Paradoxien der Biopolitik: Politische Philosophie und Gesellschaftstheorie in Italien 9783839434000

What is the role played by the persistence of death within a politics of life? In a critical reconstruction and expansio

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Inhalt
Einleitung
I. Foucaults Begriff der Biopolitik
II. Politik des Lebens oder Politik des Todes?
III. Struktur der Arbeit
Danksagung
1. Italian Thought: Grundlage eines Denkstils
1.1 Der italienische Unterschied
1.2 Die Moderne »made in Italy«
1.3 Das analogische Denken
1.4 Italian Thought als analogisches Denken
1.5 Der Begriff der Biopolitik in der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie
2. Giorgio Agamben – Das Homo Sacer-Projekt
2.1 Biographie und Methodologie
2.1.1 Biographie und das Homo Sacer-Projekt
2.1.2 Agambens Methodologie: Zwischen Philologie und Analogie
2.2 Genealogie des Lebensbegriffs
2.2.1 Bíos, zoé und das nackte Leben
2.2.2 Die anthropologische Maschine
2.2.3 Die Aufgabe der Dispositive in Agambens biopolitischer Perspektive
2.3 Das Dispositiv des Ausnahmezustands
2.3.1 Recht und Gewalt bei Benjamin
2.3.2 Die Souveränitätslehre von Carl Schmitt
2.3.3 Biopolitische Souveränität
2.3.4 Der Ausnahmezustand als Regierungstechnik
2.3.5 Sicherheit und Ausnahmezustand
2.4 Homo sacer und das heilige Leben
2.4.1 Die Bedeutung der sacratio
2.4.2 Sacertá und Souveränität
2.4.3 Der Muselmann
2.4.4 Homo sacer als politik- und gesellschaftstheoretischer Begriff
2.5 Das Lager als Nomos der Moderne
2.5.1 Das heilige Leben und die Menschenrechte
2.5.2 Das nackte Leben zwischen Demokratie und Diktatur
2.5.3 Das Lager als Paradigma des modernen politischen Diskurses
2.6 Die kommende Politik als Neutralisierung der biopolitischen Dispositiven
2.6.1 Profanierungen und die Theorie des Gebrauchs
2.6.2 Der Gebrauch der Körper und die modale Ontologie
2.6.3 Probleme der Agamben'schen Konzeption der Biopolitik
3. Hardt und Negri: Biopolitik als Revolution
3.1 Forschungsmethode, Biographie und Empire
3.1.1 Forschungsmethode
3.1.2 Kommentar zu biographischen Ereignissen
3.1.3 Empire, Multitude, Common Wealth – eine postmoderne Erzählung
3.2 Die biopolitische Produktion
3.2.1 Immaterielle und affektive Arbeit
3.2.2 Das Biopolitische
3.2.3 Die Multitude
3.3 Die Biomacht
3.3.1 Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft
3.3.2 Permanenter globaler Krieg und Regime der Biomacht
3.4 Probleme und Perspektiven der Konzeption der Biopolitik bei Hardt und Negri
3.4.1 Große Erzählung und Analytik
3.4.2 Das Politische und das Biopolitische
3.4.3 Lebensbegriff und Biopolitik bei Hardt und Negri
4. Roberto Esposito: Politik des Lebens und Politik des Todes
4.1 Vom Dekonstruktivismus zur Genealogie – vom impolitico zur Biopolitik
4.1.1 Die Konzeption des Politischen bei Esposito
4.1.2 Die Dialektik des munus
4.2 Bíos: Das Rätsel des Begriffs der Biopolitik
4.2.1 Biopolitik vor Foucault
4.2.2 Espositos Lesart der Foucault'schen Analyse der Biopolitik
4.2.3 Espositos Kritik an Agamben und Hardt und Negri
4.2.4 Das Paradigma der Immunisierung
4.3 Immunisierung und Biopolitik
4.3.1 Vormoderne und moderne Immunisierung
4.3.2 Erste Moderne oder vermittelte Biopolitik
4.3.3 Negative Moderne als Biopolitik?
4.4 Biopolitik und Interaktion von Biologischem und Politischem
4.4.1 Körper, Politik, Biologie
4.4.2 Darstellung des politischen Körpers und Veränderung der biologischen Vorstellung des Körpers
4.4.3 Konzeption des Lebens in der modernen Biologie und Biologisierung des Politischen
4.4.4 Biopolitik, Nationalsozialismus und Thanatopolitik
4.5 Affirmative Biopolitik
4.5.1 Vom negativen Schutz des Lebens zur affirmativen Politik des Lebens
4.5.2 Fleisch, Geburt und Norm des Lebens
4.5.3 Logik des Lebendigen und Posthumanismus
4.5.4 Das Tier-Werden und die Philosophie der impersonale
4.6 Probleme und Perspektiven
5. Biopolitik oder Biopolitiken?
5.1 Von der Logik der Dialektik zur Logik der Strategie
5.1.1 Kriterien für die Biopolitiken
5.2 Biopolitik und Ökonomie
5.2.1 Diskurse über Bioökonomie
5.2.2 Genealogie des Ökonomischen
5.2.3 Bioökonomie als Wahrheitsregime
5.2.4 Bioökonomie als gesellschaftstheoretischer Begriff
5.3 Action30: Biofaschismus und Supernormalität
5.4 3 Ecologie: Sicherheit und Regierung des Risikos
5.4.1 Ökologische Krise und Regierung des Risikos
5.4.2 Ökologie, Gesellschaft und Ökosystem
5.4.3 Oikologia und Widerstandspraktiken
5.5 Perspektiven
6. Fazit
6.1 Die konstitutive Verbindung von Politik des Lebens und Politik des Todes
6.2 Analogisches Denken, Kritik und Biopolitik
6.3 Praxis und Emanzipation von der Biomacht
Literatur
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Paradoxien der Biopolitik: Politische Philosophie und Gesellschaftstheorie in Italien
 9783839434000

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Ruggiero Gorgoglione Paradoxien der Biopolitik

Sozialtheorie

Ruggiero Gorgoglione (Dr. phil.), geb. 1982, promovierte am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main bei Prof. Dr. Thomas Lemke. Er lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.

Ruggiero Gorgoglione

Paradoxien der Biopolitik Politische Philosophie und Gesellschaftstheorie in Italien

D.30

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung | 9 I. Foucaults Begriff der Biopolitik | 11 II. Politik des Lebens oder Politik des Todes? | 16 III. Struktur der Arbeit | 21 Danksagung | 23 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Italian Thought: Grundlage eines Denkstils | 27 Der italienische Unterschied | 29 Die Moderne »made in Italy« | 36 Das analogische Denken | 45 Italian Thought als analogisches Denken | 55 Der Begriff der Biopolitik in der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie | 60

2. Giorgio Agamben – Das Homo Sacer-Projekt | 63 2.1 Biographie und Methodologie | 65

2.2

2.3

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2.5

2.1.1 Biographie und das Homo Sacer-Projekt | 65 2.1.2 Agambens Methodologie: Zwischen Philologie und Analogie | 68 Genealogie des Lebensbegriffs | 76 2.2.1 Bíos, zoé und das nackte Leben | 77 2.2.2 Die anthropologische Maschine | 81 2.2.3 Die Aufgabe der Dispositive in Agambens biopolitischer Perspektive | 84 Das Dispositiv des Ausnahmezustands | 85 2.3.1 Recht und Gewalt bei Benjamin | 87 2.3.2 Die Souveränitätslehre von Carl Schmitt | 88 2.3.3 Biopolitische Souveränität | 89 2.3.4 Der Ausnahmezustand als Regierungstechnik | 93 2.3.5 Sicherheit und Ausnahmezustand | 97 Homo sacer und das heilige Leben | 100 2.4.1 Die Bedeutung der sacratio | 100 2.4.2 Sacertá und Souveränität | 102 2.4.3 Der Muselmann | 105 2.4.4 Homo sacer als politik- und gesellschaftstheoretischer Begriff | 108 Das Lager als Nomos der Moderne | 110 2.5.1 Das heilige Leben und die Menschenrechte | 111 2.5.2 Das nackte Leben zwischen Demokratie und Diktatur | 115 2.5.3 Das Lager als Paradigma des modernen politischen Diskurses | 117

2.6 Die kommende Politik als Neutralisierung der biopolitischen Dispositiven | 124

2.6.1 Profanierungen und die Theorie des Gebrauchs | 124 2.6.2 Der Gebrauch der Körper und die modale Ontologie | 128 2.6.3 Probleme der Agambenʼschen Konzeption der Biopolitik | 133 3. Hardt und Negri: Biopolitik als Revolution | 139 3.1 Forschungsmethode, Biographie und Empire | 141

3.1.1 Forschungsmethode | 141 3.1.2 Kommentar zu biographischen Ereignissen | 146 3.1.3 Empire, Multitude, Common Wealth – eine postmoderne Erzählung | 147 3.2 Die biopolitische Produktion | 154 3.2.1 Immaterielle und affektive Arbeit | 156 3.2.2 Das Biopolitische | 159 3.2.3 Die Multitude | 163 3.3 Die Biomacht | 167 3.3.1 Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft | 168 3.3.2 Permanenter globaler Krieg und Regime der Biomacht | 171 3.4 Probleme und Perspektiven der Konzeption der Biopolitik bei Hardt und Negri | 176

3.4.1 Große Erzählung und Analytik | 176 3.4.2 Das Politische und das Biopolitische | 178 3.4.3 Lebensbegriff und Biopolitik bei Hardt und Negri | 181 4.

Roberto Esposito: Politik des Lebens und Politik des Todes | 185 4.1 Vom Dekonstruktivismus zur Genealogie – vom impolitico zur Biopolitik | 186

4.1.1 Die Konzeption des Politischen bei Esposito | 188 4.1.2 Die Dialektik des munus | 191 4.2 Bíos: Das Rätsel des Begriffs der Biopolitik | 197 4.2.1 Biopolitik vor Foucault | 198 4.2.2 Espositos Lesart der Foucaultʼschen Analyse der Biopolitik | 201 4.2.3 Espositos Kritik an Agamben und Hardt und Negri | 204 4.2.4 Das Paradigma der Immunisierung | 206 4.3 Immunisierung und Biopolitik | 208 4.3.1 Vormoderne und moderne Immunisierung | 210 4.3.2 Erste Moderne oder vermittelte Biopolitik | 213 4.3.3 Negative Moderne als Biopolitik? | 221 4.4 Biopolitik und Interaktion von Biologischem und Politischem | 222

4.4.1 Körper, Politik, Biologie | 224 4.4.2 Darstellung des politischen Körpers und Veränderung der biologischen Vorstellung des Körpers | 228 4.4.3 Konzeption des Lebens in der modernen Biologie und Biologisierung des Politischen | 230 4.4.4 Biopolitik, Nationalsozialismus und Thanatopolitik | 241 4.5 Affirmative Biopolitik | 249 4.5.1 Vom negativen Schutz des Lebens zur affirmativen Politik des Lebens | 251 4.5.2 Fleisch, Geburt und Norm des Lebens | 253 4.5.3 Logik des Lebendigen und Posthumanismus | 273 4.5.4 Das Tier-Werden und die Philosophie der impersonale | 281 4.6 Probleme und Perspektiven | 289 5. Biopolitik oder Biopolitiken? | 295 5.1 Von der Logik der Dialektik zur Logik der Strategie | 300

5.1.1 Kriterien für die Biopolitiken | 304 5.2 Biopolitik und Ökonomie | 305

5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4

Diskurse über Bioökonomie | 307 Genealogie des Ökonomischen | 310 Bioökonomie als Wahrheitsregime | 320 Bioökonomie als gesellschaftstheoretischer Begriff | 325 5.3 Action30: Biofaschismus und Supernormalität | 332 5.4 3 Ecologie: Sicherheit und Regierung des Risikos | 339 5.4.1 Ökologische Krise und Regierung des Risikos | 341 5.4.2 Ökologie, Gesellschaft und Ökosystem | 345 5.4.3 Oikologia und Widerstandspraktiken | 350 5.5 Perspektiven | 357 6. Fazit | 361 6.1 Die konstitutive Verbindung von Politik des Lebens und Politik des Todes | 363 6.2 Analogisches Denken, Kritik und Biopolitik | 375 6.3 Praxis und Emanzipation von der Biomacht | 379 Literatur | 385

Einleitung Kriege werden nicht mehr im Namen eines Souveräns geführt, der zu verteidigen ist, sondern im Namen der Existenz aller. Man stellt ganze Völker auf, damit sie sich im Namen der Notwendigkeit ihres Lebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden. MICHEL FOUCAULT, 1997, 163.

Die Persistenz des Todes im Inneren der Politik des Lebens ist kein Phänomen der Vergangenheit. Die Massaker sind noch heute vital oder mit anderen Worten: Sie werden noch heute im Namen des Lebens gerechtfertigt. Die Sicherheit von einigen legitimiert die Zerstörung der Lebensbedingungen von anderen, wie die Kriege in Afghanistan und dem Irak zeigen. Die MigrantInnen werden von den Industrieländern ausgeschlossen, da sie als Bedrohung für das Leben ihrer BürgerInnen wahrgenommen werden. Die Sicherheitsstrategien der Regierungen erfordern zudem eine permanente Kontrolle des Lebens der BürgerInnen. Insofern ist das Verständnis der konstitutiven Verbindung von Politik des Lebens und Thanatopolitik eine der wichtigsten Aufgaben der philosophischen Forschung wie auch des politischen Handelns, das das Ziel der Emanzipation von einer »Macht auf das Leben« verfolgt. Der Begriff »Biopolitik« steht im Zentrum zahlreicher wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen, die das komplexe Verhältnis von Leben (bíos) und Politik untersuchen (vgl. Brandimarte u.a. 2006; Pieper u.a. 2007 und 2011; Weiß 2009). Dabei spielt das Werk Michel Foucaults eine grundlegende Rolle. Obwohl der Begriff »Biopolitik« schon in den 1920er Jahren in einigen wissenschaftlichen Beiträgen auftaucht (Lemke 2007d, 13; Esposito 2004a), hat der französische Philosoph dessen Rezeption maßgeblich geprägt. Foucault führt diesen Begriff ein, um die Machtausübung in der Moderne zu erläutern. »Biopolitik« steht demnach für eine neue Form der Macht, die vom 17. Jahrhundert an auf die Körper der Individuen und die Bevölkerung als ganze zielt. Sie überlagert die Souveräni-

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tätsmacht und zielt darauf, Lebensprozesse zu sichern, zu verwalten und zu entwickeln (Foucault 1977, 1999). Obwohl Foucault schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine Analytik der Biopolitik für das Verständnis der Machtverhältnisse definiert hat, beginnt erst in den 1990er Jahren die Rezeption, Diskussion und Weiterentwicklung des Begriffs der Biopolitik. Die »Entdeckung« der Biopolitik hängt mit historischen Ereignissen wie dem Scheitern des Staatssozialismus in Osteuropa, dem ethnischen Krieg in Jugoslawien, der Massenmigration in die westlichen Industrieländer, der Krise des Wohlfahrtsstaats, der Entwicklung der Informations- und Biotechnologie und der neoliberalen Umstrukturierung der nationalen und internationalen Institutionen zusammen. Diese radikale historische Wende führt zu einer Krise der modernen Kategorien für die Analyse des Politischen, des Sozialen, aber auch der Mensch-Natur-Verhältnisse. Dazu kommt die Notwendigkeit, einen neuen interdisziplinären theoretischen Rahmen zu entwickeln, der die Verbindungen und die Interaktionen von heterogenen Elementen wie z.B. biologischer Kenntnisse, ökonomischer Rationalität und politischer Institutionen erklären kann. In diesem Kontext hat das Interesse an Foucaults Analytik der Biopolitik in der wissenschaftlichen und politischen Debatte an Intensität gewonnen. Die Rezeption dieses Begriffs ist jedoch nicht eindeutig und eher kontrovers. Die Gründe dafür sind vor allem in den verschiedenen Bedeutungen und Verwendungsweisen des Begriffs der Biopolitik bei Foucault zu suchen. Innerhalb dieser Debatte können zwei Forschungslinien erkannt werden. Eine beschäftigt sich mit den sozialen, politischen und kulturellen Implikationen der Biotechnologie und wird vor allem von den Disziplinen der Wissenschaftsgeschichte, Kulturanthropologie und Techniksoziologie wie auch von feministischen Theorien und Gender-Studien thematisiert.1 Die andere Forschungsrichtung fokussiert im Unterschied dazu auf die Analytik des Politischen und die genealogische Rekonstruktion der Machtverhältnisse. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die zweite sozialphilosophisch-politische Forschungslinie. Insbesondere werden die theoretischen Perspektiven kritisch rekonstruiert und analysiert, die im Anschluss an Foucaults Analytik der Biopolitik eine neue Konstellation von Kategorien und Begriffen für philosophische, soziologische und politologische Analysen bilden. Die wichtigsten Aktualisierungsversuche dieses Begriffs werden von den italienischen Autoren Giorgio Agamben, Antonio Negri und Roberto Esposito formuliert. Es ist nicht verwunderlich, dass die wichtigsten analytischen Perspektiven auf die Biopolitik aus Italien stammen. Parallel zu der Auseinandersetzung um die Biopolitik hat auch das internationale Interesse an der theoretischen Produktion in Ita-

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Für eine ausführliche Darstellung dieser Forschungslinie siehe Biopolitik (Daele 2005).

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lien an Intensität gewonnen (vgl. Campbell 2012; Pieper u.a. 2007 und 2011; Borsó 2013). Eine sogenannte Italian Theory wird in den letzten Jahren in internationalen wissenschaftlichen Debatten intensiv diskutiert (vgl. Chiesa und Toscano 2009; Esposito 2010a; Campbell 2012). Dieses Interesse liegt vor allem darin, dass italienische WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen Foucaults Analytik der Biopolitik früher als in anderen Ländern rezipiert haben und deswegen relevante hermeneutische Perspektiven für die Analytik der Biopolitik und des Politischen relativ früh entwickelt haben. Diese Produktivität der italienischen AutorInnen in puncto Biopolitik kann außerdem auf die besondere Orientierung der italienischen philosophischen Tradition zurückgeführt werden. Es handelt sich dabei um eine Forschungslinie, in der schon Autoren der frühen Neuzeit wie Vico und Machiavelli eine interdisziplinäre Analytik für die Analyse des Politischen und des Sozialen entwickelt haben, der die Konfliktualität und Interaktion von Politik und Ontologie zugrunde liegt (vgl. Esposito 2010a). Die Rezeption des Werks von Foucault und insbesondere seine Analytik der Biopolitik ist grundlegend für die »Renaissance« der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie. Die archäologisch-genealogische Forschungsmethode Foucaults prägt die Aktualisierungsversuche der Analytik der Biopolitik in Italien. Daher werden in dieser Einleitung Foucaults Analytik der Biopolitik und die damit verbundenen theoretischen Probleme dargelegt, die als Ausgangspunkte für die Forschung in Italien betrachtet werden können.

I. F OUCAULTS B EGRIFF DER B IOPOLITIK Wie schon erwähnt ist die Bedeutung des Begriffs der Biopolitik in dem Foucaultʼschen Werk nicht einheitlich (Esposito 2004a). Besser gesagt verändert sich die Konzeption der Biopolitik in Bezug auf den theoretischen Rahmen, in dem der Begriff jeweils verwendet wird. Darüber hinaus wird in Foucaults Analytik der Machtverhältnisse der Unterschied zwischen Biopolitik und Biomacht nicht thematisiert. In einigen Schriften werden diese Begriffe quasi als Synonyme benutzt, während in anderen Biopolitik und Biomacht fast als kontrastive Tendenzen verwendet werden. Um die Verschiebungen in der Definition des Begriffs der Biopolitik in der Foucaultʼschen Analytik der Macht besser zu verstehen, wird im Folgenden dessen Gebrauch in Bezug auf drei Richtungen seiner Forschung analysiert (vgl. Lemke 2007a). Die ersten Nachweise des Begriffs der Biopolitik im Rahmen seiner Analytik der Macht finden sich in einem Vortrag aus dem Jahr 1974 (Foucault 2003, 275). Allerdings ist der erste Band seiner Geschichte der Sexualität – Der Wille zum Wissen (Foucault 1977) – die erste veröffentlichte Arbeit, in dem der Begriff der Bio-

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politik eine grundlegende Aufgabe in der Analytik der Macht erfüllt. Um die strategische Bedeutung des Dispositivs der Sexualität zu erklären, verweist Foucault auf eine Verschiebung innerhalb der modernen politischen Diskurse in Bezug auf die Konzeption der Macht. Die traditionelle souveräne Macht war ihm zufolge auf die Möglichkeit des Souveräns gegründet, die Untertanen zu töten, und deren Handeln war zudem an dem Modell der Abschöpfung orientiert. Im Gegensatz dazu beginne ausgehend vom 17. Jahrhundert eine neue historische Phase, in der die Technologien der Macht vielmehr auf die Verwaltung und Verbesserung des Lebens zielten. Foucault fasst diesen qualitativen Unterschied von traditionellen und modernen Machtverhältnissen mit den folgenden Schlagwörtern zusammen: »sterben zu machen und leben lassen« (ebd., 162) in Bezug auf die traditionelle souveräne Macht; und »leben machen und sterben lassen« (ebd.) in Bezug auf die neue Macht über das Leben. Die Entwicklung des biologischen Wissens und die Forschungen über den Körper hätten Kenntnisse produziert, die eine Kontrolle und Modifizierung von biologischen Elementen ermöglichten. Die Interaktion von Biologischem und Politischem stelle – so die These Foucaults – die Schwelle zur Moderne dar und eröffne die Zeit der Biomacht (ebd., 167). Diese sei durch zwei Pole – Disziplinierung des individuellen Körpers und Kontrolle der Bevölkerung – geprägt. Mit dem ersten Charakteristikum bezieht er sich auf eine Machttechnologie, die mittels Institutionen und Normen auf eine Verbesserung und Kontrolle des individuellen Körpers in Bezug auf seine ökonomische Ausbeutung zielen. Der andere Pol der Biomacht – die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden sei – ist ihm zufolge von einer »Biopolitik der Bevölkerung« charakterisiert, die biologische Elemente wie Sterblichkeits- und Geburtenraten, Lebensdauer der Individuen, Gesundheitsbedingungen betrifft (ebd., 166). In diesem Kontext besetze die Sexualität eine strategische Position, da es sich dabei um eine Dimension handle, die gleichzeitig das Benehmen der einzelnen und die Regulierung der Bevölkerung betreffe (ebd., 173). Die Sexualität stelle deshalb den Kreuzpunkt von der Anatomopolitik der Körper und der Biopolitik der Bevölkerung dar. In dieser Fassung der Analytik der Biomacht betont Foucault zwei wichtige, daraus resultierende Folgen. Zunächst hebt er hervor, dass die Biomacht eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse darstelle, da diese neuen Machttechnologien die Eingliederung von Individuen in den Produktionszyklus erlaubten, die stärker, gesünder und zugleich folgsamer seien. Die zweite Folge des Auftauchens der Biomacht betreffe eine neue Konfiguration des Verhältnisses von Norm und Gesetz. Eine Macht, deren Ziel in der Verwaltung des Lebens besteht, kann ihm zufolge nicht das Gesetz als privilegiertes Instrument haben, da diesem die Möglichkeit zu töten zugrunde liege. Im Gegensatz dazu müsse die neue Macht »qualifizieren, messen, abschätzen, abstu-

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fen« (ebd., 172). Allerdings behauptet er nicht, dass das Rechtssystem verschwinde. Vielmehr möchte er die Tendenz zur Normierung der Gesellschaft als Zug einer Macht über das Leben aufzeigen. In den später veröffentlichten Vorlesungen am Collège de France der Jahre 1975 und 1976 fokussiert Foucault seine Analytik der Machtverhältnisse bereits auf das Verständnis der Biopolitik. Allerdings ist dabei nicht mehr die Analyse des Dispositivs der Sexualität der Kontext, in dem er die Biopolitik thematisiert. Die Verwandlung des Rassediskurses von einem Krieg der Rassen in einen Staatsrassismus bildet in diesem Fall das Objekt seiner Forschungen. Zudem versucht er in diesem Kontext die »Nietzsche-Hypothese« – der Krieg als hermeneutisches Modell der modernen Machtverhältnisse – zu überprüfen (Foucault 1999, 27f.).2 Ausgehend von der Analyse der Rassendiskurse hebt er eine wichtige Verschiebung im Lauf der Moderne hervor, die in der Biologisierung des Rassebegriffs bestehe. Diese Veränderung ermögliche den Übergang von einem Rassenkampf zum Staatsrassismus, in dem die Entwicklung der Biopolitik eine Hauptrolle spiele. Hinsichtlich der Biomacht konzentriert sich das Interesse Foucaults insbesondere auf eine Frage: Wie kann eine solche Macht töten, wenn es stimmt, daß es im wesentlichen darum geht, das Leben auszuwerten, seine Dauer zu verlängern, seine Möglichkeit zu vervielfachen, Unfälle fern zu halten oder seine Mängel zu kompensieren? Wie ist es einer politischen Macht unter diesen Bedingungen zu töten, den Tod zu fördern, den Tod zu verlangen, zu töten, den Tod zu befehlen, nicht nur seine Feinde den Tod auszusetzen, sondern sogar die eigenen Bürger? Wie kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung vom Leben zum Ziel hat, sterben lassen? (Foucault 1999, 294)

Ihm zufolge lässt sich dieses Paradox erklären, indem die Funktion des Rassismus in der Ökonomie der Biomacht verstanden wird. Der Rassismus erfülle zwei wichtige Aufgaben innerhalb der neuen Logik der Macht. Erstens führe er Zäsuren in das »biologische Kontinuum« ein (ebd., 295), die eine Differenzierung und Hierarchisierung der Gesellschaftskörper erlaubten. Auf diese Weise könne festgehalten werden, welche Individuen gesund oder krank, stark oder schwach, nützlich oder unnützlich für die Evolution der Rasse oder der Bevölkerung seien. Zweitens setze der Rassismus eine direkte Verbindung zwischen dem Leben von einigen und dem Tod von anderen. Ein Gesellschaftskörper könne somit dadurch »gereinigt« werden, dass die kranken und schwachen Teile vernichtet würden. Durch den Rassis-

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Die Einführung des Begriffs der Biopolitik in der Analytik der Machtverhältnisse bei Foucault wird von AutorInnen wie Lemke und Bazzicalupo als Überwindung des Kriegs als analytischem Modell interpretiert (vgl. Lemke 1997; Bazzicalupo 2006).

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mus werde somit eine Reaktivierung der Todesmacht in der Zeit der Biomacht möglich (ebd., 295f.). In den Vorlesungen am Collège de France in den Jahren 1978 und 1979 verortet Foucault den Begriff der Biopolitik wiederum in einem anderen Kontext. Die Biopolitik könnte laut ihm nur in dem Maße verstanden werden, in dem die liberale Gouvernementalität als Rahmen der Entwicklung der Biopolitik interpretiert werde (Foucault 2004b, 43). Infolgedessen fokussiert er sich in diesen Vorlesungen auf die Genealogie der modernen Regierungsformen, um die Grundlinie des Liberalismus wie auch seine Diskontinuität gegenüber anderen Regierungskünsten zu definieren. Zunächst ist zu betonen, dass Foucault unter Regierung unterschiedliche Formen der »Führung der Menschen« versteht, die von der Regierung der Staaten bis zur spirituellen Führung über die Lenkung des Kindes reichen (vgl. Lemke 2007a, 61). Ausgehend von der Feststellung, dass Regieren etwas gänzlich anderes als Herrschen ist, zielen seine Untersuchungen über die Gouvernementalität darauf, zu erklären, welche Modelle von Rationalität jeweils das Regieren orientieren und welche anschließenden Machtverhältnisse entwickelt werden. Hierbei ist entscheidend, zu verdeutlichen, was er unter Gouvernementalität versteht: Ich verstehe unter ›Gouvernementalität‹ die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktikten gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrumente die Sicherheitsdispositive hat. (Foucault 2004a, 162)

In dem Kontext der Geschichte der modernen Gouvernementalität stellt der Liberalismus Foucault zufolge einen Bruch gegenüber den vorherigen Gouvernementalitätsmodellen dar. Zunächst ist zu betonen, dass der Liberalismus von Foucault weder auf eine bloße ökonomische Theorie noch auf eine politische Ideologie reduziert wird. Vielmehr begreift er darunter eine neue Konzeption des Regierens, die von dem Wissen der Ökonomie inspiriert ist. Der Liberalismus führe deshalb ein neues Orientierungsmodell für die Rationalität der Regierung ein, dem zunächst die Vorstellung der Naturalität der Gesellschaft zugrunde liege (Foucault 2004a, 501; Foucault 2004b, 33). Diese Idee sei keine archaische, vormoderne Vorstellung der Natur. Vielmehr verstünden die liberalen AutorInnen darunter die physischen, physiologischen und sozialen Gesetze, die das Leben der Organismen, der Umwelt und der zwischenmenschlichen Interaktionen regulierten. Es handle sich deshalb um ein Wissen, das auf diesen Elementen beruhe. Deshalb seien die Dynamiken zu untersuchen, die das Leben der Bevölkerungen »normalerweise« regulierten.

E INLEITUNG

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Die liberale Regierung findet Foucault zufolge insofern ihre Normen in der Natur selbst und muss lediglich dann intervenieren, wenn das »normale Werden« der Ereignisse unterbrochen wird. Das Ziel der Regierung bestehe deshalb in der Wiederherstellung der normalen Situation. Diese Idee funktioniere sowohl als Modell für das Handeln der Regierenden wie auch als Grenze für die Ausübung der Macht. Nach dem Liberalismus müsse die Regierung die internen Mechanismen, die das Leben regulierten, »funktionieren lassen«. In diesem Zusammenhang werde auch der Markt »naturalisiert«, d.h. als ein Element betrachtet, das über eine eigene Rationalität und interne Regulierungsfunktion verfüge (Foucault 2004b, 54). Eine gute Regierung müsse demnach diese Selbstregulation lediglich respektieren, indem sie Interventionen vermeide, die das Funktionieren beeinträchtigen könnten. Die liberale Gouvernementalität sehe deshalb in dem Markt den Kontext, in dem die Individuen die eigene Natur als rationale Menschen entwickeln würden. Auf diese Weise wird der Markt in Foucaults Interpretation des Liberalismus als »Ort der Wahrheit« verstanden (ebd., 52), in dem das Handeln und sich Verhalten der Menschen überprüft werden müsse. Das ökonomische Handeln werde so zum Modell der Führung der Individuen und die ökonomische Freiheit dasjenige der politischen Freiheit. Die Regierung des Liberalismus müsse deshalb die ökonomischen Freiheiten fördern und gleichzeitig garantieren und schützen. Foucault hebt aus diesem Grund die Wichtigkeit des Themas der Sicherheit für die liberale Gouvernementalität hervor. Die Notwendigkeit, die Freiheit zu schützen, führe zur Entwicklung von neuen Machttechnologien, die von ihm »Sicherheitsdispositive« genannt werden (vgl. Foucault 2004a, 73f.; Foucault 2004b, 100f.). Anders als das Recht, das seine Normativität von dem binaren Code »erlaubt/nicht erlaubt« ableite, und der Disziplin, die an einem optimalen Modell ausgerichtet sei, suchten diese Dispositive ihre Normen innerhalb der Realität mithilfe der Statistik und der Analyse empirischer Daten. Auf diese Weise würden die möglichen Variationen eines Phänomens beobachtet und verifiziert, um eine »normale« Entwicklung zu deduzieren und gleichzeitig zu verstehen, was diesem Normalzustand schaden könnte (Foucault 2004a, 87-121). Die Entwicklung der liberalen Gouvernementalität und deren Sicherheitsdispositive wird Foucault zufolge in dem Maße möglich, in dem die Politische Ökonomie das Recht als grundlegendes Instrument für das Regieren ersetzt (Foucault 2004b, 29f.). Nun werde eine Regierung nicht länger danach gefragt, ob ihre Macht legitim sei oder das Handeln der Regierenden moralischen und theologischen Instanzen entspreche. Vielmehr müsse sich die Regierung auf den Erfolg oder Misserfolg ihrer Initiativen und Interventionen konzentrieren. Aus diesem Grund müsse diese über ein Wissen – die Politische Ökonomie – verfügen, die die Kenntnis der »Natur der Dinge« erlaube. Die Kenntnisse der Politischen Ökonomie würden zudem als Prinzip »der Selbstbegrenzung der Regierungspraxis« fungieren (Foucault 2004b, 35), da diese ein Wissen von

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dem Funktionieren der autoregulierenden Prozesse vermittle. An dieser internen Regulierung habe sich die Regierung zu orientieren, damit das System funktionieren könne. Die Eingliederung der Biopolitik in die Analytik der Gouvernementalität erlaubt eine Erweiterung der Analyse des Verhältnisses von Leben und Politik. Während die erste Fassung des Begriffs der Biopolitik bei Foucault sich auf Maßnahmen und Normen bezieht, die auf biologische Phänomene der Bevölkerung beschränkt sind, kann er nun in seiner Analytik der Biopolitik auch die Führungen, das Verhalten und die Subjektivierungsprozesse der Menschen und die Machtverhältnisse, die mit diesen verknüpft sind, berücksichtigen. Allerdings wurde diese Forschungsrichtung von ihm nur erwähnt, aber nicht weiterentwickelt. Trotz dieser Lücke ist zu betonen, dass die Foucaultʼsche Genealogie der liberalen Gouvernementalität die Verbindung von biologischem Wissen und ökonomischer Rationalität sichtbar macht. Die Vorstellung einer Natur der Gesellschaft oder einer Naturalisierung des Markts und seiner Mechanismen können als ein Zeichen der Hegemonie der Naturwissenschaften und deren Begrifflichkeit interpretiert werden. Die Foucaultʼsche Analytik der Gouvernementalität macht deshalb die Verbindungen, die Überlagerung, den Austausch zwischen den verschiedenen Wissensformen und deren Auswirkungen auf das Politische sichtbar.

II. P OLITIK

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Die unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs der Biopolitik bei Foucault haben zum einen ein kritisches Verständnis der modernen politischen Diskurse über die Entstehung und Entwicklung der modernen Institutionen und der ihnen inhärenten Machtverhältnisse ermöglicht. Zum anderen tauchen viele Fragen auf, die im Rahmen seiner Analytik der Biopolitik nicht angemessen verstanden werden können. Die wichtigsten Fragen betreffen den Ursprung und die Bedeutung des Verhältnisses von Politik und Leben. Lässt sich die Biopolitik mit der Ausübung einer absoluten Macht auf das Leben identifizieren? Oder stellt die Biopolitik die Möglichkeit für die Emanzipation von einer totalitären Macht auf das Leben dar? Und weiter: Ist die Biopolitik ein modernes und sogar postmodernes Phänomen? Oder ist das Verhältnis von Leben und Politik das ursprüngliche und konstitutive Telos des Politischen? Diese Fragen bestimmen die Philosophie und Gesellschaftstheorie der vergangenen 20 Jahre in Italien. Die wichtigsten Weiterentwicklungen der Analytik der Biopolitik sind das Werk des Philosophen Giorgio Agamben und die Arbeiten der postoperaistischen Autoren Antonio Negri und Michael Hardt. Es handelt sich da-

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bei um zwei entgegengesetzte Perspektiven, die die internationale Diskussion über den Begriff der Biopolitik nachhaltig geprägt haben. Im Unterschied zu Foucault behauptet Agamben, dass »die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist« (Agamben 2002, 169). Seine Theorie geht davon aus, dass der »verborgene Kreuzungspunkt zwischen dem juristisch-institutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht« (ebd.) untersucht werden könne. Dieser wird von ihm in Anschluss an Carl Schmitts Begriff der Souveränität in dem Dispositiv des Ausnahmezustands erkannt. Die Souveränität besteht für Agamben in der biopolitischen Macht, die politische Existenz (bíos) von »nacktem Leben« (zoé) zu trennen. Die originäre politische Beziehung sei der Bann (ebd., 39), durch den der Souverän sich dafür entscheide, wer als bíos in das politische Leben vollständig einbezogen werden könne und wer als nacktes Leben als Ausgeschlossener in der politischen Ordnung eingeschlossen werde. Ihm zufolge kann diese verborgene Grundlage durch die Analyse der Figur des homo sacer sichtbar gemacht werden, die aus dem archaischen römischen Recht stammt. Darin waren homines sacri Menschen, die durch eine Strafe oder ein Opfer nicht getötet werden konnten, aber von jedem ohne Sanktion ermordet werden durften, da ihre Existenz auf das physiologische Leben reduziert war (ebd., 93). Die Produktion dieses tötbaren Lebens ist für ihn die Matrix der Biopolitik. Die theoretische Folge dieser Interpretation ist die These, dass die Politik seit Anfang an Biopolitik oder, besser gesagt, Thanatopolitik sei. Während die Biopolitik bei Agamben das obskure Telos des Politischen darstellt, ziehen Hardt und Negri ganz andere Schlussfolgerungen. In ihrem berühmten Hauptwerk Empire (Hardt und Negri 2002) gehen sie davon aus, dass die Biopolitik eine neue Etappe der kapitalistischen Vergesellschaftung darstelle, die durch den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus gekennzeichnet sei. Dieser Wandel bedeute zunächst eine Auflösung der klassischen Grenzen zwischen Ökonomie und Politik, Reproduktion und Produktion, Leben und Arbeit (ebd., 198). Die damit einhergehende Veränderung der Arbeitsverhältnisse bewirke, dass Intellekt, Körper und Affekte einen direkten Einfluss auf die Produktion ausübten (ebd., 43). Die Autoren nennen diese neue Arbeitsform »immaterielle Arbeit«, die das Paradigma des »kognitiven Kapitalismus« (Negri 2007, 20) charakterisiere. In diesem Zusammenhang spielen die Begriffe »Biomacht« und »biopolitische Produktion« eine grundlegende Rolle. Im Gegensatz zu Foucault machen Hardt und Negri den Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten deutlich. Während die Biomacht »die reelle Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital« (Hardt und Negri 2002, 372) darstelle, definieren sie das Netz der kooperativen und schöpferischen Arbeit als biopolitische Produktion (Hardt und Negri 2004, 113-114). Die Abschaffung der fordistischen Arbeitsverhältnisse erlaube einerseits das Auftauchen des Empires, das durch die

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Biomacht das gesamte Potenzial der Menschen ausbeute. Anderseits setze die biopolitische Produktion immanent die Geburt eines neuen revolutionären Subjektes voraus. Um diese politische Bewegung zu analysieren, verwenden Hardt und Negri den Begriff »Multitude« (die Menge). Damit bezeichnen sie die Gesamtheit der Kräfte, die durch Kreativität und Kooperation neue Lebensformen schöpfen und die Überwindung der kapitalistischen Machtverhältnisse ermöglichen. Dieses GegenEmpire stelle auf der Grundlage der Immanenz eine neue Ontologie her (Hardt und Negri 2002, 380-381). Im Unterschied zu diesen entgegengesetzten Interpretationslinien geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass weder eine negativ-juridische (Agamben) noch eine positiv-produktivistische (Hardt und Negri) Konzeption der Biopolitik theoretisch überzeugt. Um die Gleichzeitigkeit und Gegenläufigkeit von Lebenspolitik und Thanatopolitik zu erfassen, ist es notwendig, vereinseitigende Perspektiven zu vermeiden. Deshalb soll es in dieser Arbeit darum gehen, diese Polarität aufzulösen und stattdessen die innere und paradoxale Verbindung von Lebenspolitik und Thanatopolitik zu begreifen. Dabei gehe ich von der Annahme aus, dass die Arbeiten des – in Deutschland weitgehend unbekannten – italienischen Philosophen Roberto Esposito eine weiterführende Perspektive anbieten. Er identifiziert innerhalb der Biopolitik zwei gegensätzliche Tendenzen: Einerseits fördert sie Subjektivierungsprozesse, also eine Politik des Lebens, andererseits stellt sie eine Politik des Todes (Thanatopolitik) dar (Esposito 2004a, 25). Esposito sucht als Ausgangspunkt seiner Analyse der Biopolitik nach einem Paradigma, das das Verhältnis von bíos (Leben) und Politik am besten zu definieren vermag. Dieses Paradigma findet er in der Immunisierung des Politischen als konstitutives Element der modernen Politik (ebd., 41). Die Immunisierung stellt für ihn einen negativen Schutz des Lebens dar, der »den individuellen und sozialen Organismus rettet, sichert, bewahrt« (ebd., 42), aber gleichzeitig die »expansive Kraft des Lebens« eingrenzt (ebd.). Das Paradigma der Immunisierung erlaube zuallererst, den Kreuzungspunkt von Biologie, Recht und Politik zu verstehen (Esposito 2004b, 80). Außerdem habe dieses Paradigma einen hermeneutischen Vorteil, da die gegensätzlichen Effekte der Biopolitik, also positiv und negativ, oder auch zerstörend und bewahrend, im Begriff selbst schon impliziert seien (Esposito 2004a, 42). Der Prozess der Immunisierung des Politischen führe zur Diskriminierung und Ausschließung von Minderheiten oder nicht-homogenen Teilen der Bevölkerung, da ihre Existenz eine Gefahr für die Gesundheit des politisch-gesellschaftlichen Körpers darstelle. Der Höhepunkt dieser Tendenz sei der Nationalsozialismus, in dem sich die Biopolitik komplett in eine Thanatopolitik verwandle (ebd., 115). Esposito zufolge bedeutet das Scheitern des Nationalsozialismus jedoch nicht das Ende des Prozesses der Immunisierung des Politischen. Deswegen skizziert er die

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Grundlinien einer affirmativen Biopolitik, die die Immunisierungsstrategie kontrastieren müsse (ebd., 210). Obwohl das von Esposito entwickelte Paradigma der Immunisierung eine erweiterte Perspektive für die Analytik der Biopolitik bietet, wirft es auch zwei komplexe Probleme auf. Das erste betrifft das Verhältnis von Biopolitik und Liberalismus. Zwar beschäftigt sich Esposito mit der Kategorie der Freiheit und mit den Widersprüchen der liberalen Kultur (Esposito 2004a, 69), in der Freiheiten gleichzeitig gefördert und durch Sicherheitsdispositive beschränkt werden (ebd., 75), doch wird dieser Prozess nicht weiter analysiert. Im Anschluss an Foucaults Begriff der Gouvernementalität bemerken andere AutorInnen dagegen, dass der Liberalismus eine grundlegende Verschiebung in der Moderne darstellt (Marzocca 2007; Lemke 2007a; Badii 2008). Die liberale Gouvernementalität beschränkt sich dabei nicht auf bloße Selbsterhaltung und Immunisierung des Lebens; vielmehr zielt sie auf die Reglementierung und Produktion des Lebens im Rahmen einer ökonomischen Rationalität (Marzocca 2007, 79). Insofern ist der Markt das spezifische Wahrheitsregime, in dem sich die Biopolitik entwickelt (Foucault 2004b, 52). Im Gegensatz dazu analysiert Esposito die Biopolitik, ohne die Unterschiede und Verbindungen von verschiedenen Regierungsformen zu berücksichtigen. Er stellt somit nicht die Frage, inwiefern der Liberalismus und die ökonomische Rationalität zu der Entwicklung der Biopolitik beitragen. Das zweite Problem besteht darin, dass er nur das menschliche Leben berücksichtigt. Obwohl er sich mit dem nationalsozialistischen Lebensbegriff auseinandersetzt und über eine Biologisierung des Politischen spricht (Esposito 2004a, 117), wird das Verhältnis von Biopolitik und Natur, von menschlicher und äußerlicher Natur nicht thematisiert. Foucault betonte bereits, dass die Biopolitik eine Veränderung in der Wahrnehmung der Natur bestimme. Während in den alten Regierungsformen die Natur als Übel dargestellt worden sei, werde sie innerhalb der liberalen Gouvernementalität zu einem positiven Beispiel für die Regierung (Foucault 2004a, 40). Insofern betrifft die Biopolitik nicht nur das menschliche Leben, sondern auch die Umwelt und die übrigen Lebewesen. Esposito unterstreicht zwar auf den ersten Seiten seines Werks, dass das biologische Leben Gegenstand der Technik sei (Esposito 2004a, 5), vertieft diese Problematik allerdings nicht weiter. In dem vorliegenden Forschungsvorhaben werden diese Probleme gelöst und darüber hinaus wird eine soziologische und gesellschaftstheoretische Perspektive einer Analytik der Biopolitik entwickelt, die »die Persistenz des Todes im Inneren einer Politik des Lebens« (Esposito 2004b, 190) untersuchen kann. Aus diesem Grund werden in dieser Arbeit auch die Forschungen von anderen italienischen AutorInnen berücksichtigt, die zu dieser Aufgabe wichtige Beiträge geleistet haben. Insbesondere werden die Untersuchungen der Gruppen BBPS, Action30 und 3 Ecologie analysiert.

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BBPS (Biopolitica, Bioeconomia, Processi di Soggettivazione/Biopolitik, Bioökonomie, Subjektivierungsprozesse) ist eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, die die Interaktion von Biopolitik und ökonomischer Rationalität intensiv untersucht hat. Die wichtigsten Mitglieder von BBPS sind die Philosophin Laura Bazzicalupo, der Rechtsphilosoph Adalgiso Amendola und die Soziologen Federico Chicci und Antonio Tucci. Im Unterschied zu Esposito gehen sie davon aus, dass sich die Biopolitik nicht nur als Immunisierung des Politischen interpretieren lasse. Im Anschluss an Foucaults Forschungen über die liberale Gouvernementalität interpretieren die WissenschaftlerInnen der BBPS die Biopolitik als »Regierung des Lebens«, die verschiedene Strategien für die Erfüllung dieses Ziels entwickle. In diesem Zusammenhang ist die Genealogie der ökonomischen Diskurse und des Begriffs der Bioökonomie von der Philosophin Laura Bazzicalupo zu berücksichtigen. Darin untersucht sie, wodurch die ökonomischen Subjektvisierungsprozesse charakterisiert und in welcher Form Minderheiten und Individuen mit schwachen Arbeitsleistungen diskriminiert werden (Bazzicalupo 2006 und 2008). Das Kollektiv Action30 ist eine künstlerisch-wissenschaftliche Gruppe, die die alten und neuen Formen des Faschismus durch biopolitische Kategorien untersucht. An der Tätigkeit von Action30 nehmen sowohl PhilosophInnen wie Pierangelo Di Vittorio und Andrea Russo als auch KünstlerInnen wie Giuseppe Palumbo teil. Ihre Forschungen fokussieren insbesondere auf die psychophysische Kontrolle des Lebens der Bevölkerungen und der Individuen im Kontext einer politisch-sozialen Rationalität, die von der Hegemonie der ökonomischen Kategorien charakterisiert ist. Im Rahmen ihrer Untersuchungen ist der Begriff der Supernormalität relevant. Darunter verstehen sie einen Zusammenhang von psychophysischen Techniken, deren Aufgabe in der Normalisierung der permanenten Bearbeitung des Selbst besteht. Das wissenschaftliche Verdienst der Forschung von Action30 besteht insofern darin, die Analytik der Biopolitik und der Bioökonomie auch auf die psychophysische Dimension erweitert zu haben. Darüber hinaus werden in der vorliegenden Arbeit auch die Positionen einer Kritik der Naturbeherrschung in Betracht gezogen, um das Verhältnis von Biopolitik und äußerer Natur zu beleuchten. In diesem Themenbereich werden die Analysen der Forschungsgruppen 3 Ecologie (3 Ökologie) dargestellt, die der Gesellschaftstheoretiker Ottavio Marzocca an der Universität Bari gegründet hat. 3 Ecologies Analyse verfolgt zwei Forschungsziele. Erstens analysiert sie die Diskurse von sozialen und institutionellen Akteuren über die Natur-Menschverhältnisse. Es handelt sich dabei um eine Analytik, die vor allem die Ambiguität der bioökononomischen Rationalität in der Verwaltung der Umwelt sichtbar zu machen versucht und die Subjektivierungsfunktion der Risikodiskurse kritisiert. Zweitens fokussiert 3 Ecologie auf die Analyse neuer Widerstandspraktiken und politischen Bewegun-

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gen, die auf einer ökologischen Rationalität im Kontrast zur ökonomischen Rationalität basieren. Durch die Rekonstruktion dieser analytischen Perspektiven verfolgt diese Arbeit drei Ziele. Erstens wird erklärt, worin the Italian Theory besteht, und warum dieser Denkstil eine grundlegende Rolle für die Entwicklung der Analytik der Biopolitik spielt. Zweitens werden die Perspektiven auf die Biopolitik von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito kritisch rekonstruiert, um kontroverse Punkte und Missverständnisse dieser Theorien verdeutlichen zu können. Außerdem wird thematisiert, inwiefern diese Perspektiven trotz ihrer theoretischen Probleme an einer Analytik der Biopolitik weiterhin Anteil haben können. Drittens werden Begriffe und Forschungsergebnisse von anderen, bisher weitgehend unbekannten italienischen Forschungsgruppen eingeführt, die relevante Beiträge für die Erweiterung der Analytik der Biopolitik geleistet haben. Diese Ergänzung ist grundlegend für die Überwindung der Engführung in den Theorien von Agamben, Hardt und Negri, Esposito und Foucault selbst. Insofern wird im Anschluss an die in Italien formulierten biopolitischen Kategorien die Prämisse für eine kritische Analytik der Biopolitik skizziert. Kritische Analytik der Biopolitik bedeutet in diesem theoretischen Rahmen eine Konstellation von Begriffen zu bilden, die die Ambivalenzen der Biopolitik wie auch die Überlagerung von Politik des Lebens und Politik des Todes sichtbar macht. Es geht dabei allerdings nicht nur um eine theoretische, sondern auch um eine ethisch-politische »Werkzeugkiste«, die von den sozialen Akteuren verwendet werden kann, um biopolitische Dispositive zu dekonstruieren und Widerstandspraktiken zu konstituieren.

III. S TRUKTUR DER ARBEIT Die Arbeit ist in fünf Teile gegliedert. Der erste Teil kann als »propädeutisch« bezeichnet werden, da er auf die Erklärung der Italian Theory abzielt. Zunächst wird die Veränderung der internationalen Rezeption der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie hervorgehoben. Dann werden die Merkmale dieser philosophischen Produktion analysiert. Die Analyse führt dazu, dass sich diese Produktion statt als Italian Theory besser als Italian Thought verstehen lässt. Durch eine kritische Auseinandersetzung mit Espositos Arbeit Pensiero vivente (Esposito 2010a) – in der er sich mit der Rekonstruktion des Italian Thought beschäftigt – wird verdeutlicht, dass das Denken in dieser Tradition als Interaktion von heterogenen Elementen und eine Vorstellung der politischen, sozialen und ontologischen Realität als Konflikt konnotiert ist. Da Pensiero vivente nicht beleuchtet, durch welche analytische Rationalität diese Perspektive verstanden werden kann, wird die Theorie des analogischen Denkens des

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Philosophen Enzo Melandri eingeführt. Im Anschluss an Melandris Kategorien wird der Italian Thought als analogischer Denkstil definiert. Es handelt sich dabei um eine Rationalität, der die Produktion von Paradigmen für die Analytik der Interaktion von heterogenen Elementen zugrunde liegt. Schließlich wird gezeigt, inwiefern dieses analogische Denken die Weiterentwicklung der biopolitischen Theorien bewirkt hat. Hierbei wird die analogische Rationalität für zwei Ziele eingesetzt. Erstens erlaubt sie ein besseres Verständnis der Theoriebildung der italienischen AutorInnen und zweitens werden die Kategorien des analogischen Denkens als Kriterium für die Analyse der verschiedenen Perspektiven auf die Biopolitik eingesetzt. In dem zweiten und dritten Teil werden die Perspektiven von Agamben und Hardt und Negri kritisch rekonstruiert. Diese Rekonstruktion verfolgt zwei Ziele. Erstens werden einige Interpretationsfehler in der Rezeption dieser Theorien diskutiert, die zu Missverständnissen dieser analytischen Perspektiven geführt haben. Zweitens wird erklärt, inwiefern die Begriffe und Kategorien von diesen Autoren zur Analytik der Biopolitik beitragen können, obwohl ihre polarisierten Konzeptionen der Biopolitik die konstitutive Verbindung von Politik des Lebens und Politik des Todes nicht zu verstehen vermögen. Im Mittelpunkt des viertens Teil steht die Analyse der biopolitischen Perspektive des Philosophen Roberto Esposito. Insbesondere wird die Idee diskutiert, nach der das Paradox der Biopolitik durch das Paradigma der Immunisierung verstanden werden kann. Esposito entwickelt sein hermeneutisches Modell vor allem in der Trilogie Immunitas-Communitas-Bíos, in der die Dialektik von immunitas und communitas erklärt wird und für eine archäologisch-genealogische Rekonstruktion der immunitären Dispositive verwendet wird. Diese Perspektive zeigt sein wissenschaftliches Verdienst vor allem in der Analyse der national-sozialistischen Biopolitik. Anschließend wird seine Idee einer affirmativen Biopolitik diskutiert, die die Bedrohung einer thanatopolitischen Immunisierung des Politischen bekämpfen soll. Schließlich wird auch das Dispositiv der Person analysiert, die Esposito in seinem Werk Terza persona (Esposito 2007) thematisiert. Bei ihm stellt diese Arbeit eine weitere Bearbeitung der biopolitischen Problematik dar, mit deren theoretischen Folgen sich die vorliegende Arbeit auseinandersetzt. Im fünften Teil der Arbeit werden die Analysen der Forschungsgruppe BBPS, Action30 und 3 Ecologie berücksichtigt. Zunächst wird hervorgehoben, dass diese im Unterschied zu Agamben, Hardt und Negri und Esposito weniger von Biopolitik im Singulär als von Biopolitiken im Plural sprechen. Es handelt sich dabei um eine Verschiebung, die ein besseres Verständnis der biopolitischen Machtverhältnisse erlaubt, da die Politik des Lebens als Konstellation von heterogenen Strategien verstanden wird. Diese Gruppen untersuchen die biopolitischen Strategien, die von den oben genannten Autoren nicht ausreichend analysiert worden sind. Insofern wird erstens das Verhältnis von ökonomischer Rationalität und Biopolitik thematisiert

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und zweitens werden die Folgen der biopolitischen Strategien auf die MenschNatur-Verhältnisse betrachtet. Der erste Punkt wird durch eine Genealogie der ökonomischen Diskurse und deren Einfluss auf die Politik des Lebens vertieft. Diese Analyse wird von der Philosophin Laura Bazzicalupo – die wichtigste Vertreterin von BBPS – entwickelt. Die wichtigste Leistung der Analyse Bazzicalupos besteht in der Definition des Begriffs der Bioökonomie als kritische Perspektive für das Verständnis der Folgen der ökonomischen Rationalität im Leben der sozialen Akteure. Diese Analyse der Bioökonomie wird mit der Darstellung der Forschung des Kollektivs Action30 ergänzt, die psychotherapeutische Strategien für die ökonomische Regulierung und Kontrolle des Lebens untersuchen. Die Arbeiten der Forschungsgruppe 3 Ecologie werden eingeführt, um die Folgen der biopolitischen Strategien auf die Mensch-Natur-Verhältnisse zu verstehen. Insbesondere werden die Arbeiten von Ottavio Marzocca – Gründer der Forschungsgruppe – kritisch diskutiert. Im Fazit werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und die Idee einer Analytik der Biopolitik als Konstellation von analogischen Paradigmen skizziert.

D ANKSAGUNG Es ist mein Wunsch, sowohl in der Sprache meiner Dissertation (Deutsch) als auch in der Sprache meines Denkens (Italienisch) den Menschen zu danken, die diese Arbeit ermöglicht haben. Vor allem möchte ich meinem Betreuer Thomas Lemke danken. Für die Aufnahme, die Möglichkeit zu forschen, zu denken, zu schreiben, bedanke ich mich bei ihm zuerst als Mensch. Es handelt sich dabei um eine Möglichkeit – es ist gut, daran zu erinnern –, die die Biomacht in der italienischen Universität mir aufgrund meines politischen Engagements verweigert hatte. Ich bedanke mich außerdem bei Professor Lemke für die wertvollen Anregungen, die kritischen Anmerkungen und die Geduld beim Lesen und Verstehen meiner Schrift und meiner Worte. Ich bin in Frankfurt mit einem Koffer und einem Traum angekommen – Thomas Lemke hat mir fortwährend geholfen, diesen Traum zu verwirklichen. Besonderer Dank gilt meinem Zweitgutachter prof. Dr Martin Saar für die kritischen Anmerkungen und die Interesse an meiner Arbeit. Darüber hinaus bedanke ich mich sehr herzlich bei Michael Schedelik, der den vorliegenden Text durch ein hervorragendes Textlektorat entscheidend verbessert hat. Besonders würdigen möchte ich seine gute Arbeit, die meinen Text verständlich gemacht hat, ohne ihren Geist zu verraten. Ich danke Michael auch für seine Freundschaft und Großzügigkeit.

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Ferner möchte ich mich bei meiner Supervisorin Ulle Jäger und meinen Freunden in der Forschungssupervision sehr herzlich bedanken. Sie haben mich in besonders schwierigen Situationen unterstützt und begleitet. Insbesondere möchte ich mich bei Claudia Sontowski bedanken, die mir bei vielen Gelegenheiten und in verschiedenerweise geholfen hat. Wertvolle Anregungen erhielt ich von meinen KollegInnen des Forschungskolloquiums von Professor Lemke: Tino Plümecke, Ulrike Manz, Malaika Rödel, Torsten Heinemann, Andreas Folkers, Eva Sänger, Sarah Dionisius, Jonas Rüppel, Pieter Wehling und Katharina Hoppe. Außerdem ist Renate Uhrig für ihre Großzügigkeit zu danken. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat durch ihre großzügige Finanzierung meine Promotion ermöglicht. Viel entscheidender war jedoch die mir durch die RLS eröffnete Gelegenheit, mich mit anderen engagierten ForscherInnen zu vernetzen, die sich von der kapitalistischen Ordnung zu emanzipieren versuchen. Ich bedanke mich auch bei dem GRASOC der Goethe-Universität in Frankfurt a.M., das durch sein Bildungsangebot eine Verbesserung meiner Kompetenzen ermöglicht hat. Darüber hinaus möchte ich meine Forschungsgemeinschaft in Italien erwähnen. Insbesondere bedanke ich mich bei Professor Ottavio Marzocca, der mich als Philosoph gebildet hat, und bei den Freunden von Action30 und 3 Ecologie: Massimiliano, Francesco, Alessandro, Enrico, Marino und Pierangelo – sie sind Brüder im Kampf und im Leben. Ich habe sie während meines Aufenthalts in Frankfurt vermisst und möchte ihnen für jede E-Mail, jedes Gespräch und jedes Treffen danken. Ich werde nie ihren Besuch vergessen. Zudem danke ich den Freunden der italienischen Onlinezeitung il Mitte – insbesondere Alassandro –, die mit mir die Erfahrung der Migration teilen, und andere Freunden wie Lidia, Lisa, Franceline, Karin, Moullu, Berndt, Oksana e Salvatore, die mich oft ünterstuzt haben. Schließlich bedanke ich mich bei meiner Familie: meinen Eltern und meiner Schwester Francesca, die unter meiner Abwesenheit mehr als alle anderen leiden. Es ist nicht einfach, in dieser Phase meine Familie zu sein, und daher danke ich ihnen für ihre bedingungslose Liebe. Ich danke auch meinen Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinnen, die für mich wie Geschwister sind, und möchte auch an meinen Großvater erinnern, der während meiner Promotion von uns gegangen ist. Ich werde nie sein Interesse an meiner Forschung und meinem politischen Engagement, auch in seinen letzten Stunden, vergessen. Dulcic in fundo gibt es meine Abenteuerfreundin, meine Sternliebe: Maria. Ohne ihre Liebe wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ich möchte Dir etwas wie die Göttliche Komödie schreiben, um Deine Liebe für die Ewigkeit zu bewahren; aber ich bin nicht Dante, nur Ruggiero; deswegen, meine Liebe, kann ich Dir nur die Misere meines Denkens widmen.

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R INGRAZIAMENTI Innanzitutto vorrei ringraziare il mio Relatore, Thomas Lemke. Lo ringrazio in primis come uomo, per avermi accolto, per avermi dato la possibilità di ricercare, di pensare, di scrivere. Una possibilità – è bene ricordarlo – che il Biopotere dellʼuniversità italiana mi aveva negato a causa del mio impegno politico. Ringrazio il prof. Lemke per tutte le sue critiche, i suoi consigli, la sua pazienza nel leggere e nel comprendere i miei scritti e le mie parole. Sono arrivato a Frankfurt con una valigia e un sogno. Thomas Lemke mi ha aiutato costantemente a costruire una realtà. Sono inoltre particolarmente grato al mio correlatore, il prof. Martin Saar per i suoi consigli e per l´interesse mostrato verso il mio lavoro. Ringrazio di cuore Michael Schedelik, il mio correttore. Tuttavia questa definizione non rende merito al lavoro di Michael, che ha cercato di rendere il mio testo comprensibile senza tradirne lo spirito. Non solo correttore ma anche compagno di viaggio. È doveroso ringraziare Ulle Jäger la mia Supervisorin e gli amici della »Forschugssupervision« che mi hanno sostenuto nei momenti difficili e hanno condiviso la gioia dei momenti belli. Senza il loro sostegno, non ci sarei riuscito. Tra gli altri mi preme ringraziare Claudia Sontowski, che mi è stata sempre vicina in questi anni. Tra i tanti che mi hanno sostenuto in questi anni, devo ringraziare i colleghi del Kolloquium del prof. Thomas Lemke per i loro preziosi consigli e le loro critiche, che mi hanno aiutato a migliorare il mio lavoro: Tino Plümecke, Ulrike Manz, Malaika Rödel, Torsten Heinemann, Andreas Folkers, Eva Sänger, Sarah Dionisius, Jonas Rüppel, Pieter Wehling e Katharina Hoppe. Ringrazio inoltre Renate Uhrig per la sua genorositá. Ringrazio la Rosa Luxemburg Stiftung sia per avere finanziato la mia ricerca con una borsa di studio sia per avermi messo in contatto con altri ricercatori, che, come me, condividono il desiderio di emanciparsi dallʼordine capitalista. Ringrazio anche il GRASOC della Goethe Universität per lʼofferta formativa, che mi ha permesso di migliorare le mie competenze. Mi preme ringraziare anche la mia comunità di ricerca in Italia. Il mio maestro prof. Ottavio Marzocca, e gli amici fraterni delle 3 Ecologie e di Action30: Massimiliano, Francesco, Alessandro, Enrico, Marino, Pierangelo. Compagni di lotta e di vita. La nostalgia della nostra vita comune è tanta ma li ringrazio per ogni lettera, ogni dialogo su skype, ogni incontro rubato al tempo e allo spazio e mai dimenticherò la loro visita. Sono da menzionare anche gli amici del mitte, in particolare Alessandro che con me condividono lʼesperienza della migrazione; ringrazio anche Lidia, Lisa, Franceline Karin, Moullu, Berndt, Oksana e Salvatore per la loro amicizia.

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Infine ringrazio la mia famiglia. I miei genitori e mia sorella che soffrono piú di chiunque la mia migrazione. Non è semplice essere la mia famiglia e li ringrazio per il fatto che mi amano sempre, qualsiasi cosa faccia o farò. Ringrazio anche i miei zii e i miei cugini per amarmi come un figlio e un fratello e vorrei ricordare mio nonno, che durante la mia ricerca è »partito«. Non dimenticherò mai il suo interesse per la mia ricerca e per la mia militanza politica anche nelle sue ultime ore. Dulcis in fondo, cʼè la mia compagna dʼavventura, il mio amore stellare: Maria. Senza il suo amore niente sarebbe possibile, niente avrebbe sapore. Vorrei scrivere qualcosa come la Divina Commedia per poter consacrare ai posteri il tuo amore, dolce custode del mio piú prezioso e giovine tesoro; purtroppo non sono Dante, solo Ruggiero e mio caro amore posso dedicarti solo la miseria del mio pensare.

1. Italian Thought: Grundlage eines Denkstils The difference of Italian thought, however, cannot be grasped without some understanding of the difference marked by the history of Italian social and political movements. The theorizing, in fact, has ridden the wave of the movements over the past thirty years and emerged as part of a collective practice. The writings have always had a real political immediacy, giving the impression of being composed in stolen moments late at night, interpreting one day's political struggles and planning for the next MICHAEL HARDT, 1996, 1.

Die »Entdeckung« der Biopolitik in dem Werk Foucaults fand in Italien früher als in anderen Ländern statt. Obwohl das Entstehen dieses wissenschaftlichen Interesses in Italien mit der »nicht autorisierten« Herausgabe von einigen Vorlesungen Foucaults am Collège de France aus dem Jahr 1976 assoziiert werden kann,1 ist das Verhältnis von Leben, wissenschaftlicher Produktion und Politik für die italienische Philosophietradition so grundlegend, dass sich das »italienische Milieu« als ideell für die Entwicklung des Paradigmas der Biopolitik erwies (vgl. Campbell 2008).

1

Ausgehend davon, dass Foucault selbst seine Vorlesungen am Collège de France als öffentliches Material betrachtete, veröffentlichte ein kleiner italienischer Verlag 1990 die Vorlesung aus dem Jahr 1976 unter dem Titel Difendere la societá – Dalla guerra delle razze al razzismo di Stato. Auf diese Herausgabe folgte eine juridische Kontroverse, die dazu führte, dass das Buch vom Markt genommen wurde. Allerdings wurde dank dieses Ereignisses das Interesse an Foucaults Forschungen der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, deren Ergebnisse nur in kleinen Schriften publiziert worden waren, geweckt. Das zunehmende wissenschaftliche Interesse führte so zu einer »offiziellen« bzw. autorisierten und kritischen Herausgabe der Vorlesungen Foucaults, die eine neue Phase der Rezeption von Foucaults Analytik der Macht eröffnete (vgl. Marzocca 2006 und die Einführung zur italienischen Ausgabe; Foucault 2009).

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Um dieses Verhältnis zu verdeutlichen, wird in diesem ersten Teil der Arbeit eine Genealogie dieses »Aufeinandertreffens« des Begriffs der Biopolitik mit der italienischen Philosophie dargestellt. In dem ersten Teil des Kapitels wird zunächst die Veränderung der internationalen Rezeption der italienischen Philosophie analysiert. Innerhalb von zwei Jahrzehnten hat sich die Bewertung über diese theoretische Produktion vollständig geändert. Während in den 1980er und 1990er Jahren Italiens Wissenschaftssystem aufgrund von Residuen faschistischer Elemente als vormodern und kulturell unterentwickelt angesehen wurde und die italienischen AutorInnen in internationalen Debatten kaum zitiert wurden, ist es heute unmöglich, einen Diskurs über die Biopolitik und gewissermaßen über das Politische zu führen, ohne die Perspektiven von Agamben, Negri und Esposito zu berücksichtigen. Diese Wende wird hier eingehend thematisiert. In dem zweiten Abschnitt werden die wichtigsten Merkmale der Produktion von Wissen in Italien diskutiert. Insbesondere wird die Arbeit Pensiero vivente (Esposito 2010a) des Philosophen Roberto Esposito analysiert, in der er einen roten Faden von Machiavelli über Vico, Leopardi und Gramsci bis zu den zeitgenössischen Autoren zu entwickeln versucht. In dieser Rekonstruktion wird deutlich, dass die Forschung in Italien von Beginn an interdisziplinär ist. Die Ontologie, Politik, Geschichte und Gesellschaft stellen Esposito zufolge darin keine unterschiedlichen Diskurse oder Disziplinen dar, sondern sind vielmehr auf einer hermeneutischen und praxeologischen Ebene miteinander verflochten. Ich werde allerdings nicht Espositos These von der sogenannten Italian Theory übernehmen (ebd., 3-13). Im Gegensatz dazu werde ich einige Aspekte und Widersprüche in seiner Darstellung kritisch diskutieren, die von ihm nicht problematisiert werden. Beispielsweise wird die Frage, im Rahmen welcher Rationalität die wissenschaftlichen Diskurse in Italien formuliert werden, nicht adäquat berücksichtigt. Ausgehend von diesem Problem wird in dem dritten Abschnitt die analogische Rationalität als analytische und methodologische Perspektive vorgestellt, die der wissenschaftlichen Tradition Italiens zugrunde liegt. Aus diesem Grund wird die Analytik der analogischen Erkenntnisform von Enzo Melandri übernommen. In seiner Arbeit La linea e il circolo (Melandri 2004) definiert Melandri die Analogie durch eine Gegenüberstellung mit der Logik und logischer Argumentation. Schon Agamben in seiner methodologischen Schrift Signatura rerum interpretiert die analogische Erkenntnisform als notwendiges Korrelat einer genealogischarchäologischen Forschung (vgl. Agamben 2009). Weil der Begriff der Biopolitik innerhalb einer genealogischen Untersuchung bei Foucault entstanden ist und die Analyse der italienischen TheoretikerInnen genealogisch orientiert ist, bietet sich die Theorie der analogischen Erkenntnisform Melandris zu deren Verständnis aus zwei Gründen an. Erstens stellt sie hermeneutische Werkzeuge für das Verständnis

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der besonderen interdisziplinären Gesellschaftstheorie – die unter dem Namen Italian Theory bekannt ist – dar; zweitens erlaubt sie die Definition einer Forschungsmethode, die für die Analytik der Biopolitik besonders geeignet ist.

1.1 D ER ITALIENISCHE U NTERSCHIED Die radikale Wende in der Rezeption der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie lässt sich vor allem durch ihre veränderte Bewertung erfassen. Roberto Esposito hat in einer seiner jüngsten Arbeiten Pensiero vivente2 (Esposito 2010a) diese Veränderung hervorgehoben, indem er die Bewertung des italienischen philosophischen Diskurses in drei im angelsächsischen Raum erschienenen Anthologien berücksichtigt. Die erste von Esposito analysierte Anthologie ist Recoding Metaphysics. The new Italian Philosophy, die von Giovanna Borradori Ende der 1980er Jahre herausgegeben wurde (Borradori 1988). Darin wird die italienische Philosophie noch als im Vergleich zu anderen philosophischen Kulturen unterentwickelt dargestellt, von denen sie sowohl Forschungsperspektive als auch Begriffe übernommen habe. Dazu komme, dass die italienische Philosophie keinen originellen Beitrag produziert habe bzw. überhaupt leisten könne. Das einzige Merkmal dieser philosophischen Tradition sei der Historizismus, der von Gianbattista Vico formuliert und von Benedetto Croce weiterentwickelt wurde. Allerdings ist Borradori zufolge der Historizismus eine Perspektive, die vom Konservativismus geprägt ist (vgl. Esposito 2010a, 4; Borradori 1988). Obwohl die Bewertung Borradoris sehr negativ ausfällt, ist sie nicht pauschal unbegründet, wie Esposito implizit verstehen lässt. Der konservative Historizismus ist noch heute eine dominante Denkrichtung in der italienischen Akademie, die auch eine normalisierende Funktion ausübt. Das Problem von Borradoris Analyse besteht allerdings darin, dass sie nicht die Strömungen der italienischen Philosophie berücksichtigt, die gegen die politische Hegemonie des Historizismus gekämpft haben und von diesem unterdrückt wurden. Schon im nächsten Jahrzehnt 1990 wurde die »kulturelle Unterentwicklung« vollkommen anders interpretiert. Radical Thought in Italy – herausgeben von Michael Hardt und Paolo Virno (1996) – geht davon aus, dass die fehlende Moderni-

2

Pensiero vivente kann als »der lebende Gedanke« übersetzt werden. Es ist wichtig, diese Forschungsperspektive von der Lebensphilosophie oder dem Vitalismus abzugrenzen. Für Esposito kann die philosophische Tradition Italiens als »lebende« bezeichnet werden, da darin das Leben immer in Verbindung mit der Politik und der Geschichte thematisiert wird. Deswegen darf sie nicht mit der Lebensphilosophie assoziiert werden, die in Opposition zum Idealismus auf Vitalität als Grundlage des Daseins beruht.

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sierung der italienischen Kultur den italienischen AutorInnen die Formulierung von Kategorien erlaubt habe, die ein besseres Verständnis der Postmoderne ermöglichen würden. Infolgedessen wurde Italien als »Labor« für die Theoretisierung einer politischen Praxis in der Zeit der Globalisierung interpretiert (vgl. Hardt 1996). Auch wenn in dieser Interpretation die These der »kulturellen Verspätung« als Potenzialität gewendet wird, persistiert für Esposito die Vorstellung eine »Kultur ohne Moderne« (Esposito 2010a, 5). In der dritten Anthologie The Italian Difference between Nihilism und Biopolitics (Chiesa und Toscano 2009) aus dem Jahr 2009 wird die Idee der unterentwickelten Kultur Italiens nicht mehr berücksichtigt. Obwohl die Herausgeber den Niedergang der Politik und der Institutionen in Italien in ihrer Einleitung betonen, anerkennen sie die Spezifität der italienischen Philosophie und ihre Aktualität für die öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionen darin, dass die italienischen AutorInnen ihre Forschungen an der Schwelle von historisch-politischen und philosophischen Kategorien lokalisieren würden (vgl. ebd.). Das derzeitige Interesse an der italienischen Philosophie in den USA zeigt sich zudem an der Organisation der Konferenz »Commonalities: Thinking the Common in Contemporary Italian Thought« an der Cornell University am 24. und 25. September 2010, an der italienische PhilosophInnen und US-amerikanische WissenschaftlerInnen teilnahmen. Timothy Campbell – einer der Organisatoren des Kongresses – betont, dass das Interesse der US-amerikanischen WissenschaftlerInnen nicht an der Italian Theory, sondern an dem Italian Thought liege (vgl. Campbell 2012). Damit verweist er darauf, dass sich die philosophische Produktion in Italien nicht anhand der Entwicklung einer Theorie interpretieren lasse. Vielmehr liege die wichtigste gemeinsame Leistung der italienischen AutorInnen in der Entwicklung einer Art und Weise zu denken, die Pluralität produziere (ebd.). Diese Wende, die Esposito vor allem im angelsächsischen Raum beobachtet, gilt gewissermaßen auch für die deutsche Debatte. In Deutschland wurde die philosophische Produktion in Italien lange Zeit als eine Ergänzung der deutschen Philosophie angesehen, wie beispielsweise noch in der Anthologie Italienische Philosophie der Gegenwart aus dem Jahr 2004 (Eggensperger u.a. 2004). Obwohl die Herausgeber deutlich machen, dass sie keinen Anspruch auf eine vollständige Darstellung des philosophischen Diskurses in Italien erheben, verweisen die ausgewählten Themen und AutorInnen auf die Vorstellung der italienischen Philosophie als eine regionale Interpretation der deutschen Philosophie.3

3

Damit soll nicht die Rolle der deutschen Philosophie für die Entwicklung des philosophischen Diskurses in Italien unterschätzt werden. Allerdings haben die Beiträge der AutorInnen keinen Verdienst an der Definition, was eigentlich die philosophische Produktion

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Der internationale Erfolg der Arbeiten von Agamben und Negri hat diese Bewertung allerdings stark verändert. In den letzten Jahren werden die Arbeiten von italienischen PhilosophInnen sowohl in der akademischen als auch in der öffentlichen Debatte vermehrt berücksichtigt. Die von diesen AutorInnen formulierten Begriffe werden so oft diskutiert, übernommen und weiterentwickelt, dass sie in einigen Fällen als Titel von Sammelbänden benutzt werden.4 Damit soll jedoch nicht behauptet werden, dass die italienische Philosophie eine Art Leitfunktion in der internationalen Debatte ausübe. Vielmehr möchte ich die wissenschaftliche Produktivität einer Interaktion verschiedener philosophischer Kulturen betonen, die zuvor von einem negativen Vorurteil behindert worden war. So wie in den USA wird auch in Deutschland der Austausch mit den italienischen AutorInnen durch die Organisation von Konferenzen und der Herausgabe von Sammelbänden gefördert (vgl. Borsó 2012 und 2013; Campbell 2012). Diese hier skizzierte Rezeption der italienischen Philosophie hat dazu geführt, dass sich die italienischen PhilosophInnen selbst mit der Frage beschäftigten, wie Italian Theory definiert werden kann. Die schon zitierte Arbeit von Roberto Esposito Pensiero vivente (Esposito 2010a) bietet eine relevante Rekonstruktion der Bedeutung der philosophischen Produktion in Italien; sie zeichnet sich dadurch aus, die These der »fehlenden Moderne« hinter sich zu lassen. Vielmehr versucht Esposito in seiner Genealogie, die von Machiavelli und Vico über Leopardi, Gramsci, Croce und andere bis zu Agamben und Negri reicht, zu zeigen, dass in Italien die AutorInnen ein besonderes Verhältnis mit ihrer Gegenwart erleben, das zu einer bestimmten Problematisierung unterschiedlicher philosophischer Fragen führt. Das Ziel Espositos besteht nicht darin, einen Vorrang der italienischen Philosophie zu proklamieren; seine Forschung darf daher nicht als eine idealistische Vorstellung von Nationalität gelesen werden. Vielmehr ist der Ausgangspunkt seiner These gerade die Unabhängigkeit der kulturellen Produktion in Italien von dem Diskurs über die Nation. Diese Distanz erlaube die Entwicklung einer anderen Richtung der modernen philosophischen Produktion in Italien (vgl. ebd., 20). Aus dieser Sichtweise muss Espositos Forschung im Gegensatz zu den Arbeiten von Giovanni Gentile gelesen werden, der versucht hatte, eine nationale Identität philosophisch zu begründen (siehe dazu Gentile 1963).5

in Italien charakterisiert. Zudem ist paradox, dass in einer Analyse der italienischen Philosophie der Gegenwart Agamben, Negri, Virno, Tronti oder Muraro nicht zitiert werden. 4

Ich spreche von Empire und die biopolitische Wende (Pieper u.a. 2007) und Bíos und Zoé (Weiß 2009).

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Esposito bezieht sich insbesondere kritisch auf den Aufsatz »Il carattere storico della filosofia italiana« (Gentile 1963).

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Im Anschluss an Deleuzes Konzeption der Geophilosophie6 analysiert Esposito die italienische Philosophie ausgehend von dem Verhältnis von Territorium, wissenschaftlicher und kultureller Produktion sowie historischen und politischen Ereignissen. Ausgehend von diesem theoretischen Rahmen hebt er zunächst hervor, dass die Philosophie in Italien nicht in Verbindung mit der Konstitution nationaler Institutionen interpretiert werden könne (Esposito 2010a, 20-22). Ihm zufolge wurde Italien, im Unterschied zu anderen Ländern, als ein Territorium ohne Nation und ohne Zentrum imaginiert. Er betont dabei, dass die Philosophie und die Wissenschaft in Italien oft als Widerstand gegen den Staat fungiert hätten (ebd., 22). Der abwesende Nationalisierungsprozess zu Beginn der Moderne stellt Esposito zufolge keinen Rückschritt dar, sondern vielmehr die Möglichkeit, unterschiedliche Kulturen, Traditionen und Sprachen in Verbindung zu bringen. Damit behauptet er nicht, dass das Thema der nationalen Vereinigung keine Rolle gespielt habe. Allerdings habe es sich dabei lediglich um rhetorische und literarische Diskurse gehandelt, die die Realitäten der damaligen Zeit nicht widergespiegelt hätten (ebd., 21).7

6

Gilles Deleuze und Félix Guattari führen die Idee der Geophilosophie in ihrem Buch Was ist Philosophie? ein (Deleuze/Guattari, 2003). In dieser Arbeit versuchen sie eine Perspektive für die Analyse der Geschichte der Philosophie zu entwickeln, die die Ansätze von Hegel und Heidegger hinsichtlich des Auftauchens des philosophischen Diskurses im antiken Griechenland in Frage stellt. Sie behaupten zunächst, dass die Philosophie als »Herstellung von Begriffen« definiert werden müsse (ebd., 6). Das Denken wird deshalb in seiner theoretischen Perspektive von ihnen weniger als eine kontemplative Tätigkeit interpretiert, die ein Subjekt und ein Objekt verbindet, sondern taucht vielmehr in Bezug auf ein Territorium auf, das sich durch Bewegung von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung auszeichnet (ebd., 89). Es gehe daher darum, zu verstehen, in welchem Kontext eine bestimmte Begrifflichkeit entstehe und welche die geo-physischen, sozialen und politischen Voraussetzungen für das Auftauchen des philosophischen Diskurses seien. Nach dieser analytischen Perspektive beeinflussen Elemente wie das Meer, das Wetter, die Migrationen, die Wirtschaft, die politischen Institutionen und ihr Werden den philosophischen Diskurs (ebd., 109f.).

7

Diese Hypothese, die von Esposito nicht historisch und bibliographisch dokumentiert wird, ist von einer Reihe von empirischen Forschungen bestätigt worden. Diese Untersuchungen, die zumeist im Vereinigten Königreich durchgeführt wurden, hinterfragen die offizielle Geschichtsschreibung der Vereinigung Italiens. Diese Forschungen betonen nicht nur die Abwesenheit des Willens der Bevölkerungen, einen nationalen und zentralisierten Staat zu bilden; sie werfen auch ein Licht auf die Misshandlungen vonseiten der Savoia-Monarchie und der Armee Garibaldis gegenüber den BürgerInnen, die dem Anschluss an Italien zu widerstehen versuchten (vgl. Duggan 2008).

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Ein anderes wesentliches Charakteristikum der philosophischen Produktion in Italien betrifft Esposito zufolge das konfliktuelle Verhältnis der AutorInnen mit den politischen und religiösen Autoritäten. Die Biographien von Niccolò Machiavelli, Galileo Galilei, Giordano Bruno, Antonio Gramsci und zuletzt Antonio Negri sowie anderer Mitglieder der politischen Bewegung Potere Operaio8 zeigen, dass in Italien zwischen Wissen und Macht seit dem Beginn der Moderne ein permanenter Konflikt existiert, der in einigen Fällen zu Verhaftung und sogar zur Todesstrafe einiger AutorInnen geführt hat. Infolgedessen behauptet Esposito, dass sich in Italien kein »Wissen des Staats« entwickelt habe, aber eines »gegen den Staat«, wie beispielsweise die Arbeiten und das Leben von Croce und Gramsci bezeugten (ebd., 22). Gewissermaßen bestätigt Foucault diese These, wenn er betont, dass eine wissenschaftliche Produktion über die Policey in Italien fehle,9 die dagegen die Politologie im 18. und 19. Jahrhundert in anderen europäischen Ländern orientiere.

8

Am 7. April 1979 wurden Antonio Negri und andere WissenschaftlerInnen und Intellektuelle wie Luciano Ferri Bravo, Franco Piperno, Alisa del Re, Paolo Virno und Oreste Scalzone verhaftet. Die Anklage bestand darin, dass die FührerInnen des Operaismus eine geheime Struktur geschaffen hätten, die die terroristische Tätigkeit der roten Brigaden angeleitet habe. Diese Anklage basierte nicht auf Beweisen, sondern auf dem sogenannten »Calogero-Theorem« (Calogero war der Name des Richters, der die Ermittlungen gegen die sozialen Bewegungen leitete). Nach diesem »Theorem« existierte eine direkte Verbindung zwischen operaistischen Bewegungen und terroristischen Gruppen. Die Verhaftung der Angeklagten wurde mittels der Einführung eines extralegalen Notstandrechts legitimiert, das sowohl von der konservativen Partei Democrazia Cristiana als auch von der italienischen kommunistischen Partei (PCI) unterstützt wurde. Nach einigen Jahren wurden fast alle der Angeklagten freigesprochen (vgl. Luther Blisset Project 1999).

9

Unter Policey versteht Foucault ein Wissen, das als Gegenstand die Staatsraison hat. Es handelt sich um Maßnahmen, Normen und Interventionstechniken, die das Leben der Bevölkerung betreffen. Das Ziel der Polizeiwissenschaft bestehe in der Verbesserung der Ausbeutung und der Verwaltung des Territoriums wie auch des Gesellschaftskörpers. Dieses Wissen ist Foucault zufolge das grundlegende Instrument der staatlichen Regierung im 17. und 18. Jahrhundert. Während in Frankreich und Deutschland viele Arbeiten der Polizeiwissenschaft produziert worden seien, sei dies in Italien nicht der Fall gewesen. Foucault nimmt an, dass dies von historischen Ereignissen abhänge, die zur Thematisierung der Balance zwischen verschieden auf dem Territorium anwesenden Kräften geführt habe, statt zur Polizeiwissenschaft als solcher. Darauf gründet Foucault seine These über die Konstitution des italienischen Staats: »ein Staat, der natürlich in Wirklichkeit niemals ein Polizeistaat im Sinne des 17/18. Jahrhundert war, sondern immer ein Staat der Diplomatie, d.h. eine Gesamtheit pluraler Kräfte, zwischen denen ein Gleichgewicht

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Das Interesse an dem italienischen philosophischen Diskurs in den zeitgenössischen politologischen und soziologischen Debatten liegt insofern für Esposito an der Unabhängigkeit dieser wissenschaftlichen Tradition von dem Diskurs der Nation und des Staats. In dem Moment, in dem diese institutionellen Formen des modernen philosophischen und politologischen Diskurses – Nation und Staat – eine irreversible Krise erlebten, werde eine kritische Beschäftigung mit einer wissenschaftlichen Produktion, die das Politische nicht auf diese Grundkategorie beschränkt, notwendig (ebd., 23). Im Anschluss an Esposito lässt sich somit behaupten, dass die Relevanz der italienischen Philosophie weder eine Mode noch das Ergebnis des Erfolgs ihrer intellektuellen »Stars« ist. Im Gegensatz dazu sind italienische AutorInnen und die Italian Theory interessant, da sie Alternativen zu den vorherrschenden Kategorien der Moderne untersuchen und untersucht haben. Obwohl Esposito grundlegende Konzepte für die Analyse des »italienischen Unterschieds« bietet, ist seine Untersuchung vor allem in Bezug auf die Bedeutung des Begriffs »Italien« ambivalent. Zum einen differenziert er Italien, Italienisch und ItalienerInnen von anderen national-territorialen Identifikationsbegriffen, indem er behauptet, dass unter Italien keine Nation verstanden werden könne. Die Lektüre von Pensiero vivente erweckt sogar den Eindruck, dass »Italienisch« das Synonym von »Kosmopolitisch« sei (vgl. ebd., 21). Zum anderen insistiert er auf der Notwendigkeit, die von ihm analysierte philosophische Tradition als italienische zu qualifizieren. Diese Ambiguität führt dazu, dass auch Spinoza und Nietzsche (implizit) als »Italiener« definiert werden, weil sie eine »italienische« analytische Perspektive entwickeln würden (ebd., 32). Doch gleichzeitig sind sie von der Analyse der Pensatori viventi (DenkerInnen des Lebens) ausgeschlossen. De facto sind nur solche AutorInnen Teil der Analyse Espositos, die in den derzeitigen Grenzen des italienischen Staats geboren sind und in einer italienischen Sprache schreiben. Ein anderes Problem seiner Arbeit liegt darin, dass er den aktuellen Status der wissenschaftlichen Produktion in Italien nicht problematisiert. Von seiner Analyse kann deduziert werden, dass Italien ein ideelles Umfeld für die Entwicklung von wissenschaftlicher Produktion sei. Im Unterschied zu diesem positiven Bild leben viele WissenschaftlerInnen in einer sehr prekären beruflichen Situation und sind gezwungen, entweder die Forschung zu verlassen oder in andere Länder zu emigrieren (vgl. Avveduto u.a. 2004).

hergestellt werden muß, zwischen den Parteien, den Gewerkschaften, den Freundeskreisen, der Kirche, dem Norden, dem Süden, der Mafia. All dies ist dafür verantwortlich, daß Italien, ein Staat der Diplomatie ist ohne ein Polizeistaat zu sein, und es ist auch dafür verantwortlich, daß gerade so etwas wie ein Krieg oder eine Guerilla oder ein QuasiKrieg ständig die Existenzform des italienischen Staats ist« (Foucault 2004a, 456).

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In der Debatte über die Aktualität und die Eigenarten der philosophischen Produktion in Italien muss auch die These von Antonio Negri berücksichtigt werden. In seinem Aufsatz La differenza italiana behauptet er, dass der philosophische Diskurs in Italien seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert erlebt habe, während das vergangene Jahrhundert von einer Dekadenz der Philosophie gezeichnet gewesen sei. Laut Negri ist die Entwicklung und die Affirmation des Pensiero debole10 ein Zeichen dieses negativen Prozesses. Allerdings gibt es ihm zufolge innerhalb dieses Niedergangs der Philosophie drei Ausnahmen. Antonio Gramscis Analyse des Fordismus, der Operaismus von Mario Tronti und der Feminismus von Luisa Muraro stellen für ihn grundlegende Beiträge für die Entwicklung des philosophischen Diskurses und der Emanzipation von der kapitalistischen Vergesellschaftung dar (vgl. Negri 2005). Wenn die Analyse Espositos von einem unangemessenen Enthusiasmus bestimmt ist, verrät die Position Negris einen übertriebenen Pessimismus. Seine negative Bewertung kann als Folge der politischen Repression, der er und andere VertreterInnen des Operaismus ausgesetzt waren, interpretiert werden. Das Problem seiner Darstellung liegt darin, dass er nur zwei Diskurse in der philosophischen Traditions Italiens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anerkennt – den Operaismus, der die politischen und emanzipativen Bewegungen verkörpere und das »schwache Denken«, das einen politischen Opportunismus darstelle. Diese Dichotomie verhindert eine kritische Bewertung der Situation des Wissens in Italien. Die verschiedenen Darstellungen der philosophischen und wissenschaftlichen Diskurse in Italien enthüllen einen Teil dieser wissenschaftlichen Tradition und heben deren relevante Aspekte hervor. Diese banale Aussage verweist darauf, dass jede dieser Darstellungen für das Verständnis des philosophischen und wissenschaftlichen Diskurses in Italien nützlich ist. So wie es schwierig und problematisch ist, eine »italienische« Identität zu definieren, ist es schwierig zu bestimmen, was unter Italian Theory zu verstehen ist. Während es unzulässig ist, diese Tradition auf den konservativen Historizismus zu reduzieren, ist es auch falsch, diese Forschungsperspektive in der Darstellung der italienischen Philosophie zu vernachlässigen oder zu minimieren. Es geht deswegen nicht darum, zu entscheiden, welche dieser hermeneutischen Perspektiven am besten die italienische Philosophie in ihrer Entwicklung darstellt. Vielmehr sind diese Unterschiede und Verschiebungen in der Bewertung der italienischen Philosophie symptomatisch für eine Pluralität, die eine

10 Pensiero debole (Schwaches Denken) ist eine wichtige philosophische Strömung, die in Italien im Anschluss an die Werke von Nietzsche und Heidegger eine besondere Vorstellung der Philosophie als Hermeneutik entwickelt hat. Der wichtigste Vertreter dieser Denkrichtung ist Gianni Vattimo, der die Unmöglichkeit einer ontologischen Gründung behauptet (vgl. Rovatti und Vattimo 1983).

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permanente Konfliktualität produziert, die sowohl gegen die Institutionen als solche als auch gegen das institutionelle Wissen und die dominante Forschungsperspektive gerichtet ist. Wegen der Pluralität der Perspektiven ist es notwendig, für ein besseres Verständnis dieser wissenschaftlichen Tradition weniger von Italian Theory als von Italian Thought zu sprechen, wie dies Timothy Campbell zu Recht vorschlägt (Campbell 2012). Diese Verschiebung von der Analyse der Theorie zur Analyse eines Denkstils11 ist allerdings viel komplexer als von Campbell thematisiert. Für ihn verweist Theory auf das Beobachten, Beschreiben, Entdecken, während sich Thought auf Praxis, Relationalität, Sorge, Spiel, Dankbarkeit gründe. Außerdem betont er, dass eine Theory ein positives Aufnehmen von externen Perspektiven behindere (ebd.). An dieser Darstellung ist jedoch die rigide Opposition von Theorie und Denken zu kritisieren, die seiner Interpretation zugrunde liegt. Denn Theorien sind auch Folgen eines Denkens und das Denken produziert auch Theorie. Das Spezifische der italienischen Produktion von Wissen liegt daher vielmehr in der Auflösung der Dichotomie von Theorie und Praxis und in dem unmittelbaren Verhältnis von Denken und Handeln. Diese Anmerkung wird in den nächsten Paragraphen vertieft, in denen die Charakteristika des Italian Thought thematisiert werden.

1.2 D IE M ODERNE » MADE

IN I TALY «

Um die Charakteristika des Italian Thought zu verdeutlichen, ist eine weitergehende Analyse der Arbeit Pensiero vivente von Esposito hilfreich. Obwohl diese Rekonstruktion wie schon erwähnt von einigen Ambivalenzen – vor allem in der Verwendung des Adjektivs »italienisch« – charakterisiert ist, zeigt sie die grundlegenden Elemente der italienischen Philosophie der Moderne auf. Esposito zeichnet darin einen roten Faden seit dem Beginn des Humanismus bis zu den AutorInnen der Biopolitik nach, der den Grund des Interesses der italienischen AutorInnen an der Biopolitik wie auch das Interesse der zeitgenössischen soziologischen und politologischen WissenschaftlerInnen an dem Italian Thought erklären soll. Meine These diesbezüglich ist, dass Espositos Arbeit einige Themen und Ergebnisse der italienischen Philosophie erklärt; er aber aufgrund seiner Fokussierung auf den Lebensbegriff the Italian Thought nicht hinreichend definieren kann. Seine Forschung ist allerdings insofern wichtig, da sie einige Züge der philosophischen Diskurse in Ita-

11 Hierbei wird Denkstil nach der Bedeutung von Ludwig Fleck verstanden. Als Denkstil versteht er einen Zusammenhang von psychologischen, sozialen, politischen und kulturellen Elementen, die die Produktion von wissenschaftlichen Aussagen beeinflussen (vgl. Fleck 1980).

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lien sichtbar macht, die für die Definition dieses Denkstils weiter bearbeitet werden können. Esposito zufolge unterscheidet sich die Produktion von Wissen in Italien von anderen philosophischen Perspektiven der Moderne zunächst vor allem durch eine spezifische Beschäftigung mit dem Thema des Ursprungs. Während die anderen europäischen Traditionen eine Zäsur von Ursprung und Moderne setzen würden – wie beispielsweise die Philosophien von Hobbes und Descartes –, thematisierten die italienischen PhilosophInnen permanent das Verhältnis von Ursprung und Gegenwart (Esposito 2010a, 24). Ursprung ist hierbei als ein historisches Apriori der rationalen, objektiven Vorstellung der Welt zu verstehen. Allerdings verweist für ihn Ursprung nicht auf eine Art von Mythologie oder ursprüngliche Identität (ebd., 25). Ebenso dürfe dieses »Apriori« der modernen Rationalität nicht als irrational verstanden werden. Der Ursprung ist ihm zufolge keine Substanz, sondern die Voraussetzungen, die das Entfalten von bestimmten Rationalitäten, Institutionen und Diskursen ermöglichen. Esposito spricht von »falda vitale« oder »risorsa energetica« (ebd., 24-25) – Lebenskraft bzw. energetische Rohstoffe auf Deutsch –, um den Ursprung zu charakterisieren. Diese Definitionen verweisen auf eine Materialität und zugleich auf eine Dynamik und Pluralität des Ursprungs. Unter Ursprung versteht Esposito deswegen die »Potentia«12 des Seins als Werden »vor« seiner Gewordenheit in eine historisch-diskursive Form. Der Ursprung sei daher weder historisch noch natürlich, da er eine undefinierte Potentia jenseits der Dichotomie von Natur und Zivilisation, Objekt und Subjekt, Politik und Leben darstelle. Ihm zufolge hat diese Idee des Ursprungs für den philosophischen Diskurs in Italien immer eine wichtige Rolle gespielt, während andere Traditionen diese lebendige Potentia zu begrenzen versucht hätten. Die moderne Philosophie von Thomas Hobbes ist in diesem Sinn paradigmatisch. Bei Hobbes neutralisiert der Souverän die Potentia des Naturzustands – der von ihm als Bellum omnium contra omnes definiert wird – und erlaubt somit die Entstehung der sozialen Ordnung (vgl. Hobbes 1996). Im Unterschied dazu betonen die italienischen PhilosophInnen, so Esposito, dass die Potentia des Ursprungs nicht neutralisiert werden könne, da sie im Entfal-

12 Das italienische Wort Potenza kann mit »Macht« übersetzt werden. Da jedoch der Begriff der Macht ambivalent ist, bevorzuge ich die Verwendung des lateinischen Begriffs »potentia« im Anschluss an Bruno, Spinoza und Deleuze. Während in der lateinischen Sprache ein klarer Unterschied zwischen Potere (Ausübung der Gewalt) und Potentia (Möglichkeit, etwas zu werden) existiert, werden im Deutschen beide Bedeutungen mit dem Substantiv Macht ausgedrückt. Um Missverständnisse zu vermeiden, bietet sich demnach die Verwendung des lateinischen Begriffs Potentia an, der lediglich auf die Möglichkeit verweist, anders zu werden.

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ten des Poltischen, des Sozialen und des Historischen immanent sei. Zudem schätzten sie diese Persistenz der Potentia als positiv ein und unterstrichen vielmehr die Gefährlichkeit ihrer totalen Neutralisierung. Ihm zufolge lässt sich dieser Begriff des Ursprungs – oder besser gesagt die Potentia des Ursprungs – aus den Werken von Machiavelli, Bruno und Vico ableiten. In seiner Lesart ist das Politische bei Machiavelli von einer immanenten Dialektik von Ordnung und Konflikt bestimmt, der von ihm als ursprünglich-potentiales Element definiert wird (Esposito 2010a, 58f.). In der Philosophie Brunos erkennt Esposito einen Lebensbegriff, der als transsubjektiv13 verstanden werden könne (ebd., 62f.), während bei Vico die Geschichte und die Gesellschaft nur durch eine Dialektik von Historischem/Sozialem und Natürlichem entstehen könne (ebd., 83). Insofern beeinflusse das Thema des Ursprungs als Potentia – die auch als regenerative Macht interpretiert werden kann – die Analyse der Politik, des Lebens und der Geschichte in Italien. Es ist zu betonen, dass Esposito zufolge im Zentrum der Philosophie in Italien weder die metaphysische Frage nach den Prinzipien des Seins noch die theoretische und logische Frage nach den Erkenntnisvoraussetzungen stehen. Im Mittelpunkt stehe immer das Verhältnis zwischen Leben, Politik und Geschichte. Für ihn führt diese Forschungsorientierung, in der das Politische, das Anthropologische/Biologische und das Historische zusammen untersucht werden, zur Entwicklung eines interdisziplinären theoretischen Rahmens. Die Interdisziplinarität der italienischen Philosophie wird zwar von ihm erwähnt (ebd., 13), aber nicht vertieft. Er hebt lediglich hervor, dass die italienische Philosophie kein Fachlexikon für ihre Analyseobjekte entwickele, sondern zu deren Darstellung oft eine externe Sprache wie die poetische oder die politische verwende (ebd.). Aus den Werken von Machiavelli, Bruno und Vico kann laut Esposito nicht nur der Begriff des Ursprungs abgeleitet werden, sondern auch drei Paradigmen, die die Entfaltung der wissenschaftlichen Produktion in Italien bestimmen. Das erste Paradigma wird von ihm als »immanentizzazione dell’antagonismo« definiert (ebd., 25). Es ist schwierig, diesen Begriff buchstäblich zu übersetzen. Esposito versteht darunter einen theoretischen Prozess, durch den der soziale und ontologische Antagonismus als immanente Triebkraft der Geschichte und des Politischen interpretiert wird. Diese Theorie habe ihren Ausgangspunkt bei Machiavelli, werde aber auch von operaistischen AutorInnen wie Tronti und Postoperaisten wie Negri weiterentwickelt. Im Unterschied zu Hobbes dürfe der Antagonismus für

13 In seiner Analyse des Lebensbegriffs in der Philosophie Brunos hebt Esposito hervor, dass in dieser Perspektive das Leben nicht als individuell, sondern als transindividuelle Substanz gedacht werde, die Körper und Geist, aber auch verschiedene Wesen in Verbindung bringe (siehe Esposito 2010a, 60-71).

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die italienischen AutorInnen nicht nur nicht neutralisiert, sondern müsse sogar gefördert werden (ebd., 26). Diese Theoretisierung des immanenten Antagonismus hat Esposito zufolge die italienischen AutorInnen zur Lektüre von Nietzsche und Foucault, die diesen Topos auf eine neue Art reflektiert haben, und darüber zum Thema der Biopolitik geführt (ebd., 27). Esposito verweist darauf, dass die italienische Philosophie immer das Leben als einen antagonistischen Prozess gedacht habe. Da das Politische der Raum dieser Lebensform sei, müsse es auch von dem lebendigen Antagonismus geprägt sein. Dazu kommt für ihn, dass die italienische Philosophie schon in ihren ersten Werken biopolitisch sei; infolgedessen erkennt er sogar in Machiavelli einen »biopolitischen Zug« (ebd., 52). Diese Art der Rekonstruktion zeigt hier eine weitere Ambivalenz, die als eine Folge der Annahme Espositos angesehen werden kann, dass zwischen der italienischen Philosophie und dem Thema der Biopolitik eine originäre Verbindung bestehe. Wenn die Biopolitik als Kontrolle und/oder Regulierung des Lebens durch objektives Wissen definiert wird, inwiefern kann dann eine antagonistische Politik biopolitisch sein? Vielmehr lässt sich behaupten, dass ausgehend von einem ontologischen Antagonismus eine andere Vorstellung von Biopolitik definiert werden kann. Allerdings wird diese Perspektive in dieser Arbeit von Esposito nicht weiter thematisiert. Er versucht lediglich, die Zentralität der Biopolitik in der modernen italienischen Philosophie ausgehend von Machiavelli zu erklären und eine biopolitische Matrix aufzuzeigen, die die Entwicklung des Wissens in Italien von Beginn an geprägt habe. Jenseits dieser Ambivalenz ist das Thema des immanenten Antagonismus ein Merkmal der italienischen Philosophie, aus dem zwei von ihm nicht hinreichend analysierte theoretische Konsequenzen resultieren. Die erste betrifft eine Problematisierung der Idee des Fortschritts der Geschichte. Wenn der Antagonismus konstitutiv und immanent ist, dann kann eine Auflösung der Konfliktualität kein Fortschritt, sondern nur ein prekäres Ergebnis von Kämpfen sein. Dazu kommt, dass in der Geschichte 14 oder in der Entwicklung der politischen und sozialen Institutionen immer Kontinuitäten und Wiederholungen, aber auch Diskontinuitäten sichtbar gemacht werden können. Aus der Perspektive der AntagonistInnen wird sowohl die Idee eines positiven dialektischen Fortschritts als auch die Idee eines negativen Rückfalls abgelehnt. Zudem kann die Analyse der Geschichte eine strategische Funktion ausüben. Für italienische PhilosophInnen ist der Vergleich von Vormoderne, Moderne und Postmoderne grundlegend für das Verständnis der kontingenten und immanenten Krisen des Politischen. Mit anderen Worten können durch Analysen vergangener Krisen des Politischen und des Sozia-

14 Hierbei soll Geschichte nicht nur als Historiografie der sozialen und politischen Ereignisse, sondern auch als die Produktion von wissenschaftlichen Diskursen wie auch von künstlichen und technologischen Werken verstanden werden.

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len Kategorien und Modelle für die Praxis und das Verständnis aktueller Machtverhältnisse formuliert werden. Die zweite Konsequenz betrifft die genealogische Orientierung des italienischen philosophischen Diskurses. Wenn im Ursprung nur Konflikt existiert und dieser allein einen affirmativen politischen Raum schaffen kann, dann muss untersucht werden, wie diese Antagonismen im Lauf der Geschichte funktioniert haben. Diese Forschungsperspektive impliziert, dass der/die WissenschaftlerIn die Perspektive der »Gewinner« in Frage stellen und das »Schlachtfeld« rekonstruieren muss. Diese zwei Folgen sind miteinander verbunden und sie bestimmen einen gemeinsamen hermeneutischen Horizont. Es muss betont werden, dass die Idee einer genealogischen Orientierung der italienischen Philosophie sich durch eine von der Lektüre von Nietzsche und Foucault beeinflussten Bewertung a posteriori ergibt. Hier soll daher nur verdeutlicht werden, dass die Formulierung und die Persistenz der These des immanenten Antagonismus innerhalb der italienischen Philosophie das Interesse an Nietzsches Genealogie und später an Foucaults Forschungen über Machtverhältnisse gewissermaßen erleichtert hat. Die »Entdeckung« der Biopolitik ist nur eine weitere Folge dieses Interesses, das nicht unmittelbar auf die Beschäftigung mit dem Thema des Antagonismus zurückgeführt werden kann, wie Esposito behauptet. Das zweite Paradigma der italienischen Philosophie ist ihm zufolge die Historisierung des »Nicht-Historischen« – auf Italienisch Storicizzazione del non storico – (ebd., 27). Damit verweist er zunächst auf Vicos Theorie der historischen und sozialen Entwicklung. Im Anschluss an Vico entwickele sich in Italien demnach eine Idee der Geschichte, die nicht auf dem Paradigma der Säkularisierung beruhe, das die anderen modernen Traditionen präge (ebd., 28). Für Vico und andere »ItalienerInnen« spiele die Natur – das Nicht-Historische – eine wichtige Rolle in der historischen Entwicklung (ebd.). Anders ausgedrückt, lasse sich für die italienischen AutorInnen das Menschliche nicht von seiner Animalität trennen und deswegen sei es unmöglich, Natur und Kultur, Geist und Körper als unabhängige Dimensionen zu denken. Diese Interpretation beruht nach Esposito vor allem auf den »Philosophien« von Cuoco15 und Leopardi,16 die ausgehend von einer nihilistisch-vitalisti-

15 Vincenzo Cuoco war ein neapolitanischer Philosoph und Historiker des 19. Jh. Seine wichtigste Arbeit ist Saggio storico sulla rivoluzione napoletana (»Historischer Aufsatz über die neapolitanische Revolution«), in der er die Ereignisse der neapolitanischen Revolution des Jahres 1799 rekonstruiert und kommentiert. Die grundlegende These Cuocos lautet, dass die Revolution in Neapel wegen der Theorien der Philosophen der Aufklärung gescheitert sei. Deren Schuld bestehe darin, dass sie die Menschen mit einer philosophischen Perspektive zu leiten versucht hätten, ohne die Natur der Menschen berücksichtigt zu haben.

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schen Perspektive die Zivilisationsprozesse des Humanismus und der Aufklärung bereits im 19. Jahrhundert in Frage stellten. Vor allem die Annahme, dass die Menschheit durch den Geist bzw. geistige Kategorien regiert werden könne, werde von Cuoco und Leopardi hinterfragt (ebd., 109f., 114). Diese intelligible Perspektive vernachlässige die nihilistische Struktur der Natur und des Lebens und führe deshalb zum Scheitern (ebd., 122). Insofern solle das Leben in seiner ethischen und politischen Entwicklung diese nihilistische, immanente Natur berücksichtigen und sie affirmativ umkehren. Espositos Darlegung des zweiten Paradigmas der italienischen Philosophie bleibt jedoch unklar. Es ist schwierig zu verstehen, was dieses zweite Paradigma genau bedeuten soll. Er versucht eine spezifische Art von Historiografie darzulegen, die im Grunde eine Kritik der Zivilisationsprozesse durch eine nihilistischkosmologische Ontologie ist. Das eigentlich Interessante ist jedoch nicht die Historisierung des Nicht-Historischen, sondern die binäre Ontologie, die die Dialektik von Natur und Gesellschaft nie in einer Synthese aufhebt und insofern die Prämisse für eine alternative ethisch-politische Praxis darstellen könnte.17 Das dritte Paradigma der italienischen Philosophie wird von Esposito als »Mundanisierung des Subjekts« – mondanizzazione del soggetto auf Italienisch – bezeichnet. »Mondo« bedeute auf Italienisch »Welt« und »Mondanizzazione« bezeichnet den Prozess, in dem sich das Subjekt durch seine Erfahrung in der Welt bildet. Die italienischen PhilosophInnen haben ihm zufolge eine Vorstellung des Subjekts formuliert, die sich von anderen modernen Theorien des Subjekts unterscheidet. Während anderen philosophischen Traditionen die Idee des Subjekts der Erkenntnistheorie und der Rationalität zugrunde liege, beruhe die »italienische« Vorstellung des Subjekts auf der Praxis. Für die »ItalienerInnen« sei die Definition

16 Giacomo Leopardi ist einer der wichtigsten Dichter und Philosophen des 19. Jahrhunderts. Seine künstlerische Produktion wie auch seine Essays antizipieren Themen des Existenzialismus und der europäischen tragischen Philosophie (Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger). Allerdings unterscheidet sich die Beschäftigung Leopardis mit existenzialistischen Themen von den AutorInnen des Existenzialismus sowohl durch eine scharfe Kritik an der Philosophie und der Wissenschaft, vor allem in ihrem Wahrheitsanspruch, als auch durch die Kritik am Humanismus. An dessen Stelle tritt bei Leopardi, dessen Denken sehr rational war, nicht ein Lob der Irrationalität oder des Vitalismus. Vielmehr gelangt er zu einer Reflexion über einen Ethos – oder ein ethisches Handeln –, dem der Nihilismus des Seins bewusst ist. 17 Zu diesem Schluss kommt Negri in seiner Arbeit über Leopardi Lenta Ginestra. Saggio sull’ontologia di G.Leopardi (Negri 1987). Sehr Relevant für das Verständnis des Nihilismus bei Leopardi ist der wunderbare Essay des Philosophen Emanuele Severino Il nulla e la poesia. Alla fine dellʼetá della tecnica: Leopardi (Severino 1990).

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einer Subjektivität unmöglich, die nicht von ihrem »in der Welt zu sein« ausgehe. Dazu komme, dass die italienische Philosophie praxisorientiert sei, wie die Perspektiven von Gramsci und Gentile zeigen würden. Außerdem entziehe sich diese Idee der Subjektivität jedem Identifikationsprozess, da die Praxis das Subjekt in einem ständigen Transformationsprozess versetze. Aus diesem Grund bietet die Philosophie in Italien laut Esposito theoretische Werkzeuge für die Dekonstruktion moderner Subjektivierungsprozesse. Ein Beleg dafür sei die Zentralität des Themas der Communitas (Gemeinschaft) in der aktuellen philosophischen Debatte in Italien. Dabei geht es nicht um die Suche nach einem biologischen oder nationalistischen »Grund« der Gemeinschaft, sondern um die Möglichkeit, eine Gemeinschaft ohne Fundament und Identität zu denken. Das Wichtigste an diesem dritten Paradigma ist die Anmerkung, dass sich in Italien eine praxisorientierte philosophische Perspektive entwickelt hat. Es handelt sich nicht nur um eine theoretische Orientierung, sondern um eine wechselseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis. Mit anderen Worten kann die Philosophie in Italien daher auch als »politischer Beruf« interpretiert werden. Die philosophische Tätigkeit impliziert nicht nur die Theoretisierung, die Darlegung und die Vermittlung einer Praxis, sondern auch das Teilnehmen an politischen Kämpfen, wie die Biographien von Machiavelli, Bruno, Gentile, Gramsci oder Negri zeigen. Gewissermaßen gilt für italienische PhilosophInnen, was Foucault über seine theoretische Produktion gesagt hat: »Insofern wird die Theorie nicht eine Praxis ausdrücken, übersetzen oder anwenden: Sie ist eine Praxis« (Foucault 2002, 384). Der Aspekt hingegen, der in Espositos Rekonstruktion des dritten Paradigmas nicht überzeugt, ist die angenommene Verbindung von praxisorientierter Philosophie und der Forschung über die Gemeinschaft. Die Forschungen über die Gemeinschaft sind stark von dem französischen Dekonstruktivismus im Anschluss an Derrida und Nancy geprägt. Nancy beispielsweise verknüpft seine Perspektive auf die Gemeinschaft mit dem Begriff der Untätigkeit (vgl. Nancy 1988). Aus diesem Grund ist zu hinterfragen, inwiefern die Untätigkeit mit einer praxisorientierten Philosophie verbunden werden kann. Vielmehr kann das Gegenteil behauptet werden. Der Dekonstruktivismus und seine Kategorien eignen sich eher weniger für eine praxeologische Philosophie, sodass sich die italienischen AutorInnen der Genealogie und dem Thema der Biopolitik zugewendet haben. Die Leistung von Espositos Arbeit besteht darin, dass er die Relevanz der philosophischen Untersuchungen in Italien für die aktuelle politische und gesellschaftstheoretische Debatte aufzeigt. Deren ausgebliebene Rezeption kann heute als Vorteil angesehen werden, da sie Elemente für eine neue Analytik des Politischen bieten. Aus der Rekonstruktion Espositos lässt sich schließen, dass in Italien das Politische, das Soziale und das Ontologische nicht als getrennte Ebenen oder Diskurse interpretiert werden. Er hält fest, dass sich dieser interdisziplinäre Diskurs als Pen-

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siero vivente (lebender Gedanke) definieren lässt. Diese These gründet er darauf, dass sich die verschiedenen Ebenen – die politische, die ontologische und die historische – immer ausgehend von einer Vorstellung des Lebens entfalten würden. Allerdings ist es zu hinterfragen, ob diese These nicht vielmehr auf seinem Bedürfnis basiert, die italienische Philosophie unbedingt mit dem Thema der Biopolitik zu verbinden. Der Begriff des Lebens der von Esposito analysierten PhilosophInnen ist dagegen vielmehr existenzial oder, besser gesagt, ontologisch. Bei Bruno oder Leopardi ist das Leben kein Objekt des Wissens oder ein von der Politik verwendetes Wissen, sondern ein immanentes, kosmologisch-ontologisches Prinzip. Die Annahme, dass Espositos Interpretation des Lebensbegriffs bei Machiavelli und Leopardi eine Fehldeutung ist, wird implizit von Negris Analyse der Philosophien von Machiavelli und Leopardi bestätigt. Negri interpretiert Machiavelli und Leopardi nicht als Biopolitiker ante litteram, sondern als Autoren, die Elemente für die Definition einer neuen Ontologie darbieten (vgl. Negri 1987). Auch für Negri kann der ontologische nicht von dem politischen Diskurs getrennt werden, aber bei ihm wird deutlich, dass der ontologische Diskurs dieser Autoren nicht unmittelbar auf das Paradigma der Biopolitik zurückgeführt werden kann. Insofern sollte ein Aspekt angemerkt werden, den Esposito nicht berücksichtigt: Die italienischen AutorInnen sprechen von Ontologie, von Politik oder von Geschichte, aber nicht von Gesellschaft. Eine Soziologie oder Gesellschaftswissenschaft als solche wird in Italien kaum thematisiert. Das bedeutet nicht, dass soziologische Analysen fehlen würden. Vielmehr ist zu bemerken, dass bei den angesprochenen italienischen PhilosophInnen das Soziale dem Politischen und Ontologischen untergeordnet wird.18 Davon ausgehend taucht in der Geschichte der italienischen Philosophie eine Kritik des Zivilisationsprozesses auf, dem ein heraklitischer oder spinozistischer Begriff der Realität zugrunde liegt. Jenseits der Frage, ob sich in Italien eine Lebensphilosophie oder eher eine immanente Ontologie entwickelt hat, gibt es in der Rekonstruktion Espositos eine argumentative und methodologische Unklarheit. Es bleibt beispielsweise die Frage, worin der Italian Thought genau besteht, unbeantwortet. Esposito führt die verschiedenen Perspektiven des italienischen philosophischen Diskurses auf eine Theorie des lebenden Gedankens zurück. Zugleich thematisiert er jedoch auch andere leitende Paradigmen der italienischen Philosophie. In einigen Passagen erklärt er zum Beispiel, das Merkmal der italienischen Philosophie sei eine Art vitalisti-

18 Paradigmatisch in dieser Hinsicht ist auch die Rezeption des Werks von Max Weber, die In Italien stark von der Interpretation des nietzscheanisch-marxistischen Autors Nicola Massimo De Feo geprägt ist. De Feo interpretiert Webers Theorie ausgehend von einer Analyse des politischen und existenziellen Kontextes, der Webers wissenschaftliche Produktion beeinflusste (vgl. De Feo 2000).

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sche Ontologie. In anderen hingegen hebt er hervor, dass sie von der Beschäftigung mit dem Begriff des Ursprungs charakterisiert sei. Daraufhin spricht er von drei Paradigmen, die den Kern der italienischen Philosophie bildeten. Das Problem hierbei liegt allerdings darin, dass Esposito die Themen, die Theorien und die Ergebnisse der philosophisch-wissenschaftlichen Produktion in Italien darlegt, er aber nicht erklärt, was eigentlich diesen Denkstil charakterisiert. Außerdem sind diese Theorien und Perspektiven nicht ausschließlich italienisch. Er selbst spricht von Analogien zwischen dem philosophischen Diskurs in Italien und Spinoza, Nietzsche und Foucault. Daher liegt die Frage nahe, warum er von einem bestimmten italienischen Denkstil spricht. In seiner Arbeit definiert Esposito the Italian Thought nur negativ im Kontrast zu anderen philosophischen Diskursen der Moderne. Er verweist somit mehr darauf, was dieser Denkstil nicht ist, aber nicht was er ist. Die methodologische Unklarheit seiner Arbeit betrifft vor allem seine undefinierte Darstellung des Paradigmas. Wenn er von »Paradigmen« spricht, ist nicht klar, auf welche Konzeption des Paradigmas er sich bezieht. Zwar entwickeln sich die italienischen Philosophien in einem interdisziplinären Rahmen, in dem die Begriffe Leben, Geschichte und Politik immanent entfaltet werden; doch er erklärt nicht, wie diese heterogenen Forschungsfelder miteinander verbunden sind. Wenn in Italien nicht die Theorie (theory), sondern der Gedanke (thought) das Entscheidende ist, dann lässt sich dieser Denkstil bei Esposito nicht vollständig verstehen. In seiner Rekonstruktion können die Themen, Theorien und Ergebnisse der Forschung einiger AutorInnen verstanden werden, jedoch nicht, wie die heterogenen Elemente des Lebens, der Politik und der Geschichte in Verbindung gesetzt werden; obwohl für ihn gerade diese Verbindung das Telos des Italian Thought ist. Meine These lautet, dass Espositos Rekonstruktion durch die Perspektive eines anderen italienischen Philosophen – Enzo Melandri – ergänzt werden muss. Melandri beschäftigt sich weder mit dem Thema der Biopolitik noch mit der Geschichte der italienischen Philosophie. Die Relevanz seiner Forschung liegt allerdings darin, dass er die Rationalität, die Formen und die Weise analysiert hat, die der Verbindung von heterogenen Elementen zugrunde liegt. Wenn die Philosophie in Italien von der interaktiven Verbindung und nicht von der oppositiven Dichotomisierung von Geschichte und Gegenwart, Natur und Kultur, Subjekt und Welt charakterisiert ist – wie in Espositos Rekonstruktion deutlich wird – dann können the Italian Thought und die italienischen Theorien der Biopolitik durch die Rationalität erklärt werden, die heterogene Elemente miteinander in Verbindung bringt.

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1.3 D AS

ANALOGISCHE

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D ENKEN

Espositos Rekonstruktion vermag aufgrund seiner Tendenz, die italienische Philosophietradition durch ihre »Italianität« des Denkens sowie ihr Theoretisieren des Lebensbegriffs zu bestimmen, nicht zu überzeugen. Daher ist es notwendig, eine alternative methodologisch-hermeneutische Strategie zu verwenden, um the Italian Thought definieren zu können. Zunächst gilt es jedoch, sich von der Idee freizumachen, dass ein Italian Thought existiert; die Analyse wird sich daher nicht auf die »Italianität« des Denkens, sondern auf dessen spezifische Rationalität konzentrieren. Insofern muss bestimmt werden, welcher rationale Prozess eine Verbindung heterogener Elemente wie biologisches Wissen und politisches Handeln, ontologischer Diskurs und Hermeneutik der historischen Ereignisse vermag. Demnach wird im Folgenden nicht the Italian Thought, sondern ein Denkstil definiert, den viele italienische PhilosophInnen verwendet haben. Die Darlegung des analytischen Rahmens der italienischen PhilosophInnen verfolgt zwei Ziele. Erstens erlaubt es ein besseres Verständnis der philosophischen Perspektiven auf die Biopolitik von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito. Zweitens kann dieser analytische Rahmen dazu dienen, die Analytik der Biopolitik weiter zu entfalten. Wie bereits im letzten Paragraph angedeutet, lässt sich der von den italienischen AutorInnen verwendete Denkstil als analogisch definieren. Der Autor, der diesen am eingehendsten ausgearbeitet hat, ist Enzo Melandri. Melandri war ein italienischer Philosoph, der an verschiedenen italienischen Universitäten gelehrt und seine philosophischen Untersuchungen durchgeführt hat. Er hat sich dabei mit verschiedenen philosophischen Themen – von der Epistemologie über die Psychologie und Phänomenologie bis zur Politik – beschäftigt. La linea e il circolo (dt: »die Linie und der Kreis«), das 1968 veröffentlicht wurde, ist als sein Hauptwerk zu betrachten (Melandri 2004). Es handelt sich um ein monumentales und komplexes Werk, das nach der Ansicht des Autors die Idee der Rationalität und die wissenschaftliche Argumentationsweise neu zu definieren versucht. Obwohl La linea e il circolo eine marginale Rolle in der nationalen und internationalen Rezeption gespielt hat, ist es nach dem Urteil Giorgio Agambens in seiner Einführung zur zweiten Ausgabe des Werks »eines der bemerkenswertesten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts« (Agamben 2004a, XI, Übers. R. G.).19

19 Für Agamben stellt es einen Vorteil dar, dass das Werk von Melandri nach seiner ersten Veröffentlichung (1968) nicht breit diskutiert wurde, da es auf diese Weise seine Originalität und sein hermeneutisches Potenzial bewahrt habe. Es kann zunächst überraschen, dass Agamben ein Werk wie La linea e il circolo, das kaum rezensiert wurde, als eines der wichtigsten des vergangenen Jahrhunderts betrachtet. Allerdings argumentiert er zutreffend, dass die ausgebliebene Rezeption als Folge der besonderen Struktur der italieni-

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Das Thema dieses Werks ist die Analogie, die für Melandri eine Art des Denkens und der rationalen Argumentation ist, die im Gegensatz zur Logik steht. Melandri betont, dass in der Geschichte der Philosophie und der Logik die analogische Argumentation nur als Erklärungsstrategie, nicht als Erkenntnisform anerkannt werde (Melandri 2004, 39). Sein Ziel besteht daher darin, das analogische Denken und die analogische Argumentation als Erkenntnisform zu entwickeln. Es ist wichtig zu betonen, dass die Logik für Melandri nicht die einzige rationale Erkenntnisform ist (ebd., 28). Für ihn sind unlogisch und irrational keinesfalls Synonyme. Die Analogie sei insofern »unlogisch«, aber rational; sie folge nicht den Regeln der logischen Argumentation, sondern basiere auf den Regeln der analogischen Argumentation (ebd., 311). Er geht dabei von der Annahme aus, dass der Gebrauch von Analogien eine sehr diffuse sprachliche Praxis sei (ebd., 10). Analogien würden in dem Moment verwendet, in dem sich ein Phänomen oder ein Verhältnis nicht durch die kanonische Sprache erklären lasse (ebd., 198). Er betont in seiner Arbeit daher, dass die Erklärungsfunktion der Analogie bereits von vielen Autoren anerkannt werde. Abgelehnt werde jedoch die Idee, dass durch die Analogie eine bestimmte Realität verstanden werden könne (ebd., 199). Melandris ambitionierte These besteht darin, dass es durch die analogische Argumentation möglich sei, etwas zu beweisen. Dieses »Beweisen« ist als »Verstehen« oder »Sichtbarmachen« einer Komplexität zu interpretieren,20 die im Rahmen der kanonischen Epistemologie nicht verstanden werden kann.21

schen Akademie und der Praxis des Rezensierens angesehen werden kann, die nur die Arbeiten der anerkannten und vernetzten WissenschaftlerInnen berücksichtigt (Agamben 2004a, XII). Die Ablehnung von Melandris Arbeit kann daher als Zeichen des Antagonismus und der Machtverhältnisse innerhalb der italienischen Akademie interpretiert werden. 20 Melandri erarbeitet seine Thesen über die Analogie in einer permanenten Auseinandersetzung mit der Logik. Es geht ihm um eine »analogische Konfrontation«, die die Formen der rationalen Argumentation zu unterscheiden erlaube. Um diese Auseinandersetzung zu ermöglichen, sei es notwendig, die Wissenschaftlichkeit der analogischen Argumentation anzuerkennen. Deswegen definiert Melandri die Kriterien für eine analogische Prädikation, die der logischen Prädikation entgegengesetzt werden könne (vgl. Melandri 2004, 375). 21 Zum besseren Verständnis des Ausgangspunkts von Melandris Forschung eignet sich ein Beispiel aus seinem Werk. Melandri spricht oft von der sogenannten »Krise des Irrationalen« (Melandri 2004, 257f.), die die antike Mathematik in Stillstand versetzte. Die Krise wurde von der Entdeckung der Inkommensurabilität von Seite und Diagonale in einem Quadrat verursacht. Dies stellt Melandri zufolge den Prototyp der wissenschaftlichen

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Zunächst erklärt Melandri, dass die Analogie zu verwenden sei, um das Verhältnis zwischen zwei Elementen zu verstehen. Für ihn sind alle Analogien, die auf dem Modell A=B beruhen, falsch. Diese Analogien erlaubten es nicht, das Element A von Element B zu unterscheiden und führten deswegen zu undefinierten, mehrdeutigen Schlüssen. Ihm zufolge muss eine Analogie nach dem Modell A:B=C:D formuliert werden (ebd., 312-317). Die Analogie stelle nicht fest, was A bzw. B, C, D sind, sondern vielmehr, dass das Verhältnis von A und B ähnlich oder analogisch zum Verhältnis von C und D ist. Die Analogie untersucht daher nicht, was etwas ist, sie versucht zu erfassen, wie zwei Elemente miteinander verbunden sind; insofern konzentriert sie sich auf das »Wie?«. Foucaults Analyse des Panoptismus bietet ein aufklärendes Beispiel für diese Argumentationsweise. In Überwachen und Strafen (Foucault 2010) analysiert Foucault die Entwicklung und die Funktionsweise der disziplinären Dispositive, die die Bildung der Individuen und der Gesellschaft in so unterschiedlichen Institutionen wie dem Gefängnis und der Schule orientieren. Foucault behauptet jedoch nicht, dass die Schule ein Gefängnis sei. Vielmehr existiere zwischen Schule und Gefängnis ein analogisches Verhältnis. Beide Institutionen würden demnach nach dem Modell der Überwachung und der Disziplin organisiert. Dieses Verhältnis lässt sich somit nicht nach der Formel Gefängnis = Schule (A=B) darstellen. Vielmehr steht der Schüler (A) zur Schule (B) im gleichen Verhältnis wie der Gefangene (C) zum Gefängnis (D). Somit erlaubt das Verständnis der Entwicklung des Gefängnissystems auch das Verständnis des Erziehungsmodells und vice versa (vgl. ebd.). Melandri behauptet in seiner Arbeit, dass ein Begriff oder ein Schluss analogisch sei, wenn dieser weder eindeutig noch mehrdeutig sei (ebd., 312). In dem Maße, in dem die analogische Argumentation nicht für die Definition eines Elements (was ist A oder B?), sondern für das Verständnis eines Prozesses oder einer Interaktion verwendet wird, wird im Anschluss an Melandri deutlich, dass aus analogischen Argumentationen keine eindeutigen Definitionen folgen können. Es ist jedoch schwierig, das Problem der Mehrdeutigkeit aufzulösen. Um diese Problemstellung zu verdeutlichen, ist es notwendig, Aristotelesʼ Definition wissenschaftlicher Argumentation heranzuziehen, mit der sich Melandri eingehend beschäftigt. Für Aristoteles folgen aus Analogien keine wissenschaftlichen Aussagen. Ihm zufolge kann die Analogie für die Poetik verwendet werden, aber nicht für die Wis-

Aporie dar, die nicht im kanonischen Wissenschafts-system aufgelöst werden könne. Eine Aporie von dieser Art lasse sich auflösen, indem sie in einen neuen semantischen Rahmen eingesetzt werde, der die Verwendung neuer Begriffe und Instrumente erlaube (in diesem Fall werde die Aporie durch die Infinitesimalrechnung aufgelöst). Melandri möchte die Praxis verstehen, erklären und definieren, die zur Formulierung eines neuen theoretischen Rahmens führt.

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senschaft, in der nur die logische Argumentation zulässig sei. Melandri beschäftigt sich intensiv mit Aristotelesʼ Position, die die Produktion des Wissens des Abendlandes nachhaltig geprägt hat (vgl. Melandri 2004, 207 und 317-320). Die logische Argumentation kann Aristoteles zufolge entweder deduktiv (vom Universalen zum Besonderen) oder induktiv (vom Besonderen zum Universalen) erfolgen. Im Gegensatz dazu geht laut Aristoteles die Analogie vom Besonderen zum Besonderen, weshalb es für ihn unmöglich ist, durch analogische Argumentationen wissenschaftliche Aussagen zu formulieren (ebd., 318). Für Melandri führt diese Problemstellung zu einem Missverständnis der Analogie, da auf diese Weise nicht berücksichtigt werde, dass Logik und Analogie bzw. deduktive/induktive Argumentation und analogische Argumentation zwei verschiedene Objekte analysierten. Die erste definiere Wesen oder Genus, während die zweite interaktive Prozesse sichtbar mache (ebd., 320). Insofern folgten Logik und Analogie zwei verschiedenen Systemen der Entwicklung von Diskursen. Die Logik gründet auf dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (A oder -A), auf dem Satz vom Nichtwiderspruch (A≠ -A) und auf dem Prinzip der elementaren Identität (ebd., 374). Dieses System produziert vor allem eindeutige Dichotomien (A oder -A) und stößt gegen Aporien und Paradoxe in dem Moment, in dem ein bestimmtes Phänomen – wie z.B. die Interaktion von Leben und Politik, die zugleich positiv und negativ sein kann – sich nicht in dieses Schema einordnen lässt. Was für die Logik einen Widerspruch darstellt, ist Melandri zufolge für die analogische Denkweise der Ausgangspunkt für die Produktion neuer Kategorien und Begriffe (ebd., 324). Die Analogie neutralisiere die logische und kontrastive Dichotomie (wie z.B. partikular/universal) in einem hermeneutischen Feld, in dem die dichotomischen Prinzipien (A und -A) polare Spannungen eines bi-polaren Systems würden. Das Bild des Magnetfelds bietet eine Metapher für diese Form des Erkenntnisfeldes. Nach dem Satz des Nichtwiderspruchs darf in einem logischen System »A« nicht gleichzeitig auch »nicht A« sein. Dagegen sind Melandri zufolge in einem analogischen System A und -A als polare und intensive Spannungen – wie in einem Magnetfeld – zu interpretieren (ebd., 328 und 375). Insofern seien in diesem System die verschiedenen Grade oder Stufen zwischen einer absoluten Negativität (-A) bis zu einer absoluten Positivität (A) grundlegend. Somit gibt es für Melandri immer ein Drittes – »B« – zwischen A und nicht A, das durch die Interaktion von A und -A entsteht. Agambens Aussagen über Demokratie und Totalitarismus (vgl. Agamben 2002) können hier als erklärende Beispiele herangezogen werden. Wenn Demokratie (A) und Totalitarismus (-A) als dichotomische Kategorien – das »Gute« und das »Böse« des Politischen – betrachtet werden, ist es unmöglich zu verstehen, warum Diskriminierungen, Ausschließungen und Missbrauch der Menschenrechte auch in demokratischen Gesellschaften und politischen Systemen systematisch auftauchen. Wenn diese Dichotomie dagegen neutralisiert wird und

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Demokratie und Totalitarismus als Pole eines analogischen Felds betrachtet werden, entwickelt sich ein theoretischer Rahmen, in dem die Interaktion von entgegengesetzten Formen der Ausübung von Macht verständlich und analysierbar wird. Somit wird auch das elementare Identitätsprinzip in Frage gestellt. 22 Melandri behauptet, dass in der analogischen Argumentation nur das Prinzip der funktionalen Identität gelte (vgl. ebd., 375). Ein Phänomen werde somit nur relativ, in Bezug auf eine bestimmte Interaktion oder einen Prozess interpretiert. Das Prinzip der Bipolarität ist hierbei grundlegend, da dadurch die Dichotomien neutralisiert und die Gegenteile oder die heterogenen Elementen in Verbindung gesetzt werden (vgl. ebd., 328, 369-374). Was bedeutet »Neutralisierung der Dichotomie«? Für Melandri bedeutet dies, von der »Komplementarität durch Widerspruch« zu einer »Komplementarität durch Opposition« überzugehen (ebd., 369). Die Argumentation solle daher vom logischen Schema A≠-A zum analogischen Schema A-A übergehen. Während innerhalb des ersten Erklärungsmodells A in Bezug auf seine mögliche Negation -A durch den Satz des Nichtwiderspruchs definiert werde, würden A und -A in einem analogischen Erklärungsmodell als Pole gesetzt, die im Gegensatz zueinander stünden (ebd.). Für Melandri ist »im Gegensatz zueinander stehen« eine Interaktion und die »Komplementarität durch Opposition« schließt jede Stufe zwischen den Spannungspolen (A und -A) ein (ebd.).23 Das Thema der vorliegenden Arbeit bietet ein weiteres Beispiel für das, was Melandri als »Komplementarität durch Oppositionen« bezeichnet: Ist die Biopolitik eine Politik des Lebens oder des Todes? Diese Fragestellung geht davon aus, dass nach der (mono-)logischen Denkweise eine Politik entweder »positiv« oder »negativ« sein kann. In einem analogischen Erklärungsmodell hingegen können die Politik des Lebens und die Politik des Todes als zwei entgegengesetzte polare Spannungen interpretiert werden, von deren Interaktivität aus sich das Politische entfal-

22 Melandri interpretiert das Prinzip der elementaren Identität als theologischen Archetyp, d.h. als Grenze gegen die Unendlichkeit. Für Melandri geht es dabei jedoch nicht um ein ontologisches Prinzip, sondern um ein praktisches Modell, das insofern von anderen Modellen ersetzt werden könne (ebd., 114f.). Das Prinzip der elementaren Identität führt für Melandri in vielen Problemstellungen zu Widersprüchen, da es sich als »statisch, atomistisch und undialektisch« erweise (ebd., 300). 23 Bei Melandri gibt es einen relevanten Unterschied zwischen Widerspruch und Gegensatz. Der erste Begriff verweist auf eine logische Struktur der Argumentation, in der das Entstehen eines Widerspruchs den Verlust des wissenschaftlichen Werts der These impliziert. Im Unterschied dazu bezeichnet ein Gegensatz oder eine Opposition bei Melandri die Existenz eines spannungsvollen Verhältnisses, das durch das analogische Erklärungsmodell vertieft und analysiert werden kann und muss.

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tet. Außerdem bietet eine bipolare,24 analogische Hermeneutik im Anschluss an Melandri die Möglichkeit, Zwischenstufen zwischen einer absolut negativen Politik des Todes bis zu einer absolut affirmativen Politik des Lebens zu analysieren. Es ist noch zu erklären, warum bestimmte heterogene Elemente in Verbindung gebracht werden müssen, um eine analogische Perspektive zu entwickeln. Mit anderen Worten, wie oder nach welchen Kriterien werden die Pole des analogischen Feldes gesetzt? In Bezug auf diese Arbeit kann gefragt werden, warum bíos und Politik verbunden werden sollen, um eine analytische Perspektive zu entwickeln. Für Melandri werden neue Kategorien und Begriffe in dem Moment formuliert, in dem im Rahmen eines kanonisierten wissenschaftlichen Systems ein Widerspruch entsteht (ebd., 327f.). Um eine Aporie aufzulösen und eine neue Forschungsperspektive entwickeln zu können, sind für ihn zwei Bedingungen zu erfüllen. Die erste ist die Verwendung eines bipolaren analogischen Systems und die Neutralisierung der kanonisierten logischen Dichotomie (ebd., 328). Die zweite betrifft die Funktion von Paradigmen, die von ihm wie folgt bestimmt werden: »Jede Innovation in punkto Größen, Kategorien oder semilogische Dimensionen, die in der Analyse verwendet werden, muss eine bestimmte Pflicht erfüllen: d.h. es muss ein authentischer paradigmatischer Fall produziert werden, der die Arbeitshypothese begründet« (Ebd., Übers. R.G.). Die Wichtigkeit der zwei Konditionen – Verwendung

24 Die Bipolarität des analogischen Feldes bedarf noch weiterer Erklärungen. Melandri beschäftigt sich mit der Frage, warum es eine Bipolarität und nicht drei, vier oder mehr Pole gebe. Er basiert seine Argumentationen auf die Geometrie und insbesondere auf das Prinzip der Symmetrie. In der Geometrie könne die Symmetrie entweder »bipolar« und linear oder »mehrpolar« und zirkulär sein. Für Melandri lassen sich in einem mehrpolaren Bedeutungssystem keine rationalen Schlüsse formulieren. Der Grund dafür ist für ihn in den Grenzen der Sprache zu suchen. Für Melandri kann eine Sprache – ausgehend von einer phänomenologischen Sichtweise – nur durch eine »lineare« Dimension ein Objekt darstellen (ebd., 372). Zum Beispiel: Dieses Objekt ist ein Tisch. Durch die Negation (dieses Objekt ist kein Tisch) könne noch eine zweite, kontrastive Dimension der Sprache hinzukommen. Eine ordinäre Sprache kann Melandri zufolge nur im Rahmen dieser linearen, bipolaren Dimension (A oder -A; entweder dieses Objekt ist ein Tisch oder kein Tisch) verstanden werden, weil die Logik die Entwicklung der Sprache bestimmt habe. Wichtig für Melandri ist allerdings die Aufhebung der monologischen Argumentation. Für ihn spricht kein Grund dagegen, dass -A die Gesamtheit aller Alternativen zu A bezeichnet (ebd., 373). Die Reduktion der Mehrpolarität auf die Bipolarität ist insofern für Melandri ein methodischer »Trick«, um die Monologie der logischen Argumentation zu überwinden, ohne dass die Sprache und die Argumentationsweise bedeutungslos werden (ebd., 372f.).

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eines bipolaren Systems und Entdeckung eines paradigmatischen Falls – wird von Melandri mit den folgenden Worten unterstrichen: Die zwei Bedingungen zeigen ihre Wichtigkeit in dem Moment, in dem ein neuer Begriff eingeführt wird. Damit »etwas« neu verstanden werden kann, braucht man nicht nur eine korrekte nominale und kategoriale Definition; vielleicht ist diese auch nicht notwendig. Was notwendig ist, ist die Fähigkeit, – ausgehend von heterogenem Material – ein Konzept zu bilden, zu rekonstruieren oder ex novo zu formulieren. Diese Fähigkeit ist vor allem pragmatisch, operativ und künstlerisch. So wird deutlich, dass eine dauerhafte Übung mit Paradigmen notwendig ist, um zu lernen, wie ein noch nicht kanonisch definierter Begriff verwendet werden muss. (Ebd., Herv. i. O., Übers. R.G.)

Die Paradigmen haben bei Melandri somit die Funktion, die Verbindung von heterogenen Elementen und insofern die Einführung eines neuen theoretischen Rahmens zu begründen. Eine der theoretischen Leistungen des analogischen Denkens besteht somit in der Produktion von Paradigmen. An dieser Stelle ist seine Konzeption des Paradigmas hervorzuheben und beispielsweise von derjenigen von Thomas Kuhn zu unterscheiden. Obwohl Melandri wie auch Kuhn die Geschichte der Wissenschaft in Termini von Krise und Revolution interpretiert – wie das bereits genannte Beispiel Melandris der Krise des Irrationalen in der platonisch-pythagoreischen Mathematik zeigt (ebd., 257) –, schreibt Melandri dem Paradigma eine andere Bedeutung zu. Während bei Kuhn das Paradigma einen theoretischen Rahmen darstellt, in dem wissenschaftliche Aussagen produziert werden (vgl. Kuhn 2003), sind Paradigmen bei Melandri analogische Begriffe, die eine Krise bzw. einen Widerspruch zu verstehen und zu überwinden erlauben. Melandri kritisiert Kuhns Annahme, der zufolge eine Struktur in der Geschichte der Wissenschaft begriffen werden kann, da diese »zu übertrieben« sei (vgl. Melandri 2004, 347). Vielmehr kann für ihn darin eine Dialektik begriffen werden, in der die paradigmatischen Fälle zwei Aufgaben zu erfüllen haben. Erstens müssen sie als Anomalie das kanonisierte wissenschaftliche System widerlegen und zweitens müssen sie als analogische Induktionen einen neuen kategorialen Horizont begründen (ebd.). Er verweist insofern statt auf eine Struktur (wie bei Kuhn) auf eine Pragmatik der Paradigmen (ebd., 328), die keiner strukturierten Logik folge. Vielmehr sei diese Pragmatik der Paradigmen als Strategie im »Schlachtfeld« der wissenschaftlichen Diskurse zu verstehen. Die Pragmatik der Paradigmen gründet Melandri zufolge daher neue kategoriale Horizonte. Mit anderen Worten stellen die Paradigmen die theoretischen »Waffen« dar, mit denen die alte »Bastion« des kanonisierten Wissens »angegriffen« wird. Gleichzeitig bilden sie die Grundlage neuer Perspektiven, die zu verstehen erlauben, was in dem alten theoretischen Rahmen unverständlich war.

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In seiner methodologischen Schrift Was ist ein Paradigma? bezieht sich Agamben unmittelbar auf Melandri, um das Wesen und die Funktion des Paradigmas zu erklären. Darin erkennt er im Arbeiten mit Paradigmen die Basis von seiner und Foucaults Forschungsmethodologie (vgl. Agamben 2009). Im Anschluss an Melandri interpretiert Agamben das Paradigma als tertium datur zwischen zwei heterogenen und dichotomischen Elementen (ebd., 24) und sieht die Funktion des Paradigmas in der Fähigkeit, ein Phänomen intelligibel zu machen (ebd., 37). Diese Interpretation der Funktion des Paradigmas erfasst jedoch nur zum Teil Melandris Konzeption. Agamben konzentriert sich nur auf die Neutralisierung der Dichotomie, beachtet dabei allerdings die Verbindungsfunktion heterogener Elemente nicht in ausreichender Form. Beide Funktionen sind aber für die Bildung eines analogischen Erklärungsmodells entscheidend. Er interpretiert die Neutralisierung der Dichotomie als Ununterscheidbarkeit der Identitäten; das Analogische oder das Paradigma habe demnach die Funktion, diese Ununterscheidbarkeit zu »exhibieren« (Agamben 2009, 37). Zwar werden auch bei Melandri die elementaren Identitäten als dichotomische Kategorie neutralisiert, doch werden diese durch das Prinzip der funktionalen Identität ersetzt, das als eines der möglichen Ergebnisse der Spannung zwischen den intensiven Polen zu interpretieren ist (vgl. Melandri 2004, 375). Für Agamben stellt somit das Paradigma oder das analogische Dritte den Kampf dar, während bei Melandri das Paradigma eine Sichtweise innerhalb des Konflikts und insofern Teil des Konflikts selbst ist. Zum weiteren Verständnis der Konzeption des Paradigmas bei Melandri ist es sinnvoll, diese mit Donna Haraways Idee der Vision zu vergleichen (Haraway 1995). Obwohl Haraway keinen Bezug auf Melandri und dessen Theorie des analogischen Denkens nimmt, weist ihre Idee der Vision als politisch-epistemologisches Werkzeug viele Analogien mit Melandris Konzeption des Paradigmas auf. Beide Perspektiven zielen auf die Überwindung binärer Oppositionen (vgl. ebd., 80) und sprechen von einer Positionierung in der Wissensproduktion sowie partiellen Verbindungen in Opposition zur Dichotomie von Universalismus und Relativismus (vgl. ebd., 84). Darüber hinaus konzipieren sowohl Melandri als auch Haraway die Produktion von Paradigmen bzw. Visionen als zugleich wissenschaftliche und politisch-ethische Praxis (vgl. ebd., 88f.). So wie die Visionen bei Haraway stellen auch die Paradigmen bei Melandri kanonisierte dichotomische Identitäten wie Mann/Frau, Natur/Kultur in Frage und zeigen nicht nur die Spannung zwischen diesen auf, sondern verkörpern sie auch.25

25 Leider fehlt in dieser Arbeit der Raum für eine ausführliche, vergleichende Analyse von Melandris analogischem Denken und Haraways Perspektive des situierten Wissens. Hier dienen diese Ähnlichkeiten nur dazu, Melandris Perspektive zu verdeutlichen. Die Ana-

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Zusammenfassend lässt sich ein analogisches Erklärungsmodell weder deduktiv noch induktiv definieren. Vielmehr lassen sich wissenschaftliche Aussagen gewinnen, indem eine Symmetrie zweier heterogener Elemente gesetzt wird. Diese Elemente sind keine elementaren Identitäten, sondern zwei Verhältnisse. Die analogische Rationalität neutralisiert die Dichotomie und setzt ein analogisches Erkenntnisfeld an deren Stelle, in dem die Dichotomien als polare Spannungen fungieren. In dem analogischen Feld wird die Interaktion der dichotomischen/heterogenen Elemente analysiert. Dazu ist es jedoch notwendig, einen paradigmatischen Fall zu finden oder zu produzieren, der die Verbindung begründen kann. Das Paradigma ist deswegen das tertium datur oder das Ergebnis der Interaktion von heterogenen polaren Spannungen. Die analogischen Aussagen sind weder eindeutig noch mehrdeutig; sie definieren kein Wesen, sondern einen Prozess oder eine Interaktion in einem Spannungsfeld. Deswegen lässt sich von einer Analogie weder eine arché, ein Telos noch eine Rationalität der Geschichte ableiten, die die historische, politische, soziale und wissenschaftliche Entwicklung sichtbar macht. Die Analogie verdeutlicht lediglich die entgegengesetzten Kräfte, die in Interaktion miteinander stehen. Die Vorstellung, das Wissen als umkämpft zu interpretieren und die Kräfte dieses »Spiels« durch Paradigmen darzulegen, verweist unmittelbar auf die Idee einer philosophischen Archäologie. Die Verbindung zwischen analogischer Rationalität und philosophischer Archäologie wird auch von Agamben im Anschluss an Melandri thematisiert (vgl. Agamben 2009). Melandri spricht von der philosophischen Archäologie als erstem »Topos« der Analogie (Melandri 2004, 63). Das Werk La linea e il circolo kann somit als Projekt für die Entwicklung eines hermeneutischen Modells für genealogisch-archäologische Untersuchungen interpretiert werden. Melandri legt explizit seine Absicht dar, sowohl die Idee einer kritischen Historie im Sinne von Nietzsche (ebd., 37f.) als auch eine archäologische Methodologie im Anschluss an Ricoeur und Foucault weiterzuentwickeln (ebd., 66). Zu Recht sieht Agamben La linea e il circolo als erfolgreichen Versuch an, eine Logik der philosophischen Archäologie zu artikulieren (Agamben 2004b, XXIV). So gesehen kann die Analogie als philosophische Methodologie interpretiert werden, die das »Verdrängte« der Geschichte wieder zum Vorschein kommen lässt.26

logien mit Haraways Sichtweisen zeigen zudem die Aktualität von La linea e il circolo und dessen Inaktualität im Jahr 1968, als dieses Werk herausgegeben wurde. 26 Für Melandri muss die philosophische Archäologie die Elemente der Vergangenheit durch eine »Regression« sichtbar machen. Bei ihm stellt die Regression keine Rückkehr zu einem barbarischen Stadium der Zivilisation dar, sondern vielmehr den Gegensatz zur Rationalisierung. Während die Rationalisierung die wissenschaftliche Tradition kanonisiere, ziele die Regression darauf, den Kampf der Parteien um die Definition der Wahr-

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Die archäologische Orientierung der analogischen Rationalität führt Melandri zufolge darüber hinaus zu einer Rehabilitation des Erkenntniskreises im Gegensatz zur linearen Erkenntnisform (Melandri 2004, Kap. 19 u. 20). In seiner Perspektive gibt es zwei rationale Erkenntnisformen: die logische, die deduktiv oder induktiv sein kann, sowie die analogische. Jede dieser Erkenntnisformen lasse sich von einer geometrischen Form darstellen: die Logik von einer Linie und die Analogie von einem Kreis (ebd., 787). Eine lineare Erkenntnisform produziere dichotomische Größen und Kategorien; im Unterschied dazu beruhe ein Erkenntniskreis auf der »Komplementarität durch Opposition«, sodass die gegenseitigen Werte immer eine Wirkung aufeinander hätten (ebd.). Das Verhältnis von Politik und Biologie bietet ein erklärendes Beispiel, um den Unterschied zwischen diesen Erkenntnissystemen zu verdeutlichen. In einem linearen System lassen sich biologische Kenntnisse nur durch die biologische Methodologie, deren Kategorien und Begriffe erlangen. In einem Erkenntniskreis hingegen, in dem Biologie und Politik als Pole eines hermeneutischen Rahmens eingesetzt werden, kann jede neue Erfahrung oder Perspektive eine Wirkung auf beide Bereiche haben. In einem Erkenntniskreis hat eine neue Definition des biologischen Begriffs des Lebens demnach eine Wirkung auf die Politik, die die Lebensbedingungen reguliert. Es geht allerdings nicht darum, festzuhalten, dass ein Erkenntniskreis besser als eine lineare Erkenntnisform sei. Vielmehr sind beide Erkenntnisformen für die Entwicklung der Wissenschaft notwendig. Es muss betont werden, dass ein Erkenntniskreis vor allem die Aufgabe erfüllt, eine Hermeneutik neu zu definieren, durch die Ereignisse und Phänomene interpretiert werden können.

heit sichtbar zu machen. Durch die Regression versucht Melandri daher zu dem Moment zurückzugehen, an dem die verschiedenen entgegensetzten Traditionen noch nicht nach einer dichotomischen Klassifizierung getrennt waren (Melandri 2004, 67). Regression und Verdrängung sind Begriffe, die Melandri von der Psychoanalyse Freuds übernimmt und analogisch verwendet. Innerhalb von La linea e il circolo gibt es verschiedene archäologische Regressionen, insbesondere in Bezug auf die Auseinandersetzungen in der antiken griechischen Philosophie. Z. B. regrediert Melandri zu dem Moment, in dem Logos und Epos als Werkzeuge für die Analyse der Realität getrennt wurden (vgl. ebd., Kap. 4, 157). Die Regression der philosophischen Archäologie bei Melandri versucht daher, die Dichotomie in Frage zu stellen – in dem genannten Beispiel die Dichotomie von Logik und Poetik – und die Interaktion sichtbarzumachen. Zudem definiert Melandri seine Regression als »dionysisch«. Das ist nicht nur ein Verweis auf Nietzsche, sondern auch ein Hinweis darauf, dass die philosophische Archäologie jedes Auftauchen des Verdrängten, des Entfremdeten – d.h. von jedem Element, das die kanonischen Formen in Frage stellt – verstehen kann und muss (vgl. dazu auch Agamben 2009, 121-123).

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Hierbei sind besonders zwei Elemente interessant, die von Melandri im Anschluss an die Definition des Erkenntniskreises beleuchtet werden. Das erste ist gerade die Rehabilitation des Erkenntniskreises. Für ihn kann nur durch metaphysische Argumentationen behauptet werden, dass ein linear-logisches einem kreisanalogischen Erkenntnissystem vorzuziehen sei. Infolgedessen seien Ausdrücke wie »Teufelskreis« als metaphysische Residuen zu interpretieren (ebd., 794). Das zweite wichtige Element des Erkenntniskreises besteht Melandri zufolge darin, dass diese hermeneutische Perspektive eine enge Verbindung mit einer Konzeption des Daseins und der Realität als Konfliktualität besitze (ebd., 729). In dem Moment, in dem die Konfliktualität als Grundlage des politisch-sozialen (oder auch biologischen) Verhältnisses angenommen werde, lasse sich diese Vorstellung der Realität nur durch einen Erkenntniskreis und nicht durch eine lineare Erkenntnisform verstehen (ebd., 735-737). Durch eine Erkenntnislinie lassen sich Melandri zufolge »nur« einzelne Prozesse verstehen, während die Interaktion von verschiedenen Elementen im Rahmen eines Erkenntniskreises verstanden werden könne. In einem Erkenntniskreis gibt es keinen Fortschritt oder Rückfall der Geschichte, des Politischen oder des Sozialen, dem eine Geschichtsphilosophie zugrunde liegt. Der Erkenntniskreis verweist auf eine neue Definition der Machtverhältnisse und der Bedingungen der Entfaltung des Daseins. Die These Nietzsches von der ewigen Wiederkunft, wie sie von Deleuze interpretiert wurde (vgl. Deleuze 1991), kann als Beispiel des engen Verhältnisses zwischen heraklitischer oder konfliktueller Ontologie und der Vorstellung des Erkenntniskreises angesehen werden. Die letzten Kapitel von La linea e il circolo widmet Melandri der Dialektik. Obwohl die Dialektik nicht wirklich Teil des Werks ist, deutet er kurz deren Funktion in seiner Theorie an: die Vermittlung zwischen Analogie und Logik, linearer Erkenntnis und Erkenntniskreis. Er konzipiert die Funktion der Dialektik als Negation bzw. antidogmatische Orientierung, die der Vorstellung Adornos von einer negativen Dialektik sehr nahe steht (vgl. Melandri 2004, Kap. 21).

1.4 I TALIAN T HOUGHT

ALS ANALOGISCHES

D ENKEN

Die wichtigsten VertreterInnen der philosophischen Tradition in Italien verwenden Begriffe und hermeneutische Perspektiven, die auf die von Melandri thematisierte analogische Rationalität zurückgeführt werden können. Es handelt sich dabei jedoch um ein Urteil a posteriori. Die einzigen AutorInnen, die explizit an die analogische Rationalität und Melandris Werk anknüpfen, sind Agamben und das Kol-

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lektiv Action30 (vgl. Agamben 2009; Di Vittorio u.a. 2009; Di Vittorio 2012).27 Für Agamben beispielsweise können seine Begriffe – wie auch die Begriffe von Foucault – nur durch eine analogische Rationalität verstanden werden. Die Verbindung von analogischer Rationalität und italienischer Philosophie kann dadurch verdeutlicht werden, dass einige der Argumente erneut analysiert werden, die Esposito in Pensiero vivente benutzt, um the Italian Thought zu charakterisieren. Wie schon erwähnt, entwickelt sich Esposito zufolge die Philosophie in Italien ausgehend von einer permanenten Beschäftigung mit der Idee des Ursprungs. Für ihn definiert dieser Begriff das Dasein »vor« oder jenseits der Dichotomien Natur/Geschichte, Tier/Mensch, Natur/Gesellschaft. Laut ihm ist die Entwicklung des philosophischen Diskurses in Italien – z.B. bei Machiavelli, Bruno oder Vico – von einer andauernden, spannungsgeladenen Interaktion von diesen entgegengesetzten Dimensionen geprägt. Im Anschluss an Melandri lässt sich diese philosophische Perspektive auf die analogische Rationalität zurückführen. Natur und Kultur werden dabei als dichotomische Kategorien neutralisiert und als Pole einer bipolaren Hermeneutik eingesetzt. Diese spannungsvolle analogische Bipolarität lässt sich nicht nur bei den ersten »italienischen« Philosophen, sondern auch bei den späteren Autoren wie Cuoco, Leopardi und Zeitgenossen wie Agamben erkennen, die sich mit dem Thema der Biopolitik beschäftigen. Wichtig ist hierbei, die analytische Qualität der analogischen Hermeneutik zu betonen. Während Esposito einen Begriff wie den des Ursprungs – der missverstanden werden kann – einführt (Esposito 2010a, 24), um eine Spannung von heterogenen Elementen zu verdeutlichen, erlaubt die analogische Rationalität die Entwicklung eines bipolaren Erkenntnismodells, das durch die Neutralisierung der Dichotomie und ohne die Einführung neuer mehrdeutiger Begriffe funktioniert. Ein analogisches Erklärungsmodell löst Widersprüche nicht auf, sondern macht diese lediglich durch Paradigmen sichtbar. Die Entwicklung einer bipolaren analogischen Perspektive führt zudem dazu, dass eine der wichtigsten Leistungen des philosophischen Diskurses in Italien in der Produktion von Paradigmen besteht. Es geht allerdings nicht primär darum, zu begreifen, wie viele und welche Paradigmen die wissenschaftliche Produktion in Italien prägen – wie es Esposito in Pensiero vivente intendiert. Vielmehr muss die Konzeption des Paradigmas von Melandri wie auch seine Vorstellung der Pragmatik der Paradigmen übernommen werden. Das Paradigma bei Melandri stellt einen Zwischenstatus der Interaktion zweier Pole dar. Die Paradigmen sind daher nicht als Rahmen zu betrachten, der die Produktion von Wissen prägt und orientiert; die Paradigmen machen vielmehr die Spannungen zwischen Geschichte, Leben und Politik – inter alia – sichtbar. Da die Interaktionen von diesen Dimensionen vielsei-

27 Das Kollektiv Action30 beruft sich auf die analogische Rationalität, diskutiert aber nicht Melandri, sondern nur Agambens Darstellung, von der sie sich kritisch distanzieren.

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tig sind, sind immer neue Paradigmen notwendig, um deren komplexe Realität zu analysieren. Begriffe von Machiavelli wie »volpe und lione« (Fuchs und Löwe) oder der Begriff des »ricurso« (Wiederholung) von Vico sind typische Paradigmen der analogischen Rationalität, die eine bestimmte Funktionsweise des Politischen, der Geschichte oder des sozialen Handelns zu erklären versuchen (vgl. Machiavelli, 1973; Vico 1953). Daher lässt sich die Produktion des Wissens nicht auf zwei, drei oder vier leitende Paradigmen zurückführen, da das Merkmal dieser philosophischen Tradition in der permanenten Formulierung von neuen Paradigmen besteht. Die Priorität der analogischen Rationalität innerhalb der Philosophie in Italien kann auch die Entwicklung des wissenschaftlichen Lexikons in dieser philosophischen Tradition erklären. In Pensiero vivente behauptet Esposito, dass in Italien die PhilosophInnen kein spezialisiertes und disziplinäres Lexikon entfalten würden. Vielmehr übernähmen sie ein »fremdes« Lexikon und erweiterten so die Sprache der Philosophie. Esposito führt diese Art der Bildung eines philosophischen Lexikons unmittelbar auf die vermeintliche Kreativität des italienischen Denkens zurück. Allerdings ist diese Erklärung eher tautologisch (Esposito 2010a, 13). Im Gegensatz dazu kann diese Verwendung der Sprache durch die analogische Rationalität erklärt werden. Zunächst zeigt Melandris Forschung, dass die Zäsur von Poetischem und Wissenschaftlichem, Ästhetischem und Objektivem »nur« ein historisches Ereignis ist; insofern ist die Sichtweise plausibel, dass dieser Dualismus wieder in Frage gestellt werden kann. Die Entwicklung einer spezialisierten und disziplinären Sprache ist somit nur die Folge eines ursprünglichen Ereignisses, das archäologisch rekonstruiert werden kann. Jenseits dieser archäologisch-genealogischen Sichtweise ist ein wichtiger Aspekt bei Melandri, dass er die Einführung neuer Lexika und Perspektiven im Anschluss an die wissenschaftliche Praxis erklärt. Für ihn entsteht die Notwendigkeit von neuen Begriffen und Perspektiven in dem Moment, in dem die kanonischen wissenschaftlich-philosophischen Systeme auf inhärente Widersprüche stoßen. Um diese Aporien verstehen zu können, sind für ihn zwei Voraussetzungen zu erfüllen: die Verwendung eines bipolaren analogischen Erkenntnissystems und die Produktion von Paradigmen, die die Verbindungen von heterogenen Elementen begründen. Wie schon erwähnt, werden beide Voraussetzungen von den wichtigsten VertreterInnen der philosophischen Tradition in Italien erfüllt. Im Anschluss an Melandri lässt sich die Entwicklung oder die Verwendung einer heterogenen Sprache nicht auf eine undefinierte »Kreativität« zurückführen; es können vielmehr die Bedingungen verstanden werden, unter denen diese Kreativität entstehen kann. Dabei muss allerdings betont werden, dass Melandri diese Praxis nicht als »die« wissenschaftliche Praxis Italiens, sondern als grundlegende Praxis der Wissenschaft als solcher ansieht. Die Verwendung des analogischen Erkenntnissystems ist somit kein Kennzeichen der italienischen Philosophie; es kann aber argumentiert werden,

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dass in Italien im Unterschied zu anderen Traditionen diese Erkenntnisform nicht nur latent, sondern permanent entwickelt wurde und wird. In diesem Kontext ist nicht entscheidend, ob diese Persistenz von analogischen Erkenntnisformen ein Zeichen der fehlenden Modernisierung der italienischen Kultur oder eine »verdeckte« Potenzialität ist. Grundlegend ist das Verstehen der Entwicklung der philosophischen Tradition in Italien, die auch die aktuelle Entwicklung der Analyse der Biopolitik bestimmt. Diesbezüglich ist anzumerken, dass die italienischen PhilosophInnen versucht haben, die Aporie des Politischen wie das Verhältnis von Norm und Ausnahme oder Sicherheit und Freiheit nicht aufzulösen, sondern sie in einer analogischen Erkenntnisform zu verstehen. Die Interpretation der Konfliktualität als grundlegendes Element der philosophischen und wissenschaftlichen Produktion in Italien ist eine weitere Bestätigung der Zentralität der analogischen Erkenntnisform in dieser philosophischen Tradition. Wie schon erwähnt, lässt sich für Melandri eine auf Konfliktualität basierende Erkenntnisperspektive nur verstehen, indem die Ereignisse im Rahmen eines Erkenntniskreises interpretiert werden (vgl. Melandri 2004, 793). Durch die Perspektive eines bipolaren Erkenntniskreises wird die grundlegende Rolle der Analytik des Politischen bei Machiavelli, Vico, Bruno, Leopardi, Cuoco, Agamben, Negri und Esposito für das Verständnis der Ontologie und der Mensch-Natur-Verhältnisse deutlich. Ein letzter Aspekt, der durch die analogische Rationalität erklärt werden kann, betrifft die Beschäftigung der italienischen PhilosophInnen mit der Geschichte. Der Diskurs über die Geschichte in Italien lässt sich weder als Historiografie noch als Geschichtsphilosophie interpretieren. Vielmehr handelt es sich dabei um eine analogische Analytik der Ereignisse. Machiavelli ist hierbei wieder paradigmatisch. Sein Kommentar in den Discorsi ist keine bloße Rekonstruktion der Geschichte der römischen Republik; er wollte vielmehr die Bedingungen für die Entwicklung einer politischen Institution und die Folgen eines bestimmten politischen Handelns sichtbar machen, damit die politisch-gesellschaftlichen Akteure der Republik Florenz ausgehend von diesen Kenntnissen ihr Handeln orientieren konnten (vgl. Machiavelli 1973). Die Analogien sind zudem nie neutral, sondern immer auch Teil des politisch-ontologischen Konflikts. Melandri behauptet ganz explizit, dass Analogien konservativ oder revolutionär sein können (vgl. Melandri 2004, 810). Insofern stellen Analogien nicht nur analytische, sondern auch politische Mittel dar. Um die Rezeption und die weitere Entwicklung des Begriffs der Biopolitik in Italien zu verdeutlichen, ist nicht nur die analogische Perspektive des philosophischen und gesellschaftstheoretischen Diskurses, sondern auch die Rezeption des Werks von Nietzsche in Italien zu berücksichtigen. Die Persistenz einer auf dem Konflikt basierenden Ontologie innerhalb der philosophischen Tradition in Italien hat das Interesse an Nietzsches Philosophie und

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seiner analytischen Perspektive gefördert. Dieser Bezug auf Nietzsche ist natürlich nicht zufällig und nicht bloß historiographisch.28 Die Entdeckung seines Werks und die erneute Rezeption seiner Philosophie stellt einen Ausgangspunkt sowohl der italienischen Philosophie nach den 1950er Jahren als auch der Foucaultʼschen Forschung dar.29 Nietzsche hat als erster die Grenzen und das Scheitern der modernen philosophischen Kategorien hervorgehoben, indem er eine neue Perspektive entwickelte, die vor allem die Idee des rationalen Subjektes in Frage stellt. Auch bei ihm findet sich die Verwendung einer analogischen Rationalität. Schon in Die Geburt der Tragödie entwickelt er ein hermeneutisches Modell, das auf der analogischen Bipolarität apollinisch/dionysisch beruht (vgl. Nietzsche 1999). Darüber hinaus formuliert er, wie auch Autoren wie Bruno, Vico und Leopardi, einen Lebensbegriff, der die animalische Natur als Bestandteil des Menschseins berücksichtigt. Im Zentrum von Nietzsches Philosophie steht gerade der Kreuzpunkt zwischen Leben, Geschichte und Politik wie auch die Entwicklung eines Erkenntniskreises, der schon seit dem Humanismus den philosophischen Diskurs im heutigen Italien charakterisiert. Auch für ihn ist die Definition des Subjekts das Ergebnis eines immanenten Konflikts zwischen Mächten, die sowohl historisch als auch natürlich sind (vgl. Lemm 2009). Im Gegensatz zur Interpretation von Esposito ist Nietzsche weniger als »italienischer« denn als analogischer Denker zu interpretieren. Es ist die Verwendung der analogischen Rationalität, die seine Rezeption und seine genealogische Methodologie in Italien erleichtert hat. Auch für Foucault können in der Philosophie Nietzsches Instrumente für die Kritik der modernen politischen Rationalität gefunden werden (Foucault 2002, 166-191). Er entwickelt durch seine Interpretation des Werks von Nietzsche die »Werkzeuge« für seine Analytik der Machtverhältnisse, die mit der modernen Vorstellung der Macht und des Subjekts bricht. Die Genealogie als philosophische Methodologie – die von Nietzsche zuerst benutzt wurde –

28 Für eine ausführliche Darstellung der Rezeption des Werks von Nietzsche weise ich auf die Arbeit von Eduard Sturm Die Nietzsche Renaissance in Italien (1990) hin. Zudem ist die Wichtigkeit der philologischen Arbeit von Giorgio Colli und Mazzino Montanari zu betonen, die eine neue Welle der Rezeption Nietzsches eröffnete. 29 Der Nietzsche von Deleuze wird allgemein als die Studie betrachtet, die das Werk Nietzsches von der nationalsozialistischen Interpretation befreit, obwohl Georges Bataille schon in der 1930er Jahren Nietzsches Aneignung durch den Nationalsozialismus als willkürlich und unbegründet anklagte (vgl. Reckermann 2003). Deleuzes Interpretation beeinflusste auch die Rezeption in Italien. Allerdings entwickeln die Arbeiten von Nicola Massimo De Feo schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre unabhängig von der französischen Lesart eine kritische und antidogmatische Interpretation der Schriften von Nietzsche (vgl. De Feo 1964, 1965).

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wird von Foucault entsprechend als das privilegierte Instrument seiner Untersuchungen verwendet (ebd.). Obwohl Gründe für ein rein wissenschaftliches Interesse an der Foucaultʼschen Analytik der Biopolitik nicht fehlten, sind die in Italien durchgeführten Studien zu diesem Thema auch und vor allem mit einer historischen Konjunktur verbunden.30 Wie schon in der Tradition des philosophischen Diskurses in Italien entwickeln auch die zeitgenössischen AutorInnen eine neue Begrifflichkeit als analytische Antwort auf historische Ereignisse. Allerdings handelt es sich dabei nicht nur um das Bedürfnis, ein neues analytisches Instrumentarium für die Analyse der postmodernen Politik- und Gesellschaftstheorie zu entwickeln. Die biopolitische Wende betrifft ebenso die Ontologie und die Geschichte. Erstens de- bzw. rekonstruieren die italienischen AutorInnen mithilfe der mit der Biopolitik verbundenen Begrifflichkeit den Begriff des Seins und insbesondere den des menschlichen Lebens von Neuem. Zweitens formulieren sie durch die Biopolitik eine neue genealogische Geschichte der politischen und wissenschaftlichen Institutionen und deren Verflechtungen, indem sie zuvor marginalisierte Aspekte berücksichtigen, die ein neues Licht auf gegenwärtige wie auch vergangene Ereignisse werfen.

1.5 D ER B EGRIFF DER B IOPOLITIK IN DER ITALIENISCHEN P HILOSOPHIE UND G ESELLSCHAFTSTHEORIE Die Forschungsperspektive – die jetzt als analogisch definiert werden kann – unterscheidet die Aktualisierungsversuche des Foucaultʼschen Begriffs der Biopolitik der italienischen AutorInnen von anderen, die auf eine empirische Operationalisierung dieses Begriffs im Feld der Wissenschaftsgeschichte, Medizinsoziologie, Kulturanthropologie, Wissenschaft- und Techniksoziologie zielen.31 Obwohl sich große Differenzen in dem Gebrauch und in der Bedeutung der Biopolitik bei den verschiedenen AutorInnen erkennen lassen, lassen sich im Anschluss an die schon zitierte Arbeit von Esposito Pensiero vivente drei allgemeine Merkmale der Aktualisierung des Begriffs der Biopolitik in Italien bestimmen.

30 Der Krieg in Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre, die neue Massenmigration, repressive Ausnahmemaßnahmen gegen radikale politische Gruppen, ethnische Konflikte, präventive Kriege sowie die postfordistische Vergesellschaftung bestimmen eine radikale Veränderung der politischen und gesellschaftstheoretischen Landschaft. In den Schriften der italienischen AutorInnen gibt es zahlreiche Hinweise auf aktuelle historischpolitische Ereignisse. 31 Für einen ausführlichen Überblick über die Interpretationen des Begriffs der Biopolitik vgl. Lemke (2007a und 2008).

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Zunächst ist die Analytik der Biopolitik bei den italienischen AutorInnen theoretisch orientiert (Esposito 2010a, 251f.). Allerdings ist diese theoretische Arbeit Esposito zufolge immer an einen militanten Anspruch geknüpft (ebd.). Theorie und theoretische Begrifflichkeiten werden demzufolge als Instrumente für eine emanzipatorische, politische Praxis konzipiert. Laut ihm ist diese theoretische Tätigkeit als »neue Politik der Philosophie« oder als »neue philosophische Praxis« zu interpretieren (ebd., 252). Diese These kann mit Melandris Theorie der Analogie ergänzt werden. Die theoretische Perspektive der italienischen Philosophie in puncto Biopolitik verfolgt somit zunächst das Ziel, die analytische Ebene neu zu definieren, indem neue Paradigmen in einen neuen hermeneutischen bipolaren Rahmen eingeführt werden, um die Aporie des modernen politischen Diskurses zu verstehen. Jede Analogie weist demnach auf eine mögliche Weiterentwicklung der Kartographie des politischen Handelns hin. Der zweite allgemeine Aspekt der Analytik der Biopolitik in Italien dreht sich um die Vermischung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Lexika. Der Begriff der Biopolitik führt nicht nur zu einer neuen Theoretisierung von philosophischen und politologischen Kategorien, sondern stellt darüber hinaus die traditionellen Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen grundsätzlich in Frage. Dies betrifft beispielsweise die traditionelle Trennung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft. Eine biopolitische Perspektive erlaubt, die komplexe Dimension des bíos durch verschiedene, aber komplementäre Sichtweisen zu untersuchen. Die philosophischen Forschungen in Italien haben somit versucht, die disziplinären Grenzziehungen zu überwinden, die aber, wie schon erwähnt, nie vollständig entwickelt waren. Somit traf die Entwicklung einer interdisziplinären Analytik der Biopolitik auf weniger große Hindernisse als in anderen Wissenschaftstraditionen. Es ist zu bemerken, dass die Interdisziplinarität vor allem Philosophie – insbesondere die ontologische Frage –, Politik und Gesellschaftstheorie betrifft. Allerding hat der »Analogismus« der italienischen AutorInnen auch dazu geführt, dass sich relativ früh im Vergleich zu anderen Ländern Begriffe wie Bioökonomie, Biorecht und genealogisch-biopolitische Analysen der Ökologie und der Massenmedien entwickelt haben (vgl. Esposito 2010a; Amendola u.a. 2008; Marzocca u.a. 2006). Das dritte Merkmal der Verwendungsweise des Begriffs der Biopolitik betrifft das analogische Verhältnis von Altertum und Moderne. Dieses Verhältnis, das schon bei Machiavelli und Vico eine wichtige Funktion in ihren politischen und historischen Theorien darstellt, spielt auch bei den postmodernen AutorInnen eine grundlegende Rolle (vgl. Esposito 2010a, 252f.). Esposito hebt zu Recht hervor, dass viele Begriffe der Analytik der Biopolitik der italienischen AutorInnen wie bíos, zoé, Empire, Multitude, immunitas und communitas aus dem Altertum übernommen werden.

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Trotz dieses gemeinsamen Hintergrunds ist es unangemessen, von einer »italienischen Schule« der Biopolitik zu sprechen. Obwohl sich die verschiedenen AutorInnen auch regelmäßig wissenschaftlich austauschen, sind ihre theoretischen Konzeptionen wie auch ihre Forschungsmethoden nicht nur höchst unterschiedlich, sondern sogar gegensätzlich. Als Versuche der Gründung einer philosophischen Schule der Biopolitik können die Forschungsgruppen BBPS, 3 Ecologie und Action30 angesehen werden. Allerdings ist es präziser, diese als Forschungsnetzwerke von WissenschaftlerInnen und sozialen Bewegungen zu charakterisieren. Die aktuelle Situation der Bildungspolitik in Italien behindert allerdings eine Stabilisierung dieser Forschungsperspektive; daher ist es zu optimistisch, von einer zweiten Generation von TheoretikerInnen der Biopolitik in Italien zu reden. Realistischer ist vielmehr die Hypothese, dass die zeitgenössische Generation der BiopolitikerInnen einen politisch-existenziellen Widerstand gegen und innerhalb der Machtverhältnisse organisiert und verkörpert.

2. Giorgio Agamben – Das Homo Sacer-Projekt Insofern seine Bewohner jedes politischen Status entkleidet und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden sind, ist das Lager auch der absoluteste biopolitische Raum, der je in die Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist das Lager das Paradigma des politischen Raumes, und zwar genau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt. GIORGIO AGAMBEN, 2002, 180.

Die Schriften Giorgio Agambens sind seit Jahren in verschiedenen Bereichen Gegenstand von Debatten, Kontroversen und Analysen. Obwohl Agamben seit den 1970er Jahren interessante philosophische Arbeiten veröffentlicht hat, und zu Verständnis und Entdeckung des Werks von Walter Benjamin ausschlaggebend beigetragen hat, konnte er lediglich mit Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (Agamben 2002) einen internationalen Erfolg erzielen. In diesem Buch beschäftigt er sich mit dem Begriff der Biopolitik und mit der Frage nach dem Wesen und dem Ursprung der Macht in der abendländischen Politik. Die von Agamben durchgeführten Forschungen über die Biopolitik stellen einen der wichtigsten Bezugspunkte in der Auseinandersetzung mit dem von Michel Foucault geprägten Begriff dar. In der Einführung zu Homo Sacer behauptet Agamben, dass Biopolitik der einzige theoretische Horizont sei, weil die Kategorien, auf deren Opposition sich die moderne Politik gegründet hat (recht/links, privat/öffentlich, Absolutismus/Demokratie etc.), die nun aber immer mehr verschwimmen und heute in eine eigentliche Zone der Ununterscheidbarkeit geraten, endgültig aufzugeben sind oder ob sie womöglich die Bedeutung wiedergewinnen können, die sie gerade in jenem Horizont zeitweilig verloren haben. (Agamben 2002, 14)

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Während Foucault von einer Zäsur zwischen dem juridischen Modell der Souveränitätsmacht und dem biopolitischen Modell spricht, geht Agamben davon aus, dass sich ein Kreuzpunkt zwischen beiden Modellen untersuchen lässt. Der italienische Philosoph vertritt sogar die These, dass die Biopolitik so alt wie die Souveränität sei, da »die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist« (ebd., 16). Nach Agamben muss daher die These Foucaults korrigiert werden, da sich nicht nur die moderne Politik, sondern das Politische als solches in der abendländischen Tradition durch die Einbeziehung des natürlichen Lebens in die politische Strategie kennzeichnen lässt. Agamben zufolge ist Foucaults Argumentation dahingehend zuzustimmen, dass sich in der Moderne sowohl subjektive Techniken der Individualisierung als auch objektive Prozeduren der Totalisierung entwickeln. Allerdings habe er »jene Zone der Ununterscheidbarkeit (oder wenigsten der Schnittpunkt), in der sich die Techniken der Individualisierung und die Prozeduren der Totalisierung berühren« (ebd., 15-16) nicht erforscht. Für Agamben stellt einerseits die Forschungsperspektive Hannah Arendts, andererseits diejenige Foucaults den wichtigsten Beitrag für das Verständnis der Entwicklung der Macht im Abendland dar. Allerdings habe Arendt die biopolitische Natur der Macht nicht erkannt, während Foucault das Lager als Kreuzpunkt der individualisierenden und zugleich totalisierenden Praktiken der Ausübung der Macht nicht erfasst habe (ebd., 13-14). Agambens Analyse der Biopolitik lässt sich insofern auch als Versuch interpretieren, diese beiden analytischen Perspektiven zu verbinden und miteinander zu versöhnen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass in seinem Werk mehrere Forschungsperspektiven einbezogen werden. Nicht nur Arendt und Foucault, sondern auch Bataille, Benjamin, Heidegger sowie Melandri spielen eine grundlegende Rolle in seiner philosophischen Praxis. In der Auseinandersetzung über Agambens philosophisches System wird debattiert, ob dieses als einfache Aktualisierung der Foucaultʼschen Analytik der Biopolitik (Sarasin 2003), des Benjaminʼschen Messianismus oder sogar des Heideggerʼschen Vitalismus (Ruda 2011) zu interpretieren sei. Schon die Existenz dieser drei Interpretationslinien – dazu sind mindestens noch Arendts Forschung über die Funktion des Konzentrationslagers und Melandris These zur analogischen Erkenntnisform als Teil der philosophischen Konstellation Agambens zu nennen – zeigt zweifellos, dass die Hermeneutik der Biopolitik und des Politischen bei Agamben komplexer als ein reiner Aktualisierungsversuch ist. Infolgedessen müssen die verschiedenen Züge dieser heterogenen Perspektive detailliert rekonstruiert werden, um Agambens Sichtweise zu verstehen und seine Rezeption von einigen Missverständnissen zu befreien. Um diese komplexe Analytik zu verstehen, werden vor allem im ersten Kapitel die Biographie Agambens, sein Bildungsprozess und seine ersten philosophischen Arbeiten referiert sowie seine Methodologie vorgestellt und kritisch diskutiert. An-

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schließend wird im zweiten Kapitel die Verwendung des Begriffs des Lebens innerhalb Agambens theoretischer Perspektive analysiert und insbesondere auf die Bedeutungen, die Unterschiede und Kontroversen um die Termini bíos, zoé und nacktes Leben eingegangen. Der Begriff des Ausnahmezustands ist Gegenstand des dritten Kapitels, in dem die Agambenʼsche Lektüre der Souveränitätslehre Carl Schmitts und ihre biopolitische Interpretation diskutiert werden. Im vierten Kapitel wird der Begriff homo sacer erklärt und seine hermeneutische Potenzialität erörtert. Der Fokus im fünften Kapitel liegt auf der von Agamben vorgenommenen Interpretation des politischen Diskurses der Moderne. Dabei wird insbesondere sein Verständnis von Menschenrechten, das Verhältnis von Demokratie und Totalitarismus und die Vorstellung des Lagers als biopolitischem Nomos der Moderne vorgestellt. Zum Schluss werden im sechsten Kapitel Probleme und mögliche Weiterentwicklungen der biopolitischen Perspektive Agambens aufgezeigt.

2.1 B IOGRAPHIE

UND

M ETHODOLOGIE

2.1.1 Biographie und das Homo Sacer-Projekt Agambens Forschung über die Struktur, die Geschichte und die Art der Macht beginnt Anfang der 1990er Jahre.1 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich mit literarischen, philologischen und philosophischen Themen beschäftigt, die um die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Ontologie kreisen. Die Bildung des italienischen Philosophen ist eher heterogen und setzt sich unter anderem aus für ihn prägenden Erfahrungen zusammen. Sie lässt sich daher nicht in die Kategorien des regulären akademischen Lebenslaufs einordnen. Agamben hat beispielsweise weder eine Promotion noch eine Habilitation abgeschlossen. Er studierte in den 1960er Jahren Rechtswissenschaft an der Universität von Rom und schloss sein Studium mit einer Arbeit über Simone Weil ab. Während seiner Jugend verkehrte er mit wichtigen Persönlichkeiten der italienischen intellektuellen Szene wie Elsa Morante und Pier Paolo Pasolini.2 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre besuchte er die Seminare Heideggers in Le Thor in Frankreich, in denen er die Philosophie für sich entdeckte. In den frühen 1970er Jahren arbeitete er als Lektor in Paris und lernte

1

Einige Termini wie »Homo Sacer« und »Ausnahmezustand« tauchen auch in einigen Aufsätzen der 1980er Jahre auf. Allerdings sind diese in einen anderen theoretischen Rahmen eingebettet.

2

Agamben spielte auch in Pasolinis berühmtem Film »Evangelium nach Matthäus«.

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Gilles Deleuze,3 Klossowski und andere wichtige Intellektuelle kennen. 1974 arbeitete Agamben beim Warburg Archiv in London und gab die Werke Walter Benjamins, als dessen bedeutendster Interpret er angesehen werden kann, auf Italienisch heraus.4 1975 wurde Agambens Bewerbung um eine Arbeitsstelle an der Universität abgelehnt.5 In diesen Jahren pflegte er zudem einen regelmäßigen philosophischen und wissenschaftlichen Austausch mit Autoren wie Italo Calvino und Enzo Melandri (Agamben 2004a; Agamben 2010a). In dieser ersten Phase von Agambens philosophischer Produktion stellen Martin Heidegger und Walter Benjamin die wichtigsten Bezugspunkte seiner philosophischen Überlegungen dar. In einem Interview erläuterte er seine Beziehung zu den beiden Autoren wie folgt: der eine habe als »Gegengift« für den anderen fungiert, da sie die gleiche Problematik unter verschiedenen Sichtweisen betrachtet hätten.6 Die Hinweise auf seine Bildung zeigen, dass diese als philosophische Erfahrung zu betrachten ist. Nicht zufällig ist die Erfahrung auch das Thema einer seiner ersten Arbeiten Infanzia e Storia (Kindheit und Geschichte, Agamben 2004c). Sehr interessant und wichtig für das Verständnis seiner Philosophie ist zudem seine Idee, heterogene Perspektiven in Verbindung zu setzen, um aus dieser Interaktion einen neuen hermeneutischen Rahmen entstehen zu lassen. Ausgehend von dieser Sichtweise lässt Agamben in seinen Arbeiten AutorInnen miteinander kommunizieren, die auf den ersten Blick kaum zusammenzupassen scheinen. Diese Konzeption der philosophischen Arbeit oder, besser gesagt, der Entwicklung des Denkens ist eines der charakteristischen Merkmale seiner Perspektive. Zugleich führt diese Heterogenität jedoch oft zu Missverständnissen, die durch ein angemessenes Verständnis der Methode seines Denkens überwunden werden können. Obwohl Agamben das Interesse an der Ontologie nicht verloren hat, hat sich sein Forschungsinteresse von der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Ontologie zu der Frage der Macht verschoben (vgl. Andreotti und De Melis 2006). Wie von ihm selbst in einigen Interviews betont, hängt diese Wende in seinem Denken von einer historischen Kontingenz ab. Das Tian’anmen-Massaker, der erste

3

Mit dem er auch die Bücher Bartleby, la formula della creazione« verfasste (Agamben und Deleuze 1993).

4

Agamben entdeckte auch unbekannte Manuskripte Benjamins in der Bibliothèque nationale von Paris.

5

In einem Interview mit Adriano Sofri erklärt Agamben, dass das Scheitern seiner universitären Karriere durch seine Fremdheit gegenüber den Machtverhältnissen innerhalb der Universität begründet war (vgl. Sofri 1985).

6

Diese Rekonstruktion des Lebenslaufs von Agamben wird im Anschluss an zwei Interviews vorgenommen, in denen er selbst die wichtigsten Ereignisse seiner Bildung kommentiert (vgl. Sofri 1985 sowie Andreotti und De Melis 2006).

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Golfkrieg, die neue Massenimmigration aus Afrika und Ost-Europa sowie der Jugoslawienkrieg kennzeichneten für ihn eine neue historische Phase, in der im Namen des Lebens und der Sicherheit ein tödliches Potenzial freigesetzt werde. In diesen Jahren beschäftigte sich Agamben intensiv mit der Analytik der Macht von Michel Foucault und seinem Begriff der Biopolitik. Diese Verschiebung des Forschungsinteresses Agambens findet seine erste Erfüllung in der Publikation in 1995 von Homo Sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Dieses Werk wurde 1998 ins Englische und in den folgenden Jahren praktisch in fast alle Sprachen übersetzt – die deutsche Version erschien 2002 – und erlaubte seinem Autor, ein weltbekannter Star der intellektuellen Szene zu werden. In dieser Zeit ist Homo Sacer auch der Titel des Forschungsprojekts Agambens über die Genealogie der politischen Macht im Abendland geworden. Worin das Homo Sacer-Projekt besteht, oder besser gesagt welche Arbeiten Teile von diesem Forschungsprojekt sind, ist relativ unklar, da Agamben selbst seine Arbeiten ganz zufällig und nicht chronologisch nummeriert. Antonio Negri hat in einer Rezension über Agambens Opus Dei – die als Teil von dem Homo SacerProjekt als Homo Sacer II, 5 vorgestellt wird – die Nummerierung des Homo SacerProjekts als »bizarr« definiert (vgl. Negri 2012). Die zweite Arbeit des Projekts – Was von Auschwitz bleibt, das Archiv und der Zeuge (1998 auf Italienisch erschienen, Agamben 2003c) – ist zum Beispiel als Homo Sacer III markiert; oder es existieren zwei Bände, die als Homo Sacer II, 2 (Agamben 2010c, 2015) markiert sind und es wurden Homo Sacer II, 3 und Homo Sacer II, 5, aber keine II, 4 veröffentlicht. Außerdem gibt es Schriften wie Das Offene. Der Mensch und das Tier (Agamben 2003a) und Profanierungen (Agamben 2005), die einen wichtigen Beitrag zum Verständnis seiner Perspektive leisten, obwohl sie nicht als Teil des Homo Sacer-Projekts präsentiert werden. Trotz dieser Bizarre in der Nummerierung, die als Parodie der Idee des philosophischen Systems interpretiert wird, lassen sich drei Forschungsrichtungen erkennen, die das Homo Sacer-Projekt charakterisieren. In der ersten Phase seiner Forschungen lässt sich Agamben von der Einsicht leiten, dass Foucaults Untersuchung zum Verhältnis von Politik und Leben vertieft und weiterentwickelt werden müsse. Ihm zufolge hat der französische Philosoph die Verbindung zwischen dem Recht und dem Lebensbegriff nicht angemessen berücksichtigt. Insofern konzipiert Agamben seine Forschung auch als Korrelat der Foucaultʼschen Forschungen über die Biopolitik (vgl. ebd.), indem er diesen Aspekt zu entwickeln versucht. Insofern steht das Verständnis des Verhältnisses von souveräner und biopolitischer Macht im Mittelpunkt der Forschung. Zu dieser Phase sind Homo Sacer I, die souveräne Macht und das nackte Leben (Agamben 2002) und Ausnahmezustand Homo Sacer II, 1 (Agamben 2004b) als die wichtigsten Werke zu betrachten. Eine Verschiebung seines Forschungsinteresses fand im letzten Jahrzehnt statt. Gegenstand dieser

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zweiten Phase der Agambenʼschen Forschungen ist nun vermehrt das sogenannte »ökonomische Paradigma« (vgl. Agamben 2010c). Darunter versteht er ein Dispositiv, das als Modell für die Ausübung der Macht als Regierung funktioniert. Es geht um eine Forschung, die als Korrelat der Foucaultʼschen Genealogie der Gouvernementalität interpretiert werden kann. In dieser zweiten Phase spielt der Begriff der Biopolitik eine marginale Rolle. Zu dieser Forschungsperspektive gehören Werke wie Herrschaft und Herrlichkeit (Agamben 2010c), Das Sakrament der Sprache (Agamben 2010d), Opus Dei. Archäologie des Amts (Agamben 2013). In den letzten Jahren thematisiert Agamben wieder das Verhältnis von Leben und Politik. Im Zentrum dieser dritten Phase steht die Genealogie des ontologischen Dispositivs und die Formulierung einer modalen Ontologie, die zu einer neuen Definition des Verhältnisses von Leben und Politik ausgehend von dem Begriff der Lebensform führen muss. Dieses Projekt wird in den zwei Arbeiten verfolgt, die unter der Signatur Homo Sacer IV – d.h. Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform (Agamben 2012) und Lʼuso dei corpi (Agamben 2014) – stehen. Als Bestandteil dieser Analytik des ontologischen Dispositivs und seiner biopolitischen Implikationen muss außerdem auch die Schrift Das Offene (Agamben 2003a) eingegliedert werden. Dieses hermeneutische Schema wird von Agamben selbst in seiner Arbeit Lʼuso dei corpi, Homo Sacer IV, 2 bestätigt (vgl. Agamben 2014, 333-335). Lʼuso dei corpi (dt.: der Gebrach der Körper) wird als konklusives Werk des Homo SacerProjekts präsentiert, obwohl der Text mit einem ambiguen Satz beginnt, was das Ende des Projekts betrifft. Agamben zufolge kann eine Forschung nie beendet, sondern nur verlassen werden (ebd., 9). Insofern muss diese Ankündigung über das Ende des Homo Sacer-Projekts mit einem vernünftigen Skeptizismus gelesen werden. Bevor die verschiedenen Problematiken und Begriffe von Agambens Analytik der Macht rekonstruiert werden können, ist es jedoch notwendig, zunächst auf seine Methodologie einzugehen. 2.1.2 Agambens Methodologie: Zwischen Philologie und Analogie Die Heterogenität von Agambens intellektuellem Entwicklungsprozess und die Schwierigkeit, ihn einer philosophischen Schule zuzuordnen, erschweren das Verständnis seiner Forschungsmethode. In ihrer Einführung zu Agamben definiert Eva Geulen Agambens Methode als »philologisch« (Geulen 2009). Diese Definition ist vor allem für die ersten philosophischen Produktionen zutreffend, die stark von Benjamin beeinflusst sind. In einem Kapitel von Kindheit und Geschichte beschäftigt sich Agamben mit der Auseinandersetzung von Adorno und Benjamin über die Methode in ihrem

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Briefwechsel (Agamben 2004c). Im Zentrum der Diskussion steht die Methodologie, die Benjamin in seinen Passagen benutzen wollte, um das Verhältnis von Überbau und Unterbau zu erklären. Wie bereits bekannt (Adorno und Benjamin 1995), wirft Adorno Benjamin vor, in seinem Projekt in einen vulgären Materialismus zu verfallen, weil er eine kausale Beziehung von Überbau und Unterbau unterstelle. Da jede kausale Beziehung eine Form von Metaphysik impliziere, entferne sich – so die Annahme Adornos – die Benjaminʼsche Form kritischer Forschung von der Idee eines dialektischen Materialismus. Während Adorno sich auf die Vermittlungsfunktion der Dialektik für die Erklärung des Verhältnisses von Überbau und Unterbau beruft (ebd., 364-370), folgt Benjamin einer anderen Methode, die er als »philologisch« charakterisiert. Diese geht davon aus, dass sich das Verhältnis von Überbau und Unterbau als Einheit oder »Monade« erforschen lasse, weil in der Praxis keine Trennung zwischen diesen Ebenen bestehe. Infolgedessen müsse der/die ForscherIn den Augenblick untersuchen, in dem diese Monade entstehe (ebd., 376-381). In seinem Kommentar zu dieser Auseinandersetzung versucht Agamben Benjamins Methodologie zu erklären und weiterzuentwickeln. Benjamins philologische Tätigkeit wird von ihm als Garantie der Einheit der Monade interpretiert, die als »textueller Befund« betrachtet werden müsse, in dem sich Überbau und Unterbau in ihrer Identität als bloße »Faktizität« darstellten (Agamben 2004c, 171). Im Gegensatz zu Adornos Kritik argumentiert Agamben, dass Benjamins Anspruch keinen Anlass zur Interpretation des Verhältnisses von Überbau und Unterbau als kausale Beziehung biete (ebd., 173). Vielmehr erlaube – Agamben zufolge – Benjamins philologische Methode es, zu verstehen, dass in der Praxis keine Trennung zwischen diesen Ebenen existiere. Die Monade oder das dialektische Bild, das von dem/r philologisch-philosophischen ForscherIn untersucht werden solle, fungiere bei Benjamin als Index der Geschichte (vgl. Agamben 2009). Im Anschluss an diese Überlegungen und an Benjamins Behandlung des Verhältnisses von Sach- und Wahrheitsgehalt im Kunstwerk definiert Agamben die Aufgabe der Kritik wie folgt: »Die Aufgabe der Kritik besteht darin, in der staunenden Faktizität des in Form eines philologischen Befunds vorliegenden Werks die unmittelbare und ursprüngliche Einheit von Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, von Unterbau und Überbau zu erkennen, die in ihm erstarrt sind« (Agamben 2004c, 173). Diese Konzeption einer philologischen Methodologie ist in den frühen wie in den späten Schriften Agambens erkennbar. Das Interesse an Foucaults Forschungen brachte nicht nur eine genealogische Wende in Bezug auf den Gegenstand der Agambenʼschen Untersuchungen mit sich, sondern auch in seiner Methodologie. Allerdings bedeutet dies nicht, dass sein bisheriger methodologischer Ansatz aufgegeben wurde. Vielmehr verfolgt er das Ziel, einen Kreuzpunkt in der Forschungsmethode zwischen Benjamins philologischer Kritik und der philosophi-

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schen Archäologie im Sinne von Melandri und Foucault zu finden. Insofern überrascht die Ablehnung Agambens nicht, sein Denken allein auf die philologischen Arbeiten Benjamins zu beschränken (vgl. Andreolli und De Melis 2006). In den letzten Jahren hat er durch Interviews und Vorträge seine Idee der Forschungsmethodologie weiter vertieft und erklärt. Signatura rerum ist der Titel der Arbeit, in der er seine Ansichten zur Forschungsmethode versammelt. Zunächst muss jedoch ein methodologisch-philosophisches Prinzip erwähnt werden, dass Agambens gesamte wissenschaftliche Produktion bestimmt. In dem folgenden Zitat, in dem er von sich selbst in der dritten Person spricht, wird dieses Prinzip erläutert: Ein anderes methodologisches Prinzip, auf das sich der Autor öfter bezieht, […] lehrt, dass das philosophische Element eines Werks – gleich ob es sich um ein Werk der Kunst handelt, der Wissenschaft oder des Denkens – in dem liegt, was Feuerbach seine Entwicklungsfähigkeit nannte. Will man ein Prinzip dieser Art befolgen, erweist sich eine scharfe Grenzziehung zwischen dem, was auf den Autor eines Werkes zurückgeht, und dem, was sein Interpret daraus entwickelt, nicht als unwesentlich, wohl aber als schwer durchzuführen. Der Autor ist darum lieber das Risiko eingegangen, Texten anderer das zuzuschreiben, was er selbst aus ihnen entwickelt, als das entgegengesetzte Risiko, Gedanken oder Forschungen für sich in Anspruch zu nehmen, die nicht die seinen sind.7 (Agamben 2009, 8, Herv. i. O.)

Diese Forschungsperspektive erklärt zudem, warum Agamben sich nicht auf die philologische Forschungsmethode beschränkt. In seiner philosophisch-archäologischen Wende in puncto Methodologie sind die philosophisch-genealogische Archäologie bei Foucault zum einen und die Analyse der analogischen Rationalität bei Melandri zum anderen als »philosophische Elemente« zu betrachten. Obwohl auch andere Perspektiven – vor allem die bereits erwähnte Benjaminʼsche Philologie – die philosophische Praxis Agambens beeinflussen, sind diese zwei genannten Perspektiven diejenigen, die vor allem das Homo Sacer-Projekt anleiten. Wie erwähnt behauptet Agamben schon in seiner Einführung zu La linea e il circolo von Melandri, dass das ausgebliebene »Treffen« zwischen Melandri und Foucault ein Verlust für die Entwicklung der Humanwissenschaften und insbesondere für eine angemessenere Definition der philosophischen Archäologie sei. Ihm zufolge bietet Foucaults Theorie ein »ontologisches Paradigma« für die philosophische Archäologie, indem Foucault diese auf Aussagen beruhe. Allerdings formuliere er dafür keine »Logik« der archäologischen Forschung, die wiederum in der analogischen Rationalität von Melandri gefunden werden könne (vgl. Agamben 2004b, XXIV). Die

7

Dieses Prinzip wird auch in dem Aufsatz Was ist ein Dispositiv formuliert (vgl. Agamben 2008).

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Forschungsmethode Agambens lässt sich insofern auch als Versuch interpretieren, dieses »Treffen« zwischen Foucault und Melandri zu verwirklichen. Bevor die grundlegende Annahme Agambens zu seiner Forschungsmethode analysiert werden kann, sind zwei weitere Anmerkungen bezüglich der Rezeption seines Werks zu erwähnen. Signatura rerum hat aus zwei Gründen wenig zum besseren Verständnis seines philosophischen Projekts beigetragen. Zum einen liegt dies an seinem kryptischen Stil selbst und in der oberflächlichen Behandlung einiger Themen. Zum anderen ist es auf die fast vollkommene Unbekanntheit von Melandris Thesen zur Analogie zurückzuführen. Diese Probleme haben dazu geführt, dass sogar durch einen Text, der einige Missverständnisse ausräumen sollte, neue entstanden sind.8 Daher kann durchaus behauptet werden, dass Signatura rerum nicht nur die Begriffe und Perspektiven von Foucaults Archäologie des Wissens übernimmt, sondern auch dessen Verständnisprobleme erbt. Zunächst hebt Agamben schon auf den ersten Seiten von Signatura rerum hervor, dass die von ihm verwendeten Begriffe wie homo sacer, Ausnahmezustand und Konzentrationslager als Paradigmen9 zu verstehen seien, obwohl diese auch historische Phänomene bezeichneten.10 Ihm zufolge besteht die Aufgabe des Paradigmas in der wissenschaftlichen Praxis, in der Konstitution eines historischen Problemkontextes und insbesondere darin, diesen »in seiner Gesamtheit verstehbar zu machen« (ebd., 11). Infolgedessen verdeutlicht er gleichzeitig, dass seine Forschungen keinen historischen Charakter besäßen und kein Kausalverhältnis zwischen verschiedenen Elementen setzen würden. Das Paradigma sei nämlich weder eine induktive noch eine deduktive Erkenntnisform. Im Unterschied dazu handele es sich um eine analogische Erkenntnisform, die Agamben explizit von Enzo Melandri übernimmt. Wie schon erwähnt, funktioniert die analogische Rationalität gegensätzlich zur Logik, die auf dem Satz des tertium non datur basiert und deswegen vor allem auf dichotomischen Prinzipien wie dem Allgemeinen und dem Besonderen beruht. Im Unterschied dazu zielt die analogische Rationalität auf die Neutralisierung der Di-

8

In einem in der Tageszeitung Die Welt veröffentlichten Artikel interpretiert Graf noch 2013 Agambens Perspektive als »Verschwörungstheorie« (Graf 2013). Diese Lesart zeigt ein absolutes Missverständnis der Philosophie und Forschungsmethode Agambens auf.

9

Agamben hatte sich schon früher mit dem Begriff des Paradigmas beschäftigt. Beispielsweise behandelte er in einer Vorlesung an der European Graduate School im Jahr 2002 dieses Thema. Vgl.: www.egs.edu/faculty/giorgio-agamben/videos/what-is-a-paradigm/.

10 Agamben hat schon in einigen Interviews seine Begriffe als Paradigmen definiert (vgl. Interview mit Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung vom 6.04.2004). In ihrer Einführung zu Agamben berücksichtigt auch Eva Geulen dieses Konzept, um Agambens Methodologie zu erklären (vgl. Geulen 2009).

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chotomie und geht davon aus, dass immer ein »Drittes« untersucht und definiert werden kann. Auch für Agamben ist die Idee grundlegend, dass es in analogischen Erkenntnisformen immer ein tertium datur gibt, das auf dem Prinzip »weder A noch B« beruht. Das analogische Dritte gewinnt sein Statut hier vor allem durch die Desidentifikation und die Neutralisation der beiden ersten Positionen, die damit zugleich voneinander ununterscheidbar werden. Das Dritte ist diese Nichtunterscheidbarkeit, und der Versuch, es durch zweiwertige Zäsuren zu bestimmen, muß notgedrungen auf Nichtentscheidbarkeit stoßen. (Agamben 2009, 24, Herv. i. O.)

Das Paradigma ist bei Agamben dieses »analogische Dritte«. Es kann, wie bei Melandri, auch für ihn nicht als Syntheseprinzip betrachtet werden; er vergleicht das Paradigma vielmehr mit einem Kraftfeld, in dem die Dialektik der dichotomischen Prinzipien neutralisiert wird und diese dichotomischen Prinzipien als Pole des Kraftfelds betrachtet werden (ebd., 24). Um die analogische Praxis der Neutralisierung zu verstehen, ist ein Beispiel aus Agambens Werk sehr nützlich. Eine der kontroversen Thesen aus Homo Sacer besagt, dass eine interne »Solidarität« zwischen Demokratie und Totalitarismus existiere (Agamben 2002, 20). Tatsächlich neutralisiert Agamben die Dichotomie von Demokratie als dem »Guten« und Totalitarismus als dem »Bösen«, um die Analogien dieser Systeme sichtbar werden zu lassen. Durch die Paradigmen versucht er nicht zu beweisen, dass es keinen Unterschied zwischen Demokratie und Totalitarismus gebe. Vielmehr möchte er zeigen, dass sowohl in demokratischen als auch in totalitären Systemen eine bestimmte Macht auf das Leben ausgeübt wird. Dazu kommt, dass für Agamben wie auch für Melandri der Verdienst des Paradigmas in seiner strategischen Funktion liegt. Das Paradigma erlaubt, anders ausgedrückt, eine kritische Sichtweise auf das Existierende. Agamben fasst das Wesen des Paradigmas in einer Reihe von Charakteristika zusammen. Zunächst handele es sich, wie schon gesagt, um eine analogische Erkenntnisform und deshalb um das Fortschreiten »von einem besonderen zu einem anderen besonderen« (Agamben 2009, 37). Zudem werde die dichotomische Logik, der die Dichotomie von Generellem und Partikularem zugrunde liegt, von einem analogischen und bipolaren Modell ersetzt. Die Entstehung eines Paradigmas hängt ihm zufolge von dem Augenblick ab, in dem »seine Zugehörigkeit zu seinem Ensemble aussetzt und zugleich exhibiert« (ebd.). Infolgedessen lasse sich nicht zwischen Beispiel und Besonderheit unterscheiden. Schließlich dürfe das Paradigma nicht mit einer arché oder einem Ursprung identifiziert werden, da darin jedes Phänomen ursprünglich und jedes Bild archaisch sei. Deswegen liege die Historizität des Paradigmas dort, wo Diachronie und Synchronie sich überschneiden.

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Hierbei muss ein Unterschied zwischen Agamben und Melandri in der Konzeption des Paradigmas berücksichtigt werden. Bei Melandri wird das Paradigma bzw. das analogische Dritte nicht mit dem hermeneutisch-interaktiven Feld – das aus der Neutralisierung der Dichotomie entsteht – identifiziert. Für ihn besitzt das Paradigma immer einen Zwischenstatus oder eine funktionale Identität als Ergebnis der Interaktion der polaren Größen. Bei Melandri besteht die Funktion des Paradigmas auch in der Legitimierung der gesetzten bipolaren Interaktion. Außerdem steht Melandri der Idee kritisch gegenüber, dass sich die analogische Argumentation auf das Schema von Besonderem zu Besonderem beschränken lasse. Agamben jedoch identifiziert das analogische Dritte Melandris de facto mit der Idee des dialektischen Bildes von Benjamin. Das Ergebnis dieser philosophischen Operation ist eine Ontologisierung des Paradigmas (Agamben 2009, 38), das bei Melandri hingegen analytisch ist. Diese Ontologisierung ist jedoch nicht unbedingt als Substanzialisierung zu interpretieren, wie Frank Ruda annimmt, der von einer impliziten negativen ontologischen »Substanzialisierung« bei Agamben spricht (Ruda 2011, 644). Ontologie des Paradigmas bedeutet bei Agamben vielmehr, dass das Sein des Paradigmas mit seiner Funktion, »sichtbar zu machen«, zusammenfällt. Dazu kommt, dass bei ihm das Grundlegende eines Paradigmas – z.B. homo sacer – in seiner diskursiven Bedeutung und nicht in seiner historischen Realität liegt. Anders ausgedrückt: Bei jedem Paradigma ist zu fragen, was sichtbar gemacht wird, und nicht was existiert. Eine Analytik des Politischen durch Paradigmen weist für Agamben unmittelbar auf die philosophische Archäologie als Forschungsmethode hin. Foucault und seine Idee der Archäologie des Wissens ist explizit die wichtigste Referenz für Agambens Version dieser Forschungsmethode (Agamben 2009, 115). Zunächst ist hierzu zu bemerken, dass Agamben die Theorie der Aussagen von Foucault als Theorie der signature neu definiert. Für ihn ist signature nicht als bloßes Zeichen zu interpretieren, sondern vielmehr als die Fähigkeit der Macht, ein Zeichen intelligibel zu machen. Er betont, dass sich auch Foucault in Die Ordnung der Dinge (Foucault 1971) auf den Traktat von Paracelsus über die signature beziehe. Die Aufgabe der signature bestehe bei Foucault darin, Ähnlichkeiten, Sympathien, Analogien und Korrespondenzen wiederzuerkennen (Agamben 2009, 71). Für Agamben können énoncé und signature als Synonyme betrachtet werden. Zudem fällt bei ihm die Definition der signature mit der der Aussage zusammen. Die énoncés sind noch nicht Diskurs, weder semiotisch noch semantisch, sie sind aber schon nicht mehr bloßes Zeichen; wie die Signaturen bilden sie keine semiotischen Relationen aus und schöpfen keine neuen Bedeutungen; vielmehr bezeichnen sie die Zeichen auf der Ebene ihrer Existenz, markieren sie mit ihrem »Charakter« und aktualisieren und verschieben so ihre Wirksamkeit. Sie sind die Signaturen, die die Zeichen dadurch erwerben, daß sie faktisch existieren und verwendet werden […]. (Ebd., 79f.)

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Agamben bemerkt, dass Foucault den Begriff signature nicht weiter definiert und stattdessen oft das Substantiv »Ähnlichkeit« bevorzugt. Trotzdem sei seine Betrachtung grundlegend, um den Ort und die Natur der signature zu verstehen. Dafür sei Foucaults Unterscheidung zwischen Semiologie und Hermeneutik grundlegend (ebd., 72). Die Semiologie definiere Foucault zufolge, was als Zeichen betrachtet werden kann. Im Unterschied dazu verhandele die Hermeneutik die Gesamtheit der Kenntnisse, die den Sinn eines Zeichens definieren. Die Aufgabe der Ähnlichkeit oder der signature besteht für Agamben darin, diese Ebenen in Kommunikation zu bringen, oder anders ausgedrückt: sie setzt einen Abstand zwischen diesen Ebenen, der die Produktion des Wissens erlaubt (ebd.). Obwohl Foucault entscheidend zu der Definition der signature beigetragen habe, ist Agamben zufolge die Definition der signature als Element, das den Übergang von Semiologie und Hermeneutik und umgekehrt ermöglicht, allerdings ein Verdienst von Enzo Melandri. Zudem definiere Melandri die signature als Index, der den Code des Zeichens zu entziffern erlaube (ebd.). Diese Betonung der Index-Funktion der signature weist explizit auf Benjamins Idee des dialektischen Bildes hin (ebd., 89). Agamben zufolge wird die Bedeutung dieses Begriffs von Benjamin deutlicher, wenn er innerhalb einer Theorie der signature verstanden werde (ebd., 90). Hierbei wird deutlich, dass die Interpretation von énoncé als signature auch als philosophische Operation zu interpretieren ist, durch die Agamben die Forschungsperspektive von Foucault und Benjamin zu verbinden versucht. Allerdings führt diese Operation zu einem Problem in der Konzeption historischer Kontinuität und Diskontinuität. Die Idee eines Index der Geschichte, der in der signature verborgen und darin zu untersuchen ist, führt Agamben dazu, die Geschichte in Termini von Kontinuität zu interpretieren. Im Unterschied dazu fokussiert die Analytik Foucaults eher auf die Diskontinuität. Wie in den nächsten Kapiteln eingehend aufgezeigt wird, leitet diese Idee der Kontinuität das gesamte Homo Sacer-Projekt und führt Agamben dazu, eine Geschichtsphilosophie zu formulieren. Besser gesagt, lässt sich die Analytik Agambens nicht pauschal als geschichtsphilosophisch interpretieren; es tauchen bei ihr aber theoretische Elemente auf, die typischerweise eher einer Geschichtsphilosophie und nicht einer Genealogie angehören. Ebenso problematisch an seiner These zur Forschungsmethode ist das Verhältnis von Paradigma und signature. Er beschäftigt sich überhaupt nicht mit dieser Frage. Insofern ist zu hinterfragen, ob die signature auch eine paradigmatische Funktion ausüben kann, oder ob etwas zugleich ein Paradigma und eine signature sein kann. Meine These hierzu ist, dass ein Zeichen sowohl eine signature als auch ein Paradigma sein kann. Als Paradigma macht ein Zeichen eine Interaktion sichtbar, während es als signature auf einen Index der Geschichte verweist. Bei Agamben hingegen wird der Eindruck erweckt, dass beide analytische Prozesse zusam-

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menfallen. Dieses Zusammenfallen ist jedoch problematisch und sogar widersprüchlich. Die Interaktion, die das Paradigma aufzeigt, verweist auf eine Dynamik und Konfliktualität. Im Unterschied dazu ist die Idee eines Index immer ein Hinweis auf eine innere Logik der Geschichte. Die Analyse der Forschungsmethode Agambens verfolgt nicht nur das Ziel, diese zu verstehen. Vielmehr möchte ich hinterfragen, wie seine Begriffe zu interpretieren sind. Oder besser gesagt: Ist es plausibel, eine Kritik an Agamben ausgehend von einem disziplinären Wissensbereich zu üben? Die Antwort auf diese Frage ist negativ. Obwohl sich Agamben nicht mit der Frage nach disziplinär und interdisziplinär beschäftigt und er als philologischer oder archäologischer Philosoph (oder beides zugleich) bezeichnet werden kann, wäre seine Perspektive im Rahmen eines disziplinären Wissensbereichs kaum verständlich. Bei ihm lässt sich vielmehr von einer Interaktion zwischen Philosophie, Politologie, Rechtswissenschaft, Ästhetik, Theologie, Philologie und Soziologie sprechen. Es ist daher sinnvoll, die Forschungsmethode Agambens wie auch seine Begriffe und seine Methode im Rahmen einer bipolar-analogischen Analytik im Sinne Melandris zu interpretieren, 11 die die Idee einer disziplinären Wissenschaft als solche neutralisiert, um zu dem Apriori der disziplinär-diskursiven Formationen zurückgehen zu können. Diese Hypothese für die Interpretation der Perspektive Agambens wird auch in Signatura rerum von ihm selbst bestätigt, wenn er sich mit der Genealogie der Idee einer philosophischen Archäologie beschäftigt (ebd., 100ff.). Obwohl er die Geschichte dieser Forschungsmethode ausgehend von Kant und dann bei Nietzsche und Overbeck rekonstruiert, bleiben bei ihm Foucault und Melandri die wichtigsten Referenzen für die Definition dieser Forschungsmethode. Im Anschluss an Foucault bemerkt Agamben, dass die Archäologie um »die Formierung der diskursiven Formationen, Wissensinhalte und Praktiken« (ebd., 116) zentriert sei. Die Aufgabe dieser Methode bestehe in der Erforschung der Bedingungen, der Konflikte und der Praktiken, die die Entstehung einer wissenschaftlichen Tradition erlaubten. In Die Ordnung der Dinge spricht Foucault von einem »historischen Apriori« (Agamben 2009, 115), das von Agamben als die Bedingung eines Diskurses als solchem in einer bestimmten historischen Zeit interpretiert wird. Foucault hat Agamben zufolge allerdings nicht die Frage nach der eigentümlichen Zeitstruktur gestellt, die von dem Begriff des historischen Apriori impliziert werde. Enzo Melandri habe dieses

11 Diese Interpretationslinie wird in Deutschland auch von Vittoria Borsò thematisiert. Borsò lehnt die Idee ab, dass sich Agamben im Rahmen einer politischen Prophezeiung interpretieren lässt. Gegen diese Tendenz der Rezeption verweist sie gerade auf die Bipolarität der Perspektive Agambens (vgl. Borsò 2010). Das Interessante an Borsòs Arbeit liegt darin, dass sie zu diesem Schluss ohne Verweis auf Signatura rerum gelangt, in dem diese Struktur des Schreibens und des Gedankens explizit thematisiert wird.

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Problem gelöst, indem er an Freuds These über das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem anknüpfe. Melandri setzt eine interessante Analogie zwischen der Trennung von »bewusst« und »unbewusst« und der Teilung von Historiografie und wirklicher Geschichte und definiert die Aufgabe der Archäologie als ein Zurückgehen an den Punkt, an dem »bewusst und unbewusst sich trennen«. Infolgedessen müsse die Archäologie dasjenige Element suchen, das den Prozess der Verdrängung sichtbar mache (Melandri 2004, 66). Melandri nennt die Art und Weise, in der die philosophische Archäologie durch ein »Zurückgehen vor die Trennung« den Forschungsgegenstand erforscht, »dionysische Regression« (ebd., 67). Im Anschluss an Melandri behauptet Agamben, dass die dionysische Regression der Archäologie und die Psychoanalyse insofern ein ähnliches Ziel besäßen, dass beide Methoden versuchten, einen Zutritt zur Vergangenheit zu erlangen. In der genealogischen Fragestellung wird der Zugang zur Vergangenheit, den die Tradition verdeckt und verdrängt hat, nur durch die geduldige Arbeit ermöglicht, mit der die Suche nach dem Ursprung verabschiedet und durch die Aufmerksamkeit auf den Anbruchspunkt ersetzt wird. […] Indem die archäologische Regression zurückgeht bis jenseits des Risses zwischen bewußt und unbewußt, erreicht sie auch die Bruchlinie, an der Erinnerung und Vergessen, Erlebtes und Nichterlebtes miteinander kommunizieren und sich voneinander trennen. (Agamben 2009, 127)

Der »Anbruchspunkt« steht für Agamben im Zentrum der philosophischen Archäologie und wird durch die Paradigmen sichtbar gemacht. Es geht dabei darum, zu verstehen, wie ein Diskurs entstanden ist und dann kanonisiert wurde. In diesem Sinn eröffnet die Archäologie nicht nur einen Zugang zur Vergangenheit, sondern auch das Verständnis der Gegenwart. In dem Maße, in dem sich verstehen lässt, wie etwas ausgeschlossen wurde, wird es Agamben zufolge möglich, das Verhältnis von Einschluss und Ausschluss, Erinnerung und Vergessen, Vergangenheit und Gegenwart intelligibel zu machen.

2.2 G ENEALOGIE

DES

L EBENSBEGRIFFS

Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben stellt das Hauptwerk Agambens in Bezug auf die Biopolitik dar. Diese Forschung über den Ursprung der politischen Macht im Abendland beginnt mit einer archäologischen Regression zu dem Anbruchspunkt, an dem sich die Bedeutung des politischen von dem biologischen Leben trennt. Agambens Rekonstruktion der politisch-ontologischen Bedeutung des Lebensbegriffs wird verständlicher, wenn zwei seiner grundlegenden Kon-

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zepte verdeutlicht werden. Das erste betrifft die Unterscheidung von zoé und bíos in der altgriechischen Sprache und das zweite ist der Begriff der anthropologischen Maschine. Dieser Begriff wird von ihm in seinem Werk Das Offene eingeführt, um das Mensch-Tierverhältnis zu erklären (Agamben 2003a). Beide Themen werden in diesem Kapitel analysiert. Außerdem wird die Funktion und Bedeutung der Dispositive in Agambens Perspektive erläutert. Diese sind grundlegend für die Definition des Lebensbegriffs oder, besser gesagt, ist ihm zufolge jede Definition und Konzeption des Lebens das Ergebnis eines durch Dispositive entwickelten Prozesses. 2.2.1 Bíos, zoé und das nackte Leben Einer der wichtigsten Beiträge Agambens zur Diskussion über Biopolitik ist die Einführung eines semantischen Unterschieds innerhalb des Substantivs »Leben«. Insbesondere verweist er darauf, dass es im Altgriechischen zwei Substantive gibt, die definieren, was die modernen Sprachen mit dem Substantiv »Leben« ausdrücken. Zoé bezeichnet »die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist«, während sich bíos auf »die Form oder Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist« bezieht (Agamben 2002, 11). Um diese Differenz genauer zu fassen, zitiert Agamben eine Passage aus Aristotelesʼ Werk Politik (Aristoteles 2006), in der das Leben an sich als zoé definiert wird, während das Substantiv bíos eingesetzt wird, um »Beschwerlichkeiten des Lebens« darzulegen. Nach diesem philologischen Exkurs kann Agamben einen wichtigen Schluss ziehen: »In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben jedoch aus der pólis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein reproduktives Leben strikt auf den Bereich des oîkos eingeschränkt « (Agamben 2002, 12, Herv. i. O.). Oîkos markiert hierbei das Haus, das als Raum der Lebensreproduktion zu denken ist. Zwischen oîkos und pólis bestand ein radikaler Unterschied. Der erste betraf das private Leben, während die zweite als Ort des öffentlichen Zusammenlebens gedacht war. Der Zweck der Politik bestand infolgedessen nicht in der Reproduktion der einfachen Tatsache des Lebens (to zên). Vielmehr bestand das politisch qualifizierte Leben darin, dass es am Guten orientiert war. Diese Interpretation übernimmt Agamben offensichtlich von Arendt. Allerdings konzentriert er sich nicht auf die Idee des politischen Handelns, sondern beschäftigt sich mit dem Verständnis der Zäsur von politischem und natürlich-reproduktivem Leben.12

12 Philosophisch interessant ist Agambens Interpretation der aristotelischen Definition des Menschen als »zoon politikon«. Agamben zufolge verweist das Adjektiv politisch auf die Gattung des Menschen als zoon (Tier) (vgl. Agamben 2002, 12).

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Diese Rekonstruktion von Bedeutungsunterschieden innerhalb des klassischen politischen (und ontologischen) Diskurses ist keine bloße philologische Übung, die die Aufgabe erfüllt, die Differenz zwischen den modernen Sprachen und der altgriechischen zu erklären. Nach Agamben stellt bíos/zoé vielmehr »das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen Politik« dar (ebd., 18). Wenn der Zweck der Polis in der Verwandlung des Lebens (zoé) in gutes Leben (bíos) besteht, kann ihm zufolge behauptet werden, »dass die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist« (ebd., 16). Dieses Verfahren lasse sich nicht nur verstehen als Einbeziehung der Zeugung (ginoménē) in das Sein (oûsa), sondern auch als eine einschließende Ausschließung (eine exceptio) der zoé aus der pólis gelesen werden, beinah als ob die Politik der Ort wäre, an dem sich das Leben in gutes Leben verwandeln muß, und als ob das, was politisiert werden muß, immer schon das nackte Leben wäre. Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet. (Ebd., 17, Herv. i. O.)

Infolgedessen wird Agamben zufolge das Politische durch zwei gegensätzliche aber komplementäre Prozesse begründet. Einer betreffe die Verwandlung des Lebens in gutes Leben (bíos) und parallel dazu betreffe der andere die Ausschließung des nackten Lebens von der politischen Existenz. Die Opposition müsse als »Einbeziehung des ersten in das zweite« (ebd., 17), d.h. des nackten Lebens in die politische Existenz, interpretiert werden. Um diesen Prozess zu charakterisieren, spricht Agamben von einer »einschließenden Ausschließung« (ebd.). Anders ausgedrückt: Das Leben wird in Form einer Ausschließung in die politische Ordnung eingesetzt. Das nackte Leben befindet sich nicht einfach jenseits der politischen Ordnung und zugleich ist die politische Ordnung keinesfalls bedeutungslos für das nackte Leben. Vielmehr bestimmt die politische Ordnung, dass das nackte Leben keine politische Existenz haben darf – dieses darf nur physiologisch leben (to zén). Die Entscheidung, ob eine Lebensform das Recht auf eine politische Existenz besitzt, ist bereits eine politische Entscheidung. Aus diesem Grund ist das nackte Leben in der Perspektive Agambens in keinem Fall ein unpolitisches Leben. Vielmehr ist das nackte Leben schon in dem Maße politisch, in dem es als Ergebnis einer politischen Ordnung entsteht. Es handelt sich natürlich um ein Paradox, das er durch die Analyse der Bedeutung des lateinischen Worts exceptio darlegt. Exceptio (ital: eccezione, dt.: Ausnahme) charakterisiert etwas Negatives, jenseits des Normalzustands. Im Anschluss an Benjamin und Schmitt geht Agamben davon aus, dass nicht die Regel, sondern die Ausnahme die politische Ordnung bestimmt. Nur durch die Ausnahme kann ihm zufolge eine Norm oder auch eine Ordnung verstanden werden.

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Die Souveränitätslehre von Carl Schmitt ist insofern das grundlegende theoretische Element von Agambens Theorie des Politischen.13 Ein weiterer Aspekt der Perspektive Agambens in Bezug auf den Lebensbegriff und insbesondere auf die Dialektik von bíos und zoé betrifft die Rezeption der Bedeutung des Begriffs »nacktes Leben«. Diese erweist sich als umstritten, da Agamben nicht deutlich macht, ob dieser ein bloßes Synonym von zoé (d.h. natürliches/physiologisches Leben) ist oder mit diesem Terminus etwas anderes bezeichnet wird. Obwohl der Autor Anlass zu beiden Interpretationen gibt, 14 lässt sich im Anschluss an seine theoretische Perspektive behaupten, dass das nackte Leben etwas anderes als zoé ist. Der Gebrauch des Ausdrucks nuda vita (»nacktes Leben«) ist ein expliziter Hinweis auf das, was Benjamin in seinem Aufsatz Kritik der Gewalt als das »bloße Leben« bezeichnet (vgl. Benjamin 1999). Auf Italienisch existiert kein Adjektiv, das als direkte Übersetzung des deutschen »bloß« gelten kann. Seit der ersten Herausgabe der Schriften Benjamins auf Italienisch wird der Begriff »bloßes Leben« mit dem Ausdruck nuda vita übersetzt. Während die Auswahl der italienischen ÜbersetzerInnen überzeugend ist, da der bestmögliche Ausdruck der italienischen Sprache für das Adjektiv »bloß« benutzt wird, ist die Entscheidung der deutschen Übersetzer, nuda vita mit »nacktes Leben« zu übersetzen, problematisch. Zwar gibt es einen relevanten Unterschied im Gebrauch und in der Bedeutung dieses Begriffs innerhalb der Werke Benjamins und Agambens, jedoch handelt es sich um denselben Begriff, den Agamben versucht weiterzuentwickeln. Die Kontroverse über die Übersetzung und das Verständnis des Ausdrucks nuda vita wird auch im englischsprachigen Raum thematisiert. Hierbei dreht sich die Auseinandersetzung darum, ob »naked life« oder »bare life« Agambens Begriff am besten widergibt (vgl. Salzani 2012). Eine der letzten Arbeiten Agambens, deren Titel Nuditá in der deutschen und englischen Version als »Nacktheit« bzw. »Nudity« übersetzt wird, gibt Anlass zu der Annahme, dass naked/nackt besser als bare/bloß das italienische nuda in den Schriften Agambens ausdrückt (vgl. Agamben 2010b). Allerdings muss ein wichtiger Aspekt berücksichtigt werden, der dazu führt, den Begriff nuda vita in Nuditá nicht als Erklärung für denselben Begriff in Homo Sacer zu verwenden. In Nuditá

13 Dieser Aspekt wird in dem nächsten Kapitel vertieft. 14 Andrew Norris betont, dass Agamben in einer ersten Phase »nacktes Leben« als zoé identifiziert, während im Folgenden dieser Begriff zweideutig wird. Zum einen bezieht sie sich auf zoé und zum anderen auf heiliges Leben, das Agamben zufolge weder bíos noch zoé ist. Norris zufolge ist diese Ambivalenz das Ergebnis eines oberflächlichen Gebrauchs des Terminus »nacktes Leben« (Norris 2000). In der deutschsprachigen Rezeption werden »nacktes Leben« und zoé häufig als Synonyme betrachtet (vgl. Scheu 2006; Pieper 2003; Rodríguez 2003).

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beschäftigt Agamben sich mit der Analyse des Verhältnisses von nuda vita und theologischen Dispositiven. Im Unterschied dazu steht im Zentrum von Homo Sacer das Verhältnis von nuda vita und Rechtsdispositiven. In Homo Sacer verfolgt Agamben explizit das Ziel, einige Aspekte aus Benjamins Aufsatz Kritik der Gewalt zu vertiefen. Deswegen ist es adäquat, das italienische nuda vita mit bloßem Leben bzw. bare life zu übersetzen. Während Benjamin die enge Verbindung von Gewalt und Recht, die auf das bloße Leben ausgeübt wird, betont (vgl. Benjamin 1999), untersucht Agamben das Verhältnis von Leben und souveräner Macht, d.h. von Leben und Politik. Hierbei ist es wichtig, das nackte Leben nicht als substantielles Wesen zu interpretieren. Vielmehr ist es das Ergebnis der Interaktion von Politik und Leben. Im Anschluss an Agambens Forschungsmethode können bíos und zoé nicht als dichotomische Elemente betrachtet werden. Die Dichotomie von politischem und biologischem Leben wird von ihm vielmehr neutralisiert. Das nackte oder bloße Leben ist weder zoé noch bíos, sondern die »Ununterscheidbarkeit« von diesen zwei Formen des Lebens. Insofern stellt das nackte Leben ein Paradigma dar, das die Unmöglichkeit einer Distinktion zwischen politischem und biologischem Leben aufzeigt. Homo sacer wie auch die Ultrakomatösen, Flüchtlinge oder Insassen eines Lagers und jede weitere Verkörperung des nackten Lebens sind signature, die als Indices der Geschichte operieren. Diese Interpretation wird auch dadurch bestätigt, dass in dem Homo Sacer-Projekt keine biologischen Kenntnisse wie auch keine Analyse des politischen Handelns betrachtet werden. Agamben entwickelt nichts anderes als eine Genealogie des nackten Lebens. Dieser Forschungsgestand unterscheidet seine Perspektive von derjenigen Foucaults. Wie bereits erwähnt, denkt Foucault Biomacht und Biopolitik im Gegensatz zur juridischen Idee der Ausübung der Macht. Darüber hinaus ist für Foucault das Wissen über das biologische Leben grundlegend für die Entwicklung einer Biopolitik, während für Agamben die Entwicklung des biologischen Wissens nur zu einer Verschärfung der Produktion von nacktem Leben führt. Noch wichtiger ist der Aspekt, dass die Analytik der Biopolitik bei Foucault eng mit der Analytik der Subjektivierungsprozesse verbunden ist. Was Foucault unter Subjekt versteht, lässt sich als bíos in der altgriechischen Perspektive verstehen. Deswegen steht im Zentrum seiner Analyse das bíos und nicht die Nichtunterscheidbarkeit von politischem und biologischem Leben. Man kann daher behaupten, dass Foucault und Agamben nicht nur mit verschiedenen Lebensbegriffen arbeiten, sondern auch unterschiedliche Forschungsgegenstände untersuchen.

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2.2.2 Die anthropologische Maschine Wie schon erwähnt, kann, anschließend an Agambens Forschungsmethode, der Unterschied zwischen bíos und zoé nicht als eine dichotomische Opposition gedacht werden. Vielmehr lassen sie sich als Vektoren oder Pole eines Kraftfelds erforschen, in dem sich das Verhältnis von Leben und Politik entwickelt. Insofern besitzen die semantischen Unterschiede, die Definitionen und Trennungen innerhalb des Substantivs »Leben« – Agamben zufolge – immer einen politischen Charakter. Ausgehend von dieser Perspektive analysiert er in seinem Text Das Offene (Agamben 2003a), wie das menschliche und tierische Leben differenziert werden. Obwohl dieser Text kein expliziter Teil des Homo Sacer-Projekts ist, ist er grundlegend, um den Begriff des Lebens oder, besser gesagt, die Produktion von Lebensbegriffen zu verstehen. Ausgangspunkt von Agambens Überlegungen ist hierbei die Auseinandersetzung zwischen Alexandre Kojève und Georges Bataille über die Frage nach dem Schicksal der Menschheit am Ende der Geschichte.15 Während ersterer die Rückkehr des Menschen in eine animalische Form prognostizierte, sprach Bataille von einer »Negativität ohne Beschäftigung«, die das Dasein des Menschen am Ende der Geschichte charakterisiere (ebd., 14f.). Obwohl Agamben die These vom Ende der Geschichte akzeptiert, unterscheiden sich seine Überlegungen sowohl von denen Kojèves als auch von denen Batailles. Zwar entdeckt der Mensch Agamben zufolge am Ende der Geschichte seine animalische Form neu, jedoch nicht im Sinne einer Versöhnung, wie Kojève annahm. Vielmehr gehe die Rückkehr zur animalischen Form mit einem Anstieg der Gewalt einher (ebd., 17). Die Rekonstruktion dieser Diskussion bildet für Agamben den Ausgangspunkt für eine genealogische Forschung über die Fragen, worin der Begriff des Lebens besteht und wie Mensch und Tier differenziert werden. In Bezug auf die erste Frage bemerkt er, dass der Begriff »Leben« als solcher niemals definiert werde. Vielmehr lasse sich dieser bestimmen, indem er durch eine Reihe von Zäsuren und Gegensätze gegliedert und geteilt werde (ebd., 23).

15 Alexandre Kojève spielte eine grundlegende Rolle in der Einführung der hegelschen Philosophie in Frankreich. Seine Seminare über die Phänomenologie des Geistes wurden von Intellektuellen wie Bataille, Lacan, Klossowski und Merleau-Ponty besucht. In diesem Zusammenhang theoretisiert Kojève das Thema des Endes der Geschichte. Diese Theorie geht davon aus, dass die Negation der konstituierten Ordnung und des Kampfs gegen diese, die das menschliche Handeln in der Geschichte charakterisieren, mit der Entstehung einer universellen politischen Form beendet seien. Diese Idee ist in den letzten Jahren von dem Politologen Francis Fukuyama wieder aufgegriffen worden (vgl. Prozorov 2009).

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Der wichtigste Moment in der abendländischen Kultur ist Agamben zufolge die Theorie des Lebens von Aristoteles.16 Das Entscheidende daran sei nicht die Definition des Lebens als solchem, die im Übrigen auch nicht geliefert wird, sondern die Möglichkeit, das natürliche Leben von dem menschlichen abzugrenzen. Dieses Ereignis ist Agamben zufolge für die Entwicklung der Wissenschaft grundlegend gewesen, weil ausgehend von dieser Kategorisierung Menschen und Tiere voneinander unterscheidbar wurden. Somit sei es möglich geworden, das »Menschliche« und das »Tierische« zu definieren (ebd., 24). Insofern sei die gesamte Tradition der Metaphysik nicht bloß eine altmodische akademische Disziplin, sondern eine »anthropologische Maschine«, die die Menschlichkeit produziere (ebd., 87). Agamben betont, dass diese Operation, die das Humane vom Nicht-Humanen trenne, sich innerhalb des Menschen selbst ereigne. Diese Trennung habe deshalb keinen neutralen Charakter und sei insofern unmittelbar praktisch und politisch. 17 Infolgedessen ist es für ihn grundlegend, zu beleuchten, wie diese Maschine funktioniert. Ähnlich der Souveränität, wie in den nächsten Kapiteln erörtert wird, funktioniert ihm zufolge auch die anthropologische Maschine durch eine Einschließung und eine Ausschließung. Insofern in ihr die Erzeugung des Humanen mittels der Opposition Mensch/Tier, human/inhuman auf dem Spiel steht, funktioniert die anthropologische Maschine notwendigerweise mittels einer Ausschließung (die immer auch ein Einfangen ist) und einer Einschließung (die immer schon eine Ausschließung ist). Gerade weil das Humane jedes Mal bereits vorausgesetzt wird, schafft die Maschine eine Art Ausnahmezustand, eine Zone der Unbestimmtheit, wo das Außen nicht als die Ausschließung des Innen und das Innen seinerseits nur die Einschließung eines Außen ist. (Ebd., 46f.)

Es dürfte aus diesem Zitat deutlich werden, dass für Agamben Ein- und Ausschließung als gegensätzliche, aber komplementäre Prozesse zu verstehen sind. Somit lassen sie sich nicht als getrennte Operationen interpretieren, da jede Form des Lebens gleichzeitig ein- und ausgeschlossen wird. In dem Maße, in dem eine solche als Leben definiert wird, ist sie automatisch in die anthropologische Maschine geraten.

16 Agamben bezieht sich insbesondere auf Aristotelesʼ Schrift De Anima (Aristoteles, 1995). 17 In diesem Zusammenhang kritisiert Agamben die metaphysische Tradition, die sich zu sehr auf das Geheimnis der Vereinigung von Körper und Seele konzentriert habe. Im Gegensatz dazu betont Agamben die praktische und politische Notwendigkeit, diese Trennung zu erforschen (Agamben 2003a, 87).

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Agamben unterscheidet darüber hinaus eine vormoderne von einer modernen anthropologischen Maschine. Die erste funktioniere durch die Humanisierung des Tieres. Sklaven, Barbaren und Fremde wurden als Tiere in menschlicher Form betrachtet und stellen für Agamben somit ein Zeichen dieses Humanisierungsprozesses dar. Die zweite operiere durch die Ausschließung der »Schon-Humane« als »(noch) Nicht-Humane« (ebd., 47). Agamben spricht von einer Animalisierung des Menschen in Bezug auf die moderne anthropologische Maschine, die durch das Absondern des Nicht-Humanen im Inneren des Menschen selbst ermöglicht werde. Trotz dieses grundlegenden Unterschieds teilten beide Versionen eine Funktionsweise. Sowohl die antike als auch die moderne anthropologische Maschine sei auf die Einrichtung einer Zone der Unentschiedenheit angewiesen, in der sich »die Verbindung zwischen dem Humanen und dem Animalischen, zwischen Mensch und Nicht-Mensch, Sprechendem und Lebendem ereignen muss« (ebd.). Das Leben in dieser Zone sei weder menschlich noch tierisch, sondern bloßes oder nacktes Leben. Die Zone wird von Agamben als virtuelle charakterisiert, die ständig gegenwärtig ist. Diese Virtualität sei es, die das Funktionieren der Maschine erlaube. Insofern sollten die Kategorien, die er als Beispiel benutzt, nicht als außerhalb der Maschine existierende interpretiert werden. Vielmehr befinden sie sich am Rand der Zone und stellen deswegen eine effektive Möglichkeit für jedes Leben dar. Jeder kann ein komatöser Patient oder ein Flüchtling in dem Moment werden, in dem sein Leben in diesen Zustand fällt. Agambens Analyse der anthropologischen Maschine lässt sich auch als Kritik an der politischen Funktion der Metaphysik verstehen. Aus dieser Perspektive hat jede essentialistische Definition eine politische Effektivität. Das Offene zeigt zwar zweifellos, dass die Ontologie und die Analytik der ontologischen Diskurse bei ihm grundlegend sind. Allerdings entwickelt er selbst keine essentialistische Ontologie und auch seine Begriffe sind nicht essentialistisch. Vielmehr versuchen sie, das Ergebnis einer Interaktion von Politik/Ontologie und Leben sichtbar zu machen. Zu Recht kommt Eva Geulen zu dem Schluss: »Nacktes oder bloßes Leben bedeutet für Agamben also nicht ein vorgängiges biologisches Substrat, sondern einen Rest, der erst durch Abstraktionen, Definitionen, Unterscheidungen und Ausschließungen produziert wird« (Geulen 2009, 60). Das bloße Leben als Interaktion von Politik und Leben oder als Produkt der anthropologischen Maschine ist insofern nicht der Gegensatz des qualifizierten Lebens, sondern sein »Rest« und kann nicht »bloße« zoé sein, da zwischen dem »nackten Menschen«, dem Tier und der Pflanze ein irreduzibler Unterschied existiert. Es muss noch ein Aspekt betont werden, den Agamben in Das Offene deutlich macht. Das Leben, sowohl in seiner qualifizierten als auch in seiner undefinierten Variante, ist ihm zufolge immer ein Produkt der Maschine und deswegen notwen-

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dig passiv. Das Dasein sei in dem einen wie dem anderen Fall eingefangen. 18 Damit verweist er darauf, dass ein Wesen oder ein Dasein seine Zugehörigkeit zu einer ontologisch definierten Art erleiden müsse. Als Beispiel darf ein Mensch somit kein Hund oder Angehöriger einer anderen Art werden, sondern muss notwendigerweise ein Mensch bleiben. Deswegen ist jedes Wesen in einer Definition eingefangen und darf sich aus diesem essentialistischen Ontologiesierungsprozess nicht entziehen. Die anthropologische Maschine erfüllt in Agambens Denken allerdings auch eine andere Aufgabe. In dem Maße, in dem jede Definition und Zäsur innerhalb des Lebens politisch sei, so hält er fest, sei die abendländische Politik von Anfang an Biopolitik. Gleichzeitig kann er eine Differenzierung zwischen vormoderner und moderner Biopolitik aufrechterhalten; während die erste das Tier humanisiere, animalisiere die zweite den Menschen.19 Das Verhältnis von Ontologie und Politik wird systematisch von Agamben in dem letzten Teil oder dritten Phasen des Homo Sacer-Projekts analysiert. Bei Lʼuso dei corpi (Agamben 2014, dt.: der Gebrauch der Körper) beschäftigt er sich mit einer von ihm genannten Archäologie der Ontologie, die die Implikationen des ontologischen Dispositivs für das Politische sichtbar macht. Unter ontologischem Dispositiv versteht Agamben eine philosophische Tradition, die ausgehend von Aristoteles das Sein, durch eine Trennung von Wesen und Existenz, versteht (ebd., 155f.). Ihm zufolge ist diese Trennung analogisch zu der Trennung von bíos und zóe, die der biopolitische Dispositiv charakterisiert. So wie ein politischqualifiziertes Leben durch die Ausschließung von einem nackten Leben möglich sein kann, sei ein Diskurs des Seins durch die Isolation eines Wesens von einer Existenz denkbar (ebd., 173). 2.2.3 Die Aufgabe der Dispositive in Agambens biopolitischer Perspektive Die Analyse der anthropologischen Maschine verdeutlicht, dass bei Agamben das Leben von Diskursen, Praktiken und Traditionen definiert wird, die immer eine politisch-ontologische Effektivität besitzen. Dieser Zusammenhang von aufeinander wirkenden Elementen wird von ihm unter dem Begriff des Dispositivs gefasst.

18 In ihrer Kritik an Agambens Begriff des nackten Lebens geht Andrea Visilache davon aus, dass das nackte Leben von dem institutionellen System ausgeschlossen sei. Dies kann jedoch nicht zutreffen, da das nackte Leben auch in Form der Ausschließung in Verbindung mit dem institutionellen System steht (Visilache 2007b). 19 Leider spezifiziert Agamben nicht weiter, worin diese Animalisierung besteht und welche Prozeduren und normativen Maßnahmen diese Veränderung produzieren. Insofern bleibt diese Behauptung lediglich eine faszinierende Provokation.

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Er übernimmt den Begriff von Foucault, erweitert aber zugleich dessen Bedeutung: »Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Geste, das Betragen, die Meinungen, und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern« (Agamben 2008, 26). Aus dieser Perspektive ist das Subjekt nichts anderes als das Ergebnis der Interaktion von Substanzen und Dispositiven (ebd., 27). Infolgedessen sind Agamben zufolge die Dispositive grundsätzlich Subjektivierungsmaschinen (ebd., 35). Je mehr Dispositive eingesetzt würden, desto mehr Subjektivierungsprozesse entwickelten sich. Allerdings betont er eine Spaltung innerhalb der Kategorie des Dispositivs. Auf der einen Seite stünden Dispositive wie die christliche Beichte oder die Verfassung, die ein moralisches oder juridisches Subjekt schüfen. Auf der anderen Seite hätten sich in der letzten Zeit einige Dispositive wie DNA-Tests oder optische Scanner entwickelt, die die Individuen vielmehr entsubjektivierten (ebd., 36f.). Dieser Unterschied ist interessant, da Agamben sich hierbei nicht nur auf nacktes, sondern auch auf qualifiziertes Leben bezieht. Allerdings vertieft er seine Beschäftigung mit den subjektivierenden Dispositiven nicht. Insofern lässt sich aus diesen Überlegungen keine Theorie Agambens in Bezug auf die Entwicklung des qualifizierten Lebens ableiten. Sein Fokus liegt vor allem auf der Produktion von nacktem Leben. Jedenfalls wird deutlich, dass für ihn die subjektivierenden Dispositive eine marginale oder residuale Aufgabe erfüllen, während die entsubjektivierenden Dispositive dominant sind. Diese These ist jedoch zu hinterfragen, weil sie der Tatsache zuwiderläuft, dass Normierungsprozesse und die Bestimmung eines Rechtssubjektes immer noch eine zentrale Rolle in dem Politischen sowie dem Biopolitischen ausüben. Die Idee, nach der die Produktion von nacktem Leben oder die entsubjektivierenden Dispositive strukturell die Biopolitik bestimmten, stellt ein gewichtiges Problem in der Perspektive Agambens dar und wird zu Recht als Residuum einer Geschichtsphilosophie interpretiert (vgl. Lemke 2007d). In Bezug auf den Begriff des Dispositivs ist noch hervorzuheben, dass obzwar ihm zufolge alle Dinge, Diskurse usw. als Dispositive fungieren können, dies nicht substantiell zu interpretieren ist (z.B.: Alle Dinge sind Dispositive). Vielmehr ist es präziser zu sagen, dass alle Dinge die Funktion des Dispositivs in dem Maße übernehmen können, in dem diese zur Bildung des Subjekts beitragen.

2.3 D AS D ISPOSITIV

DES

AUSNAHMEZUSTANDS

Giorgio Agamben widmet sich der Problematik des Ausnahmezustands sowohl im ersten Teil von Homo Sacer (Agamben 2002), in dem er auf die Logik der Souveränität Bezug nimmt, als auch in seinem Buch Ausnahmezustand (Agamben

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2004b), in dem die Thesen und Analysen des ersten Werks vertieft und ausgearbeitet werden.20 Der Ausnahmezustand ist ihm zufolge das Paradigma für das Verständnis der Struktur der Souveränität und somit der Produktion eines biopolitischen Körpers. Wie schon gesagt, setzt Foucault in seiner Theoretisierung der Biopolitik eine Trennung zwischen Biomacht und der alten souveränen Macht. Im Gegensatz dazu behauptet Agamben, dass nicht nur Biomacht und Souveränität in Verbindung stünden, sondern dass auch die souveräne Macht dem biopolitischen Wesen zugrunde liege, sodass sich die Politik des Abendlands von Beginn an als Biopolitik verstehen lasse. Allerdings beschränkt er sich nicht auf das bloße Verständnis dieses Verhältnisses. Vielmehr versucht er auch deutlich zu machen, wie Recht und Gewalt miteinander verflochten sind. Innerhalb der Auseinandersetzung um die Souveränitätstheorie lässt sich Agambens Lehre als Kritik der kontraktualistischen Theorie verstehen (vgl. Visilache 2007b). Jedoch erlaubt die besondere biopolitische Perspektive seiner Forschungen nicht, diese als dezisionistische zu charakterisieren. Denn obwohl er die Schmittʼsche Definition der Souveränität übernimmt, lehnt er die »dezisionistische« Konzeption der Souveränität als solche ab.21 Auch in diesem Fall lässt sich behaupten, dass er die rigide dichotomische Opposition von Formalismus und Dezisionismus – in seiner Formulierung Norm und Faktum – neutralisiert. Der Ausnahmezustand ist demnach das Paradigma für das Verständnis einer Zone der Ununterscheidbarkeit von Faktum und Norm und funktioniert insofern als analogisches tertium. Infolgedessen lässt sich Agamben weder als Formalist noch als Vertreter des Dezisionismus betrachten. Zudem muss hervorgehoben werden, dass er den Fokus seiner Arbeiten auf das Verständnis der Dispositive legt, die das nackte Leben produzieren. Die theoretischen Bezugspunkte seiner Untersuchungen zum Ausnahmezustand sind zum einen das Werk des Juristen und Rechtsphilosophen Carl Schmitt und zum anderen die Schriften des Philosophen Walter Benjamin. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Autoren ist Gegenstand einer kontroversen Debatte. Agamben vertritt die Position, dass Benjamins Aufsatz Kritik der Gewalt den ersten Schritt seiner Auseinandersetzung mit Carl Schmitt darstelle (vgl. Agamben 2004b, 65).

20 Das Interesse an dem Thema des Ausnahmezustands beginnt allerdings schon in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, wie ein Aufsatz über den Begriff der Souveränität des französischen Philosophen Georges Bataille zeigt, in dem Agamben bereits die Souveränitätslehre von Schmitt zitiert (Agamben 1988). 21 Niels Werber definiert Agamben als »Dezisionisten« (Werber 2002). Allerdings ist diese Definition wenig zutreffend, da Agamben die Souveränität als die originäre Struktur erfasst, in der sich das Recht auf das Leben bezieht. Dieser Aspekt unterscheidet Agamben von Schmitt, der die Souveränität als eine außerrechtliche Macht versteht.

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Um die Position Agambens besser zu verstehen, werden im Folgenden die Thesen von Schmitt und Benjamin zusammenfassend dargelegt. Danach wird seine Idee einer biopolitischen Souveränität und die These der Entwicklung des Ausnahmezustands als Regierungstechnik diskutiert. Zum Schluss dieses Kapitels wird das Verhältnis von Sicherheit und Ausnahmezustand analysiert, indem die Thesen von Foucault und Agamben über die Sicherheitsdispositive verglichen werden. 2.3.1 Recht und Gewalt bei Benjamin Agamben zufolge bildet das Verständnis des Verhältnisses von Recht und Gewalt in Benjamins Denken den Ausgangspunkt für jede Auseinandersetzung mit dem Thema der Souveränität (vgl. Agamben 2002, 74). Aus seiner Sichtweise ist Kritik der Gewalt der Text, in dem diese Problematik explizit thematisiert wird. Die Besonderheit der Schrift besteht darin, dass Benjamin darin eine Perspektive entwickelt, die mit den wichtigsten Lehren des Rechts bricht (vgl. Benjamin 1999). Denn Benjamin kritisiert sowohl die naturrechtliche These als auch die positiv-rechtliche Position bezüglich der Problematik des Gebrauchs von Gewalt. Die erste Strömung halte Gewalt für ein legitimes Mittel, wenn diese den richtigen Zwecken diene. In Abgrenzung dazu konzentrierten sich die VertreterInnen des positiven Rechts auf die Legalität des Mittels, weil ein legales Mittel immer schon auf einen richtigen Zweck verweise (ebd., 180-181). Benjamin schließt in seiner Untersuchung die Kategorie des Zwecks aus, um sich auf die Art und Weise zu konzentrieren, in der Gewalt ausgeübt wird (ebd., 182). Benjamin zufolge sind beide Perspektiven unfähig, das komplexe Verhältnis von Gewalt und Recht zu verstehen, denn beide beruhten auf der These der Richtigkeit des Zwecks. Im Gegensatz zu dieser Annahme behauptet er, dass sich das Recht auf die »Monopolisierung der Gewalt« gründe (ebd., 184). Jedes rechtliche System strafe den persönlichen Gebrauch der Gewalt, da dieser jenseits des Rechts selbst liege. Ihm zufolge lässt sich die ganze Geschichte des Rechts in der Dialektik zwischen rechtsetzender Gewalt und rechtserhaltender Gewalt verstehen (ebd., 202). Dementsprechend erweitere sich die Kritik der Gewalt auch auf die Kritik der Institutionen wie Parlamente und Tribunale, die Ausdruck dieser Dialektik seien. Benjamin führt als Gegenstrategie den Begriff der »göttlichen Gewalt« ein, deren Aufgabe die Zerstörung der Dialektik zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt sei (ebd., 203). Der Aufsatz enthält einige Aspekte, die von Agamben weiter ausgearbeitet werden. Zunächst wird gerade in diesem Text der Ausdruck »bloßes Leben« (ebd., 201) eingeführt. Zudem weist Benjamin auf die Beziehung zwischen Recht und nacktem Leben hin und setzt letztlich die Notwendigkeit voraus, dass auch die Herkunft der »Heiligkeit des Lebens« erforscht werden könne (ebd., 202). Agambens Forschungen über die Logik der Souveränität haben dasselbe Ziel, d.h., das Ver-

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hältnis von Gewalt und Recht zu bestimmen und gleichzeitig zu zeigen, dass das bloße Leben den privilegierten aber gleichzeitig geheimen Referenzpunkt der souveränen Macht darstellt. 2.3.2 Die Souveränitätslehre von Carl Schmitt Innerhalb der biopolitischen Perspektive Agambens hat die Souveränitätslehre von Carl Schmitt22 eine besondere Bedeutung. Das Interesse Agambens an Schmitt beruht darauf, dass dieser versucht, das grundlegende Verhältnis von Ausnahmezustand und Rechtssystem zu verstehen. Schmitts berühmte Definition der Souveränität lautet: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (Schmitt 1932, 11). Vom Gesichtspunkt der Gesetze aus ist Schmitt zufolge die Position des Souveräns paradox, da diese gleichzeitig außerhalb und innerhalb des Rechtssystems zu verorten sei. Um dieses Paradox zu erklären, bezieht sich Schmitt auf die Ausnahme. In seinen Worten wird diese folgendermaßen definiert: Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können. (Ebd.,19)

Indem sich Schmitt auf den Ausnahmefall bezieht, verfolgt er zwei Ziele. Zum einen versucht er zu beweisen, dass sich Entscheidung und Norm als konträre juristische Begriffe betrachten lassen. Zum anderen behauptet er, dass es einen Unterschied zwischen Ausnahmezustand und Chaos gebe, um die Möglichkeit einer Ordnung aufzuzeigen, die keine Rechtsordnung ist. Seine polemischen Ziele sind positivistische Theoretiker wie Kelsen und Krabbe. Im Gegensatz zu diesen geht Schmitt davon aus, dass keine Ordnung a priori existiere, sondern erst geschaffen werden müsse (ebd., 20f.). Die Aufgabe des Souveräns bestehe darin, eine »normale« Situation zu schaffen. Alle Rechte gelten nur innerhalb einer bestimmten Situation, die Schmitt zufolge nicht a priori existiert. Infolgedessen sei die Souveränität

22 Das Denken und die Begriffe Carl Schmitts sind in der italienischen politischen Philosophie seit Beginn der 1980er Jahren zunehmend rezipiert worden. Das Interesse an Schmitts Werk hat sich dabei weniger in konservativen oder juristischen Kreisen entwickelt, sondern vielmehr von linksorientierten WissenschaftlerInnen, die die Krise des Politischen anhand Schmittʼscher Kategorien interpretiert haben. Giorgio Agamben ist deshalb Teil eines wissenschaftlichen Umfelds, in dem Wissenschaftler wie Norberto Bobbio, Carlo Galli, Massimo Cacciari und Antonio Negri sich regelmäßig mit den politischen Begriffen des deutschen Juristen auseinandergesetzt haben.

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nicht durch das Herrschaftsmonopol charakterisiert, sondern beruhe vielmehr auf dem Entscheidungsmonopol. Agambens Beschäftigung mit Schmitts Souveränitätslehre in Homo Sacer fokussiert sich zunächst auf die Relevanz der Ausnahme für die Konstituierung einer politischen Ordnung. In diesem theoretischen Rahmen ist die Ausnahme wichtiger als der Normalfall, da diese die Erschaffung und die Verwaltung der Situation erlaube, die »das Recht für seine eigene Geltung bedarf« (Agamben 2002, 27). Agamben definiert im Anschluss an Schmitt die Ausnahme als »eine Art der Ausschließung« (ebd.). Es handele sich nicht um den Fall eines Handelns, das von der Normativität ausgeschlossen werde, denn die Ausnahme halte an einer Beziehung zur Norm fest: »Die Norm wendet sich auf die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr zurückzieht. Der Ausnahmezustand ist also nicht das der Ordnung vorausgehende Chaos, sondern die Situation, die aus ihrer Aufhebung hervorgeht« (Ebd., Herv. i. O.). Das Entscheidende an der Lehre Schmitts liegt gerade darin, dass er die Prämisse für das Verständnis des strukturellen Verhältnisses von Ausnahme und Norm setzt. Insofern ist der Ausnahmezustand für Agamben sowie für Schmitt gar kein Synonym für das Chaos. Vielmehr stellt der Ausnahmezustand die Möglichkeit dar, dass eine Ordnung in Kraft gesetzt werden kann. Agamben definiert diese exzeptionelle Funktion der Souveränität als paradoxal (ebd., 25). Ein Paradox stellt eine theoretische Grenze dar, die Melandri zufolge nur durch die Interpretation des Paradoxes selbst in einem neuen hermeneutischen Rahmen verstanden werden kann. Agambens Interpretation von Schmitts Souveränitätslehre verfolgt exakt dieses Ziel. In dem Maße, in dem der Ausnahmezustand als biopolitisches Dispositiv interpretiert wird, wird die strukturelle Verbindung zwischen der Schaffung einer politischen Ordnung durch den Ausnahmezustand und der Produktion von nacktem Leben sichtbar. 2.3.3 Biopolitische Souveränität Agamben übernimmt Schmitts Definition der Souveränität, indem er diese in eine biopolitische Perspektive einbezieht, die seine Arbeiten grundlegend von der Theorie Schmitts unterscheidet. Agamben bemüht sich zunächst, zu zeigen, dass die Ausnahme nicht jenseits des Rechtssystems steht. Vielmehr bilde sie die Möglichkeit, das Außen zu integrieren. Die Ausnahme solle als etwas interpretiert werden, das der Bestimmung der Normativität diene. Die Entscheidung über den Ausnahmezustand stellt deshalb nach Agamben weder den Willen eines Subjekts dar, dessen Vorrang hierarchisch begründet wäre, noch die Bestimmung dessen, was zulässig sei. Vielmehr liege sie in der »Einbeziehung der Lebenswesen in die Sphäre des Rechts« (ebd., 36). Ihm zufolge hat Schmitt es nicht geschafft, den engen Kern der

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Gesetze zu erfassen: »Das Recht besitzt normativen Charakter, es ist aber nicht deswegen ›Norm‹ (im eigentlichen Sinn von ›Winkelmaß‹), weil es befiehlt oder vorschreibt, sondern insofern es vor allem den Bereich der eigenen Referenz im wirklichen Leben schaffen und diese Referenz normalisieren muß» (Ebd.). Diese »normalisierende« Funktion des Rechts lässt sich nach Agamben verstehen, wenn die Rechtsordnung nicht als sanktionierende Macht betrachtet wird. Im Gegensatz dazu müsse die Macht als »Wiederholung derselben Handlung« gedacht werden, die nicht eine Sanktion konstituiere. Diese nichtsanktionierende Handlung, die das Handeln der Souveränität charakterisiere, sei eine Ausnahme in Bezug auf dasselbe Rechtssystem. Allerdings gehe es um eine Ausnahme, die das Recht begründe und deshalb könne gesagt werden, dass die Ausnahme die originelle Form des Rechts sei. Diese Erklärung benötigt jedoch noch eine Ergänzung. Denn wenn es nicht die Sanktion ist, was rechtfertigt dann den Einsatz des Rechts? Agamben führt deswegen den Begriff der Schuld ein. Das Verhältnis von Schuld und Recht sei auch von Benjamin und Schmitt berücksichtigt worden, wie er betont (ebd., 38). Sicherlich verweist der von ihm gebrauchte Begriff in höherem Maße auf denjenigen Benjamins. Sowohl in der viel zitierten Kritik der Gewalt, als auch in Schicksal und Charakter setzt Benjamin das Recht in Beziehung zur Schuld (vgl. Benjamin 1999). Diese wird allerdings nicht als Folge einer bestimmten Handlung angesehen, sondern als ein Attribut der Lebewesen. Das Recht könne daher in demselben Maße formuliert werden, in dem die Schuldigkeit des Menschen als Lebewesen angenommen werde. In gleicher Weise behauptet Agamben: »Die Schuld bezieht sich nicht auf die Überschreitung, das heißt auf die Bestimmung des Zulässigen oder Unzulässigen, sondern auf die reine Geltung des Gesetzes, auf den einfachen Umstand, daß sich das Gesetz auf etwas bezieht« (Agamben 2002, 37, Herv. i. O.). Agambens Innovation in Bezug auf das Verhältnis von Schuld und Recht besteht darin, dass es unmöglich sei, festzulegen, »ob die Schuld die Norm begründet oder die Norm die Schuld setzt« (ebd., 37). Diese Unmöglichkeit zeige, dass das Inkrafttreten des Rechts nur durch die Ausnahme möglich sei, in der sich die Grenze zwischen Norm und Faktum bzw. Norm und Recht nicht definieren lasse. Der Begriff der Schuld erweist sich als grundlegend, um das von Agamben gesetzte Verhältnis von Leben und Recht zu begreifen. Indem man die Schuldigkeit des Lebens voraussetzt, wird es ihm zufolge möglich, das Leben innerhalb der Rechtsordnung zu setzen. Die Schuldvermutung oder die Schuldigkeit der Individuen als Lebewesen sei jedoch weder eine Tatsache noch ein Prinzip. Vielmehr gehe es um eine Virtualität, die die Einschreibung des Lebens in die Rechtsordnung ermögliche. »Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität« (ebd.).

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An diesem Punkt zieht Agamben seine Schlussfolgerungen. Sowohl Schmitts Interpretation als auch die Theorien Kelsens führen ihm zufolge zu einem Missverständnis der Problematik der Souveränität, die »weder eine dem Gesetz äußerliche Potenz (Schmitt) noch die höchste Norm der Rechtsordnung (Hans Kelsen)« (ebd., 39) sei. Im Gegensatz dazu sei sie die Struktur, die die Beziehung des Gesetzes zu dem Leben charakterisiere. Im Anschluss an Überlegungen des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy verwendet Agamben den Begriff Bann als die Potenz des Gesetzes, »sich im eigenen Entzug zu unterhalten, sich in der Abwendung anzuwenden« (ebd.). Dieses Substantiv wurde in der germanischen Sprache benutzt, um sowohl den Ausschluss aus der Gemeinde als auch den Befehl und das Banner des Souveräns zu benennen. Der Hinweis auf den Bann mache das Wesen des Ausnahmezustands deutlicher: »Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen [abbandonato], das heißt ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen» (Ebd., Herv. i. O.). Es ist schwierig für die deutschen LeserInnen, die sprachliche Beziehung zwischen dem Substantiv Bann und dem Verb verlassen zu erkennen. Auf Italienisch lässt sich verlassen als abbandonare und Bann als bando übersetzen. Man kann hier gut erkennen, dass abbandonare aus dem Wort bando gebildet wird. Diese Beziehung ist nicht zufällig und zeigt Agamben zufolge das Wesen des Verhältnisses von Leben und Rechtsordnung: »Die originäre Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwendung, sondern die Verlassenheit [l’Abbandono]. Die unüberbietbare Potenz des nómos, seine originäre ›Gesetzeskraft‹, besteht darin, daß er das Leben in seinem Bann hält, indem er es verläßt» (Ebd., Herv. i. O.). In Agambens Schriften kommt darüber hinaus dem Begriff der Schwelle23 eine große Bedeutung zu. Eine Schwelle ist gleichzeitig eine Trennung, aber auch eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Bereichen. Innerhalb Agambens Philosophie ist keine Schwelle fest, sondern stets veränderbar. Da sie keinem spezifischen Bereich angehört, kann das Wesen einer Schwelle nicht definiert werden. Allerdings erlaubt gerade diese Unbestimmbarkeit die Möglichkeit, ein Gebiet zu definieren. Die Schwelle ist deshalb die Ausnahme, die durch eine schaffende oder konstituierende Macht charakterisiert ist. Aus diesem Grund kann Agamben zufolge die Schmittʼsche Opposition Freund/Feind nicht die grundlegende Kategorie der abendländischen Politik sein, da die von der Ausnahme charakterisierte souveräne Entscheidung nicht Grenzen, sondern Normen setze, die das Leben der Individuen

23 Die Wichtigkeit der topologischen Begriffe in den Schriften Agambens wird von Franziska Schloessler (2008) analysiert.

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beträfen.24 Indem Agamben von dieser Hypothese ausgeht, kann er behaupten, dass die Souveränität eine Macht über das Leben sei und deshalb die Biomacht seit Beginn der abendländischen Geschichte den Horizont der Politik darstelle. Allerdings möchte er nicht nur beweisen, dass die Politik seit jeher Biopolitik ist; er versucht darüber hinaus, die Dichotomie von Recht und Gewalt durch den Bezug auf den Ausnahmezustand aufzulösen. Wenn die analogische Rationalität berücksichtigt wird, kann die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand als tertium oder Feld betrachtet werden, in dem Recht und Gewalt als gegenseitige Pole eingesetzt werden, damit sich ihre Korrelation intelligibel machen lässt. Agamben bemerkt, dass schon die antiken Autoren das Paradox des Verhältnisses von Gewalt und Gerechtigkeit zu untersuchen versucht hätten. Während Autoren wie Hesiod den Begriff nómos in die Kraft, das Recht und die Gewalt trennen, definiert der Dichter Pindar im Gegensatz dazu in dem Fragment 169 Nomos als die Macht, die Bía (Gewalt) und Dike (Gerechtigkeit) vereint (ebd., 41f.). Demnach müsse Pindar als der erste große Denker der Souveränität betrachtet werden, da er gezeigt habe, dass der souveräne nómos in der Schaffung einer Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Gewalt und Recht bestehe, die »die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergeht«, markiere (ebd., 42). Diese Auffassung bricht Agamben zufolge mit der Interpretation, die Rechtsordnung im Gegensatz zum Naturzustand zu setzen. Die Gewalt sei keine Charakteristik des Naturzustands, sondern das Recht selbst liege ihr zugrunde. Im Anschluss an Leo Straussʼ Hobbes-Interpretation bemerkt Agamben, dass auch für den angelsächsischen Philosophen, der als der erste Denker der modernen staatlichen Souveränität angesehen wird, der Naturzustand keine Realität darstelle. Eher handele es sich um eine Virtualität, in der die Macht des Souveräns gründe. Denn der Souverän erhalte die Möglichkeit der Gewalt, die den Naturzustand charakterisiere, und was als Naturzustand betrachtet werde, sei in Wirklichkeit der Ausnahmezustand. Das Problem liege nicht im Rückfall in den Naturzustand, sondern in dessen Ausbreitung. Um seine These verständlicher zu machen, verwendet Agamben den Krieg in Ex-Jugoslawien als Beispiel. Was dort stattgefunden habe, sei kein Rückfall in den Naturzustand, sondern »das Zutagetreten des Ausnahmezustandes als permanente Struktur der juridisch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung« (ebd., 49). Er prognostiziert sogar, dass sich die Tendenz der Ausnahme, zur Regel zu werden, auch auf andere Staaten ausbreiten könne.

24 Der Begriff der anthropologischen Maschine, der schon in dem vorigen Kapitel analysiert worden ist, macht deutlich, dass in Agambens Behandlung die Definitionen des Lebens immer einen politischen Charakter besitzen.

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Seine Interpretation des Paradoxes der Souveränität aus einer biopolitischen Perspektive versucht vor allem zu zeigen, dass die Möglichkeit einer politischen Ordnung auf der Ausübung einer Macht über das Leben beruht. Das Entscheidende dieser Theorie besteht darin, dass in der exzeptionellen »Macht zu verbannen« der Kern des Politischen besteht. Das Problem dieser Perspektive liegt paradoxerweise – für eine/n analogische/n DenkerIn – in der monologischen und undialektischen Struktur der Idee des Politischen. Für Agamben gilt lediglich die konstituierte Macht als relevant und er berücksichtigt daher nicht, dass das Politische auch von einer konstituierenden Potentia und somit von Konfliktualität bestimmt wird. Viele Analysen seiner Perspektive betonen daher, dass diese auf die staatliche Ausübung der Biomacht beschränkt sei (vgl. Rose 2007; Lemke 2007a). Diese Interpretation muss allerdings korrigiert werden. Die von Agamben theoretisierte Struktur der Souveränität ist ihm zufolge das Apriori der Institutionalisierung der politischen Ordnung oder die externe Grenze der politisch-institutionellen Ordnung. Der Ausnahmezustand ist demnach ein Deaktivieren oder eine Suspendierung des Staates oder der Institution. Um diesen Zustand zu verstehen, kann die Idee der »Geltung ohne Bedeutung« der Gesetze übernommen werden, die er im Anschluss an den Briefwechsel von Scholem und Benjamin benutzt (ebd., 62). Im Ausnahmezustand sind die Institutionen und institutionellen Normen aus der Perspektive Agambens bedeutungslos, obwohl sie formell gelten. Insofern ist die Ausübung der Biomacht bei ihm nicht auf den Staat beschränkt; vielmehr liegt das Problem in seiner monologischen Konzeption der Macht. Wie schon erwähnt, thematisiert er das konstituierende und konfliktuelle Moment des Politischen nicht oder, besser gesagt, beschränkt er dieses auf die »Wiederholung derselben Handlung«, die in der Macht zu verbannen erkannt wird. 2.3.4 Der Ausnahmezustand als Regierungstechnik Die provokante Prognose bezüglich der Normalisierung des Ausnahmezustands wird in dem Buch Ausnahmezustand (Agamben 2004b) näher beleuchtet. Darin konkretisiert Agamben seine Analyse des Ausnahmezustands, indem er eine Reihe von Dokumenten berücksichtigt, die historisch die Entwicklung und den Ablauf dieses Dispositivs aufzeigen. Die Hauptthese dieser Arbeit lautet, dass die legale Erklärung des Ausnahmezustands und die darauffolgende Suspendierung des Rechts normalisiert würden. Die Erklärung des Ausnahmezustands werde somit nicht mehr als exzeptionelle Maßnahme, sondern als normale politische Handlung verwendet. Die Tendenz zur Integration des Ausnahmezustands in die Rechtsordnung ist Agamben zufolge charakteristisch für die Moderne (ebd., 36). In vormodernen Zeiten lasse sich nicht von einer Suspendierung des Rechts für einen besseren Schutz

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der Bevölkerung und der Institutionen sprechen (ebd.). Stattdessen könnten in der Moderne verschiedene Versuche ausgemacht werden, die auf die Einbeziehung des Dispositivs des Ausnahmezustands in die Rechtsordnung zielten (ebd., 18f.). Zunächst ist Agamben zufolge zu berücksichtigen, dass dieses Dispositiv in Kriegssituationen entsteht. Die Furcht vor Feinden und Invasionen bedinge die Notwendigkeit, besondere Gesetze zu verabschieden, um das Territorium besser verteidigen zu können (ebd., 11). Im Lauf der Zeit emanzipiere sich das Dispositiv des Ausnahmezustands von der Kriegssituation und werde eine Regierungstechnik, die in der Institution der gegenwärtigen Gefangenenlager von Guantanamo seine deutlichste Ausprägung erfahre (ebd., 10). Entscheidend für diesen Prozess sei die Vorstellung, dass die Gesellschaft nicht nur vor externen, sondern auch vor internen Feinden verteidigt werden müsse. Agamben zufolge lässt sich der moderne Totalitarismus demzufolge als permanenter gesellschaftlicher Krieg verstehen, der durch das Mittel des Ausnahmezustands bestimmte Individuen oder Kollektive aus dem Staat auszuschließen versuche (ebd., 11). Das Thema der Verteidigung der Gesellschaft vor internen Feinden ist auch von Michel Foucault analysiert worden, der dies in seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft aus dem Jahr 1976 in Bezug zur Entstehung der Biopolitik setzt (vgl. Foucault 1999). Während Foucault in der Entwicklung der modernen Biologie und der Verschiebung des rassistischen Diskurses die grundlegenden Instrumente für die Verteidigung der Gesellschaft sah, argumentiert Agamben, dass dieser Prozess durch den Gebrauch des Dispositivs des Ausnahmezustands charakterisiert sei. Unter diesem lasse sich kein außerordentliches Recht, sondern die Aufhebung des Rechts verstehen. Ein Zeichen davon sei die fortlaufende Abschaffung der Grenzen zwischen den drei Säulen der Gewaltenteilung, Legislative, Exekutive und Judikative. Der Ausdruck »Vollmacht« deute auf die Art und Weise hin, in der der Ausnahmezustand angewendet werde (Agamben 2004b, 12). Die Geschichte der Weimarer Republik stellt nach Agamben sowohl den Ablauf des Dispositivs des Ausnahmezustands als auch die Veränderung einer Demokratie in ein totalitäres System paradigmatisch dar (ebd., 22f.). Um die nach dem Ersten Weltkrieg entstehende schwache deutsche Demokratie besser zu verteidigen, wurde in der Verfassung der jungen Republik ein Artikel (Art. 48) eingeführt, der die Reglementierung des Ausnahmezustands beinhaltete. In dem Artikel war die Suspendierung der bürgerlichen Rechte vorgesehen, wenn die Ordnung und die Sicherheit des Staates als gefährdet angesehen wurden. Obwohl das Ziel dieses Artikels der Schutz der Demokratie gewesen sei, wurde die Regelung dazu benutzt, die politische Opposition, insbesondere die kommunistischen Revolutionäre, Spartakisten usw., zu unterdrücken (ebd., 23). Es ist bekannt, dass auch Schmitt sich mit dem Artikel 48 der Verfassung der Weimarer Republik beschäftigte. Um die Funktion dieses Artikels zu beleuchten,

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setzt er diesen in Verbindung mit dem Begriff der Diktatur. Schmitt zufolge ist die Diktatur ein Regierungsapparat, dessen Aufgabe in der Beherrschung und der Verwaltung des Staates besteht. Darüber hinaus sei es möglich, eine kommissarische von einer souveränen Diktatur zu unterscheiden. Erstere »hebt die Verfassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen« (Schmitt 2006, 133). Im Unterschied dazu suche die souveräne Diktatur »einen Zustand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung ansieht« (ebd., 134). In beiden Fällen sei ein transitorischer Charakter festzustellen (vgl. Kurz 1992, 170). Aus dieser Perspektive kann der Artikel 48 der Weimarer Verfassung als ein Fall von kommissarischer Diktatur angesehen werden (vgl. ebd.), während Hitlers Regierung »technisch« einer souveränen Diktatur entsprach (Agamben 2004b, 70). Die letzten Jahre der Weimarer Republik, in denen das Parlament nur sieben Mal zusammenkam, und die nationalsozialistische Zeit zeigen allerdings, dass die Aufhebung der Grundrechte nicht transitorisch war (ebd., 23), sondern, wie Benjamin in der achten These über den Begriff der Geschichte sagt, »der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel ist« (Benjamin 1978, zit. aus ebd., 69). »Das Ende der Weimarer Republik zeigt dagegen in aller Klarheit, daß eine ›geschützte Demokratie‹ keine Demokratie ist und daß das Paradigma der Verfassungsdiktatur eher als Phase eines Übergangs funktioniert, der in fataler Weise zur Einsetzung eines totalitären Regimes führt« (Ebd., 23). Das Problem von Schmitts These liegt darin, dass er eine Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Diktatur annimmt. Als Ausgangspunkt für die Analyse des Unterschieds zwischen Ausnahmezustand und Diktatur bietet sich Agamben zufolge die römische Rechtsinstitution des iustitium an. Im römischen Recht konnte der Senat nach einem senatus consultum ultimum das iustitium ausrufen, wenn die Republik in Gefahr war. Wie er selbst bemerkt, bedeutet der Terminus iustitium etymologisch »Anhalten, Suspendierung des Rechts« (ebd., 52), weswegen der Ausnahmezustand als dessen moderne Entsprechung angesehen werden könne. Die Analyse des iustitium, die er im Anschluss an Rechtswissenschaftler wie Mommsen, Nissen und Middel durchführt, zeige, dass sich der Ausnahmezustand nicht durch das Paradigma der Diktatur verstehen lasse, da die Diktatur eine »besondere Art Magistrat« darstelle und ihre Befugnisse innerhalb einer Rechtsordnung definiert würden (ebd., 58). Im Gegensatz dazu bestehe das iustitium in der Aufhebung des Rechts: »In dieser Perspektive erscheint der Ausnahmezustand nicht wie nach dem diktatorialen Modell als Machtfülle und pleromatischer Zustand des Rechts, sondern als kenomantischer Zustand, Leere und Stillstand des Rechts« (Ebd., 59). Um diese These weiter zu bekräftigen, verweist Agamben darauf, dass sowohl Mussolini als auch Hitler dadurch die Macht ergriffen hätten, dass sie formal die demokratischen Regeln respektiert hätten. Zudem hätten beide das parlamentarische System nicht durch die Verabschiedung einer neuen diktatorischen Verfassung

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abgeschafft (ebd.), sondern vielmehr das Recht durch den Ausnahmezustand suspendiert. Innerhalb der staatlichen Ordnung hätten sich deshalb zwei Ebenen abgezeichnet: Zum einen die Verfassung und das Recht, das sich de facto im Stillstand befunden habe; zum anderen eine nicht formalisierte zweite Struktur, die wegen des Ausnahmezustands mit dem Willen des Dux bzw. des Führers in Verbindung gestanden habe (ebd.). Da Agamben zufolge in der altrömischen Institution des iustitium wie auch im modernen Ausnahmezustand keineswegs die Grenzen der Macht definiert werden, würden beide Dispositive einen »rechtsfreie[n] Raum, eine Zone der Anomie« eröffnen (ebd., 62), in dem kein Unterschied mehr zwischen öffentlichem und privatem Leben existiere. Diese »Unbestimmbarkeit« enthüllt nach ihm den biopolitischen Charakter des Ausnahmezustands, d.h. die Möglichkeit, die souveräne Macht über jede Tat des Lebens auszuüben. In diesem Zusammenhang ist es grundlegend, zu verstehen und zu analysieren, wer wie über den Ausnahmezustand entscheidet und worauf diese Entscheidung beruht. Erneut bezieht sich Agamben auf das altrömische Recht. In diesem Kontext betrachtet er den Unterschied von potestas und auctoritas. Während erstere vom Recht reglementiert werde und sich als Attribut eines Magistrats erweise, knüpfe die auctoritas unmittelbar an den Willen und den Körper der Autorität an und kenne keine Grenzen ihrer Tätigkeit. Nur als auctoritas habe der römische Senat das iustitium ausrufen können. In gleicherweise habe Augustus »das Spezifische seiner verfassungsmäßigen Macht nicht in den gesicherten Termini einer potestas […], die er mit seinen Kollegen in der Magistratur teilt, sondern in den vageren der auctoritas« gesehen (ebd., 96, Herv. i. O.). Die auctoritas knüpfe unmittelbar an den Körper des Souveräns an und stelle damit eine anomische Zone dar, da sie nicht durch Recht reglementiert werde. In Bezug auf das Prinzipat von Augustus falle ins Auge, dass die Magistratur (potestas) nicht verschwinde (ebd., 96ff.). Es handele sich vielmehr um einen »Doppelstaat« (ebd., 59). Diese Situation weise deutlich auf das faschistische und nationalsozialistische Machtmodell hin, bei dem neben der Verfassungsordnung eine zweite Struktur existiert habe, die oft nicht vom Recht formalisiert gewesen sei und in Verbindung mit dem Dux oder Führer gestanden habe. Somit ließen sich »moderne Phänomene wie de[r] faschistische[…] Duce und de[r] Führer der Nazis […] in der Kontinuität des Prinzips auctorictas principis« (ebd., 98, Herv. i. O.) interpretieren. Auch Schmitt betrachte das Führertum auf diese Art und Weise, indem er sich auf das persönliche Charisma und psychologische Kategorien beziehe, um dieses zu erklären. Der psychologische Bezug zeigt Agamben zufolge nicht nur den biopolitischen Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern auch von jeder Macht, die sich auf das Prinzip der auctoritas beruft (ebd., 99). Nach seinen Ausführungen kann deshalb die ganze abendländische Politik durch die Dialektik potestas/auctoritas verstanden werden:

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Das Rechtssystem des Okzidents zeigt sich als doppelte Struktur, gebildet aus zwei heterogenen und doch koordinierten Elementen: ein normativ-rechtliches im engen Sinn, das wir hier der Einfachheit halber unter der Rubrik potestas fassen können, und ein anomisches und metarechtliches, das wir mit dem Namen auctoritas benennen können. (Ebd., 101, Herv. i. O.)

Während Agamben diese Dialektik im Faschismus und Nationalsozialismus beleuchtet, bleibt fragwürdig, inwiefern das Verhältnis von auctoritas und potestas innerhalb demokratischer Ordnungen funktioniert. Er behauptet zum einen, dass die Dialektik darin fiktiverweise existiere und in dem Moment in Kraft trete, »wenn sie […] tendenziell in einer einzigen Person zusammenfallen« (ebd., 102). Zum anderen bleibt jedoch unklar, wo Agamben die Funktion der potestas verortet, wenn der Ausnahmezustand »heute […] seine weltweit größte Ausbreitung erreicht« hat (ebd.). Das Problem an Agambens Ausführungen liegt darin, dass er auch in diesem Fall zu einer Pauschalisierung des Ausnahmezustands tendiert. Daraufhin verlieren die gesellschaftlichen Phänomene ihre Spezifität, wie übrigens viele KommentatorInnen schon betont haben.25 Diese Tendenz führt zu einer anderen paradoxen Konsequenz: die von ihm gebildeten Begriffe werden kaum von anderen AutorInnen weiterentwickelt. Bezüglich des Begriffs der auctoritas wäre es beispielsweise interessant zu untersuchen, in welcher Form diese in der demokratischen Ordnung existiert. Die Lösung von Agamben – die fiktive Existenz – überzeugt nicht, weil er nicht konkretisiert, was unter »fiktiv« zu verstehen ist und welche Handlungen individueller und kollektiver Akteure diese Charakteristik annehmen können. 2.3.5 Sicherheit und Ausnahmezustand Ein anderes wichtiges Element, das in Agambens Untersuchungen auftaucht, ist das Verhältnis von Sicherheit und Ausnahmezustand. Schon Foucault sah das Problem der Sicherheit als entscheidend für die Entwicklung der Biopolitik innerhalb der liberalen Gouvernementalität an. Er versuchte herauszufinden, »ob es unter diesem Namen einer Sicherheitsgesellschaft tatsächlich eine Gesamtökonomie der Macht gibt, welche die Form der Sicherheitstechnologie hat oder jedenfalls von ihr dominiert ist« (Foucault 2004a, 26). In seinen Vorlesungen am Collège de France im Jahr 1978 unterscheidet er die Sicherheitsdispositive des Rechtssystems von Diszi-

25 Andreas Visilache spricht beispielsweise von einem theoretischen Minimalismus (vgl. Visilache 2007b) und Oliver Marchart wirft Agamben einen »Theorieextremismus« vor, der zu einer Überschreibung der empirisch-ontischen Eben der Politik führe (Marchart 2007, 24).

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plinarmechanismen. Während sich die juridische Form der Macht auf den binären Code von Verbot/Erlaubnis konzentriere und die Disziplinartechnologie auf die Etablierung eines optimalen Modells und seiner Normalisierung abziele, beruhe die Machtausübung im Rahmen von Sicherheitsdispositiven darauf, gesellschaftliche Phänomene als »natürliche« Gesetzmäßigkeiten vorherzusehen. Macht werde unter Rückgriff auf wissenschaftliche Instrumente, wie beispielsweise der Statistik oder »neuen« Formen biologischen Wissens, in Form der »Regierung« ausgeübt. Foucault betont, dass das Verhältnis von Rechts-, Disziplinar- und Sicherheitsdispositiven nicht als entgegengesetzt und in historischer Folge begriffen werden könne. Er weist darauf hin, dass schon in der vormodernen Souveränität wie auch in der Disziplin der Anspruch auf Sicherheit eine grundlegende Rolle gespielt habe. Außerdem impliziere die Einführung von Sicherheitsdispositiven weder die Abschaffung des binaren Codes des Rechts noch des Disziplinarsystems. Vielmehr produzierten die Sicherheitsmechanismen deren Verschiebung und Veränderung, die in einer »neuen« Logik der Machtausübung integriert würden (ebd., 26f.). Foucault prägt damit die Vorstellung einer Macht, die einerseits Freiheiten und Zirkulation fördert und diese andererseits durch bestimmte Dispositive abzusichern versucht. In diesem Zusammenhang taucht die Bevölkerung als Ziel und gleichzeitig als Gegenstand dieser neuen Regierungstechnik auf, die liberalen Theorien zugrunde liegen. Er zeichnet vier Eigenschaften nach, die ein Sicherheits-dispositiv charakterisierten. Zunächst führten sie eine neue Vorstellung des Raums ein, der nun als positiv dargestellt werde. Die urweltlichen und biologischen Elemente stünden nicht mehr im Gegensatz zur menschlichen Tätigkeit, sondern würden mit dieser harmonisiert. Die zweite Charakteristik betreffe das Verhältnis von Regierung und Ereignis. Es handele sich nicht mehr darum, etwas zu vermeiden oder zu beseitigen. Vielmehr versuche die neue Machttechnologie, ein Ereignis vorherzusehen und zu reglementieren. Zudem werde eine neue Normalisierungsform eingeführt. Während die Disziplinartechnologie auf einem festen Modell von Normalisierung beruhe, berücksichtigten Sicherheitsdispositive die Möglichkeit, dass die Norm »ein Spiel Im Inneren der Differential-Normalitäten« (ebd., 98) werde. Durch Sicherheitsdispositive lässt sich Foucault zufolge zwischen der Norm und dem Normalen unterscheiden. Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab, oder die Norm setzt sich ausgehend von dieser Untersuchung der Normalitäten fest und spielt ihre operative Rolle. Hier würde ich also sagen, daß es sich nicht mehr um eine Normation handelt, sondern eher, im engeren Sinn, um eine Normalisierung. (Ebd.)

Die Realität selbst fungiere dabei als Norm, die mittels durchschnittlicher Werte untersucht und definiert werde. Das Ziel der Sicherheitsdispositive bestehe somit

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darin, »ein optimales Mittel innerhalb einer Bandbreite von Variationen« (Lemke 1997, 190) festzustellen. Die Aufgabe eines solchen Dispositivs liege darin, dieses Spiel innerhalb tolerierbarer Grenzen funktionieren zu lassen. In diesem Zusammenhang tauchen Foucault zufolge Begriffe wie Kasus, Risiko, Gefahr und Krise auf, die das Handeln im Rahmen der Regierung charakterisieren (Foucault 2004a, 96). Schließlich gingen die Sicherheitsdispositive von einer anderen Konzeption des Verhältnisses von Regierenden und Regierten aus. Während die souveräne Macht auf ein Territorium ausgeübt worden sei und die Ausdehnung und dessen Reichtümer die Macht des Souveräns bestimmt habe, sei nun im Rahmen der Regierungstechnik die Bevölkerung die Quelle der Kraft, weswegen diese verbessert und abgesichert werden müsse (vgl. ebd., 106ff.). Obwohl Agamben den Ausnahmezustand als Sicherheitsdispositiv definiert, ist es schwierig, diesen innerhalb des von Foucault beschriebenen analytischen Rahmens einzuordnen. Diese Inkongruenz hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst berücksichtigt Agambens Forschung nur das Verhältnis von Individuen und Recht, weshalb seine Ausführungen auf den binären Code Verbot/Erlaubnis beschränkt sind. Die Beiträge des biologischen und statistischen Wissens für die Analyse einer neuen Regierungstechnik werden von ihm nicht in Betracht gezogen (vgl. Marzocca 2006 und 2007; Lemke 2007d). Während Foucault den positiven und produktiven Charakter der Sicherheitsdispositive betont, beschränkt Agamben diese auf deren negative und tödliche Folgen. Zudem sind Sicherheitsdispositive bei Foucault von einer Zentrifugalkraft gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu weisen Agambens Argumentationen auf eine souveräne Macht hin. Somit bleibt die Frage offen, in welchem analytischen Rahmen das Dispositiv des Ausnahmezustands zu interpretieren ist und worin das Verhältnis zwischen liberaler Gouvernementalität und Ausnahmezustand besteht. Trotzdem lässt sich nicht negieren, dass eine strukturelle Verbindung zwischen Diskursen über die Sicherheit und dem Ausnahmezustand besteht, und diese das aktuelle politische Handeln orientiert. Darüber hinaus ist evident, dass der Gebrauch des Ausnahmezustands als Regierungstechnik weitreichende Folgen für das Leben der Bevölkerungen hat. Allerdings lässt sich diese Verbindung in der Perspektive Agambens nur »exhibieren« und nicht analysieren. Der Grund dieser analytischen Schwachstelle liegt erneut in seiner Annahme, dass die biopolitische Souveränität das Politische seit jeher orientiert habe. Insofern kann er keine andere Logik des Politischen denken, die gewissermaßen auch eine Redefinition bzw. Transformation des Ausnahmezustands oder seine Eingliederung in eine andere politische Rationalität erlauben würde.

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2.4 H OMO SACER

UND DAS HEILIGE

L EBEN

Die Frage nach der Heiligkeit des Lebens besitzt einen zentralen Stellenwert in Agambens Untersuchungen zur Biopolitik. In der Kritik der Gewalt hatte schon Benjamin die Notwendigkeit betont, den Ursprung des Dogmas der Heiligkeit des Lebens zu erforschen, um das Verhältnis von Recht und Gewalt besser verstehen zu können (vgl. Benjamin 1999). Agamben unternimmt diesen Versuch, indem er von der Analyse der obskuren Figur des homo sacer im archaischen römischen Recht ausgeht. Zunächst merkt er an, dass in der klassischen griechischen Kultur das Leben nicht per se heilig gewesen sei. Die Sakralisierung sei nur mittels einer Reihe von Ritualen möglich gewesen, durch die etwas von der profanen Welt in die heilige Welt übergegangen sei. Die entscheidende Frage wird von ihm somit wie folgt formuliert: »[W]ann und auf welche Weise ist dann ein menschliches Leben zum ersten Mal für sich selbst als heilig betrachtet worden?« (Agamben 2002, 77) Die Antwort auf diese Frage gibt Agamben im zweiten Teil des Buchs Homo Sacer. Darin wird diese ausgehend von der enigmatischen Figur des homo sacer im archaischen römischen Recht erforscht. Homo sacer ist Agamben zufolge der erste Fall, bei dem »sich die Heiligkeit […] mit einem menschlichen Leben als solchem« verbindet (ebd., 81). Die erste antike Quelle, die auf diese Figur hinweise, sei der Traktat von Sextus Pompeius Festus über Die Bedeutung der Wörter. Homo sacer wird darin als ein Mensch definiert, der nicht mittels eines Ritual geopfert, aber gleichzeitig ermordet werden kann, ohne dass der Täter bestraft werden durfte (ebd.). In diesem Kapitel wird vor allem die Bedeutung der sacratio bei Agamben erklärt. Danach wird die von Agamben theoretisierte Verbindung zwischen sacratio und Souveränität diskutiert. Die Figur des »Muselmann« in dem nationalsozialistischen Lager Auschwitz ist die einzige moderne Verkörperung des homo sacer, die von Agamben systematisch analysiert wird. Deswegen wird sie auch hier berücksichtigt. Am Ende werden die Möglichkeiten einer Operationalisierung des Begriffs des homo sacer für die Gesellschaftswissenschaften auseinandergesetzt. 2.4.1 Die Bedeutung der sacratio Das Paradox des homo sacer besteht Agamben zufolge darin, dass er gleichzeitig sowohl von der heiligen Welt als auch von der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen wurde (ebd., 83). Somit bleibe sowohl die Bedeutung der sacratio in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung des antiken Rom fragwürdig wie auch, worin die sacertá (Heiligkeit) des homo sacer bestehe. Agamben bemerkt, dass sowohl die antiken als auch die modernen Interpreten diese Problematik nicht aufgelöst hätten. In Bezug auf die moderne Kritik erkennt er zwei grundlegende Strömungen, die die Interpretation der Figur des homo sacer charakterisierten. Die erste

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betrachte die sacratio als ein Residuum der archaischen Phase der römischen Geschichte, in der es keinen Unterschied zwischen religiösem System und rechtlichen Institutionen gegeben habe.26 Insofern sei homo sacer das Zeichen eines Altertums, in dem Todesurteil und Opfer zusammenfielen (ebd., 82). Im Unterschied dazu begreife die zweite kritische Strömung den homo sacer als Archetyp des Heiligen, indem sie an die Thematik des Tabus anknüpfe,27 nach dem das Heilige auch einen verfluchten Teil besitze. Homo sacer habe diesen verfluchten Teil dargestellt und deshalb sei kein weiteres Opfer nötig gewesen (ebd., 82f.). Agamben betont, dass beide Interpretationen nicht überzeugend seien, da sie nur jeweils einen Aspekt der Frage zu verstehen erlaubten. Während sich im ersten Fall die straflose Tötung des homo sacer, aber nicht sein Opferverbot erklären lasse, vermöge die zweite Strömung dagegen nicht anzugeben, warum der Mörder des homo sacer kein Verbrechen bzw. kein Sakrileg begangen habe. In dem Buch Homo Sacer benutzt Agamben den Ausdruck »Grenzbegriff«, um das Wesen des Konzepts homo sacer zu charakterisieren. Im Anschluss an seine methodologischen Schriften lässt es sich als signature definieren. Dies wird zweifellos ersichtlich, wenn er seine Forschungsabsicht in Bezug auf den homo sacer darlegt. Anstatt das Spezifikum des homo sacer in einer behaupteten ursprünglichen Ambiguität des Heiligen nach dem Muster des ethnologischen Tabubegriffs aufzulösen, wie das allzu oft geschehen ist, werden wir vielmehr versuchen, die sacratio als autonome Figur zu interpretieren; und wir werden uns fragen, ob sie nicht zufällig Licht auf eine originäre politische Struktur wirft, die sich in einer Zone befindet, die der Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem, Religiösem und Politischem vorausliegt. (Ebd., 83f., Herv. i. O.)

Homo sacer wird von Agamben somit als ein historisches Residuum erforscht, in dem die verschiedenen Ebenen – heilig, profan, religiös, politisch – noch nicht differenziert gewesen sind. Aus diesem Grund könne die Analyse dieser Figur zum Verständnis darüber beitragen, wie diese verflochten seien. So lehnt er jede dichotomische Erklärung (im Sinne eines Syntheseprinzips) der sacratio ab und öffnet eine neue hermeneutische Perspektive, die mit der sogenannten »Theorie der Ambivalenz des Heiligen« (ebd., 85) bricht, die in der Interpretation dieses Phänomens vorherrscht. Agamben rekonstruiert die Geschichte dieser Theorie, die ihren Ausgangspunkt in dem Buch Lectures in the Religion of the Semites von Robertson Smith habe (ebd.). Darin sei erstmals der Begriff des Tabus thematisiert worden,

26 Agamben rechnet dieser Strömung WissenschaftlerInnen wie Mommsen, Lange, Bennett und Strachan-Davidson zu (Agamben 2002, 82). 27 Diese Argumentation wird von Kerényi und Fowler entwickelt (ebd., 82f.).

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mit dem religiöse Elemente definiert werden, die einen unreinen Charakter besitzen. Das Heilige werde so als ein Phänomen erforscht, das sowohl eine reine als auch eine unreine Dimension besitze. Diese Theorie war Agamben zufolge innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte von der psychoanalytischen Forschung über anthropologische Thesen28 bis hin zur Linguistik prägend. Diese Perspektive habe das Studium der lateinischen sacratio in eine Sackgasse geführt, da der doppelte Charakter des homo sacer nicht erklärt werden könne. Vielmehr werde er als Beweis der Theorie der Ambivalenz des Heiligen verstanden, wie die Definition des Terminus sacer aus dem Dictionnaire étymologique de Ia langue latine von Alfred Ernout und Antoine Meillet zeige (ebd., 89). Darin werde sacer als etwas definiert, das gleichzeitig heilig und verdammt gewesen sei. Allerdings löst diese Definition Agamben zufolge das Paradox des homo sacer keinesfalls auf. Vielmehr werde in diesem Fall der lateinische Ausdruck sacratio so definiert, dass er die Theorie der Ambivalenz des Heiligen stütze. Es handele sich um einen Teufelskreis, der nichts über die doppelte Ausschließung des homo sacer zu sagen vermöge.29 2.4.2 Sacertá und Souveränität Agamben zufolge ist diese doppelte Ausschließung auch eine doppelte Einschließung (ebd., 92). Insofern stelle die topologische Struktur des lateinischen sacratio eine Analogie mit der Struktur der Souveränität dar. Wie in dem Abschnitt über die Methodologie Agambens erläutert, erfüllt die analogische Erkenntnisform die Aufgabe, etwas intelligibel zu machen. In diesem Fall besteht die Analogie in der Form, in der ein Leben auf einen spezifischen Bereich festgelegt wird. Denn so wie bei der souveränen Ausnahme das Gesetz sich auf den Ausnahmefall anwendet, indem es sich abwendet und zurückzieht, so ist der homo sacer der Gottheit in Form des Nichtopferbaren übereignet und in Form des Tötbaren in der Gemeinschaft eingeschlossen. Das Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch getötet werden darf, ist das heilige Leben. (Ebd., 92, Herv. i. O.)

28 Hier bezieht sich Agamben insbesondere auf die Forschungen von Marcell Mauss und Emile Durkheim, die dann Agamben zufolge die Forschungen von Roger Caillois und Batailles Philosophie beeinflusst haben (ebd., 85). 29 Agambens Auseinandersetzung mit den VertreterInnen der Theorie der Ambivalenz des Heiligen erweist sich für einige als schwach und oberflächlich, da Agamben auf wenigen Seiten eine gesamte wissenschaftliche Tradition zu beurteilen versuche (vgl. Scheu 2007). Obwohl diese Kritik an Agamben zutreffend ist, sollte berücksichtigt werden, dass Agamben diese Perspektive nur in Bezug auf die Problematik des homo sacer und dessen Verhältnis zur Souveränität ablehnt.

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Das analogische Verhältnis von Souveränität und dem lateinischen sacratio wirft Agamben zufolge ein Licht auf beide Dispositive, wodurch es auch möglich werde, auf die Frage nach der Struktur der Ausnahme zu antworten. Der politische Raum, der als Souveränität definiert werde, sei jenseits sowohl der profanen oder menschlichen als auch der heiligen Welt und das sich in dieser Situation befindende Leben sei das heilige Leben. Auf diese Weise vermutet Agamben, auch eine Antwort auf die Frage Benjamins nach dem Ursprung des Dogmas des heiligen Lebens zu finden. »Heilig, das heißt tötbar aber nicht opferbar, ist ursprünglich das Leben im souveränen Bann, und die Produktion des nackten Lebens ist in diesem Sinn die ursprüngliche Leistung der Souveränität« (ebd., 93). Insofern argumentiert Agamben, dass sich als Souverän betrachten lasse, wer andere Menschen zu homines sacri erklären könne. Umgekehrt sei derjenige homo sacer, vor dem die anderen Souveräne seien. Um diese These zu beweisen, verweist er auf die potestas sacrosanta, die in der gesellschaftlichen und politischen Ordnung Roms den plebejischen Tribunen charakterisierten. Nach diesem Prinzip sei derjenige zum homo sacer erklärt worden, der einen plebejischen Tribun ermordet habe (ebd.). Somit habe die Macht dieser Magistratur in der Möglichkeit bestanden, eine Ausnahmegewalt zu erlauben. Auf diese Weise könne auch verdeutlicht werden, warum Augustus mit dem Imperium auch die Rolle des Volkstribuns übernommen habe. Infolgedessen muss Agamben zufolge die lateinische sacratio nicht als ein religiöses Phänomen, sondern als eine politische Beziehung erforscht werden, genauer: »die ursprüngliche Form der Einbeziehung des nackten Lebens in die juridischpolitische Ordnung« (ebd., 95). Somit kann die Kategorie des homo sacer bei ihm nicht als totale Ausgeschlossenheit von der Rechtsordnung interpretiert werden. Vielmehr wird der homo sacer oder das nackte Leben in eine bestimmte Form einbezogen, in der das Recht nicht ausgeübt, sondern erlitten wird. Die Struktur der Ausnahme, wie in Bezug auf die Souveränität bereits analysiert worden ist, besteht in einer Ausgeschlossenheit, die zugleich auch immer eine Einbeziehung ist. Während der Souverän die Ausnahme in der Form der Möglichkeit einer straflosen Gewalt darstellt, ist das heilige Leben etwas, »das einer bedingungslosen Tötbarkeit ausgesetzt ist« (ebd.). Die enge Verbindung zwischen homo sacer und Souveränität wird von Agamben als »das Urphänomen der Politik« definiert (ebd., 119). Der Gebrauch des Begriffs »Urphänomen« im Agambenʼschen Werk erweist sich allerdings als umstritten und führt zu einem Missverständnis seiner Forschungsabsicht. 30 Unter einem

30 Fabian Steinhauer, der Agamben in einem rechtlichen Kontext liest, interpretiert den Begriff des Ursprungs im Sinne eines historischen Phänomens und stellt sich somit die Frage »ob Geschichte oder Evolution der Menschen- und Bürgerrechte nicht gerade mit ihren Formalisierungen, Materialisierungen und Prozeduralisierungen der Interessen und

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»Urphänomen« oder »ursprünglichen Phänomen« versteht Agamben nicht etwa etwas, das historischen Charakter besäße. Vielmehr kann es im Anschluss an seine archäologische Forschungsmethode als ein Index verstanden werden, der die Geschichte zu lesen erlaubt, die nur wenige Spuren hinterlassen hat. Natürlich setzt er sich einer Reihe von Kritiken aus,31 indem er diese Methodologie benutzt. Vor ihrem Hintergrund lässt sich aber verstehen, warum er oft Adjektive wie »versteckt«, »geheim« oder »obskur« verwendet. Er geht nämlich davon aus, dass eine Genealogie der Macht in dem Maße möglich ist, in dem auf das »Nicht-Gesagte« der Geschichte ein Licht geworfen wird. Es handelt sich um eine theoretische Operation, die mit den anerkannten wissenschaftlichen Traditionen und disziplinären Grenzen notwendigerweise bricht. Insofern verfolgt Agamben gleichzeitig explizit das Ziel, mit zwei Traditionen zu brechen: Erstens bricht er, wie schon gesagt, mit der »Theorie der Ambivalenz des Heiligen« und schlägt eine Interpretation des Heiligen als politisches Phänomen vor. Zweitens lehnt er jede Theorie ab, die einen Vertrag oder eine Übereinkunft als Grund der Souveränität konzipiert.32 Diese hermeneutische Operation wird möglich, indem er eine analogische Verbindung zwischen Souveränität und sacertá setzt. So gesehen ergibt der Vorwurf an Agamben, die Verbindung zwischen Schmitts Souveränitätstheorie, Benjamins Begriff des bloßen Lebens und der altrömischen Figur des homo sacer sei »ein Sprung in die bloße Leere« (Kiesow 2002, 63) wenig Sinn. Denn er versucht ein hermeneutisches, oder besser gesagt, ein paradigmatisches Modell zu entwerfen, das die Verbindung zwischen Macht und Leben zu verstehen erlaubt und gleichzeitig beleuchten kann, worin das Wesen dieses Verhältnisses besteht. Somit ist die Historizität der Figuren Agambens nicht von Bedeutung. Vielmehr sollte man auf die Analogie eingehen, die durch diese gesetzt wird. Das Verständnis des Begriffs »ursprünglich« in seinem Werk führt ebenso zu

gesellschaftlichen Rationalitäten zu einer Entfernung vom Ursprung geführt haben« (Steinhauer 2006, 203). Aber: Was Agamben als »ursprüngliches Phänomen« bezeichnet, besitzt keinen historischen, sondern paradigmatischen und ontologischen Charakter. Mit anderen Worten ist für Agamben – aber auch für andere italienische Philosophen wie Machiavelli, Vico und Esposito – der Ursprung oder ein ursprüngliches Element immer eine immanente und konstitutive Dynamik der politisch-historischen Prozesse. So gesehen lässt sich ein Phänomen als Ergebnis der Interaktion von Ursprung und Zeitlichkeit oder Historizität verstehen. 31 Reiner Maria Kiesow (2002) betrachtet die Argumentationen Agambens als rechtshistorische Phantasie. Andere schlagen demgegenüber vor, Agambens Werk als literarischen und nicht als wissenschaftlichen Text zu interpretieren (Steinhauer 2006). 32 Zu Recht hat Andreas Visilache Agamben in die Tradition der Kritiker der kontraktualistischen Souveränitätstheorie eingereiht (vgl. Visilache 2007).

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einer Auflösung der Frage danach, ob der homo sacer auch als Grundlage für eine Gemeinschaft interpretiert werden kann. In diesem Sinn haben sich verschiedene AutorInnen mit einem Vergleich von Agambens Konzept des homo sacer und Girards Opfertheorie auseinandergesetzt (vgl. Scheu 2007; Fox 2007). Ein ursprüngliches Phänomen ist in der Agambenʼschen Argumentation nie ein bloßer Akt in der Vergangenheit, sondern ein bestimmtes Verhältnis, das stets wieder neu hergestellt wird. In diesem Fall geht es um die Möglichkeit, eine straflose Macht auf das Leben auszuüben. Das hat weniger mit einer Gründung zu tun, als vielmehr mit einer Praxis, die in diesem Zusammenhang das Handeln der Souveräne charakterisiert. Insofern stellt homo sacer eine Spur dar, die von der Existenz einer Zone zeugt, in der Faktum und Norm, Politisches und Religiöses, Heiliges und Profanes, bíos und zoé ununterscheidbar sind. Wenn das Agambenʼsche methodologische Lexikon übernommen wird, kann homo sacer als signature interpretiert werden, die als Index der Geschichte fungiert. Insofern liegt das Entscheidende an der Figur des homo sacer darin, dass diese signature die strukturelle Verbindung zwischen politischer Ordnung und Ausübung der Gewalt auf das Leben zeigt. Obwohl der homo sacer eine Verkörperung des nackten Lebens ist, ist es notwendig, den funktionellen Unterschied der beiden Begriffe zu bewahren. Wie schon erwähnt, funktioniert homo sacer als signature, während das nackte Leben eine paradigmatische Funktion ausübt. Zwar spricht Agamben selbst von homo sacer als Paradigma; die Einführung einer Differenzierung der Begriffe kann jedoch ein besseres Verständnis seiner Perspektive bieten. Paradoxerweise müssen daher zunächst seine Schwachstellen überwunden werden, um seine Theorie zu verstehen. Im Anschluss an dieses Prinzip kann der funktionelle Unterschied zwischen homo sacer und dem nackten Leben ein Licht auf Agambens Perspektive werfen. Das nackte Leben als Paradigma macht das Verhältnis von Leben und Politik sichtbar. Im Unterschied dazu zeigt der homo sacer als signature die Existenz einer strukturellen Verbindung zwischen politischer Ordnung und der Produktion eines Lebens, das straflos getötet werden kann. Anders gesagt, ist die Figur des homo sacer diejenige, die die Hypothese der Produktion des nackten Lebens als konstitutives Element des Politischen theoretisch begründet. 2.4.3 Der Muselmann In seinem Werk nennt Agamben eine Reihe von Figuren, die sich als Avatare des homo sacer verstehen lassen. Leider hat er nur eine dieser Figuren ausführlich analysiert: den sogenannten Muselmann. Darunter werden nicht die Angehörigen der islamischen Religion, sondern einige Häftlinge der national-sozialistischen Konzentrationslager verstanden (Agamben 2003c, 36f.). Die reelle Bedeutung und der Ursprung des Worts sind nicht klar. Es handelt sich um ein Wort aus dem Jargon der

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Konzentrationslager, der von den Insassen selbst verwendet wurde, um Unterkategorien innerhalb der Lagerbevölkerung zu definieren (ebd.). Doch wer war ein Muselmann? Rund um diese Frage strukturiert Agamben sein chronologisch zweites Werk des Homo Sacer-Projekts Was von Ausschwitzt bleibt (ebd.), das die Erfahrungen der Inhaftierten in den nationalistischen Konzentrationslagern zum Gegenstand hat. Er berücksichtigt in seiner Analyse die Zeugnisse der Überlebenden der Konzentrationslager. So z.B. die Aussagen von Primo Levi, der die Muselmänner als die »vollständigen Zeugen« des Lagers bezeichnet (ebd., 41), die diejenigen gewesen seien, die nicht mehr ums Überleben gekämpft und sich somit töten gelassen hätten (ebd., 38ff.). Agambens Interesse gilt dem Sachverhalt, dass die Überlebenden in ihren Zeugnissen die Muselmänner nicht als Menschen betrachten. Vielmehr werden sie als Noch-nicht-Tote beschrieben. Es handelt sich um einen Status, in dem die Grenzen zwischen Leben und Tod, menschlich und unmenschlich verschwinden. Agamben sieht in der Produktion von Muselmännern den Kern des Lagers und dessen »Leistung« (ebd., 75). Im Kontext dieser Analyse vergleicht er die Figur des Muselmanns mit der Problematik des Todespotenzials der Biopolitik in der Foucaultʼschen Analytik der Macht. Bekanntlich geht Foucault von einer Trennung zwischen souveräner Macht und Biomacht aus. Während die erste »sterben macht und leben lässt«, zeichne sich die zweite dadurch aus, dass sie »leben macht und sterben lässt« (Foucault 1977, 278). Problematisch an Foucaults Betrachtung ist die Frage nach der Todesfunktion innerhalb der Regime der Biopolitik. Foucault löst das Problem auf, indem er den Begriff des Rassismus einführt. Dieser erlaubt es ihm zufolge eine Reihe von Spaltungen innerhalb des biologischen Kontinuums einzusetzen, die jeweils definieren, was als gut oder schlecht zu betrachten sei (vgl. Foucault 1999). Agamben nimmt diese Analytik auf, indem er von biopolitischen Zäsuren spricht. Darunter versteht er die Art und Weise, in der innerhalb des Lebens neue Differenzierungen und Definitionen eingeführt werden.33 In diesem Zusammenhang stellt für Agamben der Muselmann die extreme Grenze dieses Handelns dar, indem es unmöglich wird zu definieren, wer Mensch ist und wann das Leben beendet ist. Man versteht nun die entscheidende Funktion der Lager im System der nationalsozialistischen Biopolitik. Sie sind nicht nur der Ort des Todes und der Vernichtung, sondern auch und vor allem der Ort der Produktion des Muselmanns, der letzten im biologischen Kontinuum isolierbaren biopolitischen Substanz. (Agamben 2003c, 75)

33 Agamben weist unmittelbar auf die nationalsozialistischen Gesetze zum »Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« aus dem Jahr 1935 hin, in denen die biologischen Definitionen mit einer politischen Spaltung übereingestimmt hätten (vgl. Agamben 2003c, 74).

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Zu Recht wird von Kritikern hervorgehoben, dass Agamben das Verhältnis und den Unterschied zwischen antiker und moderner Biopolitik nicht thematisiert, obwohl er von einer Verschiebung und Verschärfung spricht (vgl. Scheu 2006). Allerdings kann dieser Unterschied anhand eines Vergleichs der Figuren des homo sacer und des Muselmanns aufgezeigt werden. Beide werden – nach seiner Theorie des Dispositivs der biopolitischen Souveränität – einbezogen, indem sie gleichzeitig ausgeschlossen werden und wenige Spuren zurücklassen. Allerdings gibt es dabei einen großen Unterschied. Der biopolitische Körper der antiken Biopolitik, deren Produktion die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht sei, stimmt in Agambens Betrachtung mit dem heiligen Leben überein. Somit wird dieses als etwas charakterisiert, das man weder straflos umbringen, noch opfern könne. Im Unterschied dazu sei die Biopolitik im letzten Jahrhundert weniger durch eine »töten machende« oder »leben machende« Macht charakterisiert; vielmehr bestehe ihr Wesen darin, »überleben [zu] machen«. Nicht das Leben oder der Tod, sondern die Erzeugung eines modulierbaren und virtuell unendlichen Überlebens ist die entscheidende Leistung der Biomacht unserer Zeit. Es handelt sich darum, im Menschen jedesmal das organische vom animalen Leben zu trennen, das Nicht-Menschliche vom Menschlichen, den Muselmann von Zeugen, das durch die Reanimationstechnik in Gang gehaltene vegetative Leben vom bewußten Leben, bis ein Kreuzpunkt erreicht wird, der, wie die geopolitischen Grenzen, im wesentlichen beweglich ist und sich mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen und politischen Technologien verschiebt. Der höchste Ehrgeiz der Bio-macht besteht darin, in einem menschlichen Körper die absolute Trennung von Lebewesen und sprechendem Wesen, von zoé und bíos, von Nicht-Mensch und Mensch zu erzeugen: das Überleben. (Ebd., 135f. Herv. i. O.)

Aus diesem Zitat dürfte ersichtlich werden, wie bei Agamben die moderne von der antiken Biopolitik zu unterscheiden ist. Während sich diese dadurch identifizieren lässt, dass ein heiliges Leben, d.h. ein straflos tötbares Leben, produziert wird, ist die moderne Version der Biopolitik dadurch charakterisiert, das Leben in einer Zone festzuhalten, in der man nicht mehr lebt, aber gleichzeitig noch nicht gestorben ist. In dem einen Fall (das heilige Leben) wie in dem anderen (das suspendierte Leben) handelt es sich um das Ergebnis, das durch Zäsuren innerhalb des menschlichen Lebens selbst produziert wird. In diesem Sinn kann der Begriff der anthropologischen Maschine, der oben bereits analysiert worden ist, benutzt werden, um zu verstehen, wie nach Agamben diese Zäsuren produziert werden. Obwohl er den Unterschied zwischen homo sacer und Muselmann nicht explizit thematisiert, lässt sich aus Was von Auschwitz bleibt ableiten, dass sowohl Analogien als auch Unterschiede und Diskontinuitäten zwischen diesen Figuren gefunden werden können.

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Die Analogie besteht in der politischen Funktion und dem politischen Verhältnis, die durch die signature des homo sacer und des Muselmanns aufgezeigt und erklärt werden. Allerdings impliziert die Bemerkung einer Analogie nicht, dass es keine Variationen in der Produkten der biopolitischen Dispositive – d.h. der biopolitischen Subjekte – geben kann. 2.4.4 Homo sacer als politik- und gesellschaftstheoretischer Begriff Das Problem bei Agamben liegt darin, dass er seine Perspektive nicht systematisch entwickelt. Auch seine These, nach der die aktuelle Biopolitik sogar die nationalsozialistische Version übertreffe, wird nicht analytisch vertieft (vgl. Lemke 2009). Faktisch gibt seine Betrachtung selbst Anlass zu der Annahme, dass der Muselmann wie auch andere moderne und postmoderne Figuren bloßer Ausdruck des antiken homo sacer seien. Diese Lücke in der Argumentation Agambens hat dazu geführt, dass in der Gesellschaftswissenschaft versucht wird, Verkörperungen des homo sacer in den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen zu erforschen (vgl. Pieper und Rodríguez 2003). Diese Aktualisierungsversuche beruhen darauf, dass es möglich sei, einige soziale Gruppen als homines sacri zu identifizieren. Andreas Visilache hat die mit dieser Operationalisierung verbundenen Probleme analysiert, indem er den Unterschied zwischen einem prekären, aber existierenden Rechtsstatus von Gruppen wie den sans papier und der absoluten Rechtlosigkeit des homo sacer betont (Visilache 2007b).34 Zu Recht verweist Visilache darauf, dass der homo sacer als sozialer und politischer Status immer in Bezug auf eine bestimmte Ausübung der souveränen Macht zu analysieren ist (ebd.).

34 Es gibt auch WissenschaftlerInnen, die den Begriff als unzureichend für die politische Theorie beurteilen. Dies ist bei K. Boydal der Fall, der die Konzeption Agambens sogar als »infam« bezeichnet (Boydal 2007). Die Kritik an Agamben stützt sich darauf, dass auch der Muselmann wie auch die anderen Insassen nicht als bloßes Leben betrachten werden könnten, da im Lager Lebenserfahrung und nicht das nackte Leben vernichtet worden sei. Diese Argumentation trifft allerdings nur bedingt zu, weil Agamben nicht das Sein der Inhaftierten untersucht, sondern das Machtverhältnis, mittels dessen sie entrechtet wurden. Außerdem führt Agamben seine Forschungen über das Lager durch, indem er die Zeugnisse der Überlebenden analysiert. Primo Levi thematisiert explizit, dass in Auschwitz die Vorstellung der Menschheit selbst in Frage gestellt worden sei. Die Insassen erfuhren nichts, was etwas mit der Idee des Menschen oder eines qualifizierten Lebens zu tun hätte. Agamben versucht dieses Ereignis in Bezug auf eine Theorie der Entwicklung der Macht zu verstehen. Somit erweist sich der Gebrauch des Terminus »infam« nicht nur als »übertrieben«, sondern auch als extrem »unzutreffend«.

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Insofern muss diese Figur immer als Ausdruck einer Macht gedacht werden, die mittels der anthropologischen Maschine und anderer Dispositive das Subjekt von seinem eigenen Leben zu trennen vermag. Hierbei ist zu unterstreichen, dass der Status des homo sacer immer als Möglichkeit und Zwischenstatus zu denken ist. Es handelt sich dabei weniger um eine Realität, sondern vielmehr um ein virtuelles Verhältnis. Alle sind potentielle homines sacri in dem Maße, in dem sie von ihrem Leben getrennt werden können. Es ist die Aktualisierung dieser Möglichkeit, die dem antiken homo sacer, dem Muselmann, dem Flüchtling und dem komatösen Patienten gemein ist. Gleichzeitig kann man homo sacer oder rechtlos für eine kurze Zeit werden. Insofern lässt sich das Beispiel Agambens der zone d’attente erklären, in dem sich der Passagier für kurze Zeit gegenüber den Beamten als homo sacer erweist. Um diese Idee der Virtualität zu verstehen, ist es hilfreich, zu berücksichtigen, dass Agamben das Leben an sich als reale Potentia versteht. Deshalb ist es notwendig, den Unterschied zwischen Potentia und Macht in seiner Philosophie zu verstehen, damit sich die Bedeutung dieser Trennungsmacht erfassen lässt. Die Auseinandersetzungen mit dem Begriff der Potentia betreffen die erste Phase seiner Überlegungen, in der er sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Sein beschäftigt. Im Rahmen dieser Reflexionen spielt der Begriff der Potentia eine Hauptrolle, den er von der aristotelischen Philosophie übernimmt und mittels dessen er zu erklären versucht, was das Wesen des Menschen und der Sprache charakterisiert. Im Anschluss an Denker wie Martin Heidegger, Gilles Deleuze und Jacques Derrida formuliert Agamben seine These, nach der sich das menschliche Leben als Potentia definieren lasse (vgl. Agamben 2005b und 2007). In diesem Kontext hat der Begriff nichts mit Macht oder Gewalt zu tun. Vielmehr weist er auf die Möglichkeit und Unmöglichkeit als Charakteristikum des Seins in der Welt hin. Die Verschiebung von der Frage nach der Potentia zu der Frage nach den Machtverhältnissen in Agambens Denken muss als Versuch interpretiert werden, zu verstehen, was den Menschen von seiner Potentia trennt. Homo sacer kann deshalb als das Paradigma des Menschen interpretiert werden, der von seiner Potenz getrennt wird. Sowohl der Muselmann, als auch die komatösen Patienten, die Inhaftierten in Guantanamo wie auch in den Verwaltungslagern für MigrantInnen in Italien (die sogenannten CPT oder CIE) 35 teilen eine gemeinsame Bedingung: Sie können nicht von sich aus selbstbestimmt handeln. Sie kennen Agamben zufolge somit keine Möglichkeit wie auch keine Unmöglichkeit und insofern werden sie zum Objekt einer Macht, die souverän über ihr Leben entscheidet. Diese theoretische Perspektive führt Agamben zu der Formulierung des Begriffs forma di vita – Lebensform – als Gegenkraft zu der thanatologischen Tendenz der biopolitischen

35 Es handelt sich dabei um Verwaltungslager zur Kontrolle der Migration in Italien. Näheres dazu siehe unten.

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Maschine zur Produktion von homines sacri. Unter forma di vita versteht er ein Leben, das sich jeder möglichen Definition entzieht und deshalb über seine Potentia autonom verfügt. Mittels eines Wortspiels kann behauptet werden, dass forma di vita die Potentia als vielseitige Möglichkeit darstellt, während homo sacer die Negation einer jeden Möglichkeit ist (vgl. Agamben 1994). Der Begriff der Lebensform wird noch besser von Agamben in der dritten Phase des Homo Sacer-Projekts definiert, in der dieser im Mittelpunkt der Forschung steht (vgl. Agamben 2012 und 2014). Hierbei wird die Lebensform als ein Leben begriffen, das von seiner Potentia nicht getrennt werden und insofern zu einer Neutralisierung der biopolitischen Dispositiven beitragen kann, die das zóe von dem bíos trennen.

2.5 D AS L AGER

ALS

N OMOS

DER

M ODERNE

Ausgehend von der Annahme, dass die Produktion von nacktem Leben und die Normalisierung des Ausnahmezustands die Entwicklung des Politischen prägen, kommt Agamben zu dem Schluss, dass das Lager den Nomos der Moderne darstellt. Obwohl die Ausübung einer Macht auf das Leben ursprünglich das Politische konstituiere, wie die signature des homo sacer zeigt und das Paradigma des nackten Lebens intelligibel macht, wird ihm zufolge diese Form der Macht nur in der Moderne zum Zentrum des Poltischen. Ralf Rother hat die politischen und philosophischen Auseinandersetzungen über das Lager in vier Positionen unterschieden. Die erste Position werde von Arbeiten eingenommen, die das Lager als Spiegelbild der totalitären Ideologie betrachten. Diese theoretische Perspektive ist von Kotek und Regolout (vgl. Rother 2009) entwickelt worden. Ihnen zufolge verfolgt die Institution des Lagers das Ziel, Menschen zu verändern, um die Gesellschaft besser zu verwalten. Die zweite Position werde in den Schriften von Baumann vertreten, in denen dieser ein unmittelbares Verhältnis zwischen der Entstehung von Lagern und Modernisierungsprozessen setze. Eine dritte Interpretation der Bedeutung des Lagers in der modernen Geschichte lasse sich in dem Buch Die Ordnung des Terrors von Sofsky erkennen. Der Autor verstehe das Lager zum einen als ein Herrschafts- und Disziplinierungsinstrument; zum anderen betone er, dass die Vernichtungslager des Nationalsozialismus nicht unter diese Kategorie fielen. Vielmehr stellten sie eine absolute Macht dar, die die Form des Gräuels habe. Die von Agamben vertretene Auffassung des Lagers als Paradigma des modernen politischen Diskurses stellt Rother zufolge die vierte Position in dieser Auseinandersetzung dar (ebd.). In der Literatur über die Biopolitik ist die Annahme verbreitet, dass Agamben die Biomacht in Termini von Kontinuität und Persistenz von antikem und moder-

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nem politischen Diskurs theoretisiert. Diese Lesart ist absolut begründet, jedoch thematisiert er auch einen wichtigen Unterschied: Nur in der Moderne sei das nackte Leben das Subjekt und die grundlegende Referenz des Politischen. Diese These führt dazu, zu hypothesieren, dass in der vormodernen Zeit andere Dispositive und nicht nur die biopolitische Souveränität den politischen Raum bestimmten. Allerdings fokussiert er nicht darauf, sondern beschränkt sich vielmehr auf die Analyse der ursprünglichen Struktur des souveränen Banns. Anschließend konzentriert er sich auf die Genealogie der Einbeziehung des nackten Lebens ins Zentrum des Politischen, welches insbesondere auf die Moderne zutreffe. Die These des Lagers als Nomos der Moderne lässt sich erst verstehen, wenn beleuchtetet wird, wie Agamben zufolge das nackte Leben die Referenz des Politischen wird. Die erste Spur, die von der Einbeziehung des nackten Lebens ins Zentrum der politischen Ordnung zeuge, liege in »dem writ des Habeas corpus von 1679« (Agamben 2002, 131, Herv. i. O.). Im Gegensatz zur antiken und mittelalterlichen Freiheit stehe im Zentrum dieses Akts nicht die Freiheit der Individuen und der sozialen Gruppen, sondern diejenige der Körper (ebd., 132). Dass der Körper der wichtigste Bezugspunkt des legislativen Beschlusses wird, enthüllt Agamben zufolge das »geheime« biopolitische Telos der modernen Demokratie. Die Macht und gleichzeitig der Widerspruch derselben bestehe deshalb darin, dass die Moderne nicht das heilige Leben abgeschafft habe. Vielmehr habe der neue politische Diskurs, der gegen die absolutistische Macht der Monarchie entstanden sei, es »zersplittert« und »verstreut«. Diese Tendenz kommt nach Agamben in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck. Die Analyse seiner kritischen Genealogie der Menschenrechte bildet den ersten Teil dieses Kapitels. Danach liegt der Fokus auf der Analyse der von ihm gesetzten Analogie zwischen Demokratie und Totalitarismus und zuletzt wird sein Begriff des Lagers diskutiert. 2.5.1 Das heilige Leben und die Menschenrechte In seiner Genealogie des Politischen in der Moderne entwickelt Agamben seine originelle und zugleich umstrittene Kritik an den Menschenrechten. Wie schon Hannah Arendt, an die er in seiner Analyse explizit anknüpft, hebt er eine Krise der Menschenrechte hervor, die grundlegend von dem zunehmenden Anwachsen der Flüchtlingsströme nach dem Ersten Weltkrieg charakterisiert sei. Die Wurzeln dieser Krise lassen sich laut Agamben als Folge der engen Verbindung zwischen der Erklärung der Menschenrechte und der Gründung der modernen nationalen Souveränität erforschen (ebd., 135). Schon der Titel der Erklärung von 1789 »Declaration des droits de l’homme et du citoyen« erweise sich als zweideutig, da die Bedeutung der Substantive Mensch und Bürger nicht beleuchtet werde. Agamben zufolge ist diese Unklarheit nicht zufällig, sondern stellt ein grundlegendes Element des Politi-

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schen in der Entwicklung des Nationalstaates dar. Die Unterscheidung zwischen Menschen und Bürgern erlaube es nämlich, eine Reihe von Zäsuren zu setzen, die die Ausübung der Rechte bestimmten. Für Agamben beweist die Tatsache, dass die Geburt das entscheidende Element für die Anerkennung politischer Rechte der Bürger darstellt, die Zentralität der biologischen Elemente innerhalb der neuen politischen Ordnung. Die Erklärung der Menschenrechte muß mithin als Ort angesehen werden, an dem sich der Übergang von der königlichen Souveränität göttlichen Ursprungs zur nationalen Souveränität vollzieht. Sie sichert die exceptio des Lebens in der neuen staatlichen Ordnung, die auf den Zusammenbruch des Ancien regime folgt. Daß sich dadurch der ›Untertan‹, wie bemerkt worden ist, in einen ›Bürger‹ verwandelt, bedeutet, daß die Geburt – das heißt, das natürliche nackte Leben als solches – zum ersten Mal (mittels einer Transformation, deren biopolitische Folgen wir heute erst zu ermessen beginnen) zum unmittelbaren Träger der Souveränität wird. (Ebd., 137, Herv. i. O.)

Agamben zufolge dürfen deshalb die Menschenrechte nicht als ein Moment interpretiert werden, an dem ein neues politisches Subjekt konstituiert wird. Vielmehr handele es sich um ein biopolitisches Subjekt, das sich unabhängig von seinem Handeln durch biologische Elemente wie den Geburtsort auszeichne. Die Aufnahme des Menschen als Bürger eines nationalen Staats stellt für ihn in dem Moment ein Problem dar, in dem die Zahl der Flüchtlinge wachse und infolgedessen ein Unterschied zwischen Menschen als Bürger und Menschen als »Nicht-Bürger« entstehe, der das Kontinuum von Nation und Geburt in die Krise geraten lasse (ebd., 140-141). Faschismus und Nationalsozialismus seien somit, nach der Argumentation Agambens, »zwei im eigentlichen Sinn biopolitische Bewegungen« (ebd., 138), deren Ziel in der vollständigen Reduzierung dieses Unterschieds bestanden habe. Die Tatsache, dass in der Zeit zwischen den Weltkriegen nicht nur in Italien und Deutschland, sondern auch in demokratischen Ländern wie Frankreich und Belgien Maßnahmen getroffen wurden, um ausländische Bürger zu entnationalisieren, zeige eine unheimliche Nähe zwischen Diktatur und Demokratie (ebd., 141). Diese Entwicklung hängt nach Agamben weniger von der Verbreitung einer faschistischen, rassistischen oder imperialistischen Kultur ab, sondern stelle vielmehr die extreme Phase eines politischen Diskurses dar, der die Bürgerlichkeit ausgehend von ius soli und ius sanguinis bestimme. Während diese juridischen Begriffe in der antiken und mittelalterlichen Epoche keine politische Bedeutung besessen hätten, würden sie in der Moderne grundlegend für die Definition von Bürgern. Faschismus und Nationalsozialismus stellen laut ihm deshalb nur den Höhepunkt des modernen politischen Diskurses dar, der im nackten Leben, d.h. in biologischen

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Elementen wie der Geburt und dem Blut, seine vornehmliche Referenz finde (ebd., 139). Die kritischen Anmerkungen Agambens beschränken sich allerdings nicht auf die Ereignisse und die Maßnahmen in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, sondern berücksichtigen auch das aktuelle politische Handeln, das sich explizit auf die Menschenrechte beruft. Während im Faschismus der Unterschied zwischen Bürger und Mensch bis zu dem Punkt reduziert werde, an dem der Nicht-Bürger als Nicht-Mensch vernichtet werden könne bzw. müsse, stimme der Mensch heute – ihm zufolge – in keinem Fall mehr mit dem Bürger überein, sodass die Menschenrechte keine politische Bedeutung besäßen. […] die Menschenrechte zunehmend von den Bürgerrechten, als deren Voraussetzung sie allein Sinn ergaben, abgetrennt und außerhalb des Kontextes der Bürgerschaft verwendet, mit dem angeblichen Zweck, ein nacktes Leben zu repräsentieren und zu schützen, das in wachsendem Maß an den Rändern der Nationalstaaten anfällt, um dann wieder in einer neuen nationalen Identität rekodifiziert zu werden. (Ebd., 142)

Hinter der feierlichen Zeremonie um Menschenrechte sieht Agamben nichts anderes als eine weitere Politisierung des nackten Lebens, die der Entpolitisierung des Menschen als Bürger entspreche. In diesem Sinn könne der Umstand interpretiert werden, dass das Hohe Kommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen sich selbst als »sozial« und »humanitär« und nicht als »politisch« charakterisiere (ebd., 142f.). Dies ist Agamben zufolge Ausdruck der Entfernung »zwischen den Menschenrechten und den Bürgerrechten« (ebd.) und führe zu einer Trennung von Humanitärem und Politischem, die derzeit das Handeln von vielen Organisationen vollständig bestimme. In dem Maße, in dem sich diese Organisationen in ihrer Tätigkeit auf den Schutz des Lebens beschränken, arbeiten sie laut ihm für die entgegengesetzte Macht, die souverän sein kann, indem sie nacktes Leben produziert (ebd., 143). Diese provokante These kann nach ihm durch eine bloße Beobachtung der Werbung der humanitären Organisationen bewiesen werden, in deren Zentrum die Notwendigkeit steht, bloßes Leben zu schützen (ebd., 142f.). Wie bereits erwähnt, haben die Thesen Agambens über die Menschenrechte viele Polemiken provoziert. Z.B. hat sich Volker Heins grundlegend mit seinen Thesen auseinandergesetzt, indem er diese in vier Punkten diskutiert (Heins 2005). Zunächst erörtert Heins, ob der Unterschied zwischen Menschen- und Bürgerrechten Ausdruck der Trennung von Politischem und Humanitärem sei. Der deutsche Soziologe argumentiert gegen Agamben, dass die Menschenrechte nicht unpolitisch seien, obwohl die Unterscheidung zwischen Politischem und Humanitärem reell sei. Vielmehr erlaube das an die Menschenrechte anknüpfende Handeln, die Subjekte in einen Anerkennungsprozess einzuschließen. Die Lücke in der Argumenta-

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tion Agambens bestehe in seiner fehlenden Differenzierung zwischen Menschenrechtsorganisationen und humanitären Organisationen, sodass es aus seiner Perspektive nicht möglich sei, die beiden Organisationstypen zu identifizieren. Somit sei Agamben unfähig, den politischen Charakter der Menschenrechte zu erkennen. Daraufhin wirft Heins ihm vor, dass er die Entwicklung des humanitären Diskurses nicht berücksichtigt habe. Somit könne er nicht sehen, dass eine humanitäre Tätigkeit als »Rehabilitierung des qualifizierten Lebens von Bürgern« (ebd., 147, Herv. i. O.) konzipiert werde. Der dritte Punkt, der von Heins diskutiert wird, besteht in der von Agamben vermuteten Komplizenschaft zwischen humanitären Organisationen und Menschenrechtsorganisationen und ihren »Feinden«. Ausgehend von Einzelfällen, in denen einige dieser Organisationen involviert waren, hält Heins eine Pauschalkritik, wie Agamben sie übt, für wenig plausibel. Im Unterschied zu dessen Argumentation schlägt er vor, jeweils die konkreten politischen Verhältnisse, in die die Organisationen einbezogen sind, zu analysieren. Zum Schluss stellt Heins die Frage, ob Agambens Unterscheidung zwischen politisch und humanitär obsolet sei, da das »Humanitäre kein Sachgebiet, sondern ein Gesichtspunkt, unter dem schwere soziale und politische Krisen betrachtet werden können« (ebd., 150), sei. Somit könne die Identifizierung einer Situation als humanitäre einen strategischen Charakter haben, der in einem bestimmten Feld zu handeln erlaube. Heinsʼ Kritik an Agamben ist einerseits insofern zutreffend, als er hervorhebt, dass dieser eine pauschalisierende Kritik an den Menschenrechten übt und dass seine Beobachtungen keine ausreichenden empirischen Grundlagen besitzen. Andererseits thematisiert Heins den genealogischen Kontext nicht, in dem Agamben seine Kritik verortet, und missversteht somit, welche Ziele er mit seiner Kritik verfolgt. Denn Agamben hat den Konflikt in Jugoslawien vor Augen, in dem neue staatliche Organisationen auf einer ethnischen (biopolitischen) Basis aufgetaucht sind. Diese neue nationale Souveränität kann in dem Maße institutionalisiert werden, in dem eine biologische und kulturelle Identität konstruiert wird. Er versucht zu zeigen, dass dieses Phänomen keinen Rückfall darstellt. Vielmehr stehe es in einem Kontinuum, das den politischen Diskurs der Moderne seit seinem Beginn charakterisiere. Im Grunde kritisiert er die Vermehrung von Nationalstaaten nach dem Ende des Kalten Krieges, die faktisch eine Trennung zwischen denen definieren, die als Nationzugehörige anerkannt werden, und denen, die im Gegensatz dazu als bloße Menschen und nicht als Bürger betrachtet werden können. Deshalb stehen im Zentrum der Behandlung Agambens weniger die Menschenrechte als solche, sondern ihr Verhältnis zur Vorstellung des Nationalstaats und der Idee eines nationalen Volks. Wenn man die Entwicklung der Reglementierung des Asylrechts berücksichtigt, kann beobachtet werden, dass die biologischen Elemente immer entscheidender für die Anerkennung von Rechten geworden sind. Der Gebrauch von DNA-Tests bei

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der Feststellung der Staatsangehörigkeit und familiärer Verbindungen zeigen zweifellos den Vorrang biologischer Elemente (Heinemann und Lemke 2013). Somit hängt die Anerkennung eines Status oder eines Rechts zunehmend von biologischen Elementen ab. Agamben kritisiert im Grunde den Teufelskreis, in dem die Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte stattfindet. Zum einen werden Organisationen für den Schutz von Menschenrechten gefordert, zum anderen werden nationale Institutionen anerkannt, in denen Minderheiten einen anderen Rechtsstatus besitzen als die Bevölkerungsmehrheit. Die Vermehrung von Nationalstaaten nach dem Ende des Kalten Krieges zeugt im Übrigen von der Unmöglichkeit, politisches Handeln jenseits des Nationalstaats zu denken.36 2.5.2 Das nackte Leben zwischen Demokratie und Diktatur Obwohl Agamben stets betont hat, dass seine Forschungen keinen historischen Charakter besäßen und sein theoretischer Anspruch nicht darin bestehe, Differenzen zum Verschwinden zu bringen, ist seine These »von einer innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus« (Agamben 2002, 20) Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen und Missverständnisse. Wie mehrmals von ihm selbst bemerkt, versucht er nicht, eine Ununterscheidbarkeit von Demokratie und Diktatur zu beweisen, sondern ein theoretisches Modell zu entwickeln, das es ermöglicht, den Übergang und die Kontinuität zwischen beiden zu verstehen. Somit geht er in seiner Argumentation davon aus, dass trotz der Unterschiede beide Regierungsformen im gleichen politischen Diskurs entstanden sind. Wie schon gesagt, ist in seinem theoretischem Rahmen dieser Diskurs von der Einbeziehung des nackten Lebens in das Zentrum des Politischen charakterisiert. Der Vorrang biologischer Elemente lässt sich feststellen, indem moderne Begriffe des politischen Diskurses aus einer biopolitischen Perspektive analysiert werden. In dieser Arbeit sind Agambens Genealogien bereits detailliert analysiert worden, die die Begriffe der Souveränität und der Menschenrechte betreffen. Im Folgenden wird die Genealogie eines weiteren Produkts des modernen politischen Diskurses dargestellt: der Begriff »Volk«. Unter dem Titel Was ist ein Volk hat Agamben einen Aufsatz geschrieben, in dem er eine biopolitische Interpretation dieses Begriffs anbietet (Agamben 2001). 37

36 Clemens Pornschlegel interpretiert zutreffend die Argumentationen Agambens als Kritik der Nationalstaaten und hebt zu Recht hervor, dass Agamben, wenn es um die Frage geht, wie diese kritikwürdigen Verhältnisse zu überwinden seien, auf eine besondere Form des Messianismus vertraut (vgl. Pornschlegel 2008). 37 Dieser Aufsatz findet sich auch in Homo Sacer: die souveräne Macht und das nackte Leben (Agamben 2002).

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Er geht darin von der philologischen Betrachtung aus, dass in allen Sprachen das Wort »Volk« eine Doppeldeutigkeit besitzt. Zum einen verweise dieses Substantiv auf die gesamte Bevölkerung als politisch souveränes Subjekt; zum anderen würden darunter die von der politischen Partizipation Ausgeschlossenen verstanden. Mit Volk und dem entsprechenden Adjektiv volkstümlich 38 werde der Teil der Bevölkerung bezeichnet, der unter elenden Umständen lebe.39 Nach Agamben ist diese Zweideutigkeit nicht zufällig, sondern weist vielmehr auf die grundlegende biopolitische Zäsur von bíos und zóe hin. Während die erste Bedeutung für das politische Dasein zentral sei, beziehe sich die zweite auf Menschen, die ohne politische Rechte lebten und von der politischen Macht unterdrückt würden: »Das ›Volk‹ trägt also den fundamentalen biopolitischen Bruch immer schon in sich. Es ist das, was nicht ins Ganze, dessen Teil es ist, eingeschlossen werden kann, und nicht zur Menge gehören kann, in die sie immer schon eingeschlossen ist «(Agamben 2002, 187). Der Widerspruch des Begriffs »Volk« besteht Agamben zufolge darin, dass er einerseits zwar alle Individuen umfassen soll, anderseits ein Volk aber nur entstehen kann, indem es sich über Sprache, Blut, Territorium usw. identifizieren lässt. Somit werde neben einem Volk (Popolo) immer ein Volk der Ausgeschlossenen (popolo) produziert, das entweder in die nationale Identität assimiliert oder vernichtet werden müsse. Für ihn wirft diese Dialektik ein Licht auf die Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Die Juden stellten demnach den »Repräsentanten schlechthin und beinah das lebendige Symbol des ›Volkes‹, jenes nackten Lebens« dar, und insofern ein ontologischer Widerstand gegen die Schaffung eines integralen politischen Körpers – des deutschen Volkes – (ebd., 189). In dem Maße, in dem sich eine nationale Identität konstituierte, kämen auch die demokratischen Regierungen in das Dilemma des Volksbegriffs. In diesem Sinn sieht nun Agamben auch in der demokratisch-kapitalistischen Regierung die Tendenz dazu, die Bevölkerungen der sogenannten Dritten Welt in bloßes Leben zu verwandeln. Leider vertieft er nicht, inwiefern Industrieländer in den Entwicklungsländern »nacktes Leben« produzieren. Vermutlich bezieht er sich auf die Vermehrung von

38 Das wird in den romanischen Sprachen offenbar, in denen das Adjektiv popolare, populaire usw. als Gegensatz zum Adel und zur Bourgeoise sowie als Synonym für Arme verwendet wird. 39 Agamben verweist auch auf die marxistische Perspektive, in der das Volk mit dem Proletariat identifiziert wird. Er bemerkt die Aporie dieser Terminologie, die einen exklusiven Begriff (Volk) als pauschale Kategorie benutzt. Um diesen Widerspruch zu überwinden, wird innerhalb einiger marxistischer Ansätze in den letzten Jahren im Gegensatz zu dem modernen Begriff Volk der Begriff Moltitudo benutzt (vgl. Hardt und Negri 2000 und Virno 2005).

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Nationalstaaten in der sogenannten Dritten Welt nach dem abendländischen Modell. Agamben versucht in seiner Genealogie keine wesentlichen Übereinstimmungen zwischen Demokratie und Totalitarismus hervorzuheben, sondern ihre strukturellen Analogien. Somit sollten Demokratie und Totalitarismus in seinem theoretischen Rahmen nicht als »zwei gleichermaßen missratene Zwillinge« (Heins 2005, 150) interpretiert werden. Vielmehr verfolgt er das Ziel, die Dichotomie Demokratie/Diktatur zu überwinden und ein theoretisches Modell zu formulieren, mit dem das gesamte politische Handeln der Moderne erfasst werden kann. Man kann sogar sagen, dass Agamben das Problem des Unterschieds zwischen Demokratie und Totalitarismus im Grunde nie thematisiert. Denn im Zentrum seiner Forschungen steht die Genealogie moderner Begriffe wie Souveränität, Recht, Volk und Person aus einer biopolitischen Perspektive, um die tödliche Macht des modernen politischen Diskurses intelligibel zu machen.40 Die Ansicht, dass die faschistischen Herrschaften nicht die Negation der Moderne, sondern eines ihrer Ergebnisse seien, teilen übrigens auch Foucault und Adorno. Im Unterschied zu ihnen argumentiert Agamben allerdings, dass nicht National-sozialismus und Faschismus, sondern unsere derzeitigen Regierungsformen den Höhepunkt der tödlichen Tendenz darstellten, da die Produktion von nacktem Leben zunehme und der Ausnahmezustand zur privilegierten Regierungstechnik werde. Wenn Ausnahmezustand und Reduzierung auf nacktes Leben die moderne Regierungstechnik par excellence sind und das Ergebnis des politischen Diskurses der Modernität darstellen, dann, so sein Schluss, ist das Lager die verborgene Matrix des Politischen. 2.5.3 Das Lager als Paradigma des modernen politischen Diskurses Die Genealogie der Einbeziehung des nackten Lebens ins Zentrum des Politischen im Laufe der Moderne verfolgt das theoretische Ziel, die Persistenz der Produktion eines anti-politischen Subjektes zu zeigen. Wenn der Bürger als das moderne politische Subjekt par excellence in den staatlichen Institutionen seinen Ort findet, ist das Lager Agamben zufolge der Ort, in dem das nackte Leben verortet wird. Die Behandlung des Begriffs des Lagers steht im Mittelpunkt der Agambenʼschen Analytik der Biopolitik. Wie schon gesagt, besteht seine Kritik an Fou-

40 Der italienische Wissenschaftler Andrea Russo hebt die Vorteile der Perspektive Agambens auf die Demokratie hervor. Indem er die Dichotomie zwischen Demokratie und Totalitarismus vermeidet, setzt Agamben Russo zufolge die Voraussetzung für die Entwicklung einer kritischen Analyse der aktuellen Formen des Faschismus innerhalb der demokratischen Staaten und Machtverhältnisse (vgl. Russo 2009).

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caults Analytik der Biopolitik gerade darin, dass dieser das Konzentrationslager nicht als biopolitischen Ort par excellence interpretiert hat. Agambens Forschungen gehen daher von der Frage aus, worin das Wesen des Lagers besteht und was das Auftauchen dieser politisch-juridischen Struktur ermöglicht. Er macht deutlich, dass in dieser methodologischen Perspektive das Lager nicht als historisches Phänomen erforscht werden dürfe. Vielmehr gehe es um die Analyse des Lagers als »verborgene Matrix, als nomos des politischen Raumes, in dem wir auch heute noch Leben« (Agamben 2002, 175). Dieser Argumentation liegt explizit der Nexus zugrunde, der nach ihm zwischen Ausnahmezustand und Entstehung der Konzentrationslager besteht. Um seine These zu bekräftigen, bezieht sich Agamben auf historische Forschungen über die Entstehung der Konzentrationslager. Die Struktur, die sie charakterisiere, sei die Ausbreitung des Ausnahmezustands in die bürgerliche Bevölkerung. Sowohl in den spanischen campos de concentraciones in Kuba, die 1851 errichtet wurden, als auch in den concentration camps in England am Anfang des letzten Jahrhunderts seien Teile der Bevölkerung nach Sicherheitsmaßnahmen inhaftiert worden, die nicht in der normalen juridischen Ordnung vorgesehen gewesen seien (ebd.). Agamben zufolge zeigen diese Ereignisse, dass der Ausnahmezustand zunehmend als normale Regierungstechnik eingesetzt wird und dass eine Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Konzentrationslager existiert (ebd., 177f.). Bekanntlich wurde auch in der nationalsozialistischen Herrschaft die Ausübung des Ausnahmezustands und die folgende Entstehung der Lager nicht von der regulären Rechtsordnung, sondern durch die Institution der Schutzhaft 41 reguliert, die außerordentliche Maßnahmen vorsah, um die »Freiheit« der Bürger zu »schützen«. Mit Agambens Worten: »Der Ausnahmezustand ist damit nicht mehr auf eine äußere und vorläufige Situation faktischer Gefahr bezogen und tendiert dazu, mit der Norm selbst verwechselt zu werden« (Ebd., Herv. i. O.). Die nationalsozialistische Herrschaft kann Agamben zufolge demnach durch die Normalisierung des Ausnahmezustands charakterisiert werden. Das Konzentrationslager sei insofern nichts anderes als »der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt« (ebd.). Innerhalb des Lagers komme das Machtverhältnis zum Ausdruck, das den souveränen Bann charakterisiere. Die Insassen würden nämlich in dem Maße ausgeschlossen, in dem sie zugleich eingeschlossen würden. Ihm zufolge zeichnet sich deshalb das Wesen des Lagers dadurch aus, dass der Ausnahmezustand normalisiert wird. Das führe zu einer Ununterscheidbarkeit zwischen Faktum und Recht, Außen und Innen. Er behauptet

41 Agamben bezieht sich unmittelbar auf Gesetze der preußischen Verfassung, die auch von nationalsozialistischen Juristen herangezogen wurden, um den permanenten Ausnahmezustand im Dritten Reich zu rechtfertigen.

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explizit: »Das Lager ist ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem die beiden Glieder ununterscheidbar geworden sind« (ebd., 179, Herv. i. O.). Durch diese Definition ist es möglich, den Unterschied zwischen Hannah Arendts und Giorgio Agambens Behandlung des Konzentrationslagers zu erfassen. Arendts Vorstellung, nach der das Lager den Ort darstelle, in dem alles möglich sei, wird in Agambens theoretischem Rahmen weiterentwickelt. Die absolute Macht über das Leben findet ihm zufolge seine Wurzeln gerade in der Ununterscheidbarkeit von Recht und Faktum, die es ermöglicht, dass jede Tat gegen die Insassen als straffrei gilt. Während Arendt darauf eingeht, wie das Wesen des Menschen zerstört wird, weist Agamben auf die Prozeduren hin, mit denen die Subjekte entrechtet werden. In seiner Konzeption sind die Insassen das Produkt einer juridischanthropologischen Maschine, die das Ziel verfolgt, nacktes Leben zu erstellen. Insofern seine Bewohner jedes politischen Status entkleidet und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden sind, ist das Lager auch der absoluteste biopolitische Raum, der je in die Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht nur das reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist das Lager das Paradigma des politischen Raumes, und zwar genau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt. (Ebd., 180, Herv. i. O.)

Ausgehend von dieser Argumentation erweitert Agamben die Bedeutung des Lagers, die sich in seiner Arbeit nicht nur auf das nationalsozialistische Konzentrationslager und den sowjetischen Gulag beschränkt. Ein Lager entstehe nämlich jedes Mal, wenn der Ausnahmezustand erklärt und es unmöglich wird, zwischen Faktum und Handeln zu unterscheiden. Somit sei die Definition eines (politischen) Raums als Lager nur bedingt von der Topologie der Struktur wie auch vom eventuell kriminellen Handeln der Sicherheitsdienste gegenüber den Inhaftierten abhängig. Das Lager ist für Agamben die bloße »Materialisierung des Ausnahmezustandes« (ebd., 183) und der Ort der Produktion nackten Lebens. Ein Raum, »in dem es nicht vom Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeiten begangen werden, sondern von der Zivilität und dem ethischen Sinn der Polizei, die da vorübergehend als Souverän agiert« (ebd., 183f.). Aus dieser theoretischen Perspektive erfasst Agamben deshalb auch Stadien42, Wartezonen in Flughäfen, die CPTs 43 und Gefängnisse wie Guantanamo Bay oder

42 Agamben weist explizit auf das Stadion von Bari hin, in dem im August 1991 albanische Flüchtlinge interniert wurden, bevor sie in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden (Agamben 2002, 183). 43 Diese Sigle bezieht sich auf »Centro di Permanenza Temporanea«. Es geht um Verwaltungslager, die von der italienischen Regierung durch das Gesetz 40 (1998) eingeführt

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Abu-Ghuraib als Lager. Viele AutorInnen, wie z.B. Werber, werfen ihm daher eine Nivellierung vor, da es für ihn keinen Unterschied zwischen Auschwitz und dem Stadion von Bari gebe (Werber 2002). Allerdings ist diese Kritik wenig plausibel, weil Agamben erstens in seiner Arbeit über Auschwitz (Agamben 2003c) die Singularität des nationalsozialistischen Vernichtungslagers hervorhebt; zweitens ignoriert Werber in seiner Kritik die methodologische Bedeutung des Begriffs des Paradigmas. Diese besondere Erkenntnisform geht – wie oben bereits dargestellt – nicht von einer Dialektik von Allgemeinem und Besonderen aus, sondern bewegt sich im Unterschied dazu von Besonderem zu Besonderem. Somit hat Agamben nicht die Absicht, die Singularität der historischen Phänomene zu leugnen. Vielmehr versucht er, eine unmittelbare Relation zwischen der Normalisierung des Ausnahmezustands und der Entstehung von Lagern aufzuzeigen, die sich auch in der empirischen Analyse als fruchtbar erweist, wie die Untersuchungen von Karl Bruckschwaiger (2009) zeigen.44 Oliver Marchart (2007) stellt die Frage, wie es möglich sei, einerseits die Singularität von Auschwitz zu behaupten und anderseits eine Universalität des Lagers als Paradigma zu setzen. Das Lager als Paradigma ist Marchart zufolge nur möglich, indem das Lager »völlig leer und formalistisch gefasst wird« (ebd., 16). Diese Anmerkung überzeugt nicht, da das Wesen des Paradigmas als Erkenntnisform nicht berücksichtigt wird. Agamben konzentriert sich auf das Lager als Struktur, nicht auf die Art und Weise, in der Tod und Vernichtung stattgefunden haben. Vielmehr studiert er die Lager als Orte, in denen nacktes Leben produziert wird. Insofern konzentriert er sich auf Dispositive und Maßnahmen, die die Schaffung eines Lebens erlauben, demgegenüber alles möglich ist. Diese Produktion ist keinesfalls »leer« und die Struktur auch nicht »formal«. Agamben verwendet eher die Begriffe potenziell und virtuell, die geeigneter sind, die Bedingungen eines Lebens im Ausnahmezustand auszudrücken. Das Begriffspaar potenziell/virtuell verweist auf eine dynamische und heraklitische Ontologie, während das Paar real/formal auf eine statische und platonische Ontologie deutet. Da seine ontologische Konzeption als dynamische gedacht werden muss, wird in seiner Perspektive nicht die Effektivität, sondern die Potenzialität und Virtualität verglichen. Das Problem Agambens liegt jedoch darin, dass er nur die negative Virtualität berücksichtigt. Dagegen besteht das große theoretische

wurden, um die illegale Einwanderung zu kontrollieren. Mit der Einführung eines neuen Gesetzes durch Bossi-Fini wurden diese Verwaltungslager in CIE umbenannt. CIE (centro di identificazione ed espulsione) kann als Amt für die Identifizierung und Ausschließung übersetzt werden (vgl. Simone 2006). 44 Ausgehend von der Agambenʼschen theoretischen Perspektive analysiert Karl Bruckschwaiger die Struktur der Lager in Tansania und betont die Zentralität von Ausnahmemaßnahmen in der Verwaltung des Lagers (Bruckschwaiger 2009).

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Verdienst der Agambenʼschen Analytik des Lagers in der Feststellung, dass die Internierung der Insassen nicht von ihrem Handeln, sondern von biopolitischen Zäsuren abhängt, die ihr Dasein bestimmen. Dies wird besonders deutlich hinsichtlich der so genannten CPTs, 45 in denen die MigrantInnen nicht wegen ihres Handelns, sondern aufgrund ihres Status inhaftiert werden (Rigo 2003; Simone 2006). In diesem italienischen Verwaltungslager werden die Leute für zwei Monate interniert, bis die italienischen BeamtInnen ihren Asylanspruch oder die Vergabe einer Aufenthaltserlaubnis geprüft haben. Sie kennen in diesem Zeitraum keinen Rechtsstaat und faktisch sind sie in den »Händen« der Polizei, die ihnen gegenüber als Souverän handeln kann (vgl. Rovelli 2006).46 Dass das Lager in enger Verbindung mit dem Ausnahmezustand steht und dass dort alles möglich ist, wird im Fall Guantanamo bestätigt. David Rose hat persönlich Interviews mit Zuständigen des US-amerikanischen (aber in Kuba angesiedelten) Sicherheitslagers sowie mit den ersten entlassenen Insassen geführt. Obwohl der Autor Agamben nicht zitiert, hallt in seinen Worten dessen Argumentation nach.47 Im Diskurs der militärischen Autoritäten und Zuständigen in Guantanamo taucht der Ausschluss aus jeder Rechtsordnung auf, wie beispielsweise ein von Rose interviewter Beamter anmerkt: »Weil die Rechtsberater sagten, dort könnten wir mit ihnen machen, was wir wollen […] kein Gericht wäre dort für sie zuständig«

45 Agamben selbst hat sich in einem Interview zu der Problematik der CPTs geäußert (vgl. Caccia 1998). Die Frage ist einfach, aber gleichzeitig erschreckend: Sind CPTs Lager? Ausgehend von seiner theoretischen Perspektive und von der Analyse des juridischen Status der Insassen bejaht Agamben diese Frage. Die meisten Inhaftierten haben nämlich keine Unterlagen und insofern wird es unmöglich, ihre Nationalität und ihre jeweiligen Rechte zu bestimmen. Dieser Umstand führt an die Grenzen des Rechts, da faktisch die Insassen der CPTs aus einem juridischen Blickwinkel nicht existieren. Sie dürfen sich z.B. nicht auf eine Rechtsordnung berufen, um ihre Ansprüche zu beweisen. Agamben betont in seinem Interview auch den extremen Widerspruch der Definition der Insassen als »espulso trattenuto« (espulso kann mit »ausgeschlossen« übersetzt werden, während trattenuto auf das Verb »aufhalten« hinweist). Die Insassen sind also ausgeschlossen im Inneren des Territoriums, aus dem sie ausgeschlossen worden sind. 46 Marco Rovelli hat eine empirische Untersuchung über die CPTs durchgeführt, in der er auch Insassen interviewte. Diese Arbeit, die sowohl Agambens Begriffe als auch seinen theoretischen Rahmen benutzt, dokumentiert Gewalt gegenüber den Insassen wie auch die Inkonsistenz ihres juridischen Status und insofern auch die Unmöglichkeit, die Täter anzuzeigen (vgl. Rovelli 2006). 47 Um die Machtverhältnisse in Guantanamo zu beschreiben, benutzt Rose den Ausdruck »absolute Macht« (Rose 2004, 11) in Bezug auf das Pentagon, das direkt für Guantanamo verantwortlich ist.

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(Rose 2004, 33). Außerdem hebt Rose hervor, dass die Definition des Status der Insassen nicht von Konventionen und der Rechtsordnung reglementiert werde, sondern vielmehr von der Regierung und dem Präsidenten abhinge. Einer der Juristen des Pentagon fasste es in die Worte: ›Bush hat den Rechtsexperten des GENTCOM die Beine unterm Hintern weggezogen‹. Alle Gefangenen sollten nun als unrechtmäßige Kämpfer gelten und von den normalen Schutzbestimmungen ausgeschlossen werden, nur weil Präsident Bush es gesagt hatte. (Ebd., 41)

Der Zustand des Rechts in Guantanamo stellt ein unheimliches Szenario dar, das einige explizite Analogien mit der nationalsozialistischen Situation aufweist. Zunächst stellt Guantanamo, wie die Lager des Nationalsozialismus, einen anomischen Raum dar, in dem keine juridische Ordnung existiert, wie von einem Beamten des Pentagon in einem Interview bemerkt wird: »Das Schöne an Guantanamo war nach Ansicht der Regierung, dass dieser Ort außerhalb des Rechts stand […] lag Gitmo in einem ›juristischen Schwarzen Loch‹« (ebd., 44). Das bedeutet faktisch, dass eventuelle Folterungen und Misshandlungen von Insassen nicht verfolgt werden können, da in Guantanamo Worte wie »kriminell« und »juridische Verantwortlichkeit« keinen Sinn ergeben. Außerdem leben die Insassen in einer besonderen Situation, in der ihre juridische Definition suspendiert ist. Für diese Gefangenen hat die US-amerikanische Regierung eine neue Formel erfunden; sie werden als »unrechtmäßige Kämpfer« definiert. Dieses neue Produkt der anthropologischen Maschine hat eine doppelte Bedeutung. Zum einen wird vermieden, dass die Inhaftierten innerhalb der US-amerikanischen Rechtsordnung verurteilt werden können; zum anderen werden sie nicht als reguläre Kämpfer anerkannt, und somit ist ihr Status nicht durch die Genfer Konvention festgelegt. 48 So werden die GuantanamoInsassen ohne Anklage und ohne Prozess interniert und es ist daher unmöglich zu definieren, wie lange sie im Gefangenenlager bleiben müssen (Russo 2006a). Ob-

48 Rose zitiert in seinem Buch die Worte der juridischen Beamten des Weißen Hauses: »Das Wesen des neuen Krieges führt dazu, dass bestimmte Faktoren besonders hohen Wert erhalten: etwa dass man in der Lage sein muss, von gefangenen Terroristen und deren Unterstützern rasch Informationen zu erhalten, um weitere Gräueltaten gegen amerikanische Bürger zu unterbinden: oder dass es unerlässlich ist, Terroristen wegen Kriegsverbrechen – wie zum Beispiel vorsätzliche Tötung von Zivilpersonen – den Prozess zu machen. Nach meinem Dafürhalten macht dieses neue Paradigma die strikten Einschränkungen der Genfer Konventionen für das Verhör gegnerischer Gefangener obsolet und einige ihrer Bestimmungen zu veralteten Vorschriften« (Rose 2004, 37). Rose betont auch, dass das der erste Fall sei, in dem eine Gruppe mittels eines Präsidialdekrets als »unrechtmäßige Kämpfer« definiert werde.

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wohl der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten am 28. Juni 2004 das Recht der Insassen auf Appellation anerkannte und als Folge davon das Handeln der USRegierung auf die juridisch-politische Ordnung beschränkte, stellte er die Macht der Regierung nicht in Frage, bestimmte Individuen präventiv zu internieren (ebd.).49 Agambens theoretischer Rahmen erlaubt es, die Analyse des Lagers vom Totalitarismus zu trennen und sich auf die Art und Weise zu konzentrieren, in der innerhalb des modernen politischen Diskurses diese Form entsteht. Kontrovers und für viele (Marchart 2007; Werber 2002) irritierend bleibt die Frage danach, ob sich die Erfahrung von Auschwitz mit anderen Situationen vergleichen lässt. Allerdings verfolgt Agamben nicht das Ziel, die Gräuel von Auschwitz zu relativieren oder mit anderen Misshandlungen gleichzustellen. Abgesehen davon führt die Postulierung einer solchen absoluten Singularität von Auschwitz in eine sowohl wissenschaftliche als auch ethische und politische Sackgasse, da dadurch nicht zu verstehen ist, wie eine Situation geschaffen werden kann, in der alles, auch extreme Gräuel, möglich sind. Im Gegensatz dazu erlaubt die analogische Perspektive, die von Agamben entwickelt wird, ein Forschungsfeld zu öffnen, das wichtige Implikationen sowohl für den wissenschaftlichen als auch für den ethischen und politischen Bereich hat. Aus einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt können die sozialen, juridischen und politischen Implikationen der Erweiterung des Ausnahmezustands als Regierungstechnik in einer kritischen Perspektive analysiert werden. Zudem erweist sich die Analyse der Definitionen als relevant, mit denen die Insassen jeweils im Lager identifiziert werden. Agamben behauptet überzeugend, dass Termini wie »espulso trattenuto« oder »unrechtmäßige Kämpfer« unmittelbar politisch seien und insofern das Leben der Insassen auf einen Status reduzierten, in dem sie auf einer Schwelle stünden: Sie sind draußen, aber zugleich auch drinnen. Das Verstehen der Art und Weise, in der diese Entkleidung stattfindet, bedeutet nicht, Auschwitz zu relativieren, sondern Auschwitz zu verhindern.

49 Andrea Russo hebt hervor, dass sich das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten auf die Legislatur, die im 18. und 19. Jahrhundert die Einweisung der geistlich Kranken reglementierte, beruft, um die präventive Inhaftierung in Guantanamo zu rechtfertigen. So werden die mutmaßlichen Terroristen als gesellschaftliche Kranke definiert und von ihrem Recht entkleidet. Durch die Analogie Verrückt-Terrorist verfolgt die USamerikanische Regierung zudem das Ziel, das Handeln der »unrechtmäßigen Kämpfer« von jedem politischen Anspruch zu entkleiden (Russo 2006a). Zusammenfassend kann man sagen, dass sowohl der Terrorist als auch der Verrückte als Feind der Gesellschaft erklärt werden und deshalb nicht nach den gesellschaftlichen Normen, sondern mittels außerordentlicher Maßnahmen behandelt werden können.

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2.6 D IE

KOMMENDE P OLITIK ALS N EUTRALISIERUNG DER BIOPOLITISCHEN D ISPOSITIVEN

Das Homo Sacer-Projekt fokussiert sicher auf die Genealogie des Verhältnisses von Politik und Leben, das Agamben zufolge die Entwicklung der politischen Macht im Abendland charakterisiert. In dem letzten Teil seines philosophischen Systems berücksichtigt allerdings Agamben auch die Strategie, die zur Überwindung – oder besser gesagt in seiner Terminologie zur Neutralisierung – der Dispositive führen könnte, die das bíos von dem zóe trennen. Da sich die Ausübung der Macht auf diese Macht zu trennen gründet, muss eine antagonistische Politik diese Macht in Frage stellen. Die Schriften, in denen diese ethisch-politische Möglichkeit inszeniert wird, sind Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform und Lʼuso dei corpi (dt. (aber noch nicht übersetzt): Der Gebrauch der Körper). Beide sind mit der Signatur Homo Sacer IV markiert und sollten die letzten Bände des Homo Sacer-Projektes sein. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten stehen die Definition des Begriffs des Gebrauchs, die Genealogie des ontologischen Dispositivs und die Bearbeitung des Begriffs der forma di vita – Lebensform auf Deutsch – im Anschluss an die modale Ontologie. Diese drei Begriffe werden insofern in diesem Kapitel analysiert. Es ist zu sagen, dass diese auch in anderen Schriften auftauchen, die in der folgenden Analytik berücksichtigt werden müssen. Allerdings leistet insbesondere Lʼuso dei corpi einen grundlegenden Beitrag für die Interpretation nicht nur von diesem letzten Teil, sondern auch des Homo Sacer-Projekts als solchen. Das Relevante für das Verständnis der Perspektive Agambens besteht darin, dass diese Arbeit besser als andere Texte des Homo-Sacer-Projekts strukturiert und methodologisch fundiert ist. Der Gebrauch der analogischen Rationalität ist hierbei eher rigoros und insofern schützt Lʼuso dei corpi vor den Missverständnissen, die die Rezeption der Arbeiten Agambens charakterisiert haben. Auch die Forschung und die Funktion der Signaturen erfüllen in dieser Arbeit eine strategische Aufgabe für eine bessere Erklärung der Forschungshypothese. In den folgenden Paragrafen werden auch andere Texte berücksichtigt, in denen die genannten Begriffe behandelt werden, um diese Entwicklung der Perspektive Agambens besser hervorzuheben. 2.6.1 Profanierungen und die Theorie des Gebrauchs Das Werk Die kommende Gemeinschaft wurde von Agamben im Jahr 1990 in Italien veröffentlicht und lässt sich als erster Versuch einer Theorie für eine alternative Praxis in den Agambenʼschen Schriften lesen (Agamben 2003b). Allerdings muss diese Arbeit in die Debatte um eine Gemeinschaft ohne identifizierende Elemente,

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die in den 1980er und 1990er Jahren die philosophische Produktion in Frankreich und Italien durch die Arbeiten von Nancy, Blanchot, Derrida, Agamben und Esposito charakterisierte, eingeordnet werden. Es handelt sich dabei um eine ontologische Auseinandersetzung, der eine kritische und kontrastive Lektüre der Theoretiker der Gemeinschaft – vor allem Heidegger und Bataille – zugrunde liegt. Insofern bietet diese Arbeit Agambens keine relevanten Elemente für eine emanzipative Praxis in einer von biopolitischen Dispositiven dominierten politischen Ordnung (vgl. ebd.). Im Unterschied dazu ist die Idee einer politischen Praxis als Profanieren vielversprechend, die Agamben in der literarisch-philosophischen Arbeit Profanierungen entwickelt (Agamben 2005). Er übernimmt auch diesen Begriff aus dem altrömischen Recht, in dem das Profanieren im Gegensatz zum Weihen steht. Auf diese Weise behauptet Agamben im Anschluss an den Juristen Trebatius, dass das Profanieren einer Sache bedeute, diese »dem allgemeinen Gebrauch der Menschen« zurückzugeben, während das Weihen typischerweise die Dinge von einem allgemeinen Gebrauch trenne (ebd., 70f.). Es ist grundlegend hervorzuheben, dass »comune« in der italienischen Sprache sowohl auf das Allgemeine als auch auf das Öffentliche hinweist. Der Ausdruck »uso comune« muss deswegen mit beiden Bedeutungen gelesen werden. Agamben zufolge kann im Anschluss an Benjamin auch der Kapitalismus als Religion interpretiert werden und wie jede Religion trennt auch der Kapitalismus die Dinge von einem allgemeinen Gebrauch (ebd., 77). Besser gesagt, gebe es darin gar keinen Gebrauch, sondern nur privaten Konsum der Dinge. Da die Profanierung nur in Bezug auf einen Gebrauchswert gedacht werden könne und der Kapitalismus nur Austauschwerte (bzw. Konsumwerte) existieren lasse, werde ein Handeln als Profanieren praktisch unmöglich (ebd., 80). Hierbei ist es fundamental, den Kontrast zwischen Konsum und Gebrauch zu verstehen. Durch eine Genealogie, deren Ursprung Agamben in der Auseinandersetzung zwischen dem Franziskanerorden und der römischen Kurie über das Verhältnis von Armut und Eigentum verortet (ebd.), macht er sichtbar, dass der Konsum ein privates und individualisierendes Handeln sei. Im Gegensatz dazu weise der Gebrauch auf eine öffentliche und allgemeine Dimension hin. Agamben leitet die These eines absolut Unprofanierbaren als Zeichen der totalen Religion des Kapitalismus als Folge dessen auf Konsum basierender Struktur ab. Im Unterschied zu seinen anderen Schriften verlässt er seine negative Sichtweise und hält fest, dass das Profanieren nicht nur möglich, sondern auch notwendig sei. Es kann aber sein, daß das Unprofanierbare, auf das sich die kapitalistische Religion gründet, in Wahrheit kein solches ist und daß es noch heute wirksame Formen der Profanierung gibt. Deshalb darf man nicht vergessen, daß die Profanierung nicht einfach so etwas wie einen na-

126 | P ARADOXIEN DER B IOPOLITIK turgegebenen Gebrauch wiederherstellt, der ihrer Absonderung in der Sphäre der Religion, der Wirtschaft oder der Justiz vorausging. Das Vorgehen ist – wie das Beispiel des Spiels in aller Klarheit zeigt – listiger und komplexer und beschränkt sich nicht darauf, die Form der Absonderung abzuschaffen, um diesseits oder jenseits davon wieder einen unbefleckten Gebrauch zu finden. (Ebd., 83)

Das Profanieren in der aktuellen Zeit besteht somit ihm zufolge in einer »Befreiung« der Verhalten von ihren gegebenen Sphären für einen neuen Gebrauch. Um dies zu verdeutlichen, verwendet er das Beispiel einer Katze, die mit einem Wollknäuel spielt, indem sie das Jagdverhalten reproduziert. Die Katze verwende auf diese Weise ein Verhalten nicht nach ihrem natürlichen und/oder konventionellen Modus, sondern setze dieses in einem neuen Modus ein (ebd., 83f.). Das Spiel produziere somit eine neue Definition der Dinge wie auch der Verhalten. Deswegen müsse das Profanieren als eine Art der Neutralisation der gegebenen Funktion der Dinge und der Verhalten bzw. als das Öffnen einer neuen und nicht bereits gegebenen Konfiguration des Verhältnisses von Menschen, Dingen, Verhalten und vor allem Dispositiven verstanden und praktiziert werden. Agamben analysiert die Dispositive wieder in Bezug auf das Profanieren und verweist auf ihre doppelte Funktion. Bei der ersten handele es sich um die schon analysierte Funktion als Subjektivierungsmaschine, während die zweite in der Neutralisierung der Profanierungspotenz bestehe. Infolgedessen lasse sich das Profanieren als politische Praxis der Neutralisierung der gegebenen Funktion der Dispositive und des Öffnens eines neuen allgemeinen Gebrauchs verstehen (ebd., 90). Leider hat Agamben die Idee des Profanierens nicht weiter vertieft und diese Betrachtung ist zudem kaum politisch-theoretisch orientiert. Vielmehr verweist sie auf eine ästhetische Theorie. Infolgedessen finden sich keine Anzeichen darin, wie z.B. das Dispositiv des Ausnahmezustands neutralisiert und zu einer neuen Funktion konfiguriert werden kann. Außerdem wird die Idee der »comune« – sowohl als »öffentlich« als auch »allgemein« – unzureichend entwickelt. Ferner bleibt in dem Text unklar, ob Dinge, Praktiken, Funktionen oder alle gleichermaßen zu profanieren sind. Trotz dieser Lücken ist die Idee des Profanierens als politische Praxis sehr interessant und muss weiterentwickelt werden. Das Relevante an diesem Projekt einer Praxis besteht gerade in der Möglichkeit der Neutralisation der Trennungsfunktion der Dispositive. Die Analytik der biopolitischen Dispositive bei Agamben zeigt auf, dass diese immer durch Zäsuren und Trennungen operieren. Die Souveränität trennt das bíos von dem zóe, wie auch die politische und rechtliche Ordnung von einer anomischen Zone, die von der Gewalt bestimmt ist und sich als Lager definieren lässt. Im Rahmen einer Theorie des Profanierens wird auch die Bedeutung des Agambenʼschen Begriffs forma di vita deutlich. Wie Vittoria Borsó betont, ist for-

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ma di vita bei ihm nicht einfach Lebensform (vgl. Borsó 2010). Vielmehr ist es ein Leben, in dem der bíos nicht von zoé getrennt wird und als echte Potentia konzipiert ist. Diese Potentia des Lebens, die die philosophische Produktion in Italien prägt, ist nichts anderes als die Möglichkeit einer immanenten und konstitutiven Praxis für das Leben und nicht, um das Leben zu verbannen. Die Forschung nach einer besseren Definition von forma di vita hat Agamben zur Analytik des christlichen Mönchtums im Mittelalter geführt. Das Interessante in dem Leben der Mönche war ihm zufolge in der Definition einer Lebensform, in der Regel und Leben nicht getrennt werden können. Anders gesagt war das Dasein der Mönche nichts anderes als die perfekte Verwirklichung der Normen, die das Leben in den Klöstern regulierte. Es ist hervorzuheben, dass sich hierbei Begriffe wie Regeln und Normen nicht nach der modernen Bedeutung interpretieren lassen. Im Gegensatz zu den modernen normativen Ordnungen sind die Regeln der Mönche eher als eine ethische Strategie zu deuten, um ein Leben führen zu können, das sich den Rechts- und Machtverhältnissen entzog. Agamben fokussiert sich insbesondere auf die franziskanischen Orden, weil diese sich ihm zufolge radikal von anderen Orden unterscheiden. Das Neue und das Relevante dabei sei die Idee, die Lebensform auf die höchste Armut zu gründen. Auf diese Weise verzichten die Franziskaner auf jedes Eigentum und insofern auf jedes Recht. In dem Maße, in dem sie auf jedes Recht verzichten, neutralisieren sie die Ausübung der Macht, ohne dass die Institutionen in Frage gestellt würden. Deswegen können gleichzeitig die franziskanischen Orden die Macht der Kirchen respektieren und ignorieren. In dem Maße, in dem die einzelne Regel für das Dasein in der Verwirklichung der evangelischen Armut besteht, können sie nicht innerhalb der Machtverhältnisse eingesetzt werden. Diese Situation führte natürlich zu einer scharfen Auseinandersetzung mit der Kirche, die den Erfolg der Franziskanerorden kontrastieren oder besser gesagt innerhalb der Machtverhältnisse eingliedern wollte. Agamben hatte bereits, wie schon erwähnt, die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche und dem franziskanischen Orden in seiner Schrift über die Profanierungen zitiert. Bei Höchste Armut wird diese theoretische, ethische und politische Konfrontation systematisch analysiert. Zentral in der Verteidigungsstrategie der franziskanischen Orden ist der Begriff des Gebrauchs. Die katholische Kirche ging davon aus, dass in der Tat die Mönche einige notwendige Eigentume wie Klöster besetzten und insofern auch ihre Lebensform von der Rechtsordnung reglementiert werden sollte. Gegen diese These argumentierten die Franziskaner, dass sie kein Eigentum hätten. Vielmehr beschränkten sie sich auf den Gebrauch der Dinge, der für die wichtigsten franziskanischen Theologen wie Bonaventura und Ubertino da Casale von dem Eigentum der Dinge getrennt werden kann, da der Gebrauch eine Notwendigkeit für die Selbsterhaltung des Lebens sei. Das Interessante hierbei für Agamben liegt darin, dass die franziskanischen Orden den Aus-

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nahmezustand nicht als Fundament für die Ausübung einer Macht verwenden werden. Vielmehr verwenden sie diese, um sich von den Machtverhältnissen zu entziehen. Zentral in dieser Strategie sei auch die Reduktion des Daseins auf einen rechtlosen Zustand. Agamben betont, dass die von Franziskus theoretisierte Charakterisierung der Mönche als minores nicht nur eine moralische Konnotation, sondern auch eine ontologische Bedeutung hat. Es geht nicht anders als um die Theoretisierung eines rechtlosen Daseins, aber insofern jenseits der Machtverhältnisse. Es kann nicht auffallen, dass die Lebensform der Franziskaner analogisch zu dem Homo Sacer ist. Der Unterschied dabei liegt in dem Gebrauch des rechtlosen Zustands. Agamben zufolge scheitert allerdings die Strategie der Franziskaner nicht nur wegen der strengen Opposition des Papstes Johannes XXII., der mit der Bulle »Ad conditorem canonum« die Untrennbarkeit von Eigentum und Gebrauch festgestellt hat. Das Problem liege eher darin, dass die Franziskanerorden den Gebrauch immer durch eine juristische Sprache und in Auseinandersetzung mit dem Recht thematisierten. In der letzten Schrift des Homo Sacer-Projekts – Lʼuso dei corpi – versucht insofern Agamben eine Theorie des Gebrauchs und eine Lebensform zu skizzieren, die nicht durch eine Dialektik mit dem Recht, sondern ausgehend von einer modalen Ontologie theoretisiert werden. 2.6.2 Der Gebrauch der Körper und die modale Ontologie Am Ende seines Forschungsprogramms thematisiert Agamben die Möglichkeit einer Neutralisierung der biopolitischen Dispositive. Lʼuso dei corpi, die als letzte Schrift des Homo Sacer-Projekts präsentiert wird (Agamben 2014), ist sicher ein wichtiger und innovativer philosophischer Text, der darauf zielt, grundlegende Kategorien der Modernität wie Subjekt, Substanz, Handeln zu überwinden. Das Buch ist in drei Teile geteilt. In dem ersten beschäftigt sich Agamben wieder mit dem Begriff des Gebrauchs. Er definiert diesen Begriff, oder besser gesagt diese Möglichkeit oder diesen Modus50, über den Körper zu verfügen,jedoch nicht positiv. Vielmehr grenzt er den Gebrauch von den kanonisierten Kategorien ab, die die menschlichen Tätigkeiten, oder besser gesagt das In-der-Welt-zu-sein der Menschen, charakterisieren. Interessanterweise bildet Agamben ein Paradigma des Gebrauchs von der aristotelischen Definition der Tätigkeit der Sklaven. Aristoteles zu-

50 Das italienische Wort »modo« (plural Form modi) kann mit verschiedenen deutschen Substantiven übersetzt werden: Weis, Art, Mittel. Hierbei wird mit dem Latinismus Modus (plural Form Modii) übersetzt, um die Verbindung von Agamben und die philosophischen Traditionen, die sich nicht auf die Substanzen, sondern auf die modii konzentrieren, sichtbar machen.

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folge können Sklaven weder produzieren noch handeln. Vielmehr werden diese bloß von ihren Eigentümern gebraucht (ebd., 32). Zwei Aspekte sind für Agamben hierbei relevant. Zum einen werde enthüllt, dass die Möglichkeit einer menschlichpolitischen Existenz eine unmenschliche Grundlage benötigt (ebd., 43). Sklaven waren in der antiken Ordnung keine Menschen oder bíos, sondern nur nackte Leben. Interessant hierbei ist auch die Analogie zwischen Sklaverei und Technik. So wie die antike (bio-) politische Ordnung die Sklaverei benötigt, braucht die moderne (bio-)politische Ordnung die Technik (ebd., 111f.). Noch interessanter ist die zweite Überlegung Agambens über die aristotelische Definition des Daseins der Sklaven. Um die Sklaven von den Menschen abzugrenzen, definiert Aristoteles ein Modus der Existenz, das weder produktiv noch politisch ist (ebd., 44). Insofern sei der Sklave bei Aristoteles eine »werklose« Existenz, die deswegen nicht innerhalb des bio-ontologischen Dispositivs verstanden werden kann, die von der Dichotomie-Dialektik Akt/Potenz charakterisiert sei. Das Dasein des Sklaven ist Agamben zufolge bei Aristoteles komplett in seinem Gebraucht zu werden eingeschlossen, insofern sei bei diesem Akt und Potenz ununterscheidbar. Aus diesem Grund sieht er in der aristotelischen Konzeption des Sklaven und in seinem Gebrauch des Körpers die Möglichkeit einer Lebensform, in der Akt und Potenz nicht getrennt werden können (ebd., 45). Es geht um eine permanente Potenz, die den Gebrauch des Körpers charakterisiert. Grundlegend dabei ist allerdings die Definition einer Ontologie, die sich von dem von Agamben selbst genannten »ontologischen Dispositiv« emanzipieren kann. Unter ontologischem Dispositiv versteht Agamben eine philosophische Tradition, die ausgehend von Aristoteles das Sein, durch eine Trennung von Wesen und Existenz, Akt und Potenz versteht (ebd., 155f.). Ihm zufolge ist diese Trennung analogisch zu der Trennung von bíos und zóe, die der biopolitische Dispositiv charakterisiert. So wie ein politisch-qualifiziertes Leben durch die Ausschließung von einem nackten Leben möglich sein kann, sei ein Diskurs des Seins durch die Isolation eines Wesens von einer Existenz denkbar (ebd., 173). Die Archäologie des ontologischen Dispositivs wird von Agamben in dem zweiten Teil von Lʼuso dei corpi thematisiert. Schon in Homo Sacer I, die souveräne Macht und das nackte Leben hatte Agamben Heideggers Definition des Seins übernommen, nach der »das Wesen in der Existenz liegt« (vgl. Agamben I, 197), um das Verhältnis von politischem und nacktem Leben zu erklären. In Lʼuso dei corpi wird die Heideggerʼsche Ontologie wieder analysiert, um die Persistenz und die performative Macht des ontologischen Dispositivs sichtbar zu machen. Es ist bekannt, dass Agamben von Heidegger selbst zur Philosophie während einiger Seminare in Le Thor eingeführt wurde. In einigen Interviews hat Agamben behauptet, dass er seine philosophische Perspektive durch eine permanente Konfrontation zwischen Benjamin und Heidegger bildet. In Lʼuso

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dei corpi wird das Verhältnis mit diesem Letzter konfliktuellen und es ist nicht extrem, von etwas wie einem philosophischen Patrizid zu sprechen. Agamben zufolge bleibt Heidegger noch in dem ontologischen Dispositiv eingesperrt, der das Wesen von der Existenz trenne. Insofern sei die Ontologie Heideggers nichts anderes als ein letzter Versuch, dieses Verhältnis zu definieren (Agamben 2015, 190f.). Es gehe um eine aporetische Perspektive, die zum Scheitern führe. Im Kontrast zu Heidegger will Agamben das ontologische Dispositiv neutralisieren und die Aporie der ontologischen Diskurse in Euporie verwandeln (ebd., 216). Grundlegendes Element dieser Perspektive ist die Definition einer modalen Ontologie im Kontrast zur substanziellen Ontologie, der das ontologische Dispositiv zugrunde liegt (ebd.,199f.). Aus diesem Grund bindet Agamben seine Ontologie nicht an Autoren, die das Sein ausgehend von der Trennung von Wesen und Existenz denken. Vielmehr sind hierbei grundlegend diejenigen, die das Sein durch die Analytik seines Existenzmodus verstehen. Spinoza und Leibniz spielen hier eine wichtige Rolle in dem Aufbau dieser modalen Ontologie. In diesem Kontext ist Agambens Interpretation der Spinozaʼschen Konzeption von Deus sive Natura interessant. Ihm zufolge will Spinoza nicht Gott und Natur (wie auch Sein und Substanz) identifizieren. Vielmehr zeige Spinoza, dass »Göttlich« nicht das Sein per se als Substanz, sondern die permanente Verwandlung des Seins in den Modii göttlich sei (ebd., 214). Der Fokus auf die Modii impliziert für Agamben eine relevante Verschiebung in dem Denken des Seins. Zentral in dieser Perspektive ist nicht mehr die Frage Was ist es?, sondern wie ist es? Dazu kommt, dass die grundlegende zeitliche Dimension des Daseins nicht mehr die Vergangenheit wie bei Aristoteles, sondern der Gegenwart sei, in der sich immanent die Modifizierungen des Seins verwirklichen (224f.). Agamben zufolge beschränkt sich die modale Ontologie nicht auf die Bildung einer neuen Perspektive über das Dasein. Vielmehr ermöglicht diese auch eine neue Konzeption des Politischen. Wie schon erwähnt, existiert für ihn zwischen Ontologie und Politik ein analogisches Verhältnis. Insofern entspricht die von dem ontologischen Dispositiv produzierte Trennung (Akt/Potenz, Wesen/Existenz) der Trennung der biopolitischen Dispositiv (nacktes Leben/Bíos, Ausnahme/Norm, Regierung/Reich). Eine differente Ontologie kann Agamben zufolge somit eine neue politische Perspektive eröffnen. Insofern wird die modale Ontologie nicht nur eine Möglichkeit für die Konzeption des Daseins, sondern auch den Abdruck, um das Politisch zu denken, oder mit Agambenʼscher Sprache zu »leben«. In dem dritten Teil von Lʼuso dei corpi beschäftigt Agamben sich mit der Herausforderung, das Politische durch die modale Ontologie zu denken. Wenn sich die

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substanzielle Ontologie oder das ontologische Dispositiv auf die Macht zu trennen gründen, muss die an die modale Ontologie angeknüpfte Politik zuerst diese Macht de-aktivieren. Anders gesagt ist für Agamben die dringende Aufgabe einer emanzipativen Politik die De-Institution oder Neutralisierung des ontologischen Dispositivs (ebd., 337). Bei Lʼuso dei corpi verwendet Agamben neben dem Begriff der Neutralisation Begriffe wie De-Institution und De-Aktivation, die am besten die Verschiebung von einer substantiellen zu einer modalen Ontologie sichtbar machen sollten. Der Begriff der destituierenden Macht besteht in der Möglichkeit, die Dialektik von konstituierter und konstituierender Macht in Stillstand zu bringen (ebd.). Grundlegend dafür sind außerdem zwei andere Begriffe: Inoperositá (dt.: Untätig) und Lebensform. Der Erste sollte die Trennung von Potenz und Acht deaktivieren und insofern eine Existenz ermöglichen, in der das Dasein eine permanente Potenz beinhalte (ebd., 345) und die über den Gebrauch des Körpers verfügt. Der Begriff der Lebensform taucht in vielen Texten Agambens seit Anfang der 90er Jahre auf und steht im Zentrum der Strategie der Franziskanerorden, die in Höchste Armut analysiert wird. In Lʼuso dei corpi wird dieser deutlicher definiert und vor allem setzt sich die Lebensform in Verbindung mit der destituierenden Macht und mit der De-Aktivation der Dispositive, die das bíos von dem nackten Leben trennen. Zuerst sei Lebensform als ein Leben zu denken, in dem die Form nie ein Fakt, sondern immer eine Möglichkeit sei und deswegen sei das Leben immer in einem Zustand von permanenter Potenz zu verstehen (ebd., 264). Diese Konzeption ist Agamben zufolge nur möglich, wenn das Leben als Denken und das Denken als Leben begriffen wird (ebd., 268). Wobei denken als eine permanente Kontemplation der Erfahrungen des Lebens verstanden und das Leben als singulärer Gebrauch der gemeinen Potenz des Denkens konzipiert wird (ebd.). Agamben bezieht sich auf Avicennas Theorie des generellen Intellekts, um diese gemeinsame Potenz des Denkens als Lebensform zu klären (ebd., 271). Kurzgesagt ist es die Potenzialität des Denkens, die eine Kommunikation zwischen den verschiedenen singulären Existenzmodii ermöglicht. Es geht deswegen um eine Macht, die alle Menschen als Denkerwesen teilen. Agamben zufolge muss diese Potenzialität ohne Verwirklichung (oder Aktualisierung) der Lebensform behalten werden, um sich von dem ontologischen Dispositiv zu emanzipieren. Es gehe um eine permanente Beschäftigung mit dem Gebrauch des Selbst als Lebensform, die sich in der Erfahrung des Lebens modifiziert. Er begreift diesen Prozess durch die Aussage »la vita si genera vivendo«, die schwierig auf Deutsch übersetzt werden kann. Damit meint er einen Prozess, in dem sich das Leben bildet, indem es gelebt wird (ebd., 282f.). Hierbei fällt für ihn jede Distinktion von physiologischen und politischen Leben und deswegen sei das biopolitische Dispositiv, das diese zwei Dimensionen produziert, bloß deaktiviert. Agamben theoretisiert diese Perspektive im Anschluss an Mario Vittorino, ein Kirchenvater des IV. Jahrhunderts. Vittorino ist für Agamben

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interessant, weil dieser das Problem der Trinitätslehre ausgehend von einer Konzeption des Seins als Leben51 interpretiert. Während im Rahmen einer substantiellen Ontologie die Konzeption von einer Existenz in drei Wesen sehr problematisch ist, kann die Trinität für Vittorino am besten durch eine Konzeption des Seins als Leben (als Verb) verstanden werden, da die verschiedenen Formen des göttlichen Daseins als modii seines Lebens verstanden werden können. Jenseits seiner theologischen Bedeutung bietet Vittorino Agamben ein Paradigma für die Konzeption des Seins, in der die Wesen und die Singularität als modii der gemeinsamen Potenz des Lebens (als Verb) konzipiert werden (ebd., 283f.). In diese Perspektive fällt nicht nur die Trennung von Potenz und Acht, sondern auch der Unterschied von Ontologielehre und Ethik. Für Agamben ist die modale Ontologie eine Ethik und eine Ethik ist immer eine Modifizierung des Daseins (ebd., 226), die er »Ontologie des Stils« nennt. Damit ist den singuläre Zeichen oder Modus verstanden, in dem das Leben als Lebensform gedacht und gelebt wird (ebd., 296f.). Diese Perspektive ist sicher sehr interessant, da sie eine differente Problemstellung der Dialektik von individuelle und gemeinsame und insofern von Individuum und Gesellschaft ermöglicht. Der Singular neutralisiert hierbei die Aporien der Konzeption des Subjekts. Während das Subjekt das aporetische Ergebnis eines Subjektivierungsprozesses ist und an einer substantiellen Ontologie anknüpft, verweist der Singular auf ein Modus des Gebrauchs der gemeinsamen Potenz. Diese Konzeption (und auch Erfahrung) des Lebens als Lebensform ist die Grundlage für die Ausübung der schon genannten de-instituierenden Macht (potere destituente auf Italienisch). Durch diesen Begriff kritisiert Agamben vor allem die Vertreter der Theorie der konstituierenden Macht. Obwohl nicht zitiert wird, ist eher klar, dass der Empfänger seiner scharfen Kritik sein Freund Antonio Negri ist. Agamben zufolge kann die konstituierende nicht von der konstituierten Macht getrennt werden und insofern sei innerhalb dieser Dialektik das Dispositiv und die Trennung von bíos und nacktem Leben immer irgendwo aktiv (ebd., 337f.). Für ihn muss aus diesem Grund diese Dialektik in Stillstand gebracht werden. Mit seiner »Theorie für eine destituierende Macht« will Agamben den Begriff Benjamins der göttlichen Gewalt aktualisieren (ebd., 340). Wie die Benjaminʼsche göttliche Gewalt ist das Ziel dieser destituierenden Macht nicht die Veränderung der Ordnung, sondern die Abschaffung der Ordnung als Ordnung. Was nach dieser Abschaffung

51 Hier muss Leben als Verb und nicht als Substantiv betrachtet werden. Auf Deutsch ist die Homonomie zwischen dem Substantiv und dem Verb ein Hindernis für das Verstehen dieser philosophischen Perspektive Agambens, da diese gerade auf der Verschiebung von einer Konzeption des Lebens als Substanz (und deswegen Substantiv) zu einer Konzeption des Lebens als Verb gründet, die sich immer in einer permanenten Modifizierung entfaltet.

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kommt, ist allerdings nicht erwähnt. Das einzige Beispiel dieser Praxis übernimmt Agamben von der Bibel und spezifisch von der Perspektive von Paulus über die Kontroversen zwischen Juden und Nichtjuden in den ersten christlichen Gemeinden (ebd., 345f.). Die Kontroverse bestand in der Funktion des Gesetzes Mosesʼ für die neue Religion und vor allem in der Bedeutung dessen für die Christen, die Nichtjuden waren. Für Agamben setzt Paulus das Moses Gesetz ab, indem er theoretisiert, dass durch Christus dieses Gesetz vollzogen war und deswegen nicht mehr nötig ist oder untätig sein könnte. Auf diese Weise hätte Paulus das Gesetz Mosesʼ destituiert. Wie dieses Beispiel als Paradigma für die Ausübung dieser destituierenden Macht funktionieren kann, bleibt allerdings eher fragwürdig. 2.6.3 Probleme der Agambenʼschen Konzeption der Biopolitik Obwohl die von Agamben entwickelte analytische Perspektive einen relevanten Beitrag zur Aktualisierung des Begriffs der Biopolitik darstellt, erweist sie sich als unangemessen, um die vielfältigen Dimensionen der modernen und postmodernen Biopolitik zu erfassen. Die Probleme der Agambenʼschen Analytik der Biopolitik lassen sich an dem Anspruch des Autors ablesen, Souveränität und Biomacht, alte und neue Machtverhältnisse in einem einzigen theoretischen Rahmen zu begreifen. Diese Anmerkung wird von vielen AutorInnen hervorgehoben. Für Andreas Visilache scheitert Agamben daran, indem er die souveräne Macht als Paradigma setzt, die gesamte Ökonomie der Macht zu interpretieren. Dieser theoretische Anspruch führe ihn dazu, dass er das Verhältnis von Wissen und Macht, das grundlegend in der Foucaultʼschen Analytik der Biopolitik ist, nicht angemessen einschätze (vgl. Marzocca 2006). Nur die metaphysischen und rechtlichen Traditionen, die politische Folgen produzieren, werden von ihm als Wissen berücksichtigt. Außerdem ist die Agambenʼsche Auffassung der biopolitischen Problematik durch eine Zentralität des Rechts charakterisiert (Lemke 2007d). Zwar konzipiert er am Anfang seine Forschungen als Korrelat der Analyse Foucaults, die eine biopolitische Bedeutung des Rechts nicht berücksichtigt, jedoch wird von ihm letztlich das Recht als das entscheidende Feld verstanden, in dem sich der Ursprung und die Entwicklung der Biopolitik erforschen lassen. Tatsächlich hat Agamben in seinen späteren Forschungen seine Analytik der Macht erweitert, indem er nicht nur ein biopolitisch-souveränes, sondern auch ein ökonomisches Modell der Macht durch eine Genealogie des theologischen Dispositivs der oikonomia entwickelt (vgl. Agamben 2010c). Allerdings stellt er diese Forschungen nicht als Korrektur oder neue Definition der biopolitischen Untersuchungen dar. Er spricht in diesen Arbeiten entsprechend nur von Macht und nicht von Biomacht oder Biopolitik. Insofern thematisiert er das Verhältnis von diesem theo-

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logisch-ökonomischen Dispositiv und der biopolitisch-souveränen Struktur der Macht nicht. In den späten Werken Foucaults lässt sich die Biopolitik nur innerhalb einer Analytik der Gouvernementalität, insbesondere der liberalen Version der Biopolitik, verstehen. Obwohl Foucault die Biopolitik eigentlich nicht in diesem theoretischen Rahmen entwickelt, setzt er eine konstitutive Verbindung von Biopolitik und ökonomischer Gouvernementalität. Im Unterschied dazu ist diese Verbindung bei Agamben unklar. Er thematisiert eine Kontraposition von Souveränität und oikonomia, von Reich (hierunter kann auch Institution verstanden werden) und Regierung. Allerdings geht es dabei weniger um eine Dialektik dieser zwei Formen der Ausübung der Macht, sondern vielmehr um die Neutralisierung der souveränen Macht durch die Ökonomie (vgl. ebd.). In einem Interview behauptet Agamben sogar, dass die Biopolitik die Folge der oikonomia sei (vgl. Sacco 2004). Im Anschluss an diese Behauptung könnte man sagen, dass er seine Forschungen über Souveränität und Biopolitik korrigiert und zur Foucaultʼschen Idee der Diskontinuität und Zäsur von Souveränität und Biopolitik zurückkehrt. Jenseits der Variationen und der internen Widersprüche ist die Perspektive Agambens von einem strukturellen Problem gekennzeichnet. Dieses betrifft die Monologie seiner These und das willkürliche ontologische Primat der Ausnahme in seinen Untersuchungen. Diese Aspekte sind miteinander verbunden und deswegen als zusammenhängendes Problem zu behandeln. Agamben zufolge produziert jedes Dispositiv ein Subjekt – bíos, citoyen, Volk – wie auch einen Rest, der als bloßes Leben definiert werden kann. Allerdings wird die erste Produktion des Dispositivs – der bíos – von Agamben kaum analysiert. Diese Lücke wäre von geringerer Relevanz, wenn das Ziel seiner Untersuchung in der Analyse der strukturellen Ausschließungsmechanismen des Politischen bestünde. Allerdings hält er daran fest, dass die Produktion von nacktem Leben die ursprüngliche Leistung des Politischen sei (und nicht eine unter anderen), oder dass das Lager der nomos der Moderne sei. Die Frage ist deswegen, warum das nackte Leben und das Lager einen ontologischen Vorrang haben. Im Anschluss an Schmitt behauptet Agamben das Primat der Ausnahme, doch es handelt sich hierbei um eine willkürliche Setzung, die auf der Annahme basiert, dass die Definition einer politischen Ordnung von keiner anderen politischen Rationalität und Praxis geprägt sein könne. Das theoretische Bedürfnis der Legitimierung dieser ontologischen Priorität der Ausnahme führt ihn dazu, eine geschichtsphilosophische bzw. monologische Perspektive zu entwickeln, die von der Wiederholung des souveränen Banns gegen das nackte Leben charakterisiert ist. Diese Entwicklung stellt ein internes und konstitutives Problem in der Perspektive Agambens dar, das einem der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung widerspricht. Einer seiner Verdienste besteht darin, dass er die enge Verbindung von bíos und nacktem Leben, von politischen Institutionen wie dem Staat und anomischen

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Dispositiven wie dem Ausnahmezustand aufzeigt. Diese Bipolarität wird jedoch von ihm nicht nachvollzogen, und stattdessen taucht die Persistenz der biopolitischen Souveränität auf. Dazu kommt, dass er den Unterschied zwischen Biopolitik und Biomacht nicht thematisiert. Zwar hat auch Foucault diesen Unterschied nicht problematisiert, doch betont dieser, dass die Biopolitik auch eine produktive Dimension besitzt. Diese produktive Dimension ist nicht nur abwesend in Agambens Perspektive, sondern es ist auch unmöglich, sie in seinem theoretischen Rahmen zu konzipieren. In dem Maße, in dem er ein Kontinuum von Antike und Moderne setzt, muss Agamben die Macht wesentlich als Todesmacht betrachten. Die These über den antiken Ursprung der Biopolitik kann nur ausgehend von der Annahme festgehalten werden, dass die Leistung der Biomacht auf die Produktion nackten, d.h. tötbaren Lebens, beschränkt sei. Infolgedessen kommt er zu dem Schluss, dass Biopolitik in Wirklichkeit eine Thanatopolitik sei. Die Untersuchung einer theoretischen, überhistorischen Einheit führt ihn in eine Sackgasse. Zunächst erlaubt es seine Konzeption der Biopolitik nicht, die Entwicklungen, Unterschiede und Maßnahmen zu erforschen, die das qualifizierte und politische Leben betreffen. Innerhalb von seines theoretischen Rahmens können nur die biopolitischen Maßnahmen untersucht werden, die die juridischen Dispositive betreffen und die die Entrechtung der Lebenwesen zum Gegenstand haben. Insofern lässt sich behaupten, dass darin keine Biopolitik, sondern nur Biomacht, und zwar in ihrer juridischen Form, Platz findet. Außerdem muss hervorgehoben werden, dass auch die Definition der Biomacht beschränkt ist. Faktisch kann diese in dem Maße ausgeübt werden, in dem sie nacktes Leben produziert. Insofern wird die Möglichkeit nicht berücksichtigt, dass sich die Biomacht auch gegen qualifiziertes Leben richten kann (vgl. Reuschling 2006). Agamben versucht zwar, dieses Problem aufzulösen, indem er die Kategorie der Virtualität einführt. Diese Kategorie erfüllt eine wichtige Aufgabe in seiner Analytik der Biopolitik, da das Verhältnis souverän-homo sacer potenziell jeden Bürger betrifft. Allerdings untersucht Agamben nicht, was diese Virtualität charakterisiert und wie einzelne Individuen und Gruppen diesen Zustand erleben. Es handelt sich vielmehr um einen Begriff, der von ihm benutzt wird, um die theoretische Einheit der Argumentation zu unterstützen. So zeigt sich, dass das Interesse von Agamben realiter in der Formulierung einer biopolitischen Geschichte der Philosophie liegt. Statt einer Analytik der Biopolitik, die auch empirische Forschungen erlaubt, theoretisiert er daher eine Phänomenologie des Verhältnisses von Leben und Macht, die mit der Absicht von Foucault nicht mehr übereinstimmt. Es gibt allerdings in den Schriften Agambens Begriffe wie das Profanieren und der Gebrauch, die zur Erweiterung einer kritischen Analytik der Biopolitik einen wichtigen Beitrag leisten können. Wenn Profanieren als Zurückführen in einen allgemeinen Gebrauch verstanden wird, kann dies im wissenschaftlichen Bereich auch

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bedeuten, Begriffe und Theorien in ihrem theoretischen Absolutismus zu neutralisieren und wieder in eine »allgemeine« – im Gegensatz zu einer privaten und individuellen – Analytik einzusetzen. Mit anderen Worten besteht die Idee darin, Agamben wie auch andere AutorInnen zu profanieren und zu einem neuen Gebrauch einzusetzen. Die letzte Schrift des Homo Sacer-Projekts – Homo Sacer IV-2, Lʼuso dei corpi – bietet in dieser Perspektive neue und relevante Elemente, die kritisch analysiert werden müssen. Sicher ist die Idee faszinierend und ist es wertvoll, die Begrifflichkeit der Philosophie und der Politik in Anknüpfung an eine modale Ontologie zu erweitern. Problematisch ist allerdings der politische Gebrauch dieser Perspektive, so wie von Agamben dargestellt. Zwar muss die Verwirklichung einer politischen Philosophie nicht immer als ein unkomplizierter Prozess gesehen werden, jedoch überzeugen auch theoretisch nicht alle Aspekte der Thesen Agambens. Die permanente Potenz des Lebens als Lebensform wird auf die Erfahrung des Denkens reduziert und auf diese Weise ist diese Perspektive nicht so entfernt von der Möglichkeit, die heutzutage die verschiedene Application der virtuellen Realität der digitalen Netze anbietet. Sind nicht die Avatare des Netzes eine Lebensform in einer permanenten Potenz? Zwar behauptet Agamben in anderen Texten selbst, dass diese »second lifes« eine Parodie des Wünschens seien, sich von der Bio-Identität zu befreien (vgl. Agamben 2010b); doch zeigen auch diese virtuellen oder potenziellen Erfahrungen, dass diese Potenz des Denkens nicht so mächtig in der Materialität des politischen Lebens ist. Außerdem: wird heutzutage nicht vom Arbeitsmarkt weniger eine konkrete berufliche Identität verlangt, als vielmehr, unzählige Potenzialitäten zu entwickeln, wie Agamben selbst betont (ebd.)? Vielleicht ist die Politik Agambens schon gekommen und scheint nicht so emanzipativ, wie er glaubt. Auch der Anspruch, die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht in Stillstand zu bringen, scheint nicht so vielversprechend zu sein. Tatsächlich ist diese Dialektik im Stillstand, da die Struktur der Institutionen seit mehreren Jahren stabilisiert ist und die Regierungsfunktionen durch Agency ausgeübt werden, die ein reines operatives Wissen (oder reine Mittel) verkörpern, die unabhängig sowohl von der konstituierten als auch von der konstituierenden Macht (und insofern unabhängig von dem Politischen) handeln. Es gibt auch ein anderes praktisches oder praxiologisches Problem. Das Verstehen des Lebens als Lebensform solle zur Konzeption der singulären Lebensformen als gemeinsame Potenz führen, die für Agamben die bio-politischen Dispositive deaktivieren muss oder kann. Allerdings ist diese Konzeption des Selbst oder der Gebrauch des Selbst eine relativ komplizierte intellektuelle Tätigkeit, die sich schwierigerweise jenseits von kleinen (intellektuellen) Gruppen verbreiten kann. Dass prekäre Arbeiter, Flüchtlinge aber auch Beamte, Polizisten oder Unternehmer zum

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Verständnis des eigenen Lebens als Lebensform kommen können, ist eher problematisch. Dieses Problem bedeutet nicht, dass Agambens Perspektive zu verlassen ist. Zuerst wird in Lʼuso dei corpi das Verhältnis von Ontologie und Biopolitik – oder besser gesagt von ontologischem und biopolitischem Dispositiv – ganz hervorragend analysiert. Im Unterschied zu Autoren wie Hardt und Negri und Esposito – die sich auch in ihrer Analytik des Politischen mit dem Verhältnis von Ontologie und Biopolitik beschäftigen – dient hierbei die Archäologie des ontologischen Dispositivs dazu, zu zeigen, inwiefern eine bestimmte Konzeption des Seins (und auch der Sprache) eine bestimmte Produktion von Diskursen, Praktiken und Institutionen prägt und beeinflusst. Außerdem ist sehr relevant auch die Entscheidung zu einer modalen Ontologie zurückzukehren äußerst relevant. Natürlich ist dies eine sehr komplexe Wende, die mit vielen Schwierigkeiten konzipiert werden kann, da unsere Denkweise und unser Handeln – wie Agamben selbst behauptet – von der langen Tradition der substantiellen Ontologie geprägt ist. Insofern zeigt Lʼuso dei corpi gleichzeitig die Grenzen dieser alten Software des Denkens und die Möglichkeit eines Upgrades nach der modalen Ontologie. Leider ist es gerade in der Darstellung der Möglichkeit eher unbefriedigend. Insbesondere ist der vielversprechende Begriff des Gebrauchs noch zu wenig vertieft. Zum einen findet dieser in der aristotelischen Konzeption des Daseins der Sklaven ein Paradigma; zum anderen wird dieses nicht ausreichend an die Perspektive einer emanzipativen Politik gebunden. In einigen Passagen zitiert Agamben den marxistischen Begriff des Gebrauchswerts (Agamben 2014., 69, 109f.), aber leider wird eine Interpretation dessen durch seine Konzeption des Gebrauchs nur sehr oberflächlich thematisiert. Außerdem ist der Gebrauch der analogischen Rationalität nur auf die Analytik beschränkt. Das pars construens ist gewissermaßen noch von einer »dekonstruktivistischen« Tendenz geprägt, da die Theorien immer durch ein Denken formuliert werden, das sich immer darauf konzentriert, wie es nicht sein soll. Agambens Ankündigung, das Homo Sacer-Projekt zu verlassen, kann für die Philosophie eine Herausforderung (und auch eine Möglichkeit) in dem Maße werden, in dem dieses Verhältnis von modaler Ontologie und des Politischen weitergedacht wird. Die Herausforderung besteht darin, über Agamben zu gehen, und die modale Ontologie als immanente Kraft für die Emanzipation einzusetzen. Grundlegend für diese Perspektive kann ein Gebrauch der analogischen Rationalität sein, der nicht nur zu der Analytik, sondern auch zum Aufbau einer emanzipativen politischen Perspektive beitragen kann. Nur auf diese Weise können wir den Stillstand, in dem wir leben, deaktivieren.

3. Hardt und Negri: Biopolitik als Revolution Nach unserem Verständnis ist Biopolitik gleichbedeutend mit den jeweiligen produktiven Potenzialen des Lebens – das haißt, mit der Produktion von Affekten und Sprachen durch die soziale Kooperation und Interaktion von Körpern und Begehren, die Erfindung neuer Formen der Beziehung zu sich und anderen etc. – doch darüber hinaus bekräftigt Biopolitik das Schaffen neuer Subjektivitäten, die sich als Widerstand und als Subjektivierung und gleichermaßen präsentieren. HARDT; NEGRI, 2010, 72.

In den Werken des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Hardt und des italienischen Philosophen Antonio Negri nimmt der Begriff der Biopolitik eine völlig andere Bedeutung an als bei Agamben. Obwohl sie wie er in Foucaults Analyse der Biopolitik ihren Ausgangspunkt nehmen, kommen sie zu von diesen beiden Forschungsrichtungen unterschiedlichen Schlüssen. Hardt und Negri benutzen den Begriff der Biopolitik innerhalb einer theoretischen Perspektive, die nach einem Verständnis der aktuellen Produktionsverhältnisse und der sich entwickelnden Weltgesellschaft strebt. Die Autoren gehen davon aus, dass die klassischen Kategorien der Moderne ungeeignet seien, die aktuelle Veränderung des Politischen und der Produktion zu verstehen. Aus diesem Grund haben sie in den letzten zehn Jahren eine viel gelesene Trilogie und zahlreiche Essays veröffentlicht, in denen sie eine analytische Perspektive entwickeln, die mit der modernen Vorstellung der Macht, der Produktion und der Gesellschaft bricht. Die erste Arbeit, die Hardt und Negri gemeinsam verfassten, wurde 1994 in USA unter dem Titel Die Arbeit des Dionysos: Materialistische Staatskritik in der Postmoderne veröffentlicht (Hardt und Negri 1997). Ausgehend von der Krise und dem Scheitern des sogenannten »real existierenden Sozialismus« versuchen die Au-

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toren in diesem Text, die Veränderung innerhalb der Ordnung des Politischen zu analysieren und die neuen Formen der Arbeit zu beschreiben. Mit der Veröffentlichung von Empire im Jahr 2000 erzielten sie auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebs große Resonanz (Hardt und Negri 2002). In dieser Arbeit stellen die Autoren die Begriffe und Thesen vor, die in den späteren Werken vertieft werden. Im Mittelpunkt von Empire steht die Überwindung der nationalen Souveränität und der Anbruch einer neuen Ära, die von der von ihnen theoretisierten imperialen Souveränität charakterisiert ist. Diese neue Zeit sei durch neue Produktionsverhältnisse und durch die Geburt eines neuen antagonistischen politischen Subjektes, das von den Autoren »Multitude« (die Menge) genannt wird, gekennzeichnet. Multitude ist auch der Titel des zweiten Hauptwerks von Hardt und Negri (Hardt und Negri 2004). Darin geht es um die Veränderung und eine neue Definition des Kriegsbegriffs im Inneren des Empires. Zudem vertiefen sie darin den Begriff »Multitude«. In dem 2010 erschienenen Buch Common Wealth beschäftigen sich sie schließlich mit der Frage nach der Überwindung der Dichotomie Öffentlich/Privat (Hardt und Negri 2010). In diesen Arbeiten besitzt der Begriff »Biopolitik« eine grundlegende Bedeutung, da das Leben in der theoretischen Perspektive der Autoren das Zentrum sowohl der Produktionsverhältnisse als auch der sozialen Kämpfe darstellt. Im Gegensatz zu Foucault und Agamben setzen Hardt und Negri eine Zäsur zwischen den Begriffen Biomacht und Biopolitik. Mit dem ersten Begriff weisen sie auf die Arten und Weisen hin, in denen die imperiale Macht mittels Kontrolldispositiven das Leben ausbeutet. Im Unterschied dazu bezeichnen die Autoren biopolitische Produktion als die Fähigkeit der ArbeiterInnen, Mehrwert sowie neue Arbeits- und Gesellschaftsformen ausgehend von der Verwertung ihres Lebens zu schaffen. Bevor die theoretische Perspektive und der Gebrauch des Begriffs der Biopolitik bei Hardt und Negri eingehend analysiert wird, muss betont werden, dass sich die Autoren in die Tradition des Marxismus einordnen. Ihr Ansatz lässt sich auch als Versöhnung von Marxismus und Poststrukturalismus interpretieren. Damit dieser theoretische Entwurf, der für das Verständnis ihrer biopolitischen Perspektive grundlegend ist, beleuchtet werden kann, wird in dem ersten Kapitel dieses Teils die Forschungsmethode der Autoren analysiert. Außerdem werden in diesem Kapitel kurz die Biographien der Autoren wiedergegeben, die vor allem bei Negri eine wichtige politische und philosophische Bedeutung besitzt. Zuletzt wird ein Überblick über die politischphilosophische Perspektive gegeben, die die Autoren in ihrer Trilogie entwickeln. In dem zweiten Kapitel liegt der Fokus auf dem Begriff der biopolitischen Produktion, während in dem dritten Kapitel die von ihnen definierten Regime der Biomacht analysiert werden. In dem vierten und letzten Kapitel konzentriert sich die Analyse auf die Probleme und Perspektiven dieser Lesart der Biopolitik, indem diese auch mit den Analysen Foucaults und Agambens verglichen wird.

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3.1 F ORSCHUNGSMETHODE , B IOGRAPHIE

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E MPIRE

Antonio Negri ist einer der wenigen intellektuellen Westeuropas, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer politischen und wissenschaftlichen Tätigkeit festgenommen wurden. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass Negri – wie auch andere Operaisten – wegen seiner wissenschaftlichen Arbeit sowie vermeintlicher – und im Übrigen nie bewiesener – terroristischer Aktivitäten angeklagt wurde. Wie schon im ersten Teil dieser Arbeit erwähnt, ist der Fall »7. April 1979« nur eine Episode des konfliktuellen Verhältnisses zwischen den Intellektuellen und der politischen Macht in Italien. Dieses Verhältnis kann daher nicht von der theoretischen Produktion getrennt werden und muss eingehend analysiert werden. In diesem Kapitel wird zunächst die Forschungsmethode von Hardt und Negri analysiert, die außerdem wichtige Folgen für Negris Leben und seine spätere Beschäftigung mit Michael Hardt hat. Die Analyse dieser Forschungsmethode wird ausgehend von dem – leider nur auf Italienisch verfügbaren – Text Cinque lezioni di Metodo su Moltitudine e Impero durchgeführt (Negri 2003a). Es handelt sich dabei um die Publikation von fünf Vorlesungen an der Universität Cosenza, in denen Negri explizit auf seine und Hardts Forschungsmethode eingeht. Die Vorlesungen Negris erklären außerdem die Relevanz der politischen Militanz für diese Forschungsrichtung. Seine Biographie wie auch die wissenschaftliche und politische Bedeutung seines politischen Engagements werden in dem zweiten Abschnitt kommentiert. Daran ist relevant zu betonen, dass die Verhaftung der politisch engagierten WissenschaftlerInnen schon durch biopolitische Kategorien interpretiert werden kann. Hardt interessierte sich deswegen bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre für den italienischen Operaismus, wie die von ihm und Paolo Virno herausgegebene Anthologie Radical Thought zeigt (Hardt und Virno 1996). Diese Anthologie kann als erstes Dokument betrachtet werden, das den Erfolg des Italian Thought in den USA vorbereitet. Hardt betont in seiner Einführung zu dieser Anthologie den experimentellen Charakter der Sozialforschung in Italien und die Produktion von Begriffen und Kategorien für die Analyse des Globalisierungsprozesses (Hardt 1996). Empire lässt sich auch als Höhepunkt und theoretische Systematisierung der operaistischen und postoperaistischen Perspektive interpretieren. Am Ende werden die wichtigsten Positionen und Theorien berücksichtigt, die Hardt und Negri in ihrer Trilogie Empire, Multitude und Common Wealth entwickeln. 3.1.1 Forschungsmethode Hardt und Negri definieren sich selbst stets als Marxisten, aber gleichzeitig distanzieren sie sich von einer dogmatischen und historistischen Lektüre des Marxismus

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und von Marx selbst. Sie lehnen im Wesentlichen die Idee eines kausalen und dialektischen Materialismus ab, der der Geschichte und der Produktionsverhältnisse zugrunde liegen soll. Gegen eine deterministische und mechanistische Konzeption der Produktionsverhältnisse berufen sich Hardt und Negri auf die Immanenz des sozialen Antagonismus und die kreative Potentia der sozialen Akteure. In den bereits erwähnten Vorlesungen über seine Forschungsmethode macht Negri seine Interpretation des Marxismus und seine Kritik am dogmatischen Marxismus deutlich (ebd., 19).1 Negris Lektüre von Marx geht davon aus, dass dessen Theorie nicht als Universalie, sondern als kontingentes Ergebnis der Organisation der Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse zu interpretieren sei (ebd., 21). Von Marx sei vor allem seine Analytik der materiellen Bedingungen der Produktion zu übernehmen, während das Marx’sche Gesetz des Wertes nur in seinem historischen Kontext Geltung beanspruchen könne (ebd.). Grundlegend für Negris Erneuerung des Marxismus ist die These, dass die sozialen Subjekte der Kern der Entwicklung der Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse sind. An dieser Stelle ist ein Exkurs zum Operaismus notwendig, auf den sich Hardt und Negri berufen. Negri selbst gilt gemeinsam mit Raniero Panzieri und Mario Tronti als einer der wichtigsten TheoretikerInnen des Operaismus.2 Die TheoretikerInnen des Operaismus haben allerdings nur für kurze Zeit zusammen gearbeitet und dann unterschiedliche Theorien entwickelt (vgl. Corradi 2011). Dennoch teilen sie zwei grundlegende Thesen. Die erste betrifft die Interpretation des Marxismus als Gesellschaftswissenschaft und der daraus gezogene Schluss, dass sich die Analyse nicht nur auf die Produktion, sondern auch und vor allem auf die Gesellschaft zu konzentrieren habe. Die zweite bezieht sich auf den Vorrang der ArbeiterInnen in der Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Dieser Vorrang muss als ontologisch und politisch gedacht werden. Mit anderen Worten, jede Veränderung in der Gesellschaft wie auch in der Produktion – und im Politischen – wird nur unter dem Druck der Kämpfe und des Handelns der ArbeiterInnen möglich (ebd.). Operai e Capitale von Mario Tronti – Arbeiter und Kapital in der deutschen Fassung – kann als das Hauptwerk des Operaismus betrachtet werden, in dem diese Thesen entwickelt und vertieft werden (Tronti 1974). Diese Grundannahme führt die WissenschaftlerInnen des Operaismus dazu, sich analytisch auf die Strategien, die Lebens-

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Negri steht den Positionen der zweiten und dritten Internationalen wie auch der italienischen kommunistischen Partei (PCI) kritisch gegenüber. Einige Thesen, die in diesen Vorlesungen vorgestellt werden, finden sich in einigen Passagen des Aufsatzes Zur gesellschaftlichen Ontologie: Materielle Arbeit und Biopolitik, der von Negri im Jahr 2007 auf Deutsch veröffentlich wurde (Negri 2007).

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Für eine ausführliche Darstellung des Operaismus siehe Wright (2005), Birkner und Foltin (2010) sowie Corradi (2011).

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bedingungen, die Bedürfnisse, das Verhalten sowie die Erzählungen zu konzentrieren, die den Kämpfen der ArbeiterInnen zugrunde liegen. Auf einer theoretischen Ebene verwenden die Operaisten sowohl marxistische Kategorien und Begrifflichkeiten als auch Themen und Begriffe des negativen Denkens 3 (Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger), um das Handeln der ArbeiterInnen und deren Autonomie gegenüber der Rationalität des Kapitals zu beschreiben (ebd.). Diese außergewöhnliche theoretische Verbindung fungiert als Basis für die Entwicklung der Idee der Autonomie der sozialen Bewegungen und Kämpfe. Es geht dabei um einen Antagonismus, der als ontologisch zu verstehen ist. Wie schon in dem ersten Teil dieser Arbeit betont wurde, prägt die These des ontologischen Antagonismus oder die antagonistische Ontologie die Entwicklung der wissenschaftlichen Produktion in Italien. Es ist deswegen kein Zufall, dass gerade in Italien ein Aktualisierungsversuch des Marxismus entsteht, dem der Antagonismus zugrunde liegt. Die wichtigsten Beiträge von Negri zur Entwicklung des Operaismus sind zum einen der Begriff und die Analyse der operaio sociale (soziale Arbeiter) und zum anderen die These der fabbrica diffusa (diffuse Fabrik). Mit letzterem Begriff verweist Negri darauf, dass die Fabrik nicht nur ein Zusammenhang von Techniken, Disziplinarformen und Strategien ist, die die Produktion bestimmen. Vielmehr müsse sie als ein Organisationsmodell verstanden werden, das auch die Ebene der Reproduktion, der Kommunikation und der Verhalten bestimmt. Unter operaio sociale verstehen er und andere Operaisten das neue gesellschaftliche Subjekt, das die Figur der MassenarbeiterInnen in der politischen und sozialen Sphäre als Folge der Diffusion des Fabrikmodells in der Gesellschaft ersetzt. Das Auftauchen des operaio sociale führte Negri zufolge zur Geburt der sozialen Bewegungen, die 1968 und 1977 gegen die gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen kämpften (vgl. Negri 1988). Diese Thesen wurden ausgehend von empirischen Untersuchungen abgeleitet, die die operaistischen WissenschaftlerInnen in den Fabriken und den proletarischen Stadtteilen durchgeführt hatten. Was die Forschungsmethode dieser Untersuchungen betrifft, lässt sich weder von qualitativen noch quantitativen Methoden sprechen. Vielmehr lässt sie sich als »militante Forschung« bezeichnen (ebd.). Die Interaktion mit den ArbeiterInnen erfüllte zugleich wissenschaftliche und politische Ziele, da dadurch die ArbeiterInnen auch politisch gebildet wurden. Die Verbindung zwischen den sozialen Kämpfen in den Fabriken und in den Universitäten, die die Proteste der 1968er in Italien kennzeichnete, lässt sich durch die-

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Negatives Denken ist eine italienische philosophische Kategorie, die am Ende der 1960er Jahre von Operaisten wie Tronti und Cacciari eingeführt wurde, um nihilistische Strömungen der Philosophie zu begreifen. Das Interesse an diesen nihilistischen Autoren liegt darin, dass ihre Kritik gleichzeitig die Widersprüche des kapitalistischen Vergesellschaftungsprozesses sichtbar macht (siehe Corradi 2011).

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se Interaktion verstehen. Es ist dabei wichtig, von Interaktion zu sprechen, weil diese Forschung auch eine Lebenserfahrung und somit eine politische Bildung für die Operaisten war (vgl. ebd.). Um dieses Modell der Forschung zu definieren, verwendet Negri den Begriff con-ricerca, der als »Mit-forschen« ins Deutsche übersetzt werden kann. Darunter versteht Negri einen Forschungsprozess, in dem das Verständnis der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse schon eine Bildung für die sozialen Kämpfe darstelle. Infolgedessen sei das eigentliche Charakteristikum dieser Forschungsmethode die Praxis (Negri 2003a, 80). Diese praxeologische Orientierung führt ihn dazu, die Forschung als ethisch-politisches Dispositiv zu identifizieren, das eine revolutionäre Subjektivität in dem Moment der Forschung selbst bildet. Dieses Modell der Forschung gilt bei ihm sowohl für die operaistischen als auch für die späteren mit Hardt herausgegebenen Arbeiten. In Bezug auf den Operaismus kann eine Analogie mit der Theorie des Human Capital gezogen werden, die für eine kritische Analytik der Biopolitik vielversprechende Ansatzpunkte bietet. Während sich in den 1960er Jahren in Italien der Operaismus entwickelte, wurde gleichzeitig in den USA die Grundlage der Theorie des Human Capital gelegt. Eine biopolitische Lektüre dieser Perspektive wird von Foucault selbst thematisiert (vgl. Foucault 2004b). Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass beide Forschungsperspektiven den Liberalismus bzw. den Marxismus erneuern, indem sie die Ebene der Reproduktion als grundlegendes Element für die Produktion von Mehrwert anerkennen. In dieser Arbeit kann ein weitergehender Vergleich zwischen der Theorie des Human Capital und dem Operaismus nicht durchgeführt werden. Jedoch ist wichtig zu betonen, dass in beiden Perspektiven das Leben der sozialen Akteure als grundlegendes Element für das Politische und das Ökonomische thematisiert wird. Bei der Theorie des Human Capital ist die Ökonomisierung des Lebens die Basis für die Entwicklung oder Erneuerung einer liberalen Gouvernementalität (ebd.). Im Gegensatz dazu bedeutet für die TheoretikerInnen des Operaismus und des Postoperaismus die Einbeziehung des Lebens als solches in die Produktionsverhältnisse die Diffusion des ontologischen, politischen und sozialen Antagonismus innerhalb des Produktionszyklus selbst. Die Postoperaisten Hardt und Negri betonen in ihren Arbeiten, dass dieser Antagonismus nicht zerstörerisch, sondern konstitutiv für neue soziale und politische Verhältnisse sei (vgl. z.B. Negri 2003a, 20). Es ist deswegen nicht überraschend, dass Negri ihre Forschungsmethode als »antagonistisch« definiert (ebd., 21). Das bedeutet für ihn die Ablehnung jeglicher Form von kausalem Determinismus. Das Existierende sei immer ein kontingentes Ereignis. Um die antagonistische Perspektive zu erklären, verweist er auf seine Theorie der imperialen Souveränität. Die Entstehung dieser politisch-institutionellen Form sei kontingent und deswegen hätte sie auch nicht entstehen können

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(ebd.). Es gebe daher keine Dialektik oder Rationalität der historischen Entwicklung und die Forschungsmethode selbst sei auch als kontingente zu denken. Negri zufolge benötigt jede soziale und politische Veränderung die Produktion neuer Methoden und Begriffe. Diese Annahme erklärt, warum Negri und Hardt versuchen, die operaistische Theorie durch die poststrukturalistische Theorie der Biopolitik und der Kontrollgesellschaft zu ergänzen und somit zu erneuern. Negri zufolge muss sich die Forschung an eine Logik des Ereignisses anpassen, die sich nicht nach einer universellen und metaphysischen Idee der Rationalität und des rationalen Subjekts definieren lasse. Diese Logik beruhe auf einer Analytik, die gleichzeitig Kausalität und Diskontinuität der historischen Prozesse sichtbar machen könne. Die Ablehnung der Idee, dass eine Form der Rationalität und Forschungsmethode existiere, wird von Negri auch im Anschluss an die Subaltern Studies thematisiert (ebd., 19f.). Ihm zufolge haben diese Forschungen die Perspektive in Frage gestellt, dass eine objektive Sichtweise entwickelt werden könne. Dazu komme die Zentralität des Subjekts und der subjektiven Perspektive in den sozialen und politischen Forschungen. Operaismus und Subaltern Studies teilen somit Negri zufolge die Idee des Vorrangs des Subjekts. Diese Perspektive hat für ihn zwei Folgen, die miteinander verbunden sind. Die erste ist die bereits erwähnte Entfaltung einer immanenten und antagonistischen Forschungsmethode; die zweite ist die Idee, dass im Forschungsprozess kein Außen bzw. keine externe Sichtweise möglich sei. Mit anderen Worten seien WissenschaftlerInnen auch in dem Forschungsmoment immer innerhalb des Verwertungsprozesses der Produktion und Reproduktion. Diese Annahme ist bei Negri und Hardt sowohl theoretisch als auch historisch und methodologisch und mit der unmittelbaren Produktivität der Wissenschaft verbunden, die Marx in dem für den Operaismus grundlegenden Maschinefragment in den Grundrissen thematisiert. Das Problematische an dieser Forschungsmethode ist die Annahme von Negri und Hardt, eine »große Erzählung« zu schreiben. Aber wie kann eine Perspektive als Erzählung fungieren, wenn diese auf einem kontingenten und immanenten Antagonismus basiert? Hierbei ist Erzählung als teleologische Perspektive zu denken, wie sie von Lyotard begriffen wird. Für ihn war die Moderne die Zeit der großen Erzählungen wie dem Marxismus, während die Postmoderne durch das Ende der teleologischen Erzählungen charakterisiert sei (vgl. Lyotard 1994). Im Gegensatz dazu behaupten Hardt und Negri, dass auch in der Postmoderne Erzählungen entwickelt werden könnten. Was sie unter Postmoderne verstehen, wird später erklärt. Hier geht es zunächst darum, zu verstehen, dass die Theoretiker eine große Erzählung ohne Teleologie zu entwickeln versuchen (Negri 2003a, 27). Leider definieren Hardt und Negri ihre Idee einer Erzählung nur unzureichend und wie diese Idee mit einer Analytik der kontingenten und kämpferischen Subjektivierungsprozesse verbunden werden kann. Diese Schwachstelle rechtfertigt eine Lektüre von Empire als

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geschichtsphilosophischen Essay (Demirović 2004). Dieses Problem liegt vor allem darin, dass sie ihr Verständnis der Logik des Ereignisses zu wenig ausarbeiten. In dem ersten Teil dieser Arbeit wurde bereits die Schwierigkeit thematisiert, ein antagonistisches und praxeologisches Modell der Forschung vollständig zu definieren. Esposito begrenzt diese Idee der konfliktuellen Logik oder der Logik des Ereignisses auf das besondere geophilosophisch-italienische Milieu. In ähnlicher Weise reduzieren Hardt und Negri diese Logik auf die Analyse der konstituierenden Potentia der Kämpfe, ohne dabei die Dynamiken anderer sozialer Kräfte zu berücksichtigen. Dieser Reduktionismus führt Hardt und Negri dazu, einen politischen und ontologischen Vorrang des kämpferischen Subjekts zu setzen. Diese Verengung prägt auch ihre Konzeption und Analytik der Biopolitik. 3.1.2 Kommentar zu biographischen Ereignissen Die praxeologische Forschungsorientierung hat das Leben von Negri und seinen MitarbeiterInnen intensiv geprägt. Es ist bekannt, dass sie wegen Subversion und Terrorismus angeklagt wurden. Es muss jedoch betont werden, dass die TheoretikerInnen der Autonomia4 nicht nur engagierte AkademikerInnen waren; das politische Handeln war zudem ein konstitutiver Teil ihrer theoretischen und analytischen Tätigkeit. Man könnte auch von den logischen Folgen ihrer Theorie sprechen. Negri und seine MitarbeiterInnen waren sowohl AkademikerInnen als auch Delegierte der antagonistischen und autonomen Bewegung Potere Operaio (dt. Arbeitermacht) und konzipierten diese Rollen in substantieller Kontinuität (vgl. Birkner und Foltin 2010). Das von ihnen theoretisierte politische Handeln wurde von den sozialen Bewegungen in die Tat umgesetzt. Die auf diese Weise engagierten AkademikerInnen waren somit im Zentrum eines sozialen und politischen Prozesses, der die Institutionen in Italien zu revolutionieren versuchte. In diesen Kontext lassen sich ihre Thesen und Praktiken in Bezug auf die Ablehnung der Arbeit bzw. die Sabotage verorten (Negri 1988). Von ihnen wurde daher nicht das Parlament als politisches Kampffeld angesehen, sondern jeder Ort, an dem sich die Organisation der Gesellschaft verwirklicht. Somit wurde der Kampf in den Schulen, in den Fabriken, in den Universitäten, aber auch in den Familien, im Gesundheitssystem usw. durchgeführt. Der Höhepunkt dieser gesellschaftlichen Konfliktsituation wurde 1977 erreicht. Zwei Jahre später wurden fast alle FührerInnen der sozialen Bewegungen verhaftet (vgl. Birkner und Foltin 2010). Für einige Jahre wurden die Bücher Negris zerstört und für illegal erklärt (Negri 1988). Die Kriminalisierung seiner Arbeiten kann als ein Teil der institutionellen

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Unter Autonomia wird die linke außerparlamentarische politische Szene in Italien seit den 1960er Jahren bis heute verstanden.

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Ermittlungen angesehen werden, die auf einem willkürlichen, den Unterschied zwischen subversiven Praktiken und terroristischem Handeln negierendem, Schema basierten. Diese Arbeit ist nicht der Ort für eine politische Analyse der Ereignisse der 1980er Jahre in Italien, obwohl es nie banal ist, daran zu erinnern, dass in einem demokratischen Staat wie Italien die Leaders der sozialen Bewegungen und der kritischen Sozialwissenschaft im Zuge der Erklärung eines Ausnahmezustands verhaftet wurden. Die Biographie der Operaisten verweist auf die für die Analytik der Biopolitik zentrale Spannung zwischen konstituierter Ordnung und konstituierender Macht. In den Ereignissen in Italien zwischen 1968 und 1979 zeigt sich die Ambivalenz der Biopolitik, d.h. eine administrative Politik der Reglementierung und Verbesserung des Lebens der Bürger auf der einen Seite und die neuen, von dieser Biopolitik geprägten, Subjekte, die die Macht über das Leben in Frage stellen und dagegen kämpfen, auf der anderen. Zudem lässt sich auch Agambens Vorstellung der biopolitischen Souveränität in dem Moment begreifen, in dem die Rechte der antagonistischen Subjekte suspendiert werden. Zu Recht spricht Hardt daher von »laboratory Italy« (Hardt 1996, 4). Und Italien kann tatsächlich als Ort betrachtet werden, an dem die Biopolitiken in ihrer Entfaltung beobachtet und beschrieben werden können. In diesem Labor sind auch die TheoretikerInnen als Element zu beobachten und zu beschreiben. Deswegen sind die Theorien der Operaisten und Postoperaisten wie auch ihre Arbeiten immer im Rahmen dieser spannungsvollen Konfrontation mit den Institutionen und institutionellen biopolitischen Strategien zu betrachten. 3.1.3 Empire, Multitude, Common Wealth – eine postmoderne Erzählung Als Hardt und Negri im Jahr 2000 Empire veröffentlichten, war kaum zu erwarten, dass das Buch ein Bestseller werden würde. Das Auftauchen der no-global- oder Seattle-Bewegung, die sich in vielen Thesen des Buchs erkennen lässt, führte jedoch dazu, dass die postoperaistischen Thesen der Autoren nicht nur im Zentrum der akademischen Auseinandersetzung, sondern auch in den politischen und massenmedialen Debatten diskutiert wurden (vgl. Pieper u.a. 2007). Im Folgenden wird kurz dieses »Manifest des 21. Jahrhunderts« (Žižek 2001) skizziert, um die Funktion und Bedeutung der Biopolitik und der Biomacht in der politischen und analytischen Perspektive von Hardt und Negri zu verdeutlichen. Insbesondere werden der Übergang von der Moderne zur Postmoderne sowie vom Imperialismus zur imperialen Souveränität und die Analyse des neuen Kriegsdiskurses berücksichtigt. Der Ausgangspunkt der These von Hardt und Negri besteht darin, dass die Moderne zu ihrem Ende gekommen sei und die Gegenwart als Postmoderne charakterisiert werden müsse. Negri erklärt ihr Verständnis von Erzählung in seinen Vor-

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lesungen über die Forschungsmethode. Zunächst macht er deutlich, dass seine Vorstellung der Postmoderne sich von dem von Lyotard 5 formulierten Begriff unterscheide. Während Loytard die Postmoderne als Zeit, in der die »großen Erzählungen« verschwinden, konzipiert, zeichnen Hardt und Negri ihr theoretisches System als eine neue »Erzählung« aus (vgl. Negri 2003a, 27). Sie begreifen die Postmoderne als eine Zeit, in der die Institutionen und die Begriffe der Moderne ihre Bedeutung verlieren und die philosophischen Kategorien der Moderne diese Veränderung nicht erfassen können.6 Hardt und Negri bieten allerdings keine positive Definition der Postmoderne. Vielmehr verstehen sie den Begriff Postmoderne als ein Konzept, das alle verschiedenen »Post« (Postfordismus, Postkommunismus usw.) umfasse (ebd.; vgl. dazu auch Negri 2003d). Die Postmoderne markiert bei ihnen daher eine neue Phase der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Die Analyse der historischen Entwicklung dieses Verhältnisses lasse sich mithilfe dreier Kriterien durchführen, die Negri in den schon zitierten Vorlesungen über die Methodologie erläutert. Erstens müssten die Arbeitsprozesse in Betracht gezogen werden und insbesondere deren kontinuierliche Transformation. Zweitens seien die Konsumweisen zu analysieren sowie die Reglementierung der gesellschaftlichen Reproduktion. Drittens müssten die Modelle berücksichtigt werden, die die politische und wirtschaftliche Entwicklung bestimmten und die Art und Weise, wie diese auf die Klassenkomposition einwirkten (Negri 2003a, 22). Durch eine diese Kriterien enthaltende Analyse gelangen Hardt und Negri zur Definition von drei historischen Phasen, die jeweils von unterschiedlichen Produktionsweisen charakterisiert seien. Die erste Phase wird von ihnen als »große Industrie« definiert, und beginnt um 1870, über die Pariser Kommune und die bolschevikische Revolution und endet am Ausgang des Ersten Weltkriegs. 7

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Obwohl der Begriff Postmoderne in verschiedenen Forschungsrichtungen und in unterschiedlichen Bedeutungen theoretisiert wird, gilt dessen Einführung in die philosophische Auseinandersetzung als Verdienst von Jean-François Lyotard, der 1979 Das postmoderne Wissen: ein Bericht veröffentlichte (Loytard 1994).

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Hardt und Negri stehen auch den Positionen kritisch gegenüber, die die These vertreten, dass sich die Gegenwart als eine zweite Phase der Moderne interpretieren lasse. Die Autoren weisen explizit auf die Perspektive hin, die Ulrich Beck in den letzten Jahren entwickelt hat. Das Problem dieses Ansatzes liege jedoch darin, dass er das Ende der modernen Kategorien ablehne (vgl. Negri 2003c, 27).

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Diese historische Zeit, die von Marx ausgezeichnet analysiert worden ist, ist in der Lektüre Negris von der Figur des/der professionellen Arbeiters/Arbeiterin sowie durch eine Produktionsweise gekennzeichnet, in der die ArbeiterInnen als Teil der Maschinerie betrachtet wurden. Massenproduktion und niedrige Löhne seien Bestandteile dieser Produktionsverhältnisse gewesen, deren Krise zum Imperialismus des Nationalstaats und zum

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Taylorismus, Fordismus und Keynesianismus würden die zweite Phase der großen Industrie bestimmen, die sich bis 1968 erstrecke.8 Die dritte Phase beginne in den 1970er Jahren und reiche bis in die Gegenwart. Sie wird von Hardt und Negri als »Postmoderne« gekennzeichnet. Das Auftauchen der »imperialen Souveränität« sei das Zeichen dieser postmodernen Zeit. Es handele sich dabei um eine globale Ordnung, die weder unreglementiert noch zentralisiert sei und die Grenze der nationalen Souveränität überwinde (Hardt und Negri 2002, 19). Hardt und Negri übernehmen aus der römischen Geschichte den Begriff »Empire«, um diese neue politische Situation zu erklären. Unter Empire verstehen sie allerdings nicht die Herrschaft eines bestimmten Staates, der keinen anderen Konkurrenten mehr hat. Aus diesem Grund erklären die Autoren sofort, dass das Empire nicht mit den USA zu identifizieren sei. Im Gegensatz dazu verstehen sie unter Empire ein bestimmtes Machtverhältnis, das durch eine neue Idee von Recht und Souveränität charakterisiert sei. 9 Die Analogie von antikem römischem Empire und der gegenwärtigen imperialen Form der Macht bestehe darin, dass in beiden Fällen Recht und Ethik in einer einzigen universellen Form betrachtet würden. Im imperialen Verständnis sind Rechtskategorie und universelle moralische Werte derart vereint, dass sie als organisches Ganzes zusammenwirken. Diese Einheit gehört ungebrochen zur Funktionsweise des Empire, ungeachtet der Launen der Geschichte. Jedes Rechtssystem ist in der einen oder anderen Weise die Kristallisierung einer ganzen Reihe von Werten, insofern Moral und Ethos Teil der Materialität des Rechts und seiner Begründung sind. (Ebd., 26)

Das Empire stelle insofern den gesamten Raum der Zivilisation dar und betrachte seine Gegner als Barbaren, gegen die Gewaltmaßnahmen nicht nur gerechtfertigt, sondern auch geboten seien. Der Gebrauch des Begriffs des bellum iustum (gerech-

Ersten Weltkrieg geführt habe. Die Arbeiterbewegung sei in dieser Phase nach einem dualistischen Modell organisiert gewesen, dem die Trennung von Avantgarde und Masse zugrunde liege (Negri 2003c, 23). 8

Es handelt sich um die Zeit, in der die Figur der MassenarbeiterInnen vorgeherrscht habe. Die Produktionsverhältnisse seien stark von dem Modell des Taylorismus geprägt gewesen, in dem die ArbeiterInnen unter einem starken Entfremdungsprozess gelitten hätten. Die Nationalstaaten hätten in dieser historischen Phase auf eine Balance von Produktion und Konsum im Sinne der Theorien Keynes abgezielt. Die Kämpfe am Ende der 1960er Jahre hätten zur Krise dieses Systems und zur Entstehung von neuen Regulationsformen geführt (Negri 2003a, 23).

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Hardts und Negris Vorstellung der globalen Ordnung als Empire wird in vielen Arbeiten stark kritisiert (vgl. dazu Hirsch 2003; Arrighi 2003).

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ter Krieg) ist Hardt und Negri zufolge ein weiteres Zeichen der Entstehung einer globalen Ordnung, der die übernationale Vorstellung des Rechts und eine neue Idee von Souveränität zugrunde liege (ebd., 28). Sie beziehen sich unmittelbar auf Kelsens Konzeption des Rechts, um die neue Form des imperialen Rechts zu erklären. Denn Kelsen habe zuerst formuliert, dass die Nationalstaaten ein Hindernis für die Idee des Rechts darstellen würden. Außerdem habe er als erster gefragt: Welche politische Macht existiert oder kann geschaffen werden, […] die der Globalisierung ökonomischer und sozialer Verhältnisse adäquat wäre? Welche Rechtsgrundlage, welche ›Grundnorm‹ und welche Art von Herrschaft können eine neue Ordnung tragen und den drohenden Sturz in globale Unordnung verhindern? (Ebd., 24)

Das kapitalistische Projekt, das auf die Übereinstimmung von politischer und ökonomischer Macht ziele, stelle eine Antwort auf die von Kelsen gestellte Frage dar. Insofern müsse der Globalisierungsprozess als »Grundlage des Rechts« (ebd.) verstanden werden. Die Ordnungen, die der globale Markt reglementiere, seien unmittelbar politisch und verfügten über politische, juridische und militärische Instrumente, die den Respekt vor den globalen Maßnahmen erzwängen. Hardt und Negri setzen einen grundlegenden Unterschied zwischen der Konzeption des Rechts in der Globalisierung und der klassischen Idee des internationalen Rechts. Es handele sich nämlich nicht mehr um die Reglementierung der Beziehungen zwischen imperialistischen Mächten. Im Unterschied dazu bestehe das imperiale Recht der neuen globalen Ordnung aus einer Produktion von Normen, übernationalen Institutionen und Maßnahmen, die das Leben von Individuen und Kollektiven unabhängig von ihren Ländern und Lebensbedingungen beträfen. Um diesen Übergang zu verstehen, ist es grundlegend, den von Hardt und Negri gemachten Unterschied zwischen Imperialismus und Empire und den Übergang von der modernen bzw. nationalen Idee der Souveränität zum globalen Modell der imperialen Souveränität zu verdeutlichen. Ihnen zufolge entwickelt sich die moderne, nationale Vorstellung der Souveränität nach dem transzendentalen Modell, das von Hobbes und Rousseau formuliert wurde. Es handele sich um ein Bild der Macht, das auf binären Schemata wie Außen/Innen, nationale Identität/AusländerInnen, Souveränität/Volk beruhe. Die Nationalstaaten wie auch der Imperialismus und der Kolonialismus seien die Folgen dieser Vorstellung der Macht. Der Erste und der Zweite Weltkrieg würden die Krise und das Ende dieser Idee der Macht und der sie tragenden Institutionen darstellen (vgl. ebd., 106-122). Um die neue Idee der Souveränität besser zu verstehen, analysieren Hardt und Negri das Modell der Macht, das ihnen zufolge die amerikanische Revolution inspi-

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rierte. Während in Europa sich eine transzendentale Vorstellung der Souveränität entwickelt und die Macht durch die Unterwerfung von Teilen der Gesellschaft geherrscht habe, sei in den USA ein vollkommen anderer Diskurs hinsichtlich der Machtverhältnisse entstanden. Entgegen dem erschöpften Transzendentalismus moderner Souveränität […] glaubten die amerikanische Verfassungsväter, dass nur die Republik der Demokratie eine Ordnung geben könne, oder genauer: dass die Ordnung der Menge nicht durch eine Übertragung des Machtund Rechtsanspruchs entstehe, sondern aus einem Arrangement innerhalb der Menge, aus einer demokratischen Interaktion der in Netzwerken miteinander verbunden Mächte. Die neue Souveränität kann mit anderen Worten nur aus der verfassungsmäßigen Bestimmung von checks and balances hervorgehen […]. (Ebd., 173)

Hardt und Negri sind überzeugt, dass sich das Projekt der US-amerikanischen Verfassung in die Tradition des republikanischen Machiavellismus einschreiben lasse, der auf der Idee der konstituierenden und immanenten Macht beruhe. Diese Vorstellung öffne eine neue Konzeption der Machtverhältnisse, die sich weder als Konfliktlagen noch hierarchisch begreifen ließen. Vielmehr würden sie durch ein integratives Modell funktionieren, nach dem die anderen Mächte in das Regierungsnetz eingeschrieben würden (ebd., 178). Dazu komme auch ein Unterschied in der Konzeption der Expansion. Hardt und Negri führen eine begriffliche Unterscheidung ein, um diese Differenz zu verdeutlichen. Die von einer transzendentalen und imperialistischen Vorstellung der Souveränität geprägten Staaten seien von einem »Expansionismus« geprägt, der durch Kolonialisierung und Ausbeutung gekennzeichnet sei. Im Gegensatz dazu beruhe die US-amerikanische Republik auf einer »expansiven Tendenz«, die auf eine Verbreitung der Netzwerk-Macht ziele (vgl. ebd.). Hinzu komme außerdem eine unterschiedliche Konzeption des Raums und der Grenzen. Der US-amerikanischen Republik liege die Idee eines offenen Raums zugrunde, der keine Grenzen kenne. Die Autoren betonen jedoch, dass in einer bestimmten Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg auch die USA ihre Politik nach dem imperialistischen Modell durchgeführt hätten (ebd., 190). Gerade das Scheitern des Kriegs in Südostasien wird von ihnen als das Ende der imperialistischen Phase der Geschichte interpretiert. Dieser Übergang betreffe allerdings nicht nur die USA, sondern auch andere Länder. Die Kämpfe am Ende der 1960er Jahre hätten weitreichende Veränderungen sowohl in den Produktionsverhältnissen als auch in der sozialen Reproduktion verursacht, die ein neues Verständnis der Kapitalverhältnisse und der politischen Reglementierung erfordert hätten. In dem Maße, in dem die Produktion biopolitisch werde, müsse sich die Macht in Biomacht transformieren.

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Die Entstehung des Empire bestimmt Hardt und Negri zufolge auch das Ende der Dialektik von Innen und Außen, die den politischen Diskurs der Moderne gekennzeichnet habe.10 Innerhalb der neuen globalen Ordnung lasse sich kein Außen erkennen, das als »Knackpunkt« (ebd., 197) funktionieren könne. Nun sei es unmöglich zu definieren, was die zivile von der natürlichen Ordnung unterscheide, was öffentlich oder privat sei. Statt der Dialektik zwischen diesen gegenseitigen Dimensionen wirkt laut Hardt und Negri »ein Spiel der Gradunterschiede und Intensitäten, von Hybridität und Künstlichkeit« (ebd., 199). Bevor nun die Begriffe der biopolitischen Produktion (2. Kapitel) und Biomacht (3. Kapitel) in der Perspektive von Hardt und Negri analysiert werden können, ist es notwendig, eine andere Verschiebung zu erklären, die den Übergang vom Imperialismus zum Empire kennzeichnet: diejenige hinsichtlich der Konzeption des Krieges. Wie schon gesagt, sehen sie den Vietnamkrieg als den letzten imperialistischen Krieg an. Der zweite Golfkrieg eröffnet nach den Autoren eine neue historische Phase, in der die militärischen Operationen als polizeiliche Interventionen gelten würden, die auf die Bewahrung der globalen Ordnung abzielten. Sie interpretieren in Empire das Auftauchen der Auseinandersetzung um den »gerechten Krieg« als Symptom des Übergangs von einer imperialistischen zu einer imperialen Konzeption des Kriegs. Dieses Thema wird von ihnen in Multitude weiter entfaltet. Die Attentate vom 11. September 2001 und die folgenden Kriege »gegen den Terrorismus« haben das Thema Krieg ins Zentrum der politischen Debatten gebracht. Hardt und Negri deuten diese Ereignisse in den Kategorien ihres theoretischen Rahmens. Zunächst gehen sie in ihrer Analyse davon aus, dass die zeitgenössischen Konflikte eher als »imperiale Bürgerkriege« zu interpretieren seien, obwohl darin auch souveräne Staaten einbezogen seien (Hardt und Negri 2004, 18). Sie erkennen in den aktuellen Konfliktsituationen eine Zweideutigkeit, die den Kriegsdiskurs auszeichne. Einerseits würden diese Konflikte lokal wirken und beträfen bestimmte politische Subjekte; anderseits wirke jeder dieser Konflikte auf die globale Ordnung ein und insofern müssten sie »als Teil einer Großkonstellation be-

10 Hardt und Negri verstehen unter dem Begriff »Außen« die Möglichkeit eines Raums oder eines Wesens, sich der politischen Macht entziehen zu können. Dabei geht es, anders ausgedrückt, um den Raum der Utopie, des Entwurfs bzw. der Kritik. Hierbei berufen sie sich insbesondere auf Machiavelli, Spinoza und Marx, um zu erklären, wie innerhalb der modernen politischen Philosophie die Dialektik von Innen und Außen funktioniert habe. Diese Autoren würden die Möglichkeit der Emanzipation denken, indem sie ein Außen in Bezug auf die Machtverhältnisse setzten. So sei dieses bei Machiavelli die Freiheit, bei Spinoza das Begehren, bei Marx die lebendige Arbeit (vgl. Hardt und Negri 2002, 196197).

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trachtet werden« (ebd.). Die Autoren beschränken sich nicht auf die Beobachtung der Interaktion von lokalen Kämpfen und globalem System. Vielmehr erweitern sie die Bedeutung des Kriegsbegriffs, der nun nicht mehr nur für die Definition von bewaffneten Konflikten zwischen zwei oder mehr Parteien gelte. Hardt und Negri erkennen in dem aktuellen Kriegsdiskurs die Tendenz, »zu einem permanenten sozialen Verhältnis zu werden« (ebd., 27, Herv. i. O.). Insofern sei der Kriegsdiskurs ein Regime der Biomacht, dessen Ziel in der Kontrolle der Bevölkerung und der Reproduktion spezifischer Gesellschaftsverhältnisse liege (ebd., 29). 11 Diese Verschiebung des Kriegsdiskurses lasse sich, so Hardt und Negri, anhand einiger zentraler Veränderungen erkennen. Im Unterschied zu den alten Konflikten zwischen Staaten sei es zunächst unmöglich, Zeit und Raum des Kriegs zu definieren. Der Krieg gegen den Terrorismus biete ein deutliches Beispiel dafür. Die militärischen Operationen würden keine staatlichen Grenzen kennen und setzten sich auch nach dem Niedergang einer Konfliktpartei fort; sie zielten somit tatsächlich auf die Bewahrung der Ordnung. Infolgedessen behaupten Hardt und Negri, dass es unmöglich sei, das militärische von dem polizeilichen Handeln zu unterscheiden (vgl. ebd., 29-30). Dazu kommt nach den Autoren eine zweite Konsequenz: der Krieg wird zu einer permanenten gesellschaftlichen Struktur. Sie behaupten insofern, dass auch der Unterschied von Innen- und Außenpolitik verschwinde. Schließlich verändere sich auch die Definition von Kriegspartei oder Feindschaft. In dem Krieg gegen den Terrorismus sei jedes Individuum potenziell Opfer oder Täter und somit werde es immer schwieriger zu definieren, wie ein Feind charakterisiert werden könne (ebd.). Zudem schlagen Hardt und Negri eine alternative Periodisierung der Entwicklung des Kriegs vor. So kennzeichnen sie die gegenwärtige Situation als den »Vierten Weltkrieg«,12 der den Autoren zufolge mit dem am 26. Mai 1972 unterschriebenen ABM-Vertrag zwischen den USA und der UDSSR begonnen hat. Dieser Vertrag sah eine Begrenzung der Produktion von Atomwaffen vor. Hardt und Negri jedoch erkennen darin den ersten Moment, in dem die Konkurrenz zwischen Staaten von der Verwaltung der globalen Ordnung ersetzt werde. Diese Verschiebung sei von einer Reihe von Ereignissen bestimmt, die von einer grundlegenden Veränderung der Produktionsverhältnisse verursacht worden seien. Der Krieg sei zu einem »integrale[n] Element der Biomacht« geworden, weil zu Beginn der 1970er Jahre neue biopolitische Produktionsweisen entstanden seien.

11 Die Autoren beziehen sich an dieser Stelle explizit auf die Arbeiten von Judith Revel (vgl. Revel 2002). 12 Hardt und Negri interpretieren den Kalten Krieg als den Dritten Weltkrieg (vgl. ebd., 54f.).

154 | P ARADOXIEN DER B IOPOLITIK Die Verschiebung, was die Art, Krieg zu führen, und seine Ziele betrifft, fällt mit einer Phase großer Veränderungen in der Weltwirtschaft zusammen. Es ist kein Zufall, dass der ABMVertrag auf halbem Weg zwischen der Lösung des US-Dollars vom Goldstandard 1971 und der ersten Ölkrise 1973 unterzeichnet wurde. Diese Zeit kennzeichnen nicht allein Währungsund Wirtschaftskrisen, hier beginnt auch die Zerstörung des Wohlfahrtsstaats, und der Schwerpunkt der Ökonomie verschiebt sich von der Fabrik zu gesellschaftlichen und immateriellen Sektoren der Produktion. […] Die Verknüpfung der postmodernen Kriegsführung der Biomacht mit dem Wandel in der Produktion ist so eindeutig[.] (Ebd., 56)

3.2 D IE

BIOPOLITISCHE

P RODUKTION

Das Entstehen einer globalen Ordnung, die Hardt und Negri als Empire bezeichnen, ist für sie auch und vor allem das Ergebnis einer radikalen Veränderung in den Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen. Diese Veränderung wird von ihnen als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus definiert. Zentral an dieser These ist die Idee, dass die gegenwärtigen Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse als biopolitisch zu verstehen seien. Sie begreifen die postfordistischen Produktionsverhältnisse mit dem Begriff der »biopolitischen Produktion«. Michel Foucault zum einen und Gilles Deleuze und Félix Guattari zum anderen sind die wichtigsten Referenzen für diese Theorie. Hardt und Negri knüpfen unmittelbar an die Analytik der Macht von Foucault an, die das Verständnis der Funktionsweise des Empire und der neuen Form der Kriegsführung ermöglichen solle. Diese habe den Übergang von dem Modell einer Disziplinargesellschaft zu dem einer Kontrollgesellschaft gezeigt (Hardt und Negri 2002, 37). Außerdem habe Foucaults Analytik der Machtverhältnisse ein anderes grundlegendes Verdienst, denn sie zeige »den biopolitischen Charakter des neuen Machtparadigmas« (ebd., 38). Obwohl Hardt und Negri die wissenschaftliche Leistung der Analytik der Biopolitik Foucaults anerkennen, kritisieren sie einige Aspekte an seiner Theorie. Zwar habe Foucault als erster die Vielfalt als Charakteristikum der gesellschaftlichen Machtverhältnisse in dem Maße hervorgehoben, in dem er die Tatsache einer Macht aufgezeigt habe, die sich auf die verschiedenen Lebensprozesse des Menschen, sowohl als einzelnem als auch als Kollektiv beziehe (ebd., 40). Jedoch ist Hardt und Negri zufolge der Foucaultʼsche Begriff der Biopolitik zweideutig. So könne dieser in einigen Schriften als Polizeiwissenschaft interpretiert werden, während er in anderen eher als politische Ökonomie des Lebens erscheine (Negri 2003d, 42). Darüber hinaus liege das entscheidende Problem der Foucaultʼschen Konzeption der Biopolitik in der Persistenz eines stark von der strukturalistischen Epistemologie geprägten theoretischen Rahmens.

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Strukturalistische Epistemologie heißt der Rückgriff auf funktionalistische Wege im Bereich der Geisteswissenschaften, Methoden, die letztlich die Dynamik des Systems, die schöpferische Zeitlichkeit seiner Bewegung und die ontologische Substanz der kulturellen und sozialen Reproduktion vernachlässigen. An diesem Punkt wäre der Versuch, bei Foucault eine Antwort auf die Frage nach der Dynamik des Systems oder vielmehr nach dem Bios zu finden, zum Scheitern verurteilt. Die wirklichen Antriebskräfte der Produktion in der biopolitischen Gesellschaft bekommt er nicht in den Griff. (Hardt und Negri 2002, 42f., Herv. i. O.)

Um die Probleme der Analytik der Biopolitik Foucaults zu überwinden, berufen sich Hardt und Negri auf das Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari, das ein echtes poststrukturalistisches Verständnis der Biopolitik bieten würde. Ihr Verdienst bestehe in der Entdeckung der ontologischen »Substanz der Produktion«. Sie betonen damit, dass die Realität in dem Maße produziert werde, in dem Dispositive, soziale Maschinen und Apparate permanent funktionieren würden. Allerdings bleibt auch die theoretische Analyse von Guattari und Deleuze Hardt und Negri zufolge »oberflächlich und ephemer« (ebd., 43). Einerseits würden sie »die Produktivität der gesellschaftlichen Reproduktion« entdecken, aber andererseits sei diese bei ihnen von einer chaotischen Dimension charakterisiert und insofern sei es unmöglich, den Kontext, in dem sich die Produktion des Sozialen vollziehe, zu bestimmen (vgl. ebd.). Ihnen zufolge fehlt sowohl bei Foucault als auch bei Deleuze und Guattari die Analyse der konkreten Veränderungen innerhalb der Produktionsverhältnisse. Infolgedessen ergänzen sie Foucaults Begriff der Biopolitik und die Analyse der postmodernen Gesellschaft von Deleuze und Guattari mit den Untersuchungen einiger italienischer PostoperaistInnen. Diese versuchen, wie Negri, die marxistische Kritik der Politischen Ökonomie zu aktualisieren. Diese Untersuchungen finden ihren Ausgangspunkt in der Theorie des General Intellect,13 die von Marx in den Grundrissen formuliert wurde. Im Maschinenfragment analysiert Marx die Bedeutung der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung für den Arbeitsprozess. Marx prognostiziert darin, dass die Entwicklung der Produktion zu einem Vorrang der wissenschaftlichen Arbeit gegenüber der unmittelbaren Arbeit führe. Infolgedessen beschränke sich die menschliche Tätigkeit in der Fabrik auf die Überwachung und Regulierung der Maschinerie. In dieser

13 Diese Theorie wird von Marx in dem sogenannten Maschinefragment innerhalb der Grundrisse vorgestellt. Das Fragment ist für die Entwicklung des Operaismus und Postoperaimus in Italien sehr wichtig. Die erste italienische Fassung wurde in der Zeitschrift Quaderni Rossi (Nr. 4, 289-300) veröffentlicht und hat die Theorie und die Analyse der Operaisten stark geprägt. Paolo Virno hat in einem Essay die Bedeutung des Begriffs des General Intellect in den politischen Analysen und Kämpfen rekonstruiert (vgl. Virno 2004).

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Veränderung erfasst Marx einen Widerspruch. Zum einen tendiere das Kapital dazu, die Arbeitszeit zu reduzieren; zum anderen fahre es fort, die Arbeitszeit als Größe des Reichtums zu benutzen. Zudem hebt er auch einen anderen wichtigen Aspekt hinsichtlich dieser Tendenz der Produktion hervor. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect [allgemeinen Verstandes] gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses. (Marx 1983, 602)

Was bei Marx noch eine Vision war, wird in den Arbeiten der Postoperaisten analytisch weiterentwickelt. Diese gehen davon, dass die Gegenwart als Epoche des General Intellect charakterisiert werden könne. Die von ihm prophezeite Transformation des Kapitalismus in eine Produktionsform, in der Wissenschaft und Sozialität auf die Generierung von Mehrwert entscheidend einwirkten, zeichne die gegenwärtige Situation aus (vgl. Virno 2004; Negri 2003a). Diese lasse sich besser durch die Analyse der Begriffe immaterielle und affektive Arbeit verstehen. Hardt und Negri begreifen diese neue Art zu produzieren als biopolitische Produktion. In den folgenden drei Abschnitten werden vor allem die Bedeutung von immaterieller und affektiver Arbeit erklärt, sodann liegt der Fokus auf der Konzeption des Biopolitischen bei Hardt und Negri und zuletzt wird der Begriff Multitude analysiert. Dieser Begriff ist aus der Perspektive der Autoren am besten geeignet, die Form der sozialen und politischen Organisation der biopolitischen ProduzentInnen zum Ausdruck zu bringen. 3.2.1 Immaterielle und affektive Arbeit Hardt und Negri gehen davon aus, dass sich die Bedeutung der biopolitischen Produktion durch eine Untersuchung der immateriellen Formen der Arbeitsprozesse verstehen lasse. Im klassischen Sinn wird als immateriell die Arbeit definiert, die Bereiche wie Werbung, Marketing, Mode, Computersoftware und andere künstlerische oder kulturelle Tätigkeiten betrifft (vgl. Lazzarato 1998, 46). Allerdings wird in den Arbeiten der Postoperaisten die Bedeutung dieses Begriffs weiterentwickelt und als grundlegendes Element der Veränderung sowohl in dem Produktionszyklus als auch in der Gesellschaft interpretiert. Unter immaterieller Arbeit verstehen diese TheoretikerInnen eine Übergangsphase in den durch Kommunikation und Affektivität bestimmten Arbeitsprozessen.

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Diese Veränderung habe Anfang der 1970er Jahre stattgefunden, als der Prozess der »Informatisierung« der Produktion begonnen habe (Hardt und Negri 2002, 295). Wie bereits erwähnt, beziehen sich Hardt und Negri unmittelbar auf die Arbeiten von Virno, Lazzarato und Marazzi,14 um den Begriff »immaterielle Arbeit« zu definieren. Zunächst weisen sie mit diesem Begriff auf den Übergang von einer fordistischen zu einer postfordistischen Produktion hin, die am Anfang der 1970er Jahre stattgefunden habe und insbesondere zwei wichtige Aspekte betreffe. Erstens sei eine »informationelle Seite« der Ware entdeckt worden. Sowohl Produktion als auch Dienstleistungen hingen demnach von Informationen ab. Zweitens sei die »kulturelle Seite« der Ware erkannt worden. Dies impliziere, dass die Kontrolle der Kultur für die Entwicklung der Produktion bestimmend sei (vgl. Lazzarato 1998, 40). Allerdings lasse sich diese Veränderung nicht auf eine neue Konzeption der Ware beschränken. Entscheidend sei vor allem eine Verschiebung in der Hierarchie der Arbeitssektoren. Die Kommunikation und die Dienstleistung seien nun ins Zentrum der ökonomischen Produktion gerückt und insofern könne behauptet werden, dass diese eine dominante Position in dem Produktionszyklus übernähmen (vgl. Hardt 2004). Dieser Prozess führe zu einer neuen Definition des Verhältnisses von Produktion und Konsum, das auf einer permanenten Kommunikation zwischen diesen zwei Sphären beruhe. Eine weitere Veränderung betrifft den Postoperaisten zufolge die Konzeption der Arbeit. Es gehe nicht mehr darum, ein Kommando oder einen Auftrag zu erfüllen. Im Gegensatz dazu müsse sich der/die ArbeiterIn als aktives Subjekt konzipieren (Lazzarato 1998, 42). Obwohl dieser Wandel in der Konzeption des Subjekts innerhalb des Arbeitsprozesses etwas Positives besäße, müsse die neue Freiheit des/r Arbeiters/erin als falsche interpretiert werden, da sie die Subjekte zu Kreativität und Kooperation zwinge (ebd., 43). Der Vorrang der immateriellen Arbeit führe auch eine neue Konzeption des Arbeitsraums ein. Die Postoperaisten sprechen diesbezüglich von einer Dezentralisierung der Produktion und betonen dadurch die Integration jedes Aspektes des Lebens in die Generierung von Mehrwert und die damit einhergehende Nivellierung des Unterschieds zwischen Arbeits- und Freizeit (ebd., 47). Die immaterielle Arbeit lasse sich deshalb als Kreuzpunkt zwischen

14 Es handelt sich dabei um die wichtigsten Vertreter einer Forschungsgruppe, die sich als Postoperaisten oder als zweite Generation des Operaismus definieren lassen. Ihr Forschungsziel wie auch ihre Forschungsmethodologie steht in substantieller Kontinuität mit den ersten Operaisten. Wie Negri waren auch diese AutorInnen politisch in außerparlamentarischen linken Gruppen engagiert, die die sozialen Proteste in den 1970er Jahren in Italien leiteten. Auch sie wurden 1979 verhaftet und wegen »Subversion gegen den Staat« angeklagt. Heute sind ihre wissenschaftlichen Arbeiten international anerkannt, insbesondere in den USA, Frankreich und Deutschland.

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Produktion und Konsumtion verstehen, ohne dass beide Momente tatsächlich unterschieden werden könnten. Zusammenfassend unterscheiden Hardt und Negri drei Formen, in denen die immaterielle Arbeit in der Informationsökonomie zum Ausdruck komme. Die Entwicklung der Kommunikationstechnologie führe zum Primat der Dienstleistungen in dem Produktionszyklus. Auch die materielle Produktion werde de facto mittels der Kategorie der immateriellen Arbeit dargestellt und könne sogar als erste Form der immateriellen Arbeit konzipiert werden. In der Handhabung von Symbolen und Analysen sehen Hardt und Negri die zweite Form der immateriellen Arbeit; die dritte schließlich betreffe die Produktion und Reproduktion von Affekten und zwischen-menschlichen Interaktionen (vgl. Hardt und Negri 2002, 305 sowie Hardt 2004, 183f.). Obwohl sie die Ergebnisse und die Grundthesen des Postoperaismus in Bezug auf die immaterielle Arbeit übernehmen, halten sie fest, dass diese Forschungen in einer komplexen theoretischen Perspektive zu interpretieren seien. Sie sehen einen grundlegenden Unterschied zwischen ihrer Arbeit und den Untersuchungen der Postoperaisten. Letztere hätten zwar die immaterielle Seite der Produktion und ihren Vorrang aufgezeigt, doch hätten sie die Dimension der Körper nicht berücksichtigt (Hardt und Negri 2002, 44). Sie hätten, anders ausgedrückt, keine biopolitische Perspektive entwickelt. Indem Hardt und Negri die postfordistische Phase der Produktion nicht (oder besser gesagt: nicht nur) als immateriell, sondern als biopolitisch markieren, zielen sie darauf, die Totalität der neuen Produktionsverhältnisse zu definieren, die nicht nur immateriell, sondern auch materiell, sozial, psychologisch, biologisch und ontologisch seien. Wie schon erwähnt, stellt die Kommunikation für sie nur einen Aspekt der immateriellen Arbeit dar. Der andere besteht ihnen zufolge in der Entwicklung der affektiven Arbeit. Unter affektiver Arbeit lässt sich die Verwertung von Dienstleitungen verstehen, die die Sorge um die Körper, die zwischen-menschlichen Interaktionen und die Affekte selbst betrifft. Diese Tätigkeiten, die früher in der Sphäre des privaten Lebens lokalisiert worden seien, sind nach Marazzi – der hierzu die wichtigste Referenz für Negri darstellt (Negri 2003a, 47) – nun nicht nur Teil der Reproduktionsprozesse, sondern auch grundlegend für die Produktion in jeglicher Form (vgl. Marazzi 2008). Hardt und Negri analysieren die affektive Seite der immateriellen Arbeit in Bezug auf die sogenannte »Feminisierung der Arbeitsprozesse«. Obwohl dieser Begriff auch in den ersten zwei Bänden ihrer Trilogie eine wichtige Rolle spielt, wird er erst in dem Werk Common Wealth ausführlich definiert (Hardt und Negri 2010). In dieser Arbeit verknüpfen Hardt und Negri ihre Konzeption der affektiven Arbeit mit der Definition dreier Tendenzen in dem Produktionszyklus, die mit dem Prozess der Feminisierung der Arbeit verbunden seien. Erstens verweise der Begriff

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der Feminisierung der Arbeit auf einen Anstieg der Frauen, die in der Erwerbsarbeit beschäftigt seien. Zweitens verstehen Hardt und Negri darunter auch eine qualitative Wende, die von ihnen mit der Flexibilisierung des Arbeitstages assoziiert wird. Obwohl die Flexibilisierung Frauen wie auch Männer betrifft, wird sie den Autoren zufolge als Konsequenz der Feminisierung interpretiert. 15 Drittens führe diese Entwicklung zu einer Zentralität der affektiven und emotionalen, zwischenmenschlichen Tätigkeit (ebd., 141). Diese Konzeption affektiver Arbeit wird von anderen AutorInnen stark kritisiert, da sie diesen zufolge nicht durch hinreichende empirische Analyse unterstützt wird, sodass die negativen Implikationen der affektiven Arbeit wie auch die Ausbeutung dieser Arbeitsform nicht berücksichtigt würden (vgl. z.B. Schultz 2011, 134f.). In ihrer Kritik an dem Begriff der affektiven Arbeit bei Hardt und Negri spricht Susanne Schultz von einer ganzheitlichen Konzeption des Begriffs, der eine dualistische Darstellung der Arbeitsverhältnisse impliziere (ebd.). Diese Anmerkung ist gut begründet und enthüllt eines der Probleme der Analytik von Hardt und Negri, das in einer positiven – sogar enthusiastischen – Einschätzung von jeder Veränderung in den Arbeitsverhältnissen besteht. Bei ihnen wird somit keine kritische Analyse der neuen Arbeitsprozesse entwickelt. Jede Veränderung wird stets als positiv und affirmativ begrüßt. 3.2.2 Das Biopolitische Der Begriff der biopolitischen Produktion bei Hardt und Negri lässt sich als Zusammenführung von Foucaults Analytik der Macht, Deleuzes Ontologie und der Analytik der immateriellen und affektiven Arbeit des Postoperaismus interpretieren. Es handelt sich daher um eine Theorie, die eine positive Verbindung dieser unterschiedlichen Perspektiven anbietet. Für die Idee der biopolitischen Produktion ist die Annahme grundlegend, dass Produktion und Reproduktion nicht mehr zu trennen sind. In dem Maße, in dem jede menschliche Tätigkeit in den Produktionszyklus einbezogen werde, verschwinde der Unterschied von Produktion und Reproduktion. Das impliziere allerdings nicht, dass die Produktion keine materielle Dimension enthalte. Im Gegenteil behaupten Hardt und Negri, dass nur das Produkt der Arbeit sich als immateriell charakterisieren lasse, da Güter, Körper und Affekte, die zunehmend als zentrale Elemente der Produktion gelten würden, eine extreme Materialität besäßen (vgl. Hardt und Negri 2004, 128). Aus diesem Grund schlagen sie vor, den Begriff der immateriellen Arbeit mit dem der »biopolitische[n] Arbeit« zu

15 Hardt und Negri ergänzen in Common Wealth ihre Vorstellung der »Feminisierung der Arbeit«. Insbesondere heben sie hervor, dass die Tendenz zur Prekarisierung eine Form der Kontrolle sei (Hardt und Negri 2010, 160).

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ersetzen (vgl. ebd., 127). Die »Biopolitizität« der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse lasse sich gerade mittels der Zentralität der affektiven Dimension in den Arbeitsprozessen erklären: »Affektive Arbeit ist biopolitische Produktion, denn sie bringt unmittelbar soziale Beziehungen und Lebensformen hervor« (ebd., 129). Es sollte aus diesem Zitat deutlich werden, dass für Hardt und Negri Biopolitik weder auf die Reglementierung der Bevölkerungen (wie bei Foucault), noch auf die Entscheidung über den Status des Lebenden (wie bei Agamben) verweist. Im Unterschied dazu ist für sie das Biopolitische das Ergebnis bestimmter Produktionsverhältnisse, die jede Trennung von Produktion und Reproduktion, Arbeitszeit und Freizeit, Natur und Kultur überwinden. Der Verwertungsprozess sei nämlich nicht mehr auf einen bestimmten Arbeitsprozess an einem bestimmten Ort und in einer definierten Zeit beschränkt, sondern betreffe jedes Handeln der Lebenden. In Bezug auf Hardts und Negris Vorstellung der Biopolitik kann somit behauptet werden, dass der Mensch in dem Maße biopolitisch wird, in dem sein Leben als solches Wert produziert und als Wert funktioniert. Diese Konzeption des Biopolitischen impliziert auch einen Unterschied bezüglich des historischen Übergangs zum biopolitischen Regime. Im Unterschied zu Foucault und Agamben identifizieren Hardt und Negri die Geburt der Biopolitik mit der imperialen Ära – zu Beginn der 1970er Jahre – als die Informatisierung der Produktion begann. In ihrem Werk verweist der Begriff der Biopolitik nicht auf normative Maßnahmen oder Reglementierungen des Lebens. Vielmehr steht der Begriff für eine neue Artikulation des Daseins, der gerade von einer biopolitischen Dimension gekennzeichnet sei. Negri spricht dementsprechend von »anthropologische[n] Veränderungen« (Negri 2007, 29),16 die das Ergebnis der Kämpfe gegen die disziplinäre Macht der fordistischen Produktionsverhältnisse seien (vgl. Hardt und Negri 2002, 365). Das Biopolitische sei somit das Resultat dieser Veränderungen. Dies verdeutlicht, dass aus der Perspektive von Hardt und Negri die biopolitische Entwicklung der Produktion die Folge des Handelns der Subjekte gewesen ist. Da es um »anthropologische Veränderungen« bzw. eine neue Art des Subjekts geht, erweist es sich als adäquater, den Begriff des »Biopolitischen« statt demjenigen der »Biopolitik« für die Analyse der Arbeiten von Hardt und Negri zu verwenden. Wenn man die berühmte aristotelische Definition des Menschen als politisches Tier berücksichtigt, kann im Bezug auf die Schriften von Hardt und Negri behauptet werden, dass in der imperialen Ära Menschen zu »biopolitischen Tieren« geworden sind. Diese Interpretation kann auch dadurch unterstützt werden, dass Hardt und Negri von einer neuen, immanenten Ontologie in Verbindung mit der biopolitischen Produktion sprechen, die mit der transzendentalen Vorstellung des Menschen

16 Auch in Empire wird behauptet, dass ontologische und anthropologische Perspektiven zu einer Überlagerung tendierten (vgl. Hardt und Negri 2002, 394).

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und der Realität breche. Das Subjekt der biopolitischen Produktion stelle unmittelbar neue Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse her, indem es handele, existiere und sich reproduziere (vgl. Negri 2007). In der Formulierung dieser neuen Ontologie spielt die Philosophie Spinozas17 eine zentrale Rolle. Die Interpretation von Spinozas Werk durch Hardt und Negri beruht auf einer Analogie zwischen den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen und der spinozistischen Ontologie. Affekte und Wünsche stellen in beiden Fällen die Kräfte dar, die die Realität bestimmen.18 Hardt und Negri übernehmen allerdings noch ein weiteres Element der spinozistischen Ontologie: die Totalität. So wie bei Spinoza das Sein als ein immanentes Kontinuum definiert wird, das kein Außen kennt, gibt es bei ihnen ebenfalls keine Realität außerhalb der biopolitischen Produktion. Die Perspektive der Autoren von Empire verweist somit auf eine immanente Realität, die von dem historischen Werden der biopolitischen Produktion abhängt. Gerade dadurch, dass Intelligenz und Affekt (oder genauer: der Geist in gleicher Weise wie der Körper) zu primären Produktionskräften werden, fallen Produktion und Leben überall dort, wo sie wirksam werden, zusammen; denn Leben ist nichts anderes als die Produktion und Reproduktion eines Sets von Körper und Geist. (Hardt und Negri 2002, 373)

Aus diesem Zitat wird deutlich, dass es bei Hardt und Negri keinen Unterschied zwischen Leben und Biopolitik gibt. Wie schon erwähnt, ist aus dieser theoretischen Perspektive Biopolitik keine Politik des Lebens oder über das Leben, sondern das Werden des Seins in dem Zeitalter des kognitiven oder informatisierten Kapita-

17 Spinozas Philosophie stellt für Negri und andere Postoperaisten wie Virno (und übrigens auch für Deleuze) eine Quelle für die Formulierung einer neuen politischen Philosophie im Gegensatz zur Tradition der modernen, transzendentalen und staatlichen Souveränitätslehre dar, die der Hobbes’schen politischen Philosophie zugrunde liegt. In der postoperaistischen Perspektive ist Spinoza wie auch Machiavelli und Marx der Bezugspunkt für eine Alternative im modernen politischen Diskurs, in der die konstituierende Macht eine Hauptrolle spielt (vgl. Negri 2011). Negris Interpretation der politischen Philosophie wird von Martin Saar in seiner Arbeit Die Immanenz der Macht kritisiert (vgl. Saar 2013). Saar zufolge ist zum einen Negris Lektüre der politischen Philosophie Spinozas relevant, da er die spinozistische Ontologie und Begrifflichkeit für die Analytik der Macht in der Gegenwart einführt und ermöglicht (vgl. ebd, 172f.). Zum anderen ordne Negris Interpretation die Ontologie von Spinoza einer radikalen und dichotomischen Entgegensetzung von potentia und potestas unter, die Spinozas Konzeption des Verhältnisses von potentia und potestas »forciert« (ebd., 174). 18 Laut Spinoza sind Wünsche und Liebe als Kräfte zu betrachten, die immanent das Sein bestimmen (vgl. Spinoza 1989).

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lismus: »So wird deutlich, dass diese Art von ökonomischen Prozess, wie er im Mittelpunkt der biopolitischen Produktion steht, zugleich ein ontologischer Prozess ist, der Natur und Subjektivität verändert und konstituiert.« (Hardt und Negri 2010, 186) Diese Ontologisierung der Biopolitik evoziert verschiedene Fragen. Zunächst ist unklar, worin das Politische innerhalb des Biopolitischen besteht (Demirović 2004). Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann in der Definition des biopolitischen Subjekts bzw. des/der Arbeiters/in gefunden werden.19 Dieses ist bei Hardt und Negri unmittelbar und immanent Produzent von Gesellschaft, Kooperation, Wünschen, Netzen und Affekten. Obwohl das Kapital einerseits diese Charakteristika ausbeute, erlaube die Förderung dieser Kompetenzen andererseits die Entwicklung einer Subjektivität, die sich mittels seiner Biopolitizität von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen emanzipieren könne (vgl. Hardt und Negri 2002, 75). Diese Wende ist allerdings problematisch und zu Recht hebt Alex Demirović die Probleme hervor, die mit einer Konzeption des Politischen ohne Vermittlung verbunden sind. Außerdem stellt Demirović die Frage, inwiefern sich dieser Emanzipationsprozess beobachten lasse, wenn die Arbeitsverhältnisse immer prekärer würden und im Rahmen der neoliberalen Umstrukturierung der Institutionen ArbeiterInnen ihre sozialen Ansprüche tendenziell verlören (Demirović 2004, 241). Ferner spricht Marianne Pieper von einer Unklarheit in Bezug auf das politische Projekt von Hardt und Negri dahingehend, dass sie nicht erklären würden, inwiefern sich die verschiedenen lokalen Kämpfe miteinander verbinden könnten (Pieper 2007, 237). Die neueren Arbeiten von Hardt und Negri vertiefen diese Aspekte nicht weiter und bestätigen ihren Glauben an die Potentia der neuen sozialen Subjekte. Ein anderes Problem in der Konzeption des Biopolitischen bei Hardt und Negri ist in dem anderen Pol des Ausdrucks »Biopolitik«, d.h. in ihrem Lebensbegriff, zu suchen. Sowohl Thomas Lemke als auch Susanne Schultz kritisieren die Konzeption des Lebens bei ihnen. Für ersteren wird das Leben von ihnen als überhistorisch begriffen (Lemke 2011, 122), während letztere die unkritische Verwendung des

19 Wahrscheinlich ist weder Subjekt noch ArbeiterIn der richtige Begriff, um das Sein des Menschen nach der biopolitischen Perspektive von Hardt und Negri zu bestimmen. Der Begriff »biopolitischer Produzent« drückt m.E. am besten diese Realität aus. Allerdings werden diese Termini hier benutzt, um zu betonen, wie in den Schriften von Hardt und Negri die Arbeit in der Definition des Seins die grundlegende analytische Dimension darstellt. Das Subjekt wird biopolitisch nur deshalb, weil die Arbeit inzwischen biopolitisch geworden ist. Ausgehend davon, dass das Subjekt als Lebewesen schon unmittelbar im Produktionszyklus einbezogen ist, wird der Gebrauch des Begriffs des/der Arbeiters/in als Synonym für Subjekt plausibel.

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Lebensbegriffs bei ihnen betont, die keine Differenzierungen ermögliche (Schulz 2011, 133). Sowohl Lemke als auch Schulz berufen sich auf Foucaults Lebensbegriff, um ihre Kritik an Hardt und Negri zu formulieren. Bei Foucault ist der Lebensbegriff immer ein historisches Ergebnis diskursiver Praktiken. Diese kritischen Anmerkungen zum Lebensbegriff von Hardt und Negri helfen dabei, eine Lücke in ihrer Perspektive zu artikulieren. Diese besteht darin, dass sie das Politische nicht vom Analytischen unterscheiden. Ein ontologischer Begriff des Lebens hat eigentlich die Potenzialität für die Entwicklung eines politischen Handelns, das gegen die Dispositive gerichtet werden kann, die das Lebendige ausgehend von objektivem Wissen über das Leben ausnutzen. Allerdings bleibt bei Hardt und Negri unklar, ob die ontologische und immanente Konzeption des Lebens ein politisches Projekt oder das Ergebnis ihrer Analyse ist. Zu Recht argumentiert Lemke, dass sie diese Ontologie unzureichend entfalten (vgl. Lemke 2007d und 2011). In dem Maße, in dem die biopolitische Arbeit eine immanente Kooperation entwickelt, stellt diese Hardt und Negri zufolge »eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus« dar (Hardt und Negri 2002, 305), der die Geburt eines neuen politischen, oder besser gesagt, biopolitischen Subjekts bestimme. Um das politische Vermögen dieser biopolitischen Subjektivität zu definieren, benutzten Hardt und Negri den Begriff Multitude. Wie im Fall der Ontologie übernehmen sie auch diesen Begriff aus der Philosophie Spinozas. Unter Multitude – die Menge – verstehen sie »ein Ensemble von Singularitäten« (Negri 2003b, 111), das durch die biopolitische Produktion neue politische und gesellschaftliche Formen entwickelt. 3.2.3 Die Multitude Hardt und Negri entwickeln den Begriff der Multitude in allen Teilen ihrer Trilogie wie auch in anderen kleineren Texten. Darin bleibt dessen Definition durchweg relativ konstant. Der Begriff wird aus Spinozas politischer Philosophie übernommen, die von Hardt und Negri zusammen mit Machiavellis Republikanismus und Marxʼ Materialismus als Quelle für eine Alternative zur Moderne und deren Kategorien angesehen wird (vgl. Negri 2011). Zunächst setzen Hardt und Negri einen grundlegenden Unterschied zwischen Menge, Masse und Mob. Im Gegensatz zu einer Masse sei die Menge organisiert und »in der Lage, gemeinsam zu handeln und sich daher zu regieren, obwohl sie vielfältig und differenziert ist« (Hardt und Negri 2004, 118). Dieser Begriff spielt eine doppelte Rolle in ihrer politischen Theorie: zum einen funktioniert die Menge als Gegenbegriff zu dem des Volkes und zum anderen soll sie die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt ersetzen. In Bezug auf den Volksbegriff kritisieren sie dessen transzendentalen Charakter, der auf Einheit und Homogenität des Kollektivs hinweise. Das Volk funktionie-

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re so als Ausgangspunkt für die Entstehung der modernen Nationalstaaten und beruhe auf einer negativen Anthropologie, die in der politischen Philosophie von Thomas Hobbes und seiner Vorstellung der Souveränität zum Ausdruck komme (vgl. Hardt und Negri 2002, zweiter Teil). 20 Hardt und Negri betonen allerdings, dass sich in der Moderne auch eine andere politische Tradition entwickelt habe, die ihren Ausgangspunkt in der Entdeckung der Immanenz habe und auf die republikanische Tradition des italienischen Humanismus, der Renaissance und der politischen Philosophie Spinozas zurückgehe. Diese Tradition stelle die Frage in den Mittelpunkt, wie die verschiedenen Subjekte in die Verwaltung der »Res Publica« integriert werden könnten bzw. nach der Macht in einer direkten Demokratie. Während das Volk Ausdruck der Einheit des gesellschaftlichen Körpers sei, der mit dem Souverän zusammenfalle (Negri 2003b), sei die Menge auf keinen Fall auf eine solche transzendentale Repräsentation reduzierbar. Insofern müsse die Menge als politisches Subjekt einer direkten Demokratie konzipiert werden, 21 das durch seine Potentia ausgezeichnet sei. Hierbei ist hervorzuheben, dass für Negri die Multitude immer in Verbindung mit der Idee einer konstituierenden Macht zu denken ist (vgl. Negri 2011). Die Empire-Trilogie mit Hardt ist der Höhepunkt der politischen Theorie Negris, der sich schon zu Beginn der 1990er Jahre mit der Erforschung einer Alternative zur Moderne beschäftigt hatte. Im Rahmen dieser Forschungsorientierung entwickelt Negri eine Perspektive, in der die konstituierende Macht als Kern des Politischen in Opposition zur Selbsterhaltung der konstituierten Ordnung thematisiert wird. Das Interessante an dieser Theorie liegt darin, dass Negri Krisen und Konflikte weder als problematisch noch als gefährlich ansieht. Vielmehr stell-

20 Hardt und Negri berücksichtigen in Empire auch andere Autoren wie Bodin, Kant und Hegel, um das Verhältnis zwischen transzendentaler Metaphysik und der Idee des Nationalstaats in der Moderne aufzuzeigen. Außerdem kritisieren sie die Kämpfe um nationale Selbstbestimmung, die das eigentliche Ziel des Klassekampfs – und zwar das Kommando des Kapitals – ausblenden würden (vgl. Hardt und Negri 2002, Teil II, Kap. 2). 21 Im Gegensatz zu dem transzendentalen Bild des Körpers benutzt Negri den Ausdruck »Fleisch des Lebens«, um die Menge zu charakterisieren. Negri übernimmt den Begriff Fleisch von Merleau-Ponty, der darunter reine Potenzialität versteht. Der Gebrauch des Substantivs »Körper« kann in den Schriften von Hardt und Negri widersprüchlich sein, da sie zum einen die Rolle des Körpers in der biopolitischen Produktion hervorheben und zum anderen kritisch gegenüber der Vorstellung der Gesellschaft als politischen Körper sind. Negri macht deutlich, dass sein Gebrauch der Körpermetapher aus der Philosophie Spinozas kommt, der den Körper als immanentes Vermögen konzipiert. Merleau-Pontys Begriff des Fleisches und Spinozas Vorstellung des Körpers sind als analogische Termini zu interpretieren, da beide darunter ein unbestimmtes und vermögendes Sein verstehen (vgl. Negri 2003b).

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ten diese Ressourcen für die Veränderung einer politischen Ordnung dar, die sich immanent und permanent durch die Bedürfnisse bzw. Wünsche der Subjekte konstituiere. Dazu komme der strategische Wert des begrifflichen Paars Multitude/Potentia. Die Multitude lasse sich weder in einem Identifikationsprozess eingrenzen, noch anhand einer dualistischen Logik definieren. Das Charakteristikum der Multitude sei ihre Potentia, d.h. ihre Fähigkeit, ständig ihre politischen und sozialen Formen zu wechseln. Deswegen sei die Menge das notwendige soziale Korrelat einer konstituierenden Macht (vgl. Negri 2011). Die Menge wird, wie schon erwähnt, von Hardt und Negri auch als neues politisches, revolutionäres Subjekt dargestellt, in Alternative zur traditionellen Idee der Arbeiterklasse. Diese sei auf die Produktion beschränkt und beziehe sich unmittelbar auf die ArbeiterInnen in der Industrie (Negri 2003b, 112; Hardt und Negri 2004, 124). Aus diesem Grund sei der Begriff der Arbeiterklasse durch eine Ausschlusstendenz gekennzeichnet. Die Überwindung der Spaltung von Produktion und Reproduktion mache den Begriff unbrauchbar, da er auf die materiellen Voraussetzungen der Produktion beschränkt sei (ebd., 123). In der Ära der biopolitischen Produktion könne Arbeiterklasse als Begriff somit die neuen politischen und sozialen Dynamiken der Arbeit nicht mehr angemessen erfassen. Im Unterschied dazu sei die Menge »offen und umfassend« (ebd., 125) und könne deshalb immer neue gesellschaftliche Akteure trotz ihrer Unterschiede in ein gemeinsames politisches Projekt integrieren. Die Menge wird deswegen als immanentes politisches Subjekt der biopolitischen Produktion dargestellt und dies führt Hardt und Negri zufolge zu einer neuen Definition der Klassentheorie. Im Kontext der Informatisierung der Produktion behauptet Negri, dass die Biopolitik »Klassenkampf im erweiterten Sinn« sei (Negri 2007, 28, Herv. i. O.). Dieses Postulat wird verständlich, wenn man die Analyse der Klassentheorie bei Hardt und Negri berücksichtigt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass bei ihnen »Klasse« sowohl als politischer als auch als analytischer Begriff verwendet wird, da die Kategorie der Klasse nur durch die konkrete Analyse der Bedingungen der Arbeit und der kollektiven Kämpfe definiert werden könne. Sie gehen somit davon aus, dass sich die Klassenkomposition nur mittels des Klassenkampfs verstehen lasse, der bereits ein politischer »Entwurf« sei (ebd., 122). Deshalb müsse die Klasse definiert werden, indem die Voraussetzungen der Arbeit und die Kämpfe der ArbeiterInnen analysiert würden. Die Analysen der immateriellen Arbeit habe gezeigt, dass alle Individuen in den Produktionszyklus einbezogen seien und insofern ein Begriff notwendig sei, der diese neue Realität erklären könne und gleichzeitig die Entwicklung der Produktionsverhältnisse als Voraussetzung einer revolutionären Politik interpretieren könne. Die Menge als Klasse der biopolitischen Subjekte erfüllt Hardt und Negri zufolge diese theoretische Aufgabe. Die biopolitische Entwicklung der Produktion verändere somit nicht nur die Klassen-

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komposition, sondern auch die politische sowie die ökonomische Analyse der Produktionsverhältnisse. Ein weiterer analytischer Vorteil des Begriffs Multitude bestehe zudem in seiner Opposition zu jeglicher Vorstellung von Maß und Ordnung. Denn die Ideen von Maß, Ordnung, Grenze werden von Hardt und Negri mit der transzendentalen Metaphysik und der Disziplinargesellschaft assoziiert. Das biopolitische Handeln der Menge breche mit dieser Vorstellung22 und stelle sich deswegen als unermessliches dar. Diese Charakteristik wird von ihnen nicht als negativ interpretiert, sondern qualifiziert das biopolitische Subjekt für sie als immer in Bewegung, kreativ und offen für neue Kooperationsformen. Sie sprechen deshalb von Virtualität, um das Handeln der Menge als politisches Subjekt zu begreifen. Unter virtuell verstehen wir das Set von Handluchsmöglichkeiten (Sein, Lieben, Verändern, Schaffen), das in der Menge vorhanden ist. […] Den Übergang vom Virtuellen durch das Mögliche zum Realen ist der grundlegende Schöpfungsakt. Die lebendige Arbeit bildet dabei die Brücke zwischen dem Virtuellen und dem Realen; sie ist das Vehikel der Möglichkeit […] Arbeit, ist, vergleichen mit der bestehenden Ordnung und ihren Reproduktionsregeln, produktiver Exzess. Dieser Exzess ist zum einen Folge eines kollektiven Emanzipationsprozesses, zugleich aber auch Substanz einer neuen gesellschaftlichen Virtualität der produktiven und befreienden Möglichkeit von Arbeit. (Hardt und Negri 2002, 365)

Der Begriff der Menge ist breit diskutiert und kritisiert worden. Das Irritierende an der These von Hardt und Negri ist vor allem die Idee, dass die Menge schon operativ und gewissermaßen in der Lage sei, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu überwinden (vgl. Piper 2007; Demirović 2004). Als fragwürdig wird auch die rigide Opposition Menge/Empire angesehen, die Hardts und Negris Vorstellungen zugrunde liegt (vgl. Adolphs 2011; Lemke 2007d und 2011; Saar 2013). Diese Probleme lassen sich auf die fehlende Unterscheidung zwischen Analytik und politischer Strategie in ihrem Ansatz zurückführen. Die von ihnen vermutete Existenz einer unmittelbaren Kausalität zwischen postfordistischen Produktionsverhältnissen und dem Auftauchen der Menge ist eine willkürliche These, die ein teleologisches Residuum verrät. Das Entscheidende des Begriffs der Menge ist weniger seine reelle Artikulation und Effektivität in den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen. Vielmehr kann dieser Begriff interessant werden, wenn er als politisches Projekt für die Überwindung der durch Identifikationsprozesse konstituierte Institutionen und der neoliberalen Regierungstechniken gedacht wird.

22 Hardt und Negri behaupten, dass innerhalb der biopolitischen Dimension das metaphysische Denken unmöglich sei (vgl. Hardt und Negri 2002, 363).

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Wie festgestellt worden ist, stellt das Biopolitische bei Hardt und Negri auch eine qualitative Verschiebung in der Konzeption der Arbeit jenseits der Hegemonie der immateriellen Arbeit dar. Denn die biopolitische Arbeit stimmt aus dieser Perspektive mit den Wünschen der Subjekte überein und besitzt deshalb eine Projektdimension, die unmittelbar politisch und emanzipativ sein kann. Der Begriff der biopolitischen Produktion funktioniert so bei Hardt und Negri als eine einschließende Dimension, deren Ziel in der Formulierung einer neuen immanenten Ontologie besteht, in der die modernen Kategorien und Dualismen verschwinden bzw. in einen neuen theoretischen Rahmen integriert werden. Die immanente Ontologie, die den aktuellen Produktionsverhältnissen zugrunde liegt, stellt eine Realität dar, in der Arbeit, Wunsch, Gesellschaft und Politik mit dem biopolitischen Handeln übereinstimmen.23 So gesehen, stellt die Biopolitik den Raum dar, in dem die Subjekte die Möglichkeit der Emanzipation von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen erleben können. Allerdings hat das Kapital Hardt und Negri zufolge eine Reihe von Dispositiven organisiert, die die Potenz der Menge zugleich ausbeuten und kontrollieren: die Biomacht.

3.3 D IE B IOMACHT Die Verwirklichung der Potentia der Menge wird aus der Perspektive von Hardt und Negri von einem Zusammenhang von Machtdispositiven verhindert, der von ihnen als »Biomacht« begriffen wird. Biomacht sei nichts anderes als »eine andere Bezeichnung für die reelle Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital« (Hardt und Negri 2002, 372). In ihrem Ansatz steht dieser Begriff somit in direkter Verbindung mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Dadurch wird deutlich, dass die Autoren mittels des Begriffs der Biomacht versuchen, Foucaults Analyse der Machtverhältnisse mit der marxistischen Kritik des Kapitalismus zu versöhnen. Die Beschreibung und die Analyse der Biomacht sind in den Werken von Hardt und Negri jedoch nicht homogen. Während sie in Empire diesen Begriff benutzen, um die Kontrollgesellschaft zu charakterisieren, stimmt derselbe in Multitude mit den neuen Formen der Kriegsführung überein. Allerdings stellt die Bio-

23 In Common Wealth setzen sich Hardt und Negri mit der politisch-philosophischen Perspektive Hannah Arendts und insbesondere mit ihrer Vorstellung des politischen Handelns auseinander. Wie bekannt, kritisiert sie die Dominanz der Produktion innerhalb der öffentlichen Sphäre im Lauf der Moderne. Die Grenze von dieser Analyse besteht Hardt und Negri zufolge darin, dass Arendt eine grundlegende Veränderung nicht berücksichtige, und zwar, dass in der biopolitischen Produktion »die ökonomischen Fähigkeiten und Tätigkeiten selbst unmittelbar politisch sind« (Hardt und Negri 2010, 188).

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macht in dem einen wie dem anderen Fall den Kern der Herrschaftsausübung in dem imperialen System dar. Insofern kann die imperiale Herrschaft in dem Maße ergriffen werden, in dem die Funktionsweise der Biomacht verstanden wird. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird zunächst der Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft analysiert, der die Definition der Biomacht in Empire beeinflusst. In dem zweiten Abschnitt liegt der Fokus auf der These des permanenten globalen Kriegs. Außerdem werden die Verschiebungen, die Diskontinuitäten und die Widersprüche der Darstellungen der Biomacht in Empire und Multitude dargelegt. 3.3.1 Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft Das Entstehen einer Herrschaft in Form von Biomacht wird von Hardt und Negri als Folge der Ablehnung der disziplinären Ordnung durch die Subjekte in den 1960er und 1970er Jahren verstanden. Die Kämpfe der ArbeiterInnen, der Studierenden, der Frauen und der Minderheiten hätten das Kapital genötigt, sich in einer neuen Form der Dominanz zu organisieren. Das Kapital müsse – so die These von Hardt und Negri – nun eine neue Subjektivität beherrschen, die ein anderes Verhältnis zu Natur und Arbeit erzeugt habe und nicht mehr innerhalb der disziplinären Logik verstanden werden könne (ebd., 283-284). Sie interpretieren das Ende der Disziplinargesellschaft ausgehend davon, dass sich die sie stützenden Institutionen24 strukturell in einer Krise befänden. Dies führe zum Auftauchen der Kontrollgesellschaft. Die Autoren übernehmen diesen Begriff von einem berühmten Aufsatz von Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (Deleuze 1990). Diese Schrift kann in eine Debatte eingeordnet werden, deren Gegenstand die Analyse des neuen dominanten Gesellschaftsmodells darstellte und die in den Arbeiten Foucaults ihren Ausgangspunkt nahm. 25 In seinem Artikel analysiert De-

24 Hardt und Negri schließen in diese Kategorie die klassischen modernen Institutionen wie die Familie, die Fabrik, das Krankenhaus und die Schule ein. Da sich durch diese die Zivilgesellschaft konstituiert habe, sei diese selbst in die Krise geraten. Es muss hervorgehoben werden, dass Hardt und Negri in ihrer Rekonstruktion der modernen Souveränität der Zivilgesellschaft eine Vermittlungsfunktion zuschreiben, deren Ziel in der Vermittlung von Kapital und Souveränität bestehe. Die Krise der modernen staatlichen Souveränität impliziert deshalb Hardt und Negri zufolge die Abschaffung der modernen Zivilgesellschaft und das Entstehen einer neuen globalen Gesellschaftsform (vgl. Hardt und Negri 2002, 306). 25 Deleuze zitiert in seinem Artikel die Positionen von Burroughs, von dem er den Begriff Kontrolle übernimmt, und Virilio. Deleuze hebt darüber hinaus in seiner Schrift Foucault

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leuze die Unterschiede und den Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft, indem er die Logik der letzteren untersucht. Dabei geht es laut Deleuze darum, zu verstehen, dass in der neuen Gesellschaftsform die »Einschließungsmilieus« als »unabhängige Variabel« zu betrachten seien, die trotz der Differenzen mittels einer analogischen Sprache miteinander kommunizierten. In den Kontrollgesellschaften würden die Subjekte als Modulation definiert, die sich je nach dem Moment oder der Situation verändern könnten. Die neue Logik komme insbesondere innerhalb des Bildungsprozesses zum Ausdruck. Während in der Disziplinarordnung jedes Mal der Bildungsprozess von Anfang an beginnen müsste, sei es nun möglich, einen dauerhaften und tendenziell unendlichen Prozess zu erkennen.26 Ein anderer Unterschied zwischen Disziplin und Kontrolle liege darin, dass sich die erste um zwei Pole – Individuum und Bevölkerung, um Foucaults Begriffe zu verwenden – orientiere, während in den Kontrollgesellschaften die Chiffre grundlegend sei. Unter Chiffre versteht Deleuze ein Password, das den Zugang zu den Informationen und Diensten erlaubt und gleichzeitig als Anerkennungsprinzip funktioniert. Die Tendenz impliziert ihm zufolge, dass sich das Subjekt nicht mehr als Individuum konzipieren lasse. Im Unterschied dazu werde es als »dividuell« verstanden und gerade diese Charakteristik erlaube es, dass das Subjekt in den Mainstream des Systems einbezogen werden könne und sich somit entweder kontrollieren oder remodellieren lasse (vgl. Deleuze 1990). Hardt und Negri führen keine weitere Differenzierung in diese Analyse der Logik der Kontrollgesellschaft ein. Vielmehr verwenden sie diese Theorie für die imperiale Souveränität und unterscheiden zwei Ebenen, auf denen die Kontrollgesellschaft wirke. Die erste Ebene sei die imperiale Regierung, deren Aufgabe in der Integration der sozialen Kräfte in die Verwaltung der Gesellschaft bestehe und gleichzeitig darauf abziele, diese Kräfte zu »pazifizieren, mobilisieren und kontrol-

hervor, dass Foucaults Analytik der Macht die Instrumente für das Verständnis der PostDisziplinargesellschaft biete (vgl. Deleuze 1992, insbesondere das letzte Kapitel). 26 Deleuze bezieht sich darauf, dass die Bildung in Schule, Armee oder Fabrik an einem bestimmten Ort und einer bestimmten Zeit sowie durch definierte Normen stattgefunden habe. Obwohl diese Institutionen der Logik der Disziplin gefolgt seien, sei jeder Bildungsprozess unabhängig, aber konsequent gewesen, sodass ein Individuum eine neue Phase nur nach dem Ende einer anderen habe beginnen können. Der Eintritt in eine Armee oder in eine Fabrik habe nur nach dem Ende der Ausbildungsphase stattfinden können. Außerdem hätten Zeiten und Orte jenseits der disziplinären Institutionen existiert. Im Unterschied dazu erlebe man nun eine permanente Bildung, die keine Grenzen von Ort und Zeit kenne. So werde keine Zeit für die Bildung, Ausbildung und Arbeit bestimmt. Doch seien dies nur Variablen eines Prozesses, der kein Ende habe, und dessen Ziel in der Kontrolle des Individuums liege (vgl. Deleuze 2014).

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lieren« (Hardt und Negri 2002, 348). Hardt und Negri bestimmen drei Prinzipien, die diese Regierung charakterisierten. Zunächst tendiere das Empire dazu, politische Ziele von bürokratischen Mitteln abzulösen. Während in den modernen Staaten die Einheit des gesellschaftlichen Körpers das grundlegende Kriterium für die Regierung gewesen sei und die Bürokratie als ideales Instrument zur Verfolgung dieses Ziels fungiert habe, bestehe das Problem der imperialen Regierung in einer »instrumentellen Multifunktionalität«, die die Singularität der sozialen Akteure und gleichzeitig ihre Funktionalität innerhalb des Systems gewährleisten müsse. Sie sehen das zweite Prinzip der imperialen Regierung in ihrer Fähigkeit, als »Dispositiv der Streuung und Differenzierung« zu handeln. Darunter verstehen sie die Möglichkeit der Regierung, eine spezifische Lösung für jede denkbare soziale Situation und jedes Problem zu finden. Diese Lokalität und Singularität des Handelns impliziert ihnen zufolge nicht, dass es keinen Leitfaden in den Kriterien des imperialen Handelns gebe. Vielmehr beruhe dessen Legitimität »auf heterogenen und indirekten Mitteln« (ebd., 350, Herv. i. O.), die nach dieser Analytik das dritte Prinzip der imperialen Regierung darstelle. Wenn diese drei Prinzipien das Regierungshandeln ex negativo charakterisierten, existiere ein viertes, positives Prinzip, das als »vereinheitlichende Grundlage« funktioniere und in der »lokale[n] Wirksamkeit« der imperialen Regierung bestehe (ebd., Herv. i. O.). Die zweite Ebene, auf der sich die Kontrollgesellschaft entwickele, sei das imperiale Kommando.27 Hardt und Negri begreifen es als die biopolitische Dimension der Macht und aus diesem Grund stehe es in direkter Verbindung mit der Konzeption des biopolitischen Seins der Menge. 28 Da die Menge als Versammlung der biopolitischen Subjekte der Produktion grundlegend für die Produktion von Mehrwert sei, dürfe die Macht als imperiales Kommando diese nicht unterdrücken oder vernichten. Vielmehr müsse das imperiale Kommando die sozialen und produktiven Kräfte kontrollieren, damit sie von dem Kapital ausgebeutet werden könnten. Hardt und Negri erläutern drei Instrumente, durch die das biopolitische imperiale Kommando seine Herrschaft ausübe. Das erste sei die Atombombe, die die Möglichkeit der Vernichtung des Lebens als solchem darstelle. Hardt und Negri interpretieren den Besitz von Massenvernichtungswaffen als Ausschließung der Möglichkeit von Individuen und Kollektiven, über Frieden und Krieg selbst zu entscheiden. Dagegen biete deren Besitz die Gelegenheit für das imperiale Kommando, in Konfliktsituationen zu intervenieren und den Krieg als permanenten Bürgerkrieg zu betrachten.

27 Hardt und Negri sehen in dem Unterschied zwischen Regierung und Kommando eine weitere Differenz zwischen Moderne und Postmoderne. In der Moderne waren diese Ebenen den Autoren zufolge vereint (vgl. Hardt und Negri 2002, 351f.). 28 Hardt und Negri machen leider nicht deutlich, ob die imperiale Regierung als Teil der Biomacht zu begreifen ist.

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In dem Maße, in dem durch »die Bombe« das Leben in jedem Moment vernichtet werden könne, stelle das Empire »die vollendete Form der Biomacht« dar (ebd., 354).29 Das zweite Kontrollinstrument des imperialen Kommandos sei das Geld. Darunter verstehen Hardt und Negri die neuen transnationalen Institutionen, deren Ziel in der Kontrolle des Marktes bestehe. Der Weltmarkt fungiere als Orientierungsprinzip für die biopolitische Produktion, die auf diese Weise nicht nach den Bedürfnissen der Menge, sondern des Kapitals organisiert werde. Der Äther stelle das dritte Kontrollinstrument des Empire dar. Unter diesem Begriff begreifen Hardt und Negri sowohl das Kommunikationssystem als auch das Bildungssystem. Die Kontrolle dieser Dimensionen war und ist nach den Autoren für die Entwicklung der aktuellen Herrschaft des Kapitals grundlegend: »Die Kommunikation ist die Form kapitalistischer Produktion, in der es dem Kapital gelang, die Gesellschaft insgesamt und global seinem Regime anzupassen und alle anderen Wege abzuschneiden» (Ebd., 355). In dieser ersten Konzeptualisierung bei Hardt und Negri übt so die Biomacht nur eine Kontrollfunktion aus, deren Ziel in der Ausbeutung der biopolitischen Produktion besteht. Insofern erweist sie sich als negativ und parasitär. Die Darstellung der Biomacht als parasitär zeigt die absolute Unproduktivität der Biomacht, die sich auf die Ausbeutung der biopolitischen Produktion beschränkt. Diese Darstellung der Biomacht ist theoretisch nicht überzeugend, da sie auf einer rigiden Dichotomie zwischen Multitude und Empire, zwischen Produktion und Regulation beruht. Lemke stellt diesbezüglich die Frage, ob die Produktion ohne Regulationsmechanismen denkbar sei (vgl. Lemke 2011, 123). Ein weiterer problematischer Aspekt an dieser Perspektive der Ausübung der Macht ist die Ablehnung eines der wichtigsten Ergebnisse der Forschungen Foucaults. Das Interessante bei Foucault liegt gerade darin, dass er einen Machtbegriff konzipiert, der vor allem die Produktivität der Institutionen, der Subjektivierungsprozesse und der Dispositive sichtbar macht (vgl. dazu Lemke 2007d; Marzocca 2007; Bazzicalupo 2006). Außerdem erlaubt diese Konzeption der Biomacht nicht, zu verstehen, wo und durch welche spezifischen Strategien diese Form der Macht sich entwickelt (vgl. Raman und Tutton 2010; Rose und Rabinow 2006). 3.3.2 Permanenter globaler Krieg und Regime der Biomacht Im Rahmen der Analyse der Entwicklung und der sozialen Funktion des Kriegs innerhalb der imperialen Ordnung, die in Multitude von Hardt und Negri eingehend dargestellt wird, gewinnt der Begriff der Biomacht eine spezifische Charakteristik

29 Wie im Folgenden analysiert wird, wird diese Frage in Multitude vertieft.

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in Bezug auf den Kriegsdiskurs, die nur zum Teil mit der in Empire dargelegten Bedeutung übereinstimmt. Der Krieg wird zu einem Regime der Biomacht, also einer Form der Herrschaft, die nicht allein auf die Kontrolle der Bevölkerung zielt, sondern darauf, alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens zu produzieren und zu reproduzieren. Dieser Krieg bringt den Tod, doch zugleich muss er paradoxerweise das Leben produzieren. (Hardt und Negri 2004, 28, Herv. i. O.)30

Während der Krieg in der Moderne ein Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens unter anderen gewesen sei, determiniere dieser jetzt das Leben als solches durch die Bedrohung durch den Tod (vgl. ebd., 34). Hardt und Negri erweitern insofern das Thema der Atomwaffen, deren biopolitische Bedeutung schon in Empire analysiert wurde. Allerdings geht es ihnen in diesem Fall weniger darum, die Todesbedrohung als Kontrolldispositiv zu charakterisieren. Vielmehr betonen sie, dass die Atombombe von Hiroshima wie auch die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus den ontologischen Charakter des Krieges festsetzten, da die Todesdrohung auch einen gesellschaftlichen Prozess darstelle. Der Bezug auf Hiroshima und Auschwitz als begründende Momente des ontologischen Krieges (ebd., 34) stellt einen evidenten Widerspruch in der historischen Rekonstruktion der Biomacht von Hardt und Negri dar. Denn in anderen Schriften setzen sie die neue Form des Krieges nach dem Vietnamkrieg an. Zwar gibt es keine Homogenität in ihren Werken bezüglich des Anfangs der neuen Form des Kriegs, da dieser einige Male mit dem ersten Irakkrieg, und manchmal mit dem 11. September 2001 identifiziert wird. Doch ist der Bezug auf Hiroshima und Auschwitz problematisch, weil die ontologische Form des Krieges immer mit der Entstehung des Empire und/oder der Kontrollgesellschaft auftaucht. Das ontologische Werden des Krieges wird von den Autoren darüber hinaus in Multitude nicht auf die Bedrohung durch die Massenvernichtungswaffen beschränkt. Wie bereits im ersten Kapitel dieses dritten Teils dieser Arbeit erwähnt, verschwindet im imperialen Zeitalter der Unterschied zwischen Krieg und Polizei. Dieses Ereignis stellt Hardt und Negri zufolge einen weiteren Beitrag zur Ontologisierung des Krieges dar, da die Bürger der globalen Gesellschaft in jedem Moment und an jedem Ort eine Kriegssituation erleben könnten. Die Biomacht erweise sich daher als eine Machtausübung, die nicht nur mittels der Massenvernichtungswaffen, sondern auch durch individuelle Gewalt handele (ebd., 35). Sie sehen bei-

30 Hardt und Negri machen deutlich, dass der Ausgangspunkt ihrer Thematisierung der Biomacht innerhalb des Kriegsdiskurses die Arbeiten von Judith Revel bilden (Hardt und Negri 2004, 28; vgl Revel 2002).

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spielsweise in Folterungen den Ausdruck der Ausübung dieser individuellen biopolitischen Macht. Diese seien der Kreuzpunkt zwischen Krieg und Polizeiaktion und zugleich eine Kontrolltechnik, die als Präventionsmaßnahme verwendet werde. Das ist ein zentraler Punkt in der Argumentation von Hardt und Negri bezüglich des Regimes der Biomacht. Extreme Präventionsmaßnahmen wie Folter könnten – so ihre Annahme – in dem Maße legitimiert werden, in dem diese die Sicherheit der Bürger garantierten. Die Sicherheit werde auf diese Weise das entscheidende Kriterium für die Legitimation des Gebrauchs der Gewalt. Sie sehen demzufolge innerhalb der Ordnung des Politischen eine Verschiebung von Verteidigungs- zu Sicherheitspolitik,31 die grundlegend für das Entstehen des Regimes der Biomacht sei, da der Krieg durch diesen Übergang »eine aktive und konstitutive« Dimension erhalte (vgl. ebd., 36). Das Prinzip der Sicherheit erlaube so eine grenzenlose Ausübung der Gewalt, die eine neue Ära eröffne, in der der Unterschied zwischen Krieg und Polizei bzw. nationalem und internationalem Recht an Bedeutung verliere. Sicherheit erfordert vielmehr, durch militärisches und/oder polizeiliches Handeln aktiv und permanent die Umwelt zu formen. Nur eine aktiv geformte Welt ist eine sichere Welt. Diese Vorstellung von Sicherheit ist Biomacht, insofern ihr die Aufgabe zufällt, das gesellschaftliche Leben in seinen allgemeinsten Zügen und im globalen Maßstab hervorzubringen und zu verändern. (Ebd., 36f., Herv. i. O.)

Die Art und Weise, in der Hardt und Negri die Biomacht an den Diskurs der Sicherheit knüpfen, unterscheidet sich von der Foucaultʼschen32 Behandlung dieses Themas und erweist sich als näher an Agambens Argumentation. Der Ausnahmezustand, der in Empire nur eine marginale Rolle spielt, wird nun eine Voraussetzung der Entstehung und Entwicklung des Regimes der Biomacht. Trotzdem bleibt ein großer Unterschied in der Konzeption der Biomacht bei Agamben und derjenigen von Hardt und Negri, die ihre Analyse mit der biopolitischen Entwicklung der Produktionsverhältnisse verknüpfen. Die Sicherheit als primäre Aufgabe des politischen Handelns bedeutet für Hardt und Negri, dass der Krieg eine permanente soziale Struktur wird. Da der Krieg ein

31 Hardt und Negri beziehen sich unmittelbar auf die These des Präventiven Krieges, die nach den terroristischen Angriffen am 11. September 2001 proklamiert wurde. 32 In seinen Vorlesungen spricht Foucault von Sicherheitsdispositiven, die allerdings wenig mit dem Kriegsdiskurs zu tun haben. Vielmehr verweist er auf eine Art von Regierung – den Liberalismus –, der nicht auf die Verschwendung der Phänomene ziele, sondern auf deren Kontrolle unter einer Schwelle der Nachhaltigkeit. Für diese Regierungstechnik war somit nicht die Einführung eines Ausnahmezustands wichtig, sondern die Statistik, d.h. die Möglichkeit, ein Ereignis vorauszusehen (vgl. Foucault 2004a und 2004b).

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konstitutives Element sei, stelle dieser zudem keine Gefahr für die Ordnung dar, sondern erlaube ihr im Gegenteil sich durch Gewalt zu legitimieren. Sie halten trotz der Veränderungen in der Analyse und Definition der Biomacht fest, dass diese ein Hindernis für die Verwirklichung der Potenzialitäten der Menge sei. Darüber hinaus sind sie der Auffassung, dass die politische Aufgabe der Gegenwart im Übergang vom Regime der Biomacht zur biopolitischen Produktion bestehe. Die Analyse des Regimes der Biomacht in Multitude zeigt zwei wichtige Bedeutungsverschiebungen in der Verwendung des Begriffs bei Hardt und Negri auf. Eine erste Verschiebung bezüglich der Funktion der Biomacht betrifft die Produktivität. Während in Empire die Biomacht eine parasitäre Funktion erfüllt und negativ charakterisiert wird, schreiben die Autoren der Biomacht in Multitude durch den Krieg auch eine Produktivitätsfunktion zu. Der Krieg wird, anders ausgedrückt, als Dispositiv theoretisiert, das soziale Ordnung produziert. Die ontologische Definition des Krieges kann als Ausdruck dieser veränderten Interpretation der Biomacht angesehen werden. In den anderen Schriften war lediglich die Menge und ihre biopolitische Produktion die Kraft, die eine ontologische Veränderung verursachen konnte. Hardt und Negri explorieren diese Veränderung in ihrer Definition der Biomacht allerdings nicht weiter. Die Lesart des Krieges als produktives Element führt zu der zweiten Verschiebung, die in der Entdeckung der Zweideutigkeit der Biomacht, und zwar ihrer Fähigkeit, durch Zerstörung produktiv zu sein, besteht. Wie schon erwähnt, hatte die Biomacht in den ersten Schriften von Hardt und Negri die Funktion, die parasitäre Natur des Empire zu verwirklichen. Insofern hatte sie eine eindeutig negative Bedeutung, die im Gegensatz zu der positiven Vorstellung der biopolitischen Produktion stand. Die Konzipierung des ontologischen Krieges bricht mit dieser linearen Darstellung der Biopolitik. Diese theoretische Operation ist jedoch ambivalent. Zum einen erweitern Hardt und Negri die Bedeutung der Biomacht, zum anderen modifizieren sie aber die binäre Perspektive, nach der die Menge produktiv und das Empire parasitär sei, nicht. Tatsächlich stellt die in Multitude dargelegte Vorstellung der Biomacht einen Widerspruch ihres Ansatzes dar, da sie ihre begrifflichen Differenzierungen zwischen Biomacht und biopolitischer Produktion damit begründen, dass sie die produktive/positive von der zerstörenden/negativen Dimension der Biopolitik trennen. 33 Hardt und Negri versuchen diese Entwicklung mit den historischen Ereignissen – und zwar den Veränderungen des politischen Diskurses nach dem 11. September – zu erklären. Allerdings bewahren sie aus einer politologischen Sichtweise den Unterschied zwischen dem Regime der Biomacht und der biopolitischen Produk-

33 Wie schon erwähnt, stellt Hardt und Negri zufolge dieses Paradox die Widersprüche des Foucaultʼschen Begriffs der Biopolitik dar (vgl. dazu auch Marzocca 2007).

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tion, die sich von dieser Machtform emanzipieren muss. Die Entdeckung eines produktiven Elements der Biomacht provoziert so bei Hardt und Negri keine grundlegende Veränderung in ihrem theoretischen System, obwohl die Biomacht selbst sich entwickelt hat. Trotz dieser Entwicklung bleibt der Begriff der Biomacht bei Hardt und Negri noch zu wenig ausgearbeitet. Die Probleme, die schon in der Analyse von Empire auftauchten, werden nicht gelöst, sondern sogar verschärft. So stellen sie die These von Multitude nicht als Korrekturen, sondern als Ergänzungen zu Empire dar. Dazu kommt, dass sich Hardt und Negri erneut nicht mit den Widersprüchen beschäftigen, die ihre historische Rekonstruktion wie auch ihre rigide Kontraposition von Empire und Menge betreffen. In einigen Passagen ihrer Schriften lässt sich die Biomacht als post-staatliche Form der Ausübung von Souveränität interpretieren. Allerdings blendet auch diese Möglichkeit die Frage danach aus, was eigentlich die Biomacht charakterisiert. Diese wurde von Foucault konzipiert, um die Ausübung einer Macht zu erklären, die sich nicht nach dem Modell der Repression und Ausbeutung erklären lässt und unmittelbar auf die Lebensprozesse zielt. Im Gegensatz dazu bleibt der Begriff der Biomacht bei Hardt und Negri im Erklärungsmodell der Macht als Repression verhaftet. Begriffe wie »Globale Governance« und »Kontrollgesellschaft« werden deshalb in diesem Ansatz nicht als gegenseitig, alternativ oder komplementär zur repressiven Macht vorgestellt. Vielmehr stellen diese bei Hardt und Negri eine quantitative und qualitative Verbreitung der Repression und der Ausbeutung dar, die keine Grenze mehr kenne. Für sie gibt es keinen Unterschied zwischen Reglementierung und Repression bzw. ist für sie die Reglementierung immer eine Form von Repression und Ausbeutung. Es erweist sich jedoch als schwierig, das Modell der Macht als Governance34 mit dem der Repression und Ausbeutung zu versöhnen.

34 Obwohl Hardt und Negri oft den Begriff »Governance« verwenden, ist hervorzuheben, dass sie diesen nicht problematisieren bzw. deutlich definieren. Deshalb ist z.B. unklar, ob sie damit auf den Foucaultʼschen Begriff der Gouvernementalität hinweisen. Zudem wird das Verhältnis zwischen Governance und Biomacht nicht erklärt. Ist die Biomacht eine Form der Governance? Oder ist die Governance eine Form der Biomacht? Ist die Biomacht ein Teil der Governance? Diese Fragen werden in den Arbeiten von Hardt und Negri nicht berücksichtigt. Diese Lücke führt zu einer Reihe von Missverständnissen, nicht nur hinsichtlich der Biopolitik, sondern auch in Bezug auf den Begriff des Empire, wie Negri selbst betont (Negri 2003b, 19).

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3.4 P ROBLEME UND P ERSPEKTIVEN DER K ONZEPTION DER B IOPOLITIK BEI H ARDT UND N EGRI Hardts und Negris theoretisches System bildet einen grundlegenden Bezugspunkt für die Analyse der mit der Globalisierung verbundenen sozialen und politischen Prozesse. Diese Zentralität in dem wissenschaftlichen Diskurs ist nicht nur auf den kommerziellen Erfolg ihrer Arbeiten und der Verbreitung ihrer Thesen in den sozialen Bewegungen zurückzuführen. Vielmehr liegt der Wert des Werks von Hardt und Negri darin, dass sie neue Begriffe und Perspektiven für die Analyse der globalen Gesellschaft eingeführt haben und die Diskussion über die Formen des emanzipativen politischen Handelns reanimiert haben (vgl. Pieper u.a. 2007). Das begriffliche Paar biopolitische Produktion/Biomacht spielt eine strategische Rolle in dem theoretischen System von Hardt und Negri. Wie schon in der Rekonstruktion ihres Aktualisierungsversuchs des Begriffs der Biopolitik erwähnt, lassen sich in dieser Theoretisierung jedoch einige strukturelle Probleme erkennen, die in diesem Kapitel eingehender analysiert werden. Prinzipiell lassen sich drei kritische Punkte identifizieren, die in der Rezeption der Darstellung der Biopolitik bei Hardt und Negri kritisiert werden. Das erste Problem betrifft das spannungsgeladene Vorhaben, eine große Erzählung zu formulieren und zugleich eine Analytik der Biopolitik zu definieren. Das zweite dreht sich um die Konzeption des politischen Handelns und das dritte schließlich bezieht sich auf den ontologischen Lebensbegriff von Hardt und Negri. 3.4.1 Große Erzählung und Analytik Hardt und Negri behaupten, die Absicht zu haben, eine große Erzählung zu konzipieren. Ihre Idee besteht allerdings darin, eine große »postmoderne« Erzählung zu schreiben, die im Gegensatz zu ihrem modernen Pendant jedoch weder teleologisch noch geschichtsphilosophisch sein soll. Vielmehr müsse dieses Narrativ an die Kämpfe und die materiellen Bedingungen der Produktion anknüpfen (vgl. Negri 2003a). Trotz dieser Prämisse wird dieses Projekt nicht erfüllt und ihre Perspektive verrät ein teleologisches und geschichtsphilosophisches Residuum, obwohl die Autoren keine dialektische Logik der Geschichte entwickeln und sich lediglich auf die Definition einer Logik der Gegenwart beschränken. Zwar behaupten Hardt und Negri, dass das Empire wie auch die biopolitische Produktion und die Biomacht Ergebnis eines historischen Prozesses seien, doch führt ihre Idee der großen Erzählung zur Bestimmung philosophisch-materialistischer Prinzipien, die die Gegenwart prägen würden. Sie sprechen durchgehend von zwei Prinzipien, die BioProduktivität der Menge und die parasitäre Struktur des Regimes der Biomacht. Da-

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rüber hinaus ist dieses Projekt der großen postmodernen Erzählung mit dem Wunsch verbunden, die politische Militanz durch ihre große Erzählung zu inspirieren. Das Ergebnis dieser politischen und theoretischen Ansprüche wird von Lemke als »eine wohlüberlegte Dramaturgie« beschrieben (Lemke 2007a, 87). Damit verweist er auf die kämpferische Konfrontation zwischen der beständig positiven Multitude und dem parasitären Empire, die der postmodernen Erzählung von Hardt und Negri zugrunde liegt (ebd.). Diese binäre Vorstellung der Biopolitik (vgl. Schultz 2008) wird am deutlichsten von dem Prinzip der Korruption dargestellt, das die imperiale Souveränität und die Ausübung der Biomacht bestimme. Im Empire herrscht überall Korruption. Sie ist Eckpfeiler und Schlüsselelement von Herrschaft. Sie findet sich in unterschiedlichen Formen auf der obersten Regierungsebene des Empire und in deren Vasallen-Verwaltungen, bei den elitärsten und den verrottetsten Polizeikräften, in den Lobbies der herrschenden Klassen, in den mafiösen Strukturen aufstrebender Gesellschaftsgruppen in den Kirchen und Sekten […]. Durch Korruption legt die imperiale Macht einen Rauchschleier über die Welt, und das Kommando über die Menge wird inmitten dieser stinkenden Wolke ausgeübt, fernab von Licht und Wahrheit. (Hardt und Negri 2002, 396)

Hierbei wird Korruption nicht analytisch, sondern als metaphysisches Prinzip dargestellt. So grundlegend und strukturell die Korruption sei, so wenig empirisch und analytisch wird sie von Hardt und Negri untersucht. Ihre Argumentation beruht erneut auf der Vorstellung, dass die Menge produktiv und demokratisch sei, während das Empire durch Korruption gekennzeichnet sei. Zudem spezifizieren die Autoren nicht, warum die Multitude bzw. die biopolitische Produktion nicht korrumpiert werden könne, während im Gegensatz dazu das Regime der Biomacht immer zur Korruption tendiere. Diese Darstellung verdeutlicht, dass Hardts und Negris Intention, eine große Erzählung zu konzipieren, unmittelbar zur geschichtsphilosophischen Argumentation führt. Wie in jeder Geschichtsphilosophie existiert auch in ihrem Ansatz das, was sich als »Problem der Analytik« definieren lässt. Wenn die Biomacht über allem sei und infolgedessen die Korruption über alle herrsche, dann wird eine Definition der Biomacht unmöglich. Es ist dann nämlich nicht zu bestimmen, was der Gegenstand der Biomacht ist und durch welche Praktiken sich die Ausübung dieser Macht im Unterschied zu anderen Mächten verwirklicht. Diese Unmöglichkeit der Analytik der Biomacht bei Hardt und Negri wird sowohl von Soziologen wie Rabinow und Rose als auch von Gesellschaftstheoretikern wie Marzocca thematisiert (vgl. Rabinow und Rose 2006 sowie Marzocca 2006). Giovanni Arrighi betont die analytischen Schwächen der Perspektive von Hardt und Negri mit diesen Worten: »Die meisten Probleme rühren wohl daher,

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dass Hardt und Negri großes Vertrauen in Metaphern und Theorien haben, dagegen die empirische Gültigkeit ihrer Argumentation systematisch vernachlässigen« (Arrighi 2003, 15). Die Metaphern bilden so zwar den Horizont für die Definition der postmodernen Erzählung, doch führen sie bei Hardt und Negri nicht zur Entwicklung eines hermeneutischen Rahmens für die Interpretation von empirischen Fakten. Vielmehr werden sie zu geschichtsphilosophischen Prinzipien, die unmittelbar in eine Teleologie führen, wie ihr Vertrauen in die Möglichkeit der Emanzipation der Menge von dem kapitalistischen Kommando zeigt. Trotz dieser strukturellen Probleme bietet die Idee der großen (geschichtsphilosophischen) Erzählung auch theoretische Vorteile. Réal Fillion schlägt daher eine positive Lesart des Systems von Hardt und Negri gerade als Geschichtsphilosophie vor. Fillion zufolge ist Empire weniger als Theorie des Empire zu lesen (Fillion 2005, 48); vielmehr liege Hardts und Negris Leistung darin, eine neue Form von Souveränität und dementsprechend eine neue Art der Produktion von Normen intelligibel zu machen (ebd., 49). Diese Interpretation verweist implizit auf das analogische Denken, das die philosophische Produktion in Italien charakterisiert. Diese Fähigkeit oder Potenz, einen neuen theoretischen Rahmen zu entwickeln, stellt die theoretische Leistung von Hardt und Negri dar. Sie akzeptieren nicht, dass der einzige theoretische, aber auch soziale und politische Horizont die von der liberalen Gouvernementalität geprägte Gesellschaft – wie z.B. bei Nikolas Rose – bildet (vgl. Rose 2007). Sie versuchen durch ihre große Erzählung, den Raum für eine affirmative Konfliktualität wieder zu öffnen. Leider behindern die analytischen Schwächen ihres Ansatzes auch eine produktive Theoretisierung des politischen Handelns. 3.4.2 Das Politische und das Biopolitische Es kann paradox erscheinen, dass die Theorie von Hardt und Negri für ihr Defizit in puncto politisches Handeln kritisiert wird, da sie ihre Werke und ihre wissenschaftliche Tätigkeit gerade auch als politisches Handeln verstehen. Das Problem dieser Annahme liegt allerdings nicht darin, dass sie sich einer objektiven und neutralwissenschaftlichen Sichtweise entziehen. Vielmehr liegt die Schwierigkeit darin, dass sie ihre konfliktuelle und militante Sichtweise nicht ausreichend entfalten. Das Paradox bei Hardt und Negri lässt sich als Paradox der Immanenz bezeichnen. Zum einen erklären sie es zu ihrem strategischen Ziel, ein politisches Subjekt – die Menge – zu bilden oder zumindest zu imaginieren; zum anderen ist aber das Entstehen dieses neuen politischen Subjekts bereits das immanente Ergebnis der biopolitischen Produktion. Vor allem ist es problematisch, das Verhältnis von Immanenz und politischem Handeln im Rahmen der von ihnen theoretisierten biopolitischen Produktion zu denken, die – wie schon im zweiten Kapitel analysiert – unmittelbar politisch, kommunikativ, sozial und nicht hierarchisch ist. Wenn aber die

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biopolitische Produktion schon direkt zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse führt, warum sollten sich die biopolitischen Akteure dann überhaupt politisch engagieren? Wenn die biopolitische Produktion immanent Kooperation und Emanzipation in Kraft setzt, warum sollten die Bürger politisch handeln? Zudem bestimmen die Kämpfe zur Überwindung des Regimes der Biomacht und der Kontrollgesellschaft Hardt und Negri zufolge bereits die gegenwärtige politische Lage. Allerdings scheint ihr Enthusiasmus bezüglich der Überwindung der Grenzen zwischen (bio-)politisch und nicht politisch bzw. zwischen dem Politischen und dem Produktiven wenig plausibel. Vielmehr ist diese Umstrukturierung des Politischen kritisch zu analysieren und zu konzeptualisieren. Alex Demirović argumentiert gegen die optimistische Prognose von Hardt und Negri, indem er die »Schwierigkeiten und die relativen Niederlagen« der Kämpfe um Emanzipation, für die Verteidigung der Rechte und für die Verbesserung der Lebensbedingungen berücksichtigt (Demirović 2004, 238f.). Demirović hebt zu Recht hervor, dass das Problem der politischen Theorie von Hardt und Negri in der Gegenüberstellung von Vermittlung und Immanenz bestehe (ebd., 249). Es ist zu betonen, dass Hardt und Negri die Idee der Vermittlung unmittelbar auf die leninistische Vorstellung der Partei und der repräsentativen Demokratie zurückführen. Aus dieser Perspektive wird von ihnen Vermittlung als Funktion der modernen hegelianischen Vorstellung der Souveränität interpretiert, die in einer direkten, von der immanenten biopolitischen Produktion geprägten, Demokratie überwunden werden müsse (vgl. Negri 2003a). Im Gegensatz dazu erklärt Demirović im Anschluss an die kritische Theorie, dass die Vermittlung vielmehr als »notwendige[r] Zusammenhang innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses« zu interpretieren sei (Demirović 2004, 249). Die Interpretation der Vermittlung als Delegieren und Vertreten bei Hardt und Negri ist insofern beschränkt, weil sie nicht berücksichtigt, dass auch eine direkte Demokratie eine Vermittlung zwischen den verschiedenen sozialen Akteuren benötigt. Das Verschwinden oder die Begrenzung der Vermittlungsfunktion lässt sich de facto auch als Verschwinden des Politischen als solchen interpretieren. Auch die italienische Philosophin Laura Bazzicalupo distanziert sich kritisch von Hardts und Negris Ablehnung der Vermittlungsfunktion politischen Handelns. Im Gegensatz zu Hardt und Negri behauptet Bazzicalupo, dass je mehr die biopolitischen und bio-ökonomischen Regierungen das Leben regulierten, desto notwendiger werde die politische Vermittlung (vgl. Bazzicalupo 2006, 99, 133f.). Die Schwierigkeit liegt nicht in Hardts und Negris Konzeption der Immanenz der biopolitischen Produktion, d.h. in der Untrennbarkeit zwischen dem Politischen und der Produktion. Jedoch wird diese Immanenz theoretisch nur unzureichend entwickelt (vgl. Lemke 2011, 121 und Saar 2013, 186) und infolgedessen berücksichtigen sie die Hypothese nicht, dass Immanenz und Vermittlung nicht in Opposition zueinander interpretiert werden könnten. Im Gegensatz zu ihrer These könnte

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demnach argumentiert werden, dass sich auch die Vermittlungsfunktion immanent entwickeln kann. Sie reduzieren die Immanenz auf ein ontologisches Prinzip, das die Verkopplung von Produktivem und Politischem gewährleistet. Dazu kommt nicht nur eine Lücke in der Analytik der Machtverhältnisse und der Dispositive, die mit dem Regulierungsprozess der Produktion verbunden sind (vgl. Marzocca 2006), sondern auch ein Defizit in der Theorie des politischen Handelns. Die Fragen nach der Bedeutung des politischen Handelns sowie nach der Art der Organisation des Politischen werden von Hardt und Negri nicht beantwortet. In der Empire-Trilogie gibt es keine politische Theorie als solche. Vielmehr lässt sich von einer Forderung an die biopolitischen Produzenten sprechen, ihre produktive Fähigkeit auch für die Strukturierung des politischen und institutionellen Raums einzusetzen. Dieser Appell ist zu wenig für eine Theorie des politischen Handelns. Dieses Defizit taucht deutlich in der Theoretisierung der Menge bei Hardt und Negri auf. Der Begriff der Multitude ist zugleich einerseits eine der wichtigsten Leistungen ihrer Arbeit und andererseits eine nur unzureichend definierte gesellschaftstheoretische Kategorie. Es ist anzuerkennen, dass sie durch den Begriff der Multitude die Prämisse für die Definition eines politisch-sozialen Subjekts setzen, das weder durch einen nationalen noch beruflichen Identifikationsprozess konstituiert wird. Die Multitude lässt sich immanent durch die Praxis und das Teilhaben an konstituierenden politischen Prozessen definieren. Allerdings liegen gerade in der Definition der Praxis die Probleme, da für Hardt und Negri diese Praxis immanent aus den biopolitischen Produktionsverhältnissen entwickelt wird. Marianne Pieper betont daher, dass diese »allgemein gehaltenen Perspektiven zur Selbstkonstituierung und der Herstellung des ›Communen‹ eher vage und ephemer« erscheinen (Pieper 2007, 237). Zwar können verschiedene subversive und konstitutive Praktiken beobachtet werden, jedoch können diese – wie Piper bemerkt – nicht so unmittelbar verkettet werden, wie Hardt und Negri andeuten (ebd., 236-237). Vielmehr ist zu thematisieren, wie und durch welche Praktiken die biopolitischen Akteure sich in der Menge anerkennen und an dem Projekt der konstituierenden Macht teilnehmen können. Diese Praxis oder Theorie des politischen Handelns kann nicht in einer binären Perspektive, in der die Menge als Gegensatz des Empire gedacht wird, gefunden werden. Wie Adolphs verdeutlicht, sind Empire und Multitude miteinander verbunden und auch die Produktivität der Menge kann als Sicherheitsdispositiv fungieren (Adolphs 2011, 155). Damit sich die Menge als kämpferische und emanzipative Bewegung konstituieren kann, ist es fruchtbarer, an politische Strategien wie Streik oder Sabotage anzuknüpfen, die in den Schriften Negris der 1970er und 1980er Jahre im Rahmen der Analyse der operaio sociale formuliert wurden. In diesen Schriften wird eine politische Praxis thematisiert, die zur Bestimmung einer konstituierenden Macht beitragen könnte. In der Empire-Trilogie wird sie von der Idee er-

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setzt, dass die politischen Folgen dieser Strategie bereits in der biopolitischen Produktion wirken. Dies stellt eine theoretische Entwicklung dar, die aus politischer Sichtweise unglücklich ist. 3.4.3 Lebensbegriff und Biopolitik bei Hardt und Negri Wie schon erwähnt, ist der Lebensbegriff von Hardt und Negri eher kritisch rezipiert worden. Susanne Schultz spricht von einem »ganzheitlichen Lebensbegriff« (Schultz 2011, 133), der sich von der historischen und genealogischen Perspektive unterscheide und von einer ontologisch-unkritischen Theoretisierung charakterisiert sei (ebd.). Auch Thomas Lemke und Ottavio Marzocca kritisieren die Konzeption des Lebensbegriffs bei Hardt und Negri, indem sie an Foucaults Analytik der Biopolitik anknüpfen (vgl. Lemke 2011; Marzocca 2007). Während bei Foucault das Leben das Ergebnis von Wissenspraktiken sei, verwendeten Hardt und Negri einen ontologischen und »über-historischen« Lebensbegriff (Lemke 2011, 122). Wenn der Lebensbegriff von Hardt und Negri mit der Analyse des Lebensbegriffs bei Agamben verglichen wird, taucht noch ein weiteres Problem auf. Agamben interpretiert die Geschichte der Metaphysik und infolgedessen auch die ontologischen Diskurse mithilfe des Begriffs der anthropologischen Maschine. Dadurch verdeutlicht er, dass jeder Diskurs bzw. jede Definition des Lebens politische Folgen für das Leben der Menschen wie auch der Tiere hat. Bei ihm wird dementsprechend die Ontologie problematisiert. Im Unterschied dazu ist der Ontologisierungsprozess bei Hardt und Negri eindeutig und mit den Produktionsverhältnissen verbunden. Problematisch ist nicht die Konzeption der Ontologie von Hardt und Negri per se, sondern deren fehlende Problematisierung. Stefanie Graefe zieht einen sehr interessanten Vergleich zwischen Agamben und Negri, in dem sie hervorhebt, dass der Lebensbegriff bei Hardt und Negri analog zu Agambens Begriff der Lebensform sei (vgl. Graefe 2011, 266). Beide Ideen der Ontologie würden sich auf die Immanenz und Potentia des Lebenden berufen. Während Agamben allerdings den Begriff der Lebensform als Potentia als Gegenstrategie zu thanatopolitischen Dispositiven formuliert, begreifen Hardt und Negri ihre Ontologie des Lebens als Potenz schon als Kern der aktuellen Produktionsverhältnisse. Beide Thesen sind problematisch. Während Agamben nur Dispositive der Kontrolle und Vernichtung sieht und Kämpfen gegen die biopolitischen Dispositive keine Bedeutung zuschreibt, erklären Hardt und Negri, dass Kämpfe um Emanzipation von den biopolitischen Dispositiven schon eine Rolle in der Entwicklung des Sozialen und des Politischen gespielt haben und spielen können; allerdings berücksichtigen sie nicht, dass das Leben und die biopolitische Produktion nicht von einer Spinozistischen und Deleuze’schen Ontologie bestimmt wird. Vielmehr ist die Definition des Lebens immer das prekäre Ergebnis diskursiver Praktiken, die von der Biologie über

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die Ökonomie bis hin zur Medizin und Rechtswissenschaft reichen. Deswegen ist zu rekonstruieren, wie jeweils die operativen Bedeutungen des Lebens aufgebaut werden. Im Kontext der politischen Militanz kann der ontologisch-spinozistische Lebensbegriff von Hardt und Negri jedoch eine wichtige Aufgabe erfüllen. Erstens kann mit dessen Hilfe eine partizipative, demokratische und kritische Idee der Biopolitik entwickelt werden, die auf Emanzipation und soziale Integration der Akteure zielt. Zweitens kann er als Hintergrund für die Sichtbarkeit und Verbindlichkeit der Widerstandspraktiken fungieren. Grundlegend dafür ist allerdings, die Vorstellung aufzugeben, dass die Ontologie der Potentia in den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen hegemonial sei und dass diese Ontologie schon eine anthropologische Veränderung verursacht habe. Diese Konzeption des Lebens ist durchaus in der Lage, eine Analytik der Biopolitik zu informieren. Für die Entwicklung einer solchen ist es nicht notwendig, dass das Leben konzipiert werden kann, sondern wie das Leben konzipiert wird. Außerdem ist es grundlegend, eine polarisierte Perspektive zu vermeiden, die eine eindeutige Interpretation der Machtausübung nahelegt. Wenn die Perspektive der Biopolitik von Hardt und Negri mit den Kategorien des analogischen Denkens analysiert wird, kann das strukturelle Problem ihrer Forschungslogik begriffen werden. Sie lassen sich durchaus in die Tradition des analogischen Denkens einordnen. Begriffe wie Menge und Empire werden durch eine analogische Denkweise definiert und dienen dazu, die Krise der politischen Theorie nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus und der Emergenz der globalen Gesellschaft zu überwinden. Auch der von ihnen gesetzte ontologische und politische Vorrang der Konfliktualität lässt sich auf den Analogismus zurückführen. Allerdings definieren sie nicht wirklich, was eine Logik des Konflikts ist. Die Idee des Vorrangs der Konflikte ist unzureichend, wenn dieses Primat nicht in Bezug auf ihre Forschungslogik entwickelt wird. Für Negri wird der Vorrang der Konflikte von den Veränderungen in den Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen bewiesen. Allerdings ist diese Logik deterministisch und reduziert die Komplexität der Ereignisse de facto auf das Schema Ursache/Wirkung. Diese Logik tendiert zur Teleologie und entfernt sich von der Analytik, wie das Vertrauen Hardts und Negris in den Sieg der Menge zeigt. Für sie hat der Konflikt bereits einen Gewinner: die KämpferInnen der Menge. Obwohl dieser Optimismus als Trost für die eventuellen bitteren Niederlagen der sozialen und politischen Bewegungen im Kampf um Emanzipation fungieren könnte, führt er zu einer Unterschätzung der politischen Lage. Für Melandri kann die Vorstellung der Realität als Konfliktualität nicht durch das Schema Ursache/Wirkung erklärt werden. Die paradigmatischen Analogien werden eingesetzt, um eine Funktionsweise intelligibel zu machen, die nicht durch das logische Schema Ursache/Wirkung verstanden werden kann. Der Analogismus

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basiert vor allem auf der Neutralisierung der Dichotomien und auf der Formulierung einer bipolaren, interaktiven Analytik der Ereignisse, die sich als Ergebnis eines komplexen Konflikts nicht auf eine Ursache/Wirkung-Erklärung beschränken lassen. Im Unterschied dazu arbeiten Hardt und Negri mit dichotomen Kategorien wie Empire/Menge und biopolitische Produktion/Biomacht und berücksichtigen nicht, dass sich die Menge und die politische Produktion per se in einem permanenten und immanenten Konfliktfeld entwickeln. Infolgedessen kann die Ausübung der Biomacht von der Biopolitik weder analytisch noch ontologisch getrennt werden. Das (Bio-) Subjekt wird nicht von der Biomacht korrumpiert und ausgebeutet, sondern durch Dispositive produziert. Es ist keine Lücke in Foucaults Analytik der Machtverhältnisse, dass Biopolitik und Biomacht darin nicht als dichotome Begriffe eingesetzt und deswegen nicht unterschieden werden, und kann auch nicht als Residuum des Strukturalismus interpretiert werden, wie Hardt und Negri vermuten. Vielmehr ist es als ein Verdienst zu interpretieren und es ist daher notwendig, in der Forschung über die Biopolitik weitere hermeneutische Modelle zu formulieren, in denen die verwendeten Kategorien nicht als Dichotomien gedacht werden, und die Bildung der politischen und sozialen Subjekte mit der Ausübung einer Macht über das Leben der Subjekte zusammengedacht wird.

4. Roberto Esposito: Politik des Lebens und Politik des Todes Wenn das alte souveräne Recht, so könnte man sagen, das Leben vom Standpunkt der Verteilung des Todes betrachtet, so funktionalisiert die neue biopolitische Ordnung sogar den Tod im Rahmen der Erfordernis der Reproduktion des Lebens. Diese beharrliche Persistenz des Todes im Innern einer Politik des Lebens wird schon durch den singulären Umstand bestätigt, daß die größte internationale Anstrengung zur Organisation der Gesundheit – der sogenannte Beveridge-Plan – im Jahr 1942 unternommen wird, inmitten jenes Krieges, der 50 Millionen Menschen den Tod bringen würde. ROBERTO ESPOSITO, 2004C, 190.

Dieses Zitat kann als roter Faden der Theorie der Biopolitik des italienischen Philosophen Roberto Esposito angesehen werden. Im Unterschied zu Agamben auf der einen Seite und Hardt und Negri auf der anderen Seite interpretiert Esposito die Biopolitik nicht eindeutig. Vielmehr orientiert er seine Forschung anhand der paradoxalen, aber konstitutiven Verbindung von Thanatopolitik und Politik des Lebens. Indem er eine Reihe neuer Begriffe formuliert, versucht er die Zweideutigkeit der biopolitischen Prozesse intelligibel zu machen. Espositos Arbeiten eröffnen eine neue Phase der Forschung zur Biopolitik in Italien, in der die Forschungsinteressen der AutorInnen nicht länger darin liegen, den »Sinn« der Biopolitik zu verstehen. Nun fokussieren sie auf die Definition einer Analytik der Biopolitik, die die Ambivalenzen, die Zweideutigkeiten und die Interaktion von Wissen und Mächten sichtbar machen soll. Die Rezeption des Werks von Esposito hat in den letzten Jahren vor allem in angelsächsischen Ländern an Intensität gewonnen, wo fast alle seiner Arbeiten übersetzt worden sind. Zudem gaben wichtige wissenschaftliche Zeitschriften wie Diacritics und Angelaki Sonderausgaben zu seiner Philosophie im Jahr 2006 bzw. 2013 heraus (vgl. Camp-

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bell 2006; Bird und Short 2013). Obwohl das Interesse an Espositos Theorie mittlerweile auch in Deutschland angewachsen ist, sind bis heute nur wenige Texte übersetzt. Während die Frage nach der Biopolitik – oder wie Esposito sagen würde, die Frage nach dem bíos – sein Forschungsinteresse der letzten Jahre bildet, orientiert sich seine vorherige wissenschaftliche Produktion an der Dekonstruktion der modernen Kategorien des Politischen. Gerade diese Forschungen führten ihn dazu, die Frage nach der Biopolitik zu behandeln. Um seine Perspektive auf die Biopolitik verständlich zu machen, ist es notwendig, die Grundrisse seiner Philosophie darzulegen. Aus diesem Grund werden im ersten Kapitel die Forschungsmethode, die Themen und die Begriffe, die die philosophische Produktion von Roberto Esposito prägen und orientieren, erörtert. Im zweiten Kapitel wird Espositos Genealogie der Biopolitik dargestellt, die ihn zu der These führt, dass die Biopolitik durch das Paradigma der Immunisierung verstanden werden könne. Dieses Paradigma ist der Gegenstand des dritten Kapitels. Im vierten Kapitel liegt der Fokus auf Espositos Analyse der Interaktion zwischen politischen und biologischen Diskursen, die ihm zufolge modernen Versionen der Biopolitik zugrunde liegt. In dem fünften Kapitel wird Espositos Projekt einer affirmativen Biopolitik kritisch diskutiert und im sechsten Kapitel werden Probleme und Perspektiven dieser Analytik der Biopolitik dargestellt.

4.1 V OM D EKONSTRUKTIVISMUS ZUR G ENEALOGIE – VOM IMPOLITICO ZUR B IOPOLITIK In seiner Forschung arbeitet Esposito mit heterogenen Begriffen und Forschungsmethoden. Wichtig für ihn ist zunächst die Tradition der politischen Philosophie in Italien. Insbesondere Machiavelli und Vico bilden bedeutende Bezugspunkte für seine Forschung über das Politische. Sie werden regelmäßig sowohl in seinen älteren als auch in den jüngeren Arbeiten berücksichtigt. Von ihnen übernimmt er vor allem die Idee, dass das Politische durch eine interne und permanente Konfliktualität gekennzeichnet sei. Wie er in einer seiner neuesten Arbeiten Pensiero vivente hervorhebt, ist die Interpretation des Konflikts als konstitutives Element des Politischen, die die philosophische Produktion in Italien von anderen wissenschaftlichen Traditionen unterscheidet. Aus diesem Grund bieten die italienischen Philosophen für Esposito die »Werkzeuge« für eine Dekonstruktion der Theorie der Souveränität dar, die von ihm als Lösung der sozialen (und ontologischen) Konfliktualität angesehen wird, die im Lauf der Moderne entstanden sind (vgl. Esposito 2010a). Die italienischen Wurzeln der Perspektive Espositos stellen nur einen Teil seiner theoretischen Bezugspunkte dar. Er beschäftigt sich in seinen Arbeiten zudem

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mit den wichtigsten Strömungen des französischen Poststrukturalismus und den Kritikern der metaphysischen Tradition wie Nietzsche, Heidegger und Bataille. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Esposito entscheidend an der Rezeption von heterodoxen politischen PhilosophInnen wie Georges Bataille und Simone Weil in Italien mitgewirkt hat. Es kann behauptet werden, dass er in seinen ersten Schriften dazu tendiert, diese gegenseitigen Traditionen zu verflechten. Es lassen sich darin einige Elemente beobachten, die seine philosophische Produktion neben diesen frühen Arbeiten auch in seinen Werken über die Biopolitik charakterisieren. Zunächst fokussiert sich Esposito auf die Rekonstruktion der semantischen Verschiebungen, die innerhalb einer wissenschaftlichen Tradition oder in den Werken eines/r einzelnen Autors/Autorin auftauchen. Diese Mutationen der Semantik werden von ihm als Zeichen der Krise eines kategorialen Horizonts interpretiert. Eine solche Krise führe zu dem Erfordernis, den theoretischen Rahmen zu erweitern. Dieser Erneuerungsprozess entwickele sich nun entweder durch die Einführung eines neuen Lexikons oder durch die Redefinition des Bedeutungsfelds der Begriffe. Diese theoretische und methodologische Orientierung wird Esposito dazu führen, die Einführung des Lexikons der Biologie und der Medizin in die politischen Diskurse und die daraus resultierenden Folgen zu erforschen. Die wissenschaftliche Produktion Espositos lässt sich in zwei Phasen einordnen. Die erste Phase seiner Forschung ist von dem Dekonstruktivismus geprägt, wie Esposito selbst behauptet (Esposito 2010b, 90). Das 1988 erschienene Buch Categorie dell’impolitico kann als seine wichtigste Arbeit dieses Abschnitts angesehen werden. Die Forschung zur Biopolitik bildet den Hintergrund der zweiten Phase der philosophischen Produktion Espositos. Zur dieser Phase gehören die Schriften, die einige KommentatorInnen Espositos als »Trilogie der Biopolitik« interpretiert haben (vgl. Campbell 2008). Diese Trilogie umfasst laut Campbell die Arbeiten Communitas, Immunitas und Bíos, die zwischen dem Ende der 1990er Jahre und dem Beginn der 2000er Jahre veröffentlicht wurden. Diese bibliographische Interpretation kann insofern verwirren, da in Communitas im Grunde keine biopolitische Frage auftaucht und diese Arbeit sich noch eher in die Tradition des philosophischen Dekonstruktivismus einordnen lässt. Allerdings tauchen bereits in dieser Arbeit einige Begriffe auf, die grundlegend für Espositos Formulierung einer affirmativen Biopolitik sind. Diese zweite Phase seiner philosophischen Produktion ist methodologisch von der Foucaultʼschen Diskursanalyse geprägt. Außerdem folgt er der Deleuze’schen Idee der Philosophie als Produktion von Begriffen (vgl. Esposito 2010b und Deleuze 2003). In Communitas beschäftigt sich Esposito mit der Frage nach der Gemeinschaft, die die philosophische Debatte in Frankreich und Italien in den 1980er und 1990er Jahren prägte. In Immunitas stellt er die These auf, dass die moderne Philosophie

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des Politischen von einer immunitären Ausrichtung geprägt sei. Darüber hinaus ist dies die erste Arbeit Espositos, in der er sich mit der Frage der Biopolitik beschäftigt. Immunitas markiert zudem eine wichtige methodologische Wende in seiner Forschung. Der Dekonstruktivismus wird darin von einer Diskursanalyse der Interaktion von verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen ersetzt, die stark von Foucault beeinflusst ist. Allerdings lassen sich Elemente der dekonstruktivistischen Methodologie sowohl in diesen und als auch in seinen jüngsten Arbeiten erkennen. Die biopolitische Frage steht im Zentrum von Bíos, in dem die Biopolitik durch das Paradigma der Immunität interpretiert wird. Das Interesse Espositos an dem Thema der Biopolitik prägt auch seine jüngsten Arbeiten wie Terza persona und Pensiero vivente. Während Terza persona von der Analyse und der Genealogie des Dispositivs der Person handelt, fokussiert Pensiero vivente auf die biopolitischen Wurzeln der italienischen Philosophie. Diese zwei Arbeiten sowie einige kleinere Schriften sind grundlegend für das Verständnis von Espositos Perspektive auf die Biopolitik. Eine generelle Tendenz der Schriften Espositos ist ihr »offener Schluss«. Das Ende jedes seiner Arbeiten beinhaltet bereits den Umriss seines nächsten Forschungsgegenstands. Bevor sich die Rekonstruktion der Analytik der Biopolitik zuwendet, sollen einführend die in den ersten Werken formulierten Ideen Espositos über das Politische und die von ihm formulierte Dialektik des munus erörtert werden, da diese grundlegend für das Verständnis seiner Interpretation der Biopolitik sind. Deswegen wird in dem nächsten Abschnitt seine Konzeption des Politischen in seiner Arbeit Categorie dell’impolitico analysiert. Die Dialektik des munus wird in dem zweiten Abschnitt erläutert. 4.1.1 Die Konzeption des Politischen bei Esposito Wie bereits erwähnt sind die ersten Arbeiten Espositos sowohl inhaltlich als auch methodologisch von dem französischen Dekonstruktivismus beeinflusst. Allerdings konzentriert er sich weniger auf die Problematik des Seins und der Sprache wie beispielsweise Derrida und fokussiert sich vielmehr auf die Dekonstruktion der modernen politischen Kategorien. Ein kurzer Überblick über die Thesen, die Esposito in dieser Phase formuliert, kann deswegen sehr nützlich für das Verständnis seiner Konzeption des Poltischen sein, die auch seiner Analyse der Biopolitik zugrunde liegt. Categorie dell’impolitico – dt. Kategorie des Unpolitischen – ist das Hauptwerk dieser Phase und wurde von Esposito am Ende der 1980er Jahre veröffentlicht (Esposito 1999). In dieser Zeit war die politologische Debatte in Italien von der

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politischen Philosophie Carl Schmitts stark beeinflusst. Die Arbeit Espositos muss daher innerhalb dieses kulturellen und politischen Milieus interpretiert werden. 1 Der Titel des Buchs verweist explizit auf zwei Arbeiten – die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann und Der Begriff des Politischen von Carl Schmitt. Allerdings erklärt der Autor bereits in der Einführung seiner Arbeit, dass sich sein Begriff des »impolitico«2 von Schmitt und Mann stark unterscheide (vgl. ebd., 7). Aber was versteht Esposito unter »impolitico«? Zunächst betont er, dass impolitico nicht mit dem Apolitischen oder Antipolitischen übereinstimme. Im Gegensatz dazu könne impolitico sogar als Widerlegung sowohl des Antipolitischen als auch des Apolitischen interpretiert werden, da die Perspektive des impolitico zeige, dass kein Raum jenseits des Politischen denkbar sei. Laut ihm ist impolitico das Politische, das von seinen externen Grenzen analysiert wird (ebd., 20). Deshalb sei impolitico vielmehr ein »kategorialer Horizont« (ebd., 8), der auf die Dekonstruktion des politischen Diskurses ziele, um die Vollendung des Politischen hervorzuheben. Esposito definiert das impolitico vor allem negativ, wie einer seiner neusten Aufsätze in deutscher Sprache3 zeigt: Das Unpolitische ist keine Ideologie, weil es alle traditionellen Gegensätze der modernen Politik zerlegt – angefangen von denen zwischen rechts und links, konservativ und progressiv, Reaktion und Revolution. Aber das Unpolitische ist auch keine Philosophie der Politik, weil es keine funktionale, instrumentelle Beziehung zwischen Philosophie und Politik etabliert. (Esposito 2010b, 91)

Allerdings kritisiert Esposito mittels der Kategorie des impolitico nicht den politischen Diskurs als solchen. Vielmehr betrifft seine Kritik jede Form von politischer Theologie. Der von ihm benutzte Begriff politischer Theologie kann jedoch nicht unmittelbar auf die Schmittʼsche Begrifflichkeit zurückgeführt werden. 4 Dagegen verweist er mit dem Begriff der politischen Theologie auf eine Perspektive, in der

1

Die wichtigsten Referenzen für die Debatte über Carl Schmitt in Italien sind die Arbeiten von Carlo Galli, Mario Tronti und Massimo Cacciari (vgl. Galli 2010).

2

Obwohl Esposito – wie schon erwähnt – impolitico von dem Unpolitischen Manns übernimmt, bevorzuge ich, den italienischen Begriff zu verwenden. Der Unterschied zwischen dem »impolitico« Espositos und dem »Unpolitischen« Manns ist so groß, dass der Gebrauch des Substantivs »Unpolitisch« zu einem Missverständnis führen könnte.

3

Es handelt sich um den Essay Vom Unpolitischen zur Biopolitik, in dem Esposito die Entwicklung seiner philosophischen Produktion rekonstruiert (vgl. Esposito 2010b).

4

Esposito setzt sich in seiner Arbeit mit einigen Aspekten der politischen Philosophie von Carl Schmitt auseinander, allerdings ist sein Fokus weniger das Thema der politischen Theologie als vielmehr der Begriff der repraesentatio (vgl. Esposito 1999).

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das Politische dem Verhältnis zwischen der Macht und dem Guten zugrunde liegt, oder besser gesagt, kritisiert Esposito den Anspruch der Macht, für das Gute zu handeln (Esposito 1999, 10). Deshalb seien »impolitici« die AutorInnen, oder auch jede Rede, jeder Diskurs und jede Aussage, die die »Übersetzbarkeit« der Macht in positive oder affirmative Werte in Frage stellten (ebd., XVII). Durch eine komplexe Genealogie, die von der Auseinandersetzung zwischen Schmitt und Guardini über die repraesentatio, über die Überlegungen von Cannetti und Bloch bis hin zu den heterodoxen Schriften von Simone Weil und Georges Bataille reicht, entwickelt Esposito eine Art, das Politische zu analysieren, die an der Dekonstruktion des Dispositivs der politischen Theologie orientiert ist (vgl. Esposito 1999). Zentral in der Definition des (Un-)Politischen bei ihm ist die Annahme, dass die Kritik des politischen Diskurses mit der kritischen Dekonstruktion der Metaphysik zusammenfalle. Esposito lehnt insofern jede Vorstellung von Transzendenz ab. Seine Forschungsperspektive – wie schon bei Agamben – beruht auf der Vermutung, dass ein direktes Verhältnis von Ontologie und Politik existiere. Ihm zufolge bestimmt daher jede Definition des Seins, des Wesens, des Menschen eine besondere Produktion von politischen Diskursen, Normen und Institutionen (ebd.). Das impolitico sei deshalb als aktive Strategie gegen das Dispositiv der politischen Theologie zu verstehen, aber auch gegen jeden Versuch, die Realität zu entpolitisieren. Ferner wird das impolitico von Esposito als die Einsicht begriffen, dass Institutionen, Normen und Gesetze keine Darstellung von transzendentalen Wesen sind. Vielmehr seien diese als das Ergebnis von immanenten Kämpfen zu verstehen (ebd., XXV). Anders als die politischen Theologien – denen die Vermutung zugrunde liege, dass das politische Handeln zu einer verlorenen oder noch nicht erreichten Ordnung tendieren müsse – zeige das impolitico, dass das Politische durch Krisen, Kämpfe und Konflikte gekennzeichnet sei (ebd., XXVI). Das Politische wird von Esposito deshalb als der Diskurs gedacht, der mit der politischen Theologie und mit dieser verknüpften transzendentalen Metaphysik bricht. Infolgedessen stellt er auch eine politische Tradition in Frage, die die Einheit der antiken griechischen Polis als Ursprung des politischen Diskurses setzt, der von dem »Gift der Technik« korrumpiert worden ist.5 Im Anschluss an Machiavelli und andere AutorInnen behauptet Esposito, dass der Ursprung des Politischen nicht die Einheit der Polis sei (Esposito 2010b, 93). Diese sei im Gegenteil von Dualität und Konflikten charakterisiert.6 Auf diese Weise erscheine das Politische als der Raum, in dem

5

Esposito verweist insbesondere auf die Perspektive von Schmitt, Weber und Arendt, die trotz der radikalen Unterschiede ihrer Theorien behaupten, dass die Entwicklung der Technik zu einer Degeneration des Politischen führe (Esposito 1999, XXV).

6

Das Thema des Ursprungs wird von Esposito auch in seiner Arbeit Pensiero vivente behandelt. Im Unterschied zu den ersten Formulierungen wird hierbei jedoch das Verhältnis

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Sein gebildet werde. Allerdings sei dies nicht als eine Ebene der Realität zu denken, die nicht von dem Politischen gekennzeichnet sei (Esposito 1999, XV). Dazu kommt, dass für Esposito das Politische weniger ein Bereich oder Raum neben anderen ist. Vielmehr konzipiert er die Politik als Tätigkeit, die immanent und permanent das Dasein in Frage stellt und neu schafft. Diese Vorstellung des Konflikts als Kern des Politischen ist nicht nur ein Charakteristikum, das er mit der Tradition der italienischen politischen Philosophie verbindet, wie er selbst in Pensiero vivente thematisiert. Es ist zugleich eine These, die in seinen Arbeiten über die Biopolitik wieder auftaucht. Hierbei ist seine positive Darstellung des Konflikts hervorzuheben. Der Konflikt ist für Esposito nicht als eine Situation zu verstehen, die die politischen Institutionen in Gefahr bringt. Vielmehr erlaube dieser eine neue Definition der Institutionen. Ein Verdienst seiner These ist die Trennung von Konflikt und Gewalt – letztere kennzeichne eher die konstituierte Ordnung. Die Konfliktualität hingegen wird von ihm mit der Idee assoziiert, eine Ordnung in Frage stellen zu können und diese neu zu definieren. 4.1.2 Die Dialektik des munus Unter der Dialektik des munus ist eine Logik der Konstitution des Politischen zu verstehen, die von Esposito formuliert wird, um die Kategorie des Politischen zu dekonstruieren und zu erneuern. Diese Dialektik wird zuerst in den Büchern Communitas und Immunitas definiert und dann in Bíos eingesetzt, um die Biopolitik zu verstehen. In diesem Abschnitt liegt der Fokus weniger auf dem Verständnis der These der beiden genannten Arbeiten, sondern vielmehr auf der Bedeutung des Begriffs munus und der Dialektik, die mit diesem verbunden ist. Im Mittelpunkt von Communitas steht die Frage nach dem Ursprung der Idee der Gemeinschaft. Die Auseinandersetzung über eine post-metaphysische und postidentitäre Idee der Gemeinschaft war eine der wichtigsten Themen in der philosophischen Debatte in Italien und Frankreich in den 1980er und 1990er Jahren. Die wichtigsten Referenzen zum Thema bilden die Arbeiten von Jean-Luc Nancy und Maurice Blanchot, die durch eine Analyse des Werks des Philosophen Georges Bataille eine neue Problemstellung in Bezug auf die Frage nach der Gemeinschaft untersuchten (vgl. Nancy 1988; Blanchot 2007). Die Zentralität des Werks Batailles in dieser Auseinandersetzung ist nicht zufällig, da er schon in der 1930ern eine Idee der Gemeinschaft formulierte, die mit der faschistischen Idee der Volksgemeinschaft konkurrierte. Das Relevante in Batailles Darstellung war die Negation jedes möglichen (sowohl biologischen als auch historischen und kulturellen) Identitäts-

von Leben und Politik statt dasjenige von Sein und Politik behandelt (vgl. Esposito 2010a).

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und Angehörigkeitsprinzips als Grund für die Gemeinschaft. Vielmehr seien die Abwesenheit einer Identität als solcher und die Leere des Daseins als Basis für die Gemeinschaft zu denken (ebd.). Diese Leere des Daseins als konstitutives Element der Gemeinschaft bildet auch den Hintergrund von Espositos Beschäftigung mit dem Thema der Gemeinschaft. Seine Forschung basiert auf einer etymologischen Analyse des Begriffs communitas, die den Sinn oder die Abwesenheit des Sinns der Gemeinschaft enthülle. Communitas ist nicht nur der Titel von Espositos Arbeit, sondern auch das lateinische Wort für Gemeinschaft, das aus dem Präfix cum – das als »mit« übersetzt werden kann – und munus zusammengesetzt ist. Das lateinische munus ist ein zweideutiger Begriff, der zugleich Pflicht und Gabe bedeutet. Besser gesagt betrifft es die Pflicht, eine Gabe zu erwidern. Esposito zufolge sind deswegen diese zwei Termini im Rahmen einer Interaktion zu interpretieren, sodass munus »die Pflicht, zu geben« bedeute. Die communitas als cum-munus basiert – so seine Annahme – konstitutiv auf dieser Pflicht zu geben. Espositos Interpretation beruht auf der ethnologischen Untersuchung von Marcell Mauss, der gezeigt hat, dass der Distributionszyklus vieler antiker Gemeinschaften auf der Pflicht des Wiedergebens der Gabe basierte. Anders als donum – das ein bedingungsloses Geschenk war – sei munus deshalb eine Gabe, »die man gibt, weil man geben muß und nicht nicht geben darf« (Esposito 20004b, 13, Herv. i. O.). Wenn das Leben in einer Gemeinschaft ursprünglich von dieser Praxis bestimmt war, ist Esposito zufolge ein Identitätsprinzip als Ursprung der Gemeinschaft unmöglich. Jede Identität ist in diesem theoretischen Rahmen als sozialkonstruktivistisch zu interpretieren. Er spricht jedoch nicht von Sozialkonstruktivismus, sondern konzentriert sich auf die philosophischen Implikationen dieser Theorie über den Diskurs des Seins. Nach seiner Einsicht ist das Dasein nur ausgehend von einem Leben mit anderen in einer Gemeinschaft verständlich. Aber dieses Zusammenleben gründe auf einer Praxis der Pflicht zur Gabe, sodass sich das Dasein in einer permanenten Spannung und Tendenz zur Abweichung entwickele. Zudem ist das Sein des Menschen für Esposito weniger Substanz, als Mutation oder interaktiver Prozess. Die Zweideutigkeit des Begriffs munus kann missverstanden werden und schon in den antiken Quellen ist dessen Bedeutung eher ambivalent (vgl. Lorey 2011). Darüber hinaus sind Pflicht und Gabe fast zwei gegensätzliche Begriffe. Wie die Rezeption des munus bei einigen deutschen AutorInnen zeigt, verleitet die Verwendung dieses Begriffs für die soziologische und politische Analytik zu Engführungen. Lemke beispielsweise interpretiert munus als »Bürde, Verpflichtung, Aufgabe und Amt« (Lemke 2012, 99), während Celikates es als »Pflicht, Schuld oder Bindung« bezeichnet (Celikates 2008). Obwohl beide Lesarten korrekt darlegen, dass Esposito den Ursprung der Gemeinschaft nicht in einer Substanz, sondern in einem Prozess erkennt, erklären sie nicht die Zweideutigkeit des munus und fokussieren

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nur auf das Element der Pflicht. Die Gabe als konstitutives und positives Element des munus wird in dieser Interpretationslinie nicht erklärt. Trotzdem Esposito selbst, vor allem in Immunitas, eher die Pflicht als die Gabe betont und keine weitergehenden Erklärungen anbietet, ist dieser Aspekt kontrovers. Das Problematische an dieser Interpretationslinie liegt darin, dass die Pflicht schon auf ein Politisches und Soziales verweist. Im Unterschied dazu bezeichnet munus einen Ursprung, in dem das Soziopolitische von dem Natürlichen noch nicht getrennt ist. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass der Ursprung bei Esposito keine zeitliche Dimension markiert. Vielmehr bildet der Ursprung ein Apriori, das immer im Hintergrund der sozialen und politischen Verhältnisse steht. Allerdings handelt es sich nicht um ein Wesen, sondern um einen Prozess oder eine Potentia, die die Möglichkeit der Entfaltung des Lebens definiert.7 Dieses Dilemma in Espositos Darstellung des munus8 lässt sich durch die Kategorien des analogischen Denkens lösen. Um die Zweideutigkeit des munus bei Esposito zu erklären, ist zunächst eine dionysische Regression notwendig, um zu berücksichtigen, dass im Ursprung Pflicht und Gabe nicht getrennt waren. Die Trennung von Pflicht und Gabe wie auch die Institutionalisierung und Identifizierung von Amt und Pflicht sind deswegen als historisches Ereignis zu konzipieren. Wenn nach den Regeln der analogischen Rationalität Pflicht und Gabe als dichotomische Größen neutralisiert werden und als Pole eines Spannungsfelds eingesetzt werden, lässt sich munus weder als Pflicht noch als Gabe verstehen. Vielmehr stellt es die Interaktion von diesen zwei Formen des sozialen Handelns dar. Das Existierende in dem munus ist die Interaktion. Der Identifikations- und Definitionsprozess wie auch die Differenzierung von Pflicht und Gabe ist wie schon erwähnt als historisches Ereignis zu konzipieren. Diese Unbestimmbarkeit des munus verweist vor allem auf eine ontologische Zirkularität, in der sich das Dasein und das Dasein mit

7

Diese Vorstellung des Ursprungs wird von Esposito in seiner Rekonstruktion des Italian Thought in der Arbeit Pensiero vivente im Anschluss an Vicos Idee der Geschichte definiert (vgl. Esposito 2010a).

8

An dieser Stelle muss verdeutlicht werden, dass Espositos Verständnis des Begriffs munus nicht die einzige mögliche Interpretation dieses Begriffs ist. Isabell Lorey bietet in ihrer Arbeit Figuren des Immunen eine andere, sehr interessante Interpretation des munus, die Espositos Lesart zum Teil kontrastiert. Loreys Forschung zeigt eine andere Ambivalenz in dem munus. Im Unterschied zu Esposito – der sich auf die Bedeutungslinie des munus als Abgabe fokussiert – zeigt Lorey, dass bei den meisten lateinischen Autoren munus nicht nur Abgabe, sondern auch Schutz bedeutet. Ausgehend von dieser Ambivalenz entwickelt Lorey eine Perspektive auf die Gemeinschaft, die Espositos Darlegung kontrastiert und eine andere Vorstellung der Interaktion von communitas und immunitas darlegt (vgl. Lorey 2011).

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den anderen in einer permanenten Bewegung oder Spannung von dem Erhalten der Gaben und der Pflicht des Wiedergebens entwickeln. Das Teilhaben an diesem Zirkulationsprozess – oder, mit anderen Worten, das Teilhaben an der Praxis der Pflicht-Gabe – bildet die Möglichkeit einer gemeinsamen Welt bzw. die Möglichkeit von Gemeinschaft. Espositos Interpretation des munus betont vor allem die Ambivalenzen, die mit dieser Praxis verbunden sind. Zum einen ermögliche diese Praxis das Teilhaben an einer gemeinsamen Welt, zum anderen sei in der communitas die Konstitution eines politischen und sozialen Subjekts unmöglich, da alles in dieser Dimension gemeinsam sei und das Eigene, das Individuelle noch nicht entstehen könne. Das munus habe daher eine zerstörende Macht gegen sich selbst, oder besser gesagt, gegen die Mitglieder der Gemeinschaft. Jedoch ist Espositos Erklärung der zerstörenden Macht, die mit der Praxis des munus verbunden sei, eher unklar. Um diese Annahme zu verstehen, sind die Arbeiten von Mauss und Bataille relevant, die ethnographische und anthropologische Untersuchungen über soziale Systeme berücksichtigen, in denen die Zirkulation von Dingen ausgehend von der Gabe reguliert war. In diesen Analysen ist die Zerstörung – oder in Batailles Worten: die Verschwendung – ein konstitutiver Teil des Lebens der Gemeinschaft (vgl. Bataille 1985; Mauss 2009). Im Unterschied zu Bataille und Mauss konzentriert sich Esposito auf die Ontologie, die dem munus zugrunde liegt. Hierbei muss betont werden, dass munus auch als ontologisches Attribut in dem theoretischen System Espositos zu verstehen ist. Somit stellt ihm zufolge das munus nicht nur die Möglichkeit dar, ein gemeines Leben zu führen, sondern auch das menschliche Leben selbst, das jenseits des gemeinen Lebens nicht begreifbar ist. Diese Art zu argumentieren gibt Anlass dazu, das munus als nichts anderes als den Naturzustand zu verstehen. In Pensiero vivente macht Esposito allerdings den Unterschied zwischen der communitas und dem Naturzustand deutlich. Indem Esposito den Begriff des Ursprungs bei Vico erklärt, argumentiert er, dass der Ursprung als Dimension zu denken sei, in der Natur und Kultur noch nicht getrennt seien, und daher als Potentia zu begreifen sei. Dieser Ursprung sei das Leben der communitas. Unter Potentia muss hierbei ein Zustand verstanden werden, in dem eine communitas in einer kontingenten politischen, sozialen und institutionellen Form verwirklicht werden kann. Wenn das munus ein ontologisches Attribut ist, dann folgt daraus, dass diese Form der Potentia immer eine Funktion ausübt, die eine Gefahr für die konstituierten Institutionen darstellt (Esposito 2010a, 79f.). In Immunitas – das einige Jahre später als Communitas veröffentlich wurde – fokussiert Esposito seine Forschung auf das Bedürfnis der Gemeinschaften nach Schutzmechanismen wie dem Recht, der Theologie und dem modernen Staat, die gegen die zerstörende Wirkung der Praxis (oder der Potentia) des munus operieren

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würden. Er interpretiert diese Schutzfunktion, die von Institutionen ausgeübt werde, mit Hilfe des Begriffs der Immunität. Der Untertitel der Arbeit »Schutz und Negation des Lebens« verweist bereits auf eine der wichtigsten Thesen, die er in diesem Buch entwickelt. Ihm zufolge liegt der Entwicklung sozialer Strukturen ein konstitutives Apriori zugrunde. Zum einen müsse das Leben der Mitglieder der Gemeinschaft geschützt werden, zum anderen könne dieser Schutz das Leben aber selbst bedrohen. Diese Problemstellung hat eine deutliche biopolitische Konnotation. Zentral für die Forschungshypothese von Esposito ist die Annahme, dass die Immunität als Korrelat der Gemeinschaft interpretiert werden müsse. Auch in dieser These spielt die etymologische Analyse der Begriffe communitas und immunitas in der lateinischen Sprache eine grundlegende Rolle. Wie schon bei communitas sei auch in dem Wort immunitas der Begriff munus zentral. Die Wörterbücher des Lateinischen lehren uns, daß das Substantiv immunitas – wie das entsprechende Adjektiv immunis – eine privative oder negative Vokabel ist, die ihren Sinn von dem herleitet, was sie negiert und dessen sie ermangelt: dem munus also. Untersucht man die Hauptbedeutung dieses Terminus, so erhält man kontrastiv die Bedeutung von immunitas: in Bezug auf das »Amt« – die Aufgabe, Last, Pflicht (auch im Sinn einer rückzuerstattenden Gabe) –, welches munus widergibt, bezeichnet immunis umgekehrt denjenigen, der kein Amt zu erfüllen hat […] derjenige, dem das pensum an Tributen oder Leistungen erlassen [dispensatio] ist. (Esposito 2004c, 11f., Herv. i. O.)

Esposito zufolge stellt die immunitas eine Art des Schutzes gegen das munus dar. Wenn die communitas ursprünglich auf einer bestimmten Praxis basiere, die jede Art von Identität negiere, dann seien immunitäre Systeme zur Entwicklung von Regulationsfunktionen einzuführen, die gegen die negativen Wirkungen des munus Schutz böten. Diese Möglichkeit werde durch die Institutionalisierung von Figuren oder Ämtern, die sich der Praxis des munus entziehen können, verwirklicht. Esposito betont deutlich, dass die immunitas auch als »Entbindung« von dem »sozialen Kreislauf des gegenseitigen Gebens« (ebd., 13) interpretiert werden müsse. Nach ihm erlangt die Immunität eine »Sonderstellung« außerhalb der Gemeinschaft, die allerdings für die Gemeinschaft selbst zuständig sei. Ferner werden immunitas und communitas von ihm nicht als Alternative oder in Opposition zueinander gedacht, sondern in Form einer Interaktion. Er spricht von Überlagerung, um dieses Verhältnis zu erklären. Diese Überlagerung zeichnet sich, wie bereits angedeutet, entlang der Bruchlinie ab, welche Immunität und Gemeinschaft gleichzeitig gegenüberstellt und verbindet, wobei sie die eine nicht nur zum kontrastiven Hintergrund der anderen, sondern zugleich zu ihrem Gegenstand und ihrem Inhalt macht […]. Die Immunität ist die innere Grenze, welche die Gemeinschaft

196 | P ARADOXIEN DER B IOPOLITIK durchschneidet, indem sie sie auf sich selbst zurückfaltet, in einer Form, die sich zugleich als konstitutiv und destitutiv auswirkt: die sie konstituiert – oder rekonstituiert – eben indem sie destituiert. (Ebd., 17)

Aus diesem Zitat lässt sich deduzieren, dass Esposito zufolge communitas und immunitas Teil derselben Realität sind und nicht als getrennte Prozesse gedacht werden können. In der Sprache der Philosophie lässt sich dieses Verhältnis als zwei Attribute derselben Substanz definieren. Aus einer soziologischen und politischen Sichtweise kann die Perspektive Espositos als sozialer Konstruktivismus interpretiert werden. Sowohl die sozialen Akteure als auch die Institutionen werden in dieser Theorie als Ergebnisse eines interaktiven Prozesses zwischen ihrer Natur (munus) und ihren politischen Formen konzipiert. Mit anderen Worten kann bei Esposito eine zoé nie von einem bíos getrennt werden. Er spricht von negativer Dialektik, um diese Interaktion zu begreifen (ebd.). Allerdings taucht in seiner Perspektive weder eine Synthese noch eine Tendenz zur Balancierung auf. Immunitas und communitas werden von ihm immer in Form eines antagonistischen Verhältnisses gedacht – er spricht auch von Antinomie. Infolgedessen sind die Subjektivierungsprozesse und Institutionen immer ein prekäres und kontingentes Ergebnis. Diese Lesart wird dadurch unterstützt, dass Esposito sowohl in Immunitas als auch in Bíos die These formuliert, dass die Moderne als Immunisierung des Sozialen interpretiert werden könne. Communitas und immunitas werden so von Esposito als Pole betrachtet, in denen sich das menschliche Dasein entwickelt. Wie schon erwähnt, sollte communitas nicht als Naturzustand betrachtet werden. Obwohl die Darstellung des Lebens der communitas bei Esposito einige Analogien mit dem von Hobbes konzipierten Naturzustand hat, spielt die communitas stets eine affirmative Rolle. Im Anschluss an Machiavelli und Vico betont Esposito in vielen Schriften, dass diese Potentia der communitas grundlegend für die Entwicklung der sozialen und politischen Formen sei. Mit anderen Worten: die gesellschaftlichen Formen können sich nicht weiterentwickeln, wenn diese Potentia vollkommen immunisiert wird. Anders ist in Espositos Perspektive eine Form von communitas ohne immunitas nicht zu denken, da auch ohne immunitäre Systeme eine soziale und politische Form unmöglich wäre. Communitas und munus sollten dabei nicht als die Kraft einer barbarischen Armee, die von außen kommt und alles zerstört, damit ein Neuanfang entstehen kann, verstanden werden. Die communitas wie die immunitas existieren Esposito zufolge in jeder gesellschaftlichen Form. Es bedeute vor allem die Fähigkeit oder die Potentia, die konstituierte Ordnung in Frage zu stellen oder eine Ordnung zu verteidigen (vgl. auch Esposito 2010a). In Bezug auf diese Dialektik spricht Esposito von Antinomie und verweist darauf, dass das konfliktuelle Verhältnis zwischen communitas und immunitas nicht

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gelöst werden kann. Es handele sich vielmehr um einen Konflikt, der die Formen des gemeinsamen Lebens konstituiere. Die Dialektik des munus bei Esposito kann deswegen als ontologischer Diskurs oder Theorie der menschlichen Natur interpretiert werden. Das Relevante an dieser Theorie liegt darin, dass die menschliche Natur weder positiv noch negativ definiert wird. Vielmehr wird sie in Bezug auf eine Praxis konzipiert, die in der Diskussion und im Konflikt um die Formen des Lebens selbst besteht. Infolgedessen kann keine menschliche Natur bestimmt werden, da jede Definition nur ein prekäres Ergebnis des Konflikts ist. Hierbei kann eine theoretische Kontinuität zwischen dem Begriff des impolitico und der Dialektik des munus gesehen werden. Wenn das Ergebnis von Espositos Forschungen über das impolitico die Unmöglichkeit einer Realität jenseits des Politischen als Konflikt ist, dann ist die Dialektik des munus das theoretische Werkzeug, das ein Verständnis der Kräfte des natürlich-politischen (oder mit anderen Worten: ontologischen) Konflikts erlaubt. Obwohl Esposito schon in Immunitas von Biopolitik spricht und bereits dort einige relevante Thesen zur Interpretation der Biopolitik formuliert, ist Bíos dessen Arbeit, in der der Fokus unmittelbar auf dem Begriff der Biopolitik liegt.

4.2 B ÍOS : D AS R ÄTSEL DES B EGRIFFS

DER

B IOPOLITIK

Der Begriff der Biopolitik bildet den Forschungsgegenstand von Bíos, das 2004 auf Italienisch und 2006 auf Englisch veröffentlicht wurde. Durch diese Arbeit haben Espositos Forschungen internationale Anerkennung erhalten und wissenschaftliches Interesse auf sich gezogen. Die wichtigste Leistung dieses Aktualisierungsversuchs des Begriffs der Biopolitik besteht darin, dass der Autor eine polarisierte (negative oder positive) Interpretation der Biopolitik ablehnt und stattdessen ein hermeneutisches Modell entwickelt, das sowohl die thanatopolitischen als auch die positiven Tendenzen der Politik des Lebens intelligibel macht. Laut Esposito kann die Biopolitik nur durch das Paradigma der Immunisierung verstanden werden. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass der Begriff der Biopolitik ohne die Verwendung dieses Paradigmas die Verbindung von Leben und Politik nicht begreifbar machen könne. Er kommt zu diesem Schluss durch eine Genealogie der Verwendungsweise des Begriffs der Biopolitik, die den Ausgangspunkt seiner Analytik darstellt. Diese Genealogie macht ihm zufolge ein theoretisches Paradox sichtbar. Zum einen könne durch diesen Begriff die Entwicklung des politischen Diskurses der Moderne erklärt werden. Zum anderen sei die Bedeutung des Begriffs der Biopolitik bei den ihn verwendenden AutorInnen unklar. Aus diesem Grund spricht er vom »Enigma der Biopolitik« oder von der »Black Box der Biopolitik«. In diesem Kapi-

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tel wird zunächst erklärt, was Esposito unter diesem Ausdruck versteht. Zu diesem Zweck wird seine Genealogie des Gebrauchs des Begriffs der Biopolitik analysiert. Er ist davon überzeugt, dass nur eine kritische Analyse der Art und Weise, in dem dieser Begriff jeweils benutzt worden ist, erlaube, die »Black Box« der Biopolitik zu öffnen (Esposito 2004a, XXI). Espositos kritische Rekonstruktion der Verwendungsweise des Begriffs der Biopolitik wird durch drei zeitliche und zugleich analytische Achsen durchgeführt: die Zeit vor Foucault, Foucaults Analytik der Biopolitik und die Zeit nach Foucault. In dem ersten Abschnitt wird Espositos Analyse der AutorInnen dargestellt, die als erste diesen Begriff verwendet haben. Es handelt sich dabei um eine organizistische bzw. humanistische und naturalistische Konzeption der Biopolitik. Der zweite Abschnitt fokussiert auf seine Lesart des Foucaultʼschen Begriffs der Biopolitik und der dritte Abschnitt schließlich auf die Perspektive von Agamben bzw. Hardt und Negri. Diese Analyse verfolgt – wie schon erwähnt – das Ziel, zu verstehen, warum Esposito vom »Enigma der Biopolitik« spricht und warum er die Frage der Biopolitik als Dialektik von Politik des Lebens und Politik über das Leben versteht. 4.2.1 Biopolitik vor Foucault Esposito zufolge wird in der Zeit, die Foucaults Definition der Biopolitik vorangeht, der Begriff der Biopolitik nach drei verschiedenen Paradigmen definiert. Das erste wird von ihm als organizistische Konzeption der Biopolitik bestimmt (ebd., 4). In diesem Paradigma werden das politische Handeln und die Institutionen auf biologische Determinanten zurückgeführt. Esposito erkennt in den Arbeiten des schwedischen Politologen Rudolf Kjellén den ersten Gebrauch des Begriffs der Biopolitik in der Politikwissenschaft. Unter Biopolitik verstehe dieser eine Wissenschaft, die das politische Handeln nach dem Modell der Naturwissenschaften untersuche. Die in Kjelléns Werk theoretisierte Überwindung der Trennung von Naturzustand und zivilem Zustand stellt Esposito zufolge eine interessante Neuerung in der Geschichte der Politikwissenschaft dar. Der Staat werde in dieser Forschungsrichtung nicht als künstliches bzw. kulturelles Produkt, sondern als Organismus konzipiert. Zwar seien auch in vorangegangenen politischen Theorien biologische Organismen und der menschliche Körper als Modell für die Strukturierung des politischen Raums verwendet worden, doch setze Kjellén in seiner Theorie kein metaphorisches Verhältnis. Vielmehr müsse die Politik ihm zufolge als Organismus erforscht werden und die Biopolitik sei die Wissenschaft, die diese biologische Entität untersuche (ebd., 7). Allerdings sei bei ihm die Konzeption der Biopolitik noch lediglich an eine analytische Ebene geknüpft. Esposito zufolge wird diese Konzeption der Biopolitik von Jakob von Uexküll weiterentwickelt. Er bemerkt zunächst eine rassistische Verschiebung; es handele

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sich nicht mehr um den Staat, sondern um den deutschen Staat, der von Krankheiten und Infektionen gereinigt werden müsse. Diese Pathologien würden von von Uexküll sowohl mit dem demokratischen und revolutionären Handeln als auch mit den anderen Rassen identifiziert. Allerdings ist für Esposito auch ein zweiter Übergang bemerkenswert. In dieser Konzeption habe die Biopolitik nicht nur eine analytische Dimension, sondern sei zugleich eine aktive Strategie, die gegen degenerative Formen eingesetzt werde (ebd., 8). Biopolitics des englischen Autors Roberts Morley stellt laut Esposito den Höhepunkt dieser organizistischen Konzeption der Biopolitik dar. In dieser letzten Fassung erfülle die Biopolitik zwei Aufgaben: die erste bestehe in der Untersuchung der Elemente, die den staatlichen Organismus bedrohten; die zweite betreffe die Entwicklung von Verteidigungsdispositiven, die auf die biologischen Elemente der Bevölkerung gerichtet werden müssten. Das Interesse für Esposito liegt darin, dass Morley den biopolitischen Verteidigungsapparat nach dem Modell der Immunität bzw. als Immunsystem strukturiert (ebd., 9). Seine Kritik an diesem organizistischen Paradigma dreht sich vor allem um die Folgen dieser Orientierung. Eine Politik, die unmittelbar an das Biologische anknüpfe, tendiere dazu, das Leben unter die Macht der Politik zu stellen. Deshalb handele es sich weniger um eine wissenschaftliche als eine ideologische Produktion, die die Ausübung einer unbegrenzten Macht zu Töten legitimiere. Die zweite Forschungsrichtung, in der der Begriff der Biopolitik gebraucht wurde, findet sich in einigen Arbeiten, die im Frankreich der 1960er Jahre entstanden sind. Im Unterschied zu der organizistischen Konzeption lassen sich diese Arbeiten laut Esposito durch eine neo-humanistische Orientierung kennzeichnen (ebd., 10). Ein Beispiel dafür seien die Forschungen von Aroon Starobinski, der die Biopolitik als Paradigma für eine Interpretation der Geschichte und der Zivilisation durch die Grundrisse des biologischen Lebens setzt. In dieser Version von Biopolitik würden die geistlichen Aspekte des Lebens nicht abgelehnt oder »biologisiert«. Vielmehr hätten diese die Aufgabe, die negativen Aspekte des Lebens zu regieren. Infolgedessen hätten dieser Konzeption zufolge die geistlichen Aspekte einen Vorrang gegenüber den biologischen Kräften des Lebens. Deswegen interpretiert Esposito diese Konzeption der Biopolitik als »traditionellen Humanismus«. Es gehe allerdings weniger um eine Biopolitik; vielmehr sei sie als »Ontopolitik« zu interpretieren, da die jedes Element des Daseins berücksichtige. Allerdings ist ihm zufolge auf diese Weise der Gegenstand der Biopolitik undefiniert, da die Interaktion von biologischen Elementen und politischen Diskursen nicht untersucht werde (Esposito 2004, 11). Diese Unbestimmtheit stellt für ihn die analytische Schwachstelle dieser Konzeption der Biopolitik dar. In einer so definierten Perspektive sei es unmöglich zu fassen, worin die Interaktion von Politischem und Biopolitischem liege, und

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welche die Folgen einer Biopolitisierung des politischen Raums sein könnten (ebd., 12). Die dritte, von Foucaults Lesart unabhängige Theoretisierung der Biopolitik entsteht Esposito zufolge in den angelsächsischen Ländern zu Beginn der 1970er Jahre. Diese Perspektive lässt sich für ihn als »naturalistische« Konzeption der Biopolitik bezeichnen. Diese Definition bezieht sich darauf, dass diese Forschungsrichtung die Natur als den einzigen normativen Bezugspunkt für das politische Handeln setze. Er betont zunächst die Zäsur in dem politischen Diskurs der Moderne. Während die moderne politische Theorie den Naturzustand als Problem thematisiertet, würden die WissenschaftlerInnen der »biopolitics« in der Natur die einzige Kategorie für die Analyse des sozialen und politischen Verhaltens finden. Die Biopolitik werde darin als eine Wissenschaft definiert, die das Politische mittels biologischer Kategorien untersuche. Laut Esposito ist in dieser Konzeption das Verhältnis von analytischer Ebene und Normativität problematisch. Wenn das Handeln nur ausgehend von biologischen Charakteristika des Menschen verstanden werde, sei das einzig mögliche politische Handeln nichts anderes als eine bloße Vollziehung der Natur. Er bemerkt zudem eine Anomalie in der wissenschaftlichen Praxis dieser Forschungen: nicht die Theorie interpretiere die Realität, sondern die Realität bestimme die Theorie. Dieser radikale Realismus führt für ihn zu einer definierten, aber zugleich reduktionistischen Konzeption der Biopolitik, die die Fragen danach ausblende, was der bíos sei und welche die Folgen einer Politik auf oder über den bíos seien (ebd., 16). Das Relevante an Espositos Genealogie des Begriffs der Biopolitik liegt darin, dass für ihn jede dieser Konzeptionen trotz der theoretischen Unterschiede zwei wichtige Fragen ausblenden. Die erste betreffe das Problem der Definition des bíos. Unter bíos versteht er ein Wesen, dessen Natur von dem politischen Handeln ausgeht. Die zweite vernachlässigte Frage beziehe sich auf die Folgen einer Politik auf den bíos. Durch Espositos Analyse wird erkennbar, dass die organizistische Konzeption der Biopolitik eine Vernichtungspolitik ist, die humanistische Konzeption eher als »Ontopolitik« verstanden werden kann und die Perspektive der »biopolitics« nichts anderes als eine Naturpolitik ist. In diesen ersten Definitionen des Begriffs der Biopolitik ist Esposito zufolge die theoretische und wissenschaftliche Bedeutung des Begriffs unklar, weil keine von diesen Konzeptionen die Biopolitik als Interaktion von Biologischem und Politischem verstehe. Für Esposito hingegen ist die wissenschaftliche Aufgabe der Biopolitik das Verständnis gerade dieser Interaktion.

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4.2.2 Espositos Lesart der Foucaultʼschen Analyse der Biopolitik Die Konzeption der Biopolitik in der Foucaultʼschen Analytik der Macht stellt Esposito zufolge eine qualitative und quantitative Wende in der Verwendungsweise dieses Begriffs dar. Die theoretische Leistung Foucaults bestehe darin, dass er in seiner Perspektive sowohl eine Reduzierung des Politischen auf das Biologische als auch die Politisierung des Natürlichen vermeide. Im radikalen Unterschied zu den vorherigen Konzeptionen der Biopolitik ziele dieser Begriff bei Foucault auf die Analyse der Interaktionen zwischen Biologischem und Politischem. Esposito zufolge ist die Definition der Biopolitik bei Foucault das Ergebnis einer Wende in der Logik der Forschung. Diskursanalyse und Genealogie sind laut ihm die theoretischen Werkzeuge, durch die Foucault die Analytik der Machtverhältnisse erneuert. Die wichtigsten Leistungen dieser Forschungsrichtung sind für ihn zum einen die Überwindung der Dialektik zwischen Souveränität und Recht für eine Definition der Macht und zum anderen die Analyse der Subjektivierungsprozesse als Ergebnis der Interaktion von Mächten und Wissen. Ausgehend von diesem theoretischen Rahmen kann Foucault ihm zufolge eine grundlegende Verschiebung in dem politischen Diskurs der Moderne begreifen. An dieser Stelle bezieht sich Esposito auf Foucaults These, nach der das Leben als biologische Entität der Gegenstand der Macht werde und sich somit die Politik zu »Biopolitik« verändere. Es ist wichtig hervorzuheben, dass Esposito den Begriff »bíos« benutzt, um den Lebensbegriff bei Foucault zu definieren. Der Gebrauch des Begriffs bíos erfüllt in seiner Rekonstruktion die Aufgabe, Foucaults Konzeption der Biopolitik von den übrigen zu unterscheiden. Während die anderen Konzeptionen das Leben als ein statisches Element begriffen, bestehe das Verdienst von Foucault darin, dass er dieses als historisches Produkt definiere. Deswegen sei die Biopolitik bei ihm nicht die bloße Analyse der Weise, in der die Politik durch das Leben bestimmt werde. Vielmehr verweise dieser Begriff darauf, wie das Leben von der Politik »ergriffen, herausgefordert, penetriert« werde (ebd., 23, Übers. R. G.). An dieser Stelle soll nicht noch einmal die Foucaultʼsche Analytik der Biopolitik dargelegt werden. Wichtiger ist, Espositos Kritik an dieser Konzeption der Biopolitik zu erläutern, um seine eigene Perspektive daraufhin zu verdeutlichen. Laut ihm liegt das Problem Foucaults in der Interpretation der Bedeutung und der Folgen der Transformation der Politik in Biopolitik. In dem Einführungskapitel wurde bereits hervorgehoben, dass Foucaults Definition der Biopolitik nicht homogen ist. Für Esposito kann diese permanente Bearbeitung bei Foucault auf eine hermeneutische Ambivalenz zurückgeführt werden. Zum einen interpretiere er die Biopolitik als Produktion von Subjektivierungsprozessen und zum anderen als Thanatopolitik. Esposito bringt diese Spannung auf die Formel »entweder ist die Biopolitik eine Politik des Lebens oder über das Le-

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ben« (ebd., 25, Übers. R. G.). Unter »Politik des Lebens« (politica della vita im italienischen Original) versteht er eine Politik, die das Leben fördert. Im Gegensatz dazu sei die Politik über das Leben (politica sulla vita) eine Politik, in der das Politische die Macht habe, das Leben als solches zu vernichten. Die Foucaultʼsche Konzeption der Biopolitik als »Politik des Lebens« lässt sich Esposito zufolge in den Schriften erkennen, in denen Foucault sie mit der souveränen Macht kontrastiert.9 Diese absolute Heterogenität zwischen Biomacht und Souveränität impliziere bei ihm eine historische Zäsur in der Ordnung des Politischen und deshalb könne der politische Diskurs der Moderne nur biopolitisch sein. In anderen Schriften betone er allerdings die Tendenz, die Biopolitik in Thanatopolitik zu transformieren. 10 Esposito hebt hervor, dass diese These eine Reaktivierung der souveränen Macht zu töten impliziere. Somit lasse sich die Biomacht schlicht als eine Erweiterung der souveränen Macht interpretieren. Diese letzte Interpretationslinie führe zu einem Widerspruch in Foucaults These von der Diskontinuität in der Ausübung politischer Macht zwischen moderner und vormoderner Zeit, da die Ausübung der Macht zu töten faktisch eine Kontinuität darstelle. Esposito zufolge hat Foucault diese Ambivalenz nie aufgelöst und deswegen beide Vorstellungen der Biopolitik weiterentwickelt. Foucault habe somit die Biopolitik sowohl als Politik des Lebens als auch als Politik über das Leben konzipiert. Allerdings habe er – so die Kritik Espositos – nicht thematisiert, wie diese Formen der Biomacht miteinander verbunden seien. Diese Aporie in der Foucaultʼschen Konzeption der Biopolitik wird von Esposito auf ein strukturelles Defizit zurückgeführt, das sowohl eine semantische als auch eine epistemologische Dimension der Argumentation Foucaults betreffe. Das erste Problem bestehe darin, dass das Leben und die Politik in der Foucaultʼschen Forschungsperspektive als getrennte Realitäten fungierten, die nur in einem zweiten Moment in Verbindung gesetzt würden (ebd., 39). Wenn Esposito von einer semantischen Schwachstelle in der Konzeption von Foucault spricht, verweist er deshalb darauf, dass dieser das Verhältnis von Leben und Politik als nicht konstitutiv für die Definition beider Begriffe verstehe. Somit formuliere Foucault kein Paradigma, das erklären könne, wie Leben und Politik miteinander verbunden seien. Dies resultiere daraus, dass er das Leben und

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Esposito bezieht sich auf die Thesen zur Biopolitik, die von Foucault in dem Buch Der Wille zum Wissen dargestellt werden (Foucault 1977). Wie in der Einführung dieser Arbeit erwähnt, wird darin die Biopolitik als eine Macht begriffen, deren Ziel in der Verbesserung und Verwaltung der Bevölkerung als eine Einheit von Lebewesen besteht. Deshalb wird die Biopolitik hier als affirmativ charakterisiert.

10 Während der Vorlesungen am Collège de France in den Jahren 1976 und 1977 stellt Foucault die Frage, wie die Funktion des Todes auch innerhalb der Biomacht ausgeübt werden könne.

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die Politik als solche nicht definiert habe. Deshalb sei es schwierig, oder sogar unmöglich, innerhalb seines theoretischen Rahmens zu verstehen, inwiefern das Verhältnis von bíos und Politik ihre jeweiligen Definitionen beeinflusse. Zwar habe er untersucht, wie das Leben immanent durch Normen, Institutionen und Wissen definiert werde, doch stelle er nicht die Frage, was »Leben« eigentlich sei oder ob das Leben ein Wesen besitze; ob ein »nacktes Leben« existiere oder ob im Gegensatz dazu das Leben immer von etwas bestimmt sei. Laut Esposito ist diese fehlende Problematisierung der Grund, warum der Foucaultʼsche Begriff der Biopolitik in dem Moment in eine Sackgasse führe, in dem er die Macht zu töten in der Biomacht analysiere (ebd.). Espositos Analyse des Foucaultʼschen Begriffs der Biopolitik ist jedoch unvollständig. Zunächst berücksichtigt er nicht, dass dieser auch eine andere Forschungsperspektive für die Analyse der Biopolitik entwickelt hat: die Analytik der Gouvernementalität. Zwar wird diese lediglich in den im Jahr 2004 veröffentlichten Vorlesungen aus den Jahren 1978/79 eingehender entfaltet, aber auch schon in einigen kleineren Schriften thematisiert und von deutschen und angelsächsischen WissenschaftlerInnen analysiert. Sogar in Italien hat Ottavio Marzocca in der von ihm herausgegebenen Anthologie Biopolitica e Liberalismo (dt.:Biopolitik und Liberalismus) einige Schriften von Foucault zu dieser Forschungshypothese veröffentlicht (vgl. Marzocca 2001). Infolgedessen trifft die These Espositos nicht zu, dass Foucault keinen alternativen theoretischen Rahmen für die Interpretation der Ambivalenz der Biopolitik entwickelt hat. Jenseits dieses Problems liegt die Relevanz der Beschäftigung von Esposito mit Foucaults Arbeiten in der Umschreibung des Problems des Begriffs der Biopolitik als Problem des Verhältnisses von politica della vita (Politik des Lebens) und politica sulla vita (Politik über das Leben). Der Unterschied zwischen diesen zwei Formen der »Politik des Lebens« ist nicht evident. Politica della vita ist ein subjektiver Genitiv und verweist auf das Leben als Subjekt der Politik, während politica sulla vita eine Perspektive darstellt, in der das Leben das Objekt der Politik ist. Wie Robin Celikates erklärt: »Im Italienischen wird die Ambivalenz des doppelten Genitivs in ›Politik des Lebens‹ aufgelöst in ›politica sulla vita‹ (genitivus obiectivus) einerseits, ›politica della vita‹ (genitivus subiectivus) andererseits« (Celikates 2008, 57). Ein ähnliches Begriffspaar wird von Esposito bereits in seiner ersten Arbeit La politica e la storia, Machiavelli e Vico (Esposito 1980) verwendet, obwohl die Idee der Biopolitik selbst in dieser Arbeit nicht behandelt wird. Im Anschluss an Vico werden darin potere della vita und potere sulla vita (ebd., 19) nicht als zwei getrennte Formen der Politik dargestellt. Vielmehr werden sie als verschiedene Aspekte oder Dynamiken des Verhältnisses von Macht und Leben bezeichnet. So wie communitas und immunitas im Grunde nicht getrennt werden können, sondern nur

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ihre spannungsvolle Interaktion sichtbar gemacht werden kann, sind für Esposito auch politica della vita und politica sulla vita durch ein Paradigma zu interpretieren, das ihre Interaktion intelligibel macht. 4.2.3 Espositos Kritik an Agamben und Hardt und Negri Die Analyse der Genealogie der Biopolitik von Esposito beschäftigt sich nur oberflächlich mit den Konzeptionen von Hardt und Negri sowie Agamben. Beide Forschungsperspektiven entwickeln laut ihm lediglich eine der zwei Interpretationen der Biopolitik, die von Foucault formuliert werden – politica della vita und politica sulla vita –, weiter. Da Hardt und Negri die Biopolitik als affirmative Politik des Lebens verstehen, begreifen sie Esposito zufolge nur einen Teil der Aspekte der Biopolitik. Er behauptet daher eine strukturelle Divergenz zwischen Hardts und Negris Version der Biopolitik und derjenigen bei Foucault, obwohl dieser die wichtigste Referenz ihrer Theorie darstellt. Weil im Mittelpunkt der Perspektive von Hardt und Negri der Übergang von fordistischen zu postfordistischen Produktionsverhältnissen stehe, sei ihre Theorie für die Entwicklung einer analytischen Perspektive wenig brauchbar, die die Interaktion von Biologischem und Politischem untersucht (ebd., 33). Obwohl Esposito wie Hardt und Negri für das Projekt einer Emanzipation von der Biomacht auf Autoren wie Spinoza und Deleuze zurückgreift, berücksichtigt er die These der Autoren von Empire nicht. Das Verhältnis zu Agamben ist komplexer und lässt sich zugleich als Analogie und Differenz bezeichnen. Seine Begriffe wie zoé, bíos, Lebensform wie auch seine Ontologie der Potentia werden auch von Esposito oft benutzt. Allerdings nehmen sie bei ihm eine gänzlich andere Bedeutung an. Die Idee eines nackten Lebens beispielsweise wird von ihm abgelehnt. Er argumentiert diesbezüglich, dass es unmöglich sei, ein Leben jenseits der Politik zu konzipieren, weil Leben und Politik immer konstitutiv miteinander verbunden seien, sodass nur ihre Interaktion – der bíos – intelligibel werden könne (ebd., 4-5). Esposito anerkennt, dass die Perspektive Agambens eine logische Kohärenz besitze (ebd., 38). Im Unterschied zu Foucault interpretiere Agamben die Biopolitik nur als Politik über das Leben, die der souveränen Macht der Produktion von tötbarem Leben zugrunde liege. Infolgedessen verstehe Agamben die Geschichte des Politischen in Termini von Kontinuität und die Biopolitik stelle bei ihm keine historische Zäsur dar. Esposito teilt mit Agamben die Vorstellung, dass die Kategorien der Moderne die Entwicklung des politischen Diskurses nicht erklären könnten und dass es unmöglich sei, eine Grenze zwischen Politik und Nicht-Politik zu ziehen, weil das Politische zur Normierung jedes Aspekts des Lebens tendiere. Allerdings wird die Struktur dieser Normierung von ihnen ganz unterschiedlich konzipiert. Für

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Agamben geht es dabei um eine Norm, die die Normativität suspendiert und den Raum des Ausnahmezustands öffnet, in dem der Souverän über die Ausschließung des Lebenden entscheidet. Deswegen ist die Biopolitik bei ihm von der Dialektik von Einschließung und Ausschließung gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu ist für Esposito die Normierung des Lebens von zwei entgegengesetzten, aber komplementären Prinzipien charakterisiert. Zum einen werde die Entwicklung und Verbesserung der Lebenden gefördert, zum anderen werde diese Entwicklung selbst kontrolliert oder in extremen Fällen blockiert, damit kein gefährlicher Exzess entstehen könne. Jenseits dieser Konvergenzen und Differenzierungen stellt Agamben wie auch Hardt und Negri keine Referenz für Espositos Perspektive der Biopolitik dar, da es sich bei diesen grundsätzlich um polarisierte Interpretationen der Biopolitik handelt. Für ihn lässt sich das Rätsel der Biopolitik nicht dadurch auflösen, dass das Verständnis des Sinns – positiv oder negativ – der Biopolitik im Mittelpunkt der Theorie steht. Vielmehr ist für ihn grundlegend, zu verstehen, wie Leben und Politik, politica della vita und politica sulla vita miteinander verbunden sind. Diese kritische Distanz zur Vorstellung der Biopolitik von Agamben und Hardt und Negri wird auch in einem jüngeren Aufsatz bestätigt. Was in gewisser Weise Foucaults Diskurs blockierte, war jene schroffe Alternative zwischen zwei gleichermaßen präsenten und kontrastierenden Interpretationen des Begriffs, die auch die anschließende Debatte weiter gekennzeichnet haben: Entweder erscheint das Leben durch eine Macht erfasst und eingezwängt, die es zu einem bloßen biologischen Substrat reduziert, zu ›nacktem Leben‹ macht – was die später von Agamben zu letzter Konsequenz geführte Position ist; oder aber es ist die Politik, die in den produktiven Rhythmen eines ständig expandierenden Lebens subsumiert und aufgelöst erscheint, entsprechend eine Diskursrichtung, die Negri in revolutionärer Perspektive entwickelt hat. Es ist, als fehlte zwischen diesen beiden extremen, entgegengesetzten und spiegelbildlichen Interpretationen ein Verbindungselement, ein analytisches Segment, das dem Diskurs eine artikulierte und komplexere Form verleihen könnte. (Esposito, 2010b, 99)

Obwohl Espositos Kritik an Agamben und Hardt und Negri die Probleme einer polarisierten Perspektive auf die Biopolitik deutlich macht, ist seine Lektüre eher begrenzt, da er sich mit den Aktualisierungen dieser Perspektive nicht auseinandersetzt. Diese Positionierung Espositos gibt außerdem Anlass zu der Annahme, dass er mehr philosophische Betrachtungen als empirische Analysen betreibt. Diese Forschungsorientierung führt ihn zu der eher problematischen Überzeugung, dass eine philosophische und begriffliche Lösung die Probleme der Biopolitik nicht nur theoretisch, sondern auch politisch – diese Ebenen lassen sich im Italian Thought nicht trennen – überwinden könne.

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4.2.4 Das Paradigma der Immunisierung Esposito zufolge lässt sich die polarisierte Interpretationslinie der Biopolitik durch das Paradigma der Immunisierung in einem einzigen theoretischen Rahmen verstehen. Die Interpretation des modernen politischen Diskurses wie auch der Entwicklung der modernen Gesellschaft mithilfe der Kategorie der Immunisierung ist jedoch nicht nur ein Verdienst Espositos. Baumann, Derrida, Haraway und Butler sind nur die wichtigsten Bezugspunkte der aktuellen soziologischen und philosophischen Debatten, die sich unmittelbar auf die Immunität beziehen. 11 Allerdings stellt Espositos Theoretisierung eine quantitative und qualitative Wende dar, da er seine Theorie der Logik der Immunisierung durch die Analyse von verschiedenen Bedeutungsfeldern entwickelt, in denen sich diese Logik entfaltet (vgl. Campbell 2008). Wie schon in dem Abschnitt über die Dialektik des munus erwähnt, formuliert er sein Paradigma der Immunisierung vor allem ausgehend von einer philologischen Rekonstruktion des antagonistischen, aber konstitutiven Verhältnisses von communitas und immunitas in der lateinischen Sprache. Daraus leitet er ab, dass die Immunisierung als Schutz gegen den Zyklus der Gemeinschaft zu interpretieren sei und somit nur durch diese Funktion eine Konzeption des Eigenen – sogar die Konzeption des eigenen Lebens in Opposition zu dem Leben der und in der Gemeinschaft – entstehen könne. Dazu kommt, dass für Esposito die Immunität vor allem in der Macht »der Erhaltung des Lebens« besteht (Esposito 2014, 337).12 Schon in den Textpassagen von Communitas und Immunitas lässt sich bemerken, dass das Verhältnis von Leben und Politik grundlegend für seine Idee der Immunisierung ist. Die Immunisierung stellt dabei allerdings nicht nur den Entzug von dem Zyklus des munus dar. Die Immunisierung als Macht der Erhaltung des Lebens ist ihm zufolge die grundlege Voraussetzung für das Entstehen einer politischen Ordnung, die das Leben der Gemeinschaft schützt. Die Gefahr, vor der die immunitären Institutionen die Gemeinschaft schützen müssten, sei das Leben selbst, das strukturell – oder mit anderen Worten: ontologisch – zur Zerstörung tendiere. Für Esposito wird die Logik der Immunisierung zudem von zwei entgegengesetzten Prinzipien bestimmt. Zum einen wird das Leben geschützt und zum anderen negiert. Zentral dabei sei deswegen die Annahme, dass die Verteidigung eines politisch-sozialen Organismus

11 Für einen kritischen Vergleich von Espositos Theorie der Immunisierung und anderen Lesarten dieses Begriffs siehe Campbell (2008). 12 Das zweite Kapitel von Bíos »Das Paradigma der Immunisierung« ist in dem Sammelband Biopolitik. Ein Reader auf Deutsch übersetzt (Folkers und Lemke 2014). Die Zitate dieser Teile von Bíos wurden deswegen von dieser Übersetzung übernommen.

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mit der partiellen Negation seiner ihm zugrunde liegenden Prinzipien – das gemeinsame Leben – zusammenfalle (ebd., 345f.). Die philologisch-ontologische Analyse der Dialektik von communitas und immunitas ist nicht das einzige Bedeutungsfeld, von dem Esposito seine Konzeption des Paradigmas der Immunisierung ableitet. Die medizinische Behandlung der Impfung stellt für ihn einen weiteren und grundlegenden Bezugspunkt für die Formulierung dieses Paradigmas dar. In seiner Arbeit Immunitas geht Esposito daher von der Grundannahme der Immunologie aus, nach der ein Organismus durch einen Krankheitserreger infiziert werden müsse, um gegen eine Krankheit immunisiert zu werden (Esposito 2004c, 14). Diese Einbeziehung produziere so eine Veränderung des Organismus, die seine Vereidigungsmechanismen verbessere. Der Gebrauch des Krankheitserregers für die Behandlung weist auf die Idee hin, dass das Negative für die Konstitution des Schutzes gegen die Gefahr grundlegend ist. Esposito interessiert sich für diese Verwendung des Negativen, um die Immunisierung als negativen Schutz des Lebens weiter zu verstehen. Zentral dabei sei die Entwicklung der modernen Immunologie. Was uns interessiert, ist der Übergang von der angeborenen Immunität zur erworbenen Immunität – das heißt, von einem im wesentlichen passiven Zustand zu einem, der aktiv induziert wurde. Der Grundgedanke, der zu dieser Zeit aufkommt, besagt, daß eine Infektion in abgeschwächter Form einen Schutz vor einer virulenten Form desselben Typs darstellen kann. (Esposito 2004c, 14)

Die moderne Immunologie, die sich ausgehend von den Experimenten von Jenner, Pasteur und Koch entwickelt hat, zeigt Esposito zufolge eine grundlegende Verschiebung in der Konzeption der Immunität auf. Diese bestehe in der Idee, dass auch ein negatives Prinzip zur Verteidigung der Organismen beitragen könne, wenn dieses unter Kontrolle verabreicht werde. Die Verwendung des Negativen stellt für Esposito nicht nur eine Wende in der Medizin dar; vielmehr werde sie zu einer Logik für die Entwicklung von Verteidigungsstrategien des Sozialen und des Politischen. In Immunitas zeigt Esposito die Überlagerung und Interaktion von politischen und medizinischen Diskursen in der Definition und Strukturierung von Dispositiven der Immunisierung für die Verteidigung des biologischen bzw. politischen Organismus auf (vgl. ebd.). In Bíos berücksichtigt Esposito erneut die Immunologie als Referenz für die Definition des Paradigmas der Immunisierung. In diesem Werk gibt es keinen relevanten Unterschied in der Bedeutung der Immunisierung. Ein Krankheitserreger wird auch hier als Negatives bezeichnet, da dessen Tendenz in der Negation anderer Organismen und in der eigenen Affirmation bestehe (vgl. Esposito 2014, 338). Dieser Bezug auf die Immunologie erklärt Esposito zufolge die Definition der Im-

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munität als »negativer Schutz des Lebens« (ebd.). In dieser Arbeit fokussiert Esposito weniger auf die Interaktion von politischen und biologischen Diskursen und konzentriert sich darauf, dass die Immunisierung auf eine Logik hinweist, der zwei entgegengesetzte Prinzipien – Schutz und Negation des Lebens – zugrunde liegen. Diese Zweideutigkeit der Immunisierung wird Esposito zufolge sowohl von der Dialektik des munus als auch von der Immunologie sichtbar gemacht. Während die Dialektik von communitas und immunitas auf eine Negation des munus als gemeinsames Leben hinweise, verweise die Immunologie auf die Einbeziehung des Negativen als potenziell aktives Instrument für die Verteidigung des Lebens. Diese zwei Richtungen der immunitären Praxis müssen nach Esposito verbunden werden. Die erste zeige, dass etwas negiert werden müsse, damit die Gemeinschaft überleben könne. Im Unterschied, aber komplementär dazu zeige die Immunologie, wie durch die Einführung eines Teils des Negativen die Gefahr negiert werden müsse. Insofern lässt sich die Logik der Immunität wie folgt definieren: Die Einführung eines Teils des Negativen erlaubt die Kontrolle oder die Unterdrückung der Kräfte, die zur Zerstörung des Organismus führen können. Allerdings zeigt diese Logik auch und vor allem, dass die negativen Kräfte gleichzeitig das aktive Prinzip des Organismus sind (vgl. ebd., 339). Die Logik der Immunisierung verweist somit immer auf eine Interaktion von Positivem und Negativem, Schutz des Lebens und Negation des Lebens, Leben als Subjekt der Biopolitik und Leben als Objekt der Politik. In dem Maße, in dem Esposito das Problem der Biopolitik als Verständnis der Interaktion von Politik des Lebens und Politik des Todes setzt, definiert er durch das Paradigma der Immunisierung ein hermeneutisches Instrument, das diese Interaktion sichtbar macht. Es muss jedoch verdeutlicht werden, dass dieses Forschungsziel von Esposito zu einem ambivalenten Ergebnis führt. Zum einen zeigt er durch dieses Paradigma eine der Interaktionen von Biologischem und Politischem auf, zum anderen reduziert er aber die Biopolitik auf Immunisierungsprozesse in dem Maße, in dem er die immunitäre Interaktion als die Biopolitik als solche definiert. Der theoretische Vorteil des Paradigmas der Immunisierung liegt allerdings in seiner bipolaren Struktur. Für Esposito ist es grundlegend, diese Spannung zwischen Schutz und Negation zu erklären.

4.3 I MMUNISIERUNG UND B IOPOLITIK Esposito zufolge bietet die bipolare Struktur der Immunisierung die Möglichkeit, die Zweideutigkeit des Begriffs der Biopolitik zu verstehen. Das theoretische Verdienst dieses Paradigmas für die Interpretation der Moderne und der Biopolitik liegt laut Esposito darin, dass die Immunität an der Kreuzung von politischen und biologischen Kenntnissen steht (ebd., 337). Allerdings – wie Esposito selbst betont –

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enthüllt diese Charakteristik wenig, weil es viele Begriffe – wie z.B. Körper, Verfassung, Organismus usw. – gibt, die aus einem lexikalischen Austausch von Politischem und Biologischem stammen (ebd.). Das Besondere des Paradigmas der Immunisierung ist vielmehr darin zu suchen, dass laut Esposito nomos und bíos – d.h. Politik und Leben – in diesem Begriff eng und konstitutiv verbunden sind. Sowohl in dem biologischen als auch in dem politischen Bereich falle die Immunität mit der Möglichkeit – oder der Macht – zusammen, »das Leben am Leben zu erhalten« (ebd., 338). Esposito drückt diese Charakteristik mit den folgenden Worten aus: »Immunität bezeichnet nicht bloß die Relation, die das Leben an die Macht bindet, sie ist vielmehr die Macht der Erhaltung des Lebens«. (Ebd., 337) Zentral dabei ist die Annahme, dass sich das Leben nur durch die Politik verstehen lasse und dass sich die Politik immer durch den Bezug auf das Leben orientiere (ebd.). Infolgedessen wird auch durch die Immunisierung hervorgehoben, was schon Espositos Untersuchung über das Verhältnis von Ontologie und Politik gezeigt hatte: das konstitutive Verhältnis von Sein und Politik, Leben und Politik. Durch diese Definition der Immunisierung als die Funktion, die Politik und Leben verbindet, setzt Esposito eine direkte Korrelation zwischen dem Paradigma der Immunisierung und dem Begriff der Biopolitik. Der Vorteil dieses Paradigmas bestehe in der Möglichkeit eines besseren Verständnisses der gegensätzlichen Tendenzen der Biopolitik (vgl. ebd., 338). Er verweist damit darauf, dass das Paradigma der Immunisierung die konstitutive Verbindung von Politik des Lebens und Politik des Todes sichtbar mache. Auf diese Weise könnten die Probleme der polarisierten Interpretationslinien der Biopolitik überwunden werden. Das Paradigma der Immunisierung erlaubt Esposito zufolge, das Verhältnis von Politik des Lebens und Politik des Todes nicht nur als antinomisches, sondern auch als komplementäres zu konzipieren. Oder besser gesagt, lässt sich durch die Immunität diese Antinomie als konstitutive interpretieren. Der hermeneutische Vorteil des immunitären Modells liegt nun in dem Umstand, dass diese zwei Modalitäten, diese zwei Sinneffekte – positiv und negativ, bewahrend und zerstörend – endlich eine innere Artikulation finden, eine semantische Verbindung, die sie in ein kausales Verhältnis bringt, wenn auch eins negativer Art. (Ebd.)

Dieser hermeneutische Vorteil benötigt allerdings eine weitere Erklärung, um zu verdeutlichen, was Esposito unter »innere Artikulation« und »semantische Verbindung« versteht, und inwiefern das Paradigma der Immunisierung eine interaktive Verbindung von Politik des Lebens und des Todes sichtbar macht. Wie bereits erwähnt, verweist die Immunisierung auf eine Logik, die auf den Gebrauch des Negativen für die Selbsterhaltung des Organismus beruht. Mit anderen Worten zeigt dieses Paradigma, dass die Politik das Leben in dem Maße schützen kann, in dem die

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Potentia des Lebens selbst blockiert oder sogar vernichtet wird. So wie das lateinische munus kann auch das Leben für die communitas gefährlich werden, wenn sich dieses ohne Grenzen entwickelt. Das Paradigma der Immunisierung zeigt auch, dass dieser negative Schutz durch die Einführung einer Portion des Pathologischen stattfindet. Infolgedessen muss eine Politik, deren grundlegende Aufgabe in der Selbsterhaltung des Lebens besteht, auch eine Politik des Todes entwickeln, um sich selbst gegen eine permanente – und deshalb gefährliche – Entwicklung des Lebens zu immunisieren. In den nächsten Abschnitten werden die Thesen zur Moderne analysiert, die Esposito durch das Paradigma der Immunisierung formuliert. Insbesondere liegt der Fokus in dem ersten Abschnitt auf Espositos Theorie des Unterschieds von vormoderner Zeit und Moderne. Im zweiten Abschnitt wird gezeigt, wie er durch das Paradigma der Immunisierung die Persistenz der immunitären Biopolitik in den ersten politischen Theorien der Moderne rekonstruiert. Er versucht, sichtbar zu machen, dass grundlegende Begriffe der Moderne wie Souveränität, Eigentum und Freiheit einer biopolitisch-immunitären Orientierung folgen. In dem dritten Abschnitt schließlich werden einige Punkte dieser Interpretation kritisiert. 4.3.1 Vormoderne und moderne Immunisierung Das Paradigma der Immunisierung bietet laut Esposito auch die Möglichkeit, die Biopolitik als modernes Phänomen zu definieren. Diese Erklärung ist sehr wichtig, da ohne sie Espositos These widersprüchlich ist. Bei ihm sind Politik und Leben immer miteinander verbunden, wie auch communitas von immunitas nicht als getrennte Realitäten oder soziale Formen zu denken sind. Deswegen kann die Immunisierung kein Merkmal der Moderne sein. Davon ist Esposito selbst überzeugt und bestätigt somit de facto Agambens These, nach der die Politik von Anfang an Biopolitik sei. Allerdings spricht Esposito von einem radikalen Unterschied zwischen der antiken und modernen Konzeption der Immunisierung. Um diese These des Unterschieds und der Diskontinuität von Antike und Moderne zu begründen, behandelt Esposito als Beispiel die Sklaverei in der antiken Welt und den Begriff des pater familias im römischen Recht. Sowohl der Herr wie auch der Vater verfügten vollständig über das Leben des Sklaven bzw. des Sohnes. Diese Beispiele zeigten, dass schon in der antiken Gesellschaft die politische Macht Formen entwickelt habe, die eine totalitäre Macht auf das Leben vorsähen. Der Unterschied und die Diskontinuität seien deswegen nicht in der Ausübung der Gewalt über das Leben zu suchen. Esposito zufolge lässt sich die antike Politik nicht als Biopolitik charakterisieren, da im Zentrum der politischen Diskurse der Antike nicht das Bedürfnis der Immunisierung, sondern die Konstitution der »Res-publica«

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gestanden habe. Die Zentralität des Immunisierungsprozesses sei im Unterschied dazu Bestandteil der Moderne. Um die Fremdheit der antiken politischen Philosophie zur Biopolitik hervorzuheben, fokussiert Esposito seine Analyse auf die politische Philosophie von Platon. Diese Auswahl ist nicht zufällig. In seiner Darstellung der idealen Republik führt Platon einige Normen – wie z.B. die Auswahl des/r Partners/in für die Reproduktion oder die Vernichtung von behinderten Kindern – ein, die auf eine Normierung und Reglementierung der biologischen Aspekte als Aufgabe der Politik hinweisen. Allerdings kann Esposito zufolge die politische Philosophie Platons nicht als biopolitisch charakterisiert werden, da im Zentrum der platonischen Republik nicht die Selbsterhaltung des Lebens stehe. Vielmehr verfolge Platon das Ziel, die Qualität der PhilosophInnen zu bewahren, weil diese eine bessere Fähigkeit besäßen, die Polis zu führen. Dazu komme, dass seine politische Philosophie durch das Bedürfnis gekennzeichnet sei, das gemeine Leben – die communitas – zu entwickeln, und die immunisierende Strategie somit nur ein Korrelat dieser Vorstellung des Politischen sei. Die Zentralität der communitas unterscheidet in Espositos analytischer Perspektive die politische Philosophie Platons von den modernen Biopolitiken (vgl. ebd., 346-347f.). Esposito beschränkt sich allerdings nicht auf diese Argumentation. Er beschäftigt sich auch mit der Frage, inwiefern die Moderne die Frage der Immunisierung als zentrale setze. Die Einsicht, nach der immunitas und communitas zwei Seiten des Mit-Seins der Menschen darstellten, impliziere, dass keine Gesellschaft ohne Immunsystem möglich sei. Um diese Frage aufzulösen, entwickelt Esposito eine Theorie der Moderne. Zentral dabei ist die Annahme, dass zwar die Politik immer das Ziel des Schutzes des Lebens verfolgt habe, doch nur in einer bestimmten Zeit dieses Ziel problematisiert und als strategisches Instrument benutzt worden sei, um die politische Ordnung zu begründen und diese in seiner Entwicklung zu prägen (vgl. ebd., 349). Diese Zeit ist Esposito zufolge die Moderne. Das heißt, dass alle vergangenen wie gegenwärtigen Zivilisationen den Anspruch nach ihrer Immunisierung gestellt und auf irgendeine Weise gelöst haben; aber dass nur die Moderne in ihrem tiefsten Wesen davon geprägt wurde. Man könnte so weit gehen zu behaupten, dass nicht die Moderne die Frage nach der Selbsterhaltung des Lebens aufgebracht hat, sondern dass die Selbsterhaltungsfrage die Moderne als die geschichtlich-kategoriale Vorrichtung ins Sein gebracht und ›erfunden‹ hat, die imstande sein sollte, sie zu lösen. (Ebd., 350)

Aus diesem Zitat wird deutlich, dass für Esposito die Moderne als Antwort auf eine Verschärfung des immunitären Bedürfnisses entstanden ist. So gesehen, stellt die Entwicklung von Immunsystemen für diese Perspektive das Zentrum des modernen politischen Diskurs dar, von dem ausgehend alle anderen modernen Kategorien, In-

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stitutionen und Normen interpretiert werden können. Die These einer Verschärfung des Immunisierungsprozesses wird von Esposito nicht auf historische Kontingenz zurückgeführt. Vielmehr bezieht er sich darauf, dass in einem (von ihm nicht definierten) Moment die »natürlichen Verteidigungen« weggefallen seien. Darunter versteht er die Vorstellungen – vor allem die theologischen Darstellungen der Realität –, die einen »symbolischen Schutzschild der menschlichen Erfahrung ausgemacht hatten« (ebd.). Esposito behauptet somit, dass die Menschheit am Beginn der Moderne seine antiken Versicherungsmechanismen verloren habe. Daraufhin sei der Schutz des Lebens ein Problem und die menschliche Gesellschaft genötigt worden, die Entwicklung von Immunsystemen als prioritär zu setzen. Allerdings gehe es dabei weniger um natürliche, symbolische oder theologische Systeme als um künstliche (ebd., 351). Dieser für Espositos analytische Perspektive grundlegende Übergang kann wie folgt näher erläutert werden: Während die antike Politik auf die Art des Zusammenlebens – d.h. das öffentliche Leben – konzentriert war, war das Problem der Selbsterhaltung des Lebens Gegenstand von anderen Dispositiven wie z.B. der Armee, der Urbanistik, religiöser Institutionen, der Familie etc. Zu Beginn der Moderne wurde dieses Problem ein dringendes und deshalb konstitutiv für das Politische. Somit gründet das Thema der conservatio vitae die Moderne und markiert gleichzeitig die Wende der Politik zur Biopolitik. In dem Maße, in dem Esposito den Beginn der Biopolitik mit der Entwicklung eines an der Selbsterhaltung des Lebens orientierten politischen Diskurses gleichsetzt, unterscheidet er sich von Foucaults Periodisierung. Während für diesen der Beginn der Biopolitik mit der Industrialisierung und d.h. mit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zusammenfällt, beginnt Esposito zufolge die Zeit der Biopolitik mit dem Werk von Hobbes. Allerdings spricht er von zwei Phasen der Moderne und deshalb auch der Biopolitik. Ohne diese historisch näher zu bestimmen, definiert er die erste als die Zeit, in der Politik und Leben zwar verbunden gewesen seien, aber vermittelt durch die Kategorien der Souveränität, des Eigentums und der Freiheit. Im Unterschied dazu sei die zweite Moderne dadurch charakterisiert, dass sich die Politik ohne Vermittlung auf das Leben beziehe. In dieser zweiten Phase, deren Höhepunkt der Nationalsozialismus darstelle, wird für Esposito die Politik zu nichts anderem als einem reinen und unbegrenzten Immunsystem. Diese zweite Phase des modernen politischen Diskurses wird im folgenden Abschnitt dargestellt und analysiert. Bevor diese Rekonstruktion der Moderne analysiert wird, muss ein anderer Aspekt erwähnt werden, der Esposito zufolge mit der Entwicklung des modernen politischen Diskurses als Strategie der Immunisierung verbunden ist. Das Paradigma der Immunisierung zeige auch die Aporie der Moderne in Bezug auf das Verhältnis von Subjekt und Ordnung. Dieser bezieht sich auf die Schwierigkeit der modernen Philosophie, dieses Problem aufzulösen. Es geht dabei um die Frage, ob das Sub-

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jekt und seine Rechte eine Priorität in Bezug auf die politische Ordnung hätten, oder ob im Gegenteil die Rettung der Ordnung auch durch das Opfer der Rechte des Subjekts durchgeführt werden müsse. Ihm zufolge lässt sich aus der Perspektive der modernen politischen Philosophie dafür keine Lösung finden, da es sich um eine strukturelle Aporie handele. In dem Maße jedoch, in dem die conservatio vitae die erste Aufgabe des Politischen werde, führe die Moderne die Immunisierung ins Zentrum des Politischen ein. Wenn – wie schon erwähnt – die Immunisierung ein negativer Schutz ist, entwickelt die Moderne somit eine Idee des politischen Handelns, nach der das Subjekt durch seine Negation gerettet werden kann. 4.3.2 Erste Moderne oder vermittelte Biopolitik Wie im letzten Paragraph erwähnt, erlaubt Esposito zufolge das Paradigma der Immunisierung, den politischen Diskurs der Moderne als biopolitisch zu charakterisieren. Die Selbsterhaltung des Lebens werde durch die Entwicklung von künstlichen Immunsystemen die primäre und grundlegende Aufgabe des Politischen. Esposito rekonstruiert diesen Prozess anhand einer Genealogie des modernen philosophischpolitischen Diskurses. Für ihn kann diese Genealogie in zwei Phasen geteilt werden. Die erste Moderne sei durch die Vermittlung von philosophischen Kategorien geprägt, die einen von der Immunität dominierten politischen Raum bildeten: Souveränität, Eigentum und Freiheit. In diesem Paragraph wird deshalb erklärt, inwiefern diese Kategorien in Espositos Perspektive den Übergang zur Biopolitik und der Ausübung der Biomacht bestimmen. Die politische Philosophie von Thomas Hobbes ist laut Esposito als die erste Form von Biopolitik zu begreifen. Diese Interpretation beruht darauf, dass Hobbes seine Theorie der Souveränität ausgehend von einer negativen Konzeption der menschlichen Natur entwickelt. Wie bekannt, basiert Hobbes seine Konzeption auf die Vermutung, dass die menschliche Natur von zwei Gesetzen charakterisiert sei. Das erste bestehe in der Tendenz zur Selbsterhaltung des Lebens, während das zweite in dem Wunsch der Aneignung von Dingen bestehe. Diese zwei Gesetze, die zusammen von Hobbes als »natürliches Recht« definiert werden, seien allerdings von einem grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet. Zum einen tendierten Menschen dazu, mehr Dinge zu erhalten, um ihre Chance zu überleben zu verbessern. Zum anderen führe dieser Wunsch zu einem permanenten Kampf gegen andere Menschen, die diese Dinge für sich wollten. Somit riskierten die Menschen ihre Leben, sodass dem Gesetz der Selbsterhaltung des Lebens widersprochen werde. Um ihr Leben erhalten zu können, müssen die Menschen Hobbes zufolge eine transzendentale Ordnung einsetzen, deren Aufgabe in der Verteidigung des Lebens gegen dessen eigene Tendenz zur Vernichtung bestehe. Diese transzendentale Ordnung ist bei Hobbes die Souveränität (vgl. Hobbes 1996).

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In dieser Perspektive hebt Esposito zwei grundlegende Verschiebungen hervor, die die biopolitische Orientierung des modernen politischen Diskurses bestimmten. Zunächst stehe im Zentrum der Hobbes’schen Perspektive nicht mehr das Logos des Bürgers der Polis. Vielmehr werde der politische Raum von der Körperlichkeit13 besetzt. Für Hobbes seien nicht die geistlichen Fähigkeiten des Menschen, sondern seine Natur grundlegend. Aus diesem Grund entwickele er eine Perspektive, in der die aristotelische Distinktion von zoé und bíos ihre Bedeutung verliere, da bíos – das politisch qualifizierte Leben – ausgehend von zoé abgeleitet werde (Esposito 2014, 353f.). Die zweite Verschiebung betreffe die Einführung eines »antinomische[n] Dispositiv[s]« (ebd., 355) in den Kern des Politischen. Esposito bezieht sich damit auf das Prinzip, nach dem das Leben auf einen eigenen Teil verzichten muss, um zu überleben. Dieses Prinzip sei bei Hobbes darin zu erkennen, den Wunsch, alle Dinge zu besitzen, in der Einsetzung des Souveräns aufzugeben. In Espositos Lesart wird das Prinzip dagegen in dem natürlichen Immunsystem der Vernunft lokalisiert, das das Leben nicht verteidigen könne, da dieses gleichzeitig zum Krieg gegen andere Menschen führe. Deswegen müsse dieses natürliche Immunsystem von einem künstlichen ersetzt werden. Für Esposito besteht die Antinomie darin, dass zum einen dieses künstliche Immunsystem wie das natürliche das Ziel der Verteidigung des Lebens verfolge, aber zum anderen diese Aufgabe durch die Negation des Natürlichen erfüllt werde. Um erhalten zu werden, muss das Leben auf einen konstitutiven Teil seiner selbst bzw. auf die vorherrschende Stoßrichtung der eigenen expansiven Macht [Potenz] verzichten – d.h. den Willen zum Erwerb von allem aufgeben, welches das Leben der Gefahr einer tödlichen Vergeltung aussetzt. Es stimmt tatsächlich, dass jeder lebendige Organismus in seinem Innern eine Art natürliches Immunsystem hat – die Vernunft –, das ihn von dem Angriff äußerer Agenten schützt. Wenn aber einmal deren Ungenügen festgestellt ist, oder gar ihre kontraproduktiven Effekte, muss dieses Immunsystem von einer induzierten, sprich künstlichen, Immunität ersetzt werden, welche die erste zugleich vollendet und negiert. (Ebd., 355f.)

Dieses künstliche Immunsystem ist Esposito zufolge nichts anderes als die Souveränität. Diese Vorstellung der Souveränität impliziert auch eine Distanzierung in Bezug darauf, was Foucault über das Verhältnis von souveräner Macht und Biomacht gesagt hatte. Nach Esposito muss die Souveränität als »die erste und ein-

13 Esposito fokussiert in Immunitas auf die Verschiebungen in der Konzeption des Körpers, die die Entwicklung der Biopolitik bestimmen (Esposito 2004c, 157). Diese Analyse ist in der Perspektive Espositos funktional zu dem Verständnis der Modalitäten vom »Zugriff« der Biopolitik, die in den nächsten Kapiteln berücksichtigt werden.

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flussreichste immunitäre Gestalt« (ebd., 352) interpretiert werden, die das neue Regime der Biopolitik entwickelt habe. Diese Interpretation der Souveränitätslehre macht den theoretischen Unterschied Espositos nicht nur zu Foucault, sondern auch zu Agamben sichtbar. Bei Esposito ist die Souveränität keine grundlegende Kategorie des Politischen oder, besser gesagt, ist sie nicht die Kategorie, die die Entwicklung und die Struktur des Poltischen zu verstehen vermag. Vielmehr könne die Souveränität – wie auch die Biopolitik – nur durch die Immunisierung verstanden werden. Hobbesʼ Theorie der Souveränität besitzt laut Esposito noch eine andere wichtige biopolitische Implikation, die die Frage nach dem Subjektivierungsprozess betrifft. Im Anschluss an Heidegger und Foucault betont Esposito, dass Subjektvierung und Unterwerfung nicht als Gegenteil, sondern als komplementär zu interpretieren seien. Ein Lebewesen könne als Individuum in dem Maße definiert werden, in dem ein Souverän dieses als individuelles Subjekt anerkenne. Ein Lebewesen werde ein Subjekt, indem dieses sich von der souveränen Macht unterwerfen lasse.14 Diese Dialektik enthüllt Esposito zufolge »die biopolitische Funktion« des modernen Individualismus. Dieser sei nicht die »Verwirklichung der Autonomie des Subjekts« (ebd., 358), sondern »das immunitäre Ideologem, durch welches die moderne Souveränität ihre Aufgabe eines Schutzes des Lebens erfüllen konnte« (ebd., 59). Esposito erklärt diese Passage in Bezug auf den Begriff munus. Das Leben im Naturzustand sei ein Leben mit anderen bzw. müsse ein gemeinsames sein. Was die Souveränitätslehre Hobbes in Frage stelle und negiere, sei deshalb der munus – d.h., die Pflicht zu geben. Das Individuum könne deshalb nur durch den Souverän entstehen, der diese Pflicht gegenüber der Gemeinschaft auflösen bzw. immunisieren könne. Infolgedessen zeige das Paradigma der Immunisierung, dass Absolutismus und Individualismus nicht gegenseitig, sondern komplementär und konstitutiv seien (vgl. ebd., 357). Diese Ko-Implikation wird laut Esposito auch durch die Bedeutung des Substantivs Individuum erklärt. Dieses verweise auf die Möglichkeit, nicht geteilt zu werden oder – mit anderen Worten – nicht gemein zu sein. Nur in dem Maße, in dem die Lebewesen eine Macht jenseits des munus – und deshalb ohne Pflicht und absolut – konstituierten, könnten diese als Individuen anerkannt werden. Es gibt noch einen letzten Punkt der Hobbes’schen Perspektive, der von Esposito analysiert wird. Es handelt sich dabei um die neutralisierende Funktion des sou-

14 In der italienischen Sprache ergibt sich unmittelbar das Verständnis der antinomischen Dialektik von Subjekt und Unterworfenem, da diese Termini mit Soggetto bzw. Assoggettato ausgedrückt werden. Die Begriffe sind in der sprachlichen Bedeutung die Gegenseite des anderen. Allerdings geht es Esposito zufolge dabei nur um eine scheinbare Gegenseitigkeit, da in Wirklichkeit eines die Voraussetzung des anderen sei.

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veränen Handelns. Obwohl bei Hobbes nicht explizit ausgedrückt, taucht Esposito zufolge in seinen Schriften die Idee auf, dass das Immunsystem der Souveränität die Ausübung der Gewalt oder den Wunsch nach Dingen nicht vollständig kontrollieren könne. Deshalb dürfe der Souverän die Konfliktualität nicht vernichten, sondern müsse sie benutzen, um die »Antikörper« des politischen Organismus zu verbessern. Diese Dialektik kann durch ein Beispiel erklärt werden: Eine terroristische Gruppe kann zur Verbesserung der Verteidigungsmechanismen der konstituierten Ordnung beitragen, indem diese zur Erweiterung und Legitimierung der Macht der Polizei beiträgt. Esposito weist deswegen daraufhin, dass die souveräne Funktion der Neutralisierung nicht durch die Vernichtung des Bösen vollzogen werde. Vielmehr werde dieses nutzbar gemacht, indem die Negativität als Funktion in die Ordnung einbezogen werde. Esposito betont infolgedessen einen anderen wichtigen Übergang in Bezug auf die Frage nach der Biopolitik: die Einbeziehung der Politik des Todes im Inneren der Politik des Lebens. Der Begriff des Eigentums stellt Esposito zufolge die zweite Kategorie dar, durch die die Logik der Immunisierung den politischen Diskurs der Moderne präge. Die Analyse des Werks von John Locke zeige, dass die moderne Konzeption des Eigentums zu einer weiteren Immunisierung des politischen Raums führe. Esposito stützt diese Interpretation darauf, dass Locke eine konstitutive Verbindung zwischen dem Recht zu Leben und dem Recht auf Eigentum setze (ebd., 361). Das Interessante an Lockes Perspektive sei außerdem die Definition des Eigentums als Erweiterung des Körpers, da das Eigentum durch die menschliche Tätigkeit – die Arbeit – erhalten werde (ebd., 363f.). Zudem habe jeder Mensch als Eigentümer das Recht, dieses Produkt mit jedem Mittel zu verteidigen, da es als Teil seines Körpers zu betrachten sei. Für Esposito ist bemerkenswert, dass hierbei das Eigentum weniger durch formal-rechtliche als durch biologische Kategorien definiert werde. Nur durch eine Verkörperung des Gegenstands könne dieses als Eigentum betrachtet werden. Laut Esposito findet in der Idee der Erweiterung oder Verdoppelung des Körpers Lockes Theorie ihr rechtliches und ontologisches Fundament. Da der Mensch im Naturzustand nur ein Recht auf seinen Körper habe, könne er andere Dinge nur in dem Maße besitzen, in dem diese Teil von dessen Körper würden. Durch einige Zitate aus Lockes Werk betont Esposito, dass für diesen im Naturzustand die Dinge nicht eigen, sondern gemein seien. Das Gemein-Sein der Dinge werde von Locke jedoch als gefährlich für die Selbsterhaltung des Lebens angesehen (vgl. ebd., 364). Wie bei Hobbes – so Espositos Lesart von Lockes Philosophie – müssten die Menschen gegen den munus immunisiert werden. Allerdings stelle das Eigentum als Immunsystem eine qualitative Wende dar. Während sich die Souveränität auf die Gründung des modernen Individualismus beschränke, bestimmt laut Esposito die moderne Konzeption des Eigentums das

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Wesen des Individuums (ebd., 365). Um diese Wende besser zu erklären, verweist Esposito auf die Dialektik von Subjektivität und Eigentum. In dem Maße, in dem sich jemand als Subjekt durch sein/ihr Eigentum konstituiere, hänge seine/ihre Subjektivität von dem Eigentum ab, sodass dieses als arché des Subjekts zu betrachten sei. Daher sei der Prozess der Aneignung zugleich eine Verdinglichung und somit eine De-Subjektivierung. Für Esposito handelt es sich dabei um die »Bewegung der Selbstwiderlegung, die alle modernen biopolitischen Kategorien ergreift« (ebd., 368). Damit behauptet er, dass auch das Eigentum die negative Logik der Immunisierung aufzeige und verfolge. Dadurch dass das Leben durch die Aneignung der Dinge erhalten werden kann, lassen sich ihm zufolge zwei Negationen erkennen. Die erste betreffe die Negation des munus, eines gemeinen Raums. Es handele sich allerdings in diesem Fall um eine affirmative Negation, da diese das Individuum als Eigentümer-Subjekt setze. Die zweite betreffe die Negation des direkten Verhältnisses von Subjekt und Eigentum. Esposito bezieht sich auf die späteren Konzeptionen des Eigentums im Anschluss an die Entwicklung der politischen Ökonomie, die die von Locke gesetzte Verbindung von Arbeit und Eigentum breche. In dem Maße, in dem das Eigentum ein bloßer Rechtstitel werde, werde das Individuum von seinen Dingen – deren Besitz seine/ihre eigene Subjektivität gegründet hatte – getrennt. Die Folge dieser Veränderung ist Esposito zufolge eine »Entleerungsgefahr« des Individuums, das nur negativ und formal definiert werden könne (vgl. ebd.). Diese zweite Negation wird von Esposito nicht eingehend erklärt und bedarf aus diesem Grund einer Ergänzung. Obwohl keine direkte Verbindung zu den Schriften der Frankfurter Schule besteht, lässt sich eine Analogie zwischen der von Esposito beschriebenen Tendenz zur Entleerung der modernen EigentümerSubjekte und der von Adorno und Horkheimer dargelegten Herrschaft des Austauschs ziehen (vgl. Adorno und Horkheimer 2008). Zwar zitiert Esposito Kants Unterscheidung zwischen possessio phaenomenon und possessio noumen, um die Entwicklung der späteren modernen Konzeption des Eigentums zu definieren; jedoch bleibt fragwürdig, inwiefern durch die Kantʼsche Distinktion der DeSubjektivierungsprozess der Aneignung bestimmt werden kann. Im Gegensatz dazu zeigt die Analyse von Adorno und Horkheimer ausgezeichnet, wie durch die Herrschaft des Austauschs das moderne Individuum seine Autonomie verliert, obwohl diese durch seine Freiheit in der Austauschpraxis definiert wird. Adorno und Horkheimer weisen gerade auf den Prozess hin, durch den die unmittelbare Verbindung von Arbeit und Eigentum verschwindet. Das moderne Subjekt ist insofern nur eine bloß rechtliche, dialektische Figur, die vom Austausch dominiert wird (vgl. ebd.). Trotz dieser Lücke in Espositos Perspektive der Immunisierung des politischen Raums ist es wichtig, das proportionale Verhältnis zwischen der Entwicklung der Konzeption des Eigentums und der De-Subjektivierung hervorzuheben. Je mehr

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sich die Konzeption des Eigentums entwickelt, desto mehr verliert das Individuum sein Wesen als Eigentümer, obwohl das Eigentum entstanden war, um dessen Subjektivität zu garantieren. So gesehen bestätigt die Dialektik von Eigentum und Subjektivität die konstitutive Antinomie des politischen Diskurses der Moderne. Die moderne Konzeption der Freiheit ist die dritte Kategorie, deren Bedeutung Esposito zufolge von der Logik der Immunität bestimmt wird. Um diese These zu begründen, konfrontiert er die Idee der Freiheit der antiken griechischen und lateinischen Autoren mit der modernen Vorstellung der Freiheit. Esposito legt dar, dass die antiken griechischen Autoren die Freiheit zunächst grundlegend als eleuthería konzipieren. Dieser griechische Begriff weist auf eine Erweiterung des Lebens und auf eine relationale Dimension hin. Der relationale Charakter als Merkmal der Freiheit lässt sich Esposito zufolge auch durch eine etymologische Analyse erfassen: Sowohl die Wurzel leuth o leudh – von dem die griechische eleuthería wie auch die Lateinische libertas stammen – als auch der sanskritische Stamm frya, auf den dagegen das englische freedom und das deutschen Freiheit zurückgehen – verweisen nämlich auf etwas, das mit einem Wachstum, einem Aufgehen, einem Erblühen, auch im spezifisch pflanzlichen Sinne des Worts zusammenhängt. Betrachtet man dann die doppelte semantische Kette, die davon abstammt – nämlich die der Liebe (lieben, lief, love wie auch auf andere Weise libet und libido) und die der Freundschaft (friend, Freund) – lässt sich daraus nicht nur eine Bestätigung der ursprünglichen affirmativen Konnotation entnehmen, sondern ebenso auch eine eigentümlich gemeinschaftliche Valenz herauslesen. (Esposito 2014, 369f., Herv. i. O.)

Insofern entwickelt ein Mensch seine Freiheit in dem Leben mit anderen und das Leben mit anderen stellt den Raum dar, in dem die Freiheit ausgeübt oder erfahren wird. Auch der lateinische Begriff libertas hat eine ähnliche Bedeutung.15 Infolge-

15 Während in Bíos das Griechische eleuthería und das Lateinische libertas nicht differenziert werden, analysiert Esposito in der Schrift Libertá e immunitá die Variationen dieses Begriffs in der hellenischen und römischen Kultur. Im Unterschied zu eleuthería sei libertas weniger vom Ethos als vom Recht charakterisiert. Außerdem betont Esposito in dieser Schrift, dass die immunitäre Wende in der Konzeption der Freiheit in der mittelalterlichen Definition dieses Begriffs zu suchen sei. In dieser Zeit sei nämlich die Freiheit als Privilegium von einigen gegenüber den anderen konzipiert worden. Das Privilegium kann Esposito zufolge auch als Immunität gelesen werden, da die Privilegierten von gemeinen Pflichten dispensiert (immunisiert) waren. Aus dieser Perspektive wird die Moderne als der philosophische Diskurs interpretiert, in dem die Logik der Immunität sich grenzenlos verbreitet. Anders gesagt, werden nicht nur wenige Privilegierte, sondern der gesamte Gesellschaftskörper gegen »andere« immunisiert. Auf diese Weise wird die Konzeption des eleuthería umgekehrt. Während für dieses die Freiheit als Instrument ge-

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dessen wird die Freiheit immer in einem öffentlichen und gemeinen Raum erlebt und betrifft das Ethos der Gemeinschaft oder des Lebens mit anderen. Esposito zufolge lässt sich in den vormodernen Zeiten so etwas wie eine private und individuelle Freiheit nicht begreifen. Vielmehr werde die Freiheit in Verbindung mit der communitas konzipiert. Im Unterschied dazu entwickeln die modernen AutorInnen für Esposito nur einen negativen Begriff der Freiheit. Esposito formuliert diese These im Anschluss an eine Schrift von Isaiah Berlin, der in der modernen Tradition eine positive von einer negativen Konzeption der Freiheit unterscheidet. Die erste sei eine »Freiheit von«, während die zweite der »Freiheit zu« entspreche (ebd., 370). Allerdings – so argumentiert Esposito – sei bei Berlin auch die als positiv definierte Freiheit im Grunde eine negative Darstellung von Freiheit, da in deren Zentrum die NichtAbhängigkeit von anderen stehe. Damit verweist Esposito darauf, dass in der Moderne die Dimension der Freiheit nicht im Sinn einer Ethik des Lebens mit den anderen wie in der Antike, sondern im Sinn einer Autonomie des Individuums von den anderen formuliert wird (ebd., 371; vgl. auch Esposito 2009, 121). Esposito zufolge ist die immunitäre Logik unmittelbar zu erkennen. In dem Maße, in dem die anderen als eine mögliche Bedrohung für die Autonomie des Individuums konzipiert würden, müsse das Subjekt gegen den anderen immunisiert werden. Die »Erfindung des modernen Individualismus« bildet für Esposito insofern den Ausgangspunkt der Veränderung der Konzeption der Freiheit. Allerdings sei es noch wichtiger, dass die Freiheit in der Moderne durch die »Sprache des Schutzes« (Esposito 2014, 371) thematisiert werde. Damit verweist Esposito auf die Dialektik von Sicherheit und Freiheit, die die moderne Literatur über dieses Thema beeinflusse. Während allerdings die ersten modernen Autoren wie Hobbes und Locke eine ambivalente Interpretation des Verhältnisses dieser zwei Dimensionen formuliert hätten (ebd., 372-373), setzten spätere Autoren wie Montesquieu und insbesondere Bentham eine unmittelbare Verbindung zwischen ihnen, sodass es unmöglich werde, die Freiheit von der Sicherheit zu unterscheiden (ebd., 374f.). Benthams Projekt des Panoptikums stellt für Esposito den Höhepunkt der konstitutiven Antinomie der modernen Konzeption der Freiheit dar. In diesem architektonischen Modell sei »die spektakulärste Weise« einer Sicherheitslogik dargestellt (ebd., 375), nach der das Subjekt nur durch eine totale Kontrolle gesichert werden könne. Durch diese Argumentation hebt Esposito hervor, dass im Zentrum der Moderne das Paradox einer Logik stehe, die den Schutz des Lebens durch die Negation des Lebens selbst verfolge. In Bezug auf die Kategorie der Freiheit kann im An-

dacht war, um das Leben mit den anderen zu bilden, konzipiert die Moderne die Freiheit als Schutz der Autonomie gegen die anderen (vgl. Esposito 2000 und 2009, 115-124).

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schluss an Espositos Interpretation des modernen Begriffs der Freiheit behauptet werden, dass das freie Individuum paradoxerweise kontrolliert werden muss, um frei zu sein. Um diese strukturelle Antinomie zu verdeutlichen, behauptet Esposito in der Schrift Libertá e immunitá (Freiheit und Immunität), dass die modernen Autoren – mit den Ausnahmen von Spinoza und Kant – dazu tendierten, die Freiheit durch ihre logische Gegenseite zu konzipieren. So würden z.B. Hobbes, Rousseau und Hegel von der Idee bzw. von Ordnung, Souveränität und Staat ausgehen, um die Freiheit zu begreifen (vgl. Esposito 2009, 118). Dass auch die moderne Kultur der Freiheit von der Immunität dominiert sei, stellt für Esposito den Zug einer logischen Kontinuität von Individualismus und Totalitarismus dar. Grundlegend für diese These sind die Kritiken von Hannah Arendt und Foucault am Liberalismus, die Esposito in Bíos berücksichtigt. Für Arendt habe der Liberalismus die Selbsterhaltung des Lebens als Aufgabe des Politischen gesetzt. Allerdings – so Arendts Argumentation – führe diese Vorstellung des Politischen dazu, dass das Bedürfnis das grundlegende Kriterium für das politische Handeln werde. Zudem erfasst Arendt Esposito zufolge eine grundlegende Verschiebung in der sekuritären Konzeption der Freiheit der liberalen politischen Philosophie (Esposito 2014, 376). Es handele sich dabei um den Übergang von der Sicherheit des einzelnen Lebens zur Versicherung der sozialen und politischen Ordnung. Laut Esposito ist hierbei bemerkenswert, dass die Logik der Sicherheit die Grenzen des individuellen Lebens transzendiere und die Möglichkeit einer totalitären Kontrolle eröffne. Foucaults Verdienst sei es, die konstitutive Antinomie der liberalen Konzeption der Freiheit aufgezeigt zu haben. In seiner Analytik der liberalen politischen Rationalität hebt Foucault hervor, dass diese von der Idee charakterisiert sei, die Individuen mit ihrer Singularität in die staatliche Totalität zu integrieren (ebd., 377). Die Kritik an der liberalen Konzeption der Freiheit durch das Paradigma der Immunität stellt für Esposito die Möglichkeit für eine kritische Analyse des homo democraticus dar. Diese Forschungsperspektive stellt ihm zufolge eine Priorität der zeitgenössischen soziologischen und politologischen Forschung dar, so wie in den 1930er Jahren die Analyse des homo totalitarius die drängende Aufgabe des Collège de Sociologie in Frankreich und der Frankfurter Schule in Deutschland gewesen sei (vgl. Esposito 2009, 107). Den Begriff homo democraticus übernimmt Esposito von Tocqueville, der ihn in seiner Analyse der Entwicklung der Demokratie in Amerika formulierte. Für Esposito erfasst Tocqueville das »immunitäre Abgleiten der modernen Politik« in dem Maße, in dem er Atomismus und Vermassung als Merkmale der modernen Demokratisierung erkennt. Esposito geht über diese Beobachtung hinaus und behauptet, dass die paradoxale Koexistenz von Singularität und Masse im Inneren der Individuen das Entstehen des Totalitarismus vorbereite. Im Anschluss an diese Argumentation Espositos kann insofern behauptet wer-

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den, dass der moderne homo democraticus die Voraussetzung des homo totalitarius darstellt. Allerdings vertieft er diese These nicht weiter. Obwohl die Analytik des homo democraticus von Esposito als dringend dargestellt wird, hat er in dieser Hinsicht wenig unternommen. Erst in den letzten Jahren fokussiert er sich auf diese Aufgabe, indem er die Philosophie der Person kritisch analysiert (vgl. Esposito 2007). Allerdings geht es dabei nicht um eine systematische Analyse dieses Verhältnisses. Vielmehr konzentriert er sich auf die Analyse der liberalen Konzeption des Subjekts, die in Bíos nur in dem Abschnitt über die moderne Konzeption der Freiheit thematisiert wird. Wichtig ist zu betonen, dass Esposito in seiner Analytik weder die Hypothese der absoluten Kontinuität – wie bei Agamben – noch einer radikalen Diskontinuität – wie bei Negri – berücksichtigt. Vielmehr versucht er, beide Aspekte zu analysieren und sichtbar zu machen. 4.3.3 Negative Moderne als Biopolitik? Die Interpretation der Moderne durch das Paradigma der Immunisierung erlaubt, die Ambivalenzen der modernen philosophisch-politischen Kategorien sichtbar zu machen. Espositos Rekonstruktion der modernen Konzeption der Souveränität, des Eigentums und der Freiheit enthüllt die Persistenz des Negativen bzw. der Negation als konstitutivem Element der modernen politischen Ordnung. Allerdings überzeugt in seiner Analyse die These nicht, dass die Persistenz der negativ-immunitären Ausrichtung bereits ein Zug der Geburt der Biopolitik sei. Zwar spricht Esposito von einer vermittelten und nicht unmittelbaren Biopolitisierung des Politischen, doch ist diese Kategorisierung wenig plausibel, da die Vermittlung als gesellschaftliche Funktion komplexer ist und nicht auf eine Interpretation der Philosophien, die die moderne Vorstellung von Souveränität, Eigentum und Freiheit prägen, gründen kann. Das bedeutet nicht, dass diese theoretische Perspektive keine Bedeutung hat. Vielmehr liegt das Problem darin, dass sich Esposito in seiner Analyse der Geburt der Biopolitik nur auf philosophische Diskurse fokussiert. Ein anderes Problem der Darlegung Espositos liegt in der Überlagerung des Begriffs der Biopolitik mit dem Paradigma der Immunisierung. Dies stellt eine strukturelle und methodologische Unklarheit in Espositos Perspektive dar, die vor allem von einer fehlenden Distinktion zwischen Begriff und Paradigma abhängt. Er versucht, die Biopolitik durch die Immunisierung zu erklären, aber thematisiert kaum die Biopolitik und fast ausschließlich die Logik der Immunisierung. So gesehen ist die Biopolitik bei ihm nichts anderes als die immunitäre Ausrichtung des Politischen in der Moderne. Der Unterschied von Antike und Moderne liegt für Esposito deswegen darin, dass in dem antiken politischen Diskurs die politischen sozialen Ordnungen von der Dialektik von immunitas und communitas bestimmt

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seien, während in der Moderne die Immunisierung hegemonial werde. Diese These besitzt viele Analogien mit der Perspektive Agambens, obwohl sich Esposito von diesem kritisch distanziert. Während bei Agamben die Produktion von nacktem Leben die verborgene Matrix des Politischen im Abendland ist, die am Rand der Polis funktioniert und im Zentrum der modernen Institutionen steht, lässt sich bei Esposito eine ähnliche theoretische Verschiebung erkennen, nach der ein Element des antiken politischen Diskurses – die Immunisierung – der Mittelpunkt der Moderne wird. Diese Darlegung verrät insofern eine strukturelle geschichtsphilosophische Forschungsperspektive, die wie bei Agamben eine pessimistische Interpretation der Moderne vermittelt. Allerdings beschränkt sich Espositos Perspektive nicht auf die Rekonstruktion der modernen philosophisch-politischen Kategorien durch das Paradigma der Immunisierung. Er verwendet dieses Paradigma auch für eine Interpretation der Interaktionen zwischen biologischen/medizinischen und politischen Diskursen und Wissen. Diese an Foucault angelehnte Analytik wird in dem nächsten Abschnitt thematisiert und analysiert.

4.4 B IOPOLITIK UND I NTERAKTION UND P OLITISCHEM

VON

B IOLOGISCHEM

Espositos Theorie der Biopolitik beschränkt sich nicht auf die Definition der Immunisierung als Paradigma für das Verständnis des komplexen Verhältnisses von Politik des Lebens und Politik des Todes. In seinen Arbeiten konzentriert er sich auch auf die Interaktionen von Biologischem und Politischem, indem er die Diskurse der Politologie und der Naturwissenschaften analysiert, die von einem Austausch von biologischen bzw. politischen Begriffen, Lexika und Paradigmen beeinflusst werden. In seiner Forschung lassen sich diesbezüglich zwei Orientierungen erkennen. Die erste ist unmittelbar mit der Feststellung der immunitären Ausrichtung des politischen Diskurses in der Moderne verbunden und fokussiert auf die Verschiebungen in der Konzeption des organischen und politischen Körpers. Esposito basiert die These der Zentralität des Körpers für die Entwicklung der Biopolitik auf die Vermutung, dass dieser gleichzeitig das Werkzeug und der Gegenstand einer Politik des Lebens sei, da sich ein Leben nur im Inneren des Körpers entwickeln könne. Aus diesem Grund ist es für Esposito grundlegend, zu verstehen, wie im Lauf der Moderne die Idee des Körpers formuliert wird. In seiner Untersuchung unterscheidet er zwei Ebenen für die Konzeptualisierung des Körpers. Die erste betrifft die Art und Weise, in der die modernen politischen PhilosophInnen die Kenntnisse der modernen Naturwissenschaften übernehmen, um eine neue Konzep-

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tion des politischen Körpers zu entfalten. Die zweite dreht sich um den Einfluss des Politischen auf die Naturwissenschaften durch die Formulierung von Begriffen und Paradigmen für die Interpretationen natürlicher Phänomene. Die Interaktion dieser zwei Ebenen – die in dem ersten bzw. zweiten Abschnitt dieses Kapitels thematisiert werden – produziert für Esposito die biopolitische Immunisierung des politischen Raums. Diese Forschungsperspektive wird vor allem in Immunitas entfaltet (vgl. Esposito 2004c). In seinen jüngsten Arbeiten konzentriert Esposito seine Analyse dagegen auf die modernen Vorstellungen des biologischen Lebens und insbesondere, wie diese zur Entwicklung einer neuen politischen Perspektive führen, die ihm zufolge von der Tendenz zur Biologisierung des Politischen gekennzeichnet ist. In seiner Arbeit Terza persona (Esposito 2007) führt er einige wichtige Veränderungen in seinem Begriff der Biopolitik ein, der nun weniger die Orientierung des politischen Diskurses in der Moderne begreift. Vielmehr verweist Esposito in diesen Arbeiten auf eine politische Perspektive, nach der das politische Handeln von einer biologischen Struktur bestimmt sei. Demnach stelle die Biopolitik das Gegenteil der demokratischen Tradition der Moderne dar. Diese neue Phase von Espositos Theorie der Biopolitik wird in seiner Arbeit Terza persona entwickelt und hier in dem dritten Abschnitt analysiert. Im vierten Abschnitt wird Espositos Analyse des Nationalsozialismus thematisiert. Für ihn kann dieser sowohl als der Höhepunkt der Immunisierung des Politischen angesehen werden, die die Biopolitik in Thanatopolitik wendet, als auch als vollkommene Verwirklichung der Biologisierung des Politischen. Die Analyse des Nationalsozialismus stellt den Kern von Espositos Theorie der Biopolitik dar. Er lehnt zunächst den Begriff des Totalitarismus ab, da dieser kein Verständnis des Wesens des Nationalsozialismus erlaube. Im Gegensatz dazu biete der Begriff der Biopolitik ein Erklärungsmodell für die enge Interaktion von Biologischem und Politischem, die diese politische Perspektive charakterisiere. Der Nationalsozialismus stellt für Esposito eine zweite Phase der modernen Biopolitik dar, in der der Immunisierungsprozess ohne die Vermittlungsfunktion von Kategorien wie Recht, Eigentum und Freiheit unmittelbar auf das Leben der Bevölkerungen wirke. Außerdem hält Esposito fest, dass die von dem Nationalsozialismus eröffneten Fragen nach dem Verhältnis von Politik und Leben noch immer aktuell seien. Aus diesem Grund ist für ihn das Verständnis der nationalsozialistischen Biopolitik grundlegend für eine kritische Prüfung der gegenwärtigen Formen der Biopolitik. Er analysiert den Nationalsozialismus sowohl in Bíos, als auch in Terza persona. Im Folgenden werden beide Analysen berücksichtigt und kritisch verglichen.

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4.4.1 Körper, Politik, Biologie Für Esposito muss der Körper als die Dimension betrachtet werden, »in der das Leben durch die politische Immunisierung erhalten wird« (Esposito 2004c, 157). Diese Annahme beruht darauf, dass eine Politik des Lebens auf den Ort fokussieren müsse, »in dem das Leben sich allererst entfaltet« (ebd., 158). Da nur durch und innerhalb eines Körpers, ein Leben möglich sei, folgt für Esposito, dass der Körper gleichzeitig »das Terrain und das Werkzeug« (ebd.) des Kampfs um die Selbsterhaltung des Lebens sei, der zur Entwicklung der Logik der Immunität führe. Dieses konstitutive Verhältnis von Leben und Körper ist Esposito zufolge der Grund, warum der Körper als Metapher für die Entwicklung der sozialen und politischen Organisationen fungiert habe. Die theoretische Leistung des politischen Diskurses in der Moderne liegt allerdings für Esposito darin, dass in dieser Zeit die Metapher des Körpers eine immunitäre »Ausrichtung« bekomme (vgl. ebd.). Diese Entwicklung hängt ihm zufolge von einer permanenten Interaktion von medizinischem und biologischem Wissen und Konzeptionen des politischen Körpers ab, die die Entfaltung der modernen politischen Institutionen und der modernen Medizinwissenschaft präge. Die Frage nach der Selbsterhaltung des Körpers ist laut Esposito als Kreuzpunkt dieses Austauschs von Lexika, Begriffen und Perspektiven zu interpretieren. Während in den vorherigen Kapiteln analysiert worden ist, wie aus Espositos Perspektive die Zentralität dieser Frage das Entstehen und die Entwicklung der modernen politischen Kategorien prägt, wird nun hervorgehoben, inwiefern die Frage der Selbsterhaltung das Politische und die Naturwissenschaft – insbesondere die Biologie und die Medizin – in Verbindung bringt. Diese Orientierung an der Selbsterhaltung des Politischen bricht zunächst mit der antiken Einsicht, die Esposito zufolge von Polibius Idee des unvermeidlichen Untergangs der politischen Organisationen geprägt wurde. Für diesen seien die Krisen und das Ende einer bestimmten Institution nichts anderes als das Zeichen eines internen und irreversiblen Untergangsprozesses gewesen. Der politische Diskurs der Moderne lehne diese Vorstellung ab. Im Gegensatz zu Polibius werde nun theoretisiert, dass der Untergang eines politischen Organismus weniger von einem zeitlichen Zyklus als von der Anwesenheit »kranker« Teile abhänge. Esposito hebt in seiner Analyse hervor, dass diese Veränderung in der Konzeption des Politischen mit einer radikalen Revolution im Bereich der Medizin zusammenfalle. Die vormoderne Medizin basierte auf der Vermutung, dass die Gesundheit von der Balance der Körpersäfte abhänge. Daraus wurde gefolgert, dass die Ursachen des Übels im Inneren des kranken Körpers zu suchen seien. Somit tendierte die medizinische Praxis dazu, diese Balance zu rekonstruieren. Im Gegensatz dazu erforsche die moderne Medizin die Ursachen der Krankheit im Kontakt mit anderen Or-

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ganismen, die die Einheit des Körpers brächen, indem sie ihn infizierten. Esposito zufolge produziert dieser paradigmatische Bruch zwei grundlegende Verschiebungen in der Konzeption der medizinischen Praxis, die mit der Entwicklung des modernen politischen Diskurses vergleichbar sind. Die erste betreffe die Lokalisierung der Krankheit. Diese werde nicht mehr in der internen Regulation des Körpers, sondern in den Krankheitserregern erforscht. Esposito bringt diese Veränderung der Medizin mit der Verbreitung von verschiedenen Epidemien im Lauf des 16. Jahrhunderts in Verbindung, die sich durch den Kontakt mit pathogenen Agenten verbreiteten (vgl. ebd., 172). In diesem historischen und sozialen Kontext entstehe die Kategorie der Kontamination. Für Esposito führt das Auftauchen des Problems der Kontamination zum Aufbau von Barrieren, um die »Durchlässigkeit der äußeren Grenzen« kontrollieren zu können (ebd.). Das Bedürfnis nach Schutz gegen äußere Kontamination setzt deshalb Esposito zufolge eine Reihe von Maßnahmen in Gang, in denen sich medizinische Praxis und politisches Handeln verflechten. Während das medizinische Wissen die biologischen Schwächen des menschlichen Körpers zeige, erfülle das Politische die Aufgabe, diese schwachen Körper zu verteidigen. Für Esposito führt dieser Prozess zu einer zunehmenden Verschlossenheit des politischen Körpers: »Je offenkundiger die Verwundbarkeit der politischen Körper erscheinen mußte, desto drängender erwies sich die Notwendigkeit, die Öffnungen, die an ihren Grenzen klafften, hermetisch abzudichten« (Ebd.). Die in der Medizin entstandene Kategorie der Kontamination produziere deshalb eine bestimmte Orientierung des politischen Handelns, das als Präventionsmaßnahme auch die Ausschließung bestimmter ethnischer Minderheiten vorsehe, die als potenzielle Erreger von Krankheiten betrachtet würden. Anders als Agamben, nach dem die Ausschließung von Lebewesen eine strukturelle Form des Politischen darstellt, setzt Esposito diesen Prozess in Verbindung mit der zunehmenden Medikalisierung der Gesellschaft. Die zweite Veränderung in der medizinischen Wissenschaft ist für Esposito noch wichtiger und betrifft das Verhältnis von Krankheit und Gesundheit. Wenn die Krankheit nicht mehr von der Balance der Körpersäfte, sondern von dem Kontakt mit pathogenen Agenten abhänge, müsse eine medizinische Praxis entwickelt werden, die diese pathologischen Wirkungen bekämpfen könne. Esposito zufolge steht das Werk von Paracelsius im Zentrum dieser Wende im Bereich der Medizin (vgl. ebd., 174). Paracelsius entwickele nicht nur die moderne Vorstellung der Krankheit, die von ihm als autonome Entität konzipiert werde, sondern auch eine neue Konzeption der Therapie, dem das Prinzip zugrunde liege, Gleiches könne durch Gleiches geheilt werden (vgl. ebd., 175). Für Esposito stellt diese Veränderung eine Revolution in der Konzeption des Verhältnisses von Krankheit und Gesundheit dar, die in einer gewissermaßen dialektischen Vermittlung verbunden seien.

226 | P ARADOXIEN DER B IOPOLITIK Wenn die Heilung von einem Gift in eben jenem Gift selbst besteht, dann sind Krankheit und Gesundheit nicht mehr längs einer Achse frontaler Gegenüberstellung angeordnet, sondern gemäß einer dialektischen Relation, innerhalb derer das eine gewiß immer noch das Gegenteil, aber auch und vor allem Instrument des anderen ist. (Ebd.)

Esposito zufolge besteht Paracelsiusʼ Revolution darin, dass er den therapeutischen Gebrauch des Gifts selbst als aktiven Eingriff gegen das Böse konzipiere. Zwar assoziierten auch die Antiken – so Espositos Argumentation – »das Böse mit seinem Heilmittel«; jedoch erst mit Paracelsiusʼ Theorie sei »die Verabreichung zu Heilzwecken einer gewissen Menge desselben Giftes, vor dem man sich schützen will« thematisiert worden (ebd., 176). Daher ist für Esposito Paracelsius als ein Vorreiter der späteren Immunologie zu betrachten. Dass das Böse als Instrument für die Verstärkung und Rettung des Körpers fungieren könne, ist Esposito zufolge eine Konzeption, die nicht nur auf den medizinischen Bereich beschränkt sei. Diese aktive immunitäre Orientierung habe auch dieʼ Politologie beeinflusst. Ein Beweis dafür seien einige Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, die »die potenziell zerstörerischen Elemente« in das Funktionssystem des politischen Körpers zu integrieren versuchten.16 Allerdings ist für Esposito Hobbesʼ Philosophie als das Konzeptualisierungsmoment zu betrachten, in dem die Immunisierung des politischen Körpers ausführlich theoretisiert wird. Dieser habe als erster eine Konzeption entfaltet, nach der das Politische immer unter dem Druck von Revolten, Revolutionen, Epidemien und Kriegen stehe. Daraus folgere Hobbes das Bedürfnis, Schutzsysteme für die Verteidigung des politischen Körpers zu entfalten. Hobbesʼ Innovation bestehe darin, dass er seine Perspektive ausgehend von einer gleichzeitig mechanistischen und naturalistischen Vorstellung des Menschen entwickele. Anders als die vorherige politische Tradition würden nun die Menschen ausgehend von ihren biologischen Funktionsweisen konzipiert. Das Neue bei Hobbes liege darin, dass in seiner Perspektive weder die Theologie noch die Philosophie, sondern die neue mechanistische Biologie das Wissen biete, um eine sichere politische Organisation zu entfalten. Für Esposito ist dabei bemerkenswert, wie Hobbes die menschliche politische Organisation gleichzeitig als Maschine und natürlichen Körper begreift. In der Konzeption seiner politischen Ordnung wird Esposito zufolge die Metapher des Körpers durch die Semantik der Maschine ergänzt, damit dieser über seine natürlichen Grenzen leben könne. Mit anderen Worten: Da der Körper als natürliche Entität zum Tod tendiert, müssen künstliche Interventionen entwickelt werden, um das tödliche

16 Esposito zitiert z.B. A Mervailous Combat of Contrareties von William Averell (1588), A Comparative Discourse of the Bodies Natural and Politique von Edward Forset (1606) und The Whore of Babylon (1606) von Thomas Dekker.

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Schicksal des Körpers zu vermeiden. Infolgedessen sei der politische Körper in Hobbesʼ Perspektive als eine Mischung von natürlichen und künstlich-mechanistischen Elementen zu denken. Maschine und Natur seien darin deshalb als komplementär zu denken.17 Die künstlichen Interventen ermöglichten die Verbesserung und Erweiterung der natürlichen Gestalt. Wie bereits erwähnt, tendieren für Hobbes die Menschen – und somit ihre Körper – im Naturzustand zur Selbsterhaltung des Lebens und zur Aneignung von Dingen. In dem Maße, in dem sich die natürlichen Körper der Menschen in dem künstlichen Körper des Staats vereinen, verbessern und erweitern sie ihre Möglichkeiten zu überleben und Dinge anzueignen. Esposito hebt hierbei hervor, dass Hobbes in seiner Theorie die regulativen biologischen Elemente der Menschen in die Funktionsweisen des künstlichen Körpers des Staats integriere. Infolgedessen erbe der künstliche Körper die Naturgesetze des natürlichen. So wie der natürliche strebe auch der künstliche Körper danach, zu überleben. Noch wichtiger für Esposito ist deshalb, wie nach Hobbes der politische Körper überleben könne. Esposito legt in seiner Lesart den Akzent darauf, dass Hobbes eine »funktionale Beziehung« zwischen dem natürlichen Tod des Körpers der Untertanen und dem Aufbau eines künstlichen, ewigen Lebens des politischen Körpers setze (ebd., 161f.). In dem Maße, in dem die Menschen als tödliche Glieder des souveränen Körpers des Staates betrachtet würden, könnten diese ersetzt werden oder ihr Tod könne einfach für das Überleben des »Maschine-Körpers« (ebd., 162) benutzt werden. Eine weitere Verschiebung in der Metapher des Körpers für die Entwicklung des modernen politischen Diskurses lässt sich Esposito zufolge in den Werken der PhilosophInnen der Aufklärung erkennen. Er bezieht sich unmittelbar auf die Schriften von Rousseau und Sieyès und hebt zunächst hervor, dass für diese der politische Körper nicht mehr mit der Institution der Souveränität, sondern mit dem Volk übereinstimme. Zentral dabei sei der Begriff des Gemeinwillens, der für Esposito als »Medium« für den Übergang von dem individuellen zum allgemeinen Körper fungiere (ebd., 163). Anders als bei Hobbes müsse bei diesen AutorInnen der politische Körper allerdings nicht geschaffen werden, da die Zugehörigkeit der Menschen zu einem Volk bereits vorausgesetzt sei. Diese Verschiebung von einer künstlichen zu einer a priori existierenden Ordnung ist Esposito zufolge das wichtigste Merkmal der PhilosophInnen der Aufklärung in Bezug auf die Konzeption des politischen Raums als Körper. Die Anerkennung des Volks als Ort des politischen Körpers impliziere das Ende der Hierarchie zwischen den verschiedenen Teilen des Körpers – d.h., der Kopf/König müsse nun wie die anderen Teile betrachtet

17 Esposito betont, dass in Hobbesʼ Zeit Mechanizismus und Organizismus nicht als gegenseitige Perspektiven thematisiert worden seien (vgl. Esposito 2004c, 159f.).

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werden. Esposito begreift diese theoretische Operation als »strategisch«, da die PhilosophInnen der Aufklärung eine theoretische Lösung suchten, um das Todesurteil für den König zu legitimieren. Aus dieser Sichtweise sei aufklärend, dass Sieyès den Tod des Königs mit der Rettung des politischen Körpers in Verbindung bringe. Mit anderen Worten: in dem Maße, in dem ein König ein Übel für den politischen Körper des Volks darstellt, ist sein Tod notwendig, um den politischen Körper selbst zu retten. Esposito begreift in Sieyèsʼ Argumentation eine immunitäre Ausrichtung. Allerdings ist für ihn noch bemerkenswerter, dass Sieyès seine Thesen durch das Lexikon der Medizin formuliert. Sieyèsʼ medizinisches Lexikon ist für Esposito eine weitere Bestätigung des engen Verhältnisses von medizinischem und politischem Wissen. Wie in Paracelsiusʼ Medizin werde auch in dem politischen Raum der Verteidigungsmechanismus als Angriff konzipiert. Die Entstehung von Schutzmechanismen und der Konzeption von Heilpraktiken als aktiver Angriff sind deshalb Esposito zufolge das Ergebnis eines Prozesses der Immunisierung, der gleichzeitig den politischen und physiologischen Körper betreffe. 4.4.2 Darstellung des politischen Körpers und Veränderung der biologischen Vorstellung des Körpers Esposito zufolge ist der Interaktionsprozess von Medizin und Politik nicht als unilinear zu interpretieren. So wie die neue biologische Konzeption des Körpers und die moderne Praxis der Medizin das Politische beeinflussten, seien gleichzeitig auch die biologischen und medizinischen Paradigmen von den politischen Diskursen ihrer Zeit geprägt worden (ebd., 180).18 Um die Interaktion von Politischem und Biologischem in seiner Komplexität sichtbar zu machen, ist nach Esposito neben der Vorstellung des natürlichen Körpers als Vorbild für die Entwicklung von politischen Perspektiven auch die Art zu berücksichtigen, in der das Lexikon, die Idee und die Paradigmen des Politischen die naturwissenschaftlichen Diskurse beeinflussen. In diesem Zusammenhang ist für Esposito das Werk von Rudolf Virchow relevant, der als der »größte Vertreter der Zellulartheorie« anerkannt ist (ebd.). Seine Theorie basiert auf der Vermutung, dass jede Zelle nicht als ein subordinierter Teil, sondern als autonome Einheit zu betrachten sei. Dadurch polemisiert Virchow gegen die biologischen und physiologischen Thesen, die auf der Priorität eines Teils des Organismus vor den anderen – in den meisten Fällen das Gehirn oder das Blut – beruhen. Er lehnt jede hierarchische Vorstellung der Struktur des Körpers ab

18 Für Esposito stellt Darwins Theorie das berühmteste Beispiel der Abhängigkeit der Lebenswissenschaften von einem politologischen Erklärungsmodell dar. Dessen Theorie des Kampfs ums Überleben sei von Hobbesʼ politischer Anthropologie beeinflusst.

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und formuliert im Gegensatz dazu die These, dass die Zellen auf das Funktionieren des Organismus aktiv und unabhängig von einem Befehlszentrum (dem Gehirn) einwirken. Mit anderen Worten: Virchow setzt ein konstitutives Verhältnis von der Aktivität der Zellen und dem Funktionieren der Organe (ebd., 180f.). Für Esposito ist der Hintergrund von Virchows Zelltheorie in seinem politischen Engagement für die preußische Demokratiebewegung und gegen die zentralisierte Politik Bismarcks zu suchen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den TheoretikerInnen des Primats des Gehirns und des Nervensystems stimme bei Virchow mit dem Kampf gegen Bismarcks politische Vorstellung des Staatsorganismus überein.19 Der Einfluss der politischen Tätigkeit auf die wissenschaftliche Theoriebildung sei allerdings nur ein Teil der Implikationen von Virchows Konzeption des Körpers. Noch wichtiger ist Esposito zufolge, dass Virchows Konzeption des Organismus zugleich einen Bruch, aber auch eine Kontinuität in der Entwicklung des biopolitischen Horizonts darstelle: Das Leben – sein Erhalt und seine Entwicklung – bleibt an die Figur des Körpers gebunden, aber um so viel multipliziert, wie es elementare Entitäten gibt, die ihn zusammensetzen. Das ist, als enthielte ein Körper in seinem Inneren unendlich viele Leben; oder als verteilte das Leben sich auf jedes der einzelnen Partikel, die den Körper ›zusammenbauen‹. (Ebd., 184)

Die Kontinuität bestehe in der Persistenz der Figur des Körpers als lebendige Einheit, während der Bruch darin zu suchen sei, wie diese Einheit des Körpers garantiert werde. Im Anschluss an Virchow kann für Esposito behauptet werden, dass der Körper als Zusammenhang von Zellen in dem Maße funktioniere, in dem jede Zelle ihre Aufgabe autonom erfülle. Esposito fokussiert seine Analyse deshalb auf Virchows Konzeption des Verhältnisses von Körper und Leben. Das Leben werde von Virchow nicht in einem bestimmten Zentrum lokalisiert. Vielmehr sei es als ein Ensemble von verschiedenen autonomen kleinen Leben – die Zellen – zu begreifen, die miteinander verflochten seien. Das Leben des Körpers sei deshalb weniger das Ergebnis der Aktivität des Gehirns, als der Effekt der konstitutiven reziproken Tätigkeit der verschiedenen lebenden Zellen (vgl. ebd.). Diese Konzeption des Körpers und des Lebens führt für Esposito zu einer grundlegenden Verschiebung im Inneren des biopolitischen Raums. Der politische Körper lasse sich nicht mehr ausschließlich mit dem Staat und mit diesem verbundenen Institutionen assoziieren. Vielmehr falle er mit der gesamten Gesellschaft zusammen. Mit anderen Worten: Die Grenzen des politischen Körpers erweitern sich

19 Esposito stützt sich für diese These auf die Arbeiten von Renato G. Mazzolini, Stato e organismo, individui e cellule nell’opera di Rudolf Virchow negli anni 1845-1860 (1983) und Arnold Bauer Rudolf Virchow – der politische Arzt (1982).

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bis zu dem Punkt, dass jede Tätigkeit der Lebewesen als konstitutiver Bestandteil des sozialen Systems integriert wird. Hierbei ist Esposito zufolge wichtig zu betonen, dass seit diesem Moment die politische Ordnung als ein Raum konzipiert werde, in dem der gesamte Prozess des Lebens verwaltet werde. Dieser Zeitraum stimmt für Esposito mit dem von Foucault theoretisierten Übergang von der souveränen Macht zur Biomacht überein. Obwohl Esposito anders als Foucault die Souveränität nicht als Gegensatz zur Biopolitik betrachtet, knüpft er in diesem Fall seiner Analyse unmittelbar an Fou-caults Analytik der Macht an. Von ihm übernimmt Esposito außerdem die These einer zunehmende Medikalisierung der Gesellschaft, die »im Zuge einer zunehmenden Osmose zwischen dem Juridischen, dem Politischen, und dem Biologischen« zu begreifen sei (ebd., 193). Der Unterschied zwischen Espositos Perspektive und derjenigen Foucaults liegt darin, dass für Esposito die Medikalisierung der Gesellschaft von einer immunitären Ausrichtung geprägt ist. Esposito betont das Verhältnis von der Entwicklung der sozialen und politischen Körper und dem Aufbau von Schutzdispositiven, die dieser Entwicklung zugrunde liegen, und die durch die Analyse der Interaktion von politischen und medizinisch-biologischen Diskursen sichtbar werden. Espositos Analyse der Interaktionen und semantischen Verschiebungen der Konzeption des Körpers kann deshalb als Ergänzung zu Foucaults These interpretiert werden. Allerdings geht es um eine grundlegende Ergänzung, da sie ein Licht darauf wirft, dass die Medikalisierung der Gesellschaft und deren Darstellung als Körper die Möglichkeit der Vernichtung von kranken Teilen eröffnet. Bemerkenswert an Espositos Darstellung der Dialektik von biologischem und politischem Körper ist, dass er die Integration des Todes, des Übels als Funktion des Politischen (Biopolitischen) sichtbar macht. Espositos Perspektive bezieht sich allerdings weniger auf die konkreten Maßnahmen, durch die die Biopolitik ihre Ziele verfolgt. Von ihm wird beispielsweise kaum erwähnt, dass die ersten effektiven biopolitischen Praktiken sich aus einer Hygienisierung der Städte und einer Strukturierung der Gesellschaft zusammensetzten (ebd., 195). Allerdings bietet diese Perspektive eine »archäologische« Sichtweise darauf, wie die Politikwissenschaft in Interaktion mit biologischen Kenntnissen und medizinischen Praktiken die Idee einer Praxis entfaltet, die sich um jeden Aspekt des individuellen wie auch des gesellschaftlichen Lebens sorgt. 4.4.3 Konzeption des Lebens in der modernen Biologie und Biologisierung des Politischen Während Esposito in seinen ersten Arbeiten über die Biopolitik – Immunitas und Bíos – die Interaktion von Biologischem und Politischem in den Verschiebungen

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der Konzeption des Körpers untersucht, fokussiert er sich in seiner Schrift Terza persona darauf, wie die biologische Konzeption des Lebens auf die Definition des biopolitischen Paradigmas einwirkt. Insbesondere analysiert er, wie das Politische einen in der Physiologie elaborierten Begriff des Lebens übernimmt. In seiner Untersuchung fokussiert Esposito insbesondere auf einige semantische und disziplinierende Verschiebungen, die die Vermittlung zwischen biologischer und politischer Perspektive ermöglichten. Infolgedessen konzentriert er sich weniger auf eine unmittelbare Interaktion zwischen biologischem, juridischem und politischem Wissen. Vielmehr hebt er hervor, dass diese Interaktion durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung stattfindet, deren Spektrum von der Philosophie Schopenhauers über Comtes Soziologie, Courtets Anthropologie, Schleichers Linguistik und Haeckels Zoologie bis hin zum Begriff des lebensunwerten Lebens von Binding und Hoche reicht. Diese neue Sichtweise führt zu einigen wichtigen Veränderungen in Espositos Konzeption der Biopolitik, die in diesem Abschnitt diskutiert werden. Ausgangspunkt dieser genealogischen Untersuchung ist das Werk des französischen Arztes Xavier Bichat. Seine Forschung hat die Physiologie und Biologie revolutioniert und die Basis für die moderne Medizin gelegt. Bichats Revolution besteht vor allem in seiner Definition des Lebens als die Funktion, die dem Tod widersteht. Esposito bemerkt, dass diese Konzeption das Verhältnis von Leben und Tod umkehre: der Tod sei nun prioritär. Mit anderen Worte: Es geht nicht mehr darum, den Tod als Nicht-mehr-Lebendiges, sondern im Gegensatz dazu das Lebendige als noch-nicht-tot zu begreifen. Bichats theoretische Leistung beschränke sich allerdings nicht darauf. Noch wichtiger sei, dass er im Inneren des Körpers ein organisches von einem animalischen Leben unterscheide. Unter dem ersten Begriff versteht Bichat die vegetativen Funktionen (Verdauung, Atmung, Blutkreislauf usw.), während der zweite sich auf die motorischen, sensitiven und kommunikativen Fähigkeiten bezieht. Außerdem zeigt ihm zufolge die Beobachtung von Leichen, dass das Ende des animalischen Lebens nicht mit dem Ende des organischen Lebens zusammenfalle, da einige vegetative Funktionen auch nach dem Tod weiter aktiv seien. Aus dieser Beobachtung folgert er, dass das organische Leben prioritär sei, da es einen besseren Widerstand gegen den Tod biete (vgl. Esposito 2007, 29). Bichats Prinzip des »doppelten Lebens« und seine These der Priorität des organischen vor dem animalischen Leben produziert für Esposito auch eine grundlegende Veränderung im Feld der politischen Theorie in Bezug auf die Frage des Subjekts. Um die Wende Bichats zur vorherigen Konzeption des Lebens zu erklären, vergleicht Esposito Hobbesʼ Definition des Menschen mit dessen Perspektive. Während Hobbes die Leidenschaft in dem Willen ansiedelt und diese deshalb als Teil der intellektuellen Tätigkeit konzipiert habe, lokalisiere Bichat sie in dem organischen Leben und somit außerhalb der Kontrolle der Vernunft (ebd.). Wichtig

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für Esposito ist hierbei, dass im Anschluss an Bichat behauptet werden könne, dass der Wille und das politische Handeln weniger von der Rationalität als von der biologischen Struktur abhingen. Esposito bemerkt aber, dass diese Interpretation nicht in Bichats Werk zu suchen sei, da dieses sich eng an die Biologie, Physiologie und Medizin anlehne. Allerdings stellt Esposito zufolge die Vorstellung, dass im Inneren des Lebens ein anderes Leben erfasst werde, das das Handeln des Subjekts bestimme, ein wichtiges Element für die Entwicklung der Biopolitik dar. Es ist wie wenn sich ein Nicht-Mensch – ein anderes und vormenschliches natürliches Wesen – im Inneren des Menschen niederlässt. […] Seit diesem Moment wird die Funktion der Politik – nun unvermeidbar Biopolitik – nicht mehr die Definition des zwischenmenschlichen Verhältnisses; vielmehr besteht sie darin, den präzisen Punkt festzustellen, an dem die Grenze verortet ist, zwischen dem, was Mensch ist und dem was im Inneren des Menschen selbst anders als der Mensch ist. (Ebd., 30, Übers. R. G.)

Es dürfte anhand dieses Zitats deutlich werden, dass Esposito in dieser Arbeit seine Konzeption der Biopolitik modifiziert. Es handelt sich dabei um eine Veränderung sowohl in der Konzeption als auch in der Periodisierung. Aus einer zeitlichen Perspektive fällt nun die Biopolitik nicht mit der Moderne als solcher zusammen und es wird nicht mehr das Werk von Hobbes als Zeichen des Übergangs von der Politik zur Biopolitik verstanden. Noch wichtiger ist allerdings, dass in Espositos Perspektive nun nicht mehr die Frage nach der Selbsterhaltung, sondern die Konzeption des Lebens für die Definition und Entwicklung einer Biopolitik zentral ist. Diese neue Forschungsorientierung untersucht weniger die Persistenz der immunitären Logik, sondern konzentriert sich vielmehr darauf, wie Bichats Entdeckung der zwei Leben und vor allem der Priorität des organischen vor dem animalisch-relationalen Leben von dem Politischen übernommen wird. Der erste Schritt dieses Prozesses ist Esposito zufolge im Werk von Schopenhauer zu erkennen. Dieser bezieht sich unmittelbar auf Bichats Forschungen und versteht seine Perspektive als philosophisches Korrelat zu dessen Physiologie (ebd., 30-31). Für Esposito ist zentral, dass Schopenhauer anhand von Bichats Physiologie die Konfliktualität als ein grundlegendes Attribut des Daseins konzipiert. Für Schopenhauer folgt aus der Entdeckung von Bichat, dass in jedem Moment und in jeder lebendigen Form ein Kampf um Leben und Tod stattfinde. Laut Esposito entfaltet dieser eine radikale biopolitische Perspektive in dem Moment, in dem er das Prinzip des Willens zum Leben als Orientierungsprinzip setze. Es handele sich dabei um ein biologisches Prinzip, das sich von keinem politischen Handeln oder keiner politischen Rationalität beherrschen lasse, da jedes Handeln und jede Rationalität grundsätzlich von diesem Prinzip geprägt seien (ebd., 34-35). Espositos Definition von Schopenhauers Perspektive als radikal biopolitisch – weil dieser das Politische

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als Ergebnis eines biologischen bzw. organischen Prinzips versteht – verdeutlicht die Veränderung seines Begriffs der Biopolitik. Dieser wird nun als Kategorie benutzt, um die politische Theorie zu beschreiben, der die Definition des bíos – politisches Leben – der organisch-biologischen Struktur des Lebens zugrunde liegt. Diese neue Konzeption der Biopolitik taucht noch klarer in Espositos Analyse von Comtes Soziologie auf. Diese muss Esposito zufolge als die erste Perspektive interpretiert werden, die die Theoretisierung des intentionalen Einflusses des Biologischen auf das Politische systematisch verfolge. Denn Comte setze die »Biocratie« als Ausgangspunkt für die Entwicklung der gesellschaftlichen Systeme. Darunter versteht er die biologischen Naturgesetze, die das Leben der Lebewesen reglementieren. Es handele sich dabei um eine Ebene, die gleichzeitig die gesellschaftliche Ordnung bestimme und orientiere. Dass Comte die biologische Ebene als Voraussetzung für das Soziale versteht, zeigt für Esposito, dass der Bezugspunkt für das Handeln nicht mehr der démos, sondern der bíos sei (ebd., 36). Es gehe allerdings um einen bíos, der jeder politischen und juridischen Bestimmung vorangehe. Obwohl Esposito nicht explizit darauf eingeht, wird deutlich, dass Comte sich auf die zoé des bíos bezieht. Allerdings ist bemerkenswert, dass Esposito in seiner Argumentation statt von dem Begriffspaar zoé/bíos von der Opposition démos/bíos ausgeht. Auch für Comte stellten Bichats Untersuchungen eine revolutionäre Wende für die Naturwissenschaften dar und legten den Grundstein für eine positive Wissenschaft des Menschen und der Gesellschaft. Esposito hebt jedoch hervor, dass Comte eine grundlegende Kritik an Bichats These zu dem Verhältnis von Umwelt und Leben übe, die entscheidend für die spätere Entwicklung der Biopolitik sei (ebd., 36). Bichat verstand das Leben als Widerstand gegen äußere Mächte, die es zu vernichten drohen. Die Umwelt wurde somit als Bereich der tödlichen oder gegensätzlichen Kräfte interpretiert. Im Gegensatz dazu argumentiert Comte, dass zwischen Außen und Innen, Natur und Mensch ein komplexeres und dynamischeres Verhältnis existiere. Für ihn ist die Umwelt nur in bestimmten Situationen drohend und potenziell zerstörend, aber normalerweise existiere eine Interaktion zwischen einzelnem Leben und Umwelt, die das Überleben erlaube (vgl. ebd., 37). Für Esposito ist diese Theoretisierung aus zwei Gründen wichtig. Erstens ersetze Comte Bichats bipolares Schema, dem der Kampf von interner Potenz des Lebens und externen Mächten des Todes zugrunde liege, durch eine komplexere und dialektischere Logik. Zweitens – und noch wichtiger – argumentiere Comte, dass der Mensch das Verhältnis von organischem und animalischem Leben umkehren könne. Zwar anerkenne auch er die Priorität des organischen Lebens, jedoch liege das Spezifische des Menschen darin, dass er durch die Fähigkeit des animalischen Lebens – d.h. die Rationalität – auch die Grenzen des organischen Lebens überwinden könne. Auf dieser Möglichkeit beruhe die Institution der sozialen Ordnung. Es ist wichtig zu

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betonen, dass Comte dem animalischen Leben und somit dem politischen oder kommunikativen Handeln keine Priorität zuschreibt. Vielmehr setzt er für Esposito eine reversible Interaktion von Biologischem und Politischem, die die biologischen Elemente als wesentliche Voraussetzung für das politische Handeln betrachtet (ebd., 37). Esposito betont eine epistemische wie auch eine politologische Wende in Comtes Soziologie. Was die Epistemologie betrifft, wird Esposito zufolge nun die Biologie als Modell eines positiven und antimetaphysischen Wissens des Menschen verwendet. Allerdings stellt – wie schon erwähnt – die Biologie für Comte nicht nur ein epistemologisches Modell, sondern auch die wesentlichen Kenntnisse für die Entwicklung der politischen Institutionen und des politischen Handelns dar (vgl. ebd.). Infolgedessen lehnt Comte laut Esposito nicht nur die politische Philosophie von Montesquieu, Rousseau usw., sondern auch »das gesamte juridisch-politische Dispositiv« der modernen Theorie der Demokratie ab (ebd., 38, Übers. R. G.). Obwohl Comtes These die Idee einer Biologisierung des Politischen vermittelt, ist diese für Esposito weniger als Biopolitik denn als eine Art von Biophilosophie zu betrachten (ebd., 40). Die Geburt einer effektiven Biologisierung des Politischen sei dagegen in der Anthropologie des 19. Jahrhunderts zu suchen. Durch das Lexikon der Anthropologie erhalte – so argumentiert Esposito – »die biologische Reformulierung der modernen politischen Philosophie« eine Orientierung, die von Ausschließung und Herrschaft geprägt sei (ebd., Übers. R. G.). Aus dieser Sichtweise bestehe das theoretische Verdienst der Anthropologie darin, dass sie eine wissenschaftliche Perspektive für die Komparation und Hierarchisierung unterschiedlicher Typen oder Niveaus der menschlichen Art erlaube (ebd., 41). Daran anschließend konzentriert Esposito seine Analyse auf die These von Victor Courtet, der seine Theorie im Gegensatz zur modernen politischen Philosophie entfaltet. Diese ist für Courtet durch eine strukturelle Lücke gekennzeichnet. Die modernen politischen AutorInnen hätten ihre Annahmen auf den Menschen als Individuum beruht und deswegen den Menschen nicht als Art berücksichtigt. Dazu komme, dass sie ihre Analyse auf der psychologischen statt auf der biologischen Ebene entwickelt hätten (ebd.). Im Gegensatz zur modernen politischen Philosophie hält Courtet deshalb fest, dass sich die Politik auf die Analyse der Bevölkerungen als ethnische Gruppen konzentrieren müsse, damit sich das politische Handeln an den biologischen und physiologischen Unterschieden zwischen den verschiedenen Rassen orientieren könne. Aufgabe der Anthropologie sei deshalb die Beobachtung und Beschreibung der Charakteristika der Rassen. Esposito zufolge besteht das Relevante an den von Courtet formulierten Kriterien der Analyse und Klassifizierung der Rassen darin, dass dieser Perspektive eine Symmetrie von physiologischen und intellektuellen Fähigkeiten zugrunde liege, die Hierarchisierung und Ungleichheit legitimiere (ebd., 42f.).

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Esposito zufolge lässt sich Courtets Perspektive als eine »biopolitische Anthropologie« bzw. als »anthropologische Biopolitik« begreifen, die den modernen Kategorien des Subjekts, der Demokratie und der Gleichheit unmittelbar widerspreche (ebd., 43f.). Das Wichtigste an dieser »biopolitischen« Wende der Anthropologie ist für Esposito »der direkte Gebrauch des anthropologischen Dispositivs innerhalb des politischen Diskurses und gleichzeitig die präventive politische Modulierung des anthropologischen Mechanismus« (ebd., 44, Übers. R. G.). Damit verweist Esposito darauf, dass sich in der Entwicklung der Anthropologie als Wissenschaft zwei komplementäre Orientierungen erkennen lassen. Erstens produziere diese Wissenschaft Kenntnisse, die unmittelbar von der Politologie übernommen würden. Zweitens handele es sich um eine performative Orientierung, da die Übernahme von politischen Aufgaben die Ergebnisse der anthropologischen Forschung vorbestimme. Diese Ausrichtung ist für Esposito durch eine Antinomie in Bezug auf die Konzeption der humanitas gekennzeichnet. Gerade der Begriff humanitas – als solche undifferenziert und universal – wird der spezifische Ort und die lebendige Materie der sozialen Auslese. […] [W]as die menschliche Art als biologische Einheit charakterisiert, ist die hierarchische und ausschließende zugrundeliegende Entscheidung über die verschiedenen internen Menschentypen. Gleicherweise wird die Animalität wieder inkludiert, obwohl sie [die humanitas] ihre Identität als Art von deren Ausschließung ableitet. Die Werte und insofern die biologische Legitimität – und somit ihr Recht auf das Leben – der Rassen wird auf der Basis des proportionalen Verhältnisses von Einschließung und Ausschließung messbar […]. (Ebd., 44, Übers. R. G.)

Auf diese Weise weist Esposito darauf hin, dass die biopolitische Anthropologie als Wissenschaft des Menschen auf einer Dialektik von Ausschließung und Einschließung beruht, der weniger logische Kohärenz als politische Ziele zugrunde liegen. Zum einen werde der Mensch von anderen Tieren differenziert – was eine Wissenschaft des Menschen – Anthropologie – im Übrigen zeigen muss. Zum anderen werde jedoch das Tier wieder als Vergleichsprinzip eingeschlossen, um die verschiedenen Typen von Menschen – die sogenannten Rassen – anhand einer hierarchischen Gliederung zu klassifizieren (ebd., 44). So werde der »Grad der Menschheit« anhand der Entfernung zum Tier gemessen. Mit anderen Worten kann die Perspektive der biopolitischen Anthropologie in der Rekonstruktion Espositos so zusammengefasst werden: Je mehr ein Mensch oder eine Rasse »tierische Charakteristika« besitzt, desto niedriger wird er/sie im Vergleich zu anderen Rassen eingestuft, die eine »bessere« biologische und somit intellektuelle Struktur besitzen. Das Verdienst der Anthropologie in dem Prozess der Biologisierung des Politischen ist für Esposito infolgedessen eine De-Lokalisierung oder Neo-Lokalisierung des Menschen, der nicht mehr nur nach historischen, sondern auch nach biologi-

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schen Kategorien konzipiert werde (ebd., 45). Der »Ort« der Definition der Menschheit sei deshalb nicht mehr die Geschichte, sondern die Natur. Esposito zufolge ist die Naturalisierung – und gleichzeitig die De-Historisierung – des Menschen die Voraussetzung, damit ein Vergleich von Mensch und Tier in Frage komme. Nur durch diesen Prozess sei eine biologische Politik – oder eine Politik der Biologie – möglich, die laut Esposito nun als Biopolitik bezeichnet werden kann (ebd.). In dieser biologisierenden Orientierung der Konzeption der Menschheit kann nach Esposito allerdings eine große Schwierigkeit in Bezug auf die Frage der Sprache erkannt werden. Die Sprache als menschliche Spezifität widerspreche der Idee eines Vergleichs Mensch/Tier und der anschließenden Klassifizierung der Rassen. Esposito hebt in seiner Analyse hervor, dass diese strukturelle Lücke in der Rassentheorie mithilfe der Linguistik überwunden worden sei. Wenn jede menschliche Leistung mit den Fähigkeiten der höherentwickelten Tiere – wenn nicht identifiziert – verglichen werden kann, gilt dies nicht für die Sprache, die nur dem Lebewesen genannt Homo sapiens gehört. Diese Schwierigkeit – und die Notwendigkeit ihrer Aufhebung – schreibt den maximalen strategischen Wert der Fachdisziplin der Linguistik zu, die an dem Kreuzpunkt zwischen Biopolitik und Anthropologie situiert ist. […] Man kann behaupten, dass so wie die Anthropologie der semantische Schalter ist, der eine Modellierung der Politik nach dem Abdruck der Biologie erlaubt, die Linguistik – besser gesagt die vergleichende Sprachwissenschaft – die Flussverläufe für die integrale Politisierung der Anthropologie bildet. (Ebd., 45, Übers. R. G.)

Es dürfte aus diesem Zitat zunächst deutlich werden, dass Esposito der Interaktion zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen einen performativen Wert zuschreibt. Außerdem zeige der »strategische« Charakter einer Wissenschaft, dass die Produktion von bestimmten wissenschaftlichen Diskursen auch und vor allem als politisches Ereignis zu betrachten sei. Ausgehend von dieser Vorstellung der Produktion wissenschaftlicher Diskurse kann Esposito die politisierende Funktion der Linguistik hervorheben. Zentral in diesem Prozess seien die linguistischen Thesen von August Schleicher, die zu beweisen versuchten, dass die Entwicklung der Sprache weniger von historischen Formen als von biologischen Variationen abhänge. Die Analyse der Sprache kann nach Schleicher auf zwei Ebenen durchgeführt werden: der Philologie und der Linguistik. Die erste sei eine historische Erkenntnisform, während die zweite die Physiologie der menschlichen Art betreffe und unabhängig von historischen Ereignissen sei (ebd., 46f.). Für Esposito stellt Schleichers Theorie der zwei Sprachen eine Analogie zu der von Bichat formulierten These der zwei Leben dar. So wie Bichat ein organisches

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von einem animalischen Leben unterscheide, ließen sich nach Schleicher im Inneren der Sprache zwei autonome Formen – eine historische und eine physiologische – erkennen (ebd., 47f.). Wichtig sei hierbei, dass diese zwei Komponenten der Sprache neben verschiedenen Funktionen auch unterschiedliche Entwicklungsmodalitäten besäßen. Während sich die historische Sprache kontingent entfalte, sei die Entwicklung der physiologischen Sprache von biologischer Notwendigkeit bestimmt. Innerhalb der menschlichen Art könne man deshalb verschiedene linguistische Typen erkennen, die durch eine unterschiedliche physiologische Entwicklung differenziert werden könnten. In diesem Zusammenhang würden die Verhältnisse zwischen den verschiedenen linguistischen Typen durch Darwins Lexikon der Selektion, des Kampfs ums Überleben usw. beschrieben (ebd.). Für Esposito sind zwei Aspekte des Werks von Schleicher grundlegend. Der erste betreffe den Gebrauch von Darwins biologischer Perspektive in einer Orientierung, die nicht mehr mit Darwins Vorstellung zusammenfalle. Während Darwin seine Theorie für das Verständnis der Evolution der Natur formuliert habe, würden seine Kategorien von Schleicher für das Verständnis der sozialen und politischen Entwicklung übernommen. Esposito betont hierbei, dass diese Überlagerung von biologischen und sozialen Elementen bei Schleicher von einer besonderen Interpretation der Philosophie Hegels abhänge, in der der Geist als biologisch-physiologische Entität verstanden werde (ebd., 51). Der zweite wichtige Aspekt der linguistischen Theorie Schleichers liegt für Esposito darin, dass durch diese Perspektive jeder ontologische Unterschied von Mensch und Tier eliminiert werde. Infolgedessen werde jedes Hindernis für die Komparation von Mensch und Tier und zudem zwischen den verschiedenen menschlichen Typen (Rassen) überwunden (ebd., 48). Mit anderen Worten: Als Tier oder biologisches Wesen ist auch der Mensch in einem Evolutionsprozess involviert, in dem einige Exemplare mehr als andere entwickelt sind und aufgrund ihrer Rassensuperiorität zur Herrschaft tendieren. Das Verhältnis von anthropologischer Rassentheorie und Linguistik wird von Esposito mit dem Terminus »reziproke Funktionalität« definiert. So wie die polygenische Anthropologie – d.h. eine, die einen differenten Ursprung für die verschiedenen Rassen theorisiert – für die Sprachtheorie das ideologische Orientierungsbild bietet, gibt die Linguistik der Wissenschaft des Menschen weiteres Beweismaterial für ihre auf differentem Ursprung [der Rasse] basierende Theorie zurück. Im Zentrum dieser Kreuzung – an dem Artikulationspunkt der zwei Lexika – steht Darwins Biologie, die aus seinem Kontext herausgenommen und in einem vorherigen und heterogenen semantischen Rahmen eingesetzt wird. (Ebd., 49, Übers. R. G.)

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In dieser Passage definiert Esposito, wie sich die verschiedenen wissenschaftlichen Diskurse auf die Entwicklung eines biopolitischen Horizontes auswirken. Der Hegelianismus wird von ihm als »semantischer Rahmen« identifiziert, der die Einbeziehung des Darwinismus und die Verbindung mit den unterschiedlichen Wissenschaften erlaube. Dabei bleibt allerdings unklar, inwiefern der Hegelianismus zu dieser Perspektive beiträgt. Obwohl Esposito auf diese Frage unzureichend eingeht, kann im Anschluss an einige Passagen von Terza persona behauptet werden, dass für ihn Anthropologie und Linguistik die hegelianische Dialektik von Natur und Geschichte umkehren. Die Geschichte wird als das Negative der Natur interpretiert und die Biologie ersetzt den Geist als Leitprinzip der dialektischen Entwicklung. In diesem Zusammenhang hängt somit das Handeln weniger von dem freien Willen des Menschen, als von ihrer physiologischen Struktur ab. Daraus folgt außerdem eine negative Vorstellung der Geschichte. Der historische Prozess erweist sich somit nicht als emanzipativ, sondern als degenerativ in dem Maße, in dem sich »entwickelte Typen« mit »unentwickelten Typen« mischen (vgl. ebd., 50). Die Persistenz des Hegelianismus ist in der Fortdauer einer dialektischen Bewegung zu erkennen, die in diesem Fall als negativ oder regressiv interpretiert wird und den wissenschaftlichen Gebrauch der Kategorie der Degeneration legitimiert. In Bezug auf die Kategorie der Degeneration betont Esposito zwei Aspekte. Zunächst erlaube sie die Reformulierung des Darwinismus als antidemokratische und hierarchisierende Sozio-Biologie. Darauf verweist er, indem er von DeKontextualisierung von Darwins Biologie spricht (ebd., 49f.). Noch wichtiger ist nach Esposito jedoch die zweite Implikation der Degeneration: ihre Funktion als Evaluierungsprinzip. Er bezieht sich dabei auf Schleichers These, nach der es Sprachen gebe, die weniger degeneriert seien als andere. Ein Beweis dafür sei, dass die »höherstufigen« Rassen die »weniger degenerierten« Sprachen benutzten. Diese Argumentationsweise wirft ihm zufolge ein weiteres Licht auf die Reziprozität von Anthropologie und Linguistik. Wenn verschiedene Sprachen den unterschiedlichen biologischen Formen entsprechen, stellt die Sprache den besten Referenten für die Klassifizierung der menschlichen Rassen dar. Aber, da jede Sprache einen unterschiedlichen Wert hat, werden auch die entsprechenden Rassen eine unterschiedliche Dignität haben. Auf diese Weise bestimmt die biologische Superiorität der Rassen auch die Superiorität – ebenso biologisch – der Sprachen. (Ebd., 51, Übers. R. G.)

Linguistik und Anthropologie bilden so ein biopolitisches Dispositiv, das für Esposito eine radikale Wende in der Konzeption des Politischen darstellt. Darin wird das Leben in seiner biologischen Struktur der Referent und gleichzeitig der Gegenstand des Politischen. Dieses Dispositiv wird für ihn von dem deutschen Zoologen Ernst

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Haeckel weiterentwickelt, der eine radikale Biologisierung der menschlichen Erfahrung konzipiert. Obwohl Schleicher und die Anthropologen von einer Priorität und Vorbestimmung der biologischen Struktur für die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten der Menschen ausgegangen seien, hätten sie den historischen Ereignissen und Geisteswissenschaften im Allgemeinen ebenfalls eine marginale Rolle zugeschrieben. Im Unterschied dazu führe Haeckel jedes Ereignis, jede Tätigkeit, jede Fakultät – auch die Vernunft – auf biologische Variationen zurück. Auf diese Weise wird nach Espositos Ansicht eine Vorstellung des Subjekts formuliert, nach der der Identifikationsprozess »auf dem nackten biologisch-rassischen Fakt« beruhe (ebd., 64, Übers. R. G.). Noch wichtiger ist Esposito zufolge, dass Haeckel auch das Verhältnis von Mensch und Tier radikalisiere. Für Haeckel gebe es beispielsweise auch Tiere, die zivilisierter als einige menschliche Rassen seien. Innerhalb des humanitas stellt für Esposito zudem das Tier eine Schwelle dar, die die menschliche Art in zwei Zonen teile. Zu der einen gehörten entwickelte Menschen und zu der anderen Menschen, die »dümmer« und »unterentwickelter« als Tiere seien (ebd., 65). Die politische Operationalisierung dieser biopolitischen Perspektive führt für Esposito zu dramatischen Folgen in dem Maße, in dem das Politische die Aufgabe erfülle, die Degeneration der entwickelten Rassen zu blockieren (vgl. ebd., 66-67). Er bemerkt die wichtige Rolle der Theorien Mendels und Weismanns für die Verschärfung der Degenerationsproblematik. Insofern werde im Anschluss an diese These argumentiert, dass die einzige mögliche historische Entwicklung nur degenerativ sein könne, wenn die Politik nicht auf die Verteidigung und Widerherstellung von reinen Rassen ziele. Wichtig für Espositos Analyse ist hierbei, dass das Politische als bloße biologische Operation konzipiert wird. Die Interaktion von Biologischem und Politischem, die das Entstehen einer Biopolitik bestimmt hätte, komme an dieser Stelle zum extremen Punkt einer radikalen Biologisierung des Politischen, das auf therapeutisches Handeln reduziert nur zu Thanatopolitik werden könne (vgl. ebd., 69f.). Diese thanatopolitische Tendenz verwirkliche sich voll im Nationalsozialismus, der für Esposito als politische Biologie zu interpretieren ist. In Terza persona definiert Esposito insofern den Begriff der Biopolitik im Anschluss an eine bestimmte biologische Re-Formulierung des Politischen. Wie schon erwähnt, geht es dabei um eine Perspektive, der die Vorstellung zugrunde liegt, dass im Inneren des Lebens ein vom Willen und der Vernunft unabhängiges anderes Leben erkennbar sei, das auch für die Entwicklung und Ausübung der intellektuellen Fähigkeiten grundlegend sei. Diese These, die von Bichat nur für die Beschreibung der verschiedenen biologischen Funktionen des Körpers benutzt wurde, funktioniert durch die Vermittlung und die Interaktion von unterschiedlichen wis-

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senschaftlichen Diskursen als Basis für die Entwicklung einer Perspektive, in der die biologische Struktur das politische Handeln bestimmt. Biopolitik ist in dieser Formulierung allerdings kein eindeutiger Prozess, in dem das Biologische den politischen Raum beeinflusst. Vielmehr muss für Esposito das Verhältnis von Biologie und Politik als interaktiv interpretiert werden. Die Politik fungiert für die Biologie, Linguistik und Anthropologie auch als Problemorientierung. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass Esposito mit Biopolitik auf einen politischen Diskurs verweist, in dem die biologische Struktur den Referent und den Gegenstand der politischen Praxis darstellt. Ein wichtiges Ergebnis dieser Analyse der Biopolitik liegt darin, dass sie das Dispositiv des biologischen Rassismus sichtbar macht. Es handelt sich um ein Thema, mit dem sich auch Foucault beschäftigte. Wie bekannt, interpretiert dieser den Rassismus als strategische Funktion, die die Ausübung der Macht zu töten im Regime der Biomacht legitimierte. Foucault spricht diesbezüglich von einer »biologischen Umschrift« (Foucault 1999, 73) des Themas der Rasse, ohne dass er allerdings weiter darauf eingeht. In dem Maße, in dem Esposito zeigt, wie vor allem durch die Interaktion von Linguistik und Anthropologie die Perspektive einer Klassifikation zwischen den verschiedenen Typen der menschlichen Art formuliert und weiterentwickelt wird, erlaubt er ein besseres Verständnis von Foucaults Intuition. Allerdings ermöglicht Espositos Analyse auch eine Korrektur von Foucaults These. Der biologische Diskurs der Rassen ist nicht bloß eine strategische Waffe oder Funktion der Biomacht. Vielmehr ist er ein konstitutives Element einer Biomacht, dessen politisches Handeln auf biologischen Kenntnissen beruht. Die Todesfunktion kann somit als ein immanenter Mechanismus jeder Politik angesehen werden, die nur biologische Elemente als Referenten verwendet. Bemerkenswert an dieser Analyse ist allerdings, dass Esposito nicht auf seine vorherige Konzeption der Biopolitik eingeht, die auf dem Paradigma der Immunisierung beruht. Zwar führt er diese letzte Analyse im Kontext einer anderen Problemstellung durch, jedoch führt die fehlende Artikulation des Verhältnisses von Biopolitik als Immunisierung des politischen Raums und der Biopolitik als Biologisierung des Politischen zu der Vermutung, dass Esposito zwei inkompatible Begriffe der Biopolitik verwendet. Es gibt zum Teil sogar deutliche Widersprüche. Während in Immunitas und Bíos die Biopolitik den politischen Diskurs und die Institutionen der Moderne als solche prägt, wird in Terza persona die These formuliert, dass sich in der Moderne zwei kontrastive Diskurse entwickeln. Auf der einen Seite steht die politische Rechtsphilosophie, die von den Werken von Hobbes, Montesquieu und Rousseau vertreten wird. Auf der anderen Seite steht die biopolitische Perspektive, die auf der Biologisierung des Politischen basiert. Insbesondere ist die Interpretation der Hobbes’schen politischen Philosophie verwirrend, die in Immuni-

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tas und Bíos als Geburtsmoment des biopolitischen Diskurses interpretiert wird, während sie in Terza persona fast das Gegenteil der Biopolitik darstellt. Die Grundthese von Terza persona besteht darin, dass sowohl die biopolitische Perspektive als auch die Rechtsphilosophie der modernen philosophischen Tradition strukturell zur Herrschaft des Lebens tendierten. Obwohl die Dekonstruktion dieser zwei Diskurse sehr relevant ist, da sie die Interaktion von verschiedenen wissenschaftlichen Diskursen zeigt, ist diese These typisch für eine Geschichtsphilosophie. Daher vermittelt Espositos Interpretation der Moderne nicht zufällig ein pessimistisches Bild, das schon die Perspektive von Adorno und Horkheimer sowie von Agamben charakterisiert. An Terza persona ist zudem nicht überzeugend, dass Esposito die Interaktion von Politik des Lebens und Politik des Todes nicht weiter vertieft, die eine der interessanteren Thesen von Bíos war. Biopolitik wird nun als theoretischer Rahmen interpretiert, der ausschließlich Thanatopolitik produziert. Insofern ist in dieser Perspektive das Paradox der Biopolitik aufgelöst, aber gleichzeitig wird der Begriff der Biopolitik auf einen Diskurs reduziert, in dem die Biopolitik nichts anderes als eine biologische Herrschaftsform ist. Auf diese Weise verliert der Begriff der Biopolitik allerdings seine Spezifität, die darin liegt, dass die Macht nicht nur Herrschaft über das Leben, sondern auch Produktion von Leben (Subjektivierungsprozesse) ist. Während Esposito in Bíos diese zwei Dimensionen des Politischen durch das Paradigma der Immunisierung erklärt, thematisiert er in Terza persona die Forschungshypothese, dass diese zwei Richtungen von zwei kontrastiven Diskursen produziert werden. Allerdings zeigt er in seiner Dekonstruktion der politischen Philosophie der Person, dass auch dieser Diskurs eine Form von Herrschaft ist, sodass jedes Produkt oder jeder Subjektivierungsprozess des modernen politischen Diskurses nichts anderes als eine Herrschaftsform ist. 4.4.4 Biopolitik, Nationalsozialismus und Thanatopolitik Beide Forschungsperspektiven in Bezug auf die Biopolitik verflechten sich in Espositos Analyse des Nationalsozialismus. Sowohl die biopolitische Immunisierung des politischen Raums – Immunitas und Bíos – als auch die Biologisierung der Politik – Terza persona – kommen ihm zufolge in der nationalsozialistischen Herrschaftsform zu ihrem Höhepunkt. Die Interpretation des Nationalsozialismus mithilfe des Begriffs der Biopolitik und biopolitischer Kategorien wurde bereits sowohl von Foucault als auch von Agamben durchgeführt. Beide Perspektiven untersuchen dieses politische Phänomen ausgehend von einer historischen und strukturellen Kontinuität von Nationalsozialismus und modernen Machtmechanismen bzw. dem politischen Diskurs des Abendlands. Im Unterschied dazu analysiert Esposito

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den Nationalsozialismus nicht nur in Termini von Kontinuität oder Verschärfung, sondern auch als Diskontinuität. Für Esposito ist Foucault der erste, der den Nationalsozialismus durch eine biopolitische Perspektive analysiert hat. Allerdings handele es sich dabei um eine widersprüchliche Interpretation, da er zwei Arbeitshypothesen durchgeführt habe, ohne sie theoretisch zusammenzuführen. Zum einen bemerke er die Singularität des Nationalsozialismus als Regime, das absolutistisch sowohl die Biomacht als auch die Todesmacht über den gesamten Gesellschaftskörper generalisiert hätte. Zum anderen setze er eine Kontinuität von dieser und anderen Formen der Ausübung der Macht und insofern sei der Nationalsozialismus nichts anderes als eine Radikalisierung der modernen Machtdispositive (vgl. Esposito 2004a, 115-116). Esposito überwindet diese theoretische Schwierigkeit, indem er den Nationalsozialismus nicht als Ideologie oder politische Philosophie, sondern als »applizierte Biologie« (ebd., 117) oder als »Biocratie« (ebd., 118) analysiert. Um diese These zu beweisen, stützt er sich auf einige politische Diskurse des Nationalsozialismus, die das politische Handeln als »applizierte Biologie« konzipiert hätten. Auf diese Weise kann Esposito die Singularität dieser politischen Form konstatieren. Zwar, wie Foucault betont hat, vermengt sich ausgehend vom 18. Jh. die Frage nach dem Leben zunehmend mit der Sphäre des politischen Handelns. Jedoch findet es immer durch eine Reihe von linguistischen, konzeptuellen, institutionellen Vermittlungen statt, die in dem Nazismus nicht mehr gelten: Zwischen Politik und Biologie fällt jedes Diaphragma. Was immer eine vitalistische Metapher war, wird eine Realität – aber nicht im Sinn eines Übergangs der politischen Macht in die Hände der Biologen; Vielmehr nehmen die Politiker die biologischen Prozesse als Leitkriterium ihrer eigenen Aktionen an. (Ebd., Übers. R. G.)

Auf diese Weise versucht Esposito die Kontinuität, aber auch die Diskontinuität des Regimes des Nationalsozialismus zu den modernen politischen Diskursen aufzuzeigen. In Bíos wird die These der Verwirklichung der Biopolitik ohne Vermittlungen thematisiert. Die unmittelbare Anwendung des biologischen und medizinischen Paradigmas als Leitung des politischen Handelns stellt ihm zufolge die Diskontinuität in Bezug auf andere moderne Herrschaftsformen dar. Die Kontinuität bestehe dagegen in der Persistenz der biologischen Diskurse als Referenz für das Politische, die für Esposito die immunitäre Orientierung der Moderne prägt. In Terza persona wird der Nationalsozialismus als Verwirklichung der dort dargelegten biopolitischen Perspektive angesehen, die ihren Ausgangspunkt in der politischen Interpretation der Theorie Bichats habe. Wie schon erwähnt, wird diese Perspektive in Kontrast zur modernen politischen Tradition thematisiert. Insofern vertieft Esposito die Arbeitshypothese der Analyse der Kontinuität und Diskontinu-

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ität nicht weiter und analysiert den Nationalsozialismus lediglich in Bíos systematisch. Ausgangspunkt dieser Analytik ist dabei das Verständnis des Nationalsozialismus als »applizierte Biologie«. Zuerst muss dafür Esposito zufolge die Rolle der Medizin und der Ärzte im Nationalsozialismus erklärt werden. Bemerkenswert und relevant in dieser Hinsicht sei, dass nur im nationalsozialistischen Deutschland die Ärzte an jedem Akt der Produktion von Tod teilgenommen hätten. Ich spreche nicht nur von den Experimenten mit den Versuchspersonen oder die anatomischen Befunde, die aus den Konzentrationslagern den renommiertesten deutschen Ärzten direkt zugesendet wurden; aber von ihrer direkten Mittäterschaft an allen Phasen des Massenmords: von der Selektion der Kinder und später der Erwachsenen, die für den barmherzigen Tod des T4-Programms bestimmt waren, über die Inklusion der Kriegsgefangenen in das, was noch als »Euthanasie« definiert wurde, bis zum großen Therapia magna auschwitzciense […]. Keine Phase der Todesproduktion entrann der Kontrolle der Ärzte. Wenn die ultimative Macht die Stiefel der SS trug, zog die oberste auctoritas den weißen Kittel des Arztes an. (Ebd., 119, Übers. R. G.)

Die Anerkennung der persönlichen rechtlichen Verantwortung der in diesem Prozess involvierten Ärzte stellt für Esposito keine Lösung für die Frage nach dem Verhältnis von Medizin und Ausübung der Todesmacht dar. Die Verurteilung der Ärzte als Mörder kann ihm zufolge die Funktion der Medizin in den 1930er Jahren in Deutschland nur oberflächlich erklären (ebd., 119f.). Das Interessante an der Gesundheitspolitik des Nationalsozialismus liege vielmehr darin, dass dieser neben der Produktion von Tod mehr als andere Staaten in Forschung und Gesundheit investiert habe. Außerdem habe der Nationalsozialismus viele Präventionsmaßnahmen gegen Krebs wie auch den Konsum von biologischen Lebensmitteln eingeführt. Für Esposito sind diese zwei Aspekte – Ausübung einer unbegrenzten Todesmacht und eine Förderung der Gesundheitspolitik – nicht als Widerspruch zu betrachten. Vielmehr seien sie als Folgen einer bestimmten politischen Rationalität zu interpretieren. Im Anschluss an diese These formuliert er die Hypothese, dass die Partizipation der Medizin und der Ärzte im Nationalsozialismus auch als Ergebnis einer exzessiven Sorge um die Gesundheit des deutschen Gesellschaftskörpers angesehen werden könne (ebd., 121). Demnach sei die Ermordung eines (als »infiziert« erklärten) Teils der Bevölkerung nichts anderes als eine bloß chirurgische Handlung, deren Ziel in der Rettung der Integrität des deutschen Gesellschaftskörpers bestanden habe (vgl. ebd.). Espositos These lautet entsprechend, dass die medizinische Biopolitik des Nationalismus nach einer politischen Rationalität ausgerichtet gewesen sei, in der das Töten die Bedingung der Heilung und vice versa gewesen sei (ebd.).

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Diese Perversion der Politik des Lebens in ein tödliches politisches Handeln – das sich auch als Verwandlung der Biopolitik in Thanatopolitik paraphrasieren lässt – kann für Esposito nur durch das Paradigma der Immunisierung erklärt werden, da dieses Licht auf die tödliche Verbindung von Schutz des Lebens zum einen und Negation des Lebens zum anderen werfe. Er zeigt die hermeneutischen Vorteile der Kategorie der Immunität für die Interpretation des Nationalsozialismus anhand von zwei Argumenten. Erstens erlaube die Logik der Immunität den Umstand zu berücksichtigen, dass ein Schutzsystem in seiner letzten Entwicklung gegen den Körper selbst in dem Maße aggressiv werden könne, in dem dieser als eine Drohung wahrgenommen werde. Die Figur der autoimmunen Krankheit stellt das Bild dieses Prozesses dar, der für Esposito in Hitlers Forderung eines Massenselbstmords des deutschen Volks seine historische Verwirklichung finde (ebd., 122). Zweitens argumentiert Esposito, dass der Nationalsozialismus seine Feinde als Infektionskrankheit betrachtet habe. Der Beweis dafür sei der Gebrauch eines epidemiologischen Lexikons während der Naziherrschaft, um deren Feinde zu beschreiben. Esposito hebt ausgezeichnet hervor, dass es dabei um keinen metaphorischen, sondern essentialistischen Gebrauch ging. Die Juden oder andere im Lager inhaftierte Individuen seien für die Nazis in der Tat Parasiten gewesen, sodass ihre Vernichtung nicht als Ermordung, sondern als Desinfektion konzipiert worden sei (vgl. ebd., 122f.). In dieser Hinsicht ist für Esposito die nationalsozialistische Perspektive sogar weniger Biopolitik als »Zoopolitik« (vgl. ebd., 123). Mit dieser Definition verweist Esposito darauf, dass die Inhaftierten in den Konzentrationslagern von den Nationalsozialisten nicht mehr als Menschen20 (besser gesagt als bíos) konzipiert wurden. Diese Definition der nationalsozialistischen Biopolitik als Zoopolitik wird von Esposito jedoch unzureichend formuliert und thematisiert. Somit ist dies mehr als stilistische Übung zu interpretieren, da er nicht auf die theoretischen Probleme eingeht, die durch die Einführung dieses neuen Begriffs auftauchen. Wo liegt der Unterschied von Bio- und Zoopolitik? Und wenn der Nationalsozialismus eine Zoopolitik ist, kann dieser gleichzeitig als eine Verwirklichung der Biopolitik betrachtet werden? Die fehlende Thematisierung dieser Fragen führt dazu, dass der Gebrauch des Begriffs der Zoopolitik bloß metaphorisch ist. Esposito versucht vielmehr die Annahme zu bekräftigen, dass der Referent des Nationalsozialismus weniger das moderne Rechtssubjekt als der Mensch als biologische Art gewesen sei.

20 Dieser Prozess der Dehumanisierung oder Naturalisierung des Menschen wird nicht in Bíos, sondern in Terza persona thematisiert, indem Esposito – wie schon erwähnt – die Genealogie dieses Dispositivs wie auch dessen Ziele rekonstruiert (vgl. Esposito 2007).

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Wichtig ist hierbei die Bedeutung des Todes für den Nationalsozialismus, die Esposito durch die Kategorie der Immunisierung interpretiert. Diese mache sichtbar, dass der Tod gleichzeitig Gegenstand, Mittel und Feind der nationalsozialistischen Biopolitik gewesen sei. Die grundlegende Rolle des Todes in der Ausübung der nazistischen Biomacht sei schon von Foucault bemerkt worden. Allerdings erlaube das Paradigma der Immunisierung eine angemessenere Charakterisierung dieses Verhältnisses. Was das immunitäre Paradigma in dieses Bild einfügt, ist die Anerkennung der homöopathischen Tonalität der nazistischen Therapie. Die von den Nazisten bis zum Tod bekämpfte Krankheit war nichts anderes als der Tod selbst. Was sie in dem Juden – und in den anderen ähnlichen menschlichen Typen – umbringen wollten, war nicht das Leben, sondern die Anwesenheit des Todes in diesem: Ein schon tödliches Leben, weil dieses vererblich von einer ursprünglichen und hoffnungslosen Deformierung gezeichnet war […]. In diesem Fall wurde der Tod gleichsam das Objekt und das Instrument der Heilung, das Böse und das Heilmittel. (Ebd., 148, Übers. R. G.)

Esposito folgert aus dem Gebrauch der Begriffe der Degeneration und Eugenik innerhalb der nationalsozialistischen Diskurse, dass für den Nationalsozialismus einige Lebensformen von dem Virus des Todes infiziert gewesen seien. Die Degeneration weise auf die Gefahr der Mischung zwischen verschiedenen Typen von Menschen hin (vgl. ebd., 124f.). Dieser Prozess führe zu einer Verschlechterung der »besseren« Typen und zur Vermehrung von negativen und »kranken« Charakteristika auch in dem »gesunden« Teil der Bevölkerung. Daraus erwachse die Notwendigkeit eines politischen Handelns, das die gesunden Elemente vor degenerierenden Kräften schütze (ebd.). Der Begriff der Eugenik drückt für Esposito diese immunitäre Ausrichtung der nationalsozialistischen Perspektive besonders gut aus. Für ihn lassen sich in den nazistischen Praktiken eine positive von einer negativen Eugenik unterscheiden. Die positive ziele auf die Sorge und Verbesserung der guten Typen, während sich die negative mit der Vernichtung der kranken und degenerierten Teile der Bevölkerung beschäftige (ebd., 135f.). Auf diese Weise kann Esposito die Logik erklären, die hinter den Massakern im Namen des Lebens steht. Aus dieser Perspektive stelle die Ausübung der Todesfunktion innerhalb der Biomacht kein Paradox dar. Vielmehr könne diese Verschiebung der Biopolitik in Thanatopolitik als die perverse, aber konsequente Folge einer Politik über das Leben betrachtet werden, die vor allem auf dessen negativen Schutz ziele. Neben den grundlegenden Prinzipien der immunitären Logik der nationalsozialistischen Biopolitik – Degeneration, Eugenik und therapeutischer Ge-

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brauch des Todes gegen den Tod – betont Esposito drei Dispositive, durch die sich diese tödliche Logik verwirkliche. Das erste dieser Dispositive ist Esposito zufolge die normativizzazione assoluta della vita (dt.: absolute Normierung des Lebens) (ebd., 149). Darunter versteht er einen Prozess, durch den auf der einen Seite biologische Elemente die Definition der Rechtssubjekte bestimmen und auf der anderen Seite jeder Aspekt des Lebens normiert wird. In dem Maße, in dem die biologischen Charakteristika die grundlegenden Kategorien für die Definition des Rechts bildeten, müsse zunehmend auch aus der juridischen Sichtweise festgehalten werden, welche konkreten biologischen Elemente in das Recht zu übernehmen seien. Somit würde jedes Attribut des Daseins in das Rechtsdispositiv eingefangen. Es handele sich dabei um eine enge Interaktion von Biologie und Recht, die keinen Freiraum übrig lasse (ebd.). Esposito zufolge ist dieses Dispositiv zugleich durch eine Biologisierung des nómos und Juridisierung des bíos gekennzeichnet. In seiner Analyse identifiziert er die Ärzte als Agenten und das Konzentrationslager als grundlegenden Applikationsraum dieses Dispositivs. In dessen Zentrum stehe insofern die Verwandlung der Ärzte in öffentliche Beamte. In dem Maße, in dem die Ärzte öffentliche Beamte würden, verändere sich auch ihr Verhältnis zu den Patienten. Das Ziel der Ärzte sei nun nicht mehr den einzelnen zu heilen. Vielmehr urteilten sie, ob ein Individuum schädigend für die Gesundheit des Gesellschaftskörpers sein könne. Diese Implikation stellt für Esposito den Höhepunkt des Prozesses der Politisierung der Medizin dar, der nichts anderes als die Kehrseite der Biologisierung des Politischen sei (vgl. ebd., 149f.). Wie Agamben interpretiert auch Esposito das Konzentrationslager durch eine biopolitische Perspektive. Allerdings stellt es für ihn weniger einen anormierten Raum dar, in dem das Leben allein von der souveränen Entscheidung abhängt. Im Gegensatz dazu ist für Esposito das Lager die Verwirklichung des Dispositivs der absoluten Normierung des Lebens. Er basiert diese Vermutung darauf, dass die Internierung ins Lager eine Präventionsmaßnahme gewesen sei, die nicht durch das individuelle Handeln, sondern durch biologische Charakteristika bestimmt gewesen sei. Somit sei das Leben als solches inhaftiert gewesen, das »von einer hoffnungslosen normativen Vorbestimmung untersetzt war« (ebd., 151, Übers. R. G.). Auch Agamben betont, dass die Inhaftierung nicht vom Handeln des einzelnen abhing. Der Unterschied zwischen beiden Analysen liegt jedoch darin, dass für Agamben die Produktion von nacktem Leben eine Folge des ontologischen Diskurses ist, während es bei Esposito auf die Biologisierung des Politischen zurückführen ist. Dazu kommt, dass für ihn im Unterschied zu Agamben nicht das Politische als solches, sondern nur die Biologisierung des Politischen zur Thanatopolitik führt. Das zweite immunitäre Dispositiv der nationalsozialistischen Biopolitik wird von Esposito als doppia chiusura del corpo – doppelte Schließung des Körpers –

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definiert (ebd.). Im Anschluss an Levinasʼ Analyse der Philosophie des Hitlerismus versteht er darunter einen Prozess, durch den jede Transzendenz, jede Spaltung von Körper und Dasein, Körper und Geist verschwinde. Esposito hebt hervor, dass die TheoretikerInnen des Nationalsozialismus die Existenz des Geists oder der Seele behauptet hätten. Allerdings handele es sich dabei um eine biologische Konzeption sowohl des Geistes als auch der Seele, die von dem Begriff der Rasse bestimmt gewesen sei (ebd., 153). Indem Esposito die nationalsozialistischen Aussagen analysiert, zeigt er, dass der Geist immer durch national-rassistische Kategorien definiert wird. Der Geist des deutschen Volks sei nichts anderes als eine ursprüngliche biologische Struktur, die »besser« als andere sei. Die erste Schließung bestehe somit darin, dass der Körper als biologische Struktur das einzige Kriterium für die ethische und juridische Definition des Individuums darstelle (ebd.). Die zweite Schließung betreffe dagegen die Angehörigkeit zu einer Rasse, die unmittelbar erblich und die Entwicklung des Daseins hoffnungslos vorbestimme (ebd., 154). Soppresione anticipata della nascita – Vorausbeseitigung der Geburt – stellt für Esposito das dritte biopolitische und immunitäre Dispositiv des Nationalsozialismus dar (ebd., 155). Damit bezieht er sich auf Prozeduren, die die Vernichtung von Lebensformen verfolgten. Im Zentrum dieser politischen Strategie standen die Praktiken der Sterilisierung, die von der nationalsozialistischen Regierung systematisch verfolgt wurden und besonders gewalttätig den Frauen gegenüber waren. Für Esposito ist es allerdings wichtig, die Sterilisierungspraktiken mit der Familienpolitik des Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen (ebd., 155f.). Zum einen vernichteten sie die Möglichkeit, dass sich »lebensunwertes« Leben reproduzieren konnte. Zum anderen zielten sie auf die Zunahme der Geburtenrate der von ihnen als solche definierten deutschen Rassen ab. Für Esposito setzt diese Strategie die Geburt unter eine volle politische Kontrolle, die von der immunitären Logik geprägt sei. Mit anderen Worten: Der Nationalsozialismus verfolgt für ihn das Ziel des Schutzes des nationalen und gesunden Gesellschaftskörpers durch die Negation der von ihm definierten negativen Lebensformen. Im Anschluss an Hannah Arendt kommt Esposito zu dem Schluss, dass die Macht über das Leben (Biomacht) des Nationalsozialismus weniger in der Ausübung des Todes, als in der Möglichkeit der Vorausbeseitigung des Lebens bestanden habe (vgl. ebd., 157). Wie schon erwähnt, interpretiert Esposito den Nationalsozialismus in Termini von Kontinuität und Diskontinuität. Die Persistenz der immunitären Ausrichtung setze diese politische Rationalität in Verbindung mit dem politischen Diskurs der Moderne, der von der Fortdauer eines negativen Schutzes des Lebens geprägt sei. Allerdings ist für ihn der Nationalsozialismus von der Moderne in dem Maße unterschieden, in dem darin die politischen Kategorien der Moderne abgelehnt würden und mit biologischen Kriterien ersetzt würden. Diese wiederum führten zu einer ra-

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dikalen Biologisierung des politischen Raums und zu einer vollkommenen Politisierung der Naturwissenschaft. Für Esposito ist die Bedeutung der Analytik der nationalsozialistischen Biopolitik für die aktuellen (bio-)politischen Diskurse entscheidend. Laut ihm ist die Zeit der Biopolitik nicht mit dem historischen Scheitern des Nationalsozialismus vorbei, weil die Biopolitik nicht dessen Produkt gewesen sei, sondern im Gegenteil der Nationalsozialismus ein extremes Ergebnis der Biopolitik darstelle (ebd., 159). Deswegen muss sich die Philosophie Esposito zufolge mit den von dem Nationalsozialismus gestellten Fragen nach dem Verhältnis von Leben und Politik weiterhin auseinandersetzen (ebd., 161). Dieses Erfordernis werde ferner dadurch bewiesen, dass die biologischen Charakteristika zunehmend wichtiger für die Definition der politischen Kategorien und des politischen Raums würden. Diese Persistenz zeigt für Esposito die Aktualität der Biopolitik und die Notwendigkeit einer kritischen Konfrontation der gegenwärtigen Biopolitik mit der nationalsozialistischen. Aufgabe der Philosophie sei deshalb die Formulierung einer affirmativen Biopolitik, die in den nächsten Kapiteln erklärt wird. Espositos Analyse des Nationalsozialismus mithilfe des Begriffs der Biopolitik stellt eine qualitative Wende dar. Die theoretische Leistung seiner Analytik liegt darin, dass diese zugleich die Kontinuität und Diskontinuität des Nationalsozialismus gegenüber der politischen Tradition der Moderne sichtbar macht. Statt eines deduktiven Erklärungsmodells führt er ein interaktives Modell ein, dem die Interaktion von Biologischem und Politischem zugrunde liegt. Der Prozess der Biopolitisierung des Politischen umfasst für Esposito zwei Komponenten. Zum einen übernimmt das Politische die Biologie als Referent für die Entwicklung der politischen Praxis; zum anderen werden gleichzeitig die Naturwissenschaften von dem politischen Rahmen stark geprägt. Aus dieser Perspektive erweist sich der Nationalsozialismus weder als das notwendige Ergebnis des modernen politischen Diskurses, wie z.B. Arendt und Agamben behaupten, noch als eine einzigartige Antithese der Moderne. Vielmehr interpretiert Esposito den Nationalsozialismus als eine singuläre Verwirklichung der biopolitischen Orientierung der Moderne. Die »Positionierung« des Nationalsozialismus gegenüber der Moderne ist allerdings nur eines der theoretischen Verdienste seiner Analytik. Sozialwissenschaftlich relevant ist auch seine Interpretation der Rolle der Ärzte in der nazistischen Herrschaft. Er hebt hervor, dass diese weniger als ideologisierte WissenschaftlerInnen zu betrachten seien. Vielmehr seien sie als eine Art biopolitischer Akteur zu interpretieren, die aktiv auf die Entwicklung der nationalsozialistischen Biopolitik einwirkten. Außerdem zeigt Esposito, dass es dabei um eine substanzielle Veränderung geht, die die Konzeption sowohl der medizinischen Praxis als auch des Verhältnisses von Heilung und Krankheit betrifft. In dem Maße, in dem die Gesellschaft vollkommen medikalisiert ist, wird die Aufgabe der Ärzte weniger die Hei-

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lung der einzelnen als die Rettung des Gesellschaftskörpers. Sie erweisen sich daher als ein Hybrid von wissenschaftlichen, rechtlichen und administrativen Beamten, die ihr Amt in der nationalsozialistischen Thanatopolitik verfolgen können. Espositos Definition des Nationalsozialismus als »politische Biologie« – statt Ideologie – erlaubt schließlich eine kritische Sichtweise auf die Definition der Kämpfe gegen die neuen Formen dieser politischen Perspektive. Er hebt hervor, dass der gegenwärtige politische Raum zwar gegen den Nationalsozialismus als Ideologie immunisiert sei; jedoch würden die Gefahren nicht wahrgenommen, die von einer Biologisierung des Politischen ausgingen (Esposito 2004a, 160f.). Die Deutung als »politische Biologie« weist darauf hin, dass die Normierung jedes Aspekts des Lebens, die Vernichtung der kranken Teile usw. weniger das Ergebnis einer Ideologie sind, sondern vielmehr die Folgen eines politischen Handelns, das die biologischen Charakteristika für die Definition des Politischen benutzt. So gesehen kann die Analyse des Nationalsozialismus nicht nur als historische Interpretation, sondern auch im Sinn einer »Ontologie der Gegenwart« durchgeführt werden.

4.5 AFFIRMATIVE B IOPOLITIK Die Persistenz einer Politik des Todes im Inneren der Politik des Lebens ist ein Phänomen, das – wie am Ende des letzten Kapitels erwähnt – für Esposito nicht mit dem Scheitern des Nationalsozialismus beendet ist. Vielmehr handele es sich dabei um eine Tatsache, die auch und vor allem unsere Gegenwart charakterisiere: Die immer wichtigere Rolle, die ethnische Faktoren in den internationalen Beziehungen spielen, der Zugriff der Biotechnologien auf den menschlichen Körper, die entscheidende Rolle der Gesundheitspolitik für das Funktionieren der Wirtschaft und des Produktionssektors eines Landes und der absolute Vorrang der Sicherheitsfrage in jeder Regierungsagenda sind nur einige Zeichen dafür, dass die Politik immer mehr mit der reinen Biologie – wenn nicht mit dem Körper jedes einzelnen Bürgers dieser Welt – zusammenfällt. (Esposito 2010c, 22f.)

Laut Esposito darf die Philosophie deswegen die Frage nach der Biopolitik nicht umgehen und sich darüber hinaus nicht auf eine bloße Analytik der Biopolitik beschränken. Für ihn muss die Philosophie die theoretischen Werkzeuge erfinden, um eine Politik des Lebens zu entwickeln (Esposito 2010b, 97), die die immunitäre und negative Ausrichtung der modernen Biopolitik überwinden kann. Dazu kommt für Esposito das Bedürfnis nach einer affirmativen Politik des Lebens, die weniger von einer immunen als von einer communen Orientierung geprägt ist. Die von ihm vorgenommene Theoretisierung einer affirmativen Biopolitik ist durch drei Phasen charakterisiert. Die erste wird von ihm im Anschluss an seine

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Kritik des Nationalsozialismus und der immunitären Ausrichtung des modernen politischen Diskurses formuliert. Die affirmative Biopolitik müsse in diesem Fall die tödlichen Dispositive des Nationalsozialismus umkehren und statt der immunitären Begriffe, die diesem zugrunde lägen, alternative entwickeln, die das Politische als communen Raum neu artikulierten. Der erste Punkt, an dem Esposito ansetzt, ist die Ersetzung der Idee des Körpers durch den Begriff des Fleisches, den er von dem französischen Philosophen Merleau-Ponty übernimmt. Diese theoretische Operation zielt darauf ab, das Dispositiv der doppelten Schließung des Körpers zu demontieren. Die Idee einer permanenten Geburt, die Esposito ausgehend von Arendts Philosophie und Simondons Philosophie der Biologie entfaltet, kann dagegen als Widerstand gegen das Dispositiv der Vorausbeseitigung der Geburt angesehen werden. Für Esposito ist allerdings entscheidend, das immunitäre Verhältnis von Leben und Norm, dessen Höhepunkt das nationalsozialistische Dispositiv der absoluten Normierung des Lebens sei, umzukehren. In diesem Fall knüpft er an Spinoza und Canguilhem an, um die These zu stützen, dass Normen als Daseinsmöglichkeit zu interpretieren seien und dass jedes Dasein schon immanent über eine Norm verfüge. Diese Perspektive einer affirmativen Biopolitik wird im ersten und zweiten Abschnitt kritisch rekonstruiert. Die zweite Phase der Definition einer affirmativen Biopolitik wird in Bezug auf die Probleme des Humanismus und seiner ontologischen und politischen Folgen formuliert. Der Ausgangspunkt dieser Forschungsrichtung, die Esposito vor allem in kleinen Texten durchführt, ist Heideggers Brief über den Humanismus. Nietzsche zum einen und Darwin zum anderen bieten für Esposito darüber hinaus die Werkzeuge für eine post-humanistische Perspektive, die ihm zufolge von einer Kontamination und Interaktion von Menschen und anderem Leben charakterisiert ist. Espositos Beschäftigung mit der Frage des Humanismus erlaubt ein besseres Verständnis der Lokalisierung seines Begriffs der affirmativen Biopolitik in der philosophischen Debatte. Das Verhältnis von affirmativer Biopolitik und PostHumanismus wird im dritten Abschnitt analysiert. In seiner Schrift Terza persona artikuliert Esposito seine affirmative Perspektive weniger als affirmative Biopolitik denn als Philosophie der impersonale. Diese semantische Verschiebung bedeutet keinen Verzicht auf die Idee, eine affirmative Politik des Lebens zu entfalten. Leben und Politik spielen noch eine grundlegende Rolle in der Philosophie der impersonale. Allerdings werden diese Begriffe in einem theoretischen Rahmen verortet, in dem Esposito eine Dekonstruktion des rechtlichen Dispositivs der Person entwickelt. Die Philosophie der impersonale wird somit als Strategie formuliert, um dieses Dispositiv zu überwinden. Wie der affirmativen Biopolitik liegt auch der Philosophie der impersonale die Idee des »Tier-Werdens« von Nietzsche und Deleuze zugrunde. Auch in diesem Fall beruft sich Esposito auf das Erfordernis, den Humanismus zu überwinden und die Pers-

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pektive einer Kontamination und Interaktion von Menschen und anderen Lebewesen zu öffnen. Diese dritte Phase wird im letzten Abschnitt diskutiert. 4.5.1 Vom negativen Schutz des Lebens zur affirmativen Politik des Lebens In der Trilogie Communitas, Immunitas und Bíos entwickelt Esposito eine Perspektive, die die negative und immunitäre Ausrichtung des modernen politischen Diskurses sichtbar macht. Die Folge dieser Orientierung ist die Einsetzung von Dispositiven, die das Leben schützen, aber gleichzeitig das Leben negieren. Laut Esposito folgt von dieser negativ-immunitären Tendenz der Moderne die Möglichkeit der Entwicklung einer Politik des Lebens, die sich auch und vor allem als thanatopolitisch charakterisieren lasse, da sie auch durch die Verwendung von tödlichen Mitteln funktioniere. Esposito zufolge bedeutet die Krise der modernen Institutionen nicht das Ende der immunitären Dispositive und insofern das Ende der Möglichkeit einer Politik des Lebens, die gleichzeitig auch eine Thanatopolitik ist. Um diese thanatopolitische Tendenz des Politischen zu kontrastieren, müsse eine politische Philosophie entwickelt werden, die nicht auf der Negation des Lebens als Basis der Biopolitik beruhe. Vielmehr müsse ihr eine Idee der Affirmation des Lebens zugrunde liegen. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass in Espositos Philosophie das Gegenteil des Negativen nicht das Positive, sondern das Affirmative ist. Das Negative charakterisiert die Logik der immunitas, die das munus negiert, da dieses dazu tendiert, die konstituierte Ordnung in Frage zu stellen. Affirmativ ist dagegen eine Politik der Immanenz, die nicht auf den Schutz der Ordnung zielt, sondern im Gegensatz dazu auf einer permanenten Konstituierung des Politischen entsprechend der immanenten Bedürfnisse und der Komplexität des Lebendigen beruht. Esposito zufolge ist der Begriff forma di vita (dt.: Lebensform) am geeignetsten, eine Konzeption des Lebens für eine affirmative Biopolitik zu begründen. Das Verdienst dieses Begriffs liege darin, dass dieser nicht die Eigenschaften eines qualifizierten Lebens definiere. Vielmehr verweise er auf die Möglichkeit des Lebens, sich in verschiedenen Formen zu entwickeln und zugleich auf dessen Weigerung, sich permanent bestimmen zu lassen (ebd., 214f.). Mit anderen Worten deutet Esposito mit dem Begriff Lebensform auf eine Ontologie der Potentia im Kontrast zur Ontologie des Wesens, die der modernen politischen Rationalität zugrunde liege. Wie schon erwähnt, definiert auch Agamben ausgehend von dem Begriff Lebensform eine mögliche emanzipative Strategie. Esposito zitiert jedoch weder ihn noch verweist er auf dessen Thesen. Dennoch basieren beide Perspektiven auf einer Ontologie der Potentia, die den philosophisch-politischen Diskurs in Italien im Allgemeinen prägt.

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Die Strategie der affirmativen Biopolitik muss Esposito zufolge von einer Dekonstruktion der nationalsozialistisch-biopolitischen Dispositive ausgehen. Diese Arbeitshypothese basiert auf der Vermutung, dass die negative Ausrichtung des modernen politischen Diskurses verändert werden könne, wenn eine Gegenstrategie entwickelt werde. Diese müsse als Wert und Grundelement setzen, was die BioThanatopolitik des Nationalsozialismus zu vernichten versuche. Esposito erklärt die Logik seiner theoretischen Operation wie folgt: Es geht darum, die bio-thanatologischen Voraussetzungen [des Nationalsozialismus] eine nach der anderen in ihrem Inneren zu penetrieren und umzukehren […], aber was bedeutet es, diese umzukehren? Und in ihrem Inneren umzukehren? Den Versuch zu unternehmen, besteht darin, die Kategorie von Leben, Körper und Geburt selbst zu berücksichtigen, indem die immunitäre Ausrichtung – d.h. autonegativ – in eine Richtung verwandelt wird, die zum ursprünglicheren und intensiveren Sinn der Communitas geöffnet ist. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, endlich die Grundrisse einer affirmativen Biopolitik – nicht mehr über das Leben sondern des Lebens – zu umreißen. (Esposito 2004a, 171f., Übers. R. G.)

Wichtig hierbei sind zwei Passagen. Die erste betrifft den Übergang von der immunitas zur communitas. Darunter versteht Esposito die Idee eines politischen Diskurses, der statt von dem Schutz vor anderen, von der Möglichkeit, mit anderen zu leben, auszugehen habe. An dieser Stelle ist anzumerken, dass er dabei nicht das Ende der Immunisierungsprozesse meint. Die Immunisierung ist für ihn auch positiv in dem Moment, in dem sie das Entstehen des politischen Lebens erlaubt. Zu kontrastieren sei allerdings die Idee der Zentralität der Immunisierung und deren Fokussierung auf Schutzmaßnahmen. Vielmehr müsse eine affirmative Perspektive auch neue soziale und institutionelle Formen des Lebens mit anderen umfassen. Der zweite Schwerpunkt der von Esposito formulierten Logik der affirmativen Biopolitik besteht in der Formulierung einer politica della vita – Politik des Lebens – im Gegensatz zu einer politica sulla vita – Politik über das Leben – (vgl. ebd.). Der Unterschied dieser Ausdrücke, die Esposito schon in seiner Interpretation des Foucaultʼschen Begriffs der Biopolitik benutzt hat (ebd., 25), bekommt hier eine andere Bedeutung. Diese Begriffe werden verwendet, um den Unterschied zwischen Biomacht – Politik über das Leben – und Biopolitik – Politik des Lebens – in Foucaults Analyse zu erklären (vgl. ebd., 5). Unter politica sulla vita versteht Esposito an dieser Stelle dagegen eine Konzeption des Politischen, in der das Leben als solches unter die politische Kontrolle gesetzt wird, sodass dieses zu einem bloßen Gegenstand des politischen Handelns werde. Im Gegensatz dazu weise politica della vita auf einen Diskurs hin, in dem das Leben als Potentia den politischen Raum bestimme (vgl. ebd., 172). Mit anderen Worten: Die Politik muss als der Raum interpretiert werden, in dem die Daseinsmöglichkeiten in Frage gestellt und wieder

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neu geschaffen werden. Diese semantische Verschiebung in derselben Arbeit lädt zu Verwirrungen ein. Robin Celikates betont daher, dass Esposito an diesem kategorialen Unterschied nicht konsequent festhält (Celikates 2008, 58). Allerdings ist zu beachten, dass diese Bedeutungsverschiebung vor allem von einer Veränderung des theoretischen Rahmens abhängt. So sind in dem ersten Fall politica sulla vita und politica della vita Teile eines politischen Raums, der von der negativen Ausrichtung der immunitas geprägt ist. In dem Kontext der affirmativen Biopolitik muss dagegen diese immunitäre Verbindung aufgelöst werden, um eine echte politica della vita ohne politica sulla vita entwickeln zu können. Auf diese Weise versucht Esposito implizit das Problem zu lösen, das ausgehend von Foucault den begrifflichen Unterschied zwischen Biomacht und Biopolitik kennzeichnet. Während Agamben die Politik als Ausübung der Macht über das Leben interpretiert, und deswegen bei ihm nur die Biomacht existiert, und Hardt und Negri die Biomacht als die Negativität und Biopolitik als das Positive des Politischen charakterisieren, fokussiert Esposito durch seine Kategorie auf die Art der Verbindung von Leben und Politik, die sowohl negativ (Politik über das Leben) als auch affirmativ (Politik des Lebens) sein kann. In dem folgenden Abschnitt wird diskutiert, wie Esposito zufolge die Elemente der auf Vernichtung zielenden Dispositive der Thanatopolitik dekonstruiert und für eine affirmative Politik des Lebens rekombiniert werden können. 4.5.2 Fleisch, Geburt und Norm des Lebens Die Dekonstruktion des Dispositivs der doppelten Schließung des Körpers ist der erste Schritt von Espositos Projekt der affirmativen Biopolitik. Im Zentrum dieser theoretischen Operation steht die Kritik der Darstellung des politischen Raums mithilfe der Körpermetapher. Wie er schon in Immunitas hervorhebt, ist die Konzeption der Körper »das Terrain, in dem das Politische und das Biologische verflochten worden sind« (Esposito 2004c, 158). Allerdings geht es hierbei um eine Verbindung, die von der immunitären Orientierung sowohl in der absolutistischen Hobbes’schen Variante als auch in der demokratischen Rousseauʼschen Tradition geprägt ist. Für Esposito ist die Immunität strukturell mit der Idee des Körpers verbunden, da diese sich immer auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten (Gesellschafts-)Körper beziehe und somit auf dessen Verteidigung gegen NichtAngehörige beruhe (vgl. Esposito 2004a, 172-173). Die nationalsozialistische Vorstellung des Körpers ist deshalb für ihn nichts anderes als die Radikalisierung der in der Moderne entstandenen Prozesse der Verkörperung der einzelnen Leben im kollektiven Organismus des Staats. Diese Radikalisierung habe dennoch eine bestimmte Charakterisierung, die die nationalsozialistische Vorstellung des politischen Körpers von anderen modernen Varianten unterscheide. Laut Esposito bildet im Natio-

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nalsozialismus die biologische Struktur die einzige und absolute Referenz für den Prozess der Verkörperung (ebd., 173). Grundlegend in der nationalsozialistischen Perspektive ist ihm zufolge demnach die fundamentale Opposition von dem Körper der Deutschen und dem Körper der Insassen der Lager, der als »Dasein ohne Leben« konzipiert worden sei. Während der erste ein Körper gewesen sei, der als Glied des deutschen Gesellschaftskörpers das »bessere Leben« repräsentiert habe, weise der zweite auf eine Form hin, die nicht als Körper, sondern als bloßes Existieren zu denken sei, da sie nicht in einen Gesellschaftskörper integriert werden konnte (ebd.). Allerdings ist das »bloße Leben«, das im Nationalsozialismus den größten Defekt darstellte, Esposito zufolge grundlegend für die Entwicklung einer affirmativen Biopolitik, da es sich dabei um eine Lebensform handele, die sich nicht auf ethnische oder biologische Kategorien beziehe. Der Begriff, der diese Lebensform am besten darstellt, ist für ihn der des Fleisches (ebd.), den er von Merleau-Ponty übernimmt. Dieser definiert den Begriff des Fleisches mit den folgenden Worten: Der wesentliche Begriff für eine solche Philosophie ist der Begriff des Fleisches [chair], der nicht objektiver Körper ist und ebensowenig jener Körper, den die Seele als ihren eigenen denkt (Descartes), sondern der das Sinnliche ist im doppelten Sinne der Empfundenen und des Empfindenden. Der Empfundene= das sinnliche Ding, die sinnliche Welt= das Korrelat meines aktiven Leibes, was ihm ›antwortet‹ – Der Empfindende= ich kann kein einziges Sinnliches setzen, ohne dass es meinem Fleisch entrissen, meinem Fleisch entnommen wäre; und mein Fleisch selbst ist ein Sinnliches von der Art, daß sich alles andere Sinnliche in es einschreibt, es ist sinnlicher Angelpunkt, an dem alles andere Sinnliche teilhat, SchlüsselSinnliches, dimensionales Sinnliches. Mein Leib ist im höchsten Grade, das was jedes Ding ist: ein dimensionales Dieses. (Merleau-Ponty 1994, 326f., Herv. i. O.)

Mit Fleisch verweist Merleau-Ponty auf eine Dimension, in der sich die Kommunikation von Leib und Dingen entwickelt. Es ist die Substanz, die die Empfindung anderer erlaubt. Wichtig ist hierbei, dass das »andere« hier nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Dinge und vor allem die Welt betrifft. Diese Wahrnehmung ist nur ausgehend davon möglich, dass der Leib »Fleisch der Welt« ist (ebd., 313f.). Mit anderen Worten: Die Empfindung der Welt und der anderen Wesen ist nur in dem Maße möglich, in dem diese an der gleichen Substanz teilnehmen, die sie in Kommunikation miteinander bringt. Espositos Interpretation des Begriffs des Fleisches von Merleau-Ponty fokussiert darauf, dass dieser für eine Dekonstruktion der Darstellbarkeit des politischen Körpers funktional sei. In dem Maße, in dem der Leib mit seinem Außen zusammenfalle, werde – so seine Argumentation – eine Darstellung des Körpers als begrenzte Einheit unmöglich, da eine solche Grenze und eine entsprechende Angehö-

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rigkeit nicht gesetzt werden könne (Esposito 2004a, 176). Als Fleisch der Welt kann ein solches Dasein Esposito zufolge somit nicht durch seine biologischen und geistlichen Eigenschaften ausgezeichnet werden. Für ihn ist das Fleisch der Welt ein Prozess der Verdopplung der einzelnen in die vielen. Dadurch versucht er, die Opposition Körper/Fleisch näher zu bestimmen. Während der Körper zur Einheit tendiere, weise das Fleisch auf die Vielfalt hin (vgl. ebd.). Hierbei ist es wichtig zu verstehen, inwiefern das Fleisch zur Verdopplung und zur Vielfalt führt und inwiefern es als Substanz von allen Dingen konzipiert ist. Esposito bemerkt zunächst, dass das Fleisch auf die Möglichkeit verweise, anders zu werden. Nur in dem Maße, in dem etwas anders werden könne, könne es andere Wesen empfinden. Dieser Prozess sei jedoch nur möglich, weil alle Dinge von gleichem Fleisch seien. Das Fleisch sei deshalb als gemeinsame Substanz zu konzipieren, die die »Einfühlung« (Merleau-Ponty 1994, 313) und somit die Kommunikation verschiedener Entitäten erlaube. Esposito folgert daraus, dass das Fleisch sich jedem Identifikationsprozess entziehe, da dieses immer auf die Bewegung oder die Möglichkeit, sich in etwas anderes einzufühlen oder sich zu »verdoppeln« hinweise (Esposito 2004a, 176). Es ist zudem wichtig zu betonen, dass Esposito durch Merleau-Pontys Begriff des Fleischs beginnt, die Perspektive einer post-humanistischen Philosophie zu skizzieren. Das Verdienst von Merleau-Ponty bestehe darin, dass er durch den Begriff des Fleischs den ontologischen Unterschied von Menschen und anderem Lebendigen negiere (ebd., 176f.). Es gehe dabei um eine Perspektive – die Überwindung des ontologischen Unterschieds und der Hierarchisierung von verschiedenen Lebewesen –, die besser verstanden werden könne, wenn sie mit der Philosophie Heideggers verglichen werde. Wie Esposito erwähnt, hält dieser an einem radikalen ontologischen Unterschied von Menschen, Tieren und Dingen fest, die als weltbildend, weltarm und weltlos definiert werden (vgl. Heidegger 2010). Obwohl er sich in seinem Brief über den Humanismus von einer anthropologischen Philosophie zu entfernen versuchte (vgl. Heidegger 2000), bleibt für ihn eine Kommunikation zwischen Menschen und anderen Lebewesen unmöglich und der Mensch das einzige Wesen, das das Sein wahrnehmen kann. Im Unterschied dazu artikuliert Merleau-Ponty durch den Begriff des Fleischs der Welt eine Interaktion zwischen den verschiedenen Lebewesen, die das Sein in der Welt bestimmen. 21 In Bíos beschäftigt sich Esposito auch mit der Rezeption von Merleau-Pontys Begriff des Fleischs, um zu zeigen, dass sein Potenzial bisher kaum ausgeschöpft

21 Das Thema der Überwindung des ontologischen und somit politischen Unterschieds von Menschen und Tieren wird von Esposito vor allem in seinen späteren Arbeiten entwickelt (vgl. Esposito 2007 und 2010).

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worden ist. Den meisten Kritiken an diesem Begriff liegt ihm zufolge nämlich ein Vorurteil zugrunde. Fleisch sei für Autoren wie Lyotard, Nancy und Derrida nichts anderes als ein Residuum von Spiritualität in der Konzeption des Körpers. Für Esposito ist diese Kritik unbegründet, da sich der Begriff von Merleau-Ponty in Wirklichkeit auf bloße Materialität beziehe (Esposito 2004a, 177). Außerdem bemerkt Esposito, dass auch in der Tradition des Christentums das Fleisch nie als eine spirituelle Entität konzipiert worden sei. Vielmehr habe die Kirche den Körper als spirituelle Dimension im Gegensatz zum Fleisch konzipiert, das als gefährliche Materialität betrachtet worden sei (vgl. ebd., 179). Espositos Darstellung der Verkörperung der christlichen Gemeinschaften im geistlichen Körper der Kirche ist besonders interessant, weil sie sichtbar macht, dass die Verkörperung der Vielen in dem Einen ein theologisch-politisches Dispositiv ist, das durch den Übergang von der geistlichen zur biologischen Dimension des Körpers säkularisiert wurde (vgl. ebd., 180). Diese theologisch-politischen Aspekte der politischen Verkörperung werden von Esposito auch in Immunitas betrachtet (vgl. Esposito 2004c). Allerdings thematisiert er in Bíos mit Bezug auf Merleau-Ponty nicht nur die Formen, in denen das Fleisch in einen Körper zerteilt, organisiert und reglementiert wird, sondern auch die Möglichkeit der Überwindung der Politik des Körpers. Um diese mögliche Veränderung des Politischen besser zu erklären, benutzt Esposito auch politisch-theologische Begriffe wie Verfleischung und Auferstehung des Fleischs. Diese würden die Logik des »Fleischwerdens« verdeutlichen. Durch die Verfleischung entwickele der Gott der Einheit eine zweite Natur, die sich in der Menschheit verdopple und in Kommunikation mit anderen (den Menschen) trete (vgl. Esposito 2004a, 183). Die Auferstehung des Fleischs kann für Esposito dagegen – wenn es nicht theologisch interpretiert wird – als die Entstehung eines »Daseins« (ebd.) aufgefasst werden, das gleichzeitig »gemein und singulär, generisch und spezifisch, undifferenziert und differenziert ist« (ebd.). Obwohl diese Wiederauferstehung des Fleischs ein charakteristisches Ereignis der Gegenwart sei, definiert Esposito sie nicht weiter. Insofern löst er seine Forderung, dieses Ereignis zu verwirklichen, nicht ein. Es bleibt somit unklar, inwiefern das säkularisierte Denken der Auferstehung des Fleischs zu der Definition »einer anderen communitas« (ebd., 182, Übers. R. G.) beitragen kann. Trotz dieser Schwachstelle wird deutlich, dass er unter Verfleischung einen Prozess versteht, durch den sich das Leben sowohl individuell als auch kollektiv verändern lässt. Es kann demnach behauptet werden, dass mithilfe von Espositos Begriff der Verfleischung singulär und kollektiv als zwei Attribute desselben Fleischs interpretiert werden können. Somit existiert in seiner affirmativen Biopolitik keine Individualität oder Kollektivität als solche, sondern nur differente und differenzierbare, kontaminierte und kontaminierbare Formen des Fleischs.

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Eine säkularisierte Verfleischung ist für ihn deshalb die politische Strategie, die sich gegen jeden Versuch der Verkörperung der lebendigen Vielfalt entwickeln müsse (ebd.). Dass das Fleisch der angemessene Begriff für die Konzeption des bíos in unserer Gegenwart sei, werde zudem vom Globalisierungsprozess gezeigt. Esposito entwickelt diese These – die er als Beweis bezeichnet – ausgehend von dem Auftauchen immer kleinerer politischer Entitäten, die mehr Autonomie von den Staaten fordern würden. Die Zersplitterung der Nationalstaaten markiert für ihn das Ende »des politischen Körpers im klassischen Sinn« (ebd., 182, Übers. R. G.). An seiner statt tauche eine indeterminierte lebendige Substanz auf, die nicht als Körper vorstellbar sei. Die Folgen eines Verhältnisses von Leben und Politik, das nicht durch die Idee des Körpers artikuliert wird, sind für Esposito allerdings schwer abzusehen, da es sich im Rahmen einer militarisierten souveränen Macht entwickele (ebd.). Diese These ist jedoch eher fragwürdig und oberflächlich, da nicht klar wird, wie er ein ambivalentes Phänomen wie die Globalisierung interpretiert. Außerdem ist zu hinterfragen, warum das Entstehen von neuen »selbstidentitären« Institutionen auf einen Prozess der Verfleischung zurückzuführen ist. Es könnte auch eine neue immunitäre Wende sein. Das Problem dieser These liegt auch darin, dass Esposito nicht spezifiziert, was diese »selbstidentitäre Realität« ist, sodass nicht deutlich wird, ob er auf das Auftauchen neuer staatlicher Institutionen nach dem Scheitern des realen Sozialismus in Osteuropa verweist oder vielmehr von den sozialen Bewegungen spricht, die lokale und direkte Formen der Demokratie fordern. Diese Unklarheit erlaubt es daher nicht, diesen Prozess der Verfleischung zu verorten. Trotz dieser Lücke wird Espositos Entgegensetzung von Politik der Verkörperung und Politik der Verfleischung deutlich. Die erste produziert die Einheit der Vielen, annulliert somit die Singularität und noch wichtiger: Sie setzt Grenzen und bestimmt, wer in dem (politischen) Körper leben darf und wer nicht und somit ausgeschlossen werden muss. Die zweite weist auf die Möglichkeit hin, durch den Kontakt mit anderen, anders zu werden, und deswegen die eigene Singularität weiterzuentwickeln. Die Opposition von Verkörperung und Verfleischung lässt sich auch als Übergang von einer Politik, die vor der Kontamination schützt, zu einer Politik der Kontamination verstehen. Esposito weist auf diese Interpretation seiner Idee der Verfleischung hin, indem er die Biotechnologie als Beispiel anführt. Diese besteht für ihn in der Verbindung mit etwas, das ursprünglich nicht dem Körper angehörte. Verfleischung ist deshalb die Verbindung mit einem Außen, das radikal das Innere verändert (ebd., 184). Diese Interpretation der Biotechnologie als Verfleischung ist jedoch fragwürdig, da gerade das Beispiel der Transplantation weniger als Kontamination interpretiert werden kann. Vielmehr geht es um eine »Einkörperung« von externen Elementen, die eher auf der Logik der Verkörperung (zwei, die eins werden) statt der Verfleischung (eins, das zwei wird) hinweist. Es ist

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dagegen die Organspende, die als Verfleischung interpretiert werden kann, da sich hierbei das, was ein einziges Leben war, in vielen anderen Leben verwirklicht. Die Idee der Überwindung des Körpers als theoretisches Bild des Politischen ist nicht nur interessant, sondern auch notwendig, da – wie Esposito in seinen Arbeiten zeigt – die Idee der politischen Körper mit gefährlichen Ambivalenzen konnotiert ist. Allerdings ist der Begriff des Fleischs als Entgegensetzung zu dem des Körpers wenig überzeugend. Aus einer theoretisch-philosophischen Sichtweise mag dies funktionieren, da diesem Begriff die Ablehnung des ontologisch-politischen Unterschieds zugrunde liegt. Insofern ist es unmöglich, eine Hierarchie oder soziale Ungleichheit ausgehend von der Idee des Fleischs der Welt zu organisieren. Allerdings ist eine politische Übersetzung dieser Idee kaum denkbar; dies wird – wie schon erwähnt – auch bei Esposito selbst in dem Moment deutlich, in dem er den Prozess der Verfleischung zu konkretisieren versucht. Die Schwierigkeit ist auch darin zu suchen, dass Fleisch als Gegenbegriff zum Körper eher anachronistisch ist. Um dieses Problem zu veranschaulichen, ist ein Vergleich zwischen Espositos Idee des Fleischs mit Donna Haraways Perspektive des Cyborgs hilfreich (vgl. Haraway 1995). Beide Perspektiven zielen auf die Überwindung der Idee des Körpers als begrenzte Einheit. Während Esposito einen alten Begriff übernimmt, der nicht unmittelbar, sondern nur durch eine philosophische Erklärung verstanden werden kann, verwendet Haraway einen Begriff, dessen Bedeutung direkt auf die Kontamination und Offenheit des Körpers verweist. Außerdem ist das Werden-Cyborg des Daseins sehr einfach zu erkennen und zu zeigen und kann schon effektiv in der politischen Diskussion eingesetzt werden. Im Gegensatz dazu stellt der Prozess der Verfleischung keine Referenz für das Politische in der Gegenwart dar. Während sich die Formulierung des Begriffs des Fleischs auf die Überwindung der Politiken der Verkörperung richtet, berücksichtigt Esposito die politische Konzeption der Geburt, um das nationalsozialistische Dispositiv der Vorausbeseitigung der Geburt zu dekonstruieren und zu neutralisieren. Ausgangspunkt seiner theoretischen Demontage ist die Genealogie der Verbindung von Natalität und Nation.22 Zunächst betont Esposito, dass vor der Moderne die Natalität vor allem eine biologische Bedeutung hatte und mit nationes Leute gemeint waren, die Teil an einer ethnischen, aber auch sozialen, religiösen oder beruflichen Gruppe waren (ebd., 186). Mit dem Auftauchen der modernen Nationen werde die Natalität das Krite-

22 Der Gebrauch des Begriffs »Natalität« statt »Geburt« zielt darauf ab, die semantische Verbindung von Geburt und Nation zu betonen. Während diese Verbindung in der lateinischen Sprache deutlich ist (Geburt auf Italienisch heißt nascitá), ist sie in der germanischen und angelsächsischen Sprache, in der nur für »Nation« ein lateinischer Stamm benutzt wird, nicht so deutlich.

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rium für die Verbindung der einzelnen mit dem Körper des Souveräns, der die Nation und die Nationalität darstelle. Auf diese Weise setze die Natalität eine zeitliche Kontinuität in dem Maße, in dem eine Relation festgehalten werde, zwischen denen, die an einem bestimmten Ort geboren seien, und jenen, die in Zukunft dort zur Welt kommen würden. Während diese Genealogie einerseits die konstitutive Verbindung von Natalität und Nation sichtbar macht, kann andererseits nicht gesagt werden, dass der Geburtsort in der Antike keine Rolle bei der Definition des bíos spielte. Wie Agamben zu Recht hervorhebt, waren ius soli – der Geburtsort – und ius sanguinis – die Zugehörigkeit zu einer Familie – schon im römischen Recht die grundlegenden Elemente für die Definition des juridischen Status (Agamben 2002, 139). Dass noch heute der Geburtsort und die Nationalität der Familie die grundlegenden Kriterien für das Erhalten eines Rechts sind, stellt die Persistenz eines bestimmtes Dispositivs dar, das jede Rechtsordnung prägt. Esposito zufolge wird der Identifikationsprozess als Nationalisierung durch die Politisierung der Geburt im Nationalsozialismus weiterentwickelt, der in der Frage nach dem Verhältnis von Nation und Natalität gleichzeitig eine Kontinuität, aber auch eine Wende darstelle (Esposito 2004a, 187). Während die Kontinuität in der Persistenz der Geburt als grundlegendem Ereignis für die Einbeziehung in den Staat bestehe, sei die Wende in der Radikalität der nationalsozialistischen Konzeption der Natalität zu suchen. Für den Nationalsozialismus sei die Geburt das Moment, in dem unmittelbar und ohne mögliche Veränderungen das politische Dasein eines Lebens in dem Maße festgehalten werde, in dem es einer Nation als »Rasse« für immer angehöre (ebd., 187). Der Bezug auf biologische Elemente im Identifikationsprozess in der Moderne ist für Esposito ein Kennzeichen des politischen Diskurses der Moderne insgesamt. Das gilt nach ihm nicht nur für das Phänomen der Politisierung der Natalität, sondern auch für die politische Darstellung der Brüderlichkeit (ebd., 188). 23 Jemand könne demnach als Bruder betrachtet werden, indem er einen Vater (die Nation) mit anderen teile. In der Argumentation Espositos ist die Annahme noch bedeutsamer, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation sowohl mittels Brüderlichkeit als auch

23 Esposito merkt an, dass die Kategorie der Brüderlichkeit von der Politikwissenschaft kaum thematisiert worden sei, obwohl diese eine grundlegende Rolle in der Entstehung der modernen Demokratie und vor allem in der französischen Revolution gespielt habe. Diese Lücke hängt für ihn weniger davon ab, dass diese Kategorie als ein grundlegendes, universales Merkmal der Demokratie konzipiert worden sei und deshalb eine angemessenere Konzeptualisierung nicht nötig sei. Die weitgehende Nichtbeschäftigung mit der Brüderlichkeit in der klassischen Politikwissenschaft liege vielmehr daran, dass sie keine politische, sondern eine biopolitische Kategorie darstelle (vgl. ebd., 189).

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durch Natalität immer negativ definiert werde. Mit anderen Worten: Ein Subjekt kann als Bruder in dem Maße anerkannt werden, in dem ein anderer als NichtBruder – man kann auch Auß-länder sagen – betrachtet wird. Im Zentrum des Begriffs der Brüderlichkeit steht für Esposito somit eine Logik der Ausschließung (ebd., 190). Um dieses Dispositiv zu neutralisieren, ist ihm zufolge eine Idee der Geburt – d.h. des Ursprungs – zu entwickeln, der nicht die Angehörigkeit, sondern der Unterschied zugrunde liege. Um dies zu verdeutlichen, bezieht sich Esposito auf Der Mann Moses und die monotheistische Religion von Sigmund Freud. Zentral darin ist die Annahme, dass Moses – der größte Prophet des jüdischen Volks – nicht Jude, sondern Ägypter gewesen sei (vgl. Freud 1979). Für Esposito zielt die theoretische Operation von Freud darauf ab, den »Selbstidentitätsmechanismus« in Frage zu stellen, nach dem die nationale Identität von einem gemeinsamen Ursprung abhänge (Esposito 2004a, 191f.). Die Gründung eines neuen Volks sei für Moses möglich – so die Argumentation Freuds, die von Esposito übernommen wird –, weil er nicht Teil desselben und sogar ein Ägypter und d.h. ein Feind und Ausländer, sei. Somit beruhe der Prozess der Gründung eines Volks nicht auf einem realen Verhältnis von Vätern und Kindern (zwischen ihnen stehen die Brüder). 24 Vielmehr zeigen Freud und Esposito durch diese Interpretation der Geschichte Moses, dass der Ursprung durch einen Kontaminationsprozess zwischen verschiedenen Typen von Menschen statt einer Selbsterhaltung der Reinheit der Rasse charakterisiert sei (ebd., 193 und Freud 1979, insbesondere 64f.). Um diesen Prozess des »kontaminierten« Ursprungs zu erklären, setzt Esposito eine Analogie zwischen der Geburt eines Volks und der eines Kindes. So wie sich der Körper der Mutter in zwei ähnliche, aber dennoch unterschiedliche Lebewesen verdopple, werde auch das Volk von seinem Ursprung ausdifferenziert (Esposito 2004a, 193). Für Esposito ist die Natalität somit immer ein Prozess von Differenzierung und Kontamination. Ihm zufolge wirft diese Interpretation auch ein weiteres Licht auf das Interesse des Nationalismus an der Geburt. Da sich der Nationalsozialismus laut Esposito der Tendenz der Geburt zur Kontamination bewusst war, stabilisierte dieser die Kontrolle über die Geburt, um die »natürlichen« kontaminie-

24 Hier wird der Begriff »Brüder« im Sinn von Geschwister benutzt. Der Gebrauch des Maskulinums hängt in diesem Fall von der Notwendigkeit ab, die Brüderlichkeit als biopolitischen Begriff zu kritisieren. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass in der romanischen Sprache keine »neutrale« Form existiert. So wird das Maskulinum benutzt, um den Begriff »Geschwister« auszudrücken. Es wäre deshalb interessant zu untersuchen, ob der Begriff der Brüderlichkeit auch durch eine Art Phallozentrismus charakterisiert ist.

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renden Tendenzen zu blockieren und stattdessen die »künstliche«, aber reine Produktion der deutschen Rasse zu entwickeln (ebd., 193f.). In dieser Argumentation Espositos wird weiterhin deutlich, dass er die Idee der Kontamination als positiv und emanzipativ konzipiert. Während die immunitäre, negative Biopolitik einige Aspekte des bíos zu negieren versuche, weil diese als zerstörende interpretiert würden, unterstütze im Gegensatz dazu die affirmative Version der Biopolitik die Tendenzen des bíos, da diese zur Geburt neuer Lebensformen führten. Während Freuds Lesart von Mosesʼ Geschichte ein grundlegendes Instrument für die Dekonstruktion der Idee der Reinheit des Ursprungs ist, findet Esposito die Grundrisse für eine affirmative Politik der Geburt in dem Werk von Hannah Arendt. Ihre Theoretisierung des Verhältnisses von Natalität und politischem Handeln hat Esposito zufolge zwei polemische Ziele. Erstens setze sich Arendt kritisch mit der Hobbes’schen Vorstellung auseinander, nach der das Politische seinen Ursprung in der Angst vor dem Tod habe. Zweitens lehne sie Heideggers Definition des Daseins als Sein zum Tode ab (Esposito 2004a, 194). 25 Gegen diese Ontologie des Todes setzt Arendt die Natalität als grundlegenden Prozess des politischen Handelns (Arendt 1960, 15f.). Unter diesem Begriff versteht sie weniger ein biologisches Ereignis als die Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen. Deshalb ist für sie die Natalität nicht ein einmaliges Vorkommnis, sondern ein fortdauernder Schaffungsprozess, der das politische Handeln des Menschen charakterisiere (ebd.). Außerdem postuliert Arendt dadurch die Singularität jedes menschlichen Lebens und stellt dieser die Möglichkeit der Reduzierung einer Lebensform auf seine Zugehörigkeit zu einer Rasse kritisch gegenüber (vgl. Lütkehaus 2006, 38). In dieser Darstellung bemerkt Esposito eine kontrastive Symmetrie mit der nationalsozialistischen Biopolitik. Beide Perspektiven nehmen ihm zufolge die Geburt als das grundlegende Ereignis für die Definition des Verhältnisses von Leben und Politik an. Während allerdings für den Nationalsozialismus das qualifizierte politische Leben – der bíos – durch die Geburt auf seine biologische Struktur – zoé – fixiert sei, stelle für Arendt die Natalität – oder besser gesagt: die Natalitäten – das Moment dar, in dem sich der bíos von seiner zoé emanzipiere (Esposito 2004a, 196). Um diese These Arendts besser zu verstehen, ist zu berücksichtigen, dass sie im Anschluss an die Weltanschauung des antiken Griechenlands das politische Leben im Gegensatz zum natürlichen Leben konzipiert. Ersteres sei durch die Freiheit ausgezeichnet, während letzteres von Bedürfnissen geprägt sei (Arendt 1960, 32). Insofern soll sich ihr zufolge das Politische auf die Ebene der zwischenmenschlichen Interaktion statt auf die Bedürfnisse des biologischen Lebens fokussieren. Im

25 Dass Arendt den Begriff der Natalität in Gegensatz zu Heideggers »Sein zum Tode« setzt, wird auch von Ludger Lütkehaus gesehen (vgl. Lütkehaus 2006, 27).

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Anschluss an Arendts Perspektive kann außerdem behauptet werden, dass eine Politik, der die Natur zugrunde liegt, keine echte Politik ist. Aus dieser Perspektive kann ihre politische Philosophie als Gegenteil der immunitären Biopolitik interpretiert werden. Letztere basiert auf den biologischen Bedürfnissen – mit anderen Worten auf der Dimension der zoé. Im Gegensatz dazu hält sie fest, dass ein Leben schon im Moment der Geburt eine Lebensform – d.h. ein bíos – sei. Insofern geht es um ein Leben, das nicht mehr von den biologischen Bedürfnissen, sondern von der Emanzipation von diesen charakterisiert ist. Diese Interpretation des Arendtʼschen Begriffs des Politischen stellt in der philosophischen Debatte um die Autorin, der wichtigsten Analytikerin des Totalitarismus, keine Neuheit dar. Allerdings sind zwei Aspekte von Espositos Lesart des Arendtʼschen Begriffs der Natalität sehr relevant. Erstens setzt er diesen Begriff nicht der nationalsozialistischen Perspektive als solcher, sondern bestimmten Praktiken entgegen, die unmittelbar auf das biologische Phänomen der Geburt ausgerichtet sind. Insofern zeigt er das kritische Potential dieses Begriffs nicht nur in Bezug auf die Dekonstruktion des Nationalsozialismus, sondern auch auf die gegenwärtigen Praktiken, die mit dem Ereignis der Geburt verbunden sind. Zweitens bezieht Esposito Arendts Begriff in einen neuen theoretischen Rahmen ein, in dem er als Basis für die Definition einer neuen Form politischen Handelns fungieren kann. In seiner Perspektive einer affirmativen Biopolitik ist ihr Begriff der Natalität insofern grundlegend, weil er anders als die Begriffe der immunitären modernen Tradition des politischen Diskurses nicht im Rahmen des Bedürfnisses zur Selbsterhaltung des Lebens formuliert wird. Vielmehr stellt Arendt die Frage, wie jenseits der zoé das politische Leben – das Leben mit anderen – praktiziert werden könne. Esposito entwickelt im Anschluss an ihren Begriff der Natalität dementsprechend eine Vorstellung des Politischen, das weniger von der immunitas als von der communitas geprägt ist. Obwohl Arendt eine Perspektive für die Möglichkeit eines affirmativen politischen Handelns eröffnet, betont Esposito, dass sie den bíos immer im Gegensatz zur zoé setze, sodass bei ihr das Verhältnis dieser Dimensionen und somit die Verbindung von Politischem und Biologischem unerwähnt bleibe. Mit anderen Worten: Für Esposito setzt Arendt eine absolute Zäsur von Leben (zoé) und Lebensform (bíos), sodass in ihrer Perspektive eine affirmative Verbindung dieser zwei Dimensionen unmöglich zu denken sei (Esposito 2004a, 196f.).26 Im Gegensatz zu ihr möchte Esposito keine Zäsur von Leben und Lebensform definieren. Vielmehr ver-

26 Zu Recht hat Laurent Dubreuil eine relevante Differenz von Esposito und Arendt in Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von zoé und bíos betont. Arendt – wie auch später Agamben – setze eine dichotomische Hierarchie von diesen zwei Dimensionen, während Esposito die zoé als eine Form des bíos interpretiere (Dubreuil 2006, 90).

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sucht er, eine emanzipative und interaktive Kontamination dieser zwei Dimensionen des Lebens zu denken. Dieses Problem bei Arendt ist ihm zufolge nichts anderes als eine Persistenz der Ontologie Heideggers in ihrer Philosophie (ebd.), der einen ontologischen Unterschied von zoé und bíos behaupte. In dieser anthropologischen Perspektive lasse sich die Politik der Geburt nicht im Rahmen einer affirmativen Biopolitik konzipieren, da die Natur gegenüber dem Politischen als absolut Anderes interpretiert werde. Um diese Problematik in puncto Politik der Geburt zu überwinden, bezieht sich Esposito auf die These des weniger bekannten Philosophen Gilbert Simondon. Dieser entwickele eine Konzeption des »ontogenetischen Prozesses«, die es erlaube, die Lücke zu schließen, die sich in Arendts Perspektive ergebe (ebd., 197). Laut Esposito gibt es in Simondons Theorie zwei Punkte, die für die Theoretisierung einer affirmativen Biopolitik von besonderem Interesse sind. Der erste bestehe in seiner dynamischen Konzeption des Seins, das von ihm mit dem Werden identifiziert werde. Für Esposito ist dabei die Vorstellung zentral, dass dieses Werden ein »Prozess von folgenden Individuationen in verschiedenen oder verketteten Bereichen oder Domänen« sei (ebd., 197, Übers. R. G.). Unter Individuation versteht Simondon einen Prozess, in dem ein Lebewesen seine Potenzialitäten verwirklicht. Es geht um einen Prozess, der verschiedene Ebenen – das Biologische, Psychologische, Soziale usw. – des Lebens betrifft. Das Relevante an dieser Theorie ist für Esposito die Logik der Individuation. Für Simondon gibt es keine definitive Individuation; vielmehr entspreche der Höhepunkt von jeder Individuation dem Übergang zu einer neuen. Somit stehe jede Individuation immer in Verbindung mit den vorherigen und den folgenden (vgl. Simondon 1995). Laut Esposito hat diese Perspektive den Vorteil, ein dynamisches Verhältnis von Biologischem und Politischem, zoé und bíos zu artikulieren. Anders als Arendts Vorstellung, nach der das qualifizierte Leben der Gegensatz des biologischen Lebens sei, stellt ihm zufolge das bíos für Simondon einen weiteren Grad oder ein weiteres Niveau des Individuationsprozesses des biologischen Lebens dar (Esposito 2004a, 198). Für Esposito ist Simondons Theorie noch entscheidender in Bezug auf die Konzipierung des Übergangs von einer Individuation in eine andere. Denn dieser definiere den Übergang – z.B. von der biologischen zur psychischen Individuation – als Geburt. Für ihn sei die Geburt weniger ein Ereignis des Lebens, sondern im Gegenteil: Das Leben sei ein Ereignis des permanenten Prozesses der Geburt (vgl. ebd.). Der Übergang vom Biologischen zum Psychischen sei nichts anderes als eine neue Geburt oder Individuation im Inneren des menschlichen Lebens. Der Begriff des Lebens als permanente Geburt verweise deshalb in Simondons Perspektive auf die Möglichkeit des Lebens, sich in neue Formen zu entwickeln.

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Laut Esposito widerspricht diese Annahme der immunitären und thanatologischen Konzeption der Biopolitik, die den Tod als grundlegendes Instrument des Politischen für die Selbsterhaltung des Lebens verwendet. Im Gegensatz zu dieser behauptet er im Anschluss an Simondon, dass das Leben weiter leben könne, indem es sich in einer neuen Form weiterentwickele. Die enge Verbindung von Leben und Geburt ist Esposito zufolge außerdem Beweis dafür, dass diese das »synchronische« bzw. »diachronische« Gegenteil des Todes bilde (ebd., 199). Zudem solle eine Politik des Lebens an die Idee und den Prozess der Geburt anknüpfen. Für ihn ist darüber hinaus Simondons Darstellung des Übergangs von der psychischen Individuation, die die letzte Phase der Vor-Individuation sei, zur Trans-Individuation, die die Ebene der sozialen Verhältnisse darstelle, bemerkenswert. Für Simondon gibt es eine ständige Interaktion von vorindividueller und transindividueller Ebene (vgl. Simondon 1995), sodass laut Esposito die transindividuelle als weitere Etappe des Individuationsprozesses zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Da sich das Leben nicht in einer weiteren singulären Individuation entwickeln kann, muss es sich in einer neuen, komplexeren, »kommunen« (sozialen) Lebensform individualisieren. Das bedeutet, dass sich das Individuum – oder besser: das durch die Individuation selbstproduzierte Subjekt – nicht außerhalb der politischen Beziehung mit denen definieren lässt, die mit ihm das Erlebnis des Lebens teilen; aber das Kollektiv ist auch nicht das Gegenteil oder die Neutralisierung der Individualität, sondern eine elaboriertere Form von Individuation. Nirgends verflechten sich Pluralität und Singularität so wie in diesem Fall in einem biopolitischen Knoten, der das Leben und die Politik verbindet: Wenn das Subjekt immer im Inneren der Form des bíos gedacht wird, ist dieses immer im Horizont des cum eingebettet, das das Sein des Menschen prägt. (Esposito 2004a, 199, Herv. i. O., Übers. R. G.)

In dieser Passage versteht Esposito unter cum die Ebene der Sozialität, d.h. der communitas, die das Sein in der Welt des Menschen charakterisiert. Durch Simondons Theorie des Individuationsprozesses kann Esposito die Idee einer affirmativen Biopolitik weiterentwickeln. Zunächst argumentiert er im Gegensatz zur modernen immunitären Tradition des politischen Diskurses, dass das Individuum nicht vor anderen geschützt werden müsse, um seine Potenzialitäten zu verwirklichen. Vielmehr müsse der einzelne mit anderen interagieren, um seine Lebensmöglichkeiten qualitativ und quantitativ zu verbessern. Außerdem erlaube die Vorstellung des Lebens als permanente Geburt eine andere Konzeption des Verhältnisses von zoé und bíos. Der theoretische Vorzug von Espositos affirmativer Konzeptualisierung liegt darin, dass er den bíos weder als bloße politische Darstellung der zoé noch als getrennte Dimension unabhängig von der zoé thematisiert. Vielmehr sind diese zwei

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Dimensionen in einer permanenten und affirmativen Interaktion verbunden, in dem jede Entwicklung des bíos eine neue Geburt oder Individuation der zoé ist. Diese Vorstellung des Verhältnisses von bíos und zoé, die Esposito im Anschluss an Simondon entwickelt, stellt einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Biopolitik dar, da zunächst – anders als bei Agamben und Arendt – der Bezug der Politik auf die zoé nicht als negativ interpretiert wird. Außerdem eröffnet sie insofern eine Diskussion über Biopolitik als sie sich auf das Wie einer affirmativen Verknüpfung von Biologischem und Politischem fokussiert. Schließlich erlaubt diese Konzeption des Verhältnisses von Leben und Lebensform auch, eine alternative Politik des Lebens zu denken, der nicht der Gedanke des Schutzes, sondern der Kontamination zugrunde liegt. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass Esposito nicht die Lebenswissenschaften als solche als Bezugspunkt für das Politische ablehnt, sondern nur den Gebrauch dieser Wissenschaften für die Vernichtung der differenten Lebensformen. Auf diese Weise kommt ein anderes Merkmal von Espositos Theorie zum Vorschein: ihre Interdisziplinarität. Für ihn kann die Biopolitik dadurch affirmativ sein, dass sie sich stets von neuen und heterogenen Lexika kontaminieren lässt. An der Wichtigkeit der Interdisziplinarität für die Entfaltung politischer Kategorien hält er im Übrigen explizit auch in seiner Arbeit Pensiero vivente fest. Dort argumentiert er, dass ein Stillstand in der politischen Theorie nur durch die Kontamination mit anderen Lexika, Paradigmen oder Begriffen überwunden werden könne (vgl. Esposito 2010a, 13, 252). Der dritte Bestandteil der affirmativen Biopolitik wird von Esposito durch eine neue Definition des Verhältnisses von Norm und Leben entwickelt. Auch in diesem Fall geht er von einer Dekonstruktion der nationalsozialistischen Konzeption der Norm aus, um eine neue Theorie der biopolitischen Norm zu formulieren. Die absolute Normierung des Lebens ist für ihn das Dispositiv, durch das der Nationalsozialismus seine Thanatopolitik entfaltet. Grundlegend dabei sei, dass im Nationalsozialismus sowohl das Leben vollkommen normiert, als auch die Norm biologisiert worden sei. Esposito zufolge sind beide Prozesse gegenseitig, aber komplementär und deshalb grundlegend für die Entwicklung des von ihm definierten »nazistischen Biorechts« (Esposito 2004a, 202). Auf der einen Seite würden die biologischen Charakteristika als bestimmendes Kriterium für die Definition der Rechte eines Menschen gelten. Aber auf der anderen Seite sei diese Biologisierung des Rechts – so die Argumentation Espositos – nur in dem Rahmen einer Juridisierung des Lebens möglich, die die Werte und Unwerte eines Lebens stabilisieren könne (ebd., 201). Somit ist für ihn »das nationalsozialistische Biorecht« als eine »explosive Mischung« sowohl von einer radikalen Form von Normativismus als auch von einer perversen, aber radikalen Vorstellung des Naturrechts zu interpretieren (ebd., 201f.).

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Diese enge, tödliche Verbindung von Norm und Leben, legt die Frage nach ihrem genauen Verhältnis nahe, die laut Esposito unbedingt berücksichtigt werden muss. Das Ziel dieser Analytik der Verbindung von Leben und Norm solle allerdings nicht auf die bloße Analyse reduziert werden; denn für ihn muss die Philosophie die Aufgabe erfüllen, eine affirmative Vorstellung des Verhältnisses von Leben und Norm zu entfalten (ebd., 203). Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Dispositiv der absoluten Normierung des Lebens sei deshalb die Idee zu entfalten, »die Norm zu vitalisieren« (ebd.). Darüber hinaus lehnt Esposito den Begriff der »Lebensnorm« nicht ab. Für ihn liegt das Problem nicht in der Verbindung von Norm und Leben, sondern wie diese verbunden sind. Um dieses Verhältnis als affirmatives zu artikulieren, sind Esposito zufolge die Rechtsphilosophien nutzlos, die den Vorrang der Norm bzw. des Naturrechts wie auch der Entscheidung behaupten.27 Vielmehr seien in der Philosophie Spinozas die Grundrisse für eine affirmative Konzeption der Lebensnorm zu suchen (ebd.).28 Der Vorteil dieser Perspektive liegt für Esposito darin, dass diese das Verhältnis von Leben und Norm auf eine Logik der »reziproken Immanenz« statt der »Präsupposition« gründe (ebd.). Die Logik der Präsupposition wird ihm zufolge in den rechtsphilosophischen Perspektiven benutzt, die einen Vorrang der Norm gegenüber dem Leben oder vice versa einräumen. Im Unterschied dazu entwickele Spinoza eine Konzeption des Rechts, in der Leben und Norm auf einer Ebene reziproker Immanenz miteinander verbunden seien (ebd.). Spinoza hält fest, dass der Mensch von der Natur – als Teil der Natur selbst – das Recht zu leben und zu handeln bekomme (Spinoza 1989, 221). Wie Wolfgang Röd ausgezeichnet darlegt, kann bei Spinoza Naturrecht weder als Recht auf alles – wie bei Hobbes – noch als

27 Für die Perspektive einer affirmativen Biopolitik sind Esposito zufolge juridischer Positivismus und Naturrecht, Normativismus und Dezisionismus nutzlos. Deshalb werden von ihm nicht nur die Rechtsphilosophien von Kelsen und Schmitt, sondern auch diejenigen von Hobbes und Kant abgelehnt. Der Grund für diese Ablehnung liegt darin, dass Esposito in diesen Philosophien keine Elemente für eine affirmative Definition des Begriffs der Lebensnorm findet. Denn einige (Kant und Kelsen) hätten die Verbindung von Norm und Leben nicht thematisiert, während andere (Hobbes und Schmitt) nur eine negative Form dieses Verhältnisses konzeptualisiert hätten (vgl. Esposito 2004a, 203). 28 Die These, dass Spinozas Philosophie Elemente für eine neue Definition des Politischen in der gegenwärtigen Gesellschaft biete, teilt Esposito mit anderen poststrukturalistischen Philosophen wie Negri und Virno in Italien und Deleuze und Balibar in Frankreich (vgl. Virno 2005, Mastropierro 2012). In Deutschland wird eine Aktualisierung der spinozistischen Kategorien insbesondere von Manfred Walther und Martin Saar durchgeführt (vgl. Senn und Walther 2001 und Saar 2013).

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eine normative Form von Reglementierung, die in der Natur gründet, verstanden werden (vgl. Röd 2001, 178f.). Vielmehr verweise Spinoza auf eine Logik der »Folgenbeziehungen« (ebd. 179), nach der ein Lebewesen als Modus der Substanz29 immanent das Recht und die Macht (Potentia) der Substanz ausüben könne. Hierbei ist wichtig festzuhalten, dass Macht bei Spinoza – wie übrigens in der italienischen Philosophie insgesamt – nicht als Gewalt, sondern als Potentia zu interpretieren ist. So folgt aus der Existenz einer Lebensform, dass diese das Recht zu leben hat und infolgedessen das Recht zu handeln, um sein Leben zu erhalten. Aus dieser Perspektive kann daher das Recht als Instrument interpretiert werden, das Menschen benutzen können, um ihr Leben zu bewahren. Allerdings ist dabei noch wichtiger, dass das Recht als Attribut der Substanz, das der Mensch als Modus der Substanz erbt, zur Veränderung tendiert, so wie sich die Substanz immer in neuen Formen verwirklicht. Somit sind bei Spinoza das Recht und die Normen weniger als eine statische Form von Reglementierung, als ein dynamischer Prozess zu verstehen, der die Erfüllung der Notwendigkeiten und Wünsche der Menschen erlaubt (vgl. Spinoza 1984 und 1989). Spinoza verbindet Esposito zufolge Leben und Norm »in einer neuen Bewegung«, in der das Leben immer normiert und die Norm in ihrem Inneren vom Leben inspiriert ist (Esposito 2004a, 204). Dadurch unterscheidet Esposito Spinozas Konzeption der Norm von den anderen modernen Formulierungen. Diese [die Norm] ist nicht mehr – wie in dem modernen Transzendentalismus –, was dem Subjekt von außen seine Rechte und Pflichten zuteilt, indem sie [die transzendentale Macht] fixiert, was erlaubt ist, und was verboten ist. Vielmehr ist sie [die Norm] die innere Modalität, die das Leben übernimmt, als Zeichen seiner unbändigen Potentia zu existieren. (Ebd., Übers. R. G.)

Potentia muss hier als Fähigkeit »anders zu werden«, interpretiert werden. Die Wurzeln dieser spinozistischen Konzeption der Norm sind Esposito zufolge in dessen Ablehnung der Idee der Souveränität zu suchen (ebd., 204). Zwar strebt auch bei Spinoza wie bei Hobbes der Mensch nach der Selbsterhaltung des Lebens, jedoch ist für ihn die Verfolgung dieses Ziels nur durch und nicht gegen die anderen Menschen möglich. Für ihn führt die Vernunft dazu, mit anderen Menschen zu kol-

29 Bei Spinoza ist die Realität als solche als eine unendliche Substanz zu begreifen. Darunter versteht er, »was in sich ist, und durch sich begriffen wird, das heißt das, dessen Begriff, um gebildet werden zu können, den Begriff eines anderen Dinges nicht bedarf« (Spinoza 1989, 3). Die Attribute sind für ihn, was die Wesenheit der Substanz charakterisiert und die Modi sind die verschiedenen Arten, in denen sich die Substanz jeweils verwirklicht (ebd.).

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laborieren, da nur auf diese Weise die individuellen Ziele erreicht werden können (Spinoza, 1989, insbesondere IV. Teil, 216). Wie Daniela Remus hervorhebt, gibt es bei Spinoza eine permanente Spannung zwischen Individualität und Intersubjektivität (Remus 1994). Spinoza setzt keine souveräne und transzendentale Instanz, die diese Spannung auflösen könnte, da sie ihm zufolge für eine Entwicklung der Demokratie – als Leben mit anderen – und des demokratischen Handelns grundlegend ist. Auf diese Weise wird die strategische Funktion von Spinozas Konzeption des Rechts und der Normen in Espositos Formulierung einer affirmativen Biopolitik deutlich. Im Gegensatz zu anderen Traditionen des Rechts, die für Esposito mehr oder weniger von der Immunität geprägt sind, biete Spinozas Ablehnung der Souveränität und seine Vorstellung des Rechts die Möglichkeit, eine communitäre Orientierung für das Politische zu entwerfen (Esposito 2004a, 203). Allerdings erläutert Esposito diese Perspektive kaum. Vielmehr beschränkt er sich darauf, Spinozas Fremdheit in Bezug auf das Paradigma der Immunisierung hervorzuheben. Zwar definiert er die Rechtsordnung bei ihm als »metastabiles System von gegenseitigen Kontaminationen« (ebd., 206) zwischen dem Rechtlichen und dem Biologischen, die dazu führten, dass die Rechtsordnung das Werden der Natur reflektiere (ebd.). Jedoch wird nicht artikuliert, wie diese Vorstellung der Rechtsordnung verwirklicht werden könnte. Für Esposito ist entscheidender, Spinozas Theorie von dem Nationalsozialismus zu unterscheiden, da beide etwas Ähnliches wie eine Lebensnorm konzipierten. Während der Begriff im Nationalsozialismus darauf hinweise, dass das Leben als solches ohne mögliche Veränderungen vornormiert sei, impliziere im Gegensatz dazu das immanente Verhältnis von Leben und Norm bei Spinoza, dass jede Form des Lebens in seinem Werden seine Normen immanent entwickele (ebd., 205). Von Spinozas Perspektive übernimmt Esposito eine Vorstellung der Lebensnorm, die keine »biopolitische Zäsur« produziere, wer leben und wer sterben müsse. Im Anschluss an Spinoza kann er die Idee einer Norm entwickeln, die sich »weder auf das Leben noch ausgehend von dem Leben, sondern im Inneren des Lebens« (ebd.) definieren lasse. Mit »im Inneren des Lebens« bezieht er sich auf die Möglichkeit, Normen zu formulieren, die die Unterschiede und Kontaminationstendenzen jedes Lebendigen fördern, statt sie zu normalisieren. In seiner Theorie der Lebensnorm beschäftigt sich Esposito auch mit der Frage, wie sich diese affirmative, lebendige Norm auch auf der Ebene der Kollektivität entwickeln könne. Grundlegend ist hierbei der Begriff des »Transindividuums«, der für ihn die Perspektiven von Spinoza und Simondon verbindet. Beide Autoren konzipieren ihm zufolge die Ebene der Sozialität als eine Weiterentwicklung der Indi-

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vidualität.30 Um diesen Übergang zu verdeutlichen, müsse die Sozialität als »die Ebene der Individualität zusammen mit anderen« verstanden werden. Für Esposito sind demnach die sozialen Normen das Ergebnis dieser Interaktion zwischen verschiedenen Individualitäten. Deswegen darf weder eine fundamentale Norm, von der die anderen als Folgen deduziert werden, noch ein normatives Kriterium, das als Basis für die Definition von Maßnahmen für die Ausschließung der Anormalen gelten kann, existieren. Der Normierungsprozess ist das nie für immer definierte Resultat des Vergleichs oder auch des Konflikts zwischen individuellen Normen, die sich mit ihren, sie am Leben haltenden, unterschiedlichen Potentiae messen, ohne dass die Vorstellung ihrer reziproken Beziehung verloren geht. (Ebd., 206, Übers. R. G.)

Aus diesem Zitat wird klarer, wie Esposito im Anschluss an Spinoza und Simondon die Verbindung von Norm und Leben bzw. die Idee einer vitalisierten Norm konzipiert. Zunächst müsse der transitorische Charakter der Norm betont werden. Da das Leben ein Prozess in einem dauerhaften Werden sei, müsse die Produktion von Normen auch diesen Verwandlungen folgen, um nicht zu Normalisierungsprozessen zu werden und stattdessen zur Förderung der differenten Lebensformen beizutragen. In der Perspektive einer affirmativen Biopolitik erfüllen die Normen nicht die Aufgabe, die Identität zu schützen. Vielmehr müssen sie Möglichkeiten für die Interaktion von verschiedenen Singularitäten schaffen. Wie schon in Bezug auf die Frage nach der Rechtsordnung erwähnt, fehlt auch in diesem Fall eine grundlegende Erklärung, wie dieser Normierungsprozess innerhalb der politischen Praxis entfaltet werden kann. Es handelt sich um ein strukturelles Problem, das die ganze Philosophie Espositos betrifft und mit seiner Konzeption der philosophischen Tätigkeit zusammenhängt. Wie er in einem neueren Aufsatz sagt, muss die Philosophie »angemessene Begriffe für die Ereignisse« formulieren (Esposito 2010b, 97). Allerdings beschränkt er auf diese Weise die Philosophie auch in ihrer affirmativen Wendung auf die bloße Analytik der Ereignisse und insofern bleibt ihre Bedeutung für eine politische Praxis unklar. Dieser Aspekt markiert einen grundlegenden Unterschied von Espositos Idee der affirmativen Biopolitik und Hardts und Negris Begriff der biopolitischen Produktion, obwohl beide Perspektiven Konfliktualität, Interaktion und Kontamination positiv bewerten. Während Hardt und Negri ihre Vorstellung ausgehend von den Produktionsverhältnissen und sozialen Antagonismen bilden, fokussiert sich Esposito vor allem auf die philoso-

30 Für eine Darstellung des Verhältnisses von Individualität und Intersubjektivität bei Spinoza vgl. Remus (1994).

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phische Bearbeitung der affirmativen Konzeption des Konflikts und auf die Theorie des Konflikts als Kraft eines emanzipativen Normierungsprozesses. Wichtig ist allerdings zu betonen, dass für Esposito die Konfliktualität ein positives Element darstellt. Wie er in anderen Werken deutlich macht (vgl. Esposito 2010a), geht es ihm dabei um eine Interpretation des Konflikts, die im Gegensatz zu der Hobbes’schen Konzeption steht. Während letztere zur Vernichtung des Konflikts und zur Gründung einer permanenten Ordnung tendiere, verweist Esposito darauf, dass die Konfliktualität zu der Entwicklung neuer Systeme führe, die der Evolution des bíos entsprächen. Für ihn ist diese Vorstellung des Konflikts grundlegend, um eine Perspektive zu entwerfen, in der die Normen keine permanente (normale) Ordnung gründen. Vielmehr müssten diese immer als Ergebnis der sozialen Konflikte angesehen werden. Insofern muss laut Esposito auch das Verhältnis von Norm und Normalität neu definiert werden. Die Philosophie der Biologie von Georges Canguilhem bietet für ihn die theoretischen Werkzeuge für eine dynamische Konzeption dieses Verhältnisses. Esposito zufolge lässt sich die gesamte Philosophie Canguilhems als Dekonstruktion der nationalsozialistischen Idee der Lebensnorm interpretieren. Canguilhem lehne dabei jede objektive Definition des Lebens ab und entfalte eine Perspektive, in der jedes Leben etwas Singuläres sei und Abweichungen kein Element für die Definition eines Wesens darstellten (ebd., 208). Das Interessante bei ihm sei seine Differenzierung der Anomalie von der Pathologie (vgl. Canguilhem 1974, 90). Die Ablehnung der Idee der Anomalie als Pathologie ermögliche eine Anerkennung der Anomalie als Status des Lebendigen und gleichzeitig eine Dekonstruktion jeder Hierarchisierung von Lebensformen. In diesem theoretischen Rahmen sei die Anomalie nichts anderes als eine weitere Entwicklung des Lebewesens. Noch wichtiger ist hierbei für Esposito, dass Canguilhem den Begriff der Norm benutzt, um das Pathologische und die Anomalie zu differenzieren (Esposito 2004a, 208). Es gibt kein Normales und Pathologisches an sich. Auch Anomalie und Mutation sind nicht per se pathologisch. Sie zeugen vielmehr von möglichen anderen Lebensnormen. Sind diese – gemessen an der Stabilität, Reproduktions- und Wandlungsfähigkeit des Lebens – minderwertiger als die früheren artspezifischen Normen, so gelten sie als pathologisch. Falls sie sich indessen unter gleichen Umweltbedingungen als gleichwertig bzw. unter anderen Bedingungen als höherwertig erweisen, werden sie als normal bezeichnet. Ihre Normalität rührt her von ihrer Normativität. Das Pathologische ist keineswegs das Fehlen jeglicher biologischen Norm, es ist vielmehr eine andere Norm, die gegenüber allen anderen vom Leben abgewehrt wird. (Canguilhem 1974, 96)

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Wie Esposito bemerkt, ist bei Canguilhem die Norm die Art und Weise, in der das Leben sich entwickelt, indem es sich in verschiedene Formen ausdifferenziert. Esposito argumentiert weiter, das die Lebensnorm so konzipiert nicht mehr der Begriff sei, der das Leben »in den Grenzen der Norm« verschließe. Vielmehr orientiere sich in Canguilhems Konzeption der Lebensnorm die Norm nach dem Werden des Lebens (vgl. Esposito 2004a, 209). Entscheidend für ihn ist, wie Canguilhem in seiner Perspektive das Verhältnis von Norm und Normalität wiederherstellt. Nach diesem sei eine Lebensform normal, wenn sie neue Normen instituieren könne. Diese Konzeption stellt Esposito zufolge gleichzeitig den Höhepunkt der Dekonstruktion des Paradigmas der Immunisierung und die Möglichkeit der Produktion eines »anderen biopolitischen Lexikons« dar (ebd., 210, Übers. R. G.). Wenn die Normalität in der Möglichkeit der Produktion von neuen Normen bestehe, werde die Idee bedeutungslos, dass die Erklärung der Normalität von der Abwesenheit von Abweichungen und Mutationen ausgehe. Somit werden für Esposito alle möglichen politischen Philosophien dekonstruiert, denen der Schutz und die Selbsterhaltung des Lebens zugrunde liegen. Gleichzeitig kann ihm zufolge die Idee des Verhältnisses von Norm und Normalität »auch in die juridische Norm eine semantische Potenz« einsetzen, die die Norm »über seine gewöhnliche Definition« hinausführen könne (ebd., 211, Übers. R. G.). Obwohl Esposito hier eine undeutliche Sprache verwendet, kann davon ausgegangen werden, dass er unter »semantische Potenz« die Möglichkeit eines neuen Lexikons versteht, das das immunitäre Lexikon ersetzt, das auf Worten wie Schutz, Verteidigung, Sicherheit, Reinheit, Ordnung, Tod, Grenzen etc. beruht. Auch in diesem Fall wird allerdings der Entwurf eines neuen Lexikons für das Recht nicht weiter ausgearbeitet. Obwohl Esposito eine Produktion von affirmativen Begriffen für eine Politik des Lebens anstrebt, ist seine Beschäftigung mit Canguilhems Begriffen der Norm und des Normalen von einer dekonstruktivistischen Tendenz gekennzeichnet. Während er einerseits zu Recht hervorhebt, wie Canguilhems Perspektive die Grundrisse des immunitären Modells in Frage stellt, bleibt andererseits dieses »neue Wörterbuch« leer. Vielmehr übernimmt Esposito von ihm die Kriterien oder, besser gesagt, »eine Logik des Lebendigen« (ebd., 211, Übers. R. G.), die die affirmative Konzeption der Lebensnorm orientieren soll. Allerdings beschäftigt er sich nicht weiter mit der Produktion des affirmativen Lexikons. Espositos Lesart der Konzeption der Norm bei Canguilhem ist eher fragwürdig und weicht deutlich von dessen Absichten ab. Er berücksichtigt beispielsweise nicht, dass dieser in seiner späteren Phase von einer Inkommensurabilität von sozialen und vitalen Normen redet (Muhle 2008, 226). Außerdem zeigt Maria Muhle, dass schon die Konzeption der Biopolitik bei Foucault von Canguilhems Begriff beeinflusst ist (ebd., 233f.). Allerdings seien bei ihm die biopolitischen Dispositive

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nach dem Modell der vitalen Norm – so wie von Canguilhem konzipiert – aufgebaut (ebd.). Deswegen ist Espositos These zweifelhaft, dass die Orientierung des Politischen durch die vitale Norm affirmativ sein könne. Espositos Gebrauch des Begriffs der Norm bei Canguilhem wird zudem von Ottavio Marzocca ausgehend davon scharf kritisiert, dass dieser weniger auf eine Prävention gegen eine exzessive Immunisierung des Politischen gerichtet sei. Laut Marzocca stellt Canguilhems Konzeption der Norm vielmehr ein Werkzeug gegen die Risiken einer neuen Eugenik dar, die den individuellen wie auch den sozialen Körper nicht immunisieren, sondern modellieren könnte (Marzocca 2007, 78-79). Entscheidender an Espositos Begegnung mit Canguilhem ist allerdings, dass er im Anschluss daran eine Logik des Lebendigen formuliert. Darunter muss eine Logik verstanden werden, nach der das Lebendige sein Leben nicht durch den Schutz seiner Form entwickelt. Vielmehr tendiert das Lebendige dazu, abzuweichen, um seine Form erst zu entfalten. Dadurch wird das Lebendige das Modell für eine affirmative und dynamische Konzeption des Politischen. So wie die Lebendigen ihre Formen in einem lebendigen Prozess verändern, muss für Esposito das Politische seine Formen weiterentwickeln oder immanent neu definieren. Unter Formen des Politischen sind hier das Recht, die Institutionen, die Wissenschaft usw. zu verstehen. Außerdem ist wichtig hervorzuheben, dass Espositos Gebrauch des Begriffs »Lebendige« statt Menschen, Individuen oder Subjekte, als Versuch zu interpretieren ist, den Humanismus als politische Philosophie zu überwinden. Es geht dabei um ein Thema, das er von Heideggers Brief über den Humanismus übernimmt (vgl. Esposito 2009). Mit diesem teilt er die Idee, dass nicht die Abwesenheit, sondern die Anwesenheit des Humanismus – oder einer anthropologischen Sichtweise – die Barbarei des Zweiten Weltkriegs nicht verhindert haben könne. Im Unterschied zu Heidegger sucht Esposito allerdings die Emanzipation vom Humanismus nicht in einer neuen Definition des Verhältnisses von Sein und Dasein, sondern entwickelt eine Perspektive, in der die Logik des Lebendigen zur einer permanenten, immanenten und nicht-hierarchischen Interaktion von Biologischem und Politischem führt. Celikates kritisiert hierbei Espositos Konzeption des Lebens als Subjekt einer affirmativen Biopolitik (Celikates 2008, 61). Allerdings basiert seine Kritik auf einem Missverständnis des Begriffs des Lebens bei Esposito, der nicht essentialistisch zu interpretieren ist. Leben bei ihm ist weniger Substanz als Modus oder, wie schon gesagt, eine Logik des Lebendigen. Dieser Unterschied wird in dem folgenden Paragraphen eingehender erläutert, in dem Espositos Perspektive zunächst vom Humanismus und dann vom Naturalismus und Vitalismus abgegrenzt wird.

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4.5.3 Logik des Lebendigen und Posthumanismus Um die Potenzialität der affirmativen Biopolitik zu verstehen, muss Espositos Vorstellung der Logik des Lebendigen in den Kontext der Diskussion über den Posthumanismus gestellt werden. Dass Esposito durch den Begriff der affirmativen Biopolitik den Angelpunkt für eine post-anthropologische Perspektive sucht, taucht fragmentarisch und implizit in Bíos auf, wird aber in anderen Texten deutlicher formuliert. In diesem Zusammenhang ist ein kleiner Text mit dem Titel »Politica e natura umana« – Politik und menschliche Natur – von besonderem Interesse (Esposito 2008, 159-169). Der Ausgangspunkt dieser Schrift bildet Heideggers Kritik an der Tradition des Humanismus, die er insbesondere in seinem Brief über den Humanismus formuliert (Heidegger 2000). Zwar setzt sich Esposito mit diesem Text und mit Heideggers Ontologie auch in Bíos auseinander (Esposito 2004a), doch verfolgt er dort vor allem das Ziel, seine Ontologie vom Nationalsozialismus abzugrenzen. Hierbei benutzt Esposito zwei Argumente. Erstens gebe es einen großen Unterschied zwischen Heidegger und dem Nationalsozialismus in Bezug auf die Definition des menschlichen Lebens. Während für Heidegger das biologische Leben keine Bedeutung für die ontologische Entfaltung des Daseins darstelle, sei für den Nationalsozialismus das Biologische der entscheidende Faktor für die Klassifizierung des menschlichen Lebens (ebd., 168). Zweitens sei Heideggers Ontologie wegen dieser Fremdheit gegenüber dem Nationalismus für die »Penetration« und »Überwindung« der nationalsozialistischen Biopolitik nutzlos (ebd., 171). Im Unterschied dazu beschäftigt sich Esposito in Politica e Natura umana unmittelbar mit der Frage der Bedeutung des Humanismus, die Heidegger in seinem Brief stellt (Heidegger 2000). Diese Auseinandersetzung ist grundlegend für das Verständnis der Perspektive der affirmativen Biopolitik. Die Argumentation Heideggers ist bekannt. Zunächst hebt er durch eine Genealogie, die ihren Ausgangspunkt in der römischen Formulierung der humanitas als civitas hat, hervor, dass die Definition der humanitas immer durch die Opposition eines Teils der Menschheit gegenüber einem anderen formuliert worden sei. Insofern sei die humanitas des civis (römischer Bürger) im Gegensatz zur Barbarei anderer Völker definiert worden (Heidegger 2000, 12). Für Heidegger prägt dieses Schema jeden Humanismus und deshalb auch die moderne Form des Humanismus (ebd., 12f.). Die Schuld des Humanismus bestehe allerdings darin, dass diese Tradition den Menschen als »animal rationale« – als vernünftiges Tier – verstehe (ebd., 14). Insofern werde der Mensch ausgehend von seiner Animalität und Operativität definiert. Auf diese Weise wird für Heidegger die ontologische Differenz von Menschen und anderen Lebewesen

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ausgeblendet. Dieser ontologische Unterschied31 liege in dem menschlichen Gebrauch der Sprache, der die Menschen von anderen Lebewesen unterscheide und die Menschen in ein spezielles Verhältnis zum Sein setze (vgl. Heidegger 2010). Esposito teilt einerseits Heideggers Lesart des Humanismus, vor allem wenn dieser die humanitas als Dispositiv bestimmt, das im Inneren der Menschheit definiere, was menschlich und was unmenschlich sei und daher was würdig oder unwürdig zu leben sei (vgl. auch Esposito 2007, 71; Esposito 2004a, 138 und 169). Insofern ist für Heidegger und auch für Esposito nicht die Abwesenheit des Humanismus die Ursache der Barbarei, sondern seine permanente Anwesenheit. Anderseits kann Esposito zufolge Heideggers Philosophie keine post-humanistische Perspektive eröffnen, da sie zwar die Grundrisse des Humanismus in Frage stelle, aber diesen nicht überwinde. Denn laut Esposito ist auch seine Ontologie wie jede anthropologische Perspektive von der Ablehnung der biologischen Konzeption der menschlichen Natur, des Vorrangs des Menschen gegenüber anderen Lebewesen und der Unterschätzung der Dimension des Körpers gekennzeichnet (vgl. Esposito 2008, 163). Diese Voraussetzungen fänden sich sowohl bei den Gründern des Humanismus wie Pico della Mirandola, als auch bei späteren Humanisten wie Sartre. Zwar kritisiere Heidegger diese Positionen und unterscheide seine Perspektive von diesen, jedoch entwickelte er keine Sprache jenseits des Humanismus (ebd.). Die Sprache und die Begriffe für eine post-humanistische Ontologie sind für Esposito vor allem bei Autoren wie Darwin und Nietzsche zu suchen, die die Menschheit nicht jenseits, sondern innerhalb der Natur gedacht hätten.32 Insbesondere hätte Darwins Theorie der Evolution zwei Elemente eingeführt, die mit der Tradition des Humanismus brächen. Das erste sei die Einführung einer Art der Forschung, die nicht auf die Definition des Wesens des Menschen, sondern auf die Analyse der menschlichen Natur fokussiere. Diese Verschiebung impliziert das zweite anti-humanistische Elemente von Darwins Biologie: die Verortung des Menschen in der Natur zwischen den anderen Lebewesen (ebd., 164). Insofern lässt sich die Theorie Darwins für Esposito auch als Dekonstruktion des teleologischen und essentialistischen Dispositivs interpretieren, das die gesamte Tradition des Humanismus charakterisiere (ebd.). Wie Esposito zu Recht argumentiert, impliziert diese Perspektive bei ihm keine absolute Naturalisierung des Menschen. Vielmehr

31 Heidegger macht deutlich, dass die Definition des Menschen als »weltbildend« und des Tiers als »weltarm« nicht in Form einer ontologischen Hierarchie zu interpretieren sei. Vielmehr gehe es darum, das Wesen von beiden zu definieren (vgl. Heidegger 2010, 287). Die Definition einer ontologischen Hierarchie wird von ihm mit der Tradition der Metaphysik verbunden, die er zu überwinden versucht. 32 Die These von einer Nähe zwischen Darwin und Nietzsche in der Konzeption des Lebens wird auch von Vanessa Lemm formuliert (vgl. Lemm 2009, 3).

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verweise er darauf, dass sich die Natur und die Arten durch spontane und zufällige Variationen entwickeln. Insofern existiere keine statische Natur, die die Grundlage für die Definition des menschlichen Handelns bilden könne (ebd.). Es geht dabei um eine Lektüre des Darwinismus, die von Canguilhems Philosophie der Biologie beeinflusst ist, wie der Gebrauch des Ausdrucks »scarti di norma« (Verschiebungen der Norm) (ebd.) für die Definition der biologischen Variationen zeigt. Wenn der Darwinismus implizit mit dem Humanismus bricht, ist Nietzsche für Esposito der erste, der diese Tradition radikal und unmittelbar in Frage stellt. Schon in Bíos interpretiert Esposito dessen Philosophie als Verständnis des Übergangs von einer vermittelten zu einer unmittelbaren Immunisierung des Politischen (Esposito 2004a, 77). Dort wird Nietzsche zudem als der Philosoph beschrieben, der die Möglichkeit einer biopolitischen Perspektive eröffne, da er als erster die Werte der Menschheit nicht als Ergebnis der menschlichen Rationalität, sondern als Ergebnis eines Kriegs zwischen feindlichen lebendigen Mächten definiere. Laut Esposito können in Nietzsches Perspektive zwei gegenseitige Lesarten des Auftauchens des Biopolitischen gefunden werden. In einigen Passagen formuliere er die These, dass die moderne Politik der Gleichheit, die den Untergang der modernen Institutionen verursacht habe, von einer Politik zu ersetzen sei, die eine bessere Produktion der Menschheit fördere und gleichzeitig die »missratenen Produkte« vernichte (ebd., 103f.). Im Gegensatz zu dieser spartanischen oder thanatopolitischen Vorstellung der Politik lassen sich Esposito zufolge in Nietzsches Schriften auch die Spuren einer affirmativen Konzeption des Bio-Politischen erkennen. Insbesondere er bezieht sich dabei auf die Passagen, in denen Nietzsche Aspekte wie Krankheit, Leiden und Degeneration als positive Kräfte interpretiert, die zu einer Verwandlung des Politischen führen könnten. Aus dieser Perspektive sei eine statische Konzeption der Werte und des Politischen problematisch und sogar gefährlich (ebd., 108f.). In diesem Punkt erfasst Esposito die größte Spannung zwischen Nietzsche und der Tradition des Humanismus. Letztere definiere humanitas als metaphysisches und statisches Wesen. Im Gegensatz dazu sei für Nietzsche humanitas das Ergebnis eines Kampfes und deswegen solle die Philosophie, oder besser gesagt, sollten die Menschen die Idee der humanitas selbst überwinden (Esposito 2008, 164). Aber was kommt nach der humanitas – und auch nach dem Menschen? Für Esposito ist Nietzsches Antwort auf diese Frage entscheidend, da er den Übermensch nicht im Gegensatz zu, sondern durch das Tier formuliere (vgl. Esposito 2004, 113-114). Diese unterschiedliche Konzeption des Tiers stellt für Esposito den größten Unterschied von Heidegger und Nietzsche in puncto Posthumanismus dar. Dieser Unterschied kann erfasst werden, wenn die Bíos-Kapitel über Nietzsche und der Essay Politica e natura umana zusammen analysiert werden. In Bíos wird dieser Unterschied nicht direkt erläutert, ist aber implizit Thema. Wenn Esposito behaup-

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tet, dass für Nietzsche das Tier nicht »der obskure Abgrund oder das Steingesicht« darstelle (Esposito 2004a, 113, Übers. R. G.), kritisiert er implizit Heideggers Konzeption des Wesens des Tiers. Anders als für Nietzsche teilen für Heidegger zwar Mensch und Tier die Welt; doch das Tier kann diese nur »arm« erfahren, d.h. in Form eines »Entbehrens« (Heidegger 2010, 287f.) Für ihn ist das Tier durch seine Umwelt begrenzt und im Unterschied zu dem Menschen kann es nichts jenseits dieser erleben. Außerdem könne das Tier nicht mit Menschen bzw. anderen Tieren kommunizieren oder auf diese Einfluss ausüben. Der Mensch bilde dagegen seine Umwelt – die deswegen nicht als Umwelt, sondern als Welt bezeichnet wird – und aus diesem Grund existiere ein radikaler, ontologischer Unterschied zwischen Mensch und Tier, der keine authentische Kommunikation erlaube. Somit könne das Wesen des Tieres nicht genau begriffen werden (ebd., 303). Insofern ist für Heidegger eine Versetzung »in das Tier« unmöglich (ebd., 295f.). Im Gegensatz dazu formuliert Nietzsche Esposito zufolge eine Perspektive, in der nicht nur die Animalität als Attribut des Daseins verstanden werden könne, sondern die auch die Möglichkeit zur Überwindung der Idee des Menschen darstelle (Esposito 2004, 113). Esposito bezieht sich dazu auf dessen Textpassagen, in denen der neue Mensch das Ergebnis der Begegnung des Weisen mit dem Tier sei.33 Doch können auch die tierischen Verwandlungen von Zarathustra zitiert werden, um diese Interpretation zu bestätigen (vgl. Nietzsche 2008). Diese Lesart von Nietzsches Philosophie findet sich auch bei Vanessa Lemm (vgl. Lemm 2009). Wie Esposito findet sie, dass erst in Nietzsches Philosophie die Konzeption des Tieres mit der Tradition der Metaphysik breche, der die Opposition und der ontologische Unterschied von Menschen und anderen Lebewesen zugrunde liege (ebd., 115). Darüber hinaus stellt für Lemm die tierische Dimension bei Nietzsche die Möglichkeit für eine Überwindung der humanistischen Zivilisation dar (ebd., 28). Esposito, wie auch Lemm,34 übernimmt von Nietzsche die These, nach der die Krise des Humanismus durch das »Tier-Werden« überwunden und ausgehend davon eine affirmative Biopolitik artikuliert werden könne. Er thematisiert diese These nicht nur in Bíos und Politica e Natura umana, sondern auch in Terza persona in einer kritischen Lektüre des Dispositivs der Person. Um eventuelle Missverständnisse zu vermeiden, ist es erforderlich, den Bezug auf die Animalität eindeutig darzulegen. Esposito versteht unter »Tier-Werden« weniger eine neue Art von Mensch. Vielmehr verweist er damit auf die Möglichkeit, dass die menschliche – oder besser gesagt: die postmenschliche – Lebensform nicht statisch, sondern dynamisch zu interpretie-

33 Insbesondere zitiert Esposito einige Textpassagen aus dem Handschriftlichen Nachlaß (Nietzsche 2011). 34 Lemm teilt mit Esposito die Idee einer biopolitischen Lektüre der Philosophie Nietzsches (Lemm 2009, 152).

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ren ist. Mit anderen Worten: Der Mensch soll sich nicht von anderen Lebensformen abgrenzen, sondern mit diesen interagieren und sich kontaminieren lassen. Wie Esposito am Ende des Essays Politica und natura umana betont: Die Diversität, die Alterität, die Hybridisierung sind nicht notwendigerweise eine Grenze und eine Gefahr, auf die im Namen der selbstzentrierten Reinheit des Individuums und der Rasse geachtet werden soll. […] Wenn diese von der blockierten und ausschließenden Logik der Immunitas zu der offenen und einschließenden Logik der Communitas zurückgeführt werden, sind sie auch ein Reichtum und eine Gelegenheit. (Esposito 2008, 169)

Zusammenfassend kann aus dieser Auseinandersetzung über eine postanthropozentrische Perspektive abgeleitet werden, dass für Esposito Heideggers Kritik am Humanismus den Ausgangspunkt seines Entwurfs einer affirmativen Biopolitik bildet. Allerdings stellt für ihn Heideggers Ontologie weniger einen Post-Humanismus als einen Hyper-Humanismus dar. Deswegen lassen sich ihm zufolge die Werkzeuge für eine posthumanistische Perspektive bei Autoren finden, die den Mensch nicht im Gegensatz zur Natur oder als Herren der Natur gedacht haben. Autoren wie Darwin, Nietzsche, Spinoza, Simondon, Merleau-Ponty usw. konzipierten den Mensch im Inneren der Natur und als Lebewesen in Interaktion mit anderen Lebewesen. Deswegen ist im Rahmen der affirmativen Biopolitik Espositos das Leben weniger als Wesen, sondern als Prozess zu interpretieren, der von Kontamination, Abweichung, Offenheit und Kommunikation charakterisiert ist. Dieser Aspekt macht deutlich, warum er in Bíos Heideggers Ontologie Merleau-Pontys Begriff des Fleischs gegenüberstellt. Für Heidegger erweist sich der Mensch nur gegenüber dem Sein offen. Im Anschluss an Esposito kann behauptet werden, dass bei Heidegger der Mensch paradoxerweise in seinem privilegierten Verhältnis (der Offenheit) gegenüber dem Sein verschlossen ist. Wie schon erwähnt, kann sich für ihn der Mensch nicht in ein Tier versetzen. Im Gegensatz dazu kann sich für MerleauPonty der Mensch als Fleisch der Welt in andere Wesen einfühlen. Diese Ebene der Interaktion ist für Esposito das grundlegende Element der affirmativen Biopolitik. Diese Interaktion müsse allerdings dynamisch und im Sinn der communitas interpretiert werden, damit die Biopolitik nicht eine bloße Zoopolitik und sogar die Perversion der Thanatopolitik werde. Deswegen knüpft Esposito an Canguilhems Philosophie der Biologie an, in der die Abweichungen und Verwandlungen der Lebewesen nicht als degenerativer Prozess, sondern als neue Entwicklung des Lebens selbst konzipiert werden. Das Projekt einer affirmativen Biopolitik als post-humanistische und nicht- anthropologische Perspektive ist allerdings nicht als Naturalismus zu interpretieren. Obwohl Esposito sie nicht ausreichend vom Naturalismus abgrenzt, finden sich in seinen Schriften mindestens zwei Elemente, die die affirmative Biopolitik vor die-

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sem Vorwurf schützen. Das erste betrifft die Konzeption der Technik. Anders als PhilosophInnen wie Heidegger oder Arendt dämonisiert Esposito nicht die Technik als solche. Im Unterschied zu diesen stellt für ihn die Technik ein wesentliches Attribut der menschlichen Natur dar. Er behauptet sogar, dass jede Form des Handelns eine Technik und deshalb jede Technik in Wirklichkeit eine Bio-Technologie sei (Esposito 2008, 169). Es handelt sich zweifellos um eine These, in der der Begriff der Technik pauschalisiert wird und deswegen nicht bedingungslos akzeptiert werden kann. Allerdings hat sie den Vorteil, dass die Technik und die Interventionen in die menschliche Natur nicht a priori abgelehnt werden. Esposito beschäftigt sich leider nicht weiter mit der Frage nach den Bedingungen dieser Interventionen und thematisiert deshalb auch nicht, ob sie eine effektive Möglichkeit für die Kontamination und die Interaktion von verschiedenen Lebewesen sein könnten oder ob diese Interventionen im Gegensatz dazu durch eine komplexere Form der Immunisierung geprägt sind. In dem Kontext der affirmativen Biopolitik ist allerdings wichtig hervorzuheben, dass Esposito die Möglichkeit einer künstlichen Intervention nicht nur akzeptiert, sondern sogar begrüßt. Auf diese Weise ist der Mensch aktiv und nicht passiv in dem Prozess der Interaktion und der Kontamination mit der Natur gedacht. Die Aktivität charakterisiert auch das zweite Element, das die Perspektive der affirmativen Biopolitik von dem Naturalismus abgrenzt: die Geschichte. Die Geschichte wird von Esposito nicht als bloße Verwirklichung der menschlichen Natur interpretiert. Allerdings ist sie für ihn auch keine Realität jenseits des Naturzustands. Vielmehr sind bei ihm Natur und Geschichte miteinander verflochten. Wie er in Politica e natura umana behauptet, sei die Geschichte »das freie und unendlich variable Ergebnis eines bio-natürlichen Bedürfnisses« (Esposito 2008, 167). Diese Definition der Geschichte kann besser verstanden werden, indem Espositos Schrift Pensiero vivente (Esposito 2010a) berücksichtigt wird. Wie schon im ersten Teil dieser Arbeit erwähnt, beschäftigt sich Esposito darin mit den Kategorien und Begriffen der philosophischen Produktion in Italien, an die er unmittelbar anknüpft. In der Konzeptualisierung der Idee der Geschichte in dieser Tradition spielen für ihn Machiavelli und Vico und insbesondere ihre Konzeption des Ursprungs eine sehr wichtige Rolle. Unter Ursprung ist hierbei der Moment zu verstehen, an dem sich der Mensch von seinen biologischen Bedürfnissen emanzipiert und auch ein historisches Dasein entwickelt. Esposito sieht in Machiavellis politischer Philosophie einen biopolitischen Grund, der in der permanenten Spannung zwischen Politik und Leben bestehe (ebd., 52f.). Wie bei Hobbes ist auch für Machiavelli der Naturzustand von Konfliktualität gekennzeichnet. Im Unterschied zu diesem entspricht bei ihm die politische Ordnung allerdings nicht der Überwindung des Konflikts. Vielmehr ist für ihn die politische Ordnung eine Entwicklung und Differenzierung des natürlichen Konflikts. Noch wichtiger ist dabei, dass diese Per-

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sistenz der Konfliktualität nicht als tragisches Schicksal der Menschheit oder als Negativität interpretiert wird. Die Konfliktualität ist für Machiavelli vielmehr die Potentia, die die Weiterentwicklung des Lebens und seiner politischen Formen erlaubt. Die Neutralisierung der Konfliktualität führe dagegen zur Degeneration des Politischen, da auf diese Weise die Möglichkeit einer neuen Definition der politischen Formen verhindert werde (vgl. Machiavelli 1973). Esposito übernimmt diese Perspektive, in der der Naturzustand und der politische Raum nicht getrennt, sondern in einem immanenten und konstitutiven Verhältnis zueinander stehen. Die Konfliktualität als Wesen des Lebens wie auch des Politischen – bzw. der zoé und des bíos – bedeutet für ihn im Anschluss an Machiavelli den ontologischen und politischen Vorrang der konstituierenden Potentia gegenüber der konstituierten Macht (Esposito 2010a, 55). Insofern ist Esposito zufolge das historische Dasein zwar eine Entwicklung des Biologischen, doch wird dieses Biologische von ihm nicht als mechanistische oder organizistische Wiederholung des Gleichen interpretiert. Vielmehr sei es das Wiederauftauchen der Verwandlungspotenz des Lebens. Dieser Aspekt wird noch deutlicher in seiner Interpretation von Vicos Philosophie. Die Seiten, die Esposito in Pensiero vivente dessen Philosophie widmet, werfen nicht nur auf seine Konzeption der Geschichte ein Licht, sondern erklären auch das Verhältnis von immunitas und communitas. Für Vico ist das Entstehen des Historischen durch den Übergang von der Zeit der Giganten zur der Zeit der Helden geprägt (vgl. Vico 1953). Die Giganten werden von ihm als Menschen beschrieben, die in den Urwäldern ein von körperlichen Instinkten dominiertes Leben führten. Für Esposito stellen Vicos Giganten eine Lebensform dar, die weder tierisch noch menschlich sei. Es handele sich dabei zudem um ein Leben cum-munes, da die Giganten gemeinsam in der »gran selva« (dem großen Urwald) (Vico 1953, 141) gelebt hätten und unfähig gewesen seien, sich von etwas abzugrenzen. Deswegen sei das Leben in dieser Situation immer von Gefahr geprägt. Das Entstehen der zivilen und religiösen Institutionen beendet bei Vico die Zeit der Giganten und bestimmt den Übergang zur Zeit der Geschichte. Esposito interpretiert das Ende der Zeit der Giganten als Entstehen der immunitären politischen Dispositive (zuerst die Religionen), die das Leben schützen. Die Zeit der Giganten bei Vico ist dem Hobbes’schen Naturzustand ähnlich. Allerdings argumentiert Esposito, dass Vicos Theorie des Ursprungs des Historischen mit Hobbesʼ Perspektive wie auch mit anderen Philosophien der Geschichte nicht verglichen werden könne. Während für diese der Übergang vom Naturzustand zum historischen Dasein in Form einer definitiven Zäsur konzipiert werde, spiele bei Vico der Ursprung – d.h. das Natürliche – eine permanente Rolle innerhalb des historischen Prozesses. Deshalb lehne er jede lineare Vorstellung der Geschichte wie auch die Idee eines unendlichen Fortschritts ab. Um dieses Wiederauftauchen des Nicht-Historischen in der Geschichte zu verdeutlichen, benutzt Vico den Begriff des »Ricorso« – Rekurs – (ebd., insbesondere

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das letzte Kapitel). Um diese These zu beweisen verwendet er das Beispiel der Zerstörung der römischen Bürgerschaft und die Wiederholung der barbarischen Macht. Für Esposito hat der Begriff Ricorso nicht nur eine analytische Funktion, sondern stellt auch den Ausgangspunkt einer zyklischen Darstellung der Geschichte dar (Esposito 2010a, 82f.). Bei Vico führt das Wiederauftauchen einer Situation wie z.B. die barbarische Macht jedoch nie zum selben historischen Resultat. Vielmehr würden sich dadurch neue Arten von zivilem Leben entwickeln. Deshalb ist für Esposito der Ricorso auch als eine Präventionsfunktion gegen die Exzesse der Immunisierung des politischen Raums zu interpretieren (ebd., 83). Mit anderen Worten: Zwar stellt für Esposito der Naturzustand des formlosen Lebens der Giganten bei Vico eine Gefahr dar, doch gleicherweise sei der Exzess der Kontrolle und die Vernichtung dieser lebendigen Potentia gefährlich, da dadurch wie in Machiavellis Perspektive die Verwandlungsmöglichkeit blockiert werde. In dieser Lesart von Vicos Philosophie taucht zudem eine Verschiebung in der Konzeption des Begriffs der communitas auf. Wenn die communitas die Form des Lebens der Giganten ist und die Giganten keine wirklichen Menschen sind – vielmehr sind sie ein Projekt oder spinozistisch gesagt: eine Potentia – markiert die communitas nicht das Menschliche sondern das Natürliche. Menschlich ist dagegen die immunitas. Tatsächlich ist die communitas weder menschlich noch natürlich. Denn die communitas ist für Esposito das, was vor der Menschheit – oder besser gesagt dem »Humanismus« – war und was nach dem Humanismus wieder kommen kann. Wenn die communitas ein Zustand der Potentia oder des Konflikts lebendiger Potentiae ist und die affirmative Biopolitik sich an der communitas zu orientieren hat, lässt sich folgern, dass die affirmative Biopolitik die Konfliktualität der Potentiae revitalisieren soll. Das impliziert einen Kampf gegen die immunisierenden Mächte, die diese Potentiae zu neutralisieren versuchen. Die Hypothese eines Kampfs von communitären und posthumanistischen Potentiae gegen die humanistischen und immunitären Mächte wird von Esposito allerdings nicht ausreichend thematisiert. In Bíos wird dieses Thema kaum erwähnt und er spricht lediglich von analytischen Schwierigkeiten in Bezug auf die Vorhersagbarkeit der Ergebnisse dieser Kämpfe (Esposito 2004a, 182). In einem anderen Text – Vom Unpolitischen zur Biopolitik – formuliert Esposito jedoch eine andere Hypothese, nach der der Konflikt der Potentiae am Ende der Zeit der Immunisierung entstehen würde. Hierbei wird die Wendung im Inneren des Politischen als Folge eines Prozesses der Autoimmunität dargestellt, durch den sich die immunitären Dispositive gegen sich selbst richten und somit neue Möglichkeiten für die Artikulation der Potenzialitäten eröffnen (Esposito 2010b, 100). Die erste These wird von Esposito sowohl gesellschaftstheoretisch als auch politisch nicht ausgearbeitet, obwohl sie eine interessante Sichtweise für die Interpretation der Konflikte in der globalen Gesellschaft bietet. Das Wiederauftauchen

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der lokalen Ebene im Politischen wie auch die Proteste gegen die globalen Sicherheitsstrategien könnten mithilfe der Dialektik von communitas und immunitas interpretiert werden und auf eine neue und affirmative Konzeption des Lebendigen hinweisen. Allerdings sind Espositos Verweise auf die gegenwärtigen Kämpfe zu vage und auf große mediale Ereignisse reduziert. Paradoxerweise und gegen seine erklärte Absicht ist aus dieser Sichtweise seine Forschung nur bedingt eine Ontologie der Gegenwart (Esposito 2008, 125-126). Die zweite These riskiert dagegen – und auch in diesem Fall gegen die Absichten des Autors –, eine Geschichtsphilosophie zu werden, die durch die Dialektik von communitas und immunitas gekennzeichnet ist. Die Geschichte – nicht nur die menschliche, sondern sogar die kosmologische – ist demnach nichts anderes als eine Verkettung von Zeiten, in denen die Potentiae der communitas das Leben permanent verändern, es aber dadurch gefährden, und Zeiten, in denen sich die immunitären Tendenzen bis zu dem Punkt erweitern, an dem die immunitären Systeme selbst zerstört werden und sich somit eine neue von den Konflikten der Potentiae dominierte Zeit eröffnet. Zwar spricht Esposito in seiner letzten Arbeit nicht von einer Dialektik, sondern von einer »Balance« oder »Spannung« von communitas und immunitas (Esposito 2010a, 250), sodass eine Interpretation des Verhältnisses dieser zwei Dimensionen nicht nach dem Modell der dialektischen Logik gelesen werden kann; jedoch spezifiziert er nicht die Art dieser Spannung oder Balance. Er verdeutlicht daher nicht, ob diese Balance das Ergebnis des »natürlichen« Konflikts von Potentiae und Macht sei, oder ob sie im Unterschied dazu, die Folge eines politischen (philosophischen) Handelns sei. 4.5.4 Das Tier-Werden und die Philosophie der impersonale Esposito beschäftigt sich auch in seiner Arbeit Terza persona mit der Idee einer affirmativen Biopolitik. Allerdings kann diese nicht als Folge der in Bíos dargestellten Perspektive interpretiert werden. Obwohl Esposito bereits auf den letzten Seiten von Bíos auf das Thema der impersonale verweist (Esposito 2004a, 214), wird in Terza persona eine andere Forschungsorientierung verfolgt, die auf die Dekonstruktion der Person als Begriff und die Genealogie der Person als Dispositiv zielt. Unter Philosophie der impersonale versteht Esposito eine Perspektive, die die Widersprüche und Paradoxien der mit dem Personenbegriff verknüpften Politiken überwinden kann. Terza persona ist der Text von Esposito, der am schwierigsten zu interpretieren ist, da er in diesem im Unterschied zu anderen zugleich eine dekonstruktivistische, genealogische und Deleuze’sche Methodologie durchführt. Eine Zusammenfassung dieser Arbeit ist unter dem Titel Person und menschliches Leben auch auf Deutsch veröffentlicht (Esposito 2010c).

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Im vierten Kapitel dieser Arbeit wurde schon der erste Teil von Terza persona analysiert, um zu rekonstruieren, wie der Begriff der Biopolitik bei Esposito in diesem theoretischen Rahmen eine andere Bedeutung erhält. Nun geht es erstens darum, zu verstehen, worin das Paradox der Person besteht und zweitens wie Esposito seine Philosophie der impersonale formuliert. Die Kontinuität zwischen der Philosophie der impersonale und der affirmativen Biopolitik besteht darin, dass beide Begriffe auf die Überwindung des Humanismus und des anthropozentrischen ontologischen Unterschieds zielen. Wie schon im vierten Kapitel erwähnt, interpretiert Esposito in Terza persona die Biopolitik als eine Perspektive, nach der dem politischen Handeln biologische Elemente zugrunde liegen. Die Biopolitik sei deswegen eine Alternative zu der politischen Philosophie, die auf dem Willen und der Vernunft der Subjekte beruhe. Für Esposito haben die thanatologischen Folgen der nationalsozialistischen Biopolitik zu einer Rehabilitation der politischen Philosophien geführt, die sich auf den freien und rationalen Willen der Subjekte berufen. Ihm zufolge hat der Begriff der Person und die philosophische Strömung des Personalismus 35 eine wichtige Rolle bei dieser Rekonstruktion gespielt, wie beispielsweise die Anwesenheit von Maritain – dem wichtigsten Vertreter des Personalismus – während der Arbeiten für die Definition der universellen Erklärung der Menschenrechte zeige (Esposito 2007, 90). Für Esposito ist die Erklärung der Menschenrechte von »einem deutlichen Widerspruch« gekennzeichnet, der in ihrer faktischen Unwirksamkeit trotz des Engagements vieler verschiedener politischer Akteure für ihre Stabilisierung bestehe (ebd., 84). Der Grund dieses Scheiterns hängt Esposito zufolge weniger davon ab, dass die Institutionen den Kampf für die Menschenrechte zu wenig fördern würden. Vielmehr – so seine provokante These – handele es sich um ein strukturelles Problem, das in dem Bezug auf den Begriff der Person für die Definition der Rechte habenden Menschheit bestehe (ebd., 91). Esposito zitiert eine Passage aus Maritains Text, nach der der Mensch über Rechte verfügt, weil er Person sei, um die Wichtigkeit des Begriffs der Person für die Konzeption der Menschenrechte aufzuzeigen (ebd., 90; Maritain 1951, 56). Das grundlegende Problem des Begriffs der Person liegt für Esposito darin, dass dieser eine Spaltung von Recht und Leben produziere. Wäh-

35 Der Personalismus ist eine philosophisch-christliche Denkrichtung, dem der Begriff der Person als Darstellung des höchsten Werts des menschlichen Lebens zugrunde liegt. Der Personalismus kritisiert insbesondere den Marxismus und den Individualismus, die das Leben unter die Kollektivität bzw. das private Interesse ordnen. Die wichtigsten Theoretiker dieser Philosophie sind Emanuel Mounier und Jacques Maritain. Das personalistische Manifest von Mounier ist der wichtigste theoretische Bezugspunkt dieser Denkrichtung (vgl. Mounier 1937).

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rend die nationalsozialistische Biopolitik die Ausübung des Rechts unmittelbar mit der zoé verbinde, werde der natürliche oder biologische Teil des Menschen von einem bloß auf dem Personenbegriff basierenden System nicht berücksichtigt. Allerdings produziere die Spaltung von Recht und Leben keine Garantie für oder auf das Leben. Vielmehr werde die zoé als Ding betrachtet und die Personalisierung des Lebens sei daher nichts anderes als eine Verdinglichung des Lebendigen. Um Leben und Recht zu verbinden, muss für Esposito deshalb eine Philosophie der impersonale oder der »dritten Person« formuliert werden, die die Trennung des biologischen und geistlichen Teils des Menschen überwinden könne. Er basiert diese These auf einer ausgezeichneten Genealogie des von ihm so bezeichneten »Dispositivs der Person«. Die Definition der Person nicht nur als Begriff, sondern auch und vor allem als Dispositiv, bedeutet für ihn, dass die Personalisierung einen bestimmten Subjektivierungsprozess darstelle, der sowohl in dem politischen als auch in dem privaten Raum – man kann von zoé und biós sprechen – wirke. Das Dispositiv der Person ist in der Rekonstruktion Espositos das Resultat von einer Interaktion von römischem Recht und katholischer Theologie. Esposito beschäftigt sich jedoch nur wenig mit dem Einfluss der Theologie auf die Definition der Person, weil dieses Dispositiv ursprünglich in dem römischen Recht entstanden und erst später von der katholischen Tradition für die Erklärung des Dogmas der Trinität übernommen worden sei. Innerhalb des römischen Rechts bestehe die Leistung des Dispositivs der Person in der Möglichkeit der Ausübung des Rechts auf etwas. Deshalb seien nicht alle Menschen Personen gewesen, nur diejenigen, die in der Lage waren, Rechte auszuüben. Mit anderen Worten: Die Leistung des Dispositivs der Person besteht in der Trennung der Menschheit in Menschen ohne Rechte und Menschen mit Rechten. Für Esposito ist hierbei wichtig zu betonen, dass ein Mensch nicht in dem Moment der Geburt, sondern erst später Person werde. Darüber hinaus habe derjenige, der keine Person war, von den Personen als Ding oder Ware betrachtet werden können. Die »Dinge«, über die Personen ihre Rechte ausüben konnten, waren vor allem Menschen, d.h. Sklaven und Kinder, die keine Personen sondern nur homo waren (Esposito 2007, 99). Das Dispositiv der Person führt deswegen laut Esposito eine Trennung zwischen biologischem und rechtlichem Dasein ein (ebd., 100). Diese Scheidung werde auch dadurch bewiesen, dass die Person nach dem Tod des Körpers weitergelebt habe. Nachdem eine Mensch-Person starb, wurde eine Maske auf ihr Gesicht gelegt, die die Rolle oder die Funktionen des Verstorbenen nicht nur symbolisch, sondern auch effektiv darstellte. In der lateinischen Sprache waren Maske und Person Synonyme und darüber hinaus konnte das Mitglied einer familias früher oder später Person werden, weil sie die Masken seiner patres besaß. In dem Ritual und der sozialen Funktion der Masken erfasst Esposito die Kontraposition des geistlichen oder rechtlichen und natürlichen Teils des Menschen (ebd., 93). Die Maske übe ihre

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rechtliche Funktion auch nach dem Ende des biologischen Lebens aus und zeige, dass das Leben als solches nie vom Recht geschützt, sondern Gegenstand des Rechts sei. Es gehe dabei vor allem um ein Aneignungsrecht, das die Möglichkeit einer Kommerzialisierung des Lebens und der Lebendigen eröffne (ebd., 94f.). Durch die Analyse des Dispositivs der Person und insbesondere seiner Funktion innerhalb des römischen Rechts kritisiert Esposito implizit Agambens Theorie des homo sacer als Matrix des Politischen im Altertum. Zwar könne ein bloßer Mensch (homo) von einer Person – die auf diesen homo ein Recht habe – straflos getötet werden; jedoch sei dies nur möglich, weil dieser homo durch das Dispositiv des Rechts als Ding betrachtet werde. Die Reifizierung oder Verdinglichung des Lebendigen durch das Recht bedeute allerdings – wie schon erwähnt – nicht nur die Möglichkeit, diese »menschlichen Dinge« zu vernichten, sondern auch und vor allem diese auszubeuten und zu verkaufen. Auf diese Weise zeigt Esposito, dass das Recht sich nicht auf die Ausschließung aus der politischen Gemeinschaft und auf die Reduzierung auf nacktes Leben beschränkt. Vielmehr treten durch das Dispositiv der Person Objektvierungsprozesse in Kraft, die die gesellschaftlichen Verhältnisse reglementieren. Wichtig für Esposito ist allerdings, dass das römische Recht und insbesondere das Dispositiv der Person nicht auf den Schutz des Lebens (sowohl als bíos als auch als zoé), sondern auf den Schutz des Eigentums von Dingen verweise. In dieser Rekonstruktion ist zudem bemerkenswert, dass er den Unterschied von homo (Mensch) und Person deutlich macht. Wenn diese römischen Termini einerseits als Synonyme der griechischen Wörter bíos und zoé interpretiert werden können, sind sie andererseits in ihrer Funktionalität verschieden. Während das griechische Begriffspaar keine Unterkategorien kennt, existieren im römischen Recht verschiedene Unterkategorien und Übergange zwischen diesen – z.B. ein Sklave, der von seinem Herr entlassen wurde, war von Prozeduren reglementiert. Die Erklärung eines homo als Sklave, libertus usw. ist Esposito zufolge nie die souveräne Entscheidung in einem Ausnahmezustand, sondern immer das Ergebnis einer rechtlichen und insofern gesellschaftlichen Reglementierung gewesen (vgl. ebd., 96, 97). Es ist allerdings zu betonen, dass Esposito die analytische Potenzialität der Interpretation der Person als Dispositiv nicht vollkommen erfasst. Vielmehr fokussiert seine Analyse auf das Ergebnis des Dispositivs der Person und d.h. auf die Trennung von rechtlich-gesellschaftlichem Dasein und biologischer Existenz. Insofern konzentriert er seine Analyse nicht auf die Art und Weise, wie ein Rechtssystem performativ Spaltungen im Inneren der Menschheit produziert. Der Übergang zur Moderne ist – wie immer bei Esposito – durch Kontinuitäten und Brüche ausgezeichnet. Der große Unterschied ist für ihn in dem Übergang von einer objektiven zu einer subjektiven Ebene zu suchen. Während in dem römischen Recht der gesellschaftliche Status eines Menschen durch objektive Prozeduren for-

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muliert gewesen sei, werde die Person in der Moderne – d.h. das rechtliche und gesellschaftliche Vermögen eines Menschen – zu einem subjektiven Attribut des Individuums. Die Erklärung aller Menschen zu Personen löst für Esposito nicht die Probleme, die mit der Personalisierung der Menschen verknüpft seien. Er interpretiert die Aneignung des Dispositivs der Person durch das Regime der modernen Souveränität, insbesondere innerhalb des von Hobbes eingeführten Unterschieds von natürlicher und künstlicher Person mit den folgenden Worten: Es verschwindet nicht nur die unauflöslich gedachte Verbindung, die in jedem einzelnen Menschen stets den physischen Leib mit der ›Maske‹ (Im sinne des jeweiligen, ihm von außen zuerkannten juristischen Status) zusammenhielt – mehr noch: Auch der notwendigerweise menschliche Charakter der Person wurde aufgehoben. Wenn das, was eine Person juristisch konstituiert, lediglich deren Repräsentanzfunktion ist, dann kann dieser Status auch einem kollektiven Verbund oder einer sonstigen Einrichtung wie einer Brücke, einem Krankenhaus oder einer Kirche zugewiesen werden. Daraus resultiert die, nunmehr vollzogene, Abspaltung vom biologischen Referenten, denn der Mechanismus der Repräsentation gestattet, oder vielmehr, er fordert die materielle Abwesenheit des repräsentierten Subjektes und er fordert ebenfalls – wie bei Hobbes angelegt – das logische Primat der künstlichen vor der natürlichen Person. (Esposito 2010c, 43)

In dem Maße, in dem die Person nur eine juridische Funktion darstellt, ist für Esposito die Personalisierung des modernen Subjekts gleichzeitig auch ein Entpersonalisierungsprozess, da ein Individuum nicht als solches, sondern nur durch seine gesellschaftliche Funktion anerkannt werden könne. Außerdem reproduziere die moderne Version die Trennung von biologischem und rechtlichem Leben, die die Kontinuität von Altertum und Moderne in puncto Dispositiv der Person darstelle. Dies verdeutlicht Esposito in Bezug auf zwei andere moderne Autoren. Sowohl nach Locke als auch nach Mill ist die Person kein Körper, sondern sie besitzt einen Körper, der ihr alleiniges Eigentum darstellt und worüber sie uneingeschränkt verfügen kann. Somit kehrt die anfängliche Paradoxie zurück, wonach ein Subjekt seine persönlichen Merkmale nur dadurch zum Ausdruck bringen kann, dass es sich selbst objektiviert und spaltet: auf der einen Seite liegt dann ein vollkommen menschlicher – da rationaler, moralischer, und geistiger Kern, auf der anderen Seite ein animalischer oder gar dinglicher, der Willkür des geistigen Kerns ausgelieferter Rest. (Ebd., 46)

Für Esposito ist deswegen auch der moderne Personalisierungsprozess eine Verdinglichung, der allerdings nicht nur andere Menschen, sondern auch den biologischen Teil des Menschen betreffe, der auf dem Status der Ware reduziert wäre. So gesehen kann ihm zufolge auch in der Tradition des Personalismus, eine Spaltung

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im Inneren des Lebens – so wie bei der nationalsozialistischen Biopolitik – erkennen. Er macht deutlich, dass er damit auf keinen Fall die Unterschiede zwischen Nationalismus und Liberalismus eliminieren möchte. Vielmehr hebt er hervor, dass der dem Personenbegriff zugrunde liegende Liberalismus keine Lösung für die komplexe Frage nach dem Verhältnis von Leben und Politik biete, da der Liberalismus auf einer analogischen Trennung von Biologischem und Politischem im Inneren des menschlichen Lebens basiere. Diese Analyse des Liberalismus durch die Genealogie des Personenbegriffs ist allerdings eher oberflächlich. Esposito betrachtet die Herrschaft über das Biologische als negativ, aber erklärt unzureichend, warum diese negativ sei. In seiner Arbeit beschränkt er sich auf eine begründete Kritik der liberalen Bioethik, aber berücksichtigt nicht die Folgen der Verdinglichung des Biologischen. Wenn einerseits die Genealogie des Personenbegriffs Licht darauf wirft, dass der Liberalismus strukturell die Ausbeutung und wirtschaftliche Verwertung des Lebendigen in Kraft setzt, wird anderseits von ihm nicht berücksichtigt, wie sich diese Prozesse entwickeln. Vielmehr bleibt er auf der Ebene der philosophischen Debatte gegen den Personalismus und den Liberalismus. Allerdings wird auch diese Auseinandersetzung durch die Lupe des Nationalsozialismus als einzigem authentischem biopolitischem Regime durchgeführt. Mit anderen Worten: Das Problem des Liberalismus besteht für Esposito darin, dass dieses keine echte Alternative zu der nationalistischen Biopolitik ist, weil es die Dichotomie von bíos und zoé, Person und homo reproduziert. Somit kann für ihn der Personalismus in seinem Anspruch, das Leben zu schützen, nur scheitern (Esposito 2007, 111f.). Im Gegensatz zu Maritain ist die Verbindung des Menschen mit dem Recht für Esposito nicht die Anerkennung als Person. Vielmehr argumentiert er, dass das Dispositiv der Person »die künstliche Barriere [ist], die den Menschen von seinen Rechten trennt« (ebd., 103). Deshalb seien in diesem politischen und begrifflichen Rahmen Menschenrechte unmöglich (ebd.). Ihm zufolge hat die Idee der Person mit ihren Widersprüchen den politischen Diskurs nach dem Zweiten Weltkrieg beeinflusst. Außerdem sei die Debatte über die Bioethik davon geprägt. Um die Folgen der Personalisierung überwinden zu können, muss laut Esposito eine Philosophie der impersonale formuliert werden. Für die Definition dieser philosophischen Perspektive bezieht er sich auf verschiedene AutorInnen, die von der französischen Philosophin Simon Weil über die »Klassiker« Foucault und Deleuze bis hin zu Levinas, Kojève, Benveniste, Jankelevic und Blanchot reichen. Trotz oder wegen dieser Vielfalt ist es schwierig zu sagen, was genau Esposito unter »Philosophie der impersonale« versteht. Die Definition dieser Perspektive als im-personale verweist auf eine seiner ersten Arbeiten – Kategorie des Impolitico.

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Das Suffix »Im« hat eine präzise Bedeutung in der Philosophie Espositos; insbesondere markiert es eine dekonstruktivistische Orientierung seiner Forschung. Impolitico wie auch impersonale wird nie positiv definiert (vgl. Esposito 1998 und 2007). Vielmehr stellen sie für Esposito Sichtweisen auf das Politische bzw. das Dispositiv der Person dar. Diese Orientierung verstößt jedoch gegen seine Absicht, eine affirmative Perspektive zu formulieren. Insofern ist dieses Wiederauftauchen einer dekonstruktivistischen Orientierung ein Schritt zurück gegenüber seines Willen, neue Begriffe für die Gegenwart zu formulieren. Klar ist lediglich, dass diese Perspektive die Trennung von Mensch und Tier, Biologischem und Geistlichem, Natürlichem und Historischem zu vermeiden versucht. Insofern ist auch die Philosophie der impersonale eine posthumanistische Perspektive und muss als Teil der schon skizzierten affirmativen Biopolitik betrachtet werden. Die Verbindung von Philosophie der impersonale und affirmativer Biopolitik wird von Esposito in dem Text Person und menschliches Leben hervorgehoben (Esposito 2010c, 61). Zwar erwähnt Esposito, was diese Perspektive nicht sei, jedoch definiert er nicht, was impersonale sei und was sie impliziere. In einem anderen Text Per una filosofia dell’impersonale spricht Esposito weniger von Philosophie der impersonale als einer Praxis der impersonale, deren Aufgabe in dem Bruch mit dem Dispositiv der Person bestehe (Esposito 2008, 189). In den komplexen Texten Espositos können zwei Beispiele gefunden werden, die zu dem Verständnis beitragen können, was er mit »Praxis der impersonale« meint. Der erste betrifft die Konzeption des politischen Engagements der Intellektuellen von Maurice Blanchot. Das Modell dieser Orientierung sei das Manifest der 121, mit dem im Jahr 1960 die französischen Intellektuellen das Recht auf die Insurrektion unterstützten. Für Blanchot war diese Aktion »unpersonal«, da in dem Manifest die einzelnen AutorInnen auf ihre persönliche Sichtweise verzichtet hätten. Insofern hätten sie das »persönliche«, individuelle Copyright abgelehnt und eine commune Perspektive entfaltet. Das Manifest ist für ihn somit die Anerkennung, dass sich die Frage als solche nicht mehr durch eine persönliche Untersuchung, sondern nur durch eine gemeinsame Forschung beantworten lasse (Esposito 2007, 161f.). Das zweite Beispiel für eine Praxis der impersonale kann für Esposito bei Foucault und insbesondere in seiner Konzeption des Widerstands gefunden werden. In dem Moment, in dem die Macht durch ihre Dispositive unmittelbar auf die Kontrolle und Orientierung des Lebens der einzelnen abzielt, wird für Foucault eine neue Generation von Kämpfen provoziert, deren Gegenstand nicht das Recht, sondern das Leben selbst sei. Esposito interpretiert dieses Leben als Gegenstand des Kampfs als impersonale, da es auf diese Weise nicht die Ansprüche eines politischen Subjekts darstelle. Vielmehr gehe es um Bedürfnisse, die jenseits jeder juridischen Person lägen (ebd., 120f.). Insofern lässt sich die Philosophie oder die Praxis der im-

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personale als Versuch interpretieren, den Individualismus und die Logik der Individuation zu überwinden. Das impersonale kann daher als eine Strategie der Reaktivierung der communitas oder, anders ausgedrückt, der Erforschung einer gemeinsamen Welt angesehen werden. Diese Interpretation wird von Esposito selbst thematisiert; in dem Text Vom Unpolitischen zur Biopolitik behauptet er, dass man die Perspektive der affirmativen Biopolitik nicht individual und personal, sondern nur gemeinsam entfalten könne (vgl. Esposito 2010b, 101). Wie schon in Bíos knüpft er auch in Terza persona in der Formulierung seiner affirmativen Perspektive unmittelbar an die Ontologie Deleuzes an. Von ihm übernimmt Esposito den Begriff eines Lebens, das weder zoé noch bíos, aber auch keine Person, sondern eine echte Immanenz ist. Darunter versteht er im Anschluss an Deleuze ein undefiniertes, aber singuläres Leben, das eine echte Potentia, aber keine Verwirklichung ist. Um dieses Konzept zu verdeutlichen, benutzt Deleuze das Leben der Neugeborenen als Beispiel. Deleuze argumentiert, dass die Neugeborenen sich alle ähnlich seien, aber jede kleine Geste eines von ihnen zu etwas Singulärem mache, ohne dass es in einer Kategorie individualisiert werde (vgl. Deleuze 1996). Esposito übernimmt diese Definition des singulären Lebens, um das impersonale von dem persönlichen Leben wie auch das Singuläre von dem Individuellen zu differenzieren. Während das Leben im Prozess der Personalisierung durch Zäsuren zum einen im Inneren des einzelnen Lebens (zoé und bíos) und zum anderen im öffentlichen Leben (bürgerliche und menschliche Rechte) zersplittert werde, verweise das Leben als impersonale Immanenz auf die Pluralität und Singularität jedes Lebens. Plural sei es, weil es immer etwas anderes werden könne. Singulär betreffe die Art zu werden, die für jedes Leben spezifisch sei. Diese Ontologie des singulärpluralen Daseins kann insofern auch als Versuch oder Projekt interpretiert werden, die moderne Dichotomie zwischen Individualismus und Kollektivismus zu überwinden. Diese Definition des unpersönlichen Lebens ist bei Esposito eher literarisch als politisch-philosophisch und wird nicht mit den biopolitologischen Fragen der Gegenwart verknüpft. Zusammenfassend kann Espositos Perspektive in Terza persona daher als eine neue Hermeneutik interpretiert werden, in der das Leben entweder in einem bio-thanatopolitischen oder in einem rechtlich-personalisierenden Dispositiv ergriffen wird. Insofern muss ihm zufolge eine Perspektive und/oder eine Praxis der impersonale formuliert werden, um diese gegenseitigen, aber komplementären Dispositive zu blockieren oder zu überwinden. Allerdings thematisiert Esposito nicht, wie dieser Übergang stattfinden kann. Obwohl er oft von »Praxis« spricht, ist unklar und gewissermaßen fragwürdig, was eine Gemeinschaft oder ein/e einzelne/r machen soll, damit sein/ihr Handeln als impersonale charakterisiert werden kann.

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Sein Versuch, ein neues politisches Lexikon zu entwerfen, ist dennoch positiv zu bewerten, da die alten Paradigmen und Begriffe zur Reproduktion der Antinomien, Widersprüche und Paradoxien der Moderne tendieren. Allerdings ist diese begriffliche Produktion zu wenig mit den Kämpfen und Widerständen gegen die Dispositive verbunden und analysiert fast ausschließlich philosophische Diskurse. Paradoxerweise spielen bei Esposito die individuellen und »persönlichen« Werke der verschiedenen PhilosophInnen eine grundlegende Rolle, während die »pluralen«, singulären und immanenten Lebensformen im Hintergrund bleiben.

4.6 P ROBLEME

UND

P ERSPEKTIVEN

Die wichtigste Leistung Espositos besteht in der Einführung eines neuen Lexikons in der Politologie und Gesellschaftstheorie, das vor allem die Dualismen der modernen philosophisch-politischen Diskurse in Frage stellt und einen neuen Horizont für die gesellschaftstheoretische, politologische und philosophische Forschung eröffnet. Ausgehend von seiner Begrifflichkeit und durch eine kritische Analyse seiner Arbeiten entwickeln Vanessa Lemm und Isabell Lorey sehr relevante Forschungsperspektiven (vgl. Lemm 2009; Lorey 2011). Diese Beispiele zeigen zweifellos die Wichtigkeit und internationale Relevanz der Arbeiten Espositos. Allerdings sind sowohl seine Analytik der Biopolitik als auch sein Projekt der affirmativen Biopolitik von einigen Problemen gekennzeichnet, die in diesem Abschnitt diskutiert werden. In puncto Biopolitik sind die Ergebnisse der Forschung Espositos eher kontrovers. Wenn er zum einen den ursprünglichen und effektiven Nexus von Politik des Lebens und Thanatopolitik mithilfe des Paradigmas der Immunisierung im Inneren der Biopolitik lokalisiert, lässt sich zum anderen die Biopolitik nicht auf den Immunisierungsprozess reduzieren, wie Robin Celikates und Ottavio Marzocca überzeugend betonen (vgl. Marzocca 2007; Celikates 2008). Es handelt sich dabei um ein Problem, das auch von Esposito selbst anerkannt wird (Esposito 2010a, 258) und auch die Wende in der Arbeitshypothese von Terza persona ist ein Zeichen seiner Absicht, dieses Problem zu überwinden. Allerdings ist es gerade diese Wende, die strukturell nicht überzeugt, da Esposito damit auf einige Verdienste der Trilogie Communitas, Immunitas und Bíos verzichtet. Zwar kann die Immunisierung nicht die Entwicklung der Biopolitik allgemein erklären, doch handelt es sich dabei um eine Forschungshypothese, die die Ambivalenzen und Interaktionen von politischem, juridischem und medizinischem Wissen sichtbar macht. Die theoretische Leistung der genannten Trilogie und insbesondere des Paradigmas der Immunisierung besteht gerade darin, zu zeigen, dass diese Interaktion den modernen politischen Diskurs als solchen prägt. Deswegen

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müssen die Theorien, Paradigmen und Begriffe – die die Institutionalisierung der modernen politischen Ordnung orientiert haben – wieder ausgehend von dieser Interaktion interpretiert werden. Das Relevante an dieser Arbeitshypothese liegt darin, dass das Forschungsinteresse wie auch die Forschungsmethodologie nicht von einer »Reinigungsarbeit«36 beeinflusst ist. Esposito zeigt durch das Paradigma der Immunisierung, dass sich für das Verständnis der Biopolitik jeder Versuch von Reinigungsarbeit von dem Verständnis der Biopolitik entfernt, da der Begriff der Biopolitik als solcher verdeutlicht, dass das Politische immer das Ergebnis von Kämpfen, Mutationen, Kombinationen, Überlagerungen von Strategie und Rationalität ist. Das Paradigma der Immunisierung macht einige von diesen Interaktionen sichtbar. Sogar der Anspruch, Foucault zu korrigieren, den sowohl Agamben als auch Hardt und Negri erheben, kann gewissermaßen als Zug einer Reinigungsarbeit interpretiert werden, da beide Perspektiven einen eindeutigen Begriff der Biopolitik – entweder negativ oder positiv – formulieren. Insofern fokussieren sich weder die Perspektive Agambens noch die Begriffe von Hardt und Negri auf die Ambivalenzen der biopolitischen Diskurse. Die Trilogie Espositos folgt dagegen nicht diesem Prinzip und geht davon aus, dass die Ambivalenzen konstitutiv für die Biopolitik seien und deswegen vor allem zu erklären sei, wie die Biopolitik zugleich positiv und negativ sein könne. Obwohl Esposito durch das Paradigma der Immunisierung die konstitutive Antinomie der biopolitischen Diskurse sichtbar macht, ist die These fragwürdig, dass durch das Paradigma der Immunisierung die ambivalenten Elemente der biopolitischen Diskurse eingeordnet werden könnten. Wie schon erwähnt, ist der Anspruch, die gesamte Biopolitik durch die Immunisierung einzuordnen, problematisch. Eine mögliche Lösung des Problems könnte durch die Einführung von anderen Paradigmen gefunden werden, die andere mögliche Interaktionen von Wissen und Praktiken des Lebens und politischen Rationalitäten sichtbar machen könnten. Das größte Defizit der Perspektive Espositos ist aus dieser Sichtweise ähnlich wie Agambens These der Produktion von nacktem Leben als Matrix der Biopolitik. Mit anderen Worten: Das Problem dieser Analytik der Biopolitik liegt in dem Anspruch, die Biopolitik durch ein einzelnes logisches Schema zu verstehen. Obwohl im Unterschied zu den Perspektiven von Agamben und Hardt und Negri das Paradigma der Immunisierung schon die Gleichzeitigkeit von Positivem und Negativem zeigt, lässt sich die Komplexität der politischen, biologischen, juridischen und ökonomischen Interaktionen, die der Biopolitik zugrunde liegen, nicht auf ein einziges analytisches Modell reduzieren.

36 Hierbei ist Reinigungsarbeit gemäß der Interpretation von Bruno Latour zu verstehen (vgl. Latour 2002).

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Um dieses Problem aufzulösen, verwendet Esposito paradoxerweise eine moderne Forschungsmethodologie und operiert in Terza persona mit einer Reinigungsarbeit, die ihn zu der Einführung einer rigiden Trennungslinie zwischen Biopolitik oder Biopolitisierung des Politischen und Rechtsphilosophie und demokratischer Tradition führt. Obwohl er auch in Terza persona durch diesen neuen theoretischen Rahmen relevante Interaktionen von rechtlich-philosophischem Wissen und politischen Rationalitäten sichtbar macht, ist die neue Theorie der Entwicklung des modernen politischen Diskurses in dem Moment wenig überzeugend, in dem das einzige biopolitische Regime de facto mit dem National-sozialismus identifiziert wird und die modernen Konzeptionen der Souveränität, der Demokratie und der politischen Philosophie fast als Kontraposition zur Biopolitik interpretiert werden. Es handelt sich daher beinahe um eine Negation der Arbeitshypothese der Trilogie Communitas, Immunitas und Bíos, die Esposito nicht weiter diskutiert. Diese Abwesenheit des Paradigmas der Immunisierung, auch als kritische Sichtweise, ist irritierend, da sie es nicht erlaubt, zu verstehen, ob er in Terza persona diese Idee fallenlässt oder negiert, oder es die enge Verbindung von Biopolitik und Immunisierung ist, die er ablehnt. Dies sind Fragen, die Esposito nicht thematisiert. Eine vergleichende Lektüre von Bíos und Terza persona führt zur Interpretation, dass es sich um zwei inkompatible Perspektiven handelt. In seiner Analytik der Biopolitik ist jenseits dieser theoretischen Unstimmigkeiten die grundlegende Lücke in der fehlenden Analyse des Verhältnisses von Biopolitik und ökonomischen Wissen zu identifizieren. Obwohl Esposito die Arbeiten Foucaults über die Gouvernementalität zitiert, berücksichtigt er sowohl in der Trilogie Communitas- Immunitas- Bíos als auch in Terza persona die Idee nicht, dass sich die Biopolitik auch in Interaktion mit ökonomischen Diskursen entwickelt. Der Grund dafür ist in der Unmöglichkeit zu suchen, dieses Verhältnis durch das Paradigma der Immunisierung zu verstehen. Die Ökonomisierung des Lebens ist schon eine biopolitische Rationalität, die sich nicht durch die Logik des negativen Schutzes, die typisch für die Immunisierung ist, interpretieren lässt. Um das Verhältnis von Biopolitik und ökonomischen Diskursen zu erfassen, müsste Esposito berücksichtigen, dass sich die Biopolitik nicht durch ein einziges Paradigma interpretieren lässt. Allerdings würde dies die Hauptthese von Bíos in Frage stellen, d.h., dass die Ambivalenzen der Biopolitik durch die Immunisierung verstanden werden können. Bei Terza persona wird die Ökonomisierung des Lebens implizit als Teil des Verdinglichungsprozesses des Dispositivs der Person, der als Gegensatz zur Biopolitik thematisiert wird, angesehen. Insofern wird die Ökonomisierung des Lebens von Esposito nicht mit dem Begriff der Biopolitik verknüpft. Aus diesem Grund ist das Paradigma der Immunisierung für die Analytik der ökonomischen Diskurse bedeutungslos.

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Diese Lücke beeinflusst auch den Anspruch Espositos, eine affirmative Biopolitik zu entwickeln. Dieses Projekt hat drei strukturelle Probleme. Das erste besteht in der Vermutung, dass in der Moderne die Biopolitik nur durch das Negative, die Subjektivierungs- und Institutionalisierungsprozesse orientiert worden sei. Nach seinem theoretischen Modell sind die Subjektivierungsprozesse in der Moderne von einer Logik des Negativen geprägt. In dem Maße, in dem Esposito von seiner Perspektive die Analyse der ökonomischen Diskurse ausschließt, begreift er nicht, dass diese Diskurse auf eine positive Bildung der Subjekte verweisen und dass – wie Laura Bazzicalupo zeigt37 – die Idee des ökonomischen Subjekts ausgehend von einer Logik des Lebendigen entwickelt wird. Insofern reicht die Idee Espositos einer affirmativen Biopolitik, die auf einer Logik des Lebendigen basiert, für eine Emanzipation von den biopolitischen Machtverhältnissen nicht aus. Das zweite Problem des Projekts der affirmativen Biopolitik besteht in seiner Idee, dass die affirmative Biopolitik in Kontraposition zu den Dispositiven des Nationalsozialismus entfaltet werden müsse. Seine Analytik des National-sozialismus ist sicherlich sehr relevant, da sie eine überzeugende Erklärung des Einflusses von biologischen und medizinischen Diskursen wie auch von BiologInnen und ÄrztInnen auf die nationalsozialistische Thanatopolitik bietet. Diese Analytik kann zudem eine interessante analogische Funktion gegenüber den gegenwärtigen Verbindungen von politischen und biologisch-medizinischen Diskursen ausüben. Allerdings ist die Idee wenig überzeugend, dass eine Dekonstruktion und Umkehrung der thanatopolitischen Dispositive des Nationalsozialismus die Bedrohungen der Biopolitik immunisieren könne. Der Grund dafür besteht darin, dass die Biopolitik negative und sogar dramatische Folgen für das Leben der Individuen haben kann, auch wenn diese sich nicht in thanatopolitischen Herrschaftsformen nach dem Modell des Nationalsozialismus befinden (vgl. Marzocca 2007). Eine affirmative Biopolitik, die auf der Gegenüberstellung mit dem Nationalsozialismus basiert, riskiert insofern sowohl analytisch als auch politisch andere Probleme zu unterschätzen, die z.B. mit der Ökonomisierung des Lebendigen verbunden sind. Das dritte Problem der affirmativen Biopolitik besteht in dem Vertrauen Espositos in eine performative Macht der Philosophie. Er erklärt nicht, warum gerade die Philosophie die Aufgabe erfüllen kann, die Biopolitik umzukehren. Zwar ist die Idee einer Produktion von Wissen interessant, die einen emanzipativen oder affirmativen Einfluss auf das Politische haben kann; es bleibt jedoch fragwürdig, wieso Esposito diese Praxis auf die bloße Produktion von Begriffen beschränkt. In seiner Perspektive thematisiert er weder eine mögliche Konkretisierung seiner politischen Philosophie noch erkennt er diese in den Praktiken und Strategien von aktuellen

37 Die Analyse und die Perspektive der Philosophin Laura Bazzicalupo wird in dem nächsten Teil dieser Arbeit analysiert.

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politischen Bewegungen. Er unterscheidet seine Idee der affirmativen Biopolitik von dem Begriff der biopolitischen Produktion von Hardt und Negri gerade in der politischen »Positionierung«. In der Einführung zu Bíos stellt er seine Sichtweise explizit dar: Ich glaube nicht, dass die Aufgabe der Philosophie – auch in puncto Biopolitik – darin besteht, Modelle für das politische Handeln zu skizzieren, oder ein der Biopolitik zugrunde liegendes revolutionäres oder reformistisches Manifest zu schreiben. Nicht weil es zu radikal ist, sondern weil es zu wenig radikal ist. […] was heute von denen, die als Beruf Philosophie produzieren, verlangt wird, ist ein anderer Weg: d.h. es ist nicht, das Leben in Funktion der Politik zu denken, sondern die Politik nach der Form des Lebens selbst zu denken. (Esposito 2004a, XVI, Übers. R. G.)

Wie schon in dem letzten Abschnitt erwähnt, bedeutet für Esposito das Denken der Politik in der Form des Lebens vor allem, davon auszugehen, dass sich das Politische immer erneuern muss, um die sozialen, kulturellen und biologischen Mutationen des gemeinsamen Lebens zu fördern. Unklar ist jedoch der Grund, warum die PhilosophInnen – die in dieser Perspektive eine Hauptrolle für die Entwicklung der affirmativen Biopolitik spielen – kein Modell für das politische Handeln bzw. kein Projekt von Normierungsprozessen vorschlagen dürfen. Wie kann dann diese affirmative Biopolitik effektiv werden, wenn sich seine SchöpferInnen nicht in das politische Feld einmischen sollen? Diese Positionierung ist noch merkwürdiger, wenn berücksichtigt wird, dass Esposito sich in jeder Arbeit auf eine Ontologie der Konfliktualität bezieht. Ein letzter kritischer Punkt der Perspektive Espositos ist noch zu kommentieren: seine Forschungsmethodologie. Esposito entwickelt seine Theorie durch Begriffe, Paradigmen, philosophisch-dekonstruktivistische Rekonstruktionen, Diskursanalyse, Genealogie und semantische Analysen. Die Überlagerung dieser unterschiedlichen Forschungsmethoden und Forschungswerkzeuge ist nicht immer überzeugend. Vielmehr kann behauptet werden, dass viele der strukturellen Probleme der Perspektive Espositos von einer unklaren Definition seiner Forschungsmethode rühren. Esposito fokussiert sich nicht darauf, zu definieren, was für ihn ein Paradigma ist, oder wo der Unterschied von Paradigma und Begriff liegt. Zum einen führt diese Unklarheit zu den analysierten Problemen, zum anderen erlaubt die Verwendung von verschiedenen Forschungsstrategien jedoch die Produktion von heterogenen, theoretischen Werkzeugen, die die traditionellen disziplinären Grenzen der modernen philosophischwissenschaftlichen Diskurse transzendiert. Um diese Produktion angemessen zu entwickeln, ist es allerdings notwendig, eine methodologische Einordnung vorzunehmen. Wie Agamben betont hat, kann diese Art von Wissensproduktion im Rahmen eines analogischen Denkens eingeordnet werden (vgl. Agamben 2009).

5. Biopolitik oder Biopolitiken? Wir haben die aktuelle Gesellschaft genau deswegen als bioökonomisch bezeichnet, weil das ökonomische Vokabular die Subjektivierungen, das Leben und generell auch den Zugang zu sozialen Bindungen direkt bestimmt. LAURA BAZZICALUPO, 2013, 58.

Die Beiträge zur Analyse der Biopolitik aus Italien lassen sich nicht auf die Arbeiten von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito beschränken. Weniger bekannt, aber ebenso wichtig für die Definition einer kritischen Analytik der Biopolitik sind insbesondere die Untersuchungen von drei Forschungsgruppen, die durch ihre Formulierung neuer Begriffe zu einem besseren Verständnis der biopolitischen Dynamiken in der Gegenwart beigetragen haben. Diese Forschungsgruppen sind BBPS, 3 Ecologie und Action30. BBPS steht für Biopolitica, Bioeconomia e Processi di soggettivazione – auf Deutsch »Biopolitik, Bioökonomie und Subjektivierungsprozesse« – und ist ein Forschungszentrum an der Universität Salerno. Die GründerInnen und wichtigste VertreterInnen dieses Forschungszentrums für die Analyse der Biopolitik sind Laura Bazzicalupo, Adalgiso Amendola, Federico Chicci und Antonio Tucci. Die Forschungen dieser Gruppen zielen auf das Verhältnis von Biopolitik und ökonomischer Gouvernementalität und den Widerstandspraktiken gegen die Ausübung der Biomacht. Foucaults Untersuchungen zu der Entwicklung der Gouvernementalität stellen dabei den wichtigsten theoretischen Bezugspunkt dar. Bis heute hat BBPS als Forschungsgruppe den Sammelband Biopolitica, Bioeconomia e processi di soggettivazione veröffentlicht, der Beiträge der Mitglieder von BBPS wie auch von anderen SozialwissenschaftlerInnen versammelt, die sich mit der Frage nach dem Verhältnis von Biopolitik und Ökonomie beschäftigen. 3 Ecologie ist eine Forschungsgruppe, die an der Univesität Bari von Ottavio Marzocca gegründet wurde. Das Ziel dieser Gruppe ist die Analyse der ökologischen Frage aus einer biopolitischen Perspektive. Marzocca veröffentlichte zusam-

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men mit anderen WissenschaftlerInnen aus Bari wie Renata Brandimarte, Pierangelo Di Vittorio und Andrea Russo im Jahr 2006 eine sehr wichtige Arbeit – Lessico di Biopolitica (Lexikon der Biopolitik) –, in der das Paradigma der Biopolitik als Konstellation von Begriffen oder analytischen Werkzeugen für das Verständnis des Sozialen und des Politischen thematisiert wird. Die zunehmende Wichtigkeit der ökologischen Frage hat diese WissenschaftlerInnen dazu geführt, das Problem der Regierung der Umwelt anhand biopolitischer Kategorien zu analysieren. Auch für 3 Ecologie ist Foucaults Analytik der Macht der Ausgangspunkt ihrer Forschung. 2010 hat 3 Ecologie unter dem Titel Governare l’ambiente (Marzocca 2010) ihre Forschungsergebnisse herausgegeben. Im Unterschied zu BBPS und 3 Ecologie ist Action30 keine institutionelle Forschungsgruppe, sondern selbstfinanziert. Die Mitglieder dieses Kollektivs sind sowohl Wissenschaftler wie Pierangelo Di Vittorio und Andrea Russo als auch Künstler wie Giuseppe Palumbo. Sie konzipieren ihre Tätigkeit nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als politische und militante Praxis. Außerdem stellen sie die Ergebnisse ihrer Forschungen durch Performances bei kulturellen Ereignissen dar. Action30 ist zudem der Titel der Zeitschrift der Gruppe, von der u.a. eine Ausgabe unter dem Titel L’uniforme e l’anima erschienen ist (Action30 2009). Im Mittelpunkt der Untersuchungen Action30s steht die Entwicklung neuer Formen des Faschismus innerhalb der liberalen Gouvernementalität. Insofern ist auch für sie die Foucaultʼsche Analytik der Macht zentral. Andere theoretische Bezugspunkte dieser Gruppe bilden Bataille, Deleuze und Agamben. Obwohl der Gegenstand der Forschungen von diesen Gruppen unterschiedlich ist, gibt es zwischen ihnen einen fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch. Diese Kollaboration hängt nicht nur davon ab, dass sie in ihren Untersuchungen eine biopolitische Perspektive teilen. Vielmehr ist es das Bedürfnis der Formulierung einer neuen Analytik der Biopolitik, die diesen Austausch anregt. Die Idee einer solchen neuen Analytik der Biopolitik hängt mit der Notwendigkeit zusammen, zu verstehen, wie das ökonomische Wissen und insbesondere die liberalen und neoliberalen Regierungstechniken die Entwicklung der Biopolitik beeinflussen und beeinflusst haben. Die Arbeiten im Kreis von BBPS, 3 Ecologie und Action30 sind insofern grundlegend, da sie Kategorien für ein vertieftes Verständnis des Paradoxes der Biopolitik bieten, das im Zentrum dieser Arbeit steht. Schon Esposito versucht mithilfe des Paradigmas der Immunität die Biopolitik durch ein Erklärungsmodell zu verstehen, das die zwei komplementären aber gegenseitigen Richtungen der Biopolitik zu erfassen vermag. Wie schön erwähnt, lässt sich in seiner Theorie allerdings die Interaktion von Biopolitik und Ökonomie nicht verstehen und analysieren. Um diese Interaktion von Biopolitik und Ökonomie zu verstehen, kehren die AutorInnen dieser Forschungsgruppen wieder zu Foucault zurück. Was für Agam-

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ben und Esposito problematisch ist, d.h., dass Foucault die verschiedenen Richtungen der Biopolitik nicht durch ein eindeutiges Modell interpretiert, wird hierbei nicht nur als theoretischer Vorzug betrachtet, sondern auch weiter verfolgt (vgl. Marzocca 2007, Bazzicalupo 2006). Die ForscherInnen reden daher im Anschluss an Foucault weniger von Biopolitik im Singular als von Biopolitiken im Plural, um das komplexe und heterogene Verhältnis von der Ausübung der Macht und den Lebensformen analysieren zu können. Der Vorteil dieser Perspektive besteht nicht nur in einer neuen und fruchtbaren Wiederentdeckung der Arbeiten Foucaults, sondern auch in der Entwicklung eines integrativen Modells für die Analytik der Biopolitik, das auch die wichtigsten Ergebnisse der Forschungen von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito berücksichtigt. Diese Orientierung hat zudem – zum Teil explizit – die letzten Arbeiten von Agamben und Esposito beeinflusst. Letzterer zitiert viele dieser Untersuchungen und konstatiert in Pensiero vivente selbstkritisch, dass sich die Biopolitik nicht durch ein einziges hermeneutisches Modell erklären lasse (Esposito 2010a, 251-253). Obwohl Agamben nicht direkt auf diese Forschungen verweist, kann die Wende in seinen Untersuchungen zu den Formen der Ausübung der Macht im Abendland als Folge dieser philosophisch-politischen Auseinandersetzung interpretiert werden.1 Im Gegensatz dazu lehnen Hardt und Negri eine positive Diskussion mit diesen Perspektiven ab, da sie davon überzeugt sind, dass nur ihr Verständnis der Biopolitik Foucaults Idee entspreche (vgl. Hardt und Negri 2010). Die Forschungen der oben genannten Gruppen gehen davon aus, dass das Verhältnis von Biopolitik und ökonomischer Gouvernementalität systematisch untersucht werden müsse, um die Ausübung der Macht in der Gegenwart zu verstehen. Deswegen sind für sie die Texte, Vorlesungen und Interviews zentral, die Foucault diesem Thema gewidmet hat. Als Ausgangspunkt dieser Forschungsorientierung kann die Veröffentlichung einer Anthologie kleiner Schriften von ihm unter dem Titel Biopolitica e Liberalismo (Biopolitik und Liberalismus) betrachtet werden, die im Jahr 2001 von Ottavio Marzocca herausgegeben und kommentiert wurde (Marzocca 2001). In dieser Anthologie von Foucaults Schriften wird erstmals in Italien die These einer konstitutiven Verbindung zwischen der Entwicklung von politischen Rationalitäten und ökonomischen Diskursen, die das Interesse seiner For-

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Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Agamben 2010c) lässt sich als Wende in Agambens Philosophie interpretieren, da dort die Entwicklung des Politischen nicht mehr ausschließlich dem Modell der biopolitischen Souveränität untergeordnet wird. Vielmehr entwickelt er darin ein neues Paradigma für die Analyse der Machtverhältnisse im Abendland, das mehr als eine bloße Ergänzung seiner Homo Sacer-Werke darstellt.

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schung am Ende der 1970er Jahre leitet, veröffentlicht. Zentral dabei ist die Analyse des Liberalismus als gouvernementale Strategie. Im Mittelpunkt dieser Forschungsorientierung steht deswegen die Produktion von Begriffen für die Analytik der liberalen Gouvernementalität. Diese Zentralität der Analyse des Liberalismus und ökonomischer Diskurse für die Definition der Gouvernementalität erlaubt diesen Forschungsgruppen zu untersuchen, was in den Theorien von Agamben und Esposito nur unzureichend erklärt werden kann. Allerdings vermeiden sie dabei, die liberale Gouvernementalität nur als Entwicklung oder neue Phase der kapitalistischen Herrschaftsform – wie im Fall von Hardt und Negri aber auch anderer postoperaistischer AutorInnen – zu interpretieren. Außerdem bedeutet die Rückkehr zu Foucault eine methodologische Wende, die von einer Zentralität der Analyse des Verhältnisses von Macht und Wissen – das schon die Untersuchungen Foucaults prägte – charakterisiert ist. Ein Teil der theoretischen Arbeit von den bereits genannten Forschungsgruppen ist deswegen daran orientiert, Dispositive sichtbar zu machen, die durch Wissen, ExpertInnen und Diskurse das Leben der BürgerInnen reglementieren. Diese Sichtweise führt einen weiteren Unterschied zu Hardt und Negri sowie Esposito in Bezug auf den Kampf gegen und um die Biomacht ein. Dabei geht es weder darum, eine Multitude zu einem politischen Bewusstsein ihrer Potenz zu führen, noch um die Formulierung einer affirmativen Biopolitik. Vielmehr handelt es sich darum, die konkreten Widerstandspraktiken gegen ökonomisches bzw. ökologisches Macht/Wissen zu analysieren und zu unterstützen. Ein anderes Merkmal dieser Untersuchungen ist darin zu suchen, dass die verschiedenen AutorInnen ihre Forschungen kollektiv in Form von Arbeitsgruppen durchführen. Während Agamben und Esposito an der Formulierung eines Paradigmas singulär arbeiten, sind diese WissenschaftlerInnen vernetzt und veröffentlichen kollektiv die Ergebnisse ihre Forschungen. Das impliziert allerdings nicht, dass es sich dabei nur um analytische und empirische Arbeiten handelt. Teile dieser Forschungen zielen auch und vor allem auf die Produktion neuer Begriffe oder auf neue Definitionen alter Konzepte. Die Wende zu einer kollektiven Arbeitsmethode hängt vor allem von der Komplexität der Frage nach dem Verhältnis von Biopolitik und liberaler Gouvernementalität ab. Auch Esposito hat in einem Essay die Notwendigkeit betont, die Forschung über die Biopolitik kollektiv und nicht mehr individuell durchzuführen (vgl. Esposito 2010b). BBPS und 3 Ecologie haben aufgrund der Kürzungen der verschiedenen italienischen Regierungen im Bildungsbereich ihre Forschungstätigkeit mittlerweile eingestellt. Damit stehen sie nicht alleine dar: Viele Forschungsprogramme wurden aufgelöst und junge ForscherInnen haben daher ihre akademische Tätigkeit aufgegeben oder sind ins Ausland emigriert. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass wegen der Krise der Verlage in Italien viele Forschungen – vor allem viele Dissertationen

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– unveröffentlicht bleiben. Diese sozialen und politischen Ereignisse sind Folgen der Ökonomisierung der Universität und somit der ökonomischen Formen der gegenwärtigen Biopolitik, wie schon Marzocca in einer kleinen Schrift betont (vgl. Marzocca 2004). Somit bestätigt die kurze aber wichtige Erfahrung dieser Forschungsgruppen, dass das Forschen in Italien immer eine direkte Konfrontation mit den politischen Interventionen der Regierenden impliziert. Die Betonung der kollektiven bzw. vernetzten Art dieser Forschungen versucht nicht, die Beiträge der einzelnen AutorInnen zu mindern. AutorInnen wie Laura Bazzicalupo und Ottavio Marzocca können als Bezugspunkte für die Forschung zur Biopolitik in Italien wie Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito angesehen werden. Dass sie ihre Forschungen auch innerhalb und durch Forschungsgruppen durchgeführt haben, ist vielmehr als Verdienst ihrer wissenschaftlichen Produktion zu betrachten. Um diese Entwicklung zu verdeutlichen, orientiert sich dieser fünfte Teil der Arbeit weniger an der Analyse der Perspektive jedes/r einzelnen Autors/in. Vielmehr werden die in dieser Perspektive entstanden Begriffe analysiert, die zum Verständnis der inhärenten und paradoxalen Verbindung von Lebenspolitik und Thanatopolitik beitragen können. Diese Auswahl hängt davon ab, dass sich die verschiedenen AutorInnen auf Foucaults Idee der Theorie als »Werkzeugkiste« berufen. Somit wäre es sinnlos, diese Untersuchungen jeweils als organische Theorien vorzustellen, wenn die AutorInnen selbst ihre Arbeit als Produktion von theoretischen Instrumenten konzipieren. Allerdings soll auch vermieden werden, dass diese Forschungen als reine Sammlung von Konzepten dargestellt werden. In diesem Teil werden deswegen vier Punkte analysiert. Im ersten Kapitel wird der Übergang von der Biopolitik zu den Biopolitiken näher erläutert und insbesondere wird die Idee der Logik der Strategie als analytisches Werkzeug für das Verständnis der Biopolitik diskutiert. Der Begriff der Bioökonomie steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Darin wird insbesondere Bazzicalupos Arbeit kritisch diskutiert, die einen relevanten Beitrag für das Verständnis des Verhältnisses von Biopolitik und ökonomischer Rationalität verfasst hat. In dem dritten Kapitel liegt der Fokus auf den Forschungen des Kollektivs Action30 und insbesondere ihrem Begriff des Biofaschismus und der Supernormalität. Die Ambivalenzen der biopolitischen Strategie für die Regierung der Umwelt werden durch die Perspektive der Forschungsgruppe 3 Ecologie analysiert. In diesem Kapitel wird außerdem die Analyse der Widerstandpraktiken dargelegt, die im Kontrast zu den auf der ökonomischen Rationalität basierenden Strategien für die Regierung der Umwelt entstanden sind.

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5.1 V ON DER L OGIK DER S TRATEGIE

DER

D IALEKTIK

ZUR

L OGIK

Der wichtigste Unterschied von den Forschungen zur Biopolitik der Gruppen BBPS, 3 Ecologie und Action30 und den Perspektiven von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito liegt vor allem in ihrer theoretisch-methodologischen Ausrichtung. Während letztere ein Paradigma oder einen Begriff formulieren, der die Ausübung der Macht über das Leben zu erklären versucht, verweisen erstere auf die Foucaultʼsche Idee der Logik der Strategie als analytisches Werkzeug (vgl. Foucault 2004b, 70). Die AutorInnen, die diesen Unterschied am deutlichsten machen, sind Ottavio Marzocca und Laura Bazzicalupo. Marzocca hebt die Probleme der dialektischen Logik hervor, durch die Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito ihre Theorien zur Biopolitik formulieren, und zeigt gleichzeitig die analytischen Vorteile des Prinzips der Logik der Strategie von Foucault auf. Ausgehend von diesem Prinzip formuliert Bazzicalupo die These, dass für eine angemessenere Analytik der Biopolitik eine Verschiebung von Biopolitik im Singular zu Biopolitiken im Plural notwendig sei. Außerdem definiert sie drei Kriterien, um eine politische Form als biopolitisch zu charakterisieren. Diese Aspekte werden im Folgenden eingehend thematisiert. In seiner Arbeit Perché il governo (Marzocca 2007) beschäftigt sich Marzocca unmittelbar mit dem Vergleich zwischen Foucaults Idee der Biopolitik und den italienischen Philosophen, die diese zu »korrigieren« versuchen. Er hält dabei fest, dass ein Unterschied bezüglich des methodisch-theoretischen Prinzips erfasst werden könne. Die Perspektiven von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito seien von einer theoretischen und methodologischen Homogenität geprägt (Marzocca 2007, 81). Damit verweist Marzocca darauf, dass diese Autoren de facto ein dialektisches Prinzip formulieren, das das Funktionieren, den Ursprung und die Entwicklung der Biopolitik wie auch die Ausübung der Biomacht erklären soll. Allerdings, so argumentiert er, führe diese Ausrichtung zur Relativierung von einigen Dimensionen oder Aspekten der Biopolitik, die nicht in dem ausgewählten paradigmatischen Rahmen verstanden werden könnten. Um die Vielfältigkeit der Politik des Lebens erfassen zu können, ist Marzocca zufolge eine Rückkehr zum methodologischen Ansatz Foucaults notwendig (ebd., 82). Für diesen sei die Suche nach einer logischen Kohärenz innerhalb der Diskurse der Macht nicht relevant (ebd.). Die Erforschung eines theoretischen (dialektischen) Prinzips, das alles erklären kann – wie z.B. die Produktion von nacktem Leben oder die Immunisierung – führe in eine Sackgasse, da in der Ausübung der Macht auf das Leben widersprüchliche oder gegenseitige Logiken sehr gut zusammen existieren könnten (ebd.). Marzocca konstatiert im Anschluss an Foucaults Forschungsmethodologie daher, dass sich die

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biopolitischen bzw. modernen Machtverhältnisse nicht durch eine dialektische Logik untersuchen ließen. Deswegen hat Foucault ihm zufolge den Vorrang von einer Logik der Strategie vor der Logik der Dialektik für die Analytik der Biopolitik formuliert (vgl. ebd.; auch Foucault 2004b, 70). Logik der Strategie bedeutet hierbei, zu analysieren, wie und durch welches Wissen und welche Dispositive die verschiedenen Regierungsformen ihre Macht über das Leben ausüben. Diese Pluralität der Formen der biopolitischen Regierung schließt daher aus, dass ein pauschales Prinzip oder eine pauschale Logik oder Matrix der Biopolitik für das Verständnis derselben verwendet werden kann. Der Vorzug der Logik der Strategie als methodisch-theoretisches Prinzip hat Foucault Marzocca zufolge zur Analyse der Regierungstechniken geführt. Deswegen muss auch für Marzocca die Biopolitik im Rahmen einer Analytik der Gouvernementalität untersucht werden (vgl. Marzocca 2007), um zu verdeutlichen, wie die verschiedenen gegenseitigen Politiken über das Leben verbunden werden können. Das Bedürfnis, eine Logik der Strategie weiterzuverfolgen, charakterisiert auch die Forschung zur Biopolitik der Philosophin Laura Bazzicalupo, wie sie in ihrem Hauptwerk Il governo delle vite (Bazzicalupo 2006) betont. Für sie soll die Biopolitik als analytischer Begriff konzipiert werden, dessen Aufgabe in dem Verständnis der Verhältnisse von Wahrheitsregimen und politischen und ökonomischen Regierungspraktiken besteht (ebd., 34). Wie Marzocca hält daher auch Bazzicalupo im Anschluss an Foucault fest, dass eine Analytik der Biopolitik die Interaktion von verschiedenen Modellen der Regierungskunst bzw. der Gouvernementalität begreifen müsse. Insofern hebt sie hervor, dass dieser Begriff bei Foucault in dem Moment entstehe, in dem er den Krieg durch die Strategie als Erklärungsmodell für die Analyse der Machtverhältnisse ersetze (ebd., 35). Die Strategie weise auf eine Rationalität hin, die vor allem die Ökonomie durch die Berechnung und Optimierung der Kosten in Bezug auf ein Ziel kennzeichne. Bazzicalupo betont daher, dass diese Rationalität komplexe Machtverhältnisse impliziere, die sich nicht auf das Modell Souverän/Untertanen, Einschluss/Ausschluss reduzieren ließen (ebd.). Für Bazzicalupo bedeutet Analytik der Biopolitik deshalb insbesondere, die verschiedenen Formen dieser Rationalität zu analysieren, die jeweils die politischen Praktiken der Regierung inspirieren. Bazzicalupo und Marzocca folgen insofern Foucaults theoretischer Intuition, nach der die Biopolitik innerhalb der Entwicklung und Variationen der Gouvernementalität untersucht werden müsse. Wie schon Foucault sind auch sie überzeugt, dass in der Genealogie der Formen der Gouvernementalität das Wissen der Ökonomie eine grundlegende Rolle spiele (vgl. Marzocca 2007, 89 und Bazzicalupo 2006, 42). Bazzicalupo thematisiert außerdem die Unterschiede der operativen Richtungen der Biopolitik. Zum einen könne die Biopolitik mit dem Phänomen der Biologisie-

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rung des Politischen und der gegenseitigen, aber komplementären Politisierung des Biologischen verbunden werden. Diese Konzeption der Analytik der Biopolitik kennzeichnet für Bazzicalupo die Forschungen von Agamben und Esposito sowie die Formulierung der Biopolitik in Foucaults In Verteidigung der Gesellschaft (ebd., 39). Zum anderen gebe es eine andere Form der Biopolitik, die ihren Ausgangspunkt in Foucaults Vorlesungen über die Geschichte der Gouvernementalität habe und durch den ökonomischen Imperativ der Optimierung des Lebens charakterisiert sei. Zwar erscheine diese Form der Biopolitik nicht so »dramatisch« wie die zuvor genannte, doch können und müssen Bazzicalupo zufolge auch in dieser ökonomischen Biopolitik thanatopolitische Folgen untersucht werden (ebd., 40). Im Anschluss an diese Forschungsorientierung analysieren die Forschungsgruppen BBPS, 3 Ecologie und Action30 vor allem, wie diese durch die ökonomischen Dispositive entwickelten Formen der Biopolitik funktionieren und wie die verschiedenen »Biopolitiken« miteinander verbunden sind. Insofern heben diese Forschungen hervor, dass die verschiedenen Biopolitiken nicht im Gegensatz zueinander stehen. Vielmehr ist zu untersuchen, wie die Ökonomisierung des Lebens mit der Biologisierung des Politischen verflochten ist und wie und warum diese Politiken des Lebens, die auf Optimierung zielen, zu neuen und noch weitergehenden Diskriminierungen und Ausschließungen von Gruppen, Körpern, und sogar Teilen der eigenen psychophysischen Struktur oder bestimmter Gen-Gruppen führen. Dazu kommt das Bedürfnis, diese Form der Biopolitik nicht nur theoretisch, sondern vor allem militant zu erforschen. Die Verschiebung von der Biopolitik zu Biopolitiken wird auch von Esposito in seiner Einführung zu Bazzicalupos Arbeit Il governo delle vite thematisiert. Zum einen lobt er die Arbeit Bazzicalupos und betont deren wissenschaftliche Relevanz, zum anderen kritisiert er aber ihre ambi-(multi-)valente Idee der Biopolitik. Er ist zudem nicht davon überzeugt, dass Bazzicalupo den Begriff der Biopolitik konsequent von dem der Bioökonomie unterscheidet. Für Esposito führt Bazzicalupos Formulierung zu einer Pauschalisierung des Begriffs der Biopolitik (Esposito 2006, X). Dieser sollte, so seine Argumentation, im Unterschied dazu noch deutlicher definiert werden, um verstehen zu können, welche politischen Formen als biopolitisch markiert werden könnten (ebd., XII). Diese Kritik ist allerdings unzureichend. Die Idee einer deutlichen – hierbei steht deutlich für begrenzt – Definition der Biopolitik widerspricht den analytischen und theoretischen Voraussetzungen, in denen dieser Begriff bei Foucault entstanden ist. Wenn die Verschiebung in der Ordnung des Politischen, die von ihm als Biopolitik begriffen wird, in der unmittelbaren Reglementierung des Lebens besteht, kann die Biopolitik nicht nur auf direkte Interventionen auf der biologischen Ebene reduziert werden, wie er in Terza persona argumentiert (Esposito 2007). Die Reglementierung des Lebens bedeutet vor allem, dass sich die Politik um jede Ebene des Lebens kümmern muss. Deswegen

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sind, wie Bazzicalupo und Marzocca zutreffend hervorheben, auch die ökonomischen und sozialen Verhaltensweisen der Menschen Aspekte der Biopolitik. Diese Auseinandersetzung zwischen Esposito und Bazzicalupo erlaubt es, die analytischen Vorteile der Logik der Strategie als methodisch-theoretisches Prinzip für biopolitische Forschungen zu erfassen. Zunächst lassen sich dadurch die unterschiedlichen Diskurse und Praktiken untersuchen, die ein bestimmtes Dispositiv der Regulierung des Lebens bestimmen. Die Regulierung der biologischen Prozesse wirkt sich nicht nur durch direkte Interventionen auf der biologischen Ebene aus, sondern auch durch die Bildung einer bestimmten ökonomischen Führung. Der Idee einer eindeutigen Formulierung des Begriffs der Biopolitik bei Esposito geht eine Konzeption des Lebens voraus, in der die Biopolitik allein von der Interaktion von Biologischem und Politischem bestimmt wird. Wenn allerdings das Leben als Ergebnis von diskursiven Praktiken und politischen Dispositiven betrachtet wird, müssen auch andere heterogene aber komplementäre – bzw. strategische – Praktiken und Diskurse untersucht werden, die das Leben der Menschen führen, kontrollieren, bilden, bestimmen, prägen. Deswegen ist die Verschiebung von Biopolitik zu Biopolitiken nicht nur zutreffend, sondern auch notwendig. Ein anderer analytischer Vorzug der Logik der Strategie besteht darin, dass sie die Immanenz und Prekarität der biopolitischen Ordnung sichtbar macht. Die Politik auf den bíos hängt immer von dem Wissen und den Kenntnissen ab, die darüber produziert werden. Es geht dabei allerdings nicht nur um biologisches Wissen, sondern auch um psychologische Kenntnisse, Lehren der ökonomischen Führung usw. Jede neuen Kenntnisse und jeder Diskurs über das Leben und über das Handeln der Lebewesen führt zu Veränderungen und Variationen der biopolitischen Ordnung. Ausgehend von dieser Forschungsausrichtung untersucht BBPS, wie die ökonomischen Diskurse und Praktiken den bíos prägen. Gleicherweise untersucht 3 Ecologie, wie Politiken des Lebens und die Regierung der ökologischen Frage miteinander verbunden sind. Dieser Ansatz ist sehr fruchtbar, da er zu einer interdisziplinären Analytik und zur Produktion neuer Begriffe und Forschungsfelder führt. Im Gegensatz dazu sind die Thesen von Agamben, Hardt, Negri und Esposito lediglich in philosophischen Diskursen eingeordnet. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Esposito und den WissenschaftlerInnen von BBPS, 3 Ecologie und Action30 betrifft die Rezeption der Vorlesungen Foucaults aus den Jahren 1978 und 1979, die in Deutschland als Geschichte der Gouvernementalität I und II bekannt sind. Für Esposito bieten diese Vorlesungen keinen relevanten Beitrag zur Definition der Biopolitik (ebd.). Im Gegensatz dazu stellen sie den Ausgangspunkt der Forschungen von Bazzicalupo, Marzocca und anderen SozialwissenschaftlerInnen der schon genannten Forschungsgruppen dar (vgl. Bazzicalupo 2006; Marzocca 2007; Brandimarte u.a. 2006; Amendola u.a. 2008.).

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5.1.1 Kriterien für die Biopolitiken In ihrer Arbeit Il governo delle vite thematisiert Bazzicalupo zudem nicht nur die Idee, dass sich die Biopolitik in verschiedenen Formen entwickelt. Sie definiert auch drei Kriterien für die Kategorisierung eines Diskurses und Dispositivs als biopolitisch. Diese Heuristik macht im Unterschied zur Perspektive von Agamben und Esposito einen deutlichen Unterschied zwischen Souveränität und Biopolitik als Formen der Ausübung der Macht. Das erste Kriterium Bazzicalupos besteht in der Annahme, dass jede Biopolitik an dem Ziel der Rettung orientiert sei. Das zu Rettende sei dabei das Leben der Untertanen. Darin sieht Bazzicalupo eine Verschiebung gegenüber der alten Ordnung der Souveränität. Während letztere durch die Frage der Legitimität geprägt gewesen sei, lasse sich die neue Ausübung der Macht anhand des Kriteriums Scheitern/Erfolg beurteilen (Bazzicalupo 2006, 37). Der Erfolg könne dadurch gemessen werden, dass die BürgerInnen ein sicheres Leben führen. Die performative Funktion der Wahrheitsdiskurse stellt für Bazzicalupo das zweite Kriterium für die Definition einer Biopolitik dar. Damit verweist sie auf das Verhältnis von Macht und Wissen. Für sie ist dieses – wie bei Foucault – nicht statisch, sondern historisch veränderbar. Zentral dabei ist die Annahme, dass jede Regierung ihr Handeln an einem bestimmten Wahrheitsregime ausrichtet. Darunter werden die diskursiven Praktiken verstanden, die als Wahrheit fungieren und dadurch die Subjektivierungsprozesse bestimmen. Mit anderen Worten: Die Wahrheiten sind Diskurse, die die Subjektivierungsprozesse prägen und das Handeln der Regierung orientieren. Deswegen ist es für Bazzicalupo grundlegend, zu verstehen, wie die Individuen mit diesen »wahren« Diskursen verbunden sind (ebd.). Die Regulierung des Verhältnisses zwischen Regierenden und Regierten durch individualisierende Normen wird von Bazzicalupo als drittes Kriterium der Biopolitik definiert. Dadurch hebt sie einen anderen grundlegenden Unterschied von Biopolitik und Souveränität hervor. Letztere übe ihre Macht durch das Recht aus und operiere somit durch Gesetze, die immer generisch seien. Im Gegensatz dazu stünden Normen im Zentrum der Ausübung der Biomacht, die das Individuum als Singularität in seinen konkreten täglichen Führungen prägen würden. Deswegen würden sich in der Zeit der Biopolitik verschiedene und heterogene Mechanismen entwickeln, die jedem einzelnen in seiner Singularität zur Verfügung stünden (ebd., 38). In dieser Individualisierung der Regierungspraktiken erfasst Bazzicalupo allerdings ein Paradox: Je individueller die Normen seien, desto wichtiger werde die Generalität des Biologischen. Bazzicalupo verweist hierbei darauf, dass die individualisierenden Normen immer an statischen Werten orientiert seien, die das (natürliche) Wesen der Art Mensch bestimmen würden (ebd., 39). Außerdem bemerkt Bazzicalupo, dass die Normen im Unterschied zu den Gesetzen flexibel seien. Die-

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se Charakteristik hänge davon ab, dass der Gegenstand der Normen die Führung der Menschen sei, die verschiedene Lebensbereiche betreffe. Es gibt z.B. Normen für die Hygiene, für die Verbesserung der Arbeitsleistung, für Nachbarschaft usw. Die Idee der individualisierenden Norm, die alternativ zu oder parallel zum Rechtscode operiert, übernimmt Bazzicalupo von Foucault; neu an ihrer Definition ist aber die Charakterisierung der individualisierenden Norm als »orthopädische« Intervention (ebd.). Damit hebt sie hervor, dass die Biopolitiken immer auf die Bildung der Subjekte zielen. Diese Bildung – oder dieser Subjektivierungsprozess – betreffe sowohl die biologische Seite als auch die soziale, psychologische und ethische Seite des menschlichen Daseins (ebd.). Die Definition dieser drei Kriterien stellt eine der wichtigsten Verdienste der Forschung Bazzicalupos dar, da sich die Forschung zur Biopolitik dadurch von der Formulierung einer pauschalen und überhistorischen Definition der Biopolitik – wie z.B. bei Agambens Begriff der Biopolitik – emanzipieren kann. In der Perspektive Agambens ist es de facto unmöglich, die Politik von der Biopolitik, den antiken von dem modernen politischen Diskurs zu unterscheiden, während die Kriterien Bazzicalupos eine Differenzierung erlauben, da sie auf eine Heterogenität der biopolitischen Praktiken und Strategien hinweisen. Dazu kommt, dass diese auch eine Analyse der Interaktion von verschiedenen Rationalitäten oder Diskursen ermöglichen, die die Politiken des Lebens prägen. Insofern bieten diese Kriterien einen weiteren theoretischen Vorteil auch im Vergleich zu Espositos Idee der Biopolitik als Immunisierung des Politischen. Zwar erfasst das Paradigma der Immunität die zwei grundlegenden Bedeutungen der Biopolitik, jedoch existieren, wie bereits erwähnt, auch Politiken des Lebens, die sich nicht durch dieses Paradigma verstehen lassen.

5.2 B IOPOLITIK UND Ö KONOMIE Die Untersuchungen der Forschungsgruppe BBPS gehen von der grundlegenden Annahme aus, dass die Biopolitik vor allem eine Bioökonomie sei (Amendola u.a. 2008, 10). Es handelt sich dabei um eine radikale Wende in der Forschung zur Biopolitik in Italien, die diese Forschungsperspektive von den Theorien von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito abgrenzt. Dafür ist das Verständnis des Verhältnisses von der Entwicklung der Biopolitik und ökonomischen Diskursen als Wahrheitsregime grundlegend. In der Einführung ihrer Arbeit Biopolitica, Bioeconomia e processi di soggetivazione verweist BBPS auf Foucaults Vorlesungen, in denen die These formuliert wird, dass die Biopolitik im Rahmen einer Analytik der Gouvernementalität zu untersuchen sei (vgl. ebd. und Foucault 2004, 43). Nach dieser Forschungsorientie-

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rung stellt vor allem der Markt das spezifische Wahrheitsregime dar, das eine Politik über das Leben ermöglicht. Wie schon erwähnt, sind die wichtigsten Mitglieder dieses Forschungszentrums die Philosophin Laura Bazzicalupo, die als erste in Italien den Begriff der Bioökonomie in ihren Schriften entwickelt, der Rechtsphilosoph Adalgiso Amendola und die Soziologen Federico Chicchi und Antonio Tucci. An den Forschungen des Zentrums haben allerdings auch andere international bekannte WissenschaftlerInnen wie Sandro Mezzadra, Salvo Vaccaro, Ottavio Marzocca und Christian Marazzi teilgenommen. In der schon zitierten Arbeit von BBPS wird das Paradigma der Biopolitik in vier Bereichen analysiert, die auch die Tätigkeit des Forschungszentrums orientieren: die Krise des Rechts und der rechtlichen Sprache, die Bioökonomie, die Subjektivierungsprozesse und die neuen Formen des politischen Handelns. Die AutorInnen versuchen dieses Ziel sowohl in Form des Sammelbands als auch durch eigenständige Monographien zu verfolgen. Allerdings lässt sich dabei nicht von einer philosophischen »Schule« reden. Die verschiedenen AutorInnen teilen jedoch die Idee, dass die Analyse des Politischen und des Sozialen neuer Begriffe und Paradigmen bedarf. Dies wird durch die Annahme ergänzt, dass die aktuellen Produktionsverhältnisse unmittelbar auf der Produktivität des Lebens basieren. Infolgedessen müsse verstanden werden, welche Begriffe für die Analyse nützlich seien und wie in Bezug auf die Veränderungen des Ökonomischen, des Politischen und des Sozialen gehandelt werden könne, um die Dispositive der Ökonomie selbst in Frage zu stellen (ebd.). Durch die Beiträge der verschiedenen WissenschaftlerInnen versucht dieses Forschungszentrum, eine »Kartographie der Probleme« zu zeichnen (ebd., 11), die mit den den ökonomischen Diskursen zugrunde liegenden biopolitischen Strategien verbunden seien. Es gehe dabei um Problematiken, die die Redefinition des Rechts, die Krise der Souveränität wie auch die bioökonomischen Subjektivierungsprozesse und neue Formen des politischen Handelns beträfen. Um diese Forschungsorientierung umsetzen zu können, lehnen die WissenschaftlerInnen der BBPS jede essentialistische Vorstellung der Biopolitik ab (ebd., 11). Der wichtigste Beitrag der AutorInnen der BBPS besteht in der Definition eines kritischen Begriffs der Bioökonomie. Unter dem Begriff der Bioökonomie verstehen sie zunächst eine »Form« der Biopolitik, in der sich die Regierung des Lebens vor allem durch die Dispositive, die Sprache und die Logik des Ökonomischen entwickelt. Im Rahmen dieser ökonomischen Gouvernementalität hätten die Subjekte eine aktive Rolle in der Kontrolle, Regulierung und Verwertung ihres Lebens, ihrer Zeit und ihrer Körper (vgl. Bazzicalupo 2006, 112; Chicchi 2008, 143, 144). Die Bioökonomie bildet somit ein analytisches Werkzeug für das Verständnis und die Analytik der Ökonomie als Wahrheitsregime, durch das das Leben der ein-

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zelnen orientiert wird. Allerdings wird auch untersucht, wie die sozialen Akteure zu den Orientierungs- und Regulierungsprozessen beitragen. Es handelt sich somit um eine Machtform, die die Partizipation und Selbstbestimmung der Subjekte als konstitutives Element erfordert. Bazzicalupo redet daher von einer demokratischen Form von Biopolitik. Allerdings impliziert hierbei Demokratie keinesfalls, dass Gewalt, Diskriminierungen und die Ausschließung von Teilen der Bevölkerungen verschwinden. Demokratie in der Bioökonomie ist aus dieser Perspektive keine Emanzipationsetappe, sondern definiert eine bestimme Entwicklung der Machtverhältnisse. Es ist wichtig zu betonen, dass die Fokussierung auf die ökonomische Dimension der Biopolitik auch zur einer anderen wichtigen Verschiebung in der Forschung führt. In dieser Perspektive liegt die grundlegende Ambivalenz nicht mehr in der Verbindung von Politik des Lebens und Thanatopolitik. Vielmehr ist konstitutiv für das Regime der Biopolitik das aktive Teilhaben an der Bioökonomie und zugleich das passive Leiden darunter. Um den Begriff der Bioökonomie angemessen zu verstehen, wird in diesem Kapitel das Hauptwerk von Laura Bazzicalupo Il governo delle vite analysiert, das diese Forschungsperspektive systematisch entwickelt. Für eine Einbettung dieser Theorie in die internationale Debatte ist es notwendig, in dem ersten Abschnitt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Konzeptionen der Bioökonomie von anderen AutorInnen zu geben. Diese Zusammenfassung erlaubt, den Unterschied und das Verdienst von Bazzicalupos Version der Bioökonomie zu begreifen. Im zweiten Abschnitt wird ihre Genealogie der ökonomischen Diskurse und ihre biopolitische Bedeutung dargelegt und im dritten Abschnitt wird ihre Darstellung der Regime der Bioökonomie kritisch rekonstruiert. 5.2.1 Diskurse über Bioökonomie Die Verwendung des Begriffs Bioökonomie hat in den letzten Jahren an Intensität gewonnen. Ähnlich wie beim Begriff der Biopolitik ist allerdings der Gebrauch eher heterogen.2 Es lassen sich dabei aber zwei Interpretationslinien erkennen. Die erste betrifft ein spezifisch wirtschaftliches Entwicklungsprogramm, das auf einem möglichst hohen Gewinn der Bio-Tech-Investitionen beruht. In diesem Kontext wird der Begriff der Bioökonomie verwendet, um Prognosen über die Zukunft zu verfassen. Die Aufgabe von diesen Berichten und Projekten besteht vor allem darin, die wirtschaftliche Potenzialität der Forschung über Molekularbiologie und ihre technischen Anwendungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ein berühmtes – und oft zi-

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Für eine ausführliche Darstellung des Gebrauchs des Begriffs Bioökonomie siehe den interessanten Essay von Stefan Helmreich Species of Biocapital (Helmreich 2008).

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tiertes und analysiertes – Beispiel dieser wissenschaftlichen Produktion ist der OECD-Bericht Bioeconomy to 2030 (OECD 2006), der als Modell auch für nationale Programme der Entwicklung der Biotechnologie gilt. Diese berufen sich auf die Notwendigkeit einer nachhaltigen ökonomischen Entwicklung, um den Wohlstand der Bevölkerungen zu garantieren. Nach dieser Ansicht ist dieses Ziel durch die Entwicklung biologischer Ressourcen erreichbar. Die andere Auffassung des Begriffs der Bioökonomie ist in der kritischen Analyse der Produktionsverhältnisse, die mit der Entwicklung der Pharmaindustrie und der Biotechnologie verbunden sind, zu suchen und wird vor allem in den Sozialwissenschaften verwendet. Dort wird nicht nur von Bioökonomie, sondern auch von Biokapital, Biowerten und Biokapitalismus geredet. Hierbei geht es weniger um eine hoffnungsvolle Prognose über die Zukunft. Vielmehr werden die Veränderungen und Folgen der gegenwärtigen Form des Kapitalismus analysiert, die auf die Produktivität des Lebens als solchem zurückgeführt wird. Die wichtigsten theoretischen Bezugspunkte dieser Forschungsrichtung sind Foucaults Analytik der Biopolitik und Marxʼ Kritik der Politischen Ökonomie. Nikolas Rose und Kaushik Sunder Rajan sind die wichtigsten Autoren, die eine kritische Analyse der Bioökonomie formuliert haben. In seiner berühmten Schrift The politics of life itself verwendet Rose den Begriff der Bioökonomie, um eine neue Phase der Biopolitik zu charakterisieren, in der die Produktion von Wissen über das Leben und von Technologie für die Optimierung des Lebens mit den ökonomischen Interessen von Investoren verflochten sind (Rose 2007, 32f.). Infolgedessen kann Rose zufolge die Ökonomie die Forschung über den bíos und die Entscheidungen der sozialen Akteure, die durch diese Kenntnisse ihre Subjektivität bilden, orientieren und beeinflussen (ebd., 34). Allerdings gehe es weniger um einen eindeutigen Prozess als um eine Interaktion von Biowissenschaften und Ökonomie (ebd., 63-64). So wie die Wirtschaft einen Einfluss auf die wissenschaftliche Forschung ausübt, führen für Rose diese Kenntnisse und die Erwartungen über prognostizierte Entwicklungen zu Veränderungen in den Produktionsverhältnissen (vgl. ebd., 151-152). Roses Untersuchung macht insofern das Entstehen einer neuen Subjektivität sichtbar, die nicht unter den biopolitischen Entscheidungen und den institutionellen Prozessen passiv leidet. Durch Vereine und Selbsthilfegruppen spielen die neuen biopolitischen Subjekte eine aktive Rolle in der Organisation der Politiken des Lebens (vgl. Rose 2006). Ausgehend von einer empirischen Untersuchung über die Genomforschung in Indien und den USA formuliert Sunder Rajan die These, »daß die Lebenswissenschaften eine neue Facette und eine neue Phase des Kapitalismus darstellen und daß die Biotechnologie untrennbar mit diesem Wirtschaftssystem verbunden ist« (Sunder Rajan 2009, 14, Herv. i. O.). Diese neue Phase des Kapitalismus wird von Sunder Rajan als »Biokapitalismus« definiert. Sunder Rajan knüpft dabei an die

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Kritik der Politischen Ökonomie von Marx und die Foucaultʼsche Analytik der Biomacht an. Das Ziel seiner Forschung besteht darin, die sozial asymmetrischen Folgen der Entwicklung der Bio-Tech-Industrie zu zeigen. Einerseits wachse in den USA die Möglichkeit einer Verbesserung der Arzneimittel, während sich andererseits neue Formen von Ausbeutung und Enteignung von »anderen« – in diesem Fall der Versuchungspersonen und ihrer Biowerte in Indien – beobachten ließen, die mit dieser neuen »Bio«-Entwicklung des Kapitalismus verbunden seien (ebd.). Sehr relevant in dieser Forschungsorientierung sind zudem die Thesen von Melinda Cooper, die sie in ihrer Arbeit Life as surplus darlegt (Cooper 2008). Cooper untersucht darin kritisch die Überlagerung von neoliberalen Umstrukturierungen des Wohlfahrtsstaats und Entwicklungen in der Biotech-Industrie in den USA. Es handelt sich dabei um eine Forschung, die vor allem die (bio-)politische Funktion des Paradigmas der Selbstorganisation sowohl innerhalb der neuen Biowissenschaften als auch in den neoliberalen Diskursen über einen ökonomischen Ethos zeigt. Cooper zufolge führt diese Konvergenz zu einer Definition von neuen Machtverhältnissen, der der Prozess der Finanzialisierung des Lebens zugrunde liegt (vgl. ebd.). Im Unterschied zu diesen Konzeptionen der Bioökonomie, in denen dieser Begriff ausgehend von einer empirisch-forschungsstrategischen Ausrichtung formuliert wird, verwenden die AutorInnen der BBPS den Begriff der Bioökonomie als theoretisch-genealogisches Instrument. Dadurch möchten sie sowohl die aktuelle Kartographie der Biopolitik analysieren – dieses Ziel teilen sie mit Rose und Sunder Rajan – aber auch wie sich historisch die Interaktion des Politischen, Biologischen und Ökonomischen entwickelt hat. Der wichtigste Beitrag zur Definition eines theoretisch-genealogischen Begriffs der Bioökonomie ist die Arbeit Bazzicalupos Il governo delle vite, dessen Untertitel »Biopolitik und Ökonomie« lautet. Diese Arbeit stellt einen wichtigen Bezugspunkt für viele AutorInnen dar, die für die Forschungsgruppe BBPS Untersuchungen durchgeführt haben (vgl. Chicchi 2008). Der wissenschaftliche Wert dieser Analyse liegt darin, dass die Autorin eine ausgezeichnete genealogische Forschung durchführt, in der die historischen Phasen und die Aktualität der biopolitischen Regierung durch die Ökonomie und das ökonomische Wissen rekonstruiert werden. Vor allem fokussiert sich Bazzicalupo darauf, wie WirtschaftswissenschaftlerInnen ausgehend vom 18. Jahrhundert das Leben und die »Vitalität« konzipiert haben. Die Arbeit lässt sich auch als eine Fortsetzung und Erweiterung der Analytik der Gouvernementalität Foucaults lesen. Allerdings handelt es sich dabei weniger um eine bloße Ergänzung. Vielmehr entwickelt sie Foucaults Intuitionen originell weiter und widmet sich der Frage nach der ökonomischen Subjektivität, die in Foucaults Analytik nur am Rand thematisiert wird.

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Bazzicalupos Forschungsziel besteht außerdem in der Rekonstruktion der Verbindung von nomos – für sie die Institutionen, durch die die Macht über das Leben ausgeübt wird – und bíos – das Leben mit seinen Bedürfnissen und Wünschen –, indem sie die Entwicklung der ökonomischen Phänomene und der Diskurse über die Ökonomie untersucht (Bazzicalupo 2006, 40). Die Notwendigkeit einer solchen Genealogie liege darin begründet, dass in unserer Gegenwart die Logik der Regierung eine ökonomische sei und gleichzeitig die Ökonomie das privilegierte Interventionsfeld der Regierung selbst sei (ebd., 57). Die Gegenwart ist für sie auch die Zeit, in der die traditionellen politischen Vermittlungen zwischen bíos und nomos – Leben und Macht – in eine Krise geraten sind (ebd., 58). Um diese Krise verstehen zu können, ist ihr zufolge zu untersuchen, wie der bíos innerhalb der Diskurse und der Theorien des Ökonomischen konzipiert und organisiert wurde und wird. Für Bazzicalupo sind die dialektische Philosophie zum einen und die Politische Ökonomie zum anderen als die wichtigeren Traditionen zu betrachten, die dieses Verhältnis geprägt haben (ebd.). Im Mittelpunkt ihrer Genealogie steht deswegen die Frage, wie die verschiedenen AutorInnen dieser Traditionen das bíos konzipiert haben. Hierbei muss bíos sowohl als biologisches als auch als politisches Leben interpretiert werden. Wie für Esposito ist auch für Bazzicalupo ein nacktes oder rein biologisches Leben sinnlos. Das Leben ist für beide immer ein bíos, d.h. das Ergebnis von diskursiven Praktiken, das politische Folgen hat. 5.2.2 Genealogie des Ökonomischen Wie schon im vorherigen Abschnitt erwähnt, formuliert Bazzicalupo in ihrer Arbeit die These, dass sich die Biopolitik in verschiedene Richtungen entwickeln könne, da ihr nicht die dialektische, sondern die strategische Logik zugrunde liege. Diese Konzeption der Biopolitik eröffne die Möglichkeit einer Analyse der Ökonomie und der Diskurse der Ökonomie, die die Bildung und die Regulierung der Individuen und der Bevölkerungen bestimmten. Die Existenz einer ursprünglichen und konstitutiven Verbindung von Leben und Ökonomie kann Bazzicalupo zufolge intuitiv erfasst werden (Bazzicalupo 2006, 40). Die Ökonomie lasse sich auch als Ort der zwischenmenschlichen »Kämpfe ums Überleben« (ebd.) interpretieren. Anders gesagt, erhalten die Menschen durch ihre ökonomischen Tätigkeiten die Mittel und die Ressourcen für die Selbsterhaltung ihres Lebens und die Erfüllung ihrer Wünsche. Deswegen sei eine am Leben orientierte Politik immer mit der ökonomischen Dimension verbunden. Die Analyse des Verhältnisses von Biopolitik und Ökonomie ist für Bazzicalupo außerdem wegen eines weiteren Grundes von Bedeutung. Wenn die Entwicklung einer biopolitischen Gouvernementalität mit einer strategischen Ausübung der

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Macht verbunden ist, müssen notwendigerweise die Wissensformen und Wahrheitsregime untersucht werden, die diese Rationalität geprägt haben. Foucault selbst behauptet, dass das ökonomische Wissen die strategische Rationalität bestimmt hat. In seiner Genealogie der Gouvernementalität spielt die Interaktion von Ökonomie und Regierungskunst die Hauptrolle in der Definition der Machtstrategien (vgl. Foucault 2004b, 30). Seine Forschungen sind allerdings fragmentarisch und unsystematisch geblieben. Daraus resultiert die wissenschaftliche Notwendigkeit, seine Intuitionen weiterzuverfolgen. Bazzicalupos Genealogie hat ihren Ausgangspunkt in den ersten Diskursen über die Ökonomie, die im 18. Jahrhundert entstanden sind.3 Sie hebt zunächst hervor, dass diese ersten modernen Analysen des Ökonomischen durch ein Zusammentragen von singulären und heterogenen Verhaltensweisen und Praxen charakterisiert seien. In diesen Analysen werde beschrieben, wie in verschiedenen konkreten Situationen die einzelnen ihre Wünsche und Bedürfnisse durch wirtschaftliche Operationen erfüllten (Bazzicalupo 2006, 60f.). Im Zentrum dieser Diskurse stehe die Idee einer radikal-empirischen Subjektivität, die jeden transzendentalen Essentialismus ablehne. Es handelt sich dabei Bazzicalupo zufolge um eine an der Praxis orientierte Anthropologie (ebd., 62). Die Zentralität dieser radikal-empirischen Darlegung der ökonomischen Subjektivität in der ersten Phase der ökonomischen Diskurse erlaubt für die Autorin zwei wichtige Annahmen in Bezug auf die Biopolitik zu thematisieren. Erstens stelle diese Subjektivität ein politisches Problem dar, da die einzelnen als ökonomische Subjekte ihre Praxis von keinem etablierten Modell orientieren ließen und diese Subjektivität deswegen schwierig zu kontrollieren sei (ebd., 62). Daraus resultiere die Notwendigkeit einer Regulierung oder Regierung der ökonomischen Phänomene und Subjekte. Zweitens würden diese Diskurse zeigen, wie bíos und Ökonomie konstitutiv verbunden seien. In dem Maße, in dem die ökonomische Praxis am Entstehen von lebendigen Wünschen und Bedürfnissen orientiert ist, konzipiert Bazzicalupo zufolge das Individuum als ökonomisches Subjekt sein Dasein im Gegensatz zu transzendentalen Vorstellungen. Es könne somit behauptet werden, dass dem ökonomischen Subjekt »Vitalität« zugrunde liege, da es sein Handeln an »vitalen« Wünschen und Bedürfnissen ausrichte (ebd., 63-64).4 Es sei auch zu berücksichtigen, dass die ersten Diskurse über die Ökonomie parallel mit der modernen Wissenschaft entstanden seien, die die essentialistischen und metaphysischen Vorstellun-

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Bazzicalupo zitiert Autoren des 18. Jahrhunderts wie Condillac, Turgot, Galiani, Brudel. Bazzicalupo zufolge kann man die Theoretisierung von dieser Idee der Subjektivität als radikales und empirisches Dasein vor allem in der Philosophie von David Hume erfassen (vgl. Bazzicalupo 2006).

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gen des Menschen ablehnten. Wie bei Hobbes beruhe auch die Anthropologie der ersten Ökonomen auf Naturgesetzen, die aus empirischen Beobachtungen deduziert wurden.5 Die Genealogie Bazzicalupos macht zudem eine spezifische Zirkularität zwischen ökonomischen, politischen und biologischen Diskursen sichtbar. Die ursprüngliche Vitalität der ersten ökonomischen Subjekte wird Bazzicalupo zufolge von der Regierung durch zwei wichtige Instrumente reglementiert: das Geld und die Werttheorie. Das Geld als Medium der wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglicht für sie die Definition einer logischen Ordnung der Ökonomie. Als konventionaler Index fördere und fordere deswegen das Geld die Politik als das, was die Werte von Gütern und Leistungen bestimme. Allerdings führt Bazzicalupo zufolge das Entstehen des Gelds – oder besser gesagt: der Geldpolitik – zu einer grundlegenden biopolitischen Wende. Durch die Geldpolitik und das spätere Akkumulationskapital wird – so ihre Argumentation – die Erfüllung der vitalen Bedürfnisse und Wünsche suspendiert (Bazzicalupo 2006, 66-67). Um diese Aufhebung der Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen zu artikulieren, benutzt Bazzicalupo den Begriff differimento, der auf Deutsch mit »Aufschub« oder »Differieren/Verschieben« übersetzt werden kann. Damit verweist sie darauf, dass nun die ökonomische Tätigkeit nicht mehr auf die Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen, sondern auf die Akkumulation von Geld abzielt. Die Erfüllung werde auf einen späteren Moment verschoben. Anders gesagt, wird die unmittelbare Befriedigung oder Erfüllung des Begehrens suspendiert, damit das Subjekt mittels eines Investments in eine neue ökonomische Tätigkeit seinen Verdienst – seine Möglichkeit, Bedürfnissen nachzukommen – vermehren kann. Bazzicalupo zufolge ermöglicht die Verschiebung der Befriedigung des Begehrens das Entstehen einer Macht, die das Verhältnis von bíos (Wünsche und Bedürfnisse) und Ökonomie reglementiert (ebd.). Die Werttheorie ermögliche somit eine Klassifizierung und Rationalisierung der Bedürfnisse. In dem Maße, in dem die Werte der Bedürfnisse festgehalten würden, sei es möglich bzw. werde es zu einem politischen Ziel, das ökonomische Handeln zu leiten. Bazzicalupo betont zudem, dass die Klassifizierung der Bedürfnisse eine definierte Vorstellung des bíos impliziere, die in der klassischen Theorie der Ökonomie bei Smith und Ricardo entwickelt worden sei. In der Werttheorie von Smith lässt sich Bazzicalupo zufolge eine grundlegende Verschiebung in der Ökonomie beobachten, da dort die ursprüngliche Kontingenz

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Dass der Mensch als von Bedürfnissen und Wünschen geprägtes Naturwesen charakterisiert wird, führt allerdings zu verschiedenen theoretischen Folgen. Für Hobbes ist diese Natur gefährlich und deswegen muss eine künstliche Ordnung wie die Souveränität geschaffen werden, die diese potenziell zerstörerische Natur unter Kontrolle halten kann. Im Unterschied dazu versuchen die ersten Ökonomen, diese Natur zu verstehen und anwenden zu lernen.

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der Bedürfnisse durch eine arbeitsteilige Organisation der Ökonomie ersetzt werde. Obwohl bei Smith die Bedürfnisse noch eine wichtige Aufgabe als Antrieb erfüllen würden, seien sie den Produktionsverhältnissen untergeordnet, aufgrund der Möglichkeit des Messens der Arbeit durch die Zeit (ebd., 71). Die empirische und radikale Subjektivität der ersten ökonomischen Diskurse werde deswegen von einer Arbeiter-Subjektivität ersetzt, deren Leistungen objektiv gemessen werden könnten. Die Kalkulation der Arbeitszeit und die objektive Organisation der Produktionsverhältnisse entfernen laut Bazzicalupo die Subjekte von ihren Bedürfnissen und die Produktion von der Erfüllung dieser Bedürfnisse. Sie hebt hervor, dass Marxʼ Analytik diesen Entfremdungsprozess am angemessensten beschreibe (ebd.). Die wissenschaftliche Relevanz der Werke von Marx besteht für sie darin, dass Marx den bíos – marxistisch gesagt: die Bedürfnisse der ArbeiterInnen – wieder ins Zentrum der ökonomischen Tätigkeit rücke. Marxʼ Theorie hat in der Genealogie Bazzicalupos eine ambivalente Bedeutung. Einerseits setze er – wie bereits gesagt – den bíos ins Zentrum des Ökonomischen, denn seine Sprache bringt ihr zufolge eine deutliche biopolitische Kraft zum Ausdruck, indem er sich unmittelbar auf die Leiden und konkreten Lebensbedingungen der ArbeiterInnen bezieht (ebd., 73). Auch das politische Projekt der Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse drücke die lebendigen Wünsche des bíos aus. Andererseits ordne der Marxismus, insbesondere der real existierende Sozialismus, das Projekt der Freilassung des bíos einer bürokratischen Organisation der Arbeit unter (ebd., 74). Implizit richtet sich diese Kritik Bazzicalupos weniger gegen Marx als gegen die Marxisten der zweiten und dritten Internationalen. Allerdings kritisiert sie an Marx das idealistische Residuum, d.h. seinen Hegelianismus. Während schon bei Smith die Arbeit als Grundlage für eine Organisation der Produktion fungiert, funktioniert bei Hegel in Bazzicalupos Interpretation der Begriff der Arbeit als Basis für ein rationales und dialektisches Verhältnis von Bedürfnissen und Institutionen. Die Arbeit sei in seiner Perspektive grundlegend für die Bildung des sozialen Individuums – sie »präge« das Individuum. Für Bazzicalupo wird hierbei durch die dialektische Logik der bíos vollkommen unter den nomos (die Institutionen) subsumiert (ebd., 75). Die Arbeit vermittle bei Hegel Bedürfnisse sowie ihre Befriedigung und sei zudem die Grundlage für die Ausübung der bürgerlichen Rechte. Bazzicalupo hebt zutreffend hervor, dass die Vermittlungsfunktion der Arbeit die Verfassung vieler Staaten reguliere (ebd., 76). Nur als Arbeiter könne ein Individuum über Güter, Rechte und Leistungen eines institutionellen Systems verfügen. Diese Lesart der hegelianischen Dialektik aus einer biopolitischen Sichtweise ist sehr interessant, da sie eine »sagittale« Interpretation von heterogenen politischen Formen und eine biopolitische Analytik des Wohlfahrtsstaats ermöglicht. Für Bazzicalupo steht die Idee der Arbeitswerte im Zentrum der wichtigsten gouverne-

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mentalen Strategie im Laufe des 20. Jahrhunderts, sowohl in demokratischen als auch in totalitären Systemen. Damit versucht sie nicht, eine direkte Beziehung zwischen der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats und der des Totalitarismus herzustellen. Es handelt sich auch nicht um eine geschichtsphilosophische Einsicht im Sinne von Adorno oder Agamben, nach der ein dialektisches Prinzip die Entwicklung des Politischen als solchen bestimmt. Vielmehr geht es um eine Analogie, durch die Bazzicalupo auf die Funktion der Arbeit als Dispositiv für die Reglementierung von Wünschen und Bedürfnissen der sozialen Akteure verweist. Als Dispositiv für die Bildung der Subjekte kann somit die Arbeit in verschiedenen politischen Formen benutzt werden. Bazzicalupo zufolge gründet sich jede Idee der Regulierung der Arbeit auf eine Metaphysik und Anthropologie des Mangels, die zu Kämpfen ums Überleben führt. Dazu komme die (dialektische) Notwendigkeit, diesen konfliktuellen Naturzustand in eine politische Ordnung zu überführen. Es handele sich immer um die gleiche logische Dialektik, die seit Hobbes und vor allem durch Hegel den modernen politisch-ökonomischen Diskurs präge und deren Ziel in der vollkommenen Integration der Subjekte – der Lebewesen – in die politisch-institutionelle Ordnung bestehe. Dabei ist zu präzisieren, dass Bazzicalupo wie Foucault und Marzocca (vgl. Marzocca 2007) die Dialektik als philosophische Methodologie für die Analyse der Realität ablehnt. Das Objekt ihrer Analyse ist insofern die »Dialektik als Wissen«, die performative Diskurse über den bíos produziert und deswegen eine Macht über das Leben ermöglicht. Als Produkte dieser »Dialektik als Wissen« sind die Entwicklung der Staatstheorie und die Idee des Wohlfahrtsstaats zu verstehen, die Bazzicalupo in ihrer Genealogie in Kontinuität mit der pastoralen Macht und der Policey des 18. Jahrhunderts setzt (ebd., 46f.). Sie – wie auch andere AutorInnen wie Lemke, Larsen usw. (vgl. Lemke 1997 und 2007a; Larsen 2012) – betont, dass es bei Foucault eine Zäsur von staatszentrierter und marktorientierter Gouvernementalität gebe (ebd., 45). Allerdings bedeutet dies bei ihr nicht, dass die Biopolitik und die Bioökonomie nur in der liberalen und neoliberalen Gouvernementalität zu verorten seien. Vielmehr sei auch der Staat und der Wohlfahrtsstaat als biopolitische und bioökonomische Strategie zu analysieren (ebd., 47). Obwohl diese Interpretation der »Dialektik als Wissenschaft« sehr vielversprechend ist, wird sie von Bazzicalupo und anderen Mitgliedern von BBPS nicht vertieft. Sie betonen zwar, dass dieses Wissen noch heute biopolitische Strukturen präge. Allerdings belegen sie diese Überlegung nicht mit weiteren empirischen Untersuchungen. Außerdem wird nicht thematisiert, wie die staatszentrierten und die marktorientierten Strategien miteinander interagieren. In dem Forschungsprogramm der BBPS wird die Absicht erwähnt, diese Aspekte zu vertiefen, aber im Moment gibt es dazu noch kein relevantes Ergebnis.

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Die Regierung des bíos durch die Arbeitswerttheorie ist nicht das einzige Dispositiv, das Bazzicalupo in ihrer Genealogie des Ökonomischen in Betracht zieht. Wie schon Foucault so betont auch sie die Verschiebung und Kontraposition der liberalen Gouvernementalität mit der Tradition der Policey und des staatlichen Interventionismus in die Ökonomie. Im Unterschied zu ihm fokussiert sich Bazzicalupo auf die Konzeption des bíos – der Subjektivität –, die im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts im Gegensatz zum Idealismus entstanden sei. Diese würde die Idee ablehnen, dass sich jedes Handeln als rationales in die politische Ordnung integrieren lasse. Im Rahmen dieser integrativen politischen Rationalität werde somit jedes Handeln als irrational verstanden, wenn es nicht in die institutionelle Ordnung integriert werden könne. Im Kontrast zu der dialektischen Vorstellung des Menschen und seines Handelns tauchen darin Bazzicalupo zufolge Diskurse, Philosophien und Theorien auf, die auf die Unmöglichkeit einer vollkommenen Subsumtion des Subjekts hinweisen. Wichtig für sie ist hierbei, dass die Idee einer antidialektischen Subjektivität zur Produktion von neuen Diskursen und Theorien des Ökonomischen führt.6 Gegen den Hegelianismus und das Projekt einer totalen Subsumtion des bíos unter den nomos entstünden vor allem Philosophien, die behaupteten, dass das Leben nicht auf die rationalen Formen des Geistes reduzierbar sei. Innerhalb der verschiedenen Strömungen des antihegelianischen Vitalismus schreibt Bazzicalupo der Philosophie Schopenhauers eine wichtige Rolle für das Verständnis der Entwicklung einer bioökomischen Perspektive zu (Bazzicalupo 2006, 77). Dessen Philosophie ist ihr zufolge durch ein konstitutives Paradox charakterisiert, das auch die Entwicklung der Bioökonomie konnotiere. Zum einen halte Schopenhauer im Gegensatz zu Hegel an der Idee einer materialistischen Subjektivität fest, die von einem Begehren charakterisiert sei, das in keinem Fall dialektisch subsumiert werden könne. Wie schon für wichtige TheoretikerInnen der Wirtschaftswissenschaft wie Smith und Malthus sei auch für Schopenhauer das Dasein von einem konstitutiven Mangel bestimmt. Im Unterschied zu Smith und Malthus werde allerdings der Mangel bei Schopenhauer weniger als ökonomische Voraussetzung, sondern als ein ontologisches Attribut gedacht, das das menschliche Dasein bestimme (ebd., 79, vgl. auch Schopenhauer 2009). Insofern könnten die menschlichen Bedürfnisse und Begehren niemals vollkommen befriedigt werden, da das menschliche Dasein immer zu neuem Begehren tendiere. Diese Tendenz wird von Schopenhauer als »Wil-

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Hierbei geht es nicht darum, zu diskutieren, ob die Philosophie Hegels und der Idealismus diese Idee der Subjektivität wirklich vertreten. Im Rahmen der Genealogie des Ökonomischen versucht Bazzicalupo vielmehr den polemischen Kontext zu betonen, der zur Formulierung einer neuen Idee der Subjektivität geführt hat, die einer neuen Phase der Produktion von biopolitischen und bioökonomischen Diskursen zugrunde liegt.

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le zum Leben« bezeichnet. Allerdings theoretisiert er zudem die Möglichkeit einer Negation, einer Aufhebung des Willens, um Zufriedenheit zu erreichen (vgl. Schopenhauer 2009). Für Bazzicalupo ist dabei auch die in der Ethik Schopenhauers thematisierte Idee interessant, dass der bíos zu kontrollieren oder zu regieren sei (Bazzicalupo 2006, 81). Dabei gehe es weniger um eine institutionelle und äußere Kontrolle; Vielmehr beziehe sich Schopenhauer auf eine ethische Beherrschung über sich selbst, die auch als »Sorge um sich« interpretiert werden könne. Daher sei er wichtig, da in seiner Philosophie die volle Befriedigung durch die subjektive Regierung des Willens bzw. die subjektive Verschiebung der Erfüllung des Begehrens konzipiert werde. Für Bazzicalupo erinnert die Ethik Schopenhauers insofern an das Handeln des/r Unternehmers/erin, der/die auf eine unmittelbare Befriedigung verzichtet, um sein/ihr Vermögen zu investieren. Doch sei Schopenhauers ethisches Modell noch wichtiger, weil es an der Regierung des Willens für die Bestimmung des bíos orientiert sei und damit viele Analogien zur sozio-ökonomischen Anthropologie der Grenznutzenschule aufweise (ebd., 82). Die österreichischen TheoretikerInnen, die zur Grenznutzenschule gerechnet werden, stellen Bazzicalupo zufolge eine Wende in der Entwicklung einer bioökonomischen Biopolitik dar. Sie würden zunächst die ökonomischen Theorien kritisieren, die auf die Organisation der Produktion abzielten. Im Zentrum ihrer Analyse des ökonomischen Prozesses stehe dagegen eine subjektive Nutzentheorie. Das Problem für die TheoretikerInnen der Grenznutzenschule liege deshalb darin, zu verstehen, wie und warum die sozialen Akteure ihre ökonomischen Entscheidungen treffen, da nur diese die Produktion von Waren und Diensten bestimmten. Bazzicalupo hebt insbesondere hervor, dass diese WirtschaftswissenschaftlerInnen ihre Theorie als radikal empirisch und antidialektisch verstünden (ebd., 82). Insofern spiele für die Grenznutzenschule die gesellschaftliche Organisation und auch die soziale Dimension als solche keine bedeutende Rolle. In dieser Perspektive würden auch die Gesellschaftsverhältnisse durch ökonomische Kriterien verstanden. Insofern betont Bazzicalupo, dass für die Theorie der Grundnutzenschule das ökonomische Subjekt andere Menschen nur als Mittel zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse betrachte (ebd., 83). Dazu komme, dass die Produktion nicht politisch organisiert werden müsse. Vielmehr müsse sich die Produktion von individuellen Entscheidungen leiten lassen; die soziale Organisation sei somit letztlich das Ergebnis der Interaktion von Individuen, die ihre Entscheidungen zwanglos träfen. Bazzicalupo zufolge geht es dabei um eine an der Subjektivität orientierte Theorie, der die Analyse der Kontingenz zugrunde liege (ebd., 84f.). Wie Schopenhauer so würden auch die TheoretikerInnen der Grenznutzenschule die Idee ablehnen, dass sich die Subjektivität in die institutionelle (und künstliche) Ordnung integrieren lasse. Bazzicalupo zufolge wird hierbei die Regierung des bíos auf eine andere Ebene verschoben. Es gehe nicht mehr darum, die ökonomische Produktion

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politisch zu organisieren. Vielmehr sei der Gegenstand der Regierungspraktiken das Wie oder die Mittel, durch die das ökonomische Subjekt sein Begehren und seine Bedürfnisse befriedige. Ihre Analyse der Grenznutzenschule hebt hervor, dass deren grundlegende Theorie auf der Trennung von Zielen (Wünschen) und Mitteln beruhe. Als Mittel sei vor allem das ökonomische Handeln zu verstehen, das die Befriedigung der Bedürfnisse erlaube. Während sich die Ziele nicht dirigieren ließen – wie auch Schopenhauers Philosophie betone –, könne für die Grenznutzenschule die dem Handeln zugrunde liegende Rationalität definiert werden. Diese Definition einer ökonomischen Rationalität, die die Subjekte in der Befriedigung ihrer Bedürfnisse leite, wird Bazzicalupo zufolge von den TheoretikerInnen der Grenznutzenschule durch zwei theoretische Annahmen geleitet. Erstens übernähmen sie den Utilitarismus Benthams als grundlegendes Kriterium für die Definition rationalen Handelns: rational sei demnach das Handeln, das an Nützlichkeit orientiert sei. Für Bazzicalupo erfüllt der Utilitarismus insofern eine strategische Aufgabe, da dieser die Kriterien für die Klassifikation der Begehren nach dem Grad der Nützlichkeit biete und gleichzeitig die Definition eines Modells rationaler Führung erlaube (ebd.). Die zweite entscheidende Annahme der Grundnutzenschule betrifft für Bazzicalupo die Definition des operativen Handelns als Wille. Einer der wichtigsten Vertreter der zweiten Generation der Österreichischen Schule7, Ludwig von Mises, ist ihr zufolge grundlegend für diese theoretische Entwicklung. Von Mises fokussiert seine Forschung auf die objektive Definition des Handelns (vgl. von Mises 1980). Um das Handeln objektiv definieren zu können, müssen ihm zufolge die Bedürfnisse und Ziele ausgeklammert werden. Für von Mises lässt sich grundsätzlich nicht verstehen, warum sich ein Mensch bestimmte Dinge oder Situationen wünscht. Vielmehr sei es objektiv – und deswegen untersuchbar –, dass die Menschen ihren Zustand verändern wollten und Mittel für dieses Ziel einsetzen würden (ebd., 30).

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Bazzicalupo thematisiert die Differenzen und Entwicklungen innerhalb der sogenannten Österreichischen Schule nicht. Sie markiert nur eine Verschiebung, die in der Untersuchung der Definition der psychologischen und physiologischen Variablen der Subjekte stattfindet, um deren Handeln kalkulieren zu können (Bazzicalupo 2006, 84f.). Diese Lücke in der Analyse ist dadurch bedingt, dass Bazzicalupo sich nur auf die Verschiebungen und Differenzen in der Konzeption des Verhältnisses von bíos und nomos konzentriert. Deswegen haben andere Fragen innerhalb der verschiedenen Generationen der Österreichischen Schule für den Gegenstand ihrer Forschung keine besondere Bedeutung. Bei den ersten Theoretikern wie von Hayek bleibt die Idee einer an den Subjekten orientierten Ökonomie und das Problem einer strukturellen Rationalität prägend, die das Handeln der Subjekte leitet und gleichzeitig ihre verschiedenen Bedürfnisse versöhnen kann.

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Daher sind für ihn Handeln und Wollen Synonyme (ebd., 11). Nur weil ein Mensch wolle, könne er seine Wünsche in konkrete Entscheidungen verwandeln. Von Mises begreift deswegen die Menschen als handelnde Lebewesen, deren Charakteristikum in der Verwendung von Mitteln für die Befriedigung ihrer Wünsche bestehe (ebd., 14). Bazzicalupos Lektüre der Theorie von Misesʼ konzentriert sich auf die Definition des Handelns als Wille. Er übernimmt ihr zufolge den Kantʼschen Begriff des Willens und definiert diesen als Fakultät, die die Wünsche des Subjekts in Entscheidungen transformiere. Die Abhängigkeit des Handelns vom Willen impliziere, dass es orientiert und kontrolliert werden könne. Insofern verwende der Mensch als vernünftiges Lebewesen immer das vorteilhafteste Mittel für seine Ziele. Das bessere und vernünftigere Mittel sei immer dasjenige, das den größten Vorteil in Bezug auf die Kosten der Mittel verspreche. Durch diese theoretische Operation reduzieren laut Bazzicalupo von Mises und die Grenznutzenschule die Vernunft auf die strategische und ökonomische Rationalität – d.h. auf die Auswahl des vorteilhaftesten Mittels für die Befriedigung eines Bedürfnisses – und die Wünsche auf ihre individuelle und egoistische Dimension (Bazzicalupo 2006, 88f.). Für von Mises sei deswegen das menschliche Dasein von einem Aneignungsprinzip charakterisiert. 8 In dem Maße, in dem der Wille das Begehren in rationales Handeln verwandelt, werden Bazzicalupo zufolge die Voraussetzungen für eine neue Art der Regierung des bíos gesetzt. Es gehe dabei weniger darum, die Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse zu organisieren. Vielmehr müsse die Regierung dafür sorgen, dass die Subjekte die strategische Logik der Ökonomie für die Optimierung ihres Lebens verwenden. Bazzicalupo erläutert diese Verschiebung, indem sie die neue Art der Regierung als Kombination einer »Anarchie der Wünsche« und einer radikalen Normierung des strategisch-ökonomischen Handelns darstellt (ebd., 90). Insofern lässt sich ihr zufolge von einer Verschiebung in der Gouvernementalität – des nomos – von der Ebene der Ziele auf die Ebene der ökomischen Rationalität reden, aus der zwei wichtige, ambivalente Folgen resultieren. Erstens führe die Subsumtion jedes Verhaltens oder jeder Praxis unter die ökonomische Logik einerseits zu einer Anerkennung der Heterogenität der ökonomischen Praxis, aber gleichzeitig lasse sich auf die Weise andererseits jede Praxis durch ein Modell des strategisch-ökonomischen Handelns verstehen. Bazzicalupo betont zudem, dass es sich dabei um eine Rationalität handle, die sich erlernen, verbreiten und regieren lasse (ebd.). Zweitens könne eine »Zirkularität« zwischen dem

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Bazzicalupo betont die Analogie zwischen Schopenhauer und dem Marginalismus. Sowohl die asketische Ethik von Schopenhauer als auch das rationale Subjekt des Marginalismus beruhten auf der Kontrolle des bíos durch den Willen.

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Handeln des einzelnen und dem der anderen erkannt werden. Mit anderen Worten: In dem Maße, in dem alle Menschen durch strategische Rationalität ihre individuellen Ziele erreichen, wird eine Balance der Preise wie auch der Interessen geschaffen. Bazzicalupo hebt hervor, dass es dabei um eine kontingente und prekäre Balance gehe, da sie von subjektiven Faktoren abhänge. Diese Vorstellung des Ökonomischen stellt für sie auch eine neue Problemstellung dar. Die Abhängigkeit von den subjektiven Wünschen der einzelnen stelle ein ständiges Problem für das Politische dar, weil sich auf diese Weise die soziale und politische Ordnung immer als prekär und unstabil erweise. Die Möglichkeit einer objektiven Prognose sei jedoch grundlegend für das Ökonomische. Deswegen suchen ihr zufolge die Vertreter der Grenznutzenschule eine neue Objektivität, indem sie durch statistische und empirische Forschungen eine wissenschaftlich-objektive »Wahrheit« über das menschliche Handeln zu produzieren versuchten (ebd., 91). Wie bei Foucault ist auch für Bazzicalupo ein Wahrheitsregime immer performativ; mit anderen Worten: auch durch diese Wahrheitsdiskurse wird eine Idee der Subjektivität produziert, die das Handeln der sozialen Akteure prägt und orientiert (ebd.). Deswegen lässt sich von einer ökonomischen Politik des bíos sprechen. Es handelt sich daher um eine Biopolitik, die weniger an der Regierung der Bevölkerung interessiert ist, sondern vielmehr auf die Produktion von Subjektivitäten zielt, die durch das Modell des ökonomischen Handelns eigenständig ihre Führung überprüfen und korrigieren. Für Bazzicalupo formuliert die Grenznutzenschule bereits eine postmoderne Idee der sozialen und politischen Ordnung (ebd.), in der die sozialen und politischen Verhältnisse von der ökonomischen Frage abhängen. Diese postmoderne Ordnung steht im Zentrum des dritten Teils ihres Essays. Hierbei steht »postmodern« als Attribut für eine Zeit, in der die modernen Vorstellungen der Organisation der Gesellschafts- und Produktionsverhältnisse überwunden worden sind. Auch für sie – wie auch für Rose und Sunder Rajan – verweist der Begriff der Bioökonomie auf die Entwicklung von neuen Gesellschaftsverhältnissen und Subjektivierungsprozessen. Allerdings ist bei ihr die Entstehung einer molekularen Medizin und einer Subjektivität, die aktiv, individuell und verantwortlich an der Pflege und Optimierung des Lebens teilnimmt, nur ein Beispiel oder ein Symptom einer ökonomischen Regierung des bíos, die das Politische dauerhaft und in jedem Kontext bestimmt. Bevor Bazzicalupo die Bioökonomie als Wahrheitsregime analysiert, konzentriert sie sich auf die Theorie von Joseph Schumpeter (ebd., 96f.), um ein weiteres grundlegendes Element der ökonomischen Diskurse hervorzuheben. Wichtig bei seiner Theorie sei die Idee des Unternehmers als Subjekt, das die Produktivität durch sein außerordentliches Handeln bestimmt. Bazzicalupos Analyse fokussiert sich auf die strukturelle Verbindung von Forschung und Entwicklung, die bei

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Schumpeter thematisiert wird (ebd., 97f.). Hierbei ist »Forschung« als die Möglichkeit zu verstehen, etwas zu erfinden. Für Bazzicalupo ist diese Theorie für eine Genealogie des Ökonomischen wichtig, da dadurch die menschliche Kreativität theoretisch vollkommen unter die Produktionsverhältnisse subsumiert wird (ebd., 101102). Zum besseren Verständnis dieser Überlegungen sei kurz darauf hingewiesen, dass sie wie Spinoza, Deleuze, Negri und Esposito das menschliche Dasein – bíos – als »Werden« konzipiert. Mit anderen Worten, produziert das bíos ontologisch neue Sprachen, politische Institutionen, Wissen usw. Vor diesem Hintergrund ist die Theorie Schumpeters grundlegend für die Entwicklung einer Bioökonomie, da dort das bíos zum Kern der Ökonomie wird. Insofern betont Bazzicalupo, wie in dieser Perspektive das Ökonomische als einziges Milieu gedacht wird, in dem sich das bíos entwickeln kann. Im Unterschied zu Hardt und Negri interpretiert sie diese Entwicklung jedoch nicht enthusiastisch als Vorstufe der Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Vielmehr führt ihr zufolge die vollkommene Subsumtion des bíos zu einer neuen Definition der Machtverhältnisse, die kritisch analysiert werden müsse (ebd., 99). Zusammenfassend besteht das Relevante in ihrer Genealogie der ökonomischen Diskurse darin, nachzuvollziehen, wie innerhalb dieser Diskurse das Leben – oder der bíos – konzipiert wird. Diese Theorien lassen sich nicht notwendigerweise durch eine logische Kohärenz charakterisieren. Es können metaphysische und naturalistische Residuen darin erkannt werden, obwohl Autoren wie von Mises ihren Theorien ein radikal empirisches Fundament zugrunde legen. Im Anschluss an Foucault betont Bazzicalupo daher zutreffend, dass die Analyse der Machtverhältnisse durch das Paradigma der Bioökonomie sichtbar mache, dass diese Machtverhältnisse nicht linear und konsequent seien. Vielmehr seien sie von einer Überlagerung von Diskursen geprägt, die ursprünglich in Opposition zueinander entstanden seien. Insofern ist hervorzuheben, dass Elemente der staatszentrierten Bioökonomie zusammen mit der subjektzentrierten Bioökonomie koexistieren können, obwohl sie theoretisch in Opposition zueinander stehen. Grundlegend ist, dass die Wahrheitsregime der Ökonomie eine Legitimations- und Regulierungsfunktion der Politiken des Lebens ausüben. Bazzicalupos Interpretation dieser Regime wird in dem nächsten Abschnitt dargelegt. 5.2.3 Bioökonomie als Wahrheitsregime Bazzicalupo versteht unter Bioökonomie eine Form von Biopolitik, in der alle Dimensionen des bíos in ökonomischen Termini wie Vorteil, Investment, Optimierung, Verlust, Verdienst usw. interpretiert werden (Bazzicalupo 2006, 112). Es geht in dieser Perspektive nicht nur um eine Verbreitung der Logik des Human Capital oder des Neoliberalismus. Vielmehr verweist sie darauf, dass die Legitimation einer

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institutionellen Intervention wie auch einer subjektiven Auswahl immer durch die formalen Prinzipien der ökonomischen Rationalität überprüft und angeleitet werde (ebd.). Wie andere AutorInnen, die den Liberalismus im Anschluss an Foucault interpretieren, redet auch Bazzicalupo von dem Wahr-Sprechen des Markts. Der Markt sei, anders ausgedrückt, der Ort, der das Handeln der sozialen Akteure legitimiere.9 Schon in ihrer Analyse der ökonomischen Diskurse erwähnt Bazzicalupo, dass durch die Aufhebung der Befriedigung eine Macht über das Leben gebildet und ausgeübt werden könne, in der die Regulierung der Befriedigung des Begehrens als Telos dieser Biopolitik fungiere. Ähnlich wie bei Hobbes sei auch in diesem Modell der Ausübung der Macht eine Anthropologie grundlegend, nach der der Mensch durch einen konstitutiven Mangel ausgezeichnet sei. Allerdings sorge die ökonomische Organisation der Machtverhältnisse nicht nur für die Sicherheit der Menschen, sondern auch für die Möglichkeit der Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse. Eine an der Befriedigung der Wünsche orientierte Macht biete einen grundlegenden strategischen Vorteil. Während der Hobbes’sche Souverän auf einen negativen Teil angewiesen sei, um die immunitären Dispositive zu verbessern und zu legitimieren,10 basiere das Regime der Bioökonomie auf der quasi-»natürlichen« Inklination des bíos, das immer – quasi-»ontologisch« – wünsche. Insofern sei die Bioökonomie eine Biopolitik, die sich auch als »Regierung des Begehrens« (vgl. Chicchi 2008, 153) charakterisieren lasse. Allerdings hat diese Strukturierung einige Implikationen, die Bazzicalupo wie folgt analysiert. Zunächst steht diese biopolitische Form ihr zufolge in einem interaktiven Verhältnis mit den Subjektivitäten. Es handele sich somit um eine Macht, die das Begehren der sozialen Akteure benötige. Insofern müssten die Bedürfnisse selbst produziert, verkauft und konsumiert werden. Die sozialen Akteure dürften daher nicht passiv sein, aber gleichzeitig sollten sie der Leitung der Expertise vertrauen, um ihre Befriedigungsmöglichkeit zu erweitern und ihren bíos für bestimmte Ziele zu »trainieren«. Bazzicalupo bezeichnet die Bioökonomie deswegen auch als demokratische und soziale Form der Biopolitik (Bazzicalupo 2006, 112), die allerdings von einer konstitutiven Ambivalenz charakterisiert sei. Einerseits würden die Subjekte die Ökonomie durch ihre Wünsche leiten; andererseits würden sie sich von der ökonomischen Rationalität anleiten lassen. Sie hebt zutreffend hervor, dass diese Leitungsfunktion von einer säkularisierten pastoralen Macht erfüllt wird, die eine von der ökonomischen Rationalität geprägte Expertise

9

Die biopolitische Funktion des Markts als »Wahr-Sprechen« wird auch von AutorInnen wie Larsen, Lemke und Read analysiert (vgl. Lemke 2007; Read 2009; Larsen 2012).

10 Eine Interpretation der politischen Philosophie von Hobbes aus einer biopolitischen Perspektive findet sich im dritten Teil dieser Arbeit.

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für die Befriedigung und Optimierung anbietet (ebd., 124-125). Auch diese pastorale Macht operiere wie die religiöse durch die und innerhalb der Spannung von Omnes und Singulatium – ein typisches Charakteristikum für die biopolitische Gouvernementalität (vgl. darüber auch Marzocca 2007; Foucault 2005, 165). Bazzicalupo bemerkt in ihrer Analyse, dass die Ökonomie zahlreiche Möglichkeiten für den Aufbau der eigenen Singularität anbiete, diese aber der ökonomischen Rationalität untergeordnet seien (Bazzicalupo 2006, 119). Die Zentralität des Begehrens für die bioökonomischen Subjektivierungsprozesse führt sie dazu, diese Dimension auch durch psychoanalytische Kategorien im Anschluss an Žižeks Lektüre des gegenwärtigen Kapitalismus zu analysieren. Insbesondere konzentriert sie sich auf die symbolisch-rituellen Werte des Begehrens. Sie spricht diesbezüglich von einer »Ökonomie der Opfer«, die einen strukturellen und ontologischen Mangel füllen könne (ebd., 110). Bazzicalupo bezieht sich damit implizit auf die Theorie, die den religiösen Ritualismus als Strategie für die Aufhebung des ontologischen Mangels des menschlichen Daseins interpretiert. 11 Wie im dritten Teil der Arbeit erwähnt, definiert Esposito diesen ontologischen Mangel als munus.12 Hierbei verweist Bazzicalupo darauf, dass die Bioökonomie diesen Mangel durch verschiedene Waren oder Dienstleistungen auszufüllen verspreche, sodass der Konsum von Waren als religiös-symbolische Funktion zu interpretieren sei. Wichtig für sie ist es, zu verstehen, welche Art des Konsums die Bioökonomie antreibt und welche Subjektivität mit ihr verbunden ist. In einem ihrer späteren Aufsätze Die Gespenster der Bioökonomie und das Phantasma der Krise, der auf Deutsch veröffentlicht worden ist, erklärt sie diese These wie folgt: Wir haben die aktuelle Gesellschaft genau deswegen als bioökonomisch bezeichnet, weil das ökonomische Vokabular die Subjektivierungen, das Leben und generell auch den Zugang zu sozialen Bindungen direkt bestimmt. Dieser Code stützt sich auf die zentrale Bedeutung des Konsums und auf den Impuls, subjektives Begehren unmittelbar befriedigen zu wollen. Es handelt sich um eine singularisierte, post-ödipale Gesellschaft, in welcher das dominante Imaginäre die Selbstverwirklichung ist. Während die narzisstische Komponente durch die Deregulierung und die Aufwertung der individuellen expressiven Kreativität verherrlicht wird, lenkt die Selbstverwirklichung das Begehren vom anthropogenen und symbolisierenden

11 Dies ist eine Perspektive, die ursprünglich von Georges Bataille entwickelt wurde, der die Formen des Konsums und die Funktion des Opfers in den Religionen und Gesellschaftssystemen analysiert. Bazzicalupos impliziter Verweis auf Batailles Analyse der Formen des Konsums wird durch die Verwendung des Begriffs dépense (Verschwendung) deutlich, der von Bataille formuliert wurde (Bezzicalupo 2006, 109). 12 Siehe S. 186 dieser Arbeit.

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Verbot auf die unmittelbare Befriedigung um und folgt so der Aufforderung des Über-Ichs nach Genuss. (Bazzicalupo 2013, 58)

Bazzicalupo weist darauf hin, dass in der Bioökonomie nicht die Produktion sondern der Konsum der grundlegende Faktor sei. Dieser Konsum – oder besser gesagt: die Praxis des Konsums – sei an der Befriedigung des Begehrens orientiert, aber es handle sich um eine individualisierte Form des Konsums. Die absolute Freiheit in der Bestimmung des eigenen Daseins, die der bioökonomische Markt biete, führe zur Entwicklung von narzisstischen Subjekten, die sich exklusiv mit der Optimierung des eigenen singulären Lebens beschäftigten. Bazzicalupo bemerkt insofern die Ambiguität des Begehrens in der Bioökonomie, die sie als »generische Personalisierung« definiert (ebd., 119): jeder Akteur könne sein Leben »personalisieren« oder individualisieren, aber alle Subjekte tendierten dazu, ihre Wünsche oder ihre individualisierbaren Leben in der gleichen Richtung zu entfalten. Allerdings grenzt sie sich von den AutorInnen ab, die eine Ausübung der Macht durch die Homogenisierung des Konsums thematisieren (ebd.). 13 Vielmehr betont sie die Entstehung dieses solipsistischen, narzisstischen Subjekts als Folge der »Biopolitik des Begehrens«. Diese Analyse der Ambiguität des Begehrens in den bioökonomischen Diskursen stellt unbestreitbar eine der theoretischen Leistungen der BBPS dar. Anders als Hardt und Negri sehen Bazzicalupo und die BBPS die Zentralität des Begehrens in dem Regime der Bioökonomie nicht enthusiastisch, sondern kritisch. Das Begehren muss für sie in Verbindung mit dem ökonomischen Wahrheitsregime analysiert werden, um die mit dem Begehren verknüpften Machtverhältnisse sichtbar zu machen. Ausgehend von dieser Perspektive betonen die WissenschaftlerInnen von BBPS die Wichtigkeit – oder mit philosophischen Worten: die ontologische Priorität – der Praxis des Konsums für die Bildung der Subjektivität. Diese Sichtweise stellt einen anderen grundlegenden Unterschied zwischen BBPS und Hardt und Negri (wie auch anderen Postoperaisten) dar. Während sich letztere auf die Folgen der Produktionsverhältnisse in Bezug auf die Subjektivierungsprozesse fokussieren, konzentrieren BBPS ihre Analytik der bioökonomischen Subjekte auf die Untersuchung der Formen, durch die die sozialen Akteure in der Praxis des Konsums gebildet, orientiert und geprägt werden. Der Vorteil der Perspektive von BBPS besteht zunächst darin, dass sie ein analytisches Modell entwickelt, in dem sowohl die Folgen der Produktion als auch des Konsums berücksichtigt werden. Außerdem lassen sich aus dieser Perspektive einige gesellschaftliche Phänomene wie der Verlust der Solidarität und das Auftauchen einer hedonistischen und narzisstischen Subjektivität analysieren, die innerhalb der optimistischen Prognose von Hardt und Negri

13 Bazzicalupo zitiert Ritzer als Beispiel.

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durch das Entstehen eines post-kapitalistischen politischen Subjekts (der Multitude) verdeckt bleiben. Allerdings ist es wichtig, zu erklären, dass die BBPS kein defätistisches Szenario entwerfen. Vielmehr betonen sie die Ambivalenz des bioökonomischen Subjekts, das durch seine Praxis die Macht – oder besser gesagt: die Potentia – habe, das System der Bioökonomie zu beeinflussen, es sich aber gleichzeitig von der »bioökonomischen Beratung« orientieren lasse. Deswegen heben BBPS die Notwendigkeit – oder den Wunsch –14 eines politischen Handelns hervor, das in der Spaltung von Begehren und Orientierung des Begehrens verortet werden müsse. Die Angewiesenheit der Bioökonomie auf die aktive Teilnahme der Subjekte für ihr reibungsloses Funktionieren, impliziert Bazzicalupo zufolge eine polyzentrische Idee der Biomacht. Die Ausübung der Macht lasse sich, anders ausgedrückt, nicht mit einem Zentrum oder mit einer nationalen oder internationalen Institution identifizieren, die unmittelbar die Subjekte präge. Vielmehr verweist sie darauf, dass jedes Subjekt in der Ordnung der Bioökonomie Macht auf sein Leben und das Leben anderer ausüben könne. Es handle sich somit um ein interaktives Verhältnis von Subjekten und Dispositiven. Zum einen produziere das Dispositiv die Subjektivität; zum anderen könne jedes Subjekt die Funktionsweise der bioökonomischen Dispositive durch seine Entscheidungen beeinflussen (ebd., 115). Anders als bei Agamben und Hardt und Negri ist für Bazzicalupo die biopolitische Ordnung der Bioökonomie »offen«, eine Macht also, die heterogene Modelle benutzt und – für sie entscheidend – die Folgen des Handelns der Subjekte nicht immer kontrollieren kann. Diese These Bazzicalupos bestätigt die Intuition Foucaults, nach der die Biomacht immer auch Widerstand produziert (vgl. Foucault 1977, 172) und dieser sich um den Gegenstand der Macht selbst – d.h. das Leben und seine Wünsche – organisiert. Das Modell einer bioökonomischen Biopolitik ist insofern nicht mit einem Erklärungsmodell kompatibel, der die repressive Toleranz bei Marcuse zugrunde liegt (vgl. Marcuse 1989), oder mit der Idee Baudrillards, nach der die Realität durch die ökonomische Rationalität ein Simulakrum wird, das sich durch seine internen Variablen reproduziert (vgl. Baudrillard 1979). Bazzicalupo betont, dass sich auch das Schema der Kontrolle des bíos durch den Willen, das von Schopenhauer und der Grenznutzenschule entwickelt wurde, als beschränkt erweisen könne. Die Variabilität des Begehrens und der lebendigen Bedürfnisse treibe die Biomacht dazu, immer

14 Ich verwende an dieser Stelle nicht das Verb »formulieren«, da bis jetzt kein relevantes Ergebnis in punkto »neue Formen des politischen Handelns« veröffentlicht worden ist. Eines der Ziele der BBPS war auch die Analyse und die Definition einer neuen politischen Praxis, die das Foucaultʼsche Thema der Widerstandspraktiken weiterentwickeln sollte. Wie schon erwähnt, bietet der aktuelle Stand der Forschung jedoch keine relevanten Elemente für diese Analyse an.

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neue Strategien zu entwickeln. In dem Maße, in dem eine Politik auf dem bíos basiere, müsse sie die Komplexität des Lebendigen (oder der Lebensformen) in Betracht ziehen. Deswegen könne Biopolitik nicht die Komplexität des Lebens reduzieren, da diese Komplexität gleichzeitig das Telos der Ausübung einer Macht über das Leben sei. Dass die Biopolitik die aktive Teilhabe der Subjekte fordert und sich durch eine ökonomische Form entwickelt, bedeutet für Bazzicalupo nicht, dass sie keine thanatologischen Folgen hat. Sie stellt daher die Frage, ob auch die Bioökonomie durch eine gewalttätige Ausübung der Macht charakterisiert sei (ebd., 112). Interessanterweise verwendet sie das Verb contenere (dt.: halten) in Bezug auf die Frage nach eventuellen thanatopolitischen Folgen der Bioökonomie. Dieses Verb kann in der italienischen Sprache sowohl als »im Inneren halten« als auch als »erhalten« interpretiert werden. Bazzicalupo macht deutlich, dass beide Bedeutungen von contenere zu berücksichtigen seien (ebd., 112). Die Persistenz des Todes sei zunächst in dem neuen Status der Armut zu suchen. In der Bioökonomie sei die Armut nicht mehr ein sozialer Status, unter dem ein Teil der Bevölkerung leide; deswegen müsse er nicht mehr politisch-ökonomisch bekämpft werden (ebd., 142). Dagegen sei die Armut eine Möglichkeit innerhalb der »bioökonomischen Spiele«. Bazzicalupo bezeichnet sie daher als den unvermeidlichen Rest oder das Ergebnis einer Sozialität, die durch ökonomische Gesellschaftsverhältnisse reglementiert sei. In dem Maße, in dem das Leben von der Möglichkeit des Investierens in die Optimierung des Lebens selbst abhänge, seien praktisch all diejenigen von der Politik des Lebens ausgeschlossen, die nicht in sich investieren könnten (ebd., 140). Insofern würden die Armen sterben gelassen. Die neue biopolitische Grenze, die die Bioökonomie innerhalb der Gesellschaft zieht, hat Bazzicalupo zufolge daher wenig mit den Ideen der Nation oder der Rasse zu tun. Vielmehr werde ausgeschlossen, wer sein Leben nicht optimieren könne (ebd., 141f.). Diese brillante theoretische Intuition wird von ihr allerdings nicht vertieft. Auf den letzten Seiten von Il governo delle vite fokussiert ihre Analyse auf die (un-) politische Rolle der humanitären Hilfe als Dispositiv der Kontrolle der Subjekte, die von der Bioökonomie ausgegrenzt werden. Inwiefern die Entwicklung der Bioökonomie mit der Produktion von Armut strukturell verbunden ist, wird somit nicht vollständig geklärt. 5.2.4 Bioökonomie als gesellschaftstheoretischer Begriff Zusammenfassend lässt sich die Bioökonomie bei Bazzicalupo als ein Zusammenhang von Strategien definieren, die aktiv die Subjektivität prägen und unmittelbar den Raum strukturieren, in dem die ökonomischen Subjekte handeln. Um den besonderen Beitrag dieser genealogischen Untersuchung für die Analyse der Biopolitik und der liberalen Gouvernementalität nachvollziehen zu können, ist es notwen-

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dig, von der von Foucault thematisierten Problematik der ökonomischen Subjekte auszugehen. In seinen Vorlesungen über den Liberalismus und Neoliberalismus fokussiert Foucault seine Analyse auch auf die Idee des homo oeconomicus (Foucault 2004b, 367). Für ihn ist die Problematik des homo oeconomicus interessant, da diese anthropologische Vorstellung das Korrelat oder der Referent einer Regierungskunst sei, in der die Politische Ökonomie als Wissen der Regierungshandlungen fungiere (ebd., 393). Seine Analyse betont vor allem, dass sich diese neue ökonomische Idee der Subjektivität von der juridischen Idee der Subjektivität unterscheide. Der wichtigste Unterschied liegt für Foucault in der Konzeption der Machtverhältnisse. Das juridische Subjekt sei funktional in einer Konzeption der Macht, die auf die Dialektik von Souveränität und Untertanen abstelle. In dieser politisch-theoretischen Perspektive stehe die Definition eines institutionellen Systems im Mittelpunkt, in dem die individuellen Rechte mit den Bedürfnissen der Bevölkerung versöhnt werden müssten. Somit müsse die politische Souveränität – sowohl in ihrer demokratischen als auch in ihrer totalitären Version – das Handeln der Subjekte leiten, um diese in die Ordnung integrieren zu können (ebd., 379). Im Unterschied dazu hebt Foucault in seiner Darstellung der Verschiebungen in der Konzeption der politischen Subjektivität hervor, dass der homo oeconomicus nicht mehr als Teil einer künstlichen Ordnung konzipiert werde. Vielmehr gehöre er zur Ordnung der »Natur« und müsse lediglich seiner Inklination folgen (ebd., 384). Für eine an ökonomischem Handeln orientierte Gesellschaft dürfe die politische Ordnung in keinem Fall die sozialen Akteure leiten, da eine politische Rationalität unmöglich sei, die alle denkbaren Variationen berücksichtigen könne (ebd., 388). Die einzige mögliche Ordnung beruhe darauf, dass die Individuen ihre Interessen durch das ökonomische Handeln eigenständig verfolgten. Für Foucault ist zudem das Wesentliche jeder liberalen Gouvernementalität nicht der Aufbau eines Systems, sondern der Prozess, durch den die Individuen als ökonomische Subjekte konstituiert werden. Er betont, dass für den Liberalismus eine Ordnung nur in dem Moment möglich sei, in dem die Subjekte ihre Interessen verfolgen könnten. Es handele sich dabei um eine quasi-natürliche Ordnung, die von keiner Rationalität verstanden und geleitet werden könne. Die einzige Voraussetzung sei, dass sich die Menschen als homines oeconomici verstünden. Ich komme gleich darauf zurück, die Funktion von etwas hatte, das man ein unberührbares Element bei der Ausübung der Macht nennen könnte. Der Homo oeconomicus ist der Mensch der seinem Interesse gehorcht […]. Der Homo oeconomicus ist, vom Standpunkt einer Theorie der Regierung aus gesehen, derjenige Mensch, den man nicht anrühren soll. Man läßt den Homo oeconomicus handeln. Er ist das Subjekt oder das Objekt des Laissez-faire. Er ist

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jedenfalls der Partner einer Regierung, deren Regel das Laissez-faire ist […]. Der Homo oeconomicus ist der Mensch, der in eminenter Weise regierbar ist. (Foucault 2004b, 371f.)

Die Genealogie Bazzicalupos folgt dieser Forschungsorientierung. Ein Machtverhältnis, das der ökonomischen Rationalität zugrunde liegt, kann für Foucault und Bazzicalupo in dem Maße verstanden werden, in dem die Entwicklung der ökonomischen Subjektivität ins Zentrum der Analyse gerückt wird. Nach Foucault ist der homo oeconomicus die Basis der liberalen Gouvernementalität, die sich auf die »Unerkennbarkeit der Gesamtheit der Prozesse« gründe (ebd., 387). Insofern müsse die ökonomische Subjektivität im Mittelpunkt der Analyse stehen, da diese zugleich das Objekt und das Subjekt der liberalen Gouvernementalität sei. Der Unterschied beider Analysen ist darin zu suchen, dass sich für Bazzicalupo auch eine institutionelle Bioökonomie erkennen lässt, die – wie schon erwähnt – durch die institutionelle Rationalisierung der Produktion mittels der Werttheorie und des Dispositivs der Arbeit funktioniert. Für sie geht es um zwei verschiedene Praktiken, die das bíos durch das Ökonomische zu regieren versuchen. Insofern ist es grundlegend zu rekonstruieren, wie innerhalb der ökonomischen Diskurse die Idee des Subjekts thematisiert wird. Die Arbeiten Bazzicalupos zeigen, dass im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften der Definition der Subjektivität eine zentrale Rolle zukommt. Noch entscheidender ist, dass die Wirtschaftswissenschaften den homo oeconomicus als ein quasi essentialistisches Wesen konzipieren. Hierbei entsteht ein Paradox der ökonomischen Darstellung der Subjektivität, das Bazzicalupo eingehend beleuchtet. Zum einen würden Autoren wie von Mises ihre Theorien als radikal empirisch und praxisnah darstellen; zum anderen gingen sie davon aus, dass der Mensch »ontologisch« oder »natürlich« im Sinne seiner egoistischen Interessen handle. Die archäologische Sichtweise, die der Analyse Bazzicalupos zugrunde liegt, zeigt dagegen, dass die Bildung einer ökomischen Subjektivität historisch situiert ist. Das Paradox enthüllt deutlich, dass der wissenschaftliche Wahrheitsanspruch von Misesʼ von einer (bio-)politischen Strategie bestimmt ist. Außerdem legt Bazzicalupos Analyse den Akzent auf die immanente Performativität der diskursiven Praktiken, die das Subjekt und seine Umwelt aktiv prägen. Der Fokus auf die Performativität der diskursiven Praktiken der Ökonomie erlaubt es darüber hinaus zu erfassen, was »Bioökonomie« aus einer genealogischen Sichtweise bedeutet. In dem Maße, in dem die »naturalistischen« ökonomischen Diskurse über den homo oeconomicus als Ergebnis eines Subjektivierungsprozesses verstanden werden, wird deutlich, dass die liberale Vorstellung des Menschen eine politische Strategie zur Bildung einer »Natur« ist. Es ist möglich, diese künstliche

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Natur als eine »zweite Natur«15 zu definieren; mir scheint es allerdings sinnvoller, von einer Interaktion des Biologischen und des Politischen zu reden, die ein historisches bíos produziert. Mit anderen Worten: Die ökonomischen Diskurse sind als biopolitische zu interpretieren, da sie eine Subjektivität bilden, die in einer spezifischen Art und Weise im privaten wie auch im öffentlichen Raum handelt. Das Verdienst der Forschung Bazzicalupos besteht vor allem darin, aufgezeigt zu haben, in welchem Kontext und in Bezug auf welche Problematiken die ökonomischen diskursiven Praktiken entstanden sind. Diese Orientierung erlaubt es, das Neue der gouvernementalen Strategien von Wiederholungen zu unterscheiden. So lässt sich herausarbeiten, wie sich alte und neue Dispositive verbinden. Zentral dabei ist – wie schon erwähnt – eine kritische Analyse der Funktion des Begehrens im Rahmen der von den bioökonomischen Dispositiven geprägten Gesellschaftsverhältnissen. Im Unterschied zu anderen Theorien der Biopolitik (Agamben und Esposito) fokussiert sich Bazzicalupo wie die anderen Mitglieder der BBPS weniger auf die Selbsterhaltung und Absicherung des Lebens als Grundlage der Biopolitik. Für sie ist die Biopolitik – vor allem in ihrer ökonomischen Version – vielmehr eine Strategie für die Befriedigung der »vitalen« Bedürfnisse und Wünsche. Vergleicht man Bazzicalupos Forschung mit anderen Ansätzen, in denen die Biopolitik ausgehend von dem Begriff der Bioökonomie analysiert wird, lässt sich ein grundlegender Unterschied erkennen. Autoren wie Rose und Rabinow richten ihren Blick auf die Zukunft, während sie wie die meisten italienischen AutorInnen von der Vergangenheit ausgeht, um die Gegenwart zu verstehen. In der aktuellen Auseinandersetzung über die Biopolitik lässt sich geradezu eine Besessenheit für das Neue erkennen. Insofern verlieren viele Analysen den Blick dafür, welche Wiederholungen sich in den aktuellen Formen der Biopolitik ereignen. Ein Blick auf Roses Analyse kann hierbei helfen, diese Problematik zu verstehen. Rose bemerkt zutreffend, dass die molekulare Biologie und Medizin das Verhältnis von Individuum und Wissen modifiziert hat (Rose 2007, 10-11, 141). Er spricht daher von einer neuen Phase der Biopolitik, die sich von der rassistischen und eugenischen Biopolitik unterscheide (ebd., 24, 41f.). Problematisch ist hierbei vor allem, dass Rose die neuen biopolitischen Subjektivierungsprozesse lediglich im Unterschied zu den staatlichen und rassistischen Biopolitiken formuliert. Insofern erfasst er kaum die Verbindung von ökonomischen Diskursen und der Bildung der Subjekte. Rose redet von »advanced and liberal democracies« (ebd., 26) als Kontext, in dem die molekulare Biopolitik entstehe. Allerdings definiert er nicht, was er unter »advanced and liberal democracies« versteht und von welchen Subjektivierungsprozessen – einmal abgesehen von den sozialen Akteuren, die unmittelbar in der molekularen Medizin involviert sind – diese Gesellschaft bestimmt ist (vgl. ebd.).

15 Siehe dazu Gorgoglione (2010).

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Da diese neuen Subjektivierungsprozesse in einer liberalen Gesellschaft entstehen, ist die molekulare Biopolitik nicht mit den eugenischen Praktiken des Nationalsozialismus zu vergleichen. Vielmehr kann behauptet werden, dass die molekularen Subjektivierungsprozesse eine weitere Stufe der bioökonomischen Strategie darstellen, in der jeder Aspekt des Lebens der Subjekte durch eine ökonomische Rationalität verwaltet wird. Somit kann die Genealogie der Bioökonomie Bazzicalupos verwendet werden, um den roten Faden zu rekonstruieren, der die entstehende Idee der biological citizenship mit der klassischen Vorstellung des homo oeconomicus verbindet. Damit möchte ich nicht behaupten, dass die Entwicklung der molekularen Medizin ein bedeutungsloses Element der gegenwärtigen biopolitischen und bioökomischen Strategie ist. Die Biopolitik ist immer das Ergebnis einer immanenten Interaktion von heterogenem Wissen und Strategien. Aus diesem Grund kann eine genealogisch orientierte Forschung am besten beleuchten, welche Entwicklungen wirklich neu und welche Wiederholungen sind. Zudem kann durch eine genealogische Untersuchung gezeigt werden, wie sich die gouvernementale Strategie mittels neuen Wissens und Technologien entwickelt und auf welcher Basis die Interaktion von ökonomischer Führung und molekularer Medizin stattfindet. Es gibt noch einen anderen bemerkenswerten Aspekt der Forschung Bazzicalupos. Sie hebt zutreffend hervor, dass sich in der Moderne zwei biopolitische Prozesse erkennen lassen: eine biorassistische und eine bioökonomische Biopolitik. Diese zwei Orientierungen haben sich im Lauf der Moderne verflochten, kontrastiert und überschnitten. Obwohl weder Bazzicalupo noch andere WissenschaftlerInnen der BBPS diese Interaktion systematisch untersuchen, kann die Idee von verschiedenen und interaktiven biopolitischen Strategien zu einem neuen Blick auf die gegenwärtige Biopolitik beitragen. Insofern kann dieser Aspekt herangezogen werden, um sichtbar zu machen, wie in der Gegenwart Strategien für die Optimierung des Lebens von einigen mit tödlichen Folgen für andere einhergehen – obwohl die Biopolitik nicht an rassistischem Wissen, sondern an einer ökonomischen Rationalität ausgerichtet ist. Die Forschungen von Sunder Rajan verdeutlichen, dass die Produktion von Medizin das Leben von Individuen aufs Spiel setzen kann (vgl. Sunder Rajan 2009). Die Idee einer Optimierung des Lebens verweist auf die Dimension des Begehrens. Die Interpretation der Regierung des Begehrens als grundlegende Strategie der Bioökonomie ist ein anderes Verdienst der theoretisch-genealogischen Forschung Bazzicalupos. Auch in der Analyse der Biopolitik bei Hardt und Negri wird die Produktivität des Wunsches als grundlegender Faktor der postmodernen Produktionsverhältnisse angesehen. Allerdings wird von ihnen das Begehren als ontologisches Attribut der Multitude gedacht, das von der Biomacht ausgebeutet wird. Diese Problemstellung verhindert jedoch eine kritische Analyse der Strategie, die mit der Problematik des Begehrens verbunden ist. Im Unterschied dazu kann aus-

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gehend von Bazzicalupos Genealogie der Bioökonomie eine »Biopolitik des Begehrens« rekonstruiert werden. Sie zeigt, dass im Rahmen der ökonomischen Diskurse nicht die Frage gestellt wird, wie die Wünsche systematisch organisiert oder beeinflusst werden können. Diese Orientierung gilt nur für die Hegelʼsche oder dialektische Vorstellung der Bioökonomie. Schon die Grenznutzenschule formuliert eine Idee der ökonomischen Führung, die von den subjektiven Wünschen ausgeht. Bazzicalupo zeigt deutlich, dass auch durch den politischen und ethischen Imperativ des Begehrens Machtverhältnisse organisiert werden können. Zu Recht betont sie, dass das Problem nicht in der systematischen Ausnutzung des Begehrens besteht. Vielmehr ist es darin zu suchen, dass die Subjekte so geprägt werden, dass sie immer nach einer Individualisierung und Optimierung ihrer Wünsche streben. Insofern ist es einleuchtend, dass die Folge der Biopolitik des Begehrens weniger eine solidarische Gesellschaft, sondern die Entwicklung einer narzisstischen Subjektivität ist. Diese Interpretation hängt auch damit zusammen, dass sich Bazzicalupo im Unterschied zu Hardt und Negri und anderen postoperaistischen AutorInnen nicht auf die Produktion, sondern auf den Konsum fokussiert. Für sie ist der Konsum und nicht die Produktionsverhältnisse die konstitutive Praxis der bioökonomischen Subjektivität. Es ist allerdings zu betonen, dass diese Vorstellung des narzisstischen Subjekts als Folge der bioökonomischen Dispositive des Konsums nicht vollständig überzeugt, da dadurch nur eine Folge der Biopolitisierung der psychischen Dimension des Lebens begriffen wird. Die wissenschaftliche Produktion des Kollektivs Action30, die in dem nächsten Kapitel analysiert wird, bietet ein angemesseneres Verständnis der Strategie der biopolitischen Regulierung des psychischen Lebens. Das Bedürfnis einer genealogischen Analyse der Bioökonomie ist in den letzten Jahren auch in anderen wissenschaftlichen Kontexten entstanden. Ein Vergleich mit diesen Untersuchungen erlaubt Vor- und Nachteile von Bazzicalupos Analytik zu erfassen. Wie sie betont auch Lars Thorup Larsen in seinem Essay Wahr-Sprechen und Biomacht die konstitutive Verbindung von Biopolitik und liberaler Gouvernementalität und hält fest, dass nur durch eine genealogische Untersuchung die Funktion der Politischen Ökonomie – »das Wahr-Sprechen« – beleuchtet werden könne (Larsen 2012, 21). Im Unterschied zu Bazzicalupo konzipiert Larsen die Biopolitik nur als grundlegendes Korrelat der liberalen Gouvernementalität und als Alternative zur Polizei (ebd., 29). Wie schon erwähnt, sind für sie beide gouvernementalen Strategien als biopolitisch zu definieren, da sie den Diskursen über den bíos und der Ökonomie zugrunde liegen. Dieser Unterschied wird deutlich, wenn die Absicht beider AutorInnen verglichen wird. Larsens Genealogie möchte Biopolitik und Bioökonomie von staatlichen Interventionsstrategien abgrenzen und sein Fokus liegt daher auf dem Unterschied in dem Regulierungsprozess, der ihm zufolge in der Bioökonomie von dem Modell des selbstregulierenden Markts geprägt ist. Für

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ihn ist Bioökonomie keine besondere Version der Biopolitik – wie bei Bazzicalupo – sondern die Biopolitik als solche. Laut Larsen ist Biopolitik »eine Machtform, die in das Leben der Bevölkerung interveniert und es reguliert, aber gleichzeitig auf die Selbstregulierung der Bevölkerung setzt« (ebd., 29). Dass die Biopolitik ein grundlegendes Verhältnis mit der Ökonomie besitzt, impliziert allerdings, dass sie auf ihre ökonomische Version beschränkt wird. Wenn die Biopolitik als Normalisierung des Ausnahmezustands oder als Immunisierung des Politischen problematisch ist, ist aus demselben Grund auch die Reduzierung der Biopolitik auf die Ökonomisierung des Politischen inadäquat. Außerdem wäre aus dieser Perspektive ein begrifflicher Unterschied von Biopolitik und Bioökonomie sinnlos, da beide Begriffe den gleichen Prozess bezeichnen. Der Fokus von Bazzicalupos Genealogie liegt dagegen auf der Analyse der Diskurse über das ökonomische Subjekt. Ausgehend von dieser Forschungsperspektive hebt sie hervor, dass die ökonomischen Diskurse schon in ihrem Entstehen eine Naturalität des ökonomischen Handelns der Subjekte thematisieren und sie ausgehend davon zu regulieren versuchen. Allerdings wird bei ihr die Relevanz der Bevölkerung als Objekt der Biopolitik kaum erwähnt. Dieses Defizit ist m.E. der Grund warum Bazzicalupo ihre brillante Intuition in Bezug auf die Interaktion verschiedener Modelle der Biopolitik nicht entwickelt. Einerseits thematisiert sie die Existenz und die permanente Interaktion von Biopolitiken, aber andererseits wird diese Idee weder mit empirischen Forschungen noch mit Diskursanalysen unterstützt. Bazzicalupos Genealogie vermittelt den Eindruck, dass die biorassistische Biopolitik bevölkerungsorientiert, während die Bioökonomie subjektorientiert sei. Obwohl die Bildung der ökonomischen Subjektivität eine grundlegende Rolle spielt, ist es allerdings notwendig – wie Larsen im Anschluss an Foucault zu Recht behauptet –, die Wichtigkeit eines neuen Wissens über die Bevölkerung zu betonen, das gleichermaßen von der Biologie und der liberalen Lehre geprägt ist. Die Arbeiten von Bazzicalupo und BBPS haben den Nachteil, dass sie nicht ausreichend durch empirische Untersuchungen belegt sind. Während die theoretische Produktion sehr gut entwickelt ist, werden zu wenige empirische Studien zur Unterstützung der Theorie vorgestellt. Insofern werden kaum relevante Thesen – wie die Interaktion von biorassistischen und bioökonomischen Biopolitiken, oder die Interpretation des Wohlfahrtsstaats als biopolitisches und bioökonomisches Regime – weiter ausgearbeitet.16

16 Bazzicalupos Perspektive auf die Bioökonomie wird allerdings von einem Wissenschaftler, der nicht an den Tätigkeiten der BBPS teilgenommen hat, für eine empirische Analyse verwendet. In seinem Essay Bioeconomic governance in the EU after the molecular revolution: An introduction geht Andrea Rossi von Bazzicalupos Perspektive aus, um

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5.3 A CTION 30: B IOFASCHISMUS

UND

S UPERNORMALITÄT

Die Analytik der Bioökonomie Bazzicalupos hat gezeigt, dass die den ökonomischen Diskursen zugrunde liegende Biopolitik auch eine Regierung und Regulierung der psychischen Dimension des bíos ermöglicht. Ihre Analyse konzentriert sich auf die Folgen des Konsums als soziales Handeln und Dispositiv für die Regierung der Subjekte. Es handelt sich dabei allerdings um eine Analyse, die lediglich das Entstehen einer narzisstischen Charakterisierung der Subjekte betont. Im Unterschied dazu analysiert eine andere Forschungsgruppe – das Kollektiv Action3017 – systematisch die Regierung der psychischen Dimension des bíos als grundlegende Strategie der ökonomischen Biopolitik. Innerhalb der verschiedenen Richtungen der von dem Paradigma der Biopolitik inspirierten Forschung sind die Untersuchungen des Kollektivs Action30 sehr interessant, da es eine außerordentliche Perspektive für die Analyse einiger Formen der Ausübung von Macht entwickelt. Um diese Perspektive zu verstehen, werden vor allem die Forschungshypothese und die Methodologie dieser Forschungsgruppe berücksichtigt. Zunächst ist zu betonen, dass diese Forschungsgruppe über keine institutionellen Fördermittel verfügt. Es handelt sich um ein selbstfinanziertes Kollektiv, das seine Forschung als politische Militanz konzipiert und in Italien, Frankreich und Belgien aktiv und bekannt ist. An der Gruppe nehmen nicht nur SozialwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen, sondern auch GrafikerInnen, SchauspielerInnen, Discjockeys, FotografInnen und ComiczeichnerInnen teil. Zudem verwenden Action30 als Mittel für ihre Untersuchungen verschiedene Instrumente und präsentieren ihre Ergebnisse nicht nur in Form von Essays, sondern auch von Comics, Ausstellungen und Performances. Darüber hinaus versuchen Action30 eine avantgardistische Form des Essays – von ihnen als »Graphik-Essay« bezeichnet – zu produzieren, in dem Texte mit Bildern, Fotografien und Comics kombiniert werden. Diese »Graphik-Essays« werden vor allem in der von der Gruppe herausgegebenen Zeitschrift Action30 verwendet. Die Produktion von Action30 wird in eben dieser Zeitschrift, in Live-Performances und in der kollektiven Monographie L’uniforme e l’anima (dt.: Die Uniform und die Seele) veröffentlicht. Bereits der Titel dieser Arbeit verweist auf ihre These, dass sich die Strategien der Kontrolle und die Regulierung des bíos auf die intrapsychischen Dispositive fokussieren, um die Lebensführungen zu uniformieren. Die Gruppe stellt ihre künstlerisch-wissenschaftliche

sowohl die Gründung und die Entwicklung der EU als bioökonomische Institution als auch deren programmatische Entwicklungslinien zu verstehen (Rossi 2010). 17 Obwohl Action30 grammatikalisch Singular ist, wird im Folgenden die plurale Form des Verbs verwendet, um zu betonen, dass die WissenschaftlerInnen von Action30 eine plurale Perspektive entwickeln.

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Produktion auch auf einem YouTube-Kanal aus.18 Die letzte Live-Performance des Kollektivs heißt Costellazione 61 (Konstellation 61) und wurde in Belgien, Frankreich und Italien inszeniert.19 Der Ausgangspunkt der Forschung Action30s ist die Auseinandersetzung über die neuen Formen des Faschismus. Es geht dabei um eine Debatte, die seit dem Wahlerfolg Berlusconis im Jahr 1994 in der intellektuellen Szene Italiens intensiv geführt wird. Action30 konstatieren zunächst, dass sich in dieser Auseinandersetzung zwei polarisierte Positionen erkennen lassen. Auf der einen Seite stünden diejenigen, für die der »alte« Faschismus in Italien immer präsent gewesen sei und zunehmend vorherrsche; auf der anderen Seite lasse sich die Position erkennen, nach der der Faschismus ein »Dämon der Vergangenheit« sei, der mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig verschwunden sei (Di Vittorio 2009a, 131f.). Für Action30 führen beide Positionen analytisch in eine Sackgasse, da sie nicht berücksichtigten, dass sich der Faschismus durch Kontinuität und Diskontinuität, Mutationen und Kombinationen von heterogenen Diskursen entwickle. Insofern sei – so die Annahme von Action30 – eine analytische Perspektive nötig, die diese Variationen zu erfassen erlaube. Ausgehend von der Idee, dass der Faschismus eine Form der Ausübung von Macht ist, übernehmen Action30 Foucaults Analytik der Machtverhältnisse, um zu verstehen, auf welchen Diskursen, Praktiken und Dispositiven neue wie alte Formen des Faschismus basieren (ebd.). Im Anschluss an Foucaults analytische Perspektive wird Faschismus dabei als eine politische Form betrachtet, die ein bestimmtes Wahrheitsregime ohne Ausnahme durchsetzt (ebd., 140). Mit anderen Worten, kann eine politische Form als faschistisch definiert werden, wenn sie zu einer bestimmten, nicht hinterfragbaren Lebensführung zwingt. Somit wird von Action30 unter dem Begriff Faschismus nichts anderes als ein unbegrenzter Normalisierungsprozess verstanden. Die Unmöglichkeit, »anders zu sein« charakterisiert Action30 zufolge sowohl die alten als auch die neuen Faschismen. Was sich verschiebe, sei die Ebene, auf der sich der Faschismus entwickle. Während in den 1920er und 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts der Faschismus seine Macht durch Institutionen und insbesondere die des Nationalstaats

18 https://www.youtube.com/user/action30media?feature=watch. 19 Im Zentrum der Performance steht das Leben des Psychiaters Franco Basaglia, dessen wissenschaftliche Produktion und politische Kämpfe zu einer revolutionären Reform der Gesundheitspolitik in Italien in Bezug auf die Behandlung von Geisteskrankheiten geführt haben. Der Titel der Produktion verweist auf das Jahr 1961, in dem die Arbeiten Wahnsinn und Gesellschaft von Foucault, Asylums von Goffmann, und Die Verdammten dieser Erde von Fanon veröffentlicht wurden. Es handelt sich dabei um drei Arbeiten, die die Forschung und das Leben Basaglias stark beeinflusst haben.

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ausgeübt habe, operiere dieser heutzutage – so die Argumentation Action30s – auf und durch das Individuum und seine Lebensführung. Insofern lasse sich eine ambivalente Entwicklung des Faschismus beobachten. Zwar könne einerseits weniger Faschismus in den Institutionen, aber andererseits mehr davon in den Mentalitäten beobachtet werden (ebd., 142-143). Diese Idee übernehmen sie insbesondere von Pasolini, der schon in den 1970er Jahren von einem »neuen Faschismus« spricht. Dieser stellt für Pasolini im Gegensatz zum traditionellen Faschismus eine reelle Homogenisierung der Gesellschaft dar, die er als »anthropologische Veränderung« bezeichnet (vgl. Pasolini 1975, 56). Aus dieser Sichtweise erweist sich der Faschismus weniger als eine politische Bewegung oder Partei; vielmehr ist er eine Perspektive, nach der die sozialen Differenzen und unterschiedlichen Kulturen entweder homogenisiert oder als gefährlich betrachtet und deswegen ausgegrenzt werden. Agambens Idee des Paradigmas als analogische Erkenntnisform dient für Action30 als Grundlage für einen kritischen Vergleich zwischen neuen und alten Formen des Faschismus. Das Ziel dieser theoretischen Operation besteht darin, Kontinuität und Diskontinuität in der Ausübung der Macht sichtbar zu machen. Allerding distanzieren sich Action30 kritisch von Agambens Vorstellung der Funktion der Analogie. Während Agamben die analogische Rationalität auf die Intelligibilität von Phänomenen durch die Produktion von Paradigmen beschränkt, schreiben Action30 der Analogie auch eine poltisch-ethische Rolle zu. In dem Maße, in dem die Analogien den Punkt oder die Schwelle sichtbar machen würden, an dem die polarisierten Kräfte gegeneinanderstoßen oder sich vermischen, erlaubten sie eine politisch-ethische Positionierung innerhalb des konfliktuellen Felds der Diskurse und Praktiken (vgl. Di Vittorio 2012). Action30 bieten somit ein Beispiel für die politische Funktion der Analogie, auf die Melandri am Ende von La linea e il circolo etwas kryptisch verweist (Melandri 2004, 810). Ein anderer wichtiger Bezugspunkt für die Forschungsmethodologie von Action30 ist Georges Bataille und seine Idee eines niedrigen Materialismus sowohl als analytische als auch als militante Strategie gegen den Faschismus. In seinen Schriften analysiert Bataille soziale Phänomene durch das Begriffspaar homogenheterogen. Als homogen sind Bataille zufolge die Normen und sozialen Prozesse zu verstehen, die zur Bildung und Darstellung des sozialen Körpers als geistliche und soziale Einheit führen. Im Unterschied dazu seien Elemente wie z.B. Rausch, Erotik, Instinkt, Leidenschaft, Wahnsinn etc. als heterogen zu bezeichnen, die von der Gesellschaft aus dem Normalisierungsprozess verdrängt würden (vgl. Di Vittorio 2009b). Bataille – der bereits in den 1930ern eine Analytik des Faschismus skizziert (vgl. Bataille 1978) – formuliert die These, dass der Erfolg des Faschismus von der Fähigkeit abhänge, homogene und heterogen-verdrängte Elemente zu kombinieren. Insofern entwickelt Bataille die Idee einer antifaschistischen Praxis, die

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auf der Wiederverwertung der heterogenen Elemente beruht. Action30 übernehmen von Bataille die Idee der Analyse und politischen Verwendung von diesen verdrängten Elementen. Der Gegenstand der Analyse Action30s sind die Aussagen der sogenannten Pop-Kultur. Infolgedessen werden Filme, Werbung, Comics, Fernsehsendungen, Zeitschriften und Romane berücksichtigt, die durch philosophische, soziologische und politologische Kategorien interpretiert werden, die von verschiedenen AutorInnen übernommen werden.20 An ihrer Arbeitsmethode ist zudem interessant, dass Action30 auch einige Worte der alltäglichen Kommunikation wie z.B. Zoo oder Reality Show als analytische Begriffe verwenden. Ihre Arbeitshypothese lautet: Mit der Verbreitung der neoliberalen Biopolitik entwickelt sich eine neue Art von Faschismus, der weniger auf externen, bedrohlichen und mythologischen Elementen basiert, sondern sich auf die Bildung einer individuellen faschistischen Lebensführung konzentriert und als »Biofaschismus« definiert werden kann (Di Vittorio 2009c, 247). Action30 interpretieren ähnlich wie andere WissenschaftlerInnen die liberale Gouvernementalität als das Wahrheitsregime, das das politische Handeln und die Subjektivierungsprozesse in der Gegenwart prägt. In diesem politischen und hermeneutischen Rahmen definieren sie die Interventionen, die Strategien und den Zusammenhang der Führungen, die zur optimierenden Verwaltung des Lebens nach dem Modell des dominanten Wahrheitsregimes beitragen, als »Biofaschismus« (ebd.). Wie jede Form von Biopolitik produziere auch der Biofaschismus Zäsuren im Inneren der politischen Gemeinschaft. Allerdings sei der Gegenstand dieser Zäsuren nicht mehr die Bevölkerung, die von negativen Teilen befreit werden müsse, damit das Volk als solches entstehen könne. Vielmehr wirkten die neuen faschistischen Strategien auf den individuellen bíos, der von negativen, maßlosen Führungen, aber auch von kulturellen und sogar biologischen Komponenten gesäubert werden müsse (ebd., 254f.). Insofern ist für Action30 dieser Faschismus weniger mit der Ausübung einer Souveränität als mit der Homogenisierung der Normen zu verbinden. Ein Verdienst der Analyse Action30s besteht darin, dass sie durch den Begriff Biofaschismus vor allem die Ausübung der Biomacht auf die intrapsychische Dimension hervorheben. Das Suffix »Bio« vor dem Begriff Faschismus deutet ihnen zufolge daraufhin, dass die in dem dominanten Wahrheitsregime entstandenen Dispositive ein totalisierendes Integrationsniveau erreicht hätten, sodass jede

20 Insbesondere kommentieren und zitieren Action30 Philosophen wie Bataille, Foucault, Agamben, Deleuze und Guattari, Soziologen wie Theweleit und Littel, Schriftsteller wie Jackson Canetti, Ballard, Eco und Pasolini wie auch Regisseure wie Cronenberg und Pasolini (vgl. Di Vittorio u.a. 2009a).

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Dimension des bíos – seine Natur wie seine Psyche – unter der ökonomischen Verwaltung des Lebens stehe (ebd., 255). Wie schon die Analytik von BBPS, richtet sich auch für Action30 die Ausübung der Biomacht nicht auf die Regulierung der Ziele, sondern der Mittel. Insofern stehen im Mittelpunkt von Action30 Analysen, wie Normen und Normalität hergestellt werden. Für sie kann die aktuelle Produktion von Normativität durch den Begriff »Supernormalität« verstanden werden. Dieser Begriff ist die wichtigste Leistung von Action30, da er eine Analyse der Strategien erlaubt, durch die das Subjekt selbst seine Führungen, seine Gefühle und seine Probleme reguliert und kontrolliert. Das Suffix »Super« vor Normalität verweist auf einen dynamischen Prozess. Damit sich ein Individuum in der von der Bioökonomie geprägten Gesellschaft als »normal« definieren lässt, kann sich dieses Action30 zufolge nicht auf ein an vorgeschriebenen Normen ausgerichtetes Handeln beschränken. Die Subjekte müssten vielmehr – so die Argumentation Action30s – ständig an ihrer individuellen Normalität arbeiten, da das »Normal-Sein« in den gegenwärtigen Biopolitiken immer ein Plus – ein »Sur« wie sie sagen – erfordere (vgl. Action30 2007). Dieses Plus oder Super – das im Sinn eines Supplement interpretiert werden muss – bedeutet, dass die Subjekte ständig nach einer Verbesserung ihres Lebens streben müssen. Zentral dabei ist die Annahme, dass das Leben als nichts anderes als Humankapital betrachtet wird und es deswegen als Kapital immer wieder investiert werden muss. Die sozialen Akteure müssen aus dieser Perspektive insofern ständig versuchen, ihre Kompetenzen zu erweitern, aber ohne dass gleichzeitig ihre emotive Situation und biologische Struktur scheitert. Action30 konzentrieren sich sowohl auf die heterogenen Prozesse, mit denen diese Supernormalität gebildet wird, als auch auf die Folgen dieser Bearbeitung der psychophysischen Dimension nach der ökonomischen Logik. Der Wille zur psychophysischen Balance, die Optimierungsbedürfnisse und die Verwaltung des Humankapitals sind für Action30 der Kern des Biofaschismus. Insofern seien die Agenten dieser neuen Art des Faschismus nicht paramilitärische Gruppen, sondern diejenigen, die Expertise zur Unterscheidung der negativen oder gescheiterten von den positiven Lebensführungen anböten. Coaching, psychische Therapie wie auch Selbsthilfegruppen werden hierbei als Strategie der Supernormalität betrachtet, die immer zum Ideal oder zur Norm der psychischen Balance tendiere (Di Vittorio 2009c, 264). Diesbezüglich ist Action30s These relevant, nach der mit der Verbreitung dieser therapeutischen Praktiken der Supernormalität die Gesellschaft als unbegrenzte therapeutische Gemeinde verstanden werden kann (ebd., 257). Auch die sportliche Tätigkeit kann durch diese Perspektive interpretiert werden und ist aus dieser zudem paradigmatisch für das Verständnis des Funktionierens der Normalisierungsstrategien, die mit der Ökonomie als Wahrheitsregime verbunden

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sind. Der Sport als Dispositiv steht im Mittelpunkt der ersten Zeitschrift Action30, in der vor allem eine Ambivalenz hervorgehoben wird, die mit der Verbreitung des Sports in der bioökonomischen Gesellschaft zusammenhängt. Zum einen sei die sportliche Tätigkeit notwendig und werde als grundlegend für ein gesundes Leben betrachtet. Zum anderen müsse diese Tätigkeit immer in bestimmten Grenzen praktiziert werden, um nicht zu viel Energie zu verschwenden und vor allem keine negativen Emotionen hervorzurufen (vgl. Action30 2006). Dieses durch die Strategie der Supernormalität produzierte Streben nach einer Balance der Bedürfnisse sei der Kern des Biofaschismus. Ausgehend von dieser Perspektive untersuchen Action30 die Folgen des Normalisierungsprozesses, der von der permanenten Bearbeitung des Subjektes charakterisiert sei. Ihre These lautet, dass der Anspruch der Balance zur Verdrängung von Emotivität führe. Allerdings stelle die Verdrängung keine Auslöschung dar und somit tauche diese verdrängte Energie – so die provokative Annahme Action30s – in gewalttätigen »Lapsus« wieder auf. Die Fälle von Gewalt gegen Minderheiten, wie auch von Schlägereien in Stadien seien nichts anderes als die Verdrängung der emotionalen Energien durch die ökonomisch balancierten Lebensführungen. Action30 basieren ihre These darauf, dass die TäterInnen weniger aus marginalisierten Gruppen kämen. Vielmehr gehörten sie in vielen Fällen der Elite an, oder seien zumindest Subjekte, die gut in die Bioökonomie integriert und somit stark von der ökonomischen Biopolitik geprägt seien (vgl. Di Vittorio 2009c, 272). Action30 definiert diese TäterInnen als »Lumpen d’elezione« (ebd.) (dt.: LumpenEliten). Dazu kommt die Idee, dass die verdrängten Emotionen als Residuum in einem sozialen Lapsus auftauchen würden und in Form von Gewalt gegen die Ausgeschlossenen ausgelebt würden. Diese These beruht auf dem Begriff des »niederen Materialismus« von Bataille.21 Für Bataille existiert ein strukturelles Verhältnis von idealistischem und moralischem Handeln – Verhalten und Idee – und dem Entstehen von Ereignissen und Leistungen, die scheinbar dem legitimen Handlungsmo-

21 Bataille führt diesen Begriff in seiner Auseinandersetzung über die politische Rolle der künstlerischen Avantgarde gegen den Materialismus von Breton ein, der von einem Residuum von Idealismus charakterisiert sei, wie das Suffix »Sur« oder »Super« in dem Begriff »Surrealismus« zeige. Während für die Surrealisten die von der Bourgeoise abgelehnten Elemente sublimiert werden müssten, um eine neue revolutionäre Ordnung zu schaffen, müssen diese Elemente für Bataille nicht in eine Sur-Ordnung eingesetzt werden, da auf diese Weise ihr revolutionäres Potential in eine neue Form von Idealismus transformiert werde. Damit eine Performance radikal revolutionär bleiben könne, müsse sie immer ohne Form bleiben (vgl. Bataille 1970). Für eine zutreffende Analyse der Auseinandersetzung von Bataille und Breton siehe auch Ehrlicher (2001, insbesondere S. 418-431).

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dell widersprechen. Nach Bataille ist sowohl das von dem dominanten Wahrheitsregime geprägte Handeln als auch das negative, tabuisierte ein Produkt der dominanten psychologischen und sozialen Struktur (vgl. Di Vittorio 2009b). Action30 stellen außerdem die provokative Frage, ob diese gewalttätigen Performances – die »dunkle Seite« des Managements des Lebens – nicht kalkuliert seien und ob diese »dosierte« Freilassung der Gewalt nicht auch noch therapeutisch sei (vgl. Di Vittorio 2009c, 255). Anders ausgedrückt, stellt sich für Action30 die Frage, ob eine kleine Dose Rassismus, Gewalt und Faschismus keine positive Wirkung für das bioökonomische Dasein haben könnte (vgl. ebd., 278). Die bioökonomischen Normen sind Action30 zufolge nicht durch das für das Gesetz typische Verbot charakterisiert. Im Gegensatz dazu laute der bioökonomische Vorschlag: »Nicht übertreiben« und Balance halten. Insofern wird für Action30 eine Subjektivität plausibel, die unter der Woche ganz fleißig und kontrolliert arbeitet und am Wochenende ein Hooligan wird und ihre Emotionen im Stadion freilässt (ebd.). Die Forschung Action30s erlaubt dadurch zu erfassen, dass auch in der demokratischen und »sauberen« Form der Bioökonomie die Politiken des Lebens eine enge Verbindung mit der Ausübung einer Todesmacht behalten. Dis strukturelle Verbindung von Homogenisierung der ökonomischen Rationalität und das Entstehen von gewalttätigem und rassistischem Handeln, die dieses Kollektiv untersucht, sind grundlegend für die Entwicklung einer kritischen Analytik der Biopolitik, die gleichzeitig auch ein politisches Werkzeug sein möchte. Außerdem zeigen die Analysen Action30s ein weiteres Merkmal der liberalen Gouvernementalität. In dieser Regierungsform wird nie eine unmittelbare Repression praktiziert. Wie Foucault durch den Begriff des Sicherheitsdispositivs erklärt, können auch negative Ereignisse oder Handlungen als positiv gelten, wenn diese unter einer bestimmen Schwelle von Kompatibilität bleiben. Action30 argumentieren, dass diese gewalttätigen Handlungen eine säkularisierte Form des Opfers und die damit verbundene Gewalt wichtig für die soziale Stabilität sei. Eine oberflächliche Lektüre kann den Eindruck ergeben, dass auch Action30 ein Immunitätsdispositiv ähnlich dem Espositos formulierten. Allerdings gibt es zwischen diesen einen großen Unterschied. Espositos Thesen verweisen auf die Immunisierung als Erklärungsmodell für die Entwicklung des politischen Diskurses der Moderne. Im Unterschied dazu sprechen Action30 von performativer Gewalt und einer Stabilisierungsfunktion der gewalttätigen Performances in Bezug auf die Entwicklung eines Biofaschismus. Allerdings handelt es sich nicht nur um eine historische Differenz. Bei Esposito sind die immunitären Dispositive grundlegend für die Ausübung der Souveränität und folgen insofern immer einer politischen Orientierung. Die von Action30 analysierten gewalttätigen Performances sind die Folgen der Verdrängungsmechanismen eines von der Bioökonomie geprägten Subjektes. Die Reaktion auf dieses Auftau-

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chen der Gewalt ist nicht nur die Institution neuer immunitärer Strukturen. Vielmehr wird erstens versucht, ein noch besseres Management dieser Erscheinungsformen der Gewalt zu bieten. Zweitens werden die Voraussetzungen geschaffen, damit diese latente Gewalt oder Energie ohne Schaden für andere bioökonomische Subjekte auftauchen kann. Aus dieser Sichtweise ist es wichtig zu betonen, dass die Gewalt fast immer gegen Minderheiten gerichtet ist, deren Leben keinen relevanten Wert für die Bioökonomie darstellt. Somit wird erneut das bio-thanatopolitische Verhältnis des Lebens von einigen und des Todes der anderen deutlich, das sich in diesem Fall als Spaß und psychische Befriedigung für einige und Leiden für andere ausdrücken lässt. Insofern muss diese Gouvernementalität allerdings immer neue Strategien und Regierungsarten formulieren, um dieses »Spiel mit der Gewalt« unter Kontrolle zu halten. Wie schon Bazzicalupo hervorgehoben hat, ist die bioökonomische Ordnung daher immer unstabil und prekär. Außerdem wird in der Analyse von Action30 eine Verschiebung oder eine Erweiterung der Durchdringung der Biopolitiken hervorgehoben, die sich nicht mehr nur auf der Ebene der Bevölkerung und des individuellen Körpers, sondern auch auf und durch die intrapsychische Dimension entwickeln. Der Begriff des Biofaschismus hat das Verdienst, diese Totalisierungstendenzen der Biopolitiken zu betonen. In unserer Gegenwart ist der Totalitarismus demnach nicht mehr als Gegenteil zur Demokratie zu verstehen. Vielmehr lässt sich im Anschluss an den Begriff des Biofaschismus behaupten, dass der Totalitarismus in der Stabilisierung eines einzigen Modells für das soziale Handeln und das private Benehmen besteht, das die ökonomische Regierung des eigenen Lebens wie auch des Lebens der anderen prägt. Durch eine Ironie der Geschichte wird diese Beherrschung in Form einer Rhetorik der Freiheit dargestellt.

5.4 3 E COLOGIE : S ICHERHEIT DES R ISIKOS

UND

R EGIERUNG

Die Analyse des Verhältnisses von Biopolitik und ökonomischer Gouvernementalität in Italien hat in den letzten Jahren nicht nur zu einer Rekonstruktion der Strategien für die Regierung des bíos geführt. Die wissenschaftlich-technologischen Fortschritte wie auch die Folgen des Industrialisierungsprozesses haben auch das Verhältnis von bíos/menschlichem Leben und Umwelt/Natur radikal verändert. Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito fokussieren ihre Analytik auf das Politische bzw. die Produktionsverhältnisse und berücksichtigen daher nicht, ob die ökologischen Krisen zu einer Veränderung der biopolitischen Strategien führen. Im Unterschied dazu versucht insbesondere die Forschungsgruppe 3 Ecologie seit einigen Jahren die ökologische Frage ausgehend von einer biopolitischen Pers-

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pektive zu untersuchen. Diese Forschungsgruppe wurde von dem Gesellschaftstheoretiker Ottavio Marzocca an der Universität Bari gegründet. Wie schon erwähnt, hat Marzocca intensiv zu Foucaults Rezeption in Italien beigetragen. Insbesondere hat er die ersten Schriften Foucaults zur ökonomischen Gouvernementalität herausgegeben und analysiert. Außerdem hat Marzocca das Verhältnis von Biopolitik und ökonomischer Gouvernementalität in seiner Arbeit Perché il Governo (Warum die Regierung) und Il Governo dell’ethos (Die Regierung des Ethos) kritisch untersucht. Ausgehend von Foucaults Analytik der Machtverhältnisse hat er zudem gemeinsam mit anderen WissenschaftlerInnen im Jahr 2006 das Lessico di Biopolitica (Lexikon der Biopolitik) veröffentlicht, das auch ins Französische übersetzt wurde. Dieses Lexikon basiert auf Foucaults Idee der Werkzeugkiste. Insbesondere werden darin Begriffe und Forschungsperspektiven analysiert, die mit der Biopolitik verbunden sind oder verbunden werden können. Insofern findet sich bereits in dieser Arbeit die Idee, dass sich die Biopolitik in verschiedene Strategien entwickeln kann. Darüber hinaus wird schon die Möglichkeit erwähnt, dass die ökologische Frage zentral für die neue biopolitische Strategie sei (vgl. Marzocca 2006a). Diese Forschungsperspektive gab den Anlass zur Gründung der Forschungsgruppe 3 Ecologie, an der auch einige WissenschaftlerInnen teilgenommen haben, die an dem Lessico di Biopolitica mitgearbeitet haben. Der Name der Gruppe beruft sich auf eine der letzten Schriften von Félix Guattari Le trois écologies – die drei Ökologien – (Guattari 1994). Für Guattari soll sich die Ökologie nicht auf die Anklage der ökologischen Probleme beschränken, die mit dem Industrialisierungsprozess verbunden sind. Vielmehr solle sie eine Ökosophie entwickeln, die zu einer Veränderung der Konzeption der Umwelt (erste Ökologie), der Gesellschaft (zweite Ökologie) und der Subjektivierungsprozesse (dritte Ökologie) führen solle. Guattari konzipiert die Ökosophie oder die drei Ökologien vor allem als Ausgangspunkt für eine neue ethisch-politische Praxis (ebd.). Diese militante Orientierung der Perspektive Guattaris wird auch von der Forschungsgruppe 3 Ecologie verfolgt, die insbesondere umweltpolitische Kontroversen und Konflikte an Foucaults Thema der Widerstandspraktiken knüpft. Seine These, dass jede Macht Widerstand produziere, wird hierbei erneut bestätigt. Besonders in Italien sind bestimmte Strategien der Regierung der Umwelt oder der ökologischen Probleme auf den Widerstand der Bevölkerungen gestoßen, die diese Rationalität kritisieren und sich an anderen Modellen für die Verwaltung des Territoriums orientieren. Die Analytik der dominanten Strategien der Regulierung ökologischer Krisen und ökologischer Probleme und die Möglichkeiten für eine alternative Praxis stehen im Zentrum der Forschung von 3 Ecologie. Mitglieder dieser Forschungsgruppe sind vor allem prekäre Promovierende und Post-Docs. Die Initiative von Ottavio Marzocca hat somit auch eine politisch-ethische Bedeutung im Kontrast zur hege-

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monialen Strategie innerhalb der italienischen Akademie. Dieser prekäre Status der WissenschaftlerInnen des Projekts 3 Ecologie hat auch eine Wirkung auf dessen wissenschaftliche Produktion, die auf die Arbeiten Marzoccas und den Sammelband Governare l’ambiente (Marzocca 2010a) beschränkt ist. In der vorliegenden Arbeit wird die Analytik von 3 Ecologie in Form zweier Forschungsrichtungen dargestellt. Erstens analysieren sie die Ambivalenzen innerhalb der Diskurse, die der Regierungsstrategie der Umweltprobleme zugrunde liegen. Insbesondere werden die Widersprüche untersucht, die mit der ökonomischen Verwaltung der Umwelt verbunden sind. Zweitens untersuchen sie die theoretischen und militanten Widerstandspraktiken, die sich gegen diese ökonomische Idee des Mensch-Natur-Verhältnisses organisieren. Diese beiden Forschungsrichtungen der 3 Ecologie werden in dem ersten und zweiten Abschnitt dieses Kapitels analysiert. 5.4.1 Ökologische Krise und Regierung des Risikos Marzoccas Essay Equivoci dell’Oikos (2010b), der in Governare l’ambiente veröffentlicht worden ist, stellt aus einer biopolitischen Perspektive die wichtigste theoretische Konzeptualisierung der Problematiken dar, die mit der ökonomischen Regierung der Umwelt verbunden sind. Es muss deutlich gemacht werden, dass die ökologischen Diskurse von einer biopolitischen Dimension charakterisiert sind, da sie Veränderungen in den Subjektivierungsprozessen und in der Regierung des bíos produzieren. Marzocca macht diese Verschiebungen sichtbar, indem er heterogene Diskurse und Praktiken analysiert, die sich mit ökologischen Fragen beschäftigen. Zunächst sind ihm zufolge zwei Elemente zu berücksichtigen. Erstens seien die ökologischen Problematiken eine Priorität der politischen Akteure und Institutionen geworden, wie Dokumente wie die Stern Review on the Economics of Climate Change oder Ereignisse wie die UN-Klimakonferenz in Kopenhagen im Jahr 2009 zeigten (Marzocca 2010b, 15f.). Zweitens werde die ökologische Frage immer durch die ökonomische Rationalität interpretiert (ebd., 17). Insofern seien die aktuellen Produktionsverhältnisse und die Industrialisierungsprozesse problematisch, da sie in ihrem aktuellen Zustand ein großes Problem für ökonomische Stabilität und Wachstum darstellten. Die institutionellen, politischen und wirtschaftlichen Akteure sollten demnach – wie z.B. die Stern Review behauptet – Initiativen zum Schutz der Umwelt ergreifen, um die wirtschaftlichen und politisch-sozialen Systeme zu schützen. Diese Initiativen müssten ergriffen werden, da Untätigkeit höhere Kosten als eine nachhaltige Produktion mit sich bringe (ebd.). Marzocca betont die Ambiguität dieser Problemstellung, die als Mittel gegen die ökonomische Ausbeutung der Umwelt weiterhin Lösungen suche, die im Rahmen derselben ökonomischen Rationalität formuliert würden. Dies bekräftigt die

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These von Foucault, die von Bazzicalupo vertieft wurde, dass sich heutzutage die Biopolitik vor allem im Rahmen einer ökonomischen Rationalität entwickelt. Marzocca hebt die biopolitischen Implikationen der ökologischen Krise hervor, indem er diese Krise als Krise des Zusammenlebens interpretiert (Marzocca 2010b, 28). Im Anschluss an Arendt und Canguilhem versteht Marzocca die ökologische Krise weniger als Verschwendung und Erschöpfung der natürlichen Ressourcen. Vielmehr sei das moderne Verhältnis zwischen technologischer Entwicklung und der Biosphäre problematisch, das in der Moderne von einer Priorität der ersten gegenüber der zweiten charakterisiert sei (ebd., 28-29). Hierbei ist wichtig zu betonen, dass Marzocca das Zusammenzuleben nicht nur als Gesellschaft oder Gemeinschaft interpretiert. Für ihn hängen diese zwei menschlichen Dimensionen des bíos auch von einem Leben mit der Umwelt ab. Insofern beruft er sich auf die ursprüngliche Bedeutung von oiko-logos, die auf das Verhältnis von Mensch und Welt/Umwelt – oder mit anderen Worten: auf das Wohnen des Menschen in der Welt – verweist. Marzocca begreift den naturwissenschaftlichen Begriff des Habitats auch als »in der Welt zu sein«. Im Italienischen wie auch in anderen lateinischen Sprachen kommt das Verb wohnen – abitare – von Habitat; insofern interpretiert er das »in der Welt zu sein« als wohnen. Daraus resultiert für Marzocca das Bedürfnis, zu verstehen, wie dieses »in der Welt zu sein« – Habitat – in der modernen Gesellschaft hergestellt wird. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass Marzocca und 3 Ecologie sehr kritisch gegenüber einer Dämonisierung der Technik sind. Wie schon bei Esposito ist es auch für 3 Ecologie unmöglich und sinnlos, ein bíos ohne die Technik zu denken. Vielmehr sei das Problem, zu verstehen, wie und durch welche Praktiken und Diskurse ein Habitat hergestellt werde, in dem das ökonomische und das technologische Wachstum die Priorität der Gesellschaft und der politischen Akteure geworden sei. Ausgehend von dieser Idee untersucht Marzocca das Verhältnis von Mächten und Wissen, das ihm zufolge die dominante Form des Habitats in der Gegenwart prägt. Diese Zentralität des Verhältnisses Macht/Wissen verweist auf die Wichtigkeit der Methodologie Foucaults für die Analyse der Machtverhältnisse, die mit der ökologischen Krise verbunden sind. Zuerst hebt Marzocca die Ambivalenzen der wissenschaftlichen Diskurse und Akteure hervor. Zum einen seien die wissenschaftlichen Forschungen grundlegend für die Thematisierung und Darstellung der ökologischen Probleme. Zum anderen könnte eine von Expertise geprägte Darstellung der Umweltprobleme zur Produktion von Wahrheitsregimen führen, in dem nur wenige institutionelle wissenschaftliche Akteure das soziale und ökologische Handeln der sozialen Akteure bestimmen würden. Insofern könnte auch die Darstellung der ökologischen Probleme als »Bedrohung der Menschheit« bzw. als »Ri-

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siko für das Leben« zur Einsetzung neuer Strategien der Ausübung der Biomacht werden (ebd., 30). Marzocca fokussiert seine Analytik vor allem auf das Verständnis dieser Strategien. Zentral dabei ist ihm zufolge die Konzeption des Risikos. Schon die Darstellung der Umwelt als kritische Situation und insofern als Notfall führe zu politischen Folgen, die sich auch durch Agambens Perspektive des Ausnahmezustands als grundlegendes Regierungsinstrument interpretieren ließen. Aus dieser Perspektive sei die ökologische Krise ein Diskurs, der einen Entdemokratisierungsprozess zur Folge habe, da der Notfall zur Verhängung eines Ausnahmezustands führe.22 Obwohl Marzocca diese Interpretationslinie nicht als solche ablehnt, sind für ihn die Wirkungen der Darstellung der Umweltfrage als Risiko für Institutionen und soziales Handeln vielmehr im Rahmen der bioökonomischen Rationalität zu interpretieren. Mit anderen Worten: Die Risikodiskurse lassen sich laut Marzocca nicht auf die Legitimierung der Erklärung des Ausnahmezustands beschränken. Vielmehr sind für ihn die Diskurse über das Risiko als Sicherheitsdispositiv zu analysieren. Er analysiert das Risiko als Sicherheitsdispositiv nicht nur in dem Essay Equivoci dell’oikos, sondern auch in seiner Monographie Il governo dell’Ethos (Marzocca 2011). Hierbei wird das Risiko nicht als konstitutives Prinzip oder Charakteristikum der Moderne interpretiert, wie bei Autoren wie Giddens und Luhmann (vgl. Luhmann 1991; Giddens 2001). Außerdem zielt diese Analytik nicht auf die Verschiebung der Wahrnehmung des Risikos selbst in dem Übergang von der Moderne zur Postmoderne, wie Beck argumentiert (Beck 1986). Vielmehr wird von Marzocca und anderen WissenschaftlerInnen der 3 Ecologie analysiert, wie durch die Risikodiskurse sowohl Modelle für das Handeln der sozialen Akteure als auch institutionelle Interventionstechniken produziert werden, die auf die Singularität wie auch auf die Kollektivität und die Umwelt wirken (Marzocca 2011, 105). Marzocca hebt zutreffend hervor, dass Risikodiskurse für die Herstellung eines spezifischen Modells für die Lebensführung der Subjekte konstitutiv sind (ebd.). Dabei handele es sich um ein Modell, das als Orientierung für die konstitutive Unsicherheit des Lebens in der ökonomischen Ordnung fungiere (ebd., 106). Mit ande-

22 Paradigmatisch dafür ist der Fall des »Notfall-Mülls« in Neapel und der Region Campanien, der in Governare l’ambiente von Antonio Petrillo analysiert wird. In seinem Essay Un’emergenza d’eccezione hebt Petrillo die Probleme und Proteste der neapolitanischen Bevölkerung hervor. Die BürgerInnen erleben demnach seit zwanzig Jahren eine ökologische Krise, die zur Institution eines permanenten Kommissariats für die Verwaltung des Mülls geführt hat, dessen Ergebnis in dem Aufbau von Deponien besteht, die keine Normen der Umweltpolitik respektieren (Petrillo 2010, 122f.). Dazu kommt auch eine konstante Kriminalisierung der Bevölkerung, deren »Schuld« in der Ablehnung einer Strategie besteht, die ihr Leben in Gefahr bringt (ebd., 116-117).

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ren Worten: In dem Maße, in dem das Leben durch ökonomische Kategorien organisiert wird, soll es auch durch die ökonomische Rationalität geführt werden, in der das Risiko einen grundlegenden Faktor darstellt. Marzocca zufolge emanzipieren sich die Risikodiskurse von dem ökonomischen Bereich und bilden ein biopolitisches Dispositiv, das das Leben als solches orientiert und prägt (ebd., 106). Entscheidend für das Verständnis des Dispositivs des Risikos ist die Analyse der liberalen und neoliberalen Idee des Risikos, die Marzocca durch den Begriff der Regierung des Risikos definiert. Er knüpft in seiner Analytik der Risikodiskurse unmittelbar an die Thesen und empirischen Untersuchungen von Dean (1999) und Lemke (2007) an, die die Zentralität dieser Diskurse für das Handeln der sozialen Akteure sichtbar machen. Relevant dabei ist die Annahme, dass Risikodiskurse als ein »Kompass« für die Orientierung eines vollkommen an ökonomischen Kriterien ausgerichteten Lebens fungierten. Die liberalen Diskurse über das Risiko würden deswegen – so Marzocca im Anschluss an Lemke und Dean – keine Unsicherheit, sondern Kriterien für die Lebensführung produzieren. Die Zentralität der Lebensführung erlaubt dabei, einen grundlegenden Unterschied von immunitären oder rassistischen und liberalen oder ökonomischen Formen der Biopolitik zu erfassen. Während die erste auf die Verteidigung der Bevölkerung als gesellschaftlichem Körper von externen und internen Feinden abzielt, ist der Gegenstand der liberalen Regierung der Risiken das Individuum in seinem täglichen Handeln und seinen Entscheidungen. Insofern können zwei wichtige Verschiebungen in der Ausübung der Biomacht ausgemacht werden. Erstens wird das Subjekt und nicht mehr die Dialektik von Institutionen und Bevölkerungen das Zentrum der Biopolitik. Es ist somit nicht übertrieben, zu behaupten, dass der Subjektivierungsprozess das Mittel und das Ziel dieser Biopolitik ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass andere Formen der Biopolitik keine Rolle spielen würden. Die zweite Verschiebung betrifft den Übergang von einer objektiven und politischen zu einer individuellen und ökonomischen Verantwortlichkeit. Es ist nicht mehr der Staat, der sich um die Sicherheit der BürgerInnen sorgt. Vielmehr ist das Subjekt für seine Entscheidung und seine Lebensführung verantwortlich und muss für seine Fehler und falschen Risikoabwägungen die Verantwortung übernehmen. Aus diesem Grund spricht Marzocca von einer »ethopoietischen« Funktion des Risikos. Damit verweist er darauf, dass die Diskurse über die Risiken das Handeln und die ethische und (un-) politische Dimension des Lebens der BürgerInnen – den bíos – prägen. Sie tragen somit zur Entwicklung einer Subjektivität bei, die mit der Idee einer radikal ökonomischen Gesellschaft übereinstimmt und darüber hinaus die Institutionen entlastet, die im »Spiel der Bioökonomie« – wie Bazzicalupo sagt – diese ökonomische Subjektivität »sterben lassen« dürfen (vgl. Bazzicalupo 2006, 146).

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Die wichtigste theoretische Leistung Marzoccas liegt allerdings in der Analyse des Verhältnisses von Risikodiskursen und der ökologischen Frage. Die Möglichkeit einer ökologischen Katastrophe führt für ihn zur Einsetzung der Regierung der Risiken in einer »Regierung des Unabwendbaren« (Marzocca 2011, 111). Darunter versteht er politische Interventionen und Normen, denen die sozialen Akteure im Fall einer Katastrophe wie einem Erdbeben oder einer Epidemie folgen müssen. Die Subjekte werden demnach für die Katastrophe »trainiert«. Dazu komme eine wichtige Verschiebung: In dem Maße, in dem die Subjekte für diese Ereignisse gebildet würden, trügen sie auch die Verantwortlichkeit für die Rettung des eigenen Lebens und des der anderen. Für Marzocca ist dabei nicht die Katastrophenvorsorge per se problematisch, sondern die politischen und sozialen Folgen dieses Dispositivs. Das Teilnehmen am Training eines Rettungsplans führe zur Normalisierung der Katastrophen bzw. werde dadurch die Möglichkeit der Katastrophe realistisch. Die Ambiguität dieses Prozesses besteht für Marzocca darin, dass die sozialen Akteure zum einen durch Risikodiskurse und Präventionsmaßnahmen verantwortlich gemacht werden;23 zum anderen werde das Verhältnis zwischen dem Industrialisierungsprozess und der Umwelt als Ursprung der ökologischen Krise ausgeklammert und dessen politische und soziale Priorität herabgesetzt. Mit anderen Worten: Wenn das Risiko nicht vermieden werden kann, gibt es keine Notwendigkeit der Redefinition des Verhältnisses Mensch-Natur. 5.4.2 Ökologie, Gesellschaft und Ökosystem Marzocca thematisiert die Analytik der Regierung der Umwelt auch in seiner letzten Arbeit il mondo comune. In diesem Text behandelt er die ökologische Frage noch eingehender, indem er eine genealogische Rekonstruktion des Verhältnisses von Raum und Souveränität und des kontroversen Verhältnisses von Biopolitik und ökologischem Wissen unternimmt. Gesellschaftstheoretisch ist zudem die Kritik an Luhmanns Systemtheorie durch den von dem britischen Philosophen Gregory Bateson formulierten Begriff des Geists hochinteressant. In dem folgenden Abschnitt liegt der Fokus insbesondere auf den Ergebnissen der Analyse des Verhältnisses von biopolitisch-bioökonomischen Diskursen und ökologischen Wissen und den theoretischen Möglichkeiten der Batesonʼschen Perspektive (vgl. Marzocca 2015).

23 Die Soziologin Renata Brandimarte spricht von einer Pastoral des Risikos, um die Funktion dieser Diskurse in den aktuellen Biopolitiken zu charakterisieren. Insbesondere verweist sie auf die verschiedenen Strategien für die Verwaltung der Risiken, die Experten in einem »Markt der Prävention« anbieten würden. Ihr zufolge können die sozialen Akteure zwischen verschiedenen Autoritäten wählen, die auf dem Markt Strategien für die Prävention und Verwaltung der Risiken anbieten (Brandimarte 2006, 269).

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Zunächst ist jedoch deutlich zu machen, dass Marzocca die Biopolitik hierbei immer im Anschluss an die Entwicklung einer ökonomischen Regierungsrationalität interpretiert. Vor diesem Hintergrund sind für ihn diejenigen neuen Wissensformen relevant, die in dem XVII Jahrhundert zu einer quantitativen und qualitativen Verbesserung der Produktionsverhältnisse beigetragen haben. In diesem Kontext spielt auch die Ökologie eine grundlegende Rolle, wie der Einfluss des Naturalismus auf die liberale Gouvernementalität zeigt. Allerdings hebt Marzocca hervor, dass diese Relation eher ambivalent ist. Zum einen führt das biopolitische Interesse an der Gesundheit und Produktivität der Bevölkerung zur Entwicklung eines Wissens, das die Interaktion von Umwelt und Lebewesen berücksichtigt. Zum anderen ist für Marzocca der Schutz der Umwelt immer der ökonomischen Logik des Profits untergestellt. Deswegen ist ihm zufolge die Biopolitik in Wirklichkeit nur oberflächlich von dem ökologischen Wissen geprägt, weil diese Diskurse immer ausgehend von dem Dogma des Wachstums der Produktivität interpretiert würden (ebd. 109). Marzocca basiert diese These auf eine Genealogie der Diskurse über die Ökologie, die von den Forschungen von Humboldt bis zu den Theorien der ecosystem ecology über die verschiedene Anwendung der Evolutionstheorie ausgeht. Zunächst betont er, dass die Forschungen von Humboldt eine grundlegende Wende in der Naturwissenschaft darstellen, da darin vor allem der geo-klimatische Kontext für die Entwicklung der Lebewesen als grundlegendes Element behandelt wird. Marzocca betont insbesondere, dass diese Forschungen auch von dem Ziel geleitet waren, die Landwirtschaft zu verbessern. Vor allem wurde untersucht, wie tropikalische Pflanzen auch in anderen Kontexten überleben konnten und wie das Risiko einer Hungersnot minimiert werden konnte (ebd.). Wie von Marzocca betont, geht es dabei um eine wissenschaftliche Wende, die mit einer biopolitischen Perspektive verbunden ist, da das Ziel die Verbesserung der Lebensbedingung der Bevölkerung ist (ebd. 110). Die Evolutionstheorie ist ihm zufolge ein weiteres Zeichen des Verhältnisses von ökologischen und biopolitischen Diskursen. Der Einfluss von Malthus auf Darwins Theorie stehe im Mittelpunkt dieser Interaktion. Für beide sei das Verhältnis von demographischen Variationen und die materiellen Bedingungen für das Überleben der Bevölkerung grundlegend. Bei dem einem wie in dem anderen führe eine Veränderung in diesem Verhältnis zu einem Kampf ums Überleben oder mit anderen Worten: zum Risiko für das Leben. Marzocca zufolge prägt dieses Paradigma die Analyse des Verhältnisses von Umwelt und Gesellschaft permanent (ebd., 111). Als Beweis dafür hebt er eine interessante Analogie zwischen Malthusʼ Bevölkerungsgesetz und dem Bericht über die Grenzen des Wachstums, die der Club of Rome 1972 veröffentlichte, hervor. Obwohl Malthus sich auf die Bevölkerung fokussiert, während die Forschungsgegenstände des Club of Rome die Ökosys-

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teme sind, werden in beiden Fällen Probleme analysiert, die mit einem unkontrollierten Wachstum verbunden sind. Insofern werden biopolitische Maßnahmen empfohlen, die zu einem nachhaltigem Produktionssystem führen können. Das Relevante liegt für Marzocca darin, dass die Diskurse über die Ökologie aus diesem Spannungsfeld von dem ökonomischen Bedürfnis des ökonomischen Wachstums und der biopolitischen Sorge um die Bevölkerung entstehen (ebd., 112). Eine weitere interessante Verschiebung in den Diskursen über die Ökologie kann für Marzocca in den Theorien der ecosystem ecology ausgemacht werden, die von den Brüdern Eugene P. und Howard T. Odum formuliert wurden. Hierbei ist für Marzocca besonders wichtig, dass das Verhältnis von Umwelt und Lebewesen ausgehend von dem chemischen und physischen Wissen interpretiert wird. In diesem Kontext spielt insbesondere die Thermodynamik eine wichtige Rolle, die die Begrifflichkeit und Modelle für das Verständnis der Ökosysteme stark beeinflusst, indem die Relation zwischen Lebewesen und Umwelt ausgehend vom Austausch von Energie und chemischen Prozessen interpretiert wird. Marzocca betont in seiner Rekonstruktion, dass nach diesem Forschungsmodell die Funktion eines Ökosystems durch die Produktion von Bioenergie analysiert wird. Insofern würden Kriterien wie Effizienz, Leistung und biologische Produktivität grundlegende Kategorien für die Analyse der Ökosysteme (ebd., 115). Im Rahmen dieser Theorie wird das Modell des optimalen Ökosystems als ein System definiert, in dem die Produktion von Bio-Energien eine reguläre Selbsterhaltung für die Lebewesen gewährleistet. Marzocca betont, dass es sich dabei um eine Perspektive handele, die zur Interpretation der Ökosysteme als Kapital führe. Dazu kämen verschiedene Strategien, die in die Kategorie der nachhaltigen Entwicklung eingeordnet werden könnten. Das Interessante an dieser Konzeptualisierung des Ökosystems ist für Marzocca die Persistenz sowohl des biopolitischen Themas der Sicherheit als auch des ökonomischen Themas der nachhaltigen Generierung ökonomischen Wachstums. Aus dieser Perspektive muss ein Ökosystem geschützt werden, da es eine Grundlage für ökonomisches Wachstum ist (ebd.). Insofern betont Marzocca, dass die ökologische Frage immer ins Licht einer neuen Organisation des Produktionsverhältnisses gestellt wird. Das Paradox besteht für ihn darin, dass die Ökologie als ein wissenschaftlicher und politischer Diskurs thematisiert wird, in dem die Produktionsverhältnisse die Ursache des Problems darstellen, zugleich aber auch durch ein – wenn man so will – ökologisches »Upgrade« konserviert werden sollen. So gesehen betont Marzocca, dass in diesem Kontext die Natur nur als Kapital geschützt werden kann (ebd., 115f.). Diese Vorstellung der ökologischen Frage führt zur Entwicklung von Strategien wie nachhaltige Entwicklung oder green capitalism wie auch von ethischen Modellen, die auf der Idee einer Ethik ecologically correct basieren. Es handelt sich dabei allerdings für Marzocca um unbefriedigende Strategien, da sie die ökonomische

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Rationalität als Modell für die Regierung der Umwelt nicht in Frage stellen (ebd., 120f.). Ausgehend von dieser Tatsache ist für ihn grundlegend, das Verhältnis von Mensch, sozialem Handeln und Ökosystemen neu zu denken. Um dieser Frage nachzugehen, inszeniert Marzocca eine Auseinandersetzung zwischen Luhmanns Systemtheorie und Bathesons Ökologie des Geistes. Auf der einen Seite steht der deutsche Soziologe, der sehr kritisch gegenüber der ökologischen Bewegung war; auf der anderen der angloamerikanische Philosoph, der die Ökologie als Angelpunkt für die Aufhebung der anthropologischen Perspektive ansah. Luhmann beschäftigte sich vor allem in seiner Arbeit Ökologische Kommunikation mit der ökologischen Frage. Luhmanns Hauptthese ist bekannt: Da die Grenzen und die gesellschaftlichen Funktionen von einem Ökosystem nicht definiert werden können, muss es von der Analytik der sozialen Systeme ausgeschlossen werden. Ausgehend von dieser Perspektive kann für Luhmann die Ökologie keine effektive Resonanz und Einfluss auf die Gesellschaft ausüben, da zwischen Gesellschaft und Ökosystem keine Kommunikation kodifiziert werden kann. Obwohl die Gesellschaft und insbesondere die Technik und die Produktionsverhältnisse eine Wirkung auf die Umwelt haben, kann für Luhmann ein Ökosystem nur als wissenschaftliches Objekt von der Gesellschaft thematisiert werden (vgl. Luhmann 1990). Obwohl Marzocca ein gewisses Vorurteil in Luhmanns Beschäftigung mit der Umweltfrage bemerkt, ist für ihn ein Aspekt dessen Kritik an der ökologischen Perspektive absolut relevant: Die Gesellschaft und die sozialen Akteure lassen sich nicht in ihrer Funktion von den Umweltdynamiken beeinflussen (Marzocca 2015, 129). Die ökologische Perspektive werde gesellschaftlich nur gegenüber Katastrophen thematisiert, die auch und vor allem das Leben von Menschen bedrohen. Außerdem betont Marzocca im Anschluss an Luhmann, dass die Umweltprobleme tatsächlich immer durch die etablierten und dominanten Codes der sozialen Kommunikation interpretiert und bearbeiten würden (ebd.). Allerdings distanziert sich Marzocca kritisch von Luhmann in der Interpretation der Ineffektivität der Umweltfrage für die Gesellschaft. Während für Luhmann dieser Zustand als Basis für eine scharfe Kritik an den politischen Forderungen der Umweltbewegung verwendet wird, sieht Marzocca darin die Notwendigkeit, die Gesellschaft nicht mehr auf ein von seinen Funktionen begrenztes System zu reduzieren (ebd., 139f.). Vielmehr müsse diese Vorstellung der Gesellschaft problematisiert werden, um eine neue Vorstellung des sozialen Handelns theoretisieren zu können, die das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt ganz anders definiert. Im Zentrum dieser theoretischen Operation steht die Verschiebung von Luhmanns Systemtheorie zu Batesons Ökologie des Geistes. Marzocca hebt vor allem einen grundlegenden Unterschied in dem Verständnis des Ökosystems von Luhmann und Bateson hervor. Während ersterer die Relation von Gesellschaft und Umwelt in seiner Systemtheorie ablehnt, da diese Kommuni-

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kation nicht deutlich kodifiziert werden könne, muss für Bateson diese Relation im Mittelpunkt der Systemtheorie stehen, da die Reziprozität von Sozial- und Ökosystem stets immanent sei. Marzocca betont, dass Bateson diese komplexe theoretische Operation durch seinen Begriff des Geists – Mind in der englischen Fassung – liefert (ebd., 142). Unter Geist versteht Bateson nicht ein transzendentales Ich oder eine substanzielle Identität, sondern vielmehr ein Aggregat von differenzierten Teilen, die miteinander interagieren. Ein geistliches System werde insofern nicht ausgehend von seinen Grenzen und Funktionen, sondern von seinen Relationen definiert. Diese Perspektive erlaubt für Marzocca die Überwindung zweier Elemente, die die ökologischen Diskursen bisher geprägt haben. Erstens lasse sich von einer Verschiebung in der Interpretation der Evolutionstheorie sprechen. In dem Maße, in dem der Fokus auf die Relationen der verschiedenen Teile eines geistlichen Systems liegt, werde die Perspektive des Überlebens der individuellen Art verlassen. Für Bateson führe der Kampf ums Überleben einer singulären Art zur Zerstörung der Umwelt und insofern auch zur Zerstörung der Lebensbedingungen (ebd.). Zweitens wird durch Bateson die Idee der Produktion von Bioenergie, die die Vorstellung der ecosystem ecology prägt, als Hauptkriterium für die Analyse der Ökosysteme in Frage gestellt. Wichtiger für ihn ist die Analytik der Relationen, die das Verhältnis einer Art mit der Umwelt und anderen Lebewesen bestimmen (ebd., 143f.). Wie Marzocca zutreffend rekonstruiert, ist für Bateson grundlegend für diese Interaktion der Begriff des Unterschieds. Bateson zufolge reagieren die Teile eines Geists oder ein Geist selbst immer auf einen Unterschied und diese Interaktion produziert Informationen, die immanent einen geistlichen Prozess beeinflussen und bestimmen. So gesehen, ist die Produktion von Informationen durch die Interaktion mit dem Unterschied das Grundelement, das das Überleben eines Geists erlaubt (ebd., 145f.). Ausgehend von der Perspektive Batesons muss Marzocca zufolge die Selbstreferenzialität des von Luhmann analysierten sozialen Systems problematisiert werden. Wenn ein soziales System nicht mit dem Unterschied der Umwelt kommuniziert – wie Luhmann behauptet –, könnte diese Unfähigkeit zur Zerstörung von Ökosystemen und insofern der Lebensbedingungen führen. Auch Luhmanns Grundbegriff der Autopoiesis der Gesellschaft wird nicht als solcher von Marzocca abgelehnt, sondern problematisiert (ebd., 147f.). Im Anschluss an Bateson spricht er von Ökopoiesis als Basis für eine Widerherstellung der Kommunikation von Sozio- und Ökosystem (ebd., 240). Um diesen Prozess in Kraft zu setzen, ist allerdings für Marzocca grundlegend, den Begriff des Geists von Bateson zu übernehmen, da dieser zwei Bedingungen der fehlenden Kommunikation zwischen Gesellschaft und Ökosystem dekonstruiere. Erstens werde dadurch die Dichotomie von Geist und Natur, wie auch von Gesellschaft und Ökosystem neutralisiert. Ein Geist

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ist weder »nur« ein soziales System noch »nur« ein Ökosystem, sondern ist ein Aggregat von Teilen, die sowohl sozial, natürlich oder auch künstlich sind. Insofern kann behauptet werden, wie Marzocca betont, dass innerhalb eines Geists nicht die Substanz der Teile, sondern »die Form« ihrer Kommunikation grundlegend ist (ebd., 143f.). Zweitens wird dadurch die anthropozentrische Perspektive deaktiviert. In dem Maße, in dem der Fokus von dem Paar Mensch/Gesellschaft zu dem Paar Umwelt/Ökosystem verschoben wird, wird die Selbsterhaltung des Lebens nicht an den Kampf ums Überleben geknüpft, sondern an die Erweiterung der Kommunikation mit dem Unterschied (ebd.). Zusammenfassend lassen sich von der Beschäftigung Marzoccas mit der Systemtheorie Luhmanns und Batesons einige Elemente entnehmen. Erstens bestätigt Luhmann, dass die ökologischen Diskurse keine Resonanz in der Gesellschaft haben, da diese immer durch die etablierten Codes der sozialen Systeme kommunizieren müssen. In seiner Genealogie der ökologischen Diskurse macht Marzocca jedoch sichtbar, dass die theoretischen und gesellschaftspolitischen Probleme der Kommunikation von sozialen Systemen und Ökosystemen davon abhängen, dass diese immer im Spannungsfeld von biopolitischer Sorge um die Lebensbedingungen der Bevölkerungen und der bioökonomischen Rationalität entstanden sind. Wie schon erwähnt führt diese Problemstellung nur zu Korrekturen des sozialproduktiven Systems, das gleichzeitig die Ursachen der Verarmung des Ökosystems und die Voraussetzung für den Wohlstand der menschlichen Gesellschaft ist. 5.4.3 Oikologia und Widerstandspraktiken 3 Ecologie beschränkt sich nicht nur auf die Analytik der Dispositive, die die Regierung der ökologischen Frage orientieren. Grundlegend in dieser Forschungsperspektive ist auch die Formulierung einer alternativen Konzeption des Verhältnisses von Mensch und Natur und die Entwicklung einer politisch-ökologischen Ethik. Während die Analytik der mit der ökologischen Frage verbundenen politischen Strategien mit Foucaults analytischer Perspektive verknüpft ist, ist für diese zweite Ebene der Forschungsperspektive von 3 Ecologie eine Konstellation verschiedener AutorInnen und Begriffe relevant. Insbesondere werden in dem schon zitierten Governare l’ambiente sowohl die Begriffe und Perspektiven von Autoren wie Canguilhem, Guattari und Bateson analysiert, die sich unmittelbar mit der ökologischen Frage beschäftigt haben (vgl. Mastropierro 2010), als auch von Autoren wie Bataille und Adorno, die schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die kapitalistische Gesellschaft ausgehend von der Kritik an der modernen Vorstellung des Mensch-Natur-Verhältnisses analysiert haben (vgl. Gorgoglione 2010). Zudem werden die Forschungsperspektiven von Autoren wie Naess und Bookchin berücksichtigt, die auf eine Verwendung der

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Technik verweisen, die nicht auf die kapitalistische Vorstellung der Technologie und des ökonomischen Wachstums zurückgeführt werden kann (vgl. Di Modugno 2010). Die Analyse dieser Theorien weist auf das Projekt von 3 Ecologie hin, eine neue Darstellung oder Erzählung des »in der Welt zu sein« oder des Habitats zu formulieren, die schon von Marzocca im Anschluss an Arendt und Canguilhem thematisiert wurde (vgl. Marzocca 2010b, und 2011, 28f.). Diese Orientierung der Forschung hängt nicht nur von der neuen Zentralität der ökologischen Frage in den bioökonomischen Diskursen ab. Vielmehr ist auch in diesem Fall der theoretischen Produktion in Italien die grundlegende Motivation der Forschung im Konflikt zu suchen. Die ökologische Frage ist heutzutage das Zentrum der politischen Konfliktualität geworden und es ist diese Konfliktualität, die auch die wissenschaftlichen Fragen von 3 Ecologie anleitet. Es geht dabei vor allem um Konflikte, die die bioökonomischen Wahrheitsregime in Fragen stellen. 3 Ecologie untersucht in ihrem Sammelband Governare l’ambiente diese Konfliktualität. Besonders relevant dabei ist der Beitrag des Soziologen Emanuele Leonardi, der eine empirisch-genealogische Forschung über die Kämpfe der No-TavBewegung im Susatal durchgeführt hat. Der Fall »Val di Susa« (dt.: Susatal) ist der bekannteste Ort in Italien, an dem soziale Bewegungen und bioökonomische Rationalität gegeneinander kämpfen. Seit mehr als 20 Jahren ist dort die Bewegung No-Tav aktiv gegen das Projekt »Tav« – »Hochgeschwindigkeitsverkehr Turin-Lyon«. Insbesondere seit Anfang der 1990er Jahre haben die BürgerInnen des Susatals gegen den Bau einer Hochgeschwindigkeitsstraße demonstriert, die Lion mit Turin verbinden soll. Das Projekt sieht den Bau mehrerer Tunnels vor, der eine große Quantität von gefährlichen Elementen wie Uran freilassen könnte, die das Leben der Susatal-BewohnerInnen in Gefahr bringen sowie die Umwelt schädigen können. Die italienische Regierung sieht das Projekt jedoch als grundlegend für die ökonomische Entwicklung der Region an (Leonardi 2008 und 2010). Die biopolitische Ambivalenz zwischen der Optimierung des Lebens von einigen und dem Schaden für das Leben anderer wird an diesem Beispiel wiederum deutlich. Das Besondere der Bewegung No-Tav liegt allerdings darin, dass sie ihren Kampf nicht nur an dem Ort, wo der Bau entstehen soll, verorten. Sie stellen vor allem die Wahrheitsregime in Frage, auf denen das Projekt »Tav« beruht. Leonardi hebt in seiner Analyse der No-Tav-Bewegung hervor, dass die wichtigste Leistung dieses Kampfs in der Dekonstruktion der epistemologischen und wissenschaftlichen »Wahrheit« des Projekts bestehe. Was in Frage gestellt werde, sei der Anspruch, nach dem der wirtschaftliche Wohlstand von der infrastrukturellen Modernisierung abhänge (Leonardi 2010, 94f.). Die Bewegung No-Tav behaupte im Unterschied dazu, dass gerade dieses Modell der bioökonomischen Entwicklung zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Bevölkerung im Susatal führen würde

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(ebd.). Allerdings beschränke sich die Bewegung nicht auf den Widerstand. In den Präsidien, in dem der Widerstand organisiert werde, träfen sich die BürgerInnen zur Organisation von Tagungen, Ausstellungen und öffentlichen Foren, in denen neue Formen der Interaktion von Mensch und Umwelt erforscht würden (ebd., 96). Leonardi zufolge sind somit andere und kontrastive Subjektivierungsprozesse in der Praktizierung des Widerstands entstanden. Leonardi hebt außerdem hervor, dass der Widerstand im Susatal sich auf etwas berufe, das die Regime der Bioökonomie verbrauchten: die Solidarität. Während die bioökonomische Logik zur Optimierung der individuellen Körper – bzw. des eigenen »Vitalraums« – tendiere, artikuliere die No-Tav-Bewegung im Gegensatz zum Konkurrenzprinzip das Bedürfnis, nicht nur den Widerstand, sondern auch neue Formen des Oikos kooperativ zu organisieren (ebd., 97). Die Solidarität erlaube auch eine Verbindung mit anderen Bewegungen und Bevölkerungen, die gegen die Ausübung der gleichen ökonomischen Rationalität Widerstand leisten und sich organisieren. In dem Maße, in dem der Fokus auf der Kritik des Wahrheitsanspruchs der bioökonomischen Rationalität liege, werde die Verbindung von singulären und heterogenen Bewegungen in einem gemeinsamen Kampf möglich. Aus diesem Grund ist in den letzten Jahren der sogenannte Patto di mutuo soccorso (Vertrag für die gegenseitige Hilfe) entstanden, der die verschiedenen, in bioökonomische Kämpfe verwickelten Bewegungen in einen Austausch bringt (ebd.).24 Es handelt sich dabei allerdings nicht nur um einen Vertrag gegen den gleichen Feind. Der Patto di mutuo soccorso ist auch und vor allem wichtig für den Austausch von Wissen, Erfahrungen und Lebensführungen über alternative Arten des »in der Welt zu sein« (Leonardi 2010, 98). Die Produktion von Widerstandspraktiken und der Kritik der liberalen Vorstellung des Verhältnisses von Mensch und Oikos steht auch im Zentrum der Societá dei territorialisti (Verein des Territorialismus). Auch diese Perspektive wird von 3 Ecologie berücksichtigt, indem sie den Beitrag von Alberto Magnaghi25 analysieren. Diese Theorie ist sehr wichtig, da darin die Kritik des Paradigmas des Wirtschaftswachstums mit der Wiederverwertung der lokalen Traditionen und Praktiken der Vorindustrialisierung verbunden wird. Magnaghi versteht unter Territorialismus eine Perspektive, in der die Menschen durch eine Ko-Evolution mit dem Territorium neue Ökosysteme produzieren (Magnaghi 2010, 47). Für Magnaghi existierte vor der Moderne eine konstitutive Abhängigkeit von Menschheit und Territorium, sodass die Entwicklung der Le-

24 Für weitere Informationen siehe www.notavtorino.org/. 25 Alberto Magnaghi ist Urbanist und der wichtigste Vertreter der Societá die territorialisti. Außerdem hat er mit der Forschungsgruppe 3 Ecologie während der Tagung über das Thema »Governare l’ambiente« zusammengearbeitet.

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bensformen nur durch eine Interaktion – oder wie er sagt: eine Ko-Evolution – von Mensch und Natur möglich war. Mit der Entstehung der Moderne sei diese Interaktion von der Herrschaft des Menschen über die Natur ersetzt worden, die das Territorium – d.h. die wichtigsten Ressourcen für die Evolution der Menschheit – habe verarmen lassen (ebd., 47-48). Jenseits der Interpretation der Geschichte und insbesondere der Moderne ist die Perspektive des Territorialismus von Bedeutung, da hierbei die Gründe der ökologischen Krise ausgehend von einer Analyse der lokalen Ebene interpretiert und untersucht werden. Nicht der Klimawandel oder die globale Erderwärmung sind aus dieser Perspektive die Voraussetzungen für die ökologische Krise, sondern das Verschwinden der Interaktion von Mensch und Umwelt, das die Möglichkeit der Ko-Evolution verhindere. Diese Verschiebung von der globalen Ebene auf die lokale ist vor allem deshalb wichtig, da dadurch die Formulierung von zwei gegenseitigen politischen Strategien für die Lösung der ökologischen Krise ermöglicht wird. Die erste besteht in der Perspektive des Territorialismus in der Forderung der lokalen Perspektive in Opposition zur globalen Gouvernementalität. Die globale Sichtweise erfordere Maßnahmen, die von übernationalen und überpolitischen Institutionen nach einer bioökonomischen Orientierung entschieden würden. Wie schon in der Darstellung von Marzoccas Analyse der ökologischen Frage erwähnt, vertiefe diese Vorstellung die Spaltung von Regierenden und Regierten, da in dem globalen Kontext nur die Diskurse im Rahmen der bioökonomischen Wahrheitsregime berücksichtigt würden. Aus dieser globalen Perspektive werde daher der Raum für die demokratische Diskussion und demokratisches Handeln reduziert. Im Unterschied dazu ist für den Territorialismus die Partizipation von zahlreichen Akteuren, die das Territorium »erleben«, grundlegend für die Ko-Evolution von neuen Systemen. Außerdem führe die Perspektive des Territorialismus zu einer Anerkennung der Spezifität der Umwelt (Magnaghi 2010, 58). Während die übernationalen Strategien eine in jedem Kontext gültige Lösung zur Bewahrung der Umwelt propagierten, ohne gleichzeitig wirtschaftliches Wachstum als grundlegendes Kriterium für die Definition des Wohlstands in Frage zu stellen, formuliert der Territorialismus die Idee von indicatori locale di qualitá ambientale (ebd., 58) (dt. in etwa: lokale Kriterien für die Qualität der Ökosysteme). Darunter werden Kriterien und Normen für die menschliche und ökologische Evolution verstanden, die von der Anerkennung des lokalen Wissens und der lokalen Traditionen ausgehen (ebd., 58f.). Dazu kommt zunächst die Rehabilitation von ökologischen und lokalen Produktionsverhältnissen, die sowohl von den fordistischen als auch von den postfordistischen Modellen abgegrenzt werden (ebd., 56f.). Die zweite Lösung der societá dei territorialisti besteht in der Verschiebung oder Erneuerung der Rolle des Politischen. Das Politische solle nicht mehr auf die Reproduktion der globalen Strategien durch die bioökonomische Logik beschränkt

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werden. Vielmehr müsse es die Partizipation der BürgerInnen an der Vita Activa fördern, damit sie kooperativ an der Produktion von Ökosystemen durch ihr Wissen über das Territorium teilnehmen könnten. Mit anderen Worten: Während die aktuellen politischen Strategien auf dem Expertenwissen kleiner Gremien basieren und die sozialen Akteure sich auf die Verwaltung der Risiken der eigenen Entscheidungen beschränken sollen, verweist die societá dei territorialisti auf ein aktives Teilnehmen am Entscheidungsprozess und der Konstitution des öffentlichen Raums – oder besser gesagt: des Habitats. Aus dieser Perspektive deutet die ökologische Krise auf eine Wiedergeburt der Städte und die Ausübung eines partizipativen und demokratischen Handelns hin (ebd., 59). Obwohl die No-Tav-Bewegung und die Perspektive des Territorialismus den Entwurf einer neuen politischen Subjektivität skizzieren, haben sie die Antagonismen und die Ausübung der Macht in Italien kaum beeinflusst. Es handelt sich dabei vor allem um Ideen eines Subjektivierungsprozesses, der die sozialen Akteure betrifft, die in den Kampf involviert sind. Es muss betont werden, dass die Theoretisierung der Geburt eines bioökologischen Bürgertums der Realität gegenübersteht, dass die Vertreter dieser politischen Bewegungen selten an institutionellen Entscheidungsprozessen teilhaben. Vielmehr werden die sozialen Akteure, die an diesen Kämpfen partizipieren, oft kriminalisiert.26 Wie so oft in der Geschichte des sogenannten Italiens gibt es keine Vermittlung von Antagonismus und Macht. Aus einer soziologischen und politologischen Sichtweise ist die Forschung von 3 Ecologie vor allem für die Formulierung einer affirmativen Biopolitik wichtig. Ihre Analytik macht sowohl theoretisch als auch empirisch die Möglichkeit einer alternativen und affirmativen Konzeption von Leben und Politik sichtbar. Im Unterschied zu Esposito beschränkt sich ihre Version der affirmativen Biopolitik nicht auf begriffliche und lexikale Verschiebungen, die die Ambivalenzen des Immunisierungsprozesses überwinden sollen. Bei 3 Ecologie stehen die Subjekte und

26 Aus dieser Sichtweise ist die schon zitierte Schrift Un’emergenza d’eccezione von Antonello Petrillo interessant. In seiner Analyse der Kämpfe gegen die Müllverwaltung in Neapel rekonstruiert Petrillo auch einen roten Fanden in dem Diskriminierungs- und Kriminalisierungsprozess in Italien, der vor allem die BürgerInnen von Neapel betrifft. Petrillo hebt ein Wiederauftauchen von Diskursen hervor, die schon im 19. Jahrhundert entstanden sind, um diese Bevölkerung zu diskriminieren. Damals habe ihre Schuld in der Ablehnung der Souveränität des italienischen Staats bestanden; heute werde ihr legitimer Widerstand durch ähnliche anthropologische Diskurse kriminalisiert. Obwohl die Ermittlungen bewiesen hätten, dass die Krise des Mülls von der korrupten und inkompetenten Verwaltung der Institutionen abhänge, werde das Problem auf die »bekannte« Faulheit und Tendenz zur Kriminalität der neapolitanischen Bevölkerung zurückgeführt (Petrillo 2010, 116-117).

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Praktiken im Vordergrund, die im Alltag der Gegenwart eine affirmative Biopolitik erleben. Ferner ist die theoretische Annahme relevant, dass die alternativen Politiken des bíos mit einer neuen Konzeption des Habitats als »in der Welt zu sein« verbunden werden sollen. In seiner Kritik an Esposito betont Robin Celikates, dass Espositos Idee der affirmativen Biopolitik problematisch sei, da dieser eine unmittelbare Verbindung von Leben und Politik zugrunde liege, die schon negative Folgen verursacht habe (vgl. Celikates 2008). Bei 3 Ecologie wird der circulus vitiosus von Leben und Politik vermieden, indem sie ein Außen – das ökologische Habitat mit seinen Dynamiken – als grundlegendes Element der (affirmativen) Biopolitik setzen. Die Zentralität des Habitats ist daher ein Außen oder ein Gegenpol, der die ambivalenten und dominanten Strategien der bioökonomischen Verwertung des Lebens kontrastieren kann, indem er die Produktion von anderen Denkweisen – die Ökosophie – und alternativen Lebensführungen erlaubt. Die von 3 Ecologie analysierten ethischen und militanten Modelle wie No-Tav und societá dei territorialisti sind auch von Hardts und Negris Idee der Multitude zu unterscheiden. Es handelt sich dabei um soziale und praxeologische Modelle, die nicht von den postmodernen kapitalistischen Produktionsverhältnissen produziert werden. Vielmehr sind diese das Ergebnis von einer ontologischen Opposition, die keine Reorganisation der Produktion, sondern eine alternative Weise, den Habitat zu erleben, fördern. In seiner letzten Arbeit Il mondo comune definiert Marzocca diese Perspektive noch deutlicher, indem er sie mit der ökologischen Perspektive Batesons verbindet. Wie schon erwähnt, macht Marzocca in seiner Analytik der Regierung der Umwelt sichtbar, dass die Bildung eines produktivistisch-ökonomischen Ethos das notwendige Korrelat der dominanten Regierungsstrategie ist. Dazu kommt, dass die dominante Regierungsrationalität durch die Bildung eines alternativen Ethopoiesis bekämpft werden könne. Die Begriffe von Öko-poiesis und Gebrauch sind die Grundelemente für die Definition dieses Prozesses. Ersterer wird von Marzocca verwendet, um einen neuen Weg in das Verhältnis von bíos und oikos zu definieren. Im Anschluss an Batesons Begriff des Geists verweist er darauf, die Ökosysteme nicht auf einen bio-physischen Kontext zu reduzieren (Marzocca 2015, 240). In dem Maße, in dem sich die menschliche Gesellschaft als Teil eines komplexen geistlichen Prozesses erkenne, können sich Marzocca zufolge Modelle für das soziale Handeln – und insofern ein Öko-ethos – entwickeln, die weniger an dem individuellen ökonomischen Interesse, sondern vielmehr an der Selbsterhaltung des geistlichen Prozesses orientiert sind (ebd., 241f.). Der Begriff des Gebrauchs muss für Marzocca diesen von ihm sogenannten Ökopoiesis-Prozess leiten. Wie ausführlich schon am Ende des ersten Teils dieser Arbeit rekonstruiert wurde, beschäftigt sich Agamben mit dem Begriff des Gebrauchs als Modell für eine Strategie, die die biopolitischen Dispositive neutralisie-

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ren könnte. Im Unterschied zu Agamben verbindet Marzocca den Gebrauch mit einer Idee des Habitat als in der Welt zu sein, das nicht an Konsum, sondern an der Sorge um die Welt orientiert ist (ebd., 234). Marzocca zufolge sind die von Agamben analysierten Lebensführungen wie die franziskanischen Orden immer von der Idee des Konsums geprägt. Zwar neutralisieren diese das Dispositiv des privaten Eigentums und zeigen die Möglichkeit eines gemeinsamen Gebrauchs auf, der eine bestimmte Ausübung der Macht neutralisieren könnte. Allerdings wird das Verhältnis von Mensch und Ökosystem wiederum nach dem Modell der Ausbeutung der Natur konzipiert, da der Konsum als leitender Begriff für den Gebrauch der Elemente des Ökosystems nicht in Frage gestellt wird (ebd., 245f.). Aus diesem Grund theoretisiert Marzocca eine Verschiebung von dem Gebrauch als Konsum zu dem Gebrauch als Sorge. Diese letzte Konzeption führe zu einer ethisch-politischen Perspektive, in der die konstitutive Relation von natürlichen und künstlichen Elementen sichtbar werde. Marzocca zufolge wird auch der Begriff der Sorge durch diese Verbindung mit der Dimension des Gebrauchs von den biopolitischen Darstellungen befreit, da die Sorge um das individuelle Leben an Bedeutung verliere (ebd., 234 und 260). Obwohl es sich hierbei um eine theoretisch vielversprechende Perspektive handelt, bleibt deren Verwirklichung in einer Politik – die auch in die Kategorie einer affirmativen Biopolitik aufgenommen werden kann – schwierig. Marzocca selbst ist sich dem bewusst und erklärt, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse das prinzipielle Hindernis für die Entwicklung von ökopoietischen Praktiken darstellen (ebd., 258). Allerdings gibt es für ihn auch in sozialistischen Produktionsverhältnissen wenig Hoffnung, da auch in diesem Fall die Produktion von dem Konsum und nicht von der Sorge geprägt sei. Marzocca betont als Beweis für seine Skepsis die Widersprüche von einigen lateinamerikanischen sozialistischen Regierungsstrategien, die sich zum einen auf ökologische Prinzipien des Buen Vivir27 berufen, aber zum anderen in die Gewinnung von Rohstoffen investieren (ebd., 260). Es muss allerdings betont werden, dass Marzoccas Kritik an diesen sozialistischen Regierungsstrategien relativ oberflächlich ist und er dazu tendiert, keine relevanten Unterschiede von liberalen und sozialistischen Regierungsstrategien hervorzuhe-

27 Unter diesem Begriff wird eine politische Konzeption verstanden, in der die Natur als Rechtssubjekt betrachtet wird. Insbesondere inspiriert diese Perspektive die neue Verfassung von Ecuador und Bolivien, die damit versuchen, die indigenen Bevölkerungen und ihre Kultur in den politischen Prozess zu integrieren. Der Ursprung dieses Begriffs ist das Quechua-Wort »Sumak Kawsay«, das »Gutes Leben« bedeutet. Das Wichtigste in dieser Konzeption liegt darin, dass das Glück in dem Zusammenleben und nicht das ökonomische Wachstum das Politische orientieren soll. Um dieses Ziel zu erreichen, ist hierbei grundlegend eine Versöhnung der Gesellschaft mit der Natur (vgl. Gudynas 2012).

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ben, da in einem wie dem anderen Fall die Produktivität und insofern der Konsum das wichtigste Kriterium für die Orientierung des politischen Handelns sei. Zwar wird jede Regierungsstrategie an den ökonomischen Prinzipien der Produktivität orientiert und insofern eine Tendenz zur Ökonomisierung des Politischen immer zu beobachten sein, wie Marzocca zurecht betont; allerdings macht diese Kritik die Differenzen nicht sichtbar. Diese Vorstellung führt zur Überzeugung, dass das Politische immer an einer bestimmten ökonomischen Rationalität orientiert wird und die einzige Rettung die Führung einer befreiten, aber individuellen Ethik ist. Die Folge ist somit eine Trennung von Politischem und Ethischem, die de facto eine Ohnmacht der Politik bedeutet. Trotz dieser kritischen Anmerkung muss anerkannt werden, dass die Ökopoiesis eine sehr interessante ethisch-politische Perspektive für eine Politik des Lebens darstellt. Im Unterschied zu Espositos affirmativer Biopolitik und Agambens deinstituierender Potenz kann die Ökopoiesis schon eine konkrete Orientierung für die Lebensführung und gleichzeitig Basis für die Entwicklung einer öko-politischen Militanz sein, die die dominante biopolitische und bioökonomische Dispositive, wie in dem Fall des Susatals, bekämpfen kann. Natürlich muss diese letzte Möglichkeit weiter entwickelt werden, aber sie hat den politischen Vorteil, ein Projekt für die Emanzipation sichtbar zu machen.

5.5 P ERSPEKTIVEN Das wichtigste Verdienst der Arbeiten dieser Forschungsgruppen besteht darin, das Funktionieren der biopolitischen Strategien im Rahmen einer von der ökonomischen Rationalität geprägten Gouvernementalität aufzuzeigen. Der Übergang von einer Biopolitik zu mehreren Biopolitiken ist hierbei grundlegend, da somit die verschiedenen Strategien der Politik des bíos verstanden werden können. Auch diese Forschungen sind von einer genealogisch-archäologischen Orientierung geprägt. Das Verhältnis von Politik des Lebens und Ökonomisierung des Politischen (wie auch des Lebens selbst) wird vor allem durch eine Rekonstruktion des Lebensbegriffs in den verschiedenen Theorien der Wirtschaftswissenschaft aufgezeigt, um zu verdeutlichen, wie dieser ökonomische bíos und die Bioökonomie produziert werden. Auf diese Weise erklären diese Forschungen eine Lücke in Espositos Perspektive, der die Biopolitik auf die Immunisierung des Politischen oder die Biologisierung des Politischen reduziert. Dabei spielt das analogische Denken eine grundlegende Rolle. Action30 verwenden explizit diese Denkweise und machen deutlich, dass durch analogische Kategorien die Kontinuität und Diskontinuität zwischen alten und neuen Faschismen verstanden werden kann. Allerdings können auch in der Forschungsmethode von den anderen Autoren Elemente

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der analogischen Rationalität erkannt werden. Bazzicalupo betont zum Beispiel die Analogie zwischen Schopenhauer und der Grenznutzenschule, um zu erklären, wie in letzterer Perspektive der Lebensbegriff konzipiert wird und um den Unterschied des Lebensbegriffs von staatszentrierter und subjektzentrierter Bioökonomie deutlich zu machen. In Kontinuität mit Esposito betonen auch diese Forschungsgruppen die Ambivalenz der Biopolitik und die Persistenz des Negativen in der Politik des Lebens. Es muss jedoch betont werden, dass die Analyse der negativen Folgen der Bioökonomie nur oberflächlich behandelt und nicht durch empirische Forschungen ergänzt wird. Lediglich die Forschungen von Action30 zeigen durch eine Diskursanalyse in Kombination mit dem Begriff der Supernormalität die Persistenz von faschistischer Gewalt in der von der Bioökonomie geprägten Gesellschaft. Relevant in den Untersuchungen dieser Forschungsgruppen ist auch die Konzeption einer politischen Praxis, die sich sowohl von Hardts und Negris Idee der Multitude als auch von Espositos Projekt der affirmativen Biopolitik kritisch distanziert. Wie die Analyse der Widerstandspraktiken in puncto Umweltpolitik von 3 Ecologie zeigt, entstehen die Alternativen zu den dominanten politischen Rationalitäten in den Kämpfen selbst und nicht in einer philosophischen Perspektive (Esposito). Die konstitutive Potentia der Kämpfe wird auch von Hardt und Negri theorisiert. Allerdings gibt es einen grundlegengen Unterschied zwischen diesen und den von 3 Ecologie analysierten Widerstandspraktiken. Während Hardt und Negri das Entstehen der Kämpfe in einer Dialektik der Entwicklung der Produktionsverhältnisse verorten, kontrastieren die ökologischen Widerstandspraktiken gerade den Vorrang der Produktion, indem sie ein Wissen und ein soziales Handeln bilden, das dem Leben mit anderen und dem Oikos zugrunde liegt. Diese theoretische Perspektive, die Ottavio Marzocca in seiner letzten Arbeit Il mondo comune weiter entwickelt, zeigt außerdem einige relevante Elemente für eine Aktualisierung der politischen Praxis in der Gegenwart, indem eine Ökopoiesis im Kontrast zu den von den biopolitischen und bioökonomischen Strategien orientierten Subjektivierungsprozessen thematisiert wird. Wenn die Bildung des Subjekts und die Orientierung des Ethos den Kern der Biopolitiken der Gegenwart darstellen, dann ist die Theoretisierung eine andere Möglichkeit für die Bildung des Bíos, das Terrain für eine emanzipative Praxis. Die Ökosysteme bieten insofern Modelle für das Denken wie auch für das soziale Handeln, das einen Weg für die Emanzipation von den biopolitischen und bioökonomischen Rationalitäten vorbereitet. Das Problem dieser Perspektive liegt darin, dass sie im Moment nur als Ethik und nicht als politische Praxis thematisiert worden ist. Die Biopolitiken funktionieren vor allem, weil sie immer gleichzeitig auf der Ebene der Bevölkerung und auf der Ebene des Individuums – Omnes und Singulatim mit Foucaults Worten – arbei-

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ten. Das höchste Niveau von Subjektivierung entspricht hierbei paradoxerweise dem höchsten Niveau von Verallgemeinerung der sozialen Akteure. Deswegen können sich nicht die Widerstandspraktiken auf die Befreiung des subjektiven Ethos beschränken. Die Herausforderung für eine emanzipative politische Praxis in der Zeit der Biopolitiken ist insofern die Theoretisierung einer politischen Ethik, in der die Bearbeitung und die Befreiung des Ethos auch ein gemeinsames Projekt für die Emanzipation ist.

6. Fazit Es lohnt sich, Analogien zu suchen, indem man hofft, dass diese revolutionär sind. Aber es ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die Analogien fehlen nicht. Müssen wir uns deswegen für den Heuhaufen interessieren? Nein; der Beweis befindet sich in der Nadel. Was fehlt, sind nicht die Analogien, sondern die Revolutionen. Wir sind für eine Philosophie der Nadel und nicht des Heuhaufens. Diese Philosophie steht oder fällt mit dem wechselnden Schicksal der Revolutionen. ENZO MELANDRI, 2004, 810.

Die Analyse der Aktualisierungsversuche des Begriffs der Biopolitik in der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie zeigt: Das Politische in der Moderne wie in der Gegenwart kann weder als Thanatopolitik noch als Politik des Lebens, weder als Vernichtung des Lebens noch als Affirmation des Lebens verstanden werden. Vielmehr ist die Biopolitik immer das immanente und prekäre Ergebnis der Interaktion von heterogenen Diskursen und Strategien, die zum einen das Leben von einigen sichern und zum anderen das Leben der anderen im Schatten des Todes lassen. Es handelt sich um eine komplexe Verbindung von Politik des Lebens und Thanatopolitik, die insbesondere von italienischen PhilosophInnen durch die Formulierung von Paradigmen sichtbar gemacht wurde. Die wichtigste theoretische Leistung des in dem ersten Teil der Arbeit beschriebenen Italian Thought ist die Produktion einer Konstellation von Begriffen für die genealogisch-archäologische Analyse der modernen und gegenwärtigen Machtverhältnisse. Es geht dabei um eine wissenschaftliche Produktion, die nicht von der politischen Militanz der AutorInnen getrennt werden kann und deswegen immer auch zur Definition einer die dominanten Machtverhältnisse in Frage stellenden und eine neue konstituierende Macht unterstützenden politischen Praxis tendiert. Dieses immanente Verhältnis von theoretischer Produktion und militanter Praxis basiert auf zwei Zügen, die diese philosophische Tradition bestimmen. Erstens

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wird der Konflikt als das Telos des Politischen anerkannt. Allerdings geht es dabei nicht nur um zwischenmenschliche Konflikte, sondern Konfliktualität wird als die immanente Struktur der Realität und insofern der Natur selbst gedacht. Aus dieser Sicht ist die Trennung von Naturzustand und politisch-sozialer Zivilisation das Produkt eines anthropologischen Dispositivs, das in Frage gestellt werden und auch überwunden werden kann. Insbesondere Agamben und Esposito zeigen auf, dass diese Trennung keine Überwindung der Gewalt bedeutet. Vielmehr führt die Negation und Unterdrückung der Konfliktualität zu einer Verschärfung der Gewalt. Im Gegensatz dazu verweist die Konfliktualität auf eine Redefinition des Politischen, des Sozialen und des Handelns als solchem. Ausgehend von dieser Sichtweise ist eine objektive und neutrale Perspektive unmöglich. Die Theorie, die Begriffe und die Analyse sind schon Teil des Konflikts und die Positionierung einer Theorie oder einer Forschungsperspektive als »objektiv« und »unpolitisch« ist demnach eine konservative Position. Der zweite Zug dieser Perspektive betrifft die Methode der Forschung oder den Denkstil dieser philosophischen Tradition. Es ist anzuerkennen, dass die praxeologisch-militante Orientierung der Forschung die Definition einer Forschungsmethode im eigentlichen Sinn des Wortes schwierig macht. Obwohl wenige AutorInnen sich mit dieser Frage befassen, kann behauptet werden, dass sich die verschiedenen Perspektiven des Italian Thought auf die analogische Rationalität als Denkstil zurückführen lassen. Die analogische Rationalität erfüllt in der wissenschaftlichen Praxis vor allem zwei wichtige Funktionen. Erstens produziert sie paradigmatische Begriffe, die das kanonisierte Wissen und die konstituierten Mächte in Frage stellen und zweitens definiert sie ausgehend von diesen Paradigmen eine neue hermeneutische Perspektive. Allerdings darf diese Praxis nicht mit der Idee eines unendlichen Fortschritts des Wissens verbunden werden. Vielmehr gründet die analogische Rationalität auf der Idee der Zirkularität des Wissens oder, besser gesagt, auf der Wiederkehr der Bedingungen, die das Wissen wie auch die Institutionen und das soziale Handeln permanent konstituieren. Somit lässt sich eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen den in dieser Arbeit behandelten italienischen AutorInnen und Autoren wie Spinoza, Nietzsche und Foucault erkennen. Diese Familiarität kann außerdem in anderen Forschungsperspektiven wie beispielsweise im Feminismus von Donna Haraway ausgemacht werden, die kanonisierte Kategorien in Frage stellen und neue und lokale Sichtweisen zu konstituieren versuchen. Die Rekonstruktion der Theorien der Biopolitik in der zeitgenössischen italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie erfüllt insofern zwei wichtige Aufgaben, die nicht voneinander getrennt werden können. Zum einen wird die Analytik der Biopolitik durch die Einführung von neuen Paradigmen erweitert. Wenn die Biopolitik immer das prekäre Ergebnis der Interaktion von heterogenen Diskursen ist, dann muss auch die Analytik der Biopolitik durch die Einführung von Begriffen

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wieder neu definiert werden, damit die Machtverhältnisse von neuem verstanden werden können. Zum anderen ist die Analytik der Biopolitik immer auch als ethisch-politisches Werkzeug zu interpretieren, da die genealogische Arbeit für die italienischen AutorInnen auch als kritischer und militanter Widerstand gegen die dominanten Wahrheitsregime konzipiert wird. Wenn die Biopolitik immer auf dem Verhältnis von Mächten und Wissen und insofern dem Wahr-Sagen der Diskurse basiert, dann ist die Dekonstruktion dieser Wahrheitsansprüche schon ein politischethischer Gestus, der die Möglichkeit von Widerstands- und Freiheitspraktiken impliziert. In diesem Fazit werden in dem ersten Abschnitt die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit kurz zusammengefasst. In dem zweiten Abschnitt werden sodann drei Grundlinien für eine kritische Analytik der Biopolitik skizziert. Insbesondere wird dargelegt, wie das analogische Denken eine kritische Funktion gegen die Tendenz zur Geschichtsphilosophie, die das Arbeiten mit Paradigmen charakterisiert, ausüben kann. Außerdem wird die Rolle des Lebensbegriffs in einer Analytik der Biopolitik diskutiert und zum Schluss wird in dem dritten Abschnitt die Möglichkeit einer Theorie für die emanzipative Praxis von den biopolitischen Dispositiven thematisiert.

6.1 D IE DES

KONSTITUTIVE V ERBINDUNG VON P OLITIK L EBENS UND P OLITIK DES T ODES

Die Auseinandersetzung über die Biopolitik hat die theoretische Produktion in der italienischen Gesellschaftstheorie und politischen Philosophie in den letzten Jahren stark beeinflusst. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde diese theoretische Tradition rekonstruiert. In den letzten Jahren hat das internationale Interesse an italienischen AutorInnen dermaßen an Intensität gewonnen, dass in verschiedenen Kontexten die Kategorie der Italian Theory verwendet wird, um die Theorien des Politischen und insbesondere der Biopolitik dieser AutorInnen zu beschreiben (vgl. Chiesa und Toscano 2009). Die Analyse der sogenannten Italian Theory ergibt jedoch, dass sich diese Tradition nicht auf die Produktion von Theorien beschränken lässt. Es handelt sich dabei vielmehr um eine intellektuelle Praxis, die gleichzeitig theoretische Begriffe und politisch-militantes Handeln thematisiert. Um den »italienischen Unterschied« angemessen zu charakterisieren, schlägt Timothy Campbell – einer der wichtigsten Experten der italienischen Philosophie in den USA – daher vor, diese Tradition als Italian Thought zu interpretieren (vgl. Campbell 2012). Die Verschiebung von Italian Theory zu Italian Thought erlaubt, diesen Denkstil besser zu verstehen, da da-

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durch vor allem die Wichtigkeit der Praxis für die theoretische Produktion sichtbar gemacht wird. Pensiero vivente von Esposito ist eine relevante Rekonstruktion des Italian Thought, die die Grundlinien dieser philosophischen Tradition aufzeigt (vgl. Esposito 2010a). Zuerst betont er die Unabhängigkeit des modernen philosophischen Diskurses in Italien von der Idee der Nation, sowohl theoretisch als auch politisch. Vielmehr würden die italienischen AutorInnen die Unmöglichkeit einer permanenten sozial-politischen Ordnung und insofern die Persistenz eines ontologischpolitischen Konflikts thematisieren, der das Politische, das Soziale sowie die Natur bzw. die Lebensprozesse präge. Esposito hebt zudem das konfliktuelle Verhältnis zwischen den italienischen AutorInnen und der politischen Macht hervor. Seit Machiavelli bis zu Gramsci und Negri seien die italienischen AutorInnen kaum an der Gründung einer konstituierten Macht oder Ordnung interessiert und theoretisierten im Gegensatz dazu verschiedenerweise die Notwendigkeit einer konstituierenden Macht als Grundlage der Vitalität des Politischen und des Sozialen. Laut Esposito besteht deswegen der italienische Denkstil darin, dass die AutorInnen das Leben, das Politische und die Geschichte in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen denken. Diese Orientierung führt Esposito zufolge die italienischen AutorInnen zum Interesse an der Foucaultʼschen Analytik der Biopolitik und zur Aktualisierung dieses Begriffs. Dies ist eine faszinierende These, die jedoch durch einige Ambivalenzen charakterisiert ist. In dem ersten Kapitel dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, dass Esposito einerseits wichtige Elemente der theoretischen Produktion in Italien sichtbar macht, indem er einige grundlegende Unterschiede zwischen dieser und anderen modernen Denktraditionen betont. Insbesondere hebt er hervor, dass in Italien die Diskurse über die menschliche Natur und die Zivilisationsprozesse nicht von einer auf Immanenz basierten Ontologie getrennt werden können. Außerdem erklärt Esposito die konstitutive Verbindung von dieser Ontologie und der Theoretisierung der Konfliktualität als Telos der Geschichte wie auch der politischen Machtverhältnisse und der Naturverhältnisse. Darüber hinaus weist er auf die besondere praxeologische Orientierung der theoretischen Produktion in Italien hin, die sich jedoch nicht nur auf die Theoretisierung einer sozial-politischen Praxis beschränke, sondern darüber hinaus die politische Militanz von vielen italienischen AutorInnen inspiriert habe. Andererseits erklärt Esposito jedoch die Logik und die Rationalität nicht, die der theoretischen Produktion in Italien zugrunde liegt. Espositos Analyse gründet sich auf eine undefinierte Italianität des Denkens, das von ihm als Folge eines territorial-historischen Kontexts interpretiert wird. Diese Erklärung ist aber nicht überzeugend, da dadurch nicht erklärt wird, inwiefern diese historischen und geografischen Variablen zu einer bestimmten theoretischen Produktion führen. Aus diesem Grund wurde Espositos Rekonstruktion mit der Einführung der Kategorie des ana-

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logischen Denkens ergänzt, die ein Verständnis der Rationalität des italienischen Denkstils möglich macht. Im Gegensatz zu Esposito wurde in dem ersten Teil dieser Arbeit die Hypothese formuliert und vertieft, dass the Italian Thought ausgehend von der analogischen Rationalität am angemessensten verstanden werden kann. La linea e il circolo des italienischen Philosophen Enzo Melandri ist dabei eine der wichtigsten Arbeiten für das Verständnis des analogischen Denkens (Melandri 2004). Melandri hebt zunächst hervor, dass die Verwendung der analogischen Rationalität ein relevanter Teil der wissenschaftlichen Praxis sei, obwohl nur wenige AutorInnen diese systematisch analysiert hätten. Melandris Ziel besteht demnach darin, diese Rationalität zu verstehen und gleichzeitig deren Wichtigkeit für die Entwicklung der Wissenschaft aufzuzeigen. Ihm zufolge ist die Wissenschaft selbst das immanente Ergebnis der dialektischen Konfrontation zwischen logischer und analogischer Rationalität. Die Verwendung eines kämpferischen Lexikons ist dabei nicht zufällig, sondern dient dazu, das konfliktuelle Telos der wissenschaftlichen Praxis sichtbar zu machen. Mit anderen und »analogischen« Worten kann behauptet werden, dass so wie die Dialektik von konstituierter und konstituierender Macht das Politische bestimmt, die Dialektik von Logik und analogischem Denken die Herstellung von Begriffen, Kategorien und Perspektiven innerhalb der wissenschaftlichen Praxis prägt. Melandri zufolge wird das analogische Denken verwendet, um die Verbindung von zwei heterogenen Elementen aufzuzeigen. Die Analogien würden nicht auf logischer Induktion oder Deduktion basieren, sondern auf der Analyse von heterogenen Elementen – wie z.B. biologischen und politischen Diskursen – mithilfe von Paradigmen. Analogische Paradigmen werden Melandri zufolge eingeführt, um eine Funktionsweise – z.B. die Interaktion von Politischem und Biologischem – zu verstehen und zu erklären. Foucaults Paradigma des Panoptikums bietet ein erklärendes Beispiel dazu. Schule und Gefängnis sind heterogene Elemente, die durch dieses Paradigma in einer Perspektive zusammen interpretiert werden können (vgl. Foucault 2010). Das Panoptikum als Paradigma macht sichtbar, dass beide Institutionen trotz ihrer Spezifität von dem gleichen Modell der Subjektbildung geprägt sind. Die Paradigmen haben insofern die Aufgabe, die Verbindung von heterogenen Elementen – in diesem Fall Gefängnis und Schule – zu legitimieren und zugleich ihre Funktion zu verstehen. Melandri hebt hervor, dass insbesondere diese Rationalität verwendet werde, um die kanonischen Sichtweisen der dominanten Wissenschaft in Frage zu stellen und einen neuen kategorialen Horizont herzustellen, der die Aporie und die ungelösten Probleme des kanonisierten Wissens zu verstehen erlaube. Die Analogien haben so gesehen die Funktion, die in Bezug auf das Politische von der konstituierenden Macht ausgeübt wird. Agamben zufolge ist Melandris Theorie des analogi-

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schen Denkens das notwendige methodologische Korrelat einer genealogischarchäologischen Philosophie, da durch die Analogien die vergessenen Konflikte wie auch Kontinuitäten und Diskontinuitäten von historischen Ereignissen sichtbar werden (vgl. Agamben 2004a). In der Tradition der italienischen Philosophie finden sich einige Elemente, die auf die analogische Rationalität zurückgeführt werden können. Zunächst kann betont werden, dass viele italienische AutorInnen die Interaktion von heterogenen Elementen – wie Demokratie und Totalitarismus, biologische und ökonomische Systeme usw. – zu verstehen versuchen. Zentral dabei ist die Produktion von Paradigmen, die – wie Melandri erklärt – diese Interaktionen sichtbar machen. In der Tradition des Italian Thought ist daher die Entwicklung einer interdisziplinären Forschungsrichtung von entscheidender Bedeutung, die die Ziehung disziplinärer Grenzen kontinuierlich in Frage stellt. Vielmehr wird untersucht, wie das Soziale und das Politische mit der Natur und der Umwelt interagieren. Außerdem thematisieren italienische AutorInnen die Konfliktualität als Telos des Seins und konzipieren ihre wissenschaftliche Produktion auch als soziale und politische Praxis. So wie bei Melandri sind dabei die Analogien die theoretischen Werkzeuge für die Dekonstruktion des kanonisierten Wissens. Besonders relevant ist die Verwendung der analogischen Rationalität in den Perspektiven der gegenwärtigen italienischen AutorInnen, die an der Aktualisierung des Begriffs der Biopolitik arbeiten. Wenn die Biopolitik – wie Thomas Lemke sagt – »der Zusammenschluss von scheinbar Unvereinbarem« ist (Lemke 2007, 147), dann kann dieser Begriff am besten durch die analogische Rationalität verstanden und aktualisiert werden. Zunächst musst betont werden, dass die Biopolitik in Italien keinen bloßen Begriff darstellt. Vielmehr ist sie eine theoretische Perspektive, um die modernen politischen, gesellschaftstheoretischen und philosophischen Kategorien zu erneuen. Dies wird durch das Aufzeigen von Aporien in der kanonisierten Sichtweise der modernen politisch-philosophischen Perspektive sichtbar gemacht. Zentral dabei ist das Bedürfnis, die Entwicklung und den Zustand der Machtverhältnisse zu verstehen. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein wissenschaftliches, sondern auch um ein politisch-ethisch-existenzielles Bedürfnis. Ausgehend davon muss die Biopolitik in der italienischen Philosophie als Konstellation von analogischen Paradigmen interpretiert werden, die versuchen, dieses Bedürfnis zu verwirklichen. Die Interpretation des Politischen durch die biopolitische Perspektive ist jedoch umstritten. Obwohl die verschiedenen AutorInnen ihre Thesen ausgehend von der Foucaultʼschen Analytik der Biopolitik entwickeln, kommen ihre Arbeiten zu Schlüssen, die unvereinbar und zum Teil sogar gegensätzlich sind. Im Mittelpunkt der Debatte um die Biopolitik in Italien steht die Frage: Ist die Biopolitik eine Politik für die Verteidigung des Lebens – die zum extremen Punkt der Vernichtung des

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Lebens von einigen für die Rettung der anderen kommt; oder ist die Biopolitik eine Politik des Lebens, die die Voraussetzungen für eine emanzipative Strategie gegen die Macht über das Leben bereitet. Es ist bekannt, dass diese zwei gegensätzlichen Interpretationslinien zum einen in den Arbeiten Giorgio Agambens und zum anderen in den Texten von Michael Hardt und Antonio Negri entwickelt werden. Wie in dem zweiten Teil dieser Arbeit analysiert worden ist, interpretiert Agamben die Biopolitik als souveräne Macht, über das Leben der Individuen zu entscheiden. Entweder anerkenne die souveräne Macht eine Lebensform als bíos – d.h., integriert diese in einen zivil-politischen Status; oder sie verbanne sie als zoé, sodass sie straflos getötet werden könne (vgl. Agamben 2002). Diese Interpretation der Biopolitik wird von Agamben vor allem in der Homo Sacer-Reihe thematisiert. Bei Agamben gibt es keinen relevanten Unterschied zwischen Biopolitik und Politik, zwischen Ausübung der Macht in der Antike und der Moderne, zwischen Politik des Lebens und Politik des Todes. Für ihn lässt sich die Politik seit Beginn des Abendlandes als Biopolitik interpretieren, da das Politische seit jeher von der Produktion von tötbarem Leben charakterisiert sei. Bei Agamben gibt es deswegen keine Ambivalenz in der Biopolitik, da die Biopolitik als nichts anderes als Thanatopolitik zu interpretieren sei. Zweifellos handelt es sich dabei um eine kohärente theoretische Perspektive, die vor allem die Analogie von Demokratie und Totalitarismus sichtbar macht, indem sie die Zentralität von Dispositiven wie dem Ausnahmezustand und dem Lager für die Ausübung von Macht in demokratischen wie in totalitären Institutionen zeigt (vgl. Agamben 2002 und 2004b). Allerdings berücksichtigt Agamben dabei einige wichtige Verschiebungen im Lauf der Moderne nicht, die Foucault dazu geführt haben, überhaupt von einer Biopolitik zu sprechen. Bei Foucault ist die Entstehung der Biopolitik mit einer neuen Konfiguration der Verhältnisse von Macht und Wissen verbunden. Er hebt hervor, dass nur anhand der neuen biologischen Kenntnisse und der Entwicklung der Statistik eine »Bevölkerung« definiert werden könne. Nur auf diese Weise könne eine Politik entstehen, die auf die Regulierung und Kontrolle der vitalen Prozesse ziele. Wie in der Analyse von Agambens biopolitischer Perspektive erwähnt, hängt diese Lücke bei ihm davon ab, dass er seine Forschung auf die Ausübung der Todesfunktion gegenüber dem zoé und nicht auf die Normalisierung des bíos fokussiert. Einerseits neutralisiert Agamben die grundlegende Dichotomie der modernen politischen Philosophie – Demokratie und Totalitarismus – und macht durch Paradigmen die Kontinuität zwischen diesen gegensätzlichen Ideen politischer Ordnung sichtbar; andererseits ist seine Perspektive von einem Monologismus charakterisiert, der die Biopolitik mit der Produktion von nacktem Leben gleichsetzt. Aus demselben Grund erfasst Agamben die Bedeutung der liberalen und neoliberalen Theorie für die Entwicklung der modernen Subjektivierungsprozesse nicht. Inso-

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fern stellt bei ihm die Idee des homo oeconomicus keine Referenz für die Definition eines biopolitischen Körpers dar. Der Monologismus führt ihn dazu, die Produktion von nacktem Leben als Matrix des Politischen zu konzipieren und somit statt eine Analytik der Biopolitik zu entwickeln, eine Biopolitik als Geschichtsphilosophie zu entwerfen. Trotz dieser Probleme muss anerkannt werden, dass Agamben durch die Definition von analogischen Paradigmen wie homo sacer, nacktes Leben, Ausnahmezustand und Lager einen wichtigen Beitrag zu einer Erweiterung der Analytik der Biopolitik geleistet hat. Außerdem ist ein Verdienst Agambens die Definition der analogischen Erkenntnisform als spezifische Rationalität der archäologischgenealogischen Forschung. Grundlegend für eine weitere Entwicklung der Analytik der Biopolitik ist darüber hinaus die Idee der Profanierungen der Dispositive, die von ihm aus dem altrömischen Lexikon übernommen wird (vgl. Agamben 2005). Darunter versteht er die politische Möglichkeit, die normale und konstituierte Funktion der Dispositive zu neutralisieren und diese selbst in einer anderen, kontrastiven und emanzipativen Weise zu verwenden. Die letzten Schriften des Homo Sacer-Projekts bieten außerdem eine interessante Basis für die Aktualisierung der politischen Praxis in der Gegenwart, indem sie neue Begriffe wie Neutralisieren, De-aktivieren, Gebrauch einführen. Die Idee der Neutralisierung der Dispositive und die Entwicklung einer Theorie des Gebrauchs sind relevante Begriffe für die Formulierung einer Politik des Lebens, die zur Emanzipation von der biopolitischen Sorge um die Selbsterhaltung des Lebens und die bioökonomische Orientierung des Lebens führen kann. Relevant dabei ist die Formulierung einer modalen Ontologie, die die substantielle Ontologie kontrastieren muss. Agamben zufolge gibt es eine performative Relation von substantieller Ontologie und Ausübung der Macht auf das Leben. Insofern könnte eine neue Konzeption der Ontologie eine Neutralisierung der Dispositive ermöglichen. Hardt und Negri entfalten eine ganz andere theoretische Lösung des Problems der Biopolitik. In ihrer Trilogie Empire, Multitude und Common Wealth wie auch in anderen kleineren Essays spielt die Theorie der Biopolitik eine Hauptrolle (vgl. Hardt und Negri 2002, 2004 und 2010). Für Hardt und Negri liegen die Probleme des Begriffs der Biopolitik bei Foucault darin, dass er die Biopolitik von der Biomacht nicht begrifflich unterschieden habe. Ihre theoretische Leistung besteht deswegen darin, diese zwei Begriffe deutlich zu definieren. Insofern verstehen sie unter biopolitischer Produktion die neue postfordistische Produktion, die unmittelbar auf der Produktivität des Lebens als solchem basiere. Es handele sich dabei um neue Produktionsverhältnisse, in denen das kommunikative Handeln, die Affekte sowie die sozialen Netzwerke eine Hauptrolle spielten. Unter Biomacht, genauer gesagt, unter dem Regime der Biomacht, verstehen Hardt und Negri die kapitalistische Kontrolle über die biopolitische Produktion. Diese stelle einen Zusammenhang

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von Dispositiven dar, die die biopolitische Produktion ausbeuten würden (vgl. Hardt und Negri 2002). Die Analyse ihrer Interpretation der Biopolitik in dem dritten Teil der Arbeit zeigt, dass diese Perspektive zwar die Ambivalenz der Biopolitik deutlich macht, indem die biopolitische Produktion die positiven Aspekte der Biopolitisierung der Produktion und der Politik verkörpert, während die negativen Aspekte der Biopolitik durch den Begriff der Biomacht zur politischen Strategie der Kontrolle und Ausbeutung der Multitude erklärt werden. Jedoch impliziert dieser Ansatz eine analytische Verarmung der biopolitischen Perspektive und lehnt einige zentrale Ergebnisse der Forschungen von Foucault und Agamben ab. Zunächst negieren Hardt und Negri die historische Dimension der Biopolitik in dem Moment, in dem sie die biopolitische Produktion als Folge der neuen postmodernen Ordnung verstehen. Insofern hat die archäologisch-genealogische Perspektive bei Hardt und Negri keine Bedeutung. Deswegen erfassen sie in ihrer Perspektive weder die Relevanz der Interaktion von Wissen und Macht, die für Foucaults Analytik zentral ist, noch die Bedeutung des Bezugs auf die Kategorie des Lebens in der Ausübung der Souveränität, die in der Genealogie Agambens rekonstruiert wird. Noch problematischer ist die Konzeption der Biomacht, die Hardt und Negri vorschlagen. Sie definieren Biomacht nur als Negativität und berücksichtigen die Produktivität der Machtverhältnisse nicht. Dazu kommt, dass in ihrer Perspektive Subjektivierungsprozesse als Spannungsfeld nicht thematisiert werden. Für Hardt und Negri ist das postmoderne Subjekt immer schon potenziell emanzipiert und revolutionär. Das Problem liegt ihnen zufolge allein darin, dass es durch das Regime der Biomacht ausgebeutet wird. Zwar ist auch für Hardt und Negri dieses Subjekt das Resultat der Strategien der Biomacht, doch verstehen sie das Ergebnis dieses Subjektivierungsprozesses als rein positiv und zudem grundlegend für die Überwindung der kapitalistischen Führung der biopolitischen Produktion. Der Ursprung dieser unkritischen Problemstellung liegt darin, dass es für Hardt und Negri keinen Unterschied zwischen dem Politischen und dem Produktiven gibt. Die Politik besteht für sie vor allem in der Verwaltung der Produktion, die in dem postmodernen Stadium auch verschwinden könne, da die biopolitische Produktion keine Führung und Verwaltung benötige. Das Problem liegt Hardt und Negri zufolge daher in der Kontrolle der Produktion und nicht in den politischen Strategien für die Regierung des Lebens der Bevölkerungen und der Individuen und deren paradoxalen Folgen. Die Ambivalenz der Biopolitik wird deswegen bei Hardt und Negri nicht erklärt, da sie sich mit der biopolitischen Produktion aber nicht mit Biopolitik beschäftigen. Relevant bei Hardt und Negri ist allerdings ihre Fokussierung auf die konstituierende Macht (vgl. Negri 2011). Es handelt sich dabei um ein Thema, das Negri schon in der ersten Phase seiner wissenschaftlichen Produktion bearbeitet hat und

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nun als konstitutives Element der Biopolitik interpretiert. Dabei ist wichtig zu betonen, dass als Kritik der Machtverhältnisse die Biopolitik auch eine Praxis sein muss, die neue soziale und politische Institutionen konstituiert. Das Paradox der Biopolitik steht im Zentrum der Theorie der Biopolitik von Roberto Esposito. Anders als Agamben und Hardt und Negri versucht Esposito nicht, zu verstehen, ob die Biopolitisierung des Politischen ein positives oder ein negatives Ereignis ist. Vielmehr möchte er die inhärente Verbindung der Politik des Lebens und der Politik des Todes erklären. Seine Analyse und seine Begrifflichkeit wird vor allem in der Trilogie Communitas, Immunitas und Bíos entwickelt (Esposito 2004b, 2004c und 2004a). Darüber hinaus wurden auch andere Arbeiten wie Terza persona und Pensiero vivente (Esposito 2007 und 2010) und weitere Essays analysiert, um seine komplexe Theorie zu verstehen. Wie in dem vierten Teil dieser Arbeit ausführlich analysiert worden ist, lässt sich für Esposito diese paradoxale Verbindung von Politik des Lebens und Politik des Todes durch das Paradigma der Immunisierung verstehen. Zum einen verkörpern immunitäre Strategien die positive Idee der Selbsterhaltung des Lebens; zum anderen impliziert diese Verteidigung des Lebens von einigen eine Vernichtung des Lebens von anderen, die als potentielle Gefahren wahrgenommen werden. Unter diesen Gefahren sind für Esposito alle möglichen Bedrohungen für die politische Ordnung zu verstehen. Insofern müsse das Leben der BürgerInnen vor Epidemien, externen und sogar internen Feinden verteidigt werden – als Bedrohung könnten demnach auch Minderheiten betrachtet werden, die vernichtet werden müssen, um das Überleben der politischen Ordnung zu gewährleisten. Für Esposito kann die Bedeutung der Immunisierung ausgehend von einer etymologischen Analyse der Bedeutung des Worts munus erfasst werden. Munus ist ein lateinischer Begriff, der als »Pflicht zu geben oder zur Gabe« übersetzt werden kann. Diese Pflicht teilt jedes Mitglied der communitas (Gemeinschaft) außer diejenigen, die von dieser Pflicht ausgeschlossen – d.h. »immunisiert« – werden, um eine Schutzfunktion für die Gemeinschaft auszuüben. Diese Dialektik von immunitas und communitas liegt für Esposito jeder sozialen Interaktion zugrunde. Esposito hält fest, dass sich eine wichtige Verschiebung in der Moderne bemerken lässt. In dem Moment, in dem die wichtigste Aufgabe des Politischen die Rettung des individuellen Lebens wird, öffnet sich für Esposito die Zeit der Biopolitik, die von einer negativen immunitären Ausrichtung der Politik charakterisiert ist. In seiner Genealogie verortet Esposito den Ursprung der biopolitischen immunitären Ausrichtung der Politik in der Interaktion von Recht, Politik und Medizin, indem er seine Analytik auf die wissenschaftlichen und politischen Interaktionen von politischen und biologischen Körpern fokussiert. Für Esposito geht es dabei nicht um eine bloße Metapher. Vielmehr handelt es sich um eine Verkörperung der Gesellschaft, die zur Entwicklung von politischen Strategien führt, die diesen politischen

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Körper von negativen Teilen zu befreien versuchen. Insofern kann die moderne Politik bei Esposito als negative Biopolitik definiert werden, da die Rettung oder die Sicherheit des politischen Körpers nur durch die Vernichtung der negativen Teile der Gesellschaft erreicht werden kann. Deswegen basiert die Politik des Lebens auf einer Strategie des Todes. Der Nationalsozialismus stellt für Esposito den Höhepunkt dieser Ausrichtung der Biopolitik dar, in dem sich die Politik des Lebens komplett in eine Thanatopolitik transformatiert. Die Möglichkeit einer Verwandlung der Politik des Lebens in eine Politik des Todes ist Esposito zufolge kein »Gespenst der Vergangenheit«, sondern eine konkrete Tatsache der näheren Zukunft, da auch in der Gegenwart die immunitäre Ausrichtung der Biopolitik dominant sei. Aus diesem Grund schlägt er die Idee einer affirmativen Biopolitik vor, die nicht mehr die Verteidigung des politischen Körpers vor externen und internen Bedrohungen zur Aufgabe habe. Vielmehr müsse diese affirmative Biopolitik die Voraussetzungen konstituieren, damit die verschiedenen Lebensformen zusammen als communitas leben können. Diese auf der affirmativen Biopolitik basierende communitas ist für Esposito als politischer Raum zu verstehen, in dem die verschiedenen Lebensformen miteinander interagieren und sich kontaminieren lassen. Die Idee einer Interpretation der Biopolitik durch das Paradigma der Immunisierung führt allerdings zu ambivalenten Ergebnissen. Einerseits lässt sich das Verhältnis von Politik des Lebens und Politik des Todes auf diese Weise zum Teil erklären; andererseits schließt Esposito mit seinem hermeneutischen Modell jedoch viele Fragen aus, die nicht durch das Paradigma der Immunisierung verstanden werden können, aber die für die Entwicklung der Biopolitik relevant sind. Die Optimierung des individuellen Körpers, die Idee der liberalen Genetik, die Entwicklung einer molekularen Medizin und einer biologischen Bürgerschaft sowie die Verwaltung der Umwelt stellen biopolitische Fragen dar, die jenseits der Notwendigkeit der Immunisierung des politischen Körpers sind. Wie bereits erwähnt, hängt diese Lücke weniger mit der archäologisch-genealogischen Methode Espositos zusammen. Vielmehr liegt das Problem darin, dass er das Verhältnis von Biopolitik und Liberalismus nicht berücksichtigt. Obwohl Esposito in seinen neueren, nach der Trilogie Communitas-ImmunitasBíos erschienenen Werken seine einseitige Theorie implizit in Frage stellt und die liberale Vorstellung des bíos analysiert, zieht er keine direkte Verbindung zwischen der liberal-ökonomischen Konzeption des menschlichen Lebens und Handels und dem Begriff der Biopolitik. Für ihn ist die liberale Idee des Lebens mit der Tradition des Dispositivs der Person verbunden, das einerseits die Biologisierung des Politischen kontrastiert, aber andererseits zu einer Verdinglichung des Lebens führt. Jenseits der interessanten Ergebnisse dieser Analyse des Dispositivs der Person ist es wichtig, eine Verschiebung in Espositos Perspektive auf die Biopolitik zu beto-

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nen. In den Werken nach Bíos stellt er nicht mehr die theoretische Notwendigkeit heraus, die paradoxale Verbindung von Politik des Lebens und Politik des Todes zu verstehen. Vielmehr möchte er nun den Begriff der Biopolitik deutlicher definieren und daran anschließend Strategien und Gegenstrategien der Biologisierung des Politischen analysieren. In Terza persona (Esposito 2007) begreift Esposito die Biopolitik entsprechend als Politik, die gleichzeitig von der Biologisierung des Politischen und der Politisierung des Biologischen charakterisiert ist. Das Dispositiv der Person wird von ihm insofern als humanistische Reaktion auf die Biopolitik interpretiert. Allerdings widerspricht er durch diese Umorientierung seiner Forschung dem »Wesen« des Begriffs der Biopolitik, so wie Foucault, Agamben, Hardt und Negri und er selbst diesen konzipiert haben. Außerdem lässt sich anhand einer allgemeinen Betrachtung von Espositos Perspektive bemerken, dass die moderne Entwicklung des Politischen sowohl in der immunisierten Biopolitik als auch in der biologischen Biopolitik und dem Personalismus immer negative und zerstörende Folgen hat. Eine affirmative oder unpersonale Biopolitik wird von Esposito dagegen als zukünftige emanzipative Strategien gegen die perversen Folgen der auf Immunisierung zentrierten Biopolitik formuliert. Deswegen gibt es für ihn keine Verbindung oder Interaktion zwischen negativer und affirmativer Biopolitik. Die affirmative Biopolitik ist »nur« eine theoretische Alternative zur existierenden und vorherrschenden negativen Biopolitik. Insofern ist es nicht unbegründet, zu behaupten, dass bei ihm so wie bei Agamben die Untersuchung latent durch eine geschichtsphilosophische Sichtweise geprägt wird. Der Unterschied zwischen diesen Perspektiven liegt darin, dass Agamben kaum Alternativen gegen die negative Tendenz des Politischen erfasst, während Esposito die Möglichkeit einer Umkehrung der bio-thanotopolitischen Dispositive systematisch thematisiert. Daher kann behauptet werden, dass bei Esposito eine innere Verbindung der Politik des Lebens und der Politik des Todes thematisiert wird. Allerdings wird diese noch nicht vollständig analytisch erklärt, da bei ihm das Positive in der aktuellen Biopolitik immer zum Negativen tendiert und die affirmative Biopolitik keine reelle Verbindung mit dem Politischen darstellt. Deswegen taucht die Frage auf, worin die innere Verbindung von Politik des Leben und Politik des Todes besteht, wenn keine wirksame affirmative Politik existiert. Dieses theoretische Defizit hängt vor allem damit zusammen, dass Esposito das Verhältnis von Biopolitik und ökonomischer Rationalität nicht systematisch reflektiert. Um das Verhältnis von Biopolitik und ökonomischer Rationalität zu analysieren, wurden in dem fünften Teil dieser Arbeit die wichtigsten Beiträge der zeitgenössischen italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie zu diesem Thema eingeführt. Es handelt sich dabei um AutorInnen, die die Biopolitik anhand der Logik der Strategie von Foucault in Opposition zu Agamben, Hardt und Negri sowie

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Esposito interpretieren. Insbesondere wurden Arbeiten aus dem Kreis der Forschungsgruppen BBPS, Action30 und 3 Ecologie berücksichtigt. Während Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito ein Erklärungsprinzip für das Verständnis der Biopolitik formulieren, gehen diese Gruppen von der Annahme aus, dass sich die Politik des Lebens und die Macht über das Leben durch verschiedene und sogar gegensätzliche Strategien entfalten kann. Besonders wichtig ist die Arbeit Il governo dei viventi der Philosophin Laura Bazzicalupo, die wichtigste Vertreterin der BBPS (Bazzicalupo 2006). Im Anschluss an die Logik der Strategie spricht sie weniger von Biopolitik als von Biopolitiken, denn für sie lassen sich verschiedene biopolitische Strategien erkennen. Eine davon ist die negative und versicherungsorientierte Biopolitik, die bereits von Foucault, Agamben und Esposito rekonstruiert wurde. Eine weitere ist die bioökonomische Strategie, die zum Teil innerhalb der Foucaultʼschen Genealogie der Gouvernementalität analysiert wurde. Im Mittelpunkt der Forschungen von Bazzicalupo und der Forschungsgruppe BBPS steht deswegen das Verständnis der Interaktion von Biopolitik und ökonomischem Wissen, das von Agamben und Esposito nicht als relevantes Element der Biopolitik angesehen wird. Bazzicalupo beschäftigt sich weder mit der Frage »Was ist Biopolitik?«, noch mit der Definition eines hermeneutischen Prinzips für die Interpretation der Biopolitik. Vielmehr formuliert sie drei Kriterien, die die biopolitische Orientierung des Politischen charakterisieren. Für Bazzicalupo sind dies: das Ziel der Rettung des individuellen Lebens als Hauptaufgabe der Regierung (1), die Definition eines Wahrheitsregimes (2) und eine normative Ordnung der Gesellschaft (3). Bazzicalupo und die anderen Mitglieder der BBPS fokussieren ihre Analytik insbesondere auf das bioökonomische Regime. Darunter verstehen sie eine Biopolitik, die durch eine ökonomische Rationalität die Subjekte bildet und regiert. Es handelt sich dabei um eine genealogisch-theoretische Untersuchung, die die Verbindung von ökonomischem Wissen und der Ausübung der Macht über das Leben sichtbar macht. Bazzicalupos genealogische Perspektive auf die Bioökonomie erlaubt eine kritische Rekonstruktion der Darstellung des bíos innerhalb der ökonomischen Diskurse und Theorien. Insofern setzt sie die Voraussetzungen für eine kritische Analyse auch der aktuellen (bio-)politischen Praktiken, die mit der ökonomischen Rationalität verbunden sind. Im Gegensatz zu anderen Konzeptionen der Bioökonomie liegt bei Bazzicalupo und anderen AutorInnen der BBPS der Akzent auch auf den negativen Folgen dieser biopolitischen Strategien. Allerdings wird auch in diesem Fall die Komplementarität von Politik des Lebens und Politik des Todes innerhalb des bioökonomischen Regimes zwar erklärt, aber nicht ausreichend vertieft. In dem fünften Teil der Arbeit wurde die genealogische Analytik der Bioökonomie Bazzicalupos darüber hinaus mit den Forschungen des Kollektivs Action30 ergänzt. Diese Forschungsgruppe fokussiert ihre Untersuchungen auf das Verständ-

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nis der alten und neuen Formen des Faschismus durch die theoretischen Werkzeuge der Analytik der Biopolitik. Relevant dabei ist die Interpretation der Interaktion von ökonomischer Rationalität und psychotherapeutischen Strategien als Grundlage einer subjektzentrierten Biopolitik, die von ihnen als »Biofaschismus« definiert wird. Durch eine Analytik des Biofaschismus versuchen Action30 zunächst, ein neues Stadium rassistischer und diskriminierender Diskurse sichtbar zu machen. Dabei geht es um Praktiken, die auf dem, von Action30 sogenannten, Paradigma der Supernormalität beruhen. Unter Supernormalität verstehen die AutorInnen von Action30 einen Prozess, in dem die Subjekte ihre »Normalität« regelmäßig bearbeiten müssen. Das Ergebnis dieser Praktiken sei ein Individuum, das jede Verletzung der Norm – vor allem der Norm, normal zu werden – unterdrücke. Insofern sprechen Action30 von einem Faschismus der Seele oder der Psyche, der sich am besten als »Biofaschismus« beschreiben lasse, da er die Totalität der Dimensionen des Lebens betreffe. Außerdem analysieren Action30 den Faschismus genealogisch. Deswegen stellen sie eine interessante Analogie zwischen den faschistischen Diskursen der 1930er Jahre und den gegenwärtigen Diskursen her, um Wiederholungen und Neuerungen sichtbar zu machen. Wie Bazzicalupo geht auch der Sozialtheoretiker Ottavio Marzocca – Gründer der Forschungsgruppe 3 Ecologie – davon aus, dass die Biopolitik anhand einer Logik der Strategie zu verstehen sei (vgl. Marzocca 2007). Marzocca kritisiert insbesondere die Foucault-Lektüre von Agamben, Hardt und Negri sowie Esposito. Diese hätten die Logik der Strategie nicht verstanden, da sie ein monologisches Prinzip für die Erklärung der Paradoxien der Biopolitik suchten. Wie schon erwähnt, ist Marzoccas Kritik der Perspektiven von Agamben, Hardt und Negri und Esposito wichtig, da er zeigt, dass Ambivalenzen nur aus einer monologischen Sichtweise problematisch sind. Ihm zufolge ist die Ausübung der Macht strategisch und deswegen orientiert sich eine Regierung nicht an einem kohärenten Prinzip, sondern an dem Kriterium des Erfolgs. Ein erfolgreiches Regierungshandeln könne auch verschiedene, heterogene und paradoxale Strategien verwenden, um seine Kontrolle über das Leben der Bevölkerung zu legitimieren und weiter auszuüben. Daher kann Marzocca zufolge die Biopolitik weder auf die Verwendung des Ausnahmezustands als Regierungsinstrument noch auf die Erweiterung der Immunisierungs- und Kontrolldispositive beschränkt werden. Da die Biopolitik sich als Ergebnis der Interaktion von Macht und Wissen entwickle, sei zu berücksichtigen, dass die biopolitische Regierung ständig neue Interventionsfelder in Betracht ziehe, um neue Dispositive zu entfalten. Ausgehend von dieser Idee entwickelt Marzocca zusammen mit anderen WissenschaftlerInnen der Forschungsgruppe 3 Ecologie eine biopolitische Analyse der ökologischen Frage (vgl. Marzocca 2010a). Durch die Kategorien der Biopolitik

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wird die Umweltpolitik als neues Spannungsfeld interpretiert, in dem die Widersprüche und die Ambivalenzen der Regierung des Lebens wieder auftauchen. Zum einen lassen sich bioökonomische Strategien bemerken, die durch eine »grüne« Wende des Kapitalismus ihre Biomacht neu zu definieren versuchen, um ein »nachhaltiges« Stadium der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu eröffnen. Zum anderen stützen sich diese Diskurse auf die Persistenz des Risikos, um neue Kontrolldispositive einzusetzen und um ein ethisches Modell zu entwickeln, in dem das Subjekt selbst das Risiko für seine Entscheidungen kalkulieren und verwalten muss. Allerdings – so zeigen die Forschungen der 3 Ecologie – ist die ökologische Frage auch das Terrain für das Auftauchen von Widerstandspraktiken, die die bioökonomischen Subjektivierungsprozesse und die bioökonomische Rationalität in Frage stellen. Die Analysen von BBPS, Action30 und 3 Ecologie machen sichtbar, dass sich die aktuellen Strategien der Regierung der Bevölkerungen ausgehend von Praktiken der Bildung und Kontrolle individueller Subjekte entwickeln. In dem fünften Kapitel habe ich angemerkt, dass es bei den Untersuchungen von den genannten Forschungsgruppen weniger um eine Bevölkerungspolitik für eine homogene Entwicklung der Subjekte als um eine Subjektpolitik für eine homogene Produktion der Bevölkerung geht. Die genealogisch-theoretische Orientierung der Forschungsgruppen BBPS, 3 Ecologie und Action30 bestätigt zwar die These einer subjektiven und »sozialisierenden« Wende in den biopolitischen Praktiken, die auch von Autoren wie Nikolas Rose und Paul Rabinow formuliert wird (vgl. Rabinow und Rose 2006). Jedoch schreiben die hier behandelten Gruppen darüber hinaus Praktiken eine wichtige Rolle zu, die sich auf die Bevölkerung als biologische Gesamtheit richten. Dabei besteht eine ständige Interaktion und Integration dieser beiden biopolitischen Modelle. Außerdem zeigt Bazzicalupos Genealogie, dass Subjektivierungsprozessen seit der Geburt der Biopolitik eine grundlegende Rolle zukommt. Deswegen können subjektzentrierte und bevölkerungszentrierte Biopolitiken nicht voneinander getrennt werden.

6.2 ANALOGISCHES D ENKEN , K RITIK

UND

B IOPOLITIK

Als letzter Schritt dieser Analyse des Begriffs der Biopolitik in der italienischen Philosophie und Gesellschaftstheorie muss notwendigerweise ein Weg für die weitere Entwicklung der Analytik der Biopolitik skizziert werden. Die ersten wichtigen Ergebnisse dieser Arbeit und der als Italian Thought bekannten theoretischen Tradition bestehen in der Unmöglichkeit der Definition des Sinns bzw. der Matrix der Biopolitik. Denn das Telos des Politischen ist immer der Konflikt, das prekäre Er-

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gebnis von konstituierten und konstituierenden Potentiae. Insofern können die Machtverhältnisse nicht ausgehend von einer Matrix, sondern allein von der Analyse der den Konflikten immanenten Kräfte untersucht werden. Deswegen ist die Biopolitik immer als Spannungsfeld zu interpretieren, in dem analogische Paradigmen die immanente Interaktion von heterogenen Diskursen und Machtverhältnissen sichtbar machen. Die Produktion analogischer Paradigmen muss allerdings immer durch empirische Forschungen ergänzt werden, die Diskurse, Strategien und Entwicklungen des Wissens wie auch der institutionellen und sozialen Akteure aufzeigen. Melandri betont in seiner Analytik des analogischen Denkens, dass die analogischen wie auch die logischen Kategorien für einen Fortschritt der Wissenschaft und das Verständnis der Phänomene gleicherweise wichtig sind. Grundlegend dabei ist, eine dialektische Interaktion von logischer und analogischer Rationalität zu behalten. In dieser Perspektive hat die Interpretation des Italian Thought als analogisches Denken eine strategische Aufgabe. Während der Begriff des Italian Tought diesen Denkstil mit einer spezifischen territorialen und historischen Tradition verbindet, erlaubt die Definition dieser Forschungsorientierung als analogisches Denken eine Weiterentwicklung, die die Kontamination und Interaktion von unterschiedlichen Forschungsmethoden und -perspektiven ermöglicht. Die Möglichkeit einer weiteren Aktualisierung der Analytik der Biopolitik kann im Anschluss an die Ergebnisse dieser Arbeit an drei Punkten anknüpfen. Erstens muss das analogische Denken als kritische Funktion gegen das »Gift der Geschichtsphilosophie« eingesetzt werden. Zweitens muss der Lebensbegriff als Spannungsfeld interpretiert werden und drittens muss die Analyse des Politischen als aktive politische Praxis gedacht werden. Das analogische Denken kann eine kritische Funktion gegen den genius malignus der Geschichtsphilosophie ausüben. Melandri spricht diesbezüglich von einer transitorischen Existenz der Analogie. Die Analogien können gut oder böse sein. Auf jeden Fall kann man auf diese nicht verzichten. Die guten Analogien sind die revolutionären. Diese führen über die Analogie selbst zu einer neuen rationalen Struktur. Die bösen Analogien sind diejenigen, die zum Ausgangspunkt führen und insofern bestätigen diese per Reaktion die Unüberwindbarkeit des Ausgangspunkts selbst. Auf jeden Fall haben beide eine transitorische Existenz (Melandri 2004, 810).

Die Analogien sollen demnach eine immanente Interaktion von heterogenen Elementen und keine Matrix der Geschichte aufzeigen. In dem Moment, in dem eine Analogie als Telos der Geschichte eingesetzt wird, ist diese de facto eine »böse« Analogie, da sie immer zum Ausgangspunkt zurückführt.

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Die Perspektiven auf die Biopolitik von Agamben und Esposito zeigen dieses Problem oder, mit anderen Worten, die Ambivalenz der Analogien. Ihre Paradigmen sind zugleich »gute« und »böse« Analogien. Die Produktion von nacktem Leben und die Immunisierung des Politischen sind »gute« und revolutionäre Paradigmen in dem Moment, in dem sie die kanonisierte Dichotomie von Demokratie und Totalitarismus in Frage stellen. Dadurch definieren sie eine neue rationale Struktur für das Verständnis der Machtverhältnisse und machen eine Kontinuität in der Ausübung der Macht in heterogenen Kontexten sichtbar. Allerdings tendieren sowohl Agamben als auch Esposito dazu, ihre Paradigmen als Telos der Geschichte des Politischen zu interpretieren und verstehen jede politische Interaktion ausgehend von dieser privilegierten Perspektive. Somit führen sie immer zum Ausgangspunkt – die Produktion von nacktem Leben bzw. die Immunisierung des Politischen – und werden zu »bösen« Analogien. Diese Beispiele zeigen die Schwierigkeit der Verwendung der analogischen Rationalität und gleichzeitig die Notwendigkeit einer kritischen – »revolutionären« in den Worten Melandris – Verwendung der Analogien. Hierbei sind drei Prinzipien für eine kritische Verwendung der Analogie grundlegend. Erstens müssen die Analogien zu einer Erweiterung der hermeneutischen Kategorien und somit der rationalen Struktur, in der Forschungen durchgeführt werden, führen. Zweitens dürfen die Analogien nicht die Persistenz einer Matrix oder einer arché oder eines Telos der Geschichte beweisen. Das einzige anerkannte Telos des Politischen wie auch des Seins ist die Konfliktualität, die gleichzeitig auf die ewige Wiederkehr der immanenten Dialektik von Konstituiertem und Konstituierendem, von Struktur und Funktion verweist. Drittens haben die Analogien einen transitorischen Charakter. Mit anderen Worten ist die Verwendung einer Analogie analytisch und ontologisch beschränkt. Die Grenze ist hingegen ethisch-politisch. Eine Analogie kann demnach so lange verwendet werden, so lange sie ihre »gute« und revolutionäre Potenz behält. Um diesen letzten Punkt zu verdeutlichen, ist ein Vergleich mit Foucaults Idee der Bücher als Bomben nützlich. Das Ideal ist nicht die Herstellung von Werkzeugen, sondern von Bomben, denn wenn man eine Bombe eingesetzt hat, kann niemand anderes sie mehr einsetzen. Ich muss allerdings hinzufügen, dass ich persönlich nicht unbedingt davon träume, Bomben zu bauen, weil ich nicht gerne Menschen töte. Aber ich möchte gerne Bücher schreiben, die Bomben sind, das heißt Bücher, die genau zu dem Zeitpunkt benutzt werden, da jemand sie schreibt oder liest. Diese Bücher verschwänden dann, nachdem sie gelesen oder benutzten worden wären. Bücher müssten gleichsam Bomben sein und nichts als das. (Foucault 2003, 608)

Dieses Zitat von Foucault verweist durch seinen provokativen Stil auf eine Idee der wissenschaftlich-intellektuellen Praxis, in der die politische Verwendung einer

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Theorie einen ontologischen Vorrang hat. Mit anderen Worten: Das Werk kann nicht von seiner politischen Verwendung getrennt werden und insofern existiert nach dessen Gebrauch nur die Erinnerung der politischen Leistung des Werks. Die Analogien müssen die gleiche Funktion ausüben, die Foucault den Büchern zuschreibt. Im Gegensatz zu Büchern oder Begriffen ist der politische Gebrauch der Analogie jedoch unmittelbar verständlich. Das Lager als analogisches Paradigma zeigt immanent die Kontinuität des Ausnahmezustands in demokratischen und totalitären Systemen. Der zweite wichtige Punkt für eine Weiterentwicklung der Biopolitik muss in der Definition des Lebensbegriffs gesucht werden. Jeder Lebensbegriff ist das Ergebnis der Interaktion von Wissen und Macht. Zentral dabei ist nicht die Definition des Lebens als solche. Vielmehr ist grundlegend für eine Analytik der Biopolitik, zu verstehen, wie und durch welche Dispositive das Leben begriffen wird. Die genealogischen Forschungen der italienischen AutorInnen zeigen die Zentralität der Konzeption des Lebensbegriffs für das Politische auf. Die Definition des Lebens wie auch jeder Diskurs über das Leben sind nie neutral und produzieren immer Zäsuren und Spaltungen zwischen einigen, die vollständig in einer politischen Ordnung leben können, und den anderen, die nur partiell oder gar nicht in dieser Ordnung leben können. Das politisch qualifizierte Leben kann nicht von der Produktion von nacktem, unpolitischen Leben getrennt werden. Die Diskurse über das Leben sind immer von einer konstitutiven Ambivalenz charakterisiert. Insofern muss sowohl Agambens Perspektive, die das Bio-Politische mit der Produktion von nacktem Leben identifiziert, als auch Hardts und Negris Sichtweise, in der das Leben in der biopolitischen Produktion schon per se qualifiziert und strukturell emanzipiert ist, abgelehnt werden. Es ist vielmehr nötig, eine kritische, nicht polarisierte Sichtweise zu entwickeln, die die Ambivalenz der Diskurse über das Leben sichtbar zu machen vermag. Es geht dabei allerdings weder um eine neutrale noch um eine synthetische Sichtweise. Vielmehr ist eine kritische Perspektive nötig. Das Kritische bedeutet hierbei eine ethisch-politisch-revolutionäre Positionierung, deren Funktion nicht nur in der Dekonstruktion, sondern auch in der Praxis einer Politik des Lebens besteht, die Kontaminationen und neue Lebensführungen in Kraft setzt. Insofern ist die Funktion der Politik und des Politischen innerhalb einer kritischen Analytik der Biopolitik grundlegend. Die Vorstellung des Lebens als Ergebnis von diskursiven und politischen Praktiken impliziert allerdings eine wichtige Frage: Was unterscheidet den Begriff der Biopolitik von dem der Politik? Wenn jede Definition des Lebens politisch ist, dann ist die Politik schon immer eine Biopolitik und insofern sind beide Termini tautologisch. Das ist ein logischer Schluss, den z.B. Agamben zieht. Hardt und Negri dagegen unterscheiden die Biopolitik von der Politik durch eine Theorie, in der das Biopolitische mit einer anthropologisch-ontologischen Veränderung übereinstimmt.

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Wie schon erwähnt, wird das Politische in dieser Theorie paradoxerweise entpolitisiert. Die Ambivalenz von Espositos Arbeiten zeigt die Schwierigkeit dieser Frage. In seiner ersten Analyse der Biopolitik sieht er den Unterschied von Politik und Biopolitik in der immunitären Ausrichtung letzterer. Das ist allerdings eine unglückliche Lösung, da die Biopolitik auf diese Weise auf Immunisierungsprozesse beschränkt wird. In seiner zweiten Phase der Forschung zur Biopolitik definiert er mit diesem Begriff dagegen die Überlagerung von Politischem und Biologischem, insbesondere die Prozesse der Politisierung des Biologischen und gleichzeitig der Biologisierung des Politischen. Es handelt sich dabei um eine kohärente, aber noch beschränktere Lösung, die zur Identifikation des Nationalsozialismus als einziges biopolitisches Regime führt. Insofern wird das kritische Potenzial des Begriffs der Biopolitik neutralisiert, da auf diese Weise die Ambivalenzen der Politik des Lebens in anderen Kontexten nicht berücksichtigt werden. Um diese Problematik zu überwinden, ist es grundlegend, die Biopolitik weder als Substanz (die Frage Was ist die Biopolitik? wird in dieser Perspektive bedeutungslos) noch als eine spezifische Politik (es gibt somit kein Objekt und Subjekt der Biopolitik als solches) zu interpretieren. Vielmehr muss die Biopolitik als kritische Hermeneutik des Politischen und gleichzeitig als Praxis konzipiert werden. Als kritische Hermeneutik des Politischen muss die Biopolitik die Interaktionen von Wissen und Macht sichtbar machen, die durch Dispositive Subjektvierungsprozesse des bíos wie der zoé produzieren. In dieser Perspektive ist insofern grundlegend eine theoretische Verschiebung, die die Konzeption der Ontologie betrifft. Im Anschluss an den letzten Band des Homo Sacer-Projekts – Lʼuso dei corpi – kann von Agamben die Perspektive einer modalen Ontologie übernommen werden. Der Vorteil dieses Denkstils besteht darin, dass es sich auf das »Wie?« – oder mit Agambens Worten auf die modii – konzentriert, in dem die Relation von dem Leben und dem Politischen gedacht und gebildet wird (vgl. Agamben 2014). Die Verschiebung von einer substantiellen zu einer modalen Ontologie ermöglicht die Theoretisierung einer Perspektive, in der sichtbar wird, dass die etablierten Relationen von Leben und Politik nur ein von bestimmten Dispositiven produziertes Modus sind. Dazu kommt, sich dass das Verhältnis von Leben und Politik auch ein anderes emanzipatives Modus entwickeln kann.

6.3 P RAXIS

UND

E MANZIPATION VON

DER

B IOMACHT

Die Forschung nach einer möglichen Emanzipation von den biopolitischen Dispositiven, die aus dem diskursiven Spannungsfeld von Sorge um die Selbsterhaltung des Lebens und um die ökonomische Optimierung des Subjekts gebildet werden, wird von den hier analysierten Perspektiven als eine Aufgabe der Analytik der Bio-

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politik vorgestellt. Trotz dieser Notwendigkeit ist dieser grundlegende Teil der Theorie über die Biopolitiken noch zu wenig thematisiert. Aus den verschiedenen Perspektiven, die in dieser Arbeit analysiert worden sind, können allerdings einige Elemente übernommen werden, die als Grundrisse für die kommende Forschung nach einer emanzipativen Praxis funktionieren können. Durch die Perspektive einer affirmativen Biopolitik hat Roberto Esposito versucht, eine Theorie für die Emanzipation von der Macht auf das Leben zu formulieren. Wie schon erwähnt, ist dieses Projekt sowohl theoretisch als auch politisch nicht überzeugend, weil es mit der immunitären Ausrichtung der nationalsozialistischen Biopolitik verbunden ist. Außerdem geht es um eine reine philosophische Theorie, die sich gar nicht auf die konkreten Dynamiken der Ausübung der Macht in der Gegenwart wie auch auf die politische Praxis für die Emanzipation bezieht. Allerdings hebt Esposito ein wichtiges Element für eine emanzipative Praxis von der Macht auf das Leben hervor. Es geht um das theoretische und politische Bedürfnis, die Ebene des individuellen Lebens zu überwinden und stattdessen ein Leben mit den Anderen als Kern des Politischen einzusetzen. Im Unterschied zu Espositos Perspektive der affirmativen Biopolitik bieten die letzten Arbeiten von Giorgio Agamben und Ottavio Marzocca einen besseren Anknüpfungspunkt für die Formulierung einer emanzipativen politischen Praxis. Beide diese Forschungsperspektiven fokussieren sich auf die Formulierung einer Theorie des Gebrauchs, die die Ausübung der Macht auf das Leben deaktivieren könnten. Von der Perspektive Agambens kann die These übernommen werden, dass die biopolitischen Dispositive eine Trennungsfunktion ausüben, die vor allem das Leben von seinem Potentia trennt. Dazu kommt sein Vorschlag die Dispositive zu neutralisieren oder zu deaktivieren, um die Potentia des Lebens zu befreien. Agamben verwendet auch den Begriff profanieren, um eine Praxis zu definieren, die gleichzeitig die Funktionen der Dispositive deaktiviert und einen neuen Gebrauch von diesen ermöglicht. Agamben bietet keinen relevanten Hinweis darauf, wie diese Neutralisierung oder Deaktivierung als konkrete politische Praxis und wie dieser Gebrauch konzipiert werden sollen. Insofern kann ein Ziel der kommenden Forschung die Suche nach Analogien sein, die ein Modell für diese Praxis leisten können. Allerdings gibt Agamben einen wichtigen Hinweis für die Konzeption dieser Praxis, indem er diese an die modale Ontologie anknüpft. Wenn die Dispositiven funktionieren durch und mittels einer substantiellen Ontologie, dann ist eine Emanzipation von diesen nur möglich, wenn die substanzielle Ontologie neutralisiert wird. Dazu kommt, dass diese Praxis als ein Modus vivendi, oder als ein Lebensstyl – Agamben spricht von einer Ontologie des Styls – oder als ein Gebrauch des Lebens gedacht werden muss.

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Marzoccas Begriff des Ökopoiesis bietet noch ein grundlegendes Element für die Entwicklung einer politischen Praxis für die Emanzipation von der Biomacht. Zunächst wird durch die Verbindung von Leben und Ökosystem die Zentralität der menschlichen Leben in Frage gestellt. Es ist immer grundlegend zu betonen, dass jede Biopolitik immer nach der Kontrolle und Optimierung des individuellen Lebens wie auch der Bevölkerung als Gesamtheit von menschlichen Leben orientiert ist. Zwar gibt es auch bei Esposito Hinweise zu einer De-Humanisierung der Politik des Lebens; jedoch ist seine Perspektive immer mit reiner philosophischer Theoretisierung verbunden und bleibt insofern unkritisch. Im Unterschied zu ihm verbindet Marzocca seine Theorie mit der Analytik des Ökosystems. Es ist nicht natürlich genug für die Analytik des Ökosystems als Anknüpfungspunkt zu entscheiden. Wie Marzocca in Il mondo comune sichtbar macht, entwickelt sich auch die Diskurse über die Ökosysteme in der Spaltungsfeld von biopolitischen Sorge um die Selbsterhaltung des Ökosystem und ökonomischen Rationalisierung des Ressourcen von diesem. Deswegen knüpft sich Marzocca an Batesons Begriff des Geists an, um das Ökosystem als relationales System zu interpretieren und vor allem, von diesem einen Denkstil für die Emanzipation von der Biomacht zu entwickeln. Wie schon erwähnt formuliert auch Marzocca eine Theorie des Gebrauchs als Grundelement für sein Projekt eines Ökopoiesis. Im Unterschied zu Agamben konzipiert er den Begriff des Gebrauchs im Kontrast zum Konsum und im Anschluss an die Sorge um die Welt als Ökosystem. Für Marzocca – wie auch Agambens Ontologie des Styls – ist das Ökopoiesis mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht kompatibel und kann insofern nicht im Kontext von etwas wie green capitalism oder nachhaltigem Kapitalismus gedacht werden. In der Rekonstruktion dieser Perspektive habe ich hervorgehoben, dass hierbei das Problem in der fehlenden Thematisierung der politischen Praxis liegt. Mit anderen Worten fokussiert diese exklusiv die ethische Bildung der Subjekte. Zwar sehen sowohl Agamben als auch Marzocca die Ethik als politische Praxis; jedoch ist nicht die Frage berücksichtigt, wie in dem Kontext dieser Ontologie des Styls oder der Ökopoiesis eine politisierte Menge entstehen kann, die für das Scheitern der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch seine Praxis mitwirken kann. Das Risiko besteht m.E. darin, dass diese Perspektive nur von Minderheiten berücksichtigt und praktiziert wird. Der von Hardt und Negri formulierte Begriff der Multitude kann allerdings nicht helfen, da dieser unmittelbar mit den aktuellen Produktionsverhältnissen verbunden ist, die nicht so emanzipativ sind, wie die Autoren von Empire prognostiziert haben. Insofern sind an den modus der Produktion und an die Idee der Materialität und des Materialismus selbst wieder zu denken, damit diese mit den Dynamiken des Ökosystems verbunden werden können. Die Biopolitik funktioniert zunächst, weil gleichzeitig Technik für die Lebensführung und Sorge um die Bevölkerung kombiniert werden. Insofern soll auch eine

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Politik für die Emanzipation von der Biomacht das Projekt von einer Befreiung der Bevölkerungen und nicht nur des Ethos denken. In dieser Perspektive ist deswegen der Begriff der Bevölkerung zu profanieren, um diesen zu einem neuen Gebrauch einzusetzen. Wie im Lauf meiner Analytik der Biopolitik aufgetaucht ist, ist Bevölkerung einen typischen biopolitischen Begriff, d.h. es ist in dem Spaltungsfeld zwischen Sorge um die Selbsterhaltung des Lebens und Optimierung der produktiven Leistungen des Lebens entstanden. Diesen Begriff zu profanieren, kann insofern bedeuten, diesen von diesem ursprünglichen diskursiven Spannungsfeld zu befreien. Ein modus dieser Befreiung kann in der Verschiebung von dem menschlichen Leben zu dem Leben des Ökosystems als Kern der Bevölkerung bestehen. Eine Profanierung des Begriffs der Bevölkerung ist aus zwei Gründen relevant für eine Perspektive, in die das Ökosystem als Zentrum des Politischen einsetzt. Der erste Grund besteht darin, dass die Umweltfrage und die Lebendigkeit der Ökosysteme keine effektive Wirksamkeit für die Funktionierung der Gesellschaft übt, wie Marzocca selbst im Anschluss an Luhmann behauptet. Heutzutage besitzen auch die natürlichen Katastrophen keine gesellschaftliche Wirksamkeit für eine Veränderung des Politischen. Wie Naomi Klein ausgezeichnet dokumentiert, wird die Katastrophe sogar Anknüpfungspunkt für die Ausübung einer Macht über das Leben, die an die schon zitierten dominanten Strategien orientiert ist (vgl. Klein 2007). In dem Maße, in dem die Lebewesen und die Umwelt als Teil der Bevölkerung wahrgenommen werden, können diese politisiert werden, da eine unmittelbare Verbindung von Lebensbedingungen und Lebensstil aufgebaut werden kann. Das Problem liegt insofern nicht in der Politisierung des Biologischen oder in der Biologisierung des Politischen als solche, wie Esposito in Terza Persona behauptet. Vielmehr ist der Modus grundlegend, der konservativ oder emanzipativ sein kann, der zur Zerstörung anderer Arten und Arten zu Leben oder zum Aufbau eines Lebens mit den anderen Arten führen kann. Der zweite Grund für einen emanzipativen und ökosystemischen Gebrauch des Begriffs der Bevölkerung liegt darin, dass durch diese Interpretation die diskriminierenden Tendenzen neutralisiert werden. Als Bestandteil der biopolitischen Dispositive funktioniert der anthropozentrierte Begriff der Bevölkerung als Maßnahme für die Identifikation eines Volkes oder besser gesagt für die Feststellung einer Norm für die Identifikation einer normalen und normalisierten Bevölkerung. In dem Maße, in dem die Bevölkerung ausgehend von der Interaktion zwischen jeder Lebensform und dem Ökosystem – so wie insbesondere von Bateson theoretisiert wird – gedacht wird, kann die Relation zwischen Menschen, Lebewesen und Welt der Bestandteil des Politischen werden. Wichtig hierbei ist, dass die Variationen der Lebewesen weder diskriminiert noch integriert werden sollen. Vielmehr sollen diese zu einer neuen Konfiguration der gesellschaftlichen Verhältnisse führen.

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Die Befreiung der Bevölkerungen kann allerdings nicht innerhalb der konstituierten Institutionen stattfinden. Die Idee einer Überwindung der aktuellen dominanten Biopolitiken durch Reformen innerhalb der institutionellen Dialektik ist eine Illusion, deren Funktion in der Persistenz der etablierten Strategien für die Kontrolle und Orientierung des Lebens besteht. Die Ergebnisse der Verhandlungen des COP21 – United Nations Framework Convention on Climate Change, 21st Conference of the Parties – sind paradigmatisch für diese Unmöglichkeit. Nicht nur wären die in die Diskussion involvierten Akteure diejenigen, die mehr als andere zur Zerstörung der Lebensbedingungen der Bevölkerungen beitrügen; sondern würden auch die Bedürfnisse der Bevölkerungen nicht berücksichtigt, da de facto diskutiert würde, wie die aktuellen zerstörenden Macht- und Produktionsverhältnisse verlängert werden könnten.1 Insofern bleibt nur für das Leben der Bevölkerungen zu kämpfen. Die kommende Forschung muss insofern auch die Modii dieser Kämpfe untersuchen, denken und bilden. Grundlegend ist hierbei die Neutralisierung der Dispositive der Freiheit. Darunter verstehe ich das diskursive Spannungsfeld, das performative Diskurse über die Freiheit nach dem Modell des Markts produziert. Stattdessen sind Praktiken für die Befreiung von den biopolitischen Dispositiven herzustellen. Der Weg der militanten Forschung für die Emanzipation ist nicht einfach, da vor allem die konstituierten Grenzen zwischen Wissen und Mächten in Frage gestellt werden. Die Möglichkeit einer Redefinition dieser Grenzen wird auch von Agamben im Anschluss an die Interpretation der Figur des Landvermessers in Kafkas Roman Das Schloss thematisiert (Agamben 2010b). Insbesondere interpretiert Agamben diese ausgehend von der Funktion des agrimensor (Landvermesser auf Latein) in dem römischen Recht. Dort hatte der agrimensor eine grundlegende religiös-politische Rolle, da dieser die Grenzen einer Stadt nach dem Modell des Himmels definieren sollte. Insofern hat Agamben zufolge der agrimensor die Potentia, Grenzen neu zu definieren (vgl. ebd., 37-66). In seiner Einführung zu La linea e il circolo vergleicht Agamben Melandri mit einem agrimensor, der mithilfe der Kategorien des analogischen Denkens die Grenzen des Wissens in Frage stellt.2 Das analogische Denken hat insofern die Potentia, die Grenzen zwischen Disziplinen und Wissen in Frage zu stellen, und die Theoretisierung einer emanzipativen Praxis zu ermöglichen. Wenn die Biopolitik als Konstellation von analogischen Paradigmen definiert wird, dann besteht ihre kritische und ethisch-politische Auf-

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www.rosalux.de/news/42005/klimagipfel-erfolgreich-klimaschutz-gescheitert.html. »Melandri ist so etwas wie ein neuer Landvermesser, der das Kataster der terra philosophica nicht durch die Definition neuer Schnitte und Grenzen, sondern durch Fluchtwege neu zeichnet« (Agamben 2004a, XVI, Übers. R. G.).

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gabe darin, disziplinäre und institutionelle Grenzen zu hinterfragen. Es geht dabei nicht um eine unproblematische Aufgabe. Das Schloss – das kanonisierte Wissen und die konstituierten Institutionen – schätzt keine LandvermesserInnen. Vielleicht wird diese Praxis toleriert, wenn sich die LandvermesserInnen auf die Vermessung der existierenden Grenzen beschränken. Allerdings bedeutet diese Beschränkung auf die existierenden Grenzen eine Rückkehr zum Ausgangspunkt – typisch für die bösen und konservativen Analogien.

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Sozialtheorie Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften Februar 2017, ca. 300 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2725-1

Joachim Renn Selbstentfaltung – Das Formen der Person und die Ausdifferenzierung des Subjektiven Soziologische Übersetzungen II September 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3359-7

Kolja Möller, Jasmin Siri (Hg.) Systemtheorie und Gesellschaftskritik Perspektiven der Kritischen Systemtheorie September 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3323-8

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Sozialtheorie Henning Laux (Hg.) Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« Einführung und Diskussion September 2016, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3125-8

Hilmar Schäfer (Hg.) Praxistheorie Ein soziologisches Forschungsprogramm Mai 2016, 384 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2404-5

Silke Helfrich, David Bollier, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Die Welt der Commons Muster gemeinsamen Handelns 2015, 384 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3245-3

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Sozialtheorie Thomas S. Eberle (Hg.) Fotografie und Gesellschaft Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven Dezember 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2861-6

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft November 2016, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Gabriele Klein, Hanna Katharina Göbel (Hg.) Performance und Praxis Praxistheoretische Studien zu szenischer Kunst und Alltag Oktober 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3287-3

Brigitte Bargetz Ambivalenzen des Alltags Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen September 2016, ca. 298 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2539-4

Benjamin Rampp Die Sicherheit der Gesellschaft Gouvernementalität – Vertrauen – Terrorismus September 2016, ca. 310 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3414-3

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Miteinander leben Ethische Perspektiven eines komplexen Verhältnisses. Vadian Lectures Band 2 Mai 2016, 114 Seiten, kart., 16,99 €, ISBN 978-3-8376-3361-0

Andreas Reckwitz Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie Mai 2016, 314 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3345-0

Katharina Block Von der Umwelt zur Welt Der Weltbegriff in der Umweltsoziologie Februar 2016, 326 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3321-4

Hanna Katharina Göbel, Sophia Prinz (Hg.) Die Sinnlichkeit des Sozialen Wahrnehmung und materielle Kultur 2015, 464 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2556-1

Florian Süssenguth (Hg.) Die Gesellschaft der Daten Über die digitale Transformation der sozialen Ordnung 2015, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2764-0

Peter Wehling (Hg.) Vom Nutzen des Nichtwissens Sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven 2015, 276 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2629-2

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