgart. Klaus Grimmer, Univ.-Prof., Dr., Dipl.-Volksw., Ass. jur.; Jg. 1934; Studium der Rechtswissenschaft, Philosophie u. Geschichte in Tübingen, Bonn und Göttingen, der Wirtschafts- und Politikwissenschaften in Köln; wissenschaftliche Mitarbeit Universität Köln (Prof. Dr. Weisser); Tätigkeit als Rechtsanwalt und in der Privatwirtschaft; wissenschaftlicher Assistent T H Darmstadt (Fachgebiet öffentliches Recht u. Allgemeine Staatslehre (Prof. Dr. Drath, Bundesverfassungsrichter a.D.) und Hochschuldozent dort. Seit 1972 Hochschullehrer an der Gesamthochschule Kassel, Fachgebiet Politikwissenschaft und öffentliches Recht; wissenschaftlicher Leiter (gem. mit Prof. Dr. Brinckmann) der Forschungsgruppe Verwaltungsautomation; Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Vereinigungen und Forschungs- bzw. Sachverständigen-Kommissionen. Everhard Holtmann, Prof. Dr. phil.; Jg. 1946; Studium der Sozialwissenschaften, Geschichte und Publizistik in Bochum und Wien; Wissenschaftlicher Assistent und Projektmitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg; Habilitation 1986; Lehrstuhlvertretungen in Konstanz und München; C3-Professor (i.V.) in Erlangen; seit 1.4.1992 Gründungsprofessor (Lehrstuhl für Systemanalyse und vergleichende Politik) am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Uwe Jun, Jg. 1963; Studium der Politischen Wissenschaft, Germanistik und Philosophie; seit 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Leo Kißler, Prof. Dr. iur. utr., Dr. rer. pol.; Jg. 1949; Studium der Rechtswissenschaft und Soziologie an der Universität Würzburg; wissenschaftlicher Angestellter an der Universität-Gesamthochschule Kassel; Habilitation in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter und ab 1982 Professor für Politische Soziologie an der Fernuniversität Hagen; seit WS 1992 Professor für Soziologie an der Philipps Universität Marburg.
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Autorenverzeichnis
Alexander Roßnagel, Prof. Dr. jur.; Jg. 1950; Studium der Rechtswissenschaften; 1978-1984 Rechtsanwalt; 1980-1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Die Sozialverträglichkeit von Energiesystemen" der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW); seit 1984 Hochschullehrer für Verfassungs-, Technik- und Umweltrecht an der Fachhochschule Darmstadt; wissenschaftlicher Leiter der Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung (provet) in Darmstadt; Privatdozent an der Technischen Hochschule Darmstadt. Gerlinde Sommer, Dipl.-Pol.; Jg. 1966; Studium der Politischen Wissenschaften, Philosophie und Germanistik in Trier, Köln und Berlin; Mitarbeiterin im Lehrbuchprojekt „Parlamentslehre" und 1991 bei der Strukturkommission für Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Potsdam; seit 1.10.92 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Lehrstuhl Prof. Dr. R. Saage). Wolfgang Ulimann, Dr. theol.; Jg. 1929; Studium der Theologie und Philosophie 1948-1954 in Westberlin und Göttingen; 1954-1956 Vikar; 1956-1963 Pfarrer in der Evg.-luth. Landeskirche Sachsen; seit 1963 Dozent des kirchlichen Lehramtes an der Kirchl. Hochschule Naumburg (im Fach Kirchengeschichte); 19781989 dasselbe an der Kirchl. Hochschule Berlin-Brandenburg; Herbst 1989 Mitglied der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt"; Dezember 1989 Mitglied des Zentralen Runden Tisches in Berlin; Feb. - April 1990 Minister o.G. in der Regierung Modrow; April - Sept. 1990 Vizepräsident der Volkskammer der DDR; seit Oktober 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages. Raban Graf von Westphalen, Prof. Dr. M.A.; Jg. 1945; Studium der Politischen Wissenschaften, Geschichte, Geographie und des öffentlichen Rechts in Münster, Bochum und Freiburg; Hochschulassistent am Seminar für wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg (Lehrstuhl Prof. Dr. W. Hennis); Mitarbeiter bei der Enquete-Kommission „Technikfolgen-Abschätzung" des Deutschen Bundestages, seit 1989 Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der Technischen Fachhochschule Berlin.
Hilfsmittel A) Hilfsmittel zum Studium der Politik- und Staatswissenschaften I. 1. 2. 3.
Einführungen Politikwissenschaft Verfassungsrecht und Staatslehre Vergleichende Parlamentslehre
539 539 539 540
II. Handbücher und Nachschlagewerke 1. Politikwissenschaft 2. Staatswissenschaften
540 540 540
III. Bibliographien und Dokumentation
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IV. Fachzeitschriften
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V. Periodika
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B) Hilfsmittel zum Studium des Parlamentarismus und des Parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland Zum 1. Kapitel I. Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland 1. Zur deutschen Verfassungs-und Parlamentsgeschichte allgemein a) Deutsche Verfassungsgeschichte b) Zu Einzelfragen der deutschen Verfassungs- und Parlamentsgeschichte c) Quellen und Dokumente 2. Zu einzelnen parlamentsgeschichtlichen Zeitabschnitten a) Paulskirchenparlament 1848/49 b) Parlamente 1867 bis 1917 c) Parlamente in der Weimarer Republik d) Zur Geschichte des Deutschen Bundestages
. . .
542 542 542 543 543 544 544 544 545 546
Zum 2. und 3 Kapitel II. Der Deutsche Bundestag im Parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland 1. Zur Einführung 2. Grundgesetz-Kommentare 3. Handbücher und Nachschlagewerke 4. Bibliographien und Dokumentation a) Fachbibliographien b) Forschungsberichte c) Zeitschriften
546 546 547 547 547 547 548 548
III. Quellen zur parlamentarischen Arbeit 1. Rechtsquellen für die Arbeit des Deutschen Bundestages
549 549
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Hilfsmittel
2. Textsammlungen und Kommentare zur Arbeit des Deutschen Bundestages 3. Gesetze 4. Sonstige Publikationsverpflichtungen 5. Völkerrechtliche Verträge
550 550 551 551
Zum 4. Kapitel IV. Parlament und Gesellschaft
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Zum 5. Kapitel V. 1. 2. 3.
Parlament, Rechtssetzung und technische Entwicklung Handbücher Gesetzessammlungen Periodika
552 553 553 553
Zum 6. Kapitel VI. Die Parlamente in Kommunen und Ländern und das Europäische Parlament 1. Kommunale Demokratie 2. Landesparlamente 3. Europäisches Parlament
554 554 554 554
Hilfsmittel
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Hilfsmittel Die hier versammelten Hilfsmittel sind unterteilt in A) Hilfsmittel zum Studium der Politik- und Staatswissenschaften und B) Hilfsmittel zum Studium des Parlamentarismus und des Parlamentarischen Regierungssystems. Die Gliederung der Hilfsmittel B) erfolgt entsprechend den einzelnen Kapiteln dieses Lehrbuches. Verwiesen sei zudem auf die jedem Paragraphen vorangestellte Auswahl an Grundlagenliteratur, welche den Autoren zur Studienvertiefung geeignet erscheint.
A) Hilfsmittel zum Studium der Politik- und Staatswissenschaften I. Einführungen Die folgenden Einführungen wurden unter dem Gesichtspunkt ihrer Eignung für das Lehrbuch ausgewählt. Da die Parlamentsorganisation eine Variable der Staatsorganisation darstellt, haben auch Einführungen in Verfassungsrecht und Staatslehre Berücksichtigung gefunden. 1. Politikwissenschaft Dirk Berg-Schlosser / Herbert Maier / Theo Stammen (41985): Einführung in die Politikwissenschaft. München. Klaus von Beyme / Ernst-Otto Czempiel / Peter Graf Kielmannsegg / Peter Schmoock (Hg.) (1987): Politikwissenschaft. Stuttgart, 3 Bde. Carl Bohret / Werner Jann / Eva Kronenwett (31988): Innenpolitik und Politische Theorie. Opladen, neubearb. u. erw. Aufl. IringFetscher/Herfried Münkler (Hg.) (1985): Politikwissenschaft. Reinbek. 2. Verfassungsrecht und Staatslehre Hans Herbert von Arnim (1984): Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland. München. Konrad Hesse (171990): Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, neubearb. Aufl. Martin Kriele (41990): Einführung in die Staatslehre. Opladen. Theodor Maunz / Reinhold Zippelius (281991): Deutsches Staatsrecht. München, neubearb. Aufl. Egon Schunck / Hans de Clerk (131989): Allgemeines Staatsrecht und Staatsrecht des Bundes und der Länder. Siegburg.
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Hilfsmittel
Ekkehart Stein (121990): Staatsrecht. Tübingen, neubearb. Aufl. Klaus Stern (1980ff.): Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. München, 5 Bde. Bei Redaktionsschluß lagen 3 Bände vor. 3. Vergleichende Parlamentslehre Klaus von Beyme (21973): Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München. Philip Laundy (1989): Parliaments in the Modern World. Winfried Steffani (1979): Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Opladen. Uwe Thaysen / Roger H. Davidson / Robert G. Livingston (Hg.) (1988): USKongreß und Deutscher Bundestag. Opladen.
II. Handbücher und Nachschlagewerke 1. Politikwissenschaft Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hg.) (1985ff.): Pipers Handbuch der politischen Ideen. München u.a., 5 Bde. Axel Görlitz (Hg.) (1970): Handlexikon zur Politikwissenschaft. München. Everhard Holtmann (Hg.) (1991): Politik-Lexikon. München. Hans Maier / Heinz Rausch / Horst Denzer (Hg.) (1969ff.): Klassiker des politischen Denkens. München, 2 Bde: Bd. 1: (61986), überarb. und erw. Aufl. Bd. 2: (51987), völlig überarb. und um e. Beitrag erw. Aufl. Wolfgang W. Mickel (Hg.) (1983): Handlexikon zur Politikwissenschaft. In Verbindung mit D. Zitzlaff. München. 1986 auch von der Bundeszentrale für politische Bildung Bonn herausgegeben. Dieter Nohlen (Hg.) (1983ff.): Pipers Wörterbuch zur Politik. München, 6Bde. 2. Staatswissenschaften Ernst Benda / Werner Maihofer / Hans Jochen Vogel (Hg.) (1983): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a. Auch als Studienausgabe in 2 Bden, Berlin 1984. Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck (Hg.) (1979ff.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart, 7 Bde. (Bei Redaktionsschluß sind 6 Bände erschienen). Görres-Gesellschaft (Hg.) (71989): Staatslexikon. Freiburg, völlig neu bearb. Aufl., 5 Bde. 2 Bände (Bd. 1: 1991; Bd. 2:1992) über die etwa 180 „Staaten der Welt" vervollständigen das Werk.
Hilfsmittel
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Roman Herzog / Hermmann Kunst / Klaus Schiaich / Wilhelm Schneemelcher (Hg.) (31987): Evangelisches Staatslexikon. Stuttgart, neubegr. u. erw. Aufl., 2 Bde. Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.) (1987ff.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Heidelberg, 7 Bde. Bei Redaktionsschluß lagen 6 Bde vor.
III. Bibliographien und Dokumentation Karl Dietrich Bracher / Hans Jacobsen (21982) : Bibliographie zur Politik in Theorie und Praxis. Königstein /Ts., vollst, neubearb. Aufl. Diese abgeschlossene Bibliographie hat weitgehend auf die Rezeption von Aufsätzen verzichtet. Zeitschriftenliteratur erschlossen hat die Politische Dokumentation (Poldok) (1965ff.): Referatedienst deutschsprachiger Zeitschriften. Berlin u.a. Dieses alle vier Monate erschienene Verzeichnis hat etwa 200 deutschsprachige Zeitschriften ausgewertet. Die annotierten Zitate (pro Jahr ca. 3600) sind durch die üblichen Register zu erschließen. 1987 hat Poldok ihre Arbeit eingestellt. Fündig werden kann man zudem unter den entsprechenden Stichworten: Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur aus allen Gebieten des Wissens (IBZ) (1965ff.).Osnabrück. Erscheint jährlich in zwei Halbjahresteilen. In gleicher Weise erfassen auch folgende gattungsspezifischen Fachbibliographien wissenschaftliche u.a. unter den entsprechenden Stichworten auch politikund staatswissenschaftliche Literatur: Internationale Bibliographie der Festschriften von den Anfängen bis 1979. Fortgesetzt durch die Internationale Jahresbibliographie der Festschriften (IJBF) (1980ff.). Osnabrück. Internationale Jahresbibliographie der Kongreßberichte (IJBK) (1985ff.). Osnabrück. Internationale Bibliographie der Rezensionen (IBR) (1971ff.). Osnabrück. Über wichtige fachwissenschaftliche Neuerscheinungen informieren Rezensionszeitschriften: „Das historisch-politische Buch": Ein Wegweiser durch das Schrifttum. Göttingen 1959ff. Die monatlich publizierten Hefte erschließen die besprochenen Bücher nach Sachbegriffen. „Neue Politische Literatur" (Npl). Berichte über das internationale Schrifttum. Stuttgart u.a. 1952ff. Die dreimal jährlich erscheinende Zeitschrift enthält Einzel- und Sammelrezensionen mehrerer Bücher zu einem bestimmten Themenkomplex. „Politische Vierteljahresschrift Literatur": Zeitschrift der deutschen Vereinigung für polit. Wissenschaft. Opladen 1960ff. In dieser halbjährlich erscheinenden Zeitschrift wird die besprochene politische Literatur nach einer sachlichen Gliederungssystematik aufgeführt. Das erste Heft jeden Jahrgangs dokumentiert politikwissenschaftliche Diplomarbeiten, Dissertationen und Habilitationen. Zudem verfügen fagt alle Fachzeitschriften - auf einige wird in den Hilfsmitteln IV. hingewiesen-über eigenständige Rezensionsspalten.
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Hilfsmittel
IV. Fachzeitschriften Aktuelle Forschungsberichte und -ergebnisse zu allen Teilgebieten der Politikwissenschaft finden sich in der „Politischen Vierteljahresschrift" (PVS, 1960ff.), welche vierteljährlich von der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) herausgegeben wird. Auch folgende Zeitschriften beschäftigen sich mit allgemeinen Fragestellungen der Politik- und Staatswissenschaft: „Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ), Beilage zur Zeitung „Das Parlament" (1951ff.; vgl. auch Hilfsmittel B II. 4. a) Der Staat (1962ff.) Die öffentliche Verwaltung ( D Ö V 1948ff.), Archiv des öffentlichen Rechts (AöR 1886ff.), Deutschland-Archiv (1967ff.), Europa-Archiv (1946ff.), Parliamentary Affairs (1947ff.), Revue Politique et Parlamentaire (1971ff.), Zeitschrift für Politik (ZfP, 1954ff.), Zeitschrift für Rechtspolitik (ZfR, 1968ff.), Blätter für deutsche und internationale Politik (1956f f.).
V. Periodika Thomas Ellwein / Joachim J. Hesse / Renate Mayntz / Fritz W. Scharpf (Hg.) (1987ff.): Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft. Baden-Baden, erscheint in unregelmäßigen Abständen, bisher 4 Bde. Werner Link / Eberhard Schütt-Wetschky / Gesine Schwan (Hg.) (1991ff.) Jahrbuch für Politik (JfP). Baden-Baden, erscheint zweimal jährlich.
B) Hilfsmittel zum Studium des Parlamentarismus und des Parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland zum 1. Kapitel I. Grundlagen des Parlamentarismus in Deutschland Die Hilfsmittel zu diesem Kapitel sind nach parlamentsgeschichtlichen Zeitabschnitten gegliedert, enthalten jedoch die sachgebietlichen Studienmaterialien zu allen §§, insbesondere zu den §§ 3-5; zudem wurde für jeden Zeitabschnitt eine das zeitgenössische Parlamentarismus-Verständnis repräsentierende theoretische Abhandlung ausgewählt. 1. Zur deutschen Verfassung»- und Parlamentsgeschichte allgemein a) Deutsche Verfassungsgeschichte Hinzuweisen ist auf folgende leicht greifbare und für Studienzwecke geeignete Verfassungsgeschichten (siehe auch Grundlagenliteratur zu § 2):
Hilfsmittel
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Hans Boldt: Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel. München. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des älteren deutschen Reiches 1806. 1984. Bd. 2: Von 1806 bis zur Gegenwart. 1990. Fritz Härtung (91969): Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart. Christian-Friedrich Menger (61988): Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeut. Heidelberg, durchgeseh. Aufl. Ausführlich Auskunft zur deutschen Verfassungsgeschichte gibt das siebenbändige Werk von Ernst Rudolf Huber (1957ff.): Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Stuttgart, 8 Bde. Die ersten 4 Bde in mehreren Aufl.
b) Zu Einzelfragen der deutschen Verfassungs- und Parlamentsgeschichte Detaillierte Monographien zu Zeitabschnitten und Einzelfragen der deutschen Verfassungs- und Parlamentsgeschichte erscheinen in den von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien herausgegebenen Schriftenreihen: Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und Handbücher der Geschichte des Parlamentarismus. Düsseldorf 1952ff. Wegen der Vielzahl der Bände kann an dieser Stelle nur die bibliographische Quelle genannt werden: Martin Schumacher (1986): Deutsche Parlamentshandbücher. Bibliographie und Standortnachweis. Düsseldorf. Weitere bibliographische Informationen erschließen sich über die Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.) (1988/89): Historische Bibliographie. München. c) Quellen und Dokumente Verfassungssammlungen sind in vielfältigen Editionen erschienen. Handlich sind folgende Taschenbuchausgaben: Horst Hildebrandt (Hg.) (131985): Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Paderborn u.a. Rudolf Schuster / Hans-Ulrich Evers (Hg.) (21989): Alle deutschen Verfassungen. München. Eine repräsentative Sammlung der wichtigsten historischen und zeitgenössischen Verfassungen westlicher Demokratien in Originalsprache und deutscher Übersetzung bietet Günter Franz (Hg.) (31975): Staatsverfassungen. München. Eine Sammlung deutscher parlamentarischer Geschäftsordnungen von der Paulskirche bis zum Deutschen Bundestag ist verfügbar durch Deutscher Bundestag (Hg.) (1986): Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848. Eine synoptische Darstellung. Bonn. Die maßgeblichen Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien sind in vier Reihen herausgegeben von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (1959ff): Erste Reihe: Von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Republik; Zwei-
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Hilfsmittel
te Reihe: Militär und Politik; Dritte Reihe: Die Weimarer Republik; Vierte Reihe: Deutschland seit 1945. Düsseldorf. Die wichtigsten Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte 1803 bis 1918 hat Ernst Rudolf Huber in 3 Bden. herausgegeben: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte Stuttgart, mehrere neubearb. Aufl. Leicht greifbare, repräsentative Quellensammlungen sind: Arno Buschmann (Hg.) (1984): Kaiser und Reich. München und Hans Boldt (Hg.) (1987): Reich und Länder. München. Vornehmlich für den Studiengebrauch zusammengestellt: Günter Dürig / Walter Rudolf (Hg.) ( 2 1979): Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte. München, erweit. Aufl. Zu den ideengeschichtlichen Grundlagen des politischen Denkens in Deutschland liegt eine repräsentative Quellensammlung vor: Rudolf Buchner / Winfried Baumgart (Hg.) (1976ff.): Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Darmstadt, 10 Bde.
2. Zu einzelnen parlamentsgeschichtlichen Zeitabschnitten a) Paulskirchenparlament 1848/49 Johann G. Droysen (Hg.) (1849): Die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der deutschen Nationalversammlung. Leipzig. Die stenographischen Protokolle der Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung sind neu vorgelegt von Christoph Stoll (1988): Reden für die deutsche Nation 1848/49. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen Constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Herausgegeben auf Beschluß der Nationalversammlung durch die Redactions-Commission und in deren Auftrag von Prof. Franz Wigard. Vollständige Ausgabe in I X . Bänden (nebst Register, 1848-1850). München. Heinrich Scholler (Hg) ( 2 1982): Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation. Darmstadt, Überarb. Aufl. Bekannt das von liberalen Gelehrten getragene Handbuch: Carl von Rotteck / Carl Welcker (Hg.) (1835ff.): Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften. Altona, 15 Bde. Auch als Reprint, Frankfurt/M. 1990. Bedeutend für das konservative politische Denken der Zeit und von großem Einfluß auf die Verfassungstheorie der konstitutionellen Monarchie: Friedrich Julius Stahl (1845): Das monarchische Prinzip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung. Heidelberg.
b) Parlamente 1867 bis 1917 Fr. von Holtzendorff / E . Bezold (Hg.) (1872-73/1972): Materialien der Deutschen Reichs-Verfassung. Sammlung sämtlicher auf die Reichs-Verfassung, ihre Entstehung und Geltung bezüglichen Urkunden und Verhandlungen. Einschließlich insbesondere derjenigen des constituierenden Norddeutschen Reichs-
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tages 1867. 3 Bde, (Bd. 3: 2 Teilbde). Unveränderter Neudruck d. Ausg. Berlin o.J. (1872-73). Glashütten/Ts. Diese Materialsammlung spiegelt ein lebendiges Bild der Reichstags-Verhandlungen. Sie endet mit der 3. Beratung über die Reichsverfassung von 1871 und führt im 2. Halbband des 3. Bandes zur Orientierung ein „Alphabetisches Sprech- und Sachregicter nebst zwei Congruenz-Registern" zu der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der deutschen Reichsverfassung. Das Verfassungs- und Staatsrecht des Deutschen Reiches ist von verschiedenen Staatsrechtlern kommentiert worden, überaus einflußreich von dem Rechtspositivisten Paul Laband (1907): Das Deutsche Reichsstaatsrecht. Tübingen. Bedeutend auch Albert Haenel (1880): Die organisatorische Entwicklung der Deutschen Reichsverfassung. Leipzig. Parlamentsrechtliches Standardwerk: Julius Hatschek (1915): Das Parlamentsrecht des deutschen Reiches. Berlin u.a., 1. Teil. (Nachdruck Berlin 1973). Wichtig: Kurt Pereis (1903): Das autonome Reichstagsrecht. Berlin. Repräsentativ für das Parlamentarismus-Verständnis des späten 19. Jhd.s: Robert von Mohl (1871): „Die geschichtlichen Phasen des Repräsentativsystems in Deutschland". In: ZgesStW, S. lff. Auch abgedruckt in: Ders., Politische Schriften. (= Klassiker der Politik. Bd. 3). Köln u.a.. 1966, S. 227ff. Für die Endphase des Konstitutionalismus in Deutschland bedeutsam: Erich Matthias (Bearb.) (1959): Der interfraktionelle Ausschuß. 1917/18. (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien). Düsseldorf, 2Halbbde.
c) Parlamente in der Weimarer Republik Ed. Heilfron (Hg.) (1919/20): Die Deutsche Nationalversammlung in den Jahren 1919/20 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates. Berlin, 9 Bde. Diese Wiedergabe der Verhandlungen der Weimarer Nationalversammlung ist eingeleitet mit einer „Einführung in die Geschichte der Nationalversammlungen" (Franz. Nationalversammlung 1789, Deutsche Nationalversammlung 1848/ 49, Verfassungsgebender Reichstag des Norddeutschen Bundes, franz. Nationalversammlung 1871) und führt im 9. Band drei Register zu Gesetzen, Rednern und Sachgebieten. Systematisch kommentiert ist die Weimarer Reichsverfassung von Gerhard Anschütz (zuletzt 141933): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis. Berlin (Neudruck dieser Ausgabe: Aalen 1987). Maßgeblich: Gerhard Anschütz / Richard Thomas (Hg.) (1930/32): Handbuch des Deutschen Staatsrechts. Tübingen, 2 Bde. Eine Sammlung der wichtigsten Rechtsquellen und -grundlagen für das Weimarer Verfassungs- und Staatsrecht findet sich bei: Fritz Freiherr Marschall von Bieberstein (21929): Verfassungsrechtliche Reichsgesetze und wichtige Verordnungen. Systematisch zusammengestellt und mit
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Hilfsmittel
Anmerkungen und Sachregister versehen. Berlin u.a., erweit, und völlig neubearb. Aufl. Einflußreich in der Parlamentarismus-Diskussion der 20er Jahre: Hugo Preuß (1924): Um die Reichsverfassung von Weimar. Berlin. Carl Schmitt (1923): Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin. (MehrereAufl.;zuletzt 6 1985). d) Zur Geschichte des Deutschen Bundestages Bundesarchiv und Institut für Zeitgeschichte (Hg.) (1989): Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949. München, 5 Teile. Diese Aktensammlung erfaßt den Zeitraum von September 1945 bis September 1949. Deutscher Bundestag und Bundesarchiv unter Leitung von Kurt G. Wernicke / Hans Booms (Hg.) (1975ff.): Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle. Boppard, 4 Bde. Bd. 1: Vorgeschichte (Bearb. v. Johannes V. Wagner) 1975. Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. (Bearb. v. Peter Bucher). 1981. Bd. 3: Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzung. (Bearb. v. Wolfram Werner). 1986. Bd. 4: Ausschuß für das Besatzungsstatut. (Bearb. von Wolfram Werner) 1989. Manfred Overesch/Heinrich Rüschenschmidt / Klaus Schaap u.a. (Hg.) (1989): Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Jahre der Entscheidung 19451949. Texte und Dokumente. Hannover. Leicht greifbar: Irmgard Wilharm (Hg.) (1989): Deutsche Geschichte 1962-1983. Dokumente in 2 Bänden. Frankfurt/M. Wolfgang Benz (Hg.) (1989): Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/M., aktualisierte und erw. Neuauflage, 4 Bde.
zum 2. und 3. Kapitel II. Der deutsche Bundestag im Parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland 1. Zur Einführung Klaus von Beyme (61992): Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. München, Überarb. u. erw. Aufl. Thomas Ellwein / Joachim J. Hesse (61987): Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Opladen, neubearb. u. erw. Aufl. Gerhard Loewenberg (1969): Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland. Tübingen. (Engl. Originalausgabe: Parliament in the german political system. Ithaca 1967). Friedrich Schäfer (41982): Der Deutsche Bundestag. Opladen.
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2. Grundgesetz-Kommentare Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar) (1950ff.): Loseblattsmlg., Hamburg. Gerhard Leibholz / Hans Julius Rinck / Dieter Hesselberger (1966ff.): Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar an Hand der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts. Loseblattsmlg. Köln. Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein (1953ff.): Das Bonner Grundgesetz. München, (verschiedene Aufl.). Theodor Maunz / Günter Dürig / Roman Herzog / Rupert Scholz (1958ff.): Grundgesetz. Kommentar. Loseblattsmlg. München. Ingo von Münch (Hg.) (1983ff.): Grundgesetzkommentar. München.(verschiedene Aufl.). Bruno Schmidt-Bleibtreu / Franz Klein (71990): Kommentar zum Grundgesetz. Neuwied. Rudolf Wassermann (Hg.) (21989): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Reihe Alternativkommentar. Neuwied, 2 Bde.
3. Handbücher und Nachschlagewerke Hans-Helmut Röhring / Kurt Sontheimer (Hg.) (1970): Handbuch des deutschen Parlamentarismus. München. Hans-Peter Schneider / Wolfgang Zeh (Hg.) (1989): Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a. Peter Schindler (1983ff.): Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages. Baden-Baden. Bisher sind 3 Bde erschienen, welche die Geschichte des Bundestages bis 1987 abdecken. Klaus-J. Holzapfel (Hg.) (1979ff.): Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag. Darmstadt. Zuletzt: 12. Wahlperiode, 62. Ausg. 1991. Gerhard A. Ritter/ Merith Niehuss (1991): Wahlen in Deutschland 1949-1990. Ein Handbuch. München. Wolfgang Schreiber (41990): Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag. Kommentar zum Bundeswahlgesetz unter Einbeziehung der Bundeswahlordnung, der Bundeswahlgeräteordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften. Köln u.a., völlig Überarb. Aufl. Heino Kaack / Reinhold Roth (Hg.) (1980): Handbuch des deutschen Parteisystems. Struktur und Politik zu Beginn der achtziger Jahre. Opladen, 2 Bde. 4. Bibliographien und Dokumentation a) Fachbibliographien Literatur zum Parlamentarischen Deutschland ist zu finden in:
Regierungssystem
der
Bundesrepublik
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Udo Bermbach (Hg.) (1973ff.): Hamburger Bibliographie zum parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland. 1945-1970. Opladen. Das Grundwerk wird durch zweijährlich erscheinende Ergänzungslieferungen fortgesetzt. Diese Supplementbände verzeichnen eine Auswahl der wichtigsten Arbeiten zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Ausgewertet werden Monographien, Gesetzessammlungen, Kommentare, Zeitschriftenaufsätze wie Beiträge in Sammelwerken und Festschriften. Die 6. Ergänzungslieferung 1991 hat die Arbeiten aus den Jahren 1981 bis 1984 berücksichtigt. Weiterhin: Eckart Jesse (1981): Parlamentarische Demokratie. Opladen. Dieser Literaturführer vermittelt einen Überblick über den Forschungsstand bis 1980; (2/3 der 100 besprochenen Werke stammen aus den Jahren 1977-1980); eine aktualisierte Neuauflage bzw. Fortsetzung für das letzte Jahrzehnt liegt nicht vor. Ferner: Dietrich Thränhardt (1980): Bibliographie Bundesrepublik Deutschland. Göttingen. U.a. ist parlamentsrechtliche Literatur erschlossen in der Karlsruher Juristischen Bibliographie (KJB) (1965ff.): Systematischer Titelnachweis neuer Bücher und Aufsätze in monatlicher Folge aus Recht, Staat, Gesellschaft. München u.a. Hilfreich können zudem kommentierende Dokumentationen zum Forschungsstand einzelner Wissensgebiete sein:
b) Forschungsberichte Ernst Albertin (1970): „Parlamentarismusforschung in Theorie und Praxis". In: NPL, S. 332ff. Hans Boldt (1980): „Parlamentarismustheorie". In: Der Staat, S. 385ff. Walter Euchner (1969): „Der Parlamentarismus der Bundesrepublik als Gegenstand politikwissenschaftlicher Untersuchungen". In: PVS, S. 388ff. Gerhard Göhler / Rainer Schmalz-Bruns (1988): „Perspektiven der Theorie politischer Instituionen". In: PVS, S. 309ff.
c) Zeitschriften Das Pressezentrum des Deutschen Bundestages dokumentiert regelmäßig und detailliert den Verlauf, die Inhalte und Ergebnisse von Plenar- und Ausschußberatungen durch seine Organe „heute im Bundestag" (hib) und „woche im Bundestag" (wib); „woche im Bundestag" erscheint nach den Sitzungswochen des Parlaments und ist kostenlos zu beziehen. Teilweise werden die Ergebnisse konkreter Parlamentsarbeit (Studien, Berichte von Enquete-Kommissionen, Hearings, Untersuchungsausschüssen u.a.) vom Pressezentrum des Deutschen Bundestages in einer besonderen Schriftenreihe „Zur Sache" veröffentlicht. Redeauszüge der wichtigsten Plenardebatten sind in der Zeitschrift „Das Parlament zu finden; „Das Parlament" wird von der Bundeszentrale für politische Bil-
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dung in Bonn herausgegeben und ist Publikationsforum für interessante Bundestagsaktivitäten, Kommentare und Buchbesprechungen. Zur Zeitung gehört zudem die Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ), in welcher zu allgemeinen und aktuellen Fragestellungen des öffentlichen Lebens publiziert wird. Seit 1970 gibt die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen die „Zeitschrift für Parlamentsfragen" (ZParl) vierteljährlich heraus. Neben einem Dokumentationsteil vermittelt die ZParl in Aufsätzen Analysen zum Bundes- und Länderparlamentarismus und setzt sich mit Verfassungsfragen wie Problemen der vergleichenden Parlamentslehre auseinander. Feste Bestandteile der ZParl sind zudem ein Rezensionsressort und Mitteilungen über aktuelle Gesetzgebungsverfahren.
III. Quellen zur parlamentarischen Arbeit 1. Rechtsquellen für die Arbeit des Deutschen Bundestages Die Arbeit des Deutschen Bundestages wird in erster Linie über die aus Artikel 40 GG abgeleitete Geschäftsordnungs-Autonomie und der auf ihr fußenden Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT, zuletzt in der Fassung vom 12.11.1991, BGBl. I, S. 2555) gestaltet. Daneben bestehen eine Reihe von einfachen Gesetzen, an denen sich die Arbeit des Deutschen Bundestages orientiert: „Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages". (Gesetz nach Art. 45c GG). Vom 19. Juli 1975 (BGBl. I, S. 1921). „Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung". Vom25. April 1959 (BGBl. I, S. 1593). „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht". I.d.F. v. 12. Dezember 1985 (BGBl. I,S. 2229). „Wahlprüfungsgesetz". I.d.F. v. 24. Juni 1975 (BGBl. I, S. 1593). „Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) (G 10)". Vom 13. August 1968 (BGBl. I, S. 949). Zuletzt i.d.F. vom 9. Juli 1990 (BGBl. I, S. 1354). „Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages (Gesetz zu Artikel 45b des Grundgesetzes-WBeauftrG)". I.d.F. vom 16. Juni 1982 (BGBl. I, S. 677). Zuletzt i.d.F. vom 30.3.1990 (BGBl. I, S. 599). Außer den gesetzlichen Rechtsquellen gibt es noch eine Reihe sonstiger Rechtsquellen. Genannt seien: „Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des Grundgesetzes". Vom23. Juli 1969 (BGBl. I,S. 1100).
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„Gemeinsame Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß)". Vom 19. April 1951 (BGBl. II, S. 103). Zuletzti.d.F. v. 12.11.1990(BGBl. I,S. 2557). „Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß". Vom 23. Juli 1969 (BGBl. I, S. 1102). Zuletzti.d.F. v. 25.3.1991 (BGBl. I, S. 868). Über diese Rechtsquellen hinaus sind für die Arbeit des Deutschen Bundestages auch zu berücksichtigen: „Die Geschäftsordnung der Bundesregierung vom 11. Mai 1951". „Die Geschäftsordnung des Bundesrates vom 1.7.1966". „Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien". G G O 1, G G O 2.
2. Textsammlungen und Kommentare zur Arbeit des Deutschen Bundestages Norbert Achterberg (1984): Parlamentsrecht. Tübingen. Wolfgang Burhenne (Hg.) (1958ff.): Recht und Organisation der Parlamente. Loseblattsmlg. Bielefeld, 4 Bde. Hans Lechner / Klaus Hülshoff (Hg.) (31971): Parlament und Regierung. Textsammlung des Verfassungs-, Verfahrens- und Geschäftsordnungsrechts der obersten Bundesorgane. München. Heinrich Ritzel / Josef Bücker (1982ff.): Handbuch für die parlamentarische Praxis mit Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Loseblattsmlg. Neuwied. Hans Troßmann (1977): Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. München. Hans Troßmann / Hans-Achim Roll (1981): Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages. Ergänzungsband. München. Verwiesen sei auch auf die Schriftenreihe „Beiträge zum Parlamentsrecht". Berlin 1979ff.; auch wenn es sich bei diesen Schriften nicht um klassische Kommentierungen handelt.
3. Gesetze Grundsätzlich bedürfen alle ausgefertigten Gesetze der Veröffentlichung, um rechtswirksame Gültigkeit zu erlangen. Sie werden im Bundesgesetzblatt (BGBl) verkündet. Laut der „Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien" ( G G O II) besteht das Bundesgesetzblatt aus drei Teilen: In Teil I werden alle Bundesgesetze und u.a. die Entscheidungsformeln des Bundesverfassungsgerichts sowie die Erlasse des Bundespräsidenten veröffentlicht. Teil 2 enthält u.a. die völkerrechtlichen Vereinbarungen und Verträge und die damit zusammenhängenden Rechtsvorschriften. Teil 3 beinhaltet fortgeltendes Bundesrecht nach Sachgebieten geordnet. Eine Übersicht über alle in einer Legislaturperiode eingebrachten Gesetze und ihre Behandlung gibt folgende Loseblattsammlung:
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Deutscher Bundestag / Bundesrat (Hrsg.): Stand der Gesetzgebung. Baden-Baden. Die wichtigsten öffentlich-rechtlichen Gesetze finden sich in: Karl Sartorius (Sartorius I): Verfassungs- und Verwaltungsgesetze der Bundesrepublik Deutschland. Loseblattausgabe mit Anmerkungen. München.
4. Sonstige Publikationsverpflichtungen „Stenographische Berichte des Deutschen Bundestages". Über jede Sitzung des Deutschen Bundestages wird ein stenographischer Bericht (Plenarprotokoll) angefertigt. Lediglich die Beschlüsse des Deutschen Bundestages enthält das „Amtliche Protokoll". Alle Vorlagen, welche als Verhandlungsgegenstände auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt werden können (z.B. Gesetzentwürfe, Große Anfragen, Beschlußempfehlungen, Entschließungsanträge u.a.), werden als Bundestags-Drucksachen (BT-Drs.) veröffentlicht. Zudem sind über alle Ausschußsitzungen des Deutschen Bundestages schriftliche Protokolle anzufertigen, welche grundsätzlich einsehbar sind. Verwiesen sei zudem auf Deutscher Bundestag (Hg.) (1958ff.): Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages. Darmstadt, bearb. von der Bundestagsverwaltung und Helmut G. Schmidt u.a. (Hg.) (1977ff.): Parlamentarisch-politischer Pressedienst. Hintergrunddienst. Bonn.
5. Völkerrechtliche Verträge Karl Sartorius (Sartorius II): Internationale Verträge und Europarecht. Loseblattsammlung. München. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.) (1990): Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Erklärungen und Dokumente. Bonn 1990. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.) (1990): Verträge zur Deutschen Einheit. Die Sammlung aller rechtlichen Grundlagen der deutschen Einheit in einem Band zusammengefaßt. Klaus Stern / Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hg.) (1990): Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit. München.
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Zum 4. Kapitel IV. Parlament und Gesellschaft Eine systematische Zusammenstellung zu den einzelnen §§ ist schwierig; fündig werden kann man in den Hilfsmitteln zu den Kapiteln 2 und 3, vor allem in Handbüchern, Nachschlagewerken und Bibliographien. Verwiesen sei zudem auf foldende Hilfsmittel: Albert Oeckl (Hg.): Taschenbuch des öffentlichen Lebens. Bundesrepublik Deutschland und Organisationen der Europäischen Gemeinschaften. Bonn; ausführliches Adressen Verzeichnis, das jährlich erscheint. Einen Überblick über das ältere Schrifttum bietet Hans Peter Ulimann (1978): Bibliographie zur Geschichte der deutschen Parteien und Verbände. Göttingen. Demoskopische Daten über die Bundesrepublik dokumentiert Elisabeth NoelleNeumann / Edgar Piel (Hg.) (1976ff.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie. München u.a. Die neueren Jahrbücher erfassen ca. 5-Jahres-Zeiträume. Bei Redaktionsschluß lag das Jahrbuch 1978-1982 vor. Hinzuweisen ist zudem auf Dietrich Ratzke (1982): Handbuch der Neuen Medien. Stuttgart, auf Klaus Brephol ( 5 1989): Lexikon der Neuen Medien. Köln, erw. u. aktualis. Aufl., sowie Gerd G. Kopper (1992): Medien- und Kommunikationspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Ein chronologisches Handbuch 1944 bis 1988. München u.a. Gesetze, Verträge und Rechtsverordnungen versammeln: Klaus Breitkopf / Peter Schiwy / Beate Schneider (Hg.) (1985ff.): Medien und Telekommunikation. Recht, Politik und Technik in Deutschland und Europa.
Zum 5. Kapitel V. Parlament, Rechtssetzung und technische Entwicklung Der gesamte Themenkomplex ist erst im Begriff einer systematischen Erschließung und Aufarbeitung durch Periodika, Bibliographien, Zeitschriften, Nachschlagewerke, Lehr- und Handbücher. Allgemeine Hinweise zur politischen und rechtlichen Bewältigung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes finden die Leserinnen in neueren Arbeiten zur allgemeinen Verwaltungslehre und zum allgemeinen bzw. besonderen Verwaltungsrecht. So bei: Frank Knoepfle / Werner Thieme (Hg.) ( 2 1984): Verwaltungslehre. Heidelberg, völlig neubearb. und erw. Aufl. Ingo von Münch (Hg.) ( 8 1988): Besonderes Verwaltungsrecht. Berlin u.a., neubearb. Aufl. Günter Püttner ( 6 1983): Allgemeines Verwaltungsrecht. Düsseldorf, neubearb. Aufl. Günter Püttner ( 2 1989): Verwaltungslehre. München.
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1. Handbücher Konrad Buchwald / Wolfgang Engelhardt (Hg.) (1978ff.): Handbuch für Planung, Gestaltung und Schutz der Umwelt. München u.a., 4 Bde. Die 4 Bde. dieses Handbuches behandeln folgende Themenkreise: Bd. 1: Die Umwelt des Menschen. 1978. Bd. 2: Belastung der Umwelt und ihrer Teilbereiche. 1978. Bd. 3: Bewertung und Planung der Umwelt. 1980. Bde. 4: Umweltpolitik. 1980. Das Handbuch ist weniger als Nachschlagewerk konzipiert, sondern thematisiert in einzelnen Kapiteln zentrale Fragen aus dem Gesamtbereich der Umweltplanung und des Umweltschutzes. Eine genaue und ausdifferenzierte Gliederungssystematik erleichtert es den Leserinnen, zu einzelnen Fragen Informationen zu gewinnen. Handbuch des Umweltschutzes (1977ff.): Loseblattsammlung. Redaktioneller Stand: 53. Ergänzungslfg. vom März 1991. Einen Mittelweg zwischen monographischen Abhandlungen und lexikalischen Begriffserläuterungen suchen: Otto Kimminich / Heinrich Freiherr von Lersner / Peter-Christoph Storm (Hg.) (1986ff.): Handwörterbuch des Umweltrechts (HdUR). Berlin, 2 Bde.
2. Gesetzessammlungen Wolfgang E. Burhenne im Auftrage der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft (Hg.) (1962ff.): Umweltrecht. Systematische Sammlung der Rechtsvorschriften des Bundes und der Länder. Loseblatt. Berlin. Weiterhin: Rolf S. Schulz (Bearb.) (1973ff.): Deutsche Umweltgesetze. Sammlung des gesamten Umweltschutzrechts des Bundes und der Länder. Loseblatt. Percha am Starnberger See. Letzte Ergänzungslfg. von Juli 1983. Sowie: Michael Kloepfer (Hg.) (21990): Umweltschutz. Loseblatt-Textsammlung des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutschland. München. Schließlich zu dem 1991 erlassenen Gentechnikgesetz: Wolfram Eberbach / Franz-Josef Ferdinand (1991f.): Gentechnikrecht (GenTR). Gentechnikgesetz, Verordnungen, EG-Richtlinien, Formulare mit amtlichen Begründungen und Erläuterungen. Heidelberg.
3. Periodika Rüdiger Breuer / Michael Kloepfer / Peter Marburger / Meinhard Schröder (Hg.) (1987ff.): Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts. Düsseldorf. Rüdiger Breuer (Hg.) (1985ff.): Schriftenreihe der Forschungsstelle für Umweltund Technikrecht an der Universität Trier (UTR). Düsseldorf.
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Hilfsmittel
Zum 6. Kapitel VI. Die Parlamente in Kommunen und Ländern und das Europäische Parlament 1. Kommunale Demokratie Günter Püttner (Hg.) (21981ff.): Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis. Berlin, 6 Bde. (neubearb. Aufl.). Rüdiger Voigt (Hg.) (1984): Handwörterbuch zur Kommunalpolitik. 2. Landesparlamente Ebenso wie der Deutsche Bundestag geben auch die Landesparlamente „Amtliche Handbücher" und „Jahrbücher" heraus, die hier nicht i.e. verzeichnet werden. Ältere Literatur zum Föderalismus erschließen Dieter Dörner / Ronald Huth (1985): Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland (Auswahlbibliographie). Berlin. Sämtliche Länderverfassungen der alten Bundesländer enthält u.a. Rudolf Schuster/Hans-Ulrich Evers (Hg.) (21989): Alle deutschen Verfassungen. München. Zudem zu nennen: Konrad Reuter (1991): Praxishandbuch Bundesrat. Verfassungsrechtliche Grundlagen, Kommentar zur Geschäftsordnung, Praxis des Bundesrates. Heidelberg. 3. Europäisches Parlament Über das Europäische Parlament kann man sich kundig machen bei Wolfgang Burhenne (Hg.) (1958ff.): Recht und Organisation der Parlamente. Loseblattsmlg. Neuwied, Bd. 4. Auch das Europäische Parlament gibt seit 1985 ein „Amtliches Handbuch". Luxemburg heraus. Zum Europarecht neben anderen Albert Bleckmann (51990): Europarecht, Köln, neubearb. u. erw. Aufl. und Ernst Steindorff (Hg.) (101990): Europarecht. Verträge und Erklärungen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften, Abkommen über gemeinsame Organe, Satzung des Europarates, Menschenrechtskonvention, Europawahlgesetz. München. Nützlich: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hg.) (1992): Europa von A-Z. Taschenbuch der europäischen Integration. Bonn. Schließlich ist hinzuweisen auf Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessels (Hg.) (1981ff.): Jahrbuch der Europäischen Integration. Bonn.
Gesamtbibliographie Aarnio, Aulis (1991): „Technical Imperative and the Legitimacy of Law". In: Rechtstheorie, Beiheft 11, S.3ff. Abelein, Manfred (1971): „Plebiszitäre Elemente in den Verfassungen der Bundesländer". I n : Z P a r l , S . 187ff. Abmeier, Klaus (1984): Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz. Berlin. Abromeit, Heidrun (1987): „Korrektive parlamentarischer Mehrheitsherrschaft: Ein Überblick". In: ZParl, S. 420ff. Dies. (1992): Der verkappte Einheitsstaat. Leverkusen. Achterberg, Norbert (1974): „Das Parlament im modernen Staat". In: DVB1, S. 693ff. Ders. (1979): Die parlamentarische Verhandlung. Berlin. Ders. (1980): „Die Grundsätze der parlamentarischen Verhandlung". In: DVB1,S. 512ff. Ders. (1984): Parlamentsrecht. Tübingen. Ackermann, Paul (1970): Der deutsche Bauernverband im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik. Tübingen. Ad-hoc-Kommission „Parlamentsreform" (1985): Bericht. Bonn, BT-Drs. 10/3600. Agnoli, Johannes / Brückner, Peter (1967): Die Transformation der Demokratie. Frankfurt/M. Ahrens, Wolf-Eberhard (1970): Immunität von Abgeordneten. Bad Homburg. Alemann, Ulrich von (1973): Parteiensysteme im Parlamentarismus. Düsseldorf. Ders. (1985): „Repräsentation". In: Nohlen, Dieter (Hg.), Pipers Wörterbuch der Politik. München, Bd. I,S.863ff. Ders. (1987): Organisierte Interessen in der Bundesrepublik. Opladen. Ders. (1990): „Parteien und Gesellschaft in der Bundesrepublik". In: Oberreuter, Heinrich / Mintzel, Alf (Hg.), Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Bonn, S. 84ff. Ders. / Heinze, Rolf (Hg.) ( 2 1981): Verbände und Staat. Opladen. Ders. / Schatz, Heribert (1986): Mensch und Technik. Opladen. Alexy, Robert (1985): Theorie der Grundrechte. Baden-Baden. Ders. (1990): „Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen". In: Der Staat, S.49ff. Almond, Gabriel A. / Verba, Sidney (1963): The Civic Culture. Princeton / New Jersey. Anders, Günter (1956ff.): Die Antiquiertheit des Menschen. München. Antoni, Michael (1988): „Zustimmungvorbehalte des Bundesrates zu Rechtsetzungsakten des Bundes: Die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen". In: A ö R , S. 329ff. Ders. (1989): „Zustimmungsvorbehalte des Bundesrates zu Rechtsetzungsakten des Bundes: Die Zustimmungsbedürftigkeit von Rechtsverordnungen und allgemeinen Verwaltungsvorschriften". In: A ö R , S. 220ff. Anschütz, Gerhard ( 14 1933): Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Berlin. Ders. / Thoma, Richard (Hg.) (1930): Handbuch des Deutschen Staatsrechts. Tübingen, 2 Bde. Apelt, Willibald (1949): „Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz". In: NJW, S. 481ff. Aretin, Johann, Christoph von / Rotteck, Carl von ( 2 1838ff.): Staatsrecht der constitutionellenMonarchie. Leipzig, 3 Bde. Ardelt, Alfred / Seeger, Richard (1977): „Bürgerentscheid, Bürgerbegehren und -anregung („Bürgerantrag") in Baden-Württemberg". In: Kühne, Jörg-Detlef/Meissner, Friedrich (Hg.), Züge unmittelbarer Demokratie in der Gemeindeverfassung. Göttingen, S. 91ff. Arendt, Hannah (dt. 1955): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M. Armbruster, Bernd (1979): Lernen in Bürgerinitiativen. Baden-Baden. Arndt, Claus (1989): „Fraktion und Abgeordnete". In: Schneider, H a n s - P e t e r / Z e h , Wolfgang, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin u.a.,S. 643ff.
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Stichwortregister (Die Zahlen verweisen auf Seiten im Werk. Halbfett gesetzte Zahlen verweisen auf Seiten, auf denen eine vertiefte Behandlung des Stichwortes erfolgt.) Abgeordnete(r) 12,56,62ff.,68,126,144f., 173,186,196,207,220,24111., 293,326, 341,363,399,506ff. Abgeordneter, fraktionsloser 244 Abgeordnetenpflichten 66ff. Abgeordnetenrechte 66,243 Absolutismus 11,27 Abteilungen des Parlaments 78,79 Alterspräsident 89 Ältestenrat 93ff., 95,197,214,221,223ff., 247,250,260,293 Amt lOff. ,31,64 Anfragen, - große 189,200,224,243,285,297,504 - kleine 189,200,224,243,285,504,507 - mündliche 189,243 Anhörung (Hearing) 155,202,264,297, 334,398 Arbeitsgruppen der Fraktionen 237 Atomrecht 442ff. Auflösungsrecht, parlamentarisches 53ff., 55,57f.,500f. Aufwandsentschädigung —» Entschädigung Ausschuß —> Untersuchungsausschuß, 96ff., 103f., 104ff., 201,212ff., 227ff., 305,334, 338,403 EG525f. federführender229,261f., 263 Frankreich 104f. - für Forschung und Technologie 300 - gemeinsamer 133 Großbritannien 99ff. USA 102f. Ausschußberatung, -verfahren 230,256f., 263 Aussprache -> Lesung, 222,230 Belgische Verfassung (1831) 67 Beratungen—» Lesungen Berichte der Bundesregierung 284 Berichterstatter 230,276 Berichtspflicht 285,297,302ff. Beschlußempfehlung(en) 235,279,299 Beschlußfähigkeit 97,197 Beschlußorgane 229 Beschlußverfahren 190 Budget —» Haushaltsplan
Bündnis 90 355,367 Bürgerbewegung —•Soziale Bewegungen, 157,347ff., 354ff., 361,373ff., 387 Bürgerentscheid —» Volksentscheid —> Plebiszit, 477 Bürgerinitiativen —» Soziale Bewegungen, 156,157, 158f., 319,354,368 Bürgermeister 478f., 500 Bundeshaushalt—» Haushaltsplan Bundeshaushaltsordnung 273 Bundeskanzler 22,57,61,172,184,198 Bundesminister/-rium 148f, 184,259,266, 335 Bundespräsident 130f., 183f., 187,198 Bundesrat 129,177,198,258,260,269, 270f.,278,496,505,510f. Bundesrechnungshof 192,267,277,282 Bundesregierung 129,144,148,176,191, 217,232,258,267,271,284,290,304, 490,509 Bundesrichter 184,186,194 Bundesstaat — Föderaler Bundesstaat, 490,492f. Bundestag Parlament, 92,97,167ff., 210,213, 271,274,279,315,326,395 - , Arbeitsweise —» Parlament —» Geschäftsordnung des ..., 208ff. - , Organisation —» Geschäftsordnung des ..., 197, 208ff. - , Selbstverwaltung —» Geschäftsordnung des ..., 221ff. - , Verfahrensgestaltung —» Geschäftsordnung des..., 197ff., 209ff.,253ff. - , Zusammensetzung 331ff. Bundestagsdrucksache 277 Bundestagspräsident Parlamentspräsident, 221,222f., 247,285,521 Bundestagsverwaltung -> Parlamentsverwaltung, 222,247ff., 524 Bundesverfassungsgericht 131f., 138,154,
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Stichwortregister
174,181,184,193,194,242,305,372, 374,425,488 Bundesverfassungsrichter 184,186 Bundeswehr, Kontrolle der 192,289f. Bundeszentrale für politische Bildung 157 Casting vote 9 0 , 9 1 Caucus 75 Charte Constitutionelle 2 7 , 3 0 , 4 5 , 5 6 , 6 7 , 84 Clerk 8 9 , 9 3 , 1 0 0 Club-of-Rome 3 5 2 , 3 5 4 , 3 6 1 , 3 8 5 , 3 8 7 Committee of selection 105f. Committee of the whole H o u s e 99f. C o m m o n s Standing O r d e r 73 Conference 75 Conservative Party 74 Constituency Parties 73 Constitution Belgique v. 1831 69 Daily-Telegraph-Affäre 32 Datenschutz 138 Datenverarbeitungssystem(e) —> Informations- u n d Kommunikationstechnik, 250, 263 D e m o k r a t i e Jetzt 380 Demokratieprinzip 14,124,125,139,183, 307 D e m o k r a t i e und Technik 407ff. Deutsche Einigung - Einheit —* Einigungsvertrag, 491,512f. Diäten —»Entschädigung Die G r ü n e n 157,245,300,363,373,376 Diskontinuität 5 5 , 2 1 1 Diskretionsschutz 257 Drei-Klassen-Wahlrecht 35,48 Einigungsvertrag 385 Einspruchsgesetz 268f., 270 Einzelplan 274,275,277 Elite, politische 130 Energieprobleme 353 Enquetekommission(en) 157,203,233, 297,324,412,465,525 Entschädigung 69f., 145 Europa-Kommission 525 E u r o p a r a t 185,514,516 Europäische Einigung 516ff. Europäische Gemeinschaft 514ff., 521f., 525f. Europäische Integration 496ff., 514ff. Europäischer Gerichtshof 520 Europäisches Parlament 185,518,522,526 Expertokratie 411ff., 532
Fachausschuß - » Ausschuß, 102,227ff., 234,283, 298 Federalist papers 65,75 Finanzkontrolle —» Haushaltskontrolle Finanzverfassung 141ff. Floor L e a d e r 75 Föderaler Bundesstaat 129f. Föderalismus 35,130,489f., 508f., 513 Forschungspolitik - » Technologiepolitik, 302ff., 423, 498 Fortschritt —» Technischer Fortschritt, 406,407, 432 Fragestunde —> A n f r a g e n , mündliche 286,508 Fraktion(en) 7 4 , 1 4 5 , 1 8 7 , 1 9 7 , 2 1 2 f f . , 235ff., 253,284,294,327,329ff., 347,373,394,483,507 Fraktion, angelsächsisches System 72f., - , Begriff 71,212 - , Geschäftsordnung der 236f., 240 - .Geschichte der in Deutschland 76ff., 79 Fraktionsdienst(e) -Verwaltung 111,246,295 Fraktionsdisziplin 79,240f., 242,327 Fraktionsgeschäftsführer 7 3 , 7 4 , 2 2 5 Fraktionszwang 240,327,377 F r a n k f u r t e r Nationalversammlung (1848/49) —» Paulskirchenverfassung 47,60, 105,107 Französische Verfassung (1791) 27,46, 56,84 Freiheitsrechte —> Grundrechte
Gebietskörperschaft(en) 141 Gegenzeichnung 30f., 34 Geheimdienste, Kontrolle der 190,374 Geheimschutzordnung 257 G e m e i n d e o r d n u n g 476,478,482 G e m e i n d e p a r l a m e n t 481ff. Gemeinderatsausschüsse 478f., 479f. Gemeindeverfassung 473,475f., Gemeindeverwaltung 478f. G e m e i n s a m e Geschäftsordnung der Bundesministerien 200,259,335 G e m e i n s a m e r Ausschuß 235 Gemeinwohl 122,136,426 Gentechnik, -gesetz, -recht 212,218,297, 445ff. Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages 6 6 , 9 7 , 1 8 8 , 2 1 8 , 2 2 2 , 2 2 8 , 2 3 4 , 2 4 2 , 272,293,373,306,328,373
Stichwortregister G e s c h ä f t s o r d n u n g des Parlaments 7 7 , 8 6 f f . , 107,173,373f.,508 G e s c h ä f t s o r d n u n g des Reichstages 3 3 , 9 4 , 106 G e s c h ä f t s o r d n u n g s a u t o n o m i e 85f. Gesellschaftsvertrag - J o h n L o c k e 5f. Gleichheitsgebot 120f. Gleichheitssatz 121 Gesetz, Begriff 3 9 , 4 0 , 1 7 4 Gesetzentwurf 2 6 0 , 2 6 7 , 2 7 1 , 3 3 6 Gesetzesini tiativ(e), -recht 3 0 , 4 0 , 2 4 1 , 2 7 1 , 304 Gesetzesvorbehalt 8 , 2 8 f f . , 3 9 , 1 3 2 , 1 7 5 , 178,182,439,494 Gesetzesvorblatt 308 G e s e t z g e b u n g , - s k o m p e t e n z 2 3 , 3 9 f f . , 118, 129,174f., 176,258ff., 269,492ff., 496ff. - , k o n k u r r i e r e n d e 177 - , -sverfahren 1 2 8 , 1 7 5 , 2 5 5 , 2 5 8 f f . , 305, 492 Gewalt, r e c h t s p r e c h e n d e 184 Gewaltenteilung 9 , 1 5 , 1 8 f f . , 2 0 , 2 3 , 2 7 , 116,127ff., 294 G o u v e r n e m e n t a l i s i e r u n g 345 Großforschungseinrichtungen 144,434 G r u n d p f l i c h t e n 7ff., 122Í. G r u n d r e c h t e 7ff., 2 5 , 1 1 6 , 1 1 9 f . , 1 2 2 f . , 125, 148,160,199,206,305,421,438,460,461 G r u p p e n im B u n d e s t a g 2 4 5 Habeas Corpus-Akte 6 Haushaltsausschuß 190,266f., 2 7 6 , 2 8 0 f L , 297 H a u s h a l t s k o n t r o l l e 191,272ff., 279f., 282 H a u s h a l t s p l a n , -gesetz 1 4 2 , 1 7 4 , 1 7 8 , 1 7 9 , 226,272ff.,278 Hearing-^ Anhörung Herrschaftsgewalt, -smacht 5 , 6 , 1 4 f . , 25, 118,129,152,407 H o m o g e n i t ä t s k l a u s e l 472f. H o n o r a t i o r e n p a r t e i 79 H o u s e of C o m m o n s 4 5 , 5 1 , 7 2 , 8 9 , 9 1 , 1 0 0 H o u s e of L o r d s 45 Immissionsschutzrecht 444f. I m m u n i t ä t 6 6 , 6 8 f . , 144 Impeachment 30,59,60 I n d e m n i t ä t 67f., 1 4 4 , 2 1 1 , 2 4 2 , 5 0 3 Industriegesellschaft 1 6 , 2 2 , 2 4 , 3 1 8 , 4 1 5 , 529ff. Informationsrecht 219,242,288,306,365, 503 I n f o r m a t i o n s - und K o m m u n i k a t i o n s t e c h nik(en) 15,24,151,218,226,250ff.,281, 294,297,304ff., 315,341,344 Inkompatibilität 3 5 , 3 6
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Interfraktioneller A u s s c h u ß 36ff. Interparlamentarischer R a t 185 Interesse, Begriff 315ff. Interessen/-organisation(en), -sgruppen, -sverbände 154f., 202f., 210, 314ff.,321,359 Interfraktionelle Initiative Parlamentsr e f o r m 2 2 0 , 2 4 1 , 2 9 2 f f . , 328 Interparlamentarische U n i o n 185 Interpellationsrechte —» A n f r a g e n , 189,306 Kabinettsregierung 3 9 , 7 3 , 1 0 1 K a n z l e r d e m o k r a t i e 148f. K e r n e n e r g i e 297,424f., 431 K e r n k r a f t w e r k 181,444 Klimafolgen 353 K o m m u n a l e A u f g a b e n 473f. K o m m u n a l e D e m o k r a t i e 471ff., 473,475, 481ff.,486 K o m m u n a l e O r g a n e 478ff. K o m m u n a l e ( s ) Selbstverwaltung, -srecht 130,177,471ff., 4 7 4 , 4 7 5 , 4 8 8 f f . Kommunalverfassung—» G e m e i n d e verfassung K o m m u n a l w a h l e n 369 Kommunalwahlgesetze 476 Kongreß, (USA) 75,110 Konsensprinzip 126f. Konstitutionelle M o n a r c h i e —» Monarchisches Prinzip, 27f., 32f., 35,39,49,439 Konstitutionalismus —> Konstitutionelle M o n a r c h i e , 26ff., 56,61,67,77,91 Kontrasignatur—> G e g e n z e i c h n u n g Kontrolle, parlamentarische 2 0 , 3 4 , 1 8 0 , 187,192,195f., 2 1 7 , 2 2 9 , 2 6 3 , 2 8 3 , 2 8 7 , 290f.,402,502ff. Kontrollenqueten—» E n q u e t e k o m m i s sionen K o r p o r a t i s m u s 155 L a b o u r Party 74 Landeslisten 5 2 , 3 3 0 L a n d e s p a r l a m e n t 393,489ff., 491if., 504, 508ff. Landtag—> L a n d e s p a r l a m e n t L e b e n s g r u n d l a g e n , natürliche 141 Legitimationsfunktion 1 3 4 , 1 8 3 , 2 0 5 , 3 2 5 , 385,409 Lesungen 261,267f., 2 7 5 , 2 7 8 L o b b y 326ff., 339 M a n d a t , freies 6 3 , 1 2 6 , 1 4 7 , 3 2 7 - , imperatives 4 6 , 6 4 f . , 126,147
596
Stichwortregister
Medien, Massen-> Neue Medien, 210,319,334, 388ff.,494 Mehrheitsprinzip, -regel 116,126f., 133, 143,148,175,213,217f., 277 Mehrheitswahlrecht 50f., 145 Meinungsbildung 172,187 Menschenrechte —» Gründrechte Menschenwürde 5,7ff., 8,118,121,163, 305,423,530 Mikroelektronik 431 Minderheitsschutz 217f., 225,277,348,362 Ministeranklage 32,500 Ministerialbürokratie 32,110,218,243, 249,305,334,396,425,494 Ministerrat518,519,527 Ministerverantwortlichkeit 31ff., 60 Mißtrauensvotum 58,59f., 186,187,500, 501 Monarchisches Prinzip 27,30f.,45,56 Nachtragshaushaltsgesetz 280 Nationalversammlung, Frankfurter 47,60 Naturschutz 151 Neue Medien —» Medien Rundfunk, 400ff., 493 Neues Forum 366,367,369 Norddeutscher Bund 79 Normenkontrolle, abstrakte 194f. Normung 450ff., 455 Normungsausschuß 454 Normungsverbände 177,454f., 456 Notstandsverfassung 133f. Oberste Heeresleitung 35,37ff. Observanz—» Parlamentsbrauch Öffentlichkeit 148,155,156f., 200f., 205, 210,254ff. ,315,319,358,388ff., 403f., 502,512 Öffentlichkeitsfunktion 196f., 314,324, 342,501f. Ökologiebewegung 317,364f. Opposition 80,149,152,190,194,199t., 218,263,307,344,361,394,508ff., 511f. - , außerparlamentarische 159,377ff. Organisationskompetenz des Bundeskanzlers 128 Organwalter-Anklage 194 Parlament—> Bundestag, 144,147,157, 162,171ff., 173,218,322,360,388ff., 423,452,495 Parlament und Technik, technische Entwicklung 405ff., 425ff.
Parlamentsauflösung —» Auflösungsrecht, 53,55ff., 186 Parlamentsbeschluß 188f. Parlamentsbrauch 83,209 Parlamentsorganisation —» Bundestag, Organisation, 81«., 84,197,204 Parlamentspräsident —> Bundestagspräsident, 70,84,89ff., 93,95f., 109 Parlamentsreform —»Interfraktionelle, 293,308f.,339,346 Parlamentsverwaltung—* Bundestagsverwaltung, 107ff., 110 Parlamentsvorbehalt 144,174,180ff., 195, 439ff.,494 Parlamentarische (Hilfs-)dienste —» Wissenschaftliche Dienste, 107ff., 110,246ff. - Kontrolle—»Kontrolle - Kontrollkommission 191, 231 - Untersuchung 218 - Verfahrensregeln209,210ff., 253(f., 466 Parlamentarischer Rat 52,59,472 Parlamentarisches Gewohnheitsrecht 209 - Regierungssystem 20f., 31ff., 37,38,58, 72,80,116,140,143ff., 146,159,163, 165,187,190,294,490,499 Parlamentarisierung 32,34f., 38,42,44,61 Parlamentarisierungserlaß 37 Parlamentarismus 26,27,39,77,79,82, 147,160f., 204,241ff., 307,343,390,508 - -kritik 39 Parliamentary parties 72,73 Parteien 72,91,152,213,319,357,358 - -gesellschaft 79 - -gesetz 152,153 —Privileg 327 - -Staat79,508f.,359 Paulskirchenverfassung 1848/49, -Parlament 31,48,60,69,77,306,332 Petition, -srecht 40,157,191,201,504 - -sausschuß 191,288 Planungsmaßnahmen 179f., 297 Plebiszit—» Volksentscheid, 16 Plenarsitzung, -Verhandlung
—» Plenum Plenum 96ff., 212,214,216f., 225,244,247, 255f.,279,293,344 Politik und Technik 405ff., 423 - -beratung 450ff., 459 - -Verflechtung 155,161,495f., 505 —Vermittlung 339ff. —Wissenschaft 172,316,417 Politische Kultur 164f. Positivismus, juristischer 40f. Pouvoirconstituant 11,13,27
Stichwortregister Pouvoir constitué 13 Präambel des Grundgesetzes, Verantwortung 9ff., 18 Prärogative 30,36,55,57,439,534 Präsidentielles Regierungssystem 74 Präsidium des Deuschen Bundestages 214, 223 Pressure-Groups 333 Publizitätspflicht 306,308 Reaktorsicherheitskommission 452f. Rechnungsprüfungsausschuß 282 Rechtsetzungskompetenz 177,178f. Rechtsstaat,-Staatlichkeit 132ff., 143,163 Rechtsstaatsprinzip 122,132,175,183,307, 421 Rederecht des Abgeordneten —» Indemnität Regeln der Technik 156,442ff., 457f. Regierbarkeit 161 Regierung—» Bundesregierung Regierungsentwurf 260,265,267 Regierungsfunktion 149 Reichskanzler 3 1 , 3 4 , 3 7 , 3 8 , 5 8 , 6 0 Reichspräsident 57,183f. Reichsregierung 34,36,40,91 Reichstag 28,32f., 35,38f., 42,55,57,58, 79,91,106 Reichswahlgesetz (1849) 47f., 49f. Repräsentation 10f., l l f f . , 15ff., 35,63,66, 76,146f., 340,342,347ff., 355,381,383, 440 Repräsentantenhaus 55,61,89,100,102 Republik 124 Responsible government 20f., 61,101,505 Richterwahlausschuß 235 Risikogesellschaft 17 Risikokalkulation 163,353 Risikovorsorge 438 Rotationsprinzip 363 Runder Tisch 366,371,380,386 Rundfunk, -anstalten 128,157,393,396, 493f. Selbstauflösung—> Auflösungsrecht Selbstversammlungsrecht, parlamentarisches 55 Selbstverwaltung, -srecht —» Kommunale Selbstverwaltung Select committees 99,100,102 Seniorenkonvent—> Ältestenrat, 78, 93ff., 105 Sicherheitsphilosophie 447,448,459 Sitzungsperiode (Session) 55,224 Souveränität 13f.,350 Sozialbindung des Eigentums 120
597
Sozialpolitik 180 Sozialstaat 118,137,318 Sozialstaatsprinzip 121ff., 421 Soziale Bewegungen 158,323 Spannungsfall 198 Speaker 73,75,89f., 100 Sperrvermerk 280 Staatsanklage —> Impeachment Staatsaufgaben 136ff., 144,149,305,415, 424 Staatsbürgergesellschaft 44 Staatsgewalt 63,116f., 126,129,134,172, 177 Staatsleitungsteilhabe 24,58,171f., 203, 495 Staatswille 15,64 Staatsziele 141,384 Staatszweck 24,25,136f., 424 Staat und Technik 415ff. Standing committees lOOff. Stenographisches Protokoll 248 Steuerung, politische 163f. Subsidaritätsprinzip 120,140,497,513
Tagesordnung 224f., 230 Technik, Begriff 405ff., 419ff. Technik(en)42,111,163,250,298,302ff., 309,400,420ff., 431ff., 459,498,532 Techniken twicklung 207,303,423,432, 434,466 Technikfolgen, -analysen 111,206,307, 434,435 Technikfolgen-Abschätzung (und -bewertung) 219,292,296ff., 302ff., 465,498 Technikpotential 141 Technikrecht —» Regeln der Technik, 420,425,437ff., 442,449,464 Techniksteuerung 420,424,447 Technik und Herrschaft 41 lf. Technik und Parteien 72 Technische Risiken 438ff. Technischer Fortschritt —» Fortschritt, 161,408 Technischer Staat 407 Technischer Standard 439,442,458 Technisches Risiko 447ff. Technisierung des Staates, - der Politik 151, 341,412 Technokratie, -diskussion, -begriff405ff., 410ff.,423,532 Technologie(en), neue 9,24,122,161,182, 250,457 Technologiepolitik 162,205,303,498 Teilhaberechte 121f. Treuhänderschaft 5ff., lOff.
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Stichwortregister
Überhangmandat(e) 145 Umwelt,-bereich,-schütz 140,151,165, 196,206,353,415,497,532 Umweltkatastrophen 353 Unbestimmte Rechtsbegriffe 442ff., 447, 457 Untersuchungsausschuß 190,195,231f., 257,290f., 398,503f. Untersuchungsrecht 232,291 Urlaubsanspruch des Abgeordneten 66 Verantwortung, Begriff 4ff., 529ff. - , konstitutionelle 28ff. - , parlamentarische/gesetzgeberische 24f., 98,164,173,183,186,199,203f.,206ff., 426,436,440,459,463ff., 534 - , staatliche, politische 4ff., 7,9,18,16f., 21,22ff., 38,65,160,189,415,424f., 438, 504f.,533 Verbände 153,154f., 210,262,315,319, 323,333,396 Verein Deutscher Ingenieure (VDI) 451 Verfassung, Funktion d e r l l 5 f f . Verfassung des Deutschen Reiches (1849) —> Paulskirchenverfassung Verfassung des Deutschen Reiches (1871) 34,43,47,50,55,60,68,69f., 106 Verfassung, konstitutionelle 26ff., 33,60, 84 - landständische 27,29 Verfassungsausschuß 35 Verfassungsinitiative 379ff. Verfassungsurkunde, für den Preußischen Staat (1850) 40,47ff., 63 Verfolgungsfreiheit —>Immunität Verhältniswahl(recht) 5 lf., 145,183,190 Vermittlungsausschuß 270f. Verordnungsrecht 41 Verteidigungsausschuß 289 Vertragstheorie 5f. Vertrauenserfordernis 21,31,35,38,58ff., 60,62f. Vertrauensfrage 59,188 Vertrauensgremium 231 Verwaltungskontrolle 193 Verwaltung(ssystem) 144,150ff. Virginia bill of rights 6 Volk - als Verfassungsorgan 14f.
Volksbegehren 499 Volksentscheid 381,499 Volkssouveränität l l f f . , 14,27,115,117ff., 133,143,165 Volksvertretung 30,36,76,91,183 volonté générale 11 Wachstum 351 Wahlberechtigung 146 Wahlen 43ff., 63,368ff., 477 - , allgemeine44,70,390 - , freie 49,390 - , geheime und öffentliche 47 - , gleiche 47 - , mittel- und unmittelbare 46 Wahlfunktion 183,491,501 Wahlmännerausschuß 235 Wahlperiode 53ff., 58ff., 330,500 Wahlpraxis 368 Wahlrecht 44ff., 52,146,330,368ff., 389 Wahlrechtsgrundsätze 43ff., 50 Wahlsystem 43,56,50ff„ 145f. Wehrbeauftragter 192,289 Weimarer Reichsverfassung 38,43,49,54, 58f., 118,183,187,306 Wesentlichkeitstheorie, -grundsatz 182, 425,426,440,533 Westeuropäische Union 185 Whip —» Fraktionsgeschäftsführer Widerstandsrecht 159 Wiener Schlußakte (1820) 5,7,67 Willensbildung 15,43,44,64,79,171,187, 314,320,353,480ff. Wirtschaftspolitik 142,180 Wissenschaft und Technik 442,529 Wissenschaftliche Dienste 109f., 248ff., 263,295,401f., 412,452,526 Wissenschaftspolitik 162 Zensuswahlrecht —> Wahlsystem, 46,77 Zentrale Kommission für die biologische Sicherheit 453 Zeugnisverweigerungsrecht 69,70f., 144 Zitierrecht 284,287,306,503 Zollunion 519 Zukunft, -sverantwortung 181,424 Zustimmungsgesetz 268f.